eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/45

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2020
2345 Dronsch Strecker Vogel

Architekturen: Jerusalem und die Tempel

2020
Annette Weissenrieder
Martina Kepper
54 Lutz Doering tun, werden zu einem großen Fluch werden.“ 66 Dies zeigt enge Verwandtschaft mit Sir 15,11-17,24. 67 Gnade und Erbarmen sind ein häufig wiederkehrendes Thema im Buch der Gleichnisreden Henochs (1. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr., nur äthiopisch). Wenn beim Erscheinen der Gerechten die Sünder, insbesondere die „Könige und Mächtigen“, gerichtet werden und untergehen, wird niemand Barmherzigkeit suchen (√meḥra) beim Herrn der Geister (die übliche Gottesbezeichnung in dieser Schrift) (1 Hen 38,6; vgl. 39,2 äth. Hss.). In den Wohnplätzen der Gerechten, die bei den Engeln liegen, wo sie (sc. die Gerechten? Engel? ) Fürbitte halten für die Menschen, sieht Henoch „Gerechtigkeit fließen wie Wasser vor ihnen und Erbarmen (meḥrat) wie Tau auf die Erde“ (39,5). In 40,9 wird der Erzengel Michael als „barmherzig und langmütig (maḥāri wa-reḥuqa ma‘‘at)“ bezeichnet; er übernimmt hier als Bote Gottes eine von dessen Eigenschaften. Er ist es auch, der Henoch bei seinem Aufstieg in den Himmel „alle Geheimnisse der Barmherzigkeit (meḥrat)“ zeigt (71,3). Nach der Erklärung Michaels in 60,5 dauerte Gottes Barmherzigkeit (meḥrat) bis zum heutigen Tag des Gerichts; Gott „ist barmherzig und langmütig gewesen gegenüber denen, die die Erde bewohnen.“ Auch das Gericht erfolgt „nach seiner Barmherzigkeit (meḥrat) und Geduld“ (60,25). Wenn „der Erwählte“ (der Messias-Menschensohn der Gleichnisreden) inthronisiert wird, werden die himmlischen Heerscharen den Namen des Herrn der Geister preisen mit dem Geist der Treue, der Weisheit, der Geduld, der Barmherzigkeit, des Gerichts, des Friedens und der Güte (61,11), und sie werden die Größe der Barmherzigkeit des Herrn der Geister preisen (61,15). Vor dem Inthronisierten werden „die Könige und die Mächtigen“ niederfallen, werden „anbeten und ihre Hoffnung auf diesen Menschensohn setzen“ sowie „ihn um Barmherzigkeit (meḥrat) bitten“, doch der Herr der Geister selbst wird sie abweisen (62,9). Im Gericht ist es zu spät, um Erbarmen zu bitten. Ein anderer Ton wird allerdings in 50,2f. angeschlagen. Demnach wird in der Endzeit „anderen“ das Vorbild der Gerechten gezeigt, auf dass sie umkehren und ihrer Hände Werk verlassen. Diese „anderen“ haben keine Ehre 68 in der Gegenwart des Herrn der Geister, doch „in seinem Namen werden sie gerettet werden; 66 Im griechischen Chester-Beatty-Papyrus wird dieser Satz doppelt mit gewissen Abweichungen geboten; nach Nickelsburg Varianten einer Übersetzung aus dem Aramäischen. Das Wort ἀνομία wird in der zweiten Variante geboten; in der ersten fehlt ein entsprechender Ausdruck. Die äth. Version liest hier xaṭi’at-ni „Sünde“. Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 469f. 67 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 477. 68 In den Hss. überwiegt die Lesung „keine Ehre“. Allerdings entscheidet sich Nickelsburg gegen diese Lesung und folgt zwei Handschriften, die „Ehre“ lesen. G. W. E. Nickelsburg/ J. C. VanderKam, 1 Enoch 2: A Commentary on the Book of 1 Enoch, Chapters 37-82 (Hermeneia), Minneapolis, MN 2012, 180.182f. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 55 und der Herr der Geister wird Erbarmen über sie haben (√meḥra), denn groß ist sein Erbarmen (meḥrat).“ Hier wird also erstmals in der Henoch-Literatur die Möglichkeit der Umkehr eingeräumt. Die „anderen“ sind am ehesten Sünder, die eben deshalb keine „Ehre“ bei Gott haben, jedoch von ihrer Sünde ablassen. 69 Das Erbarmen ist inkongruent, allerdings abhängig von der vorhergehenden Umkehr der Sünder. Dies wird in 50,4f. unterstrichen, wonach „die Nicht-Umkehrwilligen in seiner Gegenwart verderben“ und der Herr der Geister ansagt: „Hiernach werde ich kein Erbarmen über sie haben (√meḥra).“ 2.4 Das Jubiläenbuch Im Jubiläenbuch (Mitte 2. Jh. v. Chr.), 70 im Ganzen auf Äthiopisch überliefert und fragmentarisch auf Hebräisch in Handschriften aus Qumran bezeugt, wird das Thema der Gnade bzw. Barmherzigkeit Gottes in engem Bezug zum Volk Israel entwickelt. Bereits zu Beginn des Buchs, das das narrative Setting am Berg Sinai darlegt, bittet Mose in einem kurzen Plädoyer ( Jub 1,19-21) Gott darum, dass dessen Volk nicht den Heidenvölkern ausgeliefert wird: „Möge dein Erbarmen (äth. meḥratka) erhoben werde über deinem Volk. Und schaffe ihnen einen rechten Geist. Und der Geist Belials beherrsche sie nicht“ ( Jub 1,20). Hier sind Aspekte von Dtn 9,25-29 verarbeitet, 71 wo allerdings der Bezug zum Erbarmen fehlt. Der Sonderstatus Israels wird im Jubiläenbuch konkreter darin angelegt, dass Gott es am Sabbat der Schöpfungswoche erwählt und dabei zugleich zu künftiger Sabbatobservanz bestimmt, in Gemeinschaft mit ihm selbst und den höheren Engelklassen ( Jub 2,19-33). Damit ist die These Sanders’, dass Gott zuerst erwählt und dann erst die Gebote der Tora erlässt, 72 substanziell zu nuancieren: Zwar geht die Erwählung sachlich voraus, sie ist aber unmittelbar mit der Bestimmung zu Tora-Gehorsam verbunden. Dem ganzen Volk wird die Tora freilich erst am Sinai kundgetan; doch da die Tora nichts anderes ist als das der Schöpfung eingestiftete (Natur-) Gesetz, halten bereits die Protoplasten sowie die Patriarchen Einzelgebote der Tora. 69 Diese Deutung folgt G. Boccaccini, Forgiveness of Sins: An Enochic Problem, a Synoptic Answer, in: L. T. Stuckenbruck/ G. Boccaccini (Hgg.), Enoch and the Synoptic Gospels: Reminiscences, Allusions, Intertextuality (SBLEJL 44), Atlanta, GA 2016, 153-167 (159-162). 70 Die Datierung des Jubiläenbuchs ist umstritten. Es gibt gegenwärtig drei Datierungsansätze: (a) kurz vor 167 v. Chr., (b) ca. 150-140 v. Chr., (c) um 110 v. Chr. Vgl. die neuerliche Diskussion bei J. C. VanderKam, Jubilees: A Commentary in Two Volumes (Hermeneia), Minneapolis, MN 2018, Bd. 1, 28-28, der für „a time not too far from the 160s—perhaps the 150s—“ (38) als die wahrscheinlichste Zeit für die Abfassung des Buches plädiert. 71 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 156f. 72 So emphatisch - für die tannaitische Literatur - Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 87.101.178 u. ö. Sanders sieht im Jubiläenbuch „the same“ „basic pattern“ wie anderswo im palästinischen Judentum (371). 56 Lutz Doering Der Sonderstatus Israels wird auch in Jub 5,17f. reflektiert. Nach der Flut sind alle Kreaturen mit einer neuen Natur ausgestattet worden (5,12); diejenigen, die von dem ihnen vorgeschriebenen Pfad abweichen, sollen ohne Ansehen der Person (sc. zugrunde) gerichtet werden (5,13-17). Für Israel allerdings wird eine Sonderregelung getroffen: Wenn sie sich zu Gott bekehren in der rechten Weise, „wird er all ihre Übertretung vergeben und all ihre Sünden verzeihen. (18) Es ist geschrieben und angeordnet, dass er sich aller erbarmen wird (√meḥra), die sich bekehren von all ihren Sünden einmal jedes Jahr.“ Diese Angabe legt nahe, dass hiermit auf den Versöhnungstag rekurriert wird, auch wenn der Name hier nicht verwendet wird. 73 Gottes Barmherzigkeit antwortet hier jeweils auf menschliche Umkehr; allerdings stellt Gott die Möglichkeit der Sühne seinem erwählten Volk bereit. Unter den Urvätern vor der Flut wurde Noah (Gottes) Gunst erwiesen ( Jub 5,19; äth. tanše’a lotu gaṣṣu, „ihm wurde sein Angesicht erhoben“, vgl. hebr. םינפ אשנ ) um seiner Kinder willen, die er aus den Wassern der Flut um seinetwillen rettete, da er rechtschaffen war und nicht übertrat, was für ihn angeordnet worden war. Hier stehen Gunst und Rechtschaffenheit in einem Wechselverhältnis; Gunst im Sinn des „Ansehens der Person“ ist nämlich etwas, das das Jubiläenbuch ansonsten in Anlehnung an Dtn 10,17 für Gottes Handeln streng ablehnt ( Jub 5,16; 21,4). Gleichwohl liegt in 10,3 - trotz Noahs Rechtschaffenheit - der Akzent auf Gottes Gnade und Erbarmen, wenn Noah in Gegenwart seiner Kinder betet: „Denn groß war deine Gnade (šāhlka) über mir, und groß war dein Erbarmen (meḥratka) über meinem Leben. Möge sich deine Gnade (šāhlka) über die Kinder deiner 74 Kinder erheben“ ( Jub 10,3). Damit, so Noah, würde verhindert, dass die bösen Geister über seine Nachkommen herrschten und sie von der Erde vertilgten. Gottes Gnade bzw. Barmherzigkeit bestätigt die Verschonung Noahs und seiner Familie und sorgt ebenso für künftige Verschonung seiner Nachkommen. Die Sonderstellung Israels wird in Jub 22,28-30 weitergeführt; 75 demnach bittet Abraham Gott für seinen Sohn Jakob: „Deine Gnade (šāhlka) und dein Erbarmen (meḥratka) sei lange über ihm und über seinem Samen alle Tage“ (22,28). Die Nachkommen Jakobs mögen bewahrt, gesegnet und geheiligt wer- 73 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 289 f. Nach Jub 50,10f. wird auch dem Tamid-Opfer und dem Sabbat-Brandopfer sühnende Qualität zugeschrieben. Ob sich Jub 6,14 auf das Tamid bezieht, ist umstritten (positiv: VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 313 f.; negativ: C. Werman, The Book of Jubilees: Introduction, Translation, and Interpretation, Jerusalem 2015 [hebr.], 225 f., die hier eine Entschuldigung für profane Schlachtung annimmt). 74 Möglicherweise ein Irrtum für „meiner“; vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 402. 75 In Jub 12,29 bietet der äth. Text einen zusätzlichen Satz im Wunsch Terachs für Abram, für den aber im hebr. Fragment 11Q12 9 nicht genügend Platz ist und der daher wohl als sekundärer Zuwachs zu betrachten ist: „Und er gebe über dich Gnade und Barmherzigkeit und Güte vor denen, die dich sehen“. Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 1, 443.460. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 57 den. „Und erneuere deinen Bund und deine Gnade (šāhlka) mit ihm und mit seinem Samen in deinem ganzen Willen in allen Generationen der Erde“ (22,30). „The eternal race, enriched by divine blessing and care, contrasts sharply with the nations, who will vanish from the face of the earth.“ 76 Nach Jub 23,23 (mit fragmentarischer Bezeugung in 4Q176 Frg. 19-20) besitzen die Sünder der Heidenvölker „weder Barmherzigkeit noch Gnade“ (meḥrata wa-šāhla; für Letzteres lässt sich in 4Q179 19-20 4 םימ R [חרו ergänzen) und werden Israel Gewalt antun; damit knüpft das Jubiläenbuch an entsprechende Themen aus den Prophetenbüchern an (z. B. Jes 13,17f.; V. 18: וּמ ֵ ח ַ ר ְ י אֹ ל ). 77 Im weiteren Verlauf des Kapitels hören wir, dass die gerechten Israeliten, deren „Knochen in der Erde ruhen“ und deren „Geist viel Freude hat“, erkennen werden, „dass es der Herr ist, der Gericht hält und der Gnade (šāhla) wirkt an Hunderten und an Zehntausenden 78 und an allen, die ihn lieben“ ( Jub 23,31). Während die hier vorausgesetzte Anthropologie und Eschatologie umstritten sind (leben die bestatteten Gerechten im Geist weiter? ), dürfte klar sein, dass das Ende des Verses Ex 20,5f.; Dtn 5,9f. neu schreibt, wonach Gottes Gnade/ Huld ( דסח ) denen gilt, die ihn lieben und seine Gebote halten. 79 Letzteres ist in Jub 23,31 nicht explizit erwähnt, doch sagt 23,26, dass „in jenen Tagen die Kinder anfangen werden, die Gesetze zu erforschen und die Gebote zu suchen und zum rechten Weg umzukehren.“ Die in Jub 23,31 erwähnte „Gnade“ hat daher ein reziprokes Verhältnis im Blick. Schließlich heißt es unter den Israeliten insbesondere von Jakob, dass er Gnade und Barmherzigkeit erfahren hat (31,24f.; 45,3; vgl. 35,5), und Jakob selbst wird als ein „freigebigerer und barmherzigerer Mann“ als Esau gezeichnet (37,15; maḥāri). Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Gnade und Erbarmen im Jubiläenbuch in Entsprechung zum Wert des erwählten Volkes gewährt werden. Jub 23 zeigt, dass Abfall vom Gesetz für möglich gehalten wird (V. 8-15) und dass diejenigen, die zum Studium und Tun des Gesetzes zurückkehren, Gnade erfahren (V. 16-31). Erwählung und die Erwartung der Tora-Observanz sind eng gekoppelt. Barmherzigkeit antwortet auf Umkehr, doch Gott ist auch darin gnädig, dass er dem erwählten Volk die Möglichkeit der Sühne gewährt. Bestimmte Übertretungen können aber nicht gesühnt werden, wie z. B. Sabbatbruch, der mit Ausrottung bzw. Tod bedroht wird ( Jub 2,27; 50,8.13). Es sind nicht einfach „Ab- 76 VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 669. 77 Vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 692. 78 Die Lesung „und an Zehntausenden“ nach 4Q176 21 5. Es ist umstritten, ob das hebr. Fragment zuvor „an Hunderten“ oder „an Tausenden“ liest; vgl. VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 676. 79 Vgl. zum ganzen Vers Jub 23,31 VanderKam, Jubilees, Bd. 2, 701f. 58 Lutz Doering trünnige“, die hier keine Vergebung erhalten, sondern sündige Israeliten, deren (individuelles) Handeln durchaus die Bundeszusagen verfehlt. 80 2.5 Die Hodajot aus Qumran Unter den auf den Jachad zurückgehenden Qumrantexten kommen in den Hodajot Gnade und Barmherzigkeit Gottes in besonderer Weise zur Sprache, was ihre exemplarische Behandlung hier rechtfertigt. 81 Die Hodajot sind eine Anthologie von Lobliedern aus dem 1. Jh. v. Chr. Die Komposition ist fluide: Die Zahl und Reihenfolge der Lieder in der umfangreichsten Handschrift 1QH a weicht von denen der fragmentarischen Handschriften aus Höhle 4 ab. 82 Nach der heutigen Textrekonstruktion von 1QH a stehen in der Mitte der Komposition (Kolumnen X-XIX) „Lehrerlieder“, am Anfang und Ende ([I] 83 -VIII; XX- XXVIII) „Gemeindelieder“. Während in früherer Forschung die „Lehrerlieder“ historisch auf den Lehrer der Gerechtigkeit zurückgeführt wurden (daher der Name), wird das „Ich“ dieser Lieder heute eher repräsentativ für führende Mitglieder des Jachad verstanden - mindestens in der Gesamtkomposition. Carol Newsom zufolge definiert die in diesen Liedern sprechende Anführerfigur „the boundaries of the sect and is the conduit for many of the spiritual benefits that members of the sect receive.“ Die „Gemeindelieder“ wiederum drücken „the distinctive experience of the self cultivated by the sect“ aus. Den Hodajot kommt so ein performatives Element zu: In der gemeinsamen Rezitation dieser Loblieder, die den geführten Weg des Selbst thematisieren, versichern sich die Mitglieder des Jachad der Neudeutung ihrer Identität. 84 80 Vgl. dagegen die lange Darstellung bei Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 362-383, der Mühe zeigt (insbes. 378), das Phänomen nicht sühnbarer Übertretungen zu erklären und auf die Brisanz der Krise zur Zeit des Jubiläenbuchs verweisen muss. Die Drohung der „Ausrottung“ für den, der die Sabbatvorschriften des Jubiläenbuchs übertritt, legt jedenfalls nahe, dass es nicht um „Apostasie“ geht. 81 Umfängliche Diskussionen bei Barclay, Paul and the Gift, 239-265; Maston, Divine and Human Agency, 75-123. Qumrantexte über die Hodajot hinaus werden z. B. berücksichtigt bei Zanella, Vergeltungsvorstellungen, v. a. 87-89.186-189. 82 1QH a kann als De luxe-Ausgabe verstanden werden. Ursprünglich umfasste sie 28 Kolumnen und ist die längste Komposition des Jachad. Zur Edition und Textzählung s. o., Anm. 24. Es gibt insgesamt sieben weitere Handschriften der Hodajot: 1QH b (= 1Q35) und 4Q427-4Q432 sowie vier weitere „Hodayot-like texts“ (4Q433, 4Q433a, 4Q440, 4Q440a). Nicht alle Handschriften der Hodajot werden den gesamten Textumfang enthalten haben. Vgl. D. Stökl Ben Ezra, Qumran (Jüdische Studien 3), Tübingen 2016, 249-251; G. Xeravits/ P.Porzig, Einführung in die Qumranliteratur. Die Handschriften vom Toten Meer, Berlin 2015, 211-216. 83 Die erste Kolumne ist nicht erhalten. 84 C. A. Newsom, The Self as Symbolic Space: Constructing Identity and Community at Qumran (StTDJ 52), Leiden 2004, 347-351 (zusammenfassend), Zitate: 349.347f. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 59 Mit Blick auf Gnade bzw. Barmherzigkeit finden sich in 1QH a nicht weniger als 38 Erwähnungen von םימחר , einschließlich plausibler - z.T. auf Parallelen von Handschriften aus Höhle 4 basierender - Rekonstruktionen, neben 37 solchen Erwähnungen von דסח und 14 von בוט „Güte“. Eine Reihe von Aussagen bezieht die Größe von Gottes Erbarmen ( םימחר ) auf die Sündenvergebung, die die Beter erfahren haben, etwa 1QH a IV 23 f. mit einem summarischen Hinweis auf die entsprechenden Verheißungen der Tora: „[Du hast erlöst] deinen Knecht von allen seinen Sünden im [Überfluss] deines Erbarmens, (24) [wie] du [ge]sagt hast durch Mose: [Sünde zu vergeben], Schuld und Missetat, und zu sühnen [Übertretung] und Treuebruch“. 85 Einige Abschnitte bringen eine intensive Darlegung der Niedrigkeit und Wertlosigkeit der Betenden zum Ausdruck, die in der Forschung als „Niedrigkeitsdoxologie“ bezeichnet wird; 86 dem wird Gottes Erbarmen und Gnade gegenübergestellt (V 31-35): „Und was ist der von der Frau Geborene unter allen [deinen] furchteinflößenden [Werken]? Er ist (32) ein Gebäude von Staub und mit Wasser geknetet, schmachvolle Schande ist sein Fundament, obszöne Schande und eine Qu[elle von Un]reinheit. Und ein verkehrter Geist herrscht (33) in ihm. Und wenn er böse handelt, wird er [ein Zeichen bis zur] Ewigkeit und ein Fanal für ferne Geschlechter nach (? ) dem Fleisch. Nur durch deine Güte ( ךבוטב ) R (34) wird ein Mann gerecht und durch die Menge [deines] Erb[armens …] ( ךימ[ ֯ חר ב ֯ ו ֯ רבו ). Mit deiner Pracht stattest du ihn herrlich aus und du lässt [ihn] herrschen [in einer M]enge von Wonnen mit ewigem (35) Frieden und Länge der Tage“ (vgl. auch z. B. VII 34; XII 30-34; XV 29 f.; XIX 6.12-17). Entsprechend preist der Beter Gottes umfassende Macht (z. B. XVIII 16 f.). Er ist es, der des Beters „Horn erhebt über alle, die mich verachten“ (XV 25) und bietet Trost (XIX 35), Schutz vor Bedrohung und Rettung: „Ich lobe dich, Herr, denn du hast meine Seele/ mich ins Bündel des Lebens gelegt, (23) und du beschützt mich vor allen Fallen der Grube. D[e]nn Gewalttätige suchten mein Leben, während ich mich stütze (24) auf deinen Bund“ (X 22- 24). All dies zeigt den größtmöglichen Abstand zwischen Gott und Mensch an. Nur Gott kann den schwachen, sündigen und gefährdeten Menschen zurechtbringen. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch nicht Passivität auf Seiten des Menschen, wie in der Aussage über das Festhalten am Bund deutlich wird. Barclay schreibt: „If the hymns deny human capacity, in order to trace its source in God, the purpose is not to characterize the two agencies as mutually exclusive, but to hang every sectarian act on the will and initiative of God.“ 87 85 Siehe ferner 1QH a V 33-35; VI 34 f.; VIII 34 f.; XII 35-38; XV 32-34; XVII 33 f.; XIX 11f.33- 37; z.T. in Verbindung mit den anderen beiden oben genannten Termini. 86 Vgl. H.-W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran (StUNT 4), Göttingen 1966, 27. 87 Barclay, Paul and the Gift, 248. 60 Lutz Doering In den Hodajot wird Gott mehrfach als „gnädiger und barmherziger Gott“ angesprochen (VIII 34 תמאו דסח ֯ ב ֯ ר ֯ ו ֯ ם ֯ י ֯ פ ֯ א ֯ ך ֯ ו ֯ ר ֯ א ֯ םוחרו ֯ ן ֯ ו ֯ נ ֯ ח] לא ; vgl. Ex 34,6! ), 88 als „Gott des Erbarmens und groß an Gnade“ (XVIII 16 ֯ ם ֯ ימחרה לא דסח]ה בר[ ֯ ו ) oder als „Gott des Erbarmens und der Gnade“ (XIX 32 םימחרה לא הנינ ח הו ). Ein Aspekt der Identitätsdeutung in den Hodajot ist die Annahme einer Vorherbestimmung des Gerechten zum bundesgemäßen Leben und des Frevlers zum Gericht (VII 27-33; VIII 26 f.). Dies steht im Kontext eines weitreichenden Determinismus, bei dem Gott in seiner Weisheit das Geschick eines jeden Geschöpfs bestimmt hat, bevor es zu existieren begann (vgl. IX 21 f.). 89 Doch auch hier wird die menschliche agency nicht negiert, sondern korrespondiert mit dem göttlichen (Schöpfer-) Handeln: „Nur du [hast gesch]affen den Gerechten und ihn von Mutterleib an bestimmt für die Zeit des Willens ( ןוצר ), damit er in deinem Bund bewahrt werde und in allem wandle …“ (VII 27 f.); „aber die Gottlosen hast du geschaffen zum Zw[e]ck deines Zorns, und von Mutterleib an hast du sie geweiht für den Schlachttag. Denn sie wandelten auf einem Weg, der nicht gut ist, und verwarfen deinen Bund“ (VII 30 f.). Nur den Mitgliedern des Jachad, „allen Kindern seiner (sc. Gottes) Wahrheit“ werden „die Größe seiner Gnade ( וידסח ) und die Menge seines Erbarmens ( וימחר )“ zuteil (1QH a XXVI 32 in Verbindung mit 4Q427 [4QH a ] 7 ii 14). Fassen wir zusammen: In den Hodajot kommen Lexeme im Wortfeld „Gnade/ Barmherzigkeit“ in großer Dichte vor und werden in markanter Weise zur Kennzeichnung Gottes benutzt. Die Hymnen betonen das Übermaß des göttlichen Erbarmens und die Wertlosigkeit des Menschen, dessen Begnadung staunendes Lob und Dankbarkeit auslöst. Damit heben die Hodajot stark auf die Inkongruenz der Gnade ab. Die Gnade ist aber zugleich wirksam, weil sie in Gottes Macht gründet. Und sie führt zu entsprechendem Verhalten des Menschen, der nun begnadet in Treue zu Gott und seinem Gebot wandelt. Barclay hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Ratschluss der Vorherbestimmung nie durch Lexeme im Wortfeld „Gnade etc.“ ausgedrückt wird, sondern durch Hinweis auf Gottes „Willen“ ( ןוצר ). Die Lexeme Erbarmen, Gnade und Güte „are reserved for a secondary phenomenon, God’s intervention in the lives of the sectarians.“ 90 Bundestheologie wird hier prädestinatorisch angeschärft und zieht unterscheidende Linien innerhalb des Bundesvolks zwischen Mitgliedern des Jachad und solchen, die dies nicht sind. 88 Die Wendung aus Ex 34,6 ist auch aufgenommen in 4Q511 52+55-56+57-59 1; vgl. auch 1QH a VI 34 f.; CD-A ii 4. 89 Dazu vgl. die Zwei-Geister-Lehre in 1QS III 13-IV 26; auch 4QInstruction. 90 Barclay, Paul and the Gift, 263. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 61 2.6 Die Sapientia Salomonis Ein völlig anderes Terrain betreten wir mit der zeitgleich oder etwas später, vermutlich in Ägypten - vielleicht Alexandrien - auf Griechisch abgefassten Sapientia Salomonis. 91 Dieses der protreptischen Rede nahestehende, an biblische Weisheitstraditionen anknüpfende und fiktiv einem als Salomo erkennbaren König zugeschriebene Werk wird häufig in drei Teile gegliedert (1,1-6,21: eschatologischer Teil; 6,22-11,1: weisheitlicher Teil; 11,2-19,22: historischer Teil - z.T. abweichende Verszuordnungen), doch ist m. E. die von Karl-Wilhelm Niebuhr vorgeschlagene Zweiteilung anhand von Gliederungssignalen an der Textoberfläche aufgrund ihrer Zugänglichkeit für Lesende oder Hörende angemessener: 1,1-8,16: Die erste Rede des Herrschers (an seine Herrscherkollegen); 8,17-19,22: Die zweite Rede des Herrschers (an Gott). 92 Aus dem ersten Teil ist der Abschnitt 1,16-5,23: Die Rede über Gottlose und Gerechte, aus dem zweiten der Abschnitt 11,17-12,22: Gott straft in Maßen, für unsere Fragstellung relevant. Darüber hinaus ist auf Aussagen zum Geschenkcharakter der Weisheit zu achten. Zu Beginn der Rede über Gottlose und Gerechte hören wir, dass die Frevler einen Pakt mit dem Tod bzw. dem Hades machen (Sap 1,16) und beschließen, angesichts der Vergänglichkeit des Lebens die vorhandenen Güter in vollen Zügen zu genießen (2,1-9). Das wilde Treiben schließt ein, den gerechten Armen, die Witwe und den Greis zu unterdrücken sowie den Gerechten bis zum Tod zu misshandeln (2,10-20). Nach Sap 2,22 erhoffen die Frevler „keinen Lohn (μισθόν) für Frömmigkeit“ und erkennen „kein Ehrengeschenk (γέρας) für untadlige Seelen“ an. Doch die Gerechten sind in Gottes Hand (3,1-9): Folter und Tod können ihnen nichts anhaben, da sie „nach geringer Züchtigung große Wohltaten erfahren (μεγάλα εὐεργετηθήσονται)“ (3,5) und Völker richten sowie Nationen beherrschen werden (3,8). Daher werden „Gnade und Erbarmen bei seinen Heiligen (χάρις καὶ ἔλεος ἐν τοῖς ὁσίοις αὐτοῦ) sein und gnädige Heimsuchung bei seinen Auserwählten (ἐπισκοπὴ ἐν τοῖς ἐκλεκτοῖς αὐτοῦ - fehlt bei Rahlfs).“ Die Gottlosen hingegen werden ihre Strafe erhalten (3,10-12). Der früh verstorbene Gerechte wird Ruhe haben (4,1-15); Gott hat ihn aus der Mitte der Sünder entrückt, damit er gleichsam ihrem bösen Einfluss entzogen werde. 91 Vgl. K.-W. Niebuhr, Einführung in die Schrift, in: ders. (Hg.), Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos) (SAPERE XXVII), Tübingen 2015, 3-37 (30-33); und die Konklusion bei W. Ameling, Die jüdische Diaspora im hellenistischen Ägypten, in: ebd., 191-218: „Sapientia stammt also aus dem späten Hellenismus oder der frühen Kaiserzeit - und vielleicht aus Ägypten“ (194). - Die Zitate aus Sapientia Salomonis folgen in der Regel der Übersetzung von H.-G. Nesselrath im selben Band und basieren auf dem dort publizierten griechischen Text. 92 Vgl. Niebuhr, Einführung, 19-21. 62 Lutz Doering Die Völker erkennen jedoch nicht, dass „Gnade und Erbarmen bei seinen Auserwählten“ sind und „gnädige Heimsuchung bei seinen Heiligen“ (4,15). 93 Nach Sap 4,16-20 wird der tote Gerechte die lebenden Frevler (mit) verurteilen; Letztere werden bei der „Abrechnung ihrer Sünden“ (ἐν συλλογισμῷ ἁμαρτημάτων αὐτῶν) schlecht aussehen (4,20). Ihre Einsicht in die Verderblichkeit ihrer Taten kommt zu spät (5,1-13). Im Endgericht (5,14-23) wird die Hoffnung der Gottlosen zerstreut werden. „Die Gerechten aber leben in Ewigkeit, und im Herrn ist ihr Lohn (μισθός)“ (5,15). Präzise lässt die Sapientia den jeweiligen Akteuren das zukommen, was sie verdient haben. 94 „Gnade und Erbarmen“ gelten nur den Auserwählten bzw. Heiligen. Der Gerechte erhält den Lohn, den die Frevler abstreiten. Seine Misshandlung ist nur Züchtigung, die von großen „Wohltaten“ gefolgt wird. Die Frevler hingegen sehen bei der „Abrechnung der Sünden“ - sit venia verbo - „alt“ aus. Sie erhalten ihre Strafe „so wie ihr Denken war“ (καθὰ ἐλογίσαντο; 3,10). Ihr Pakt mit dem Tod (1,16) bewährt sich. In Sap 11,17-12,22 findet sich eine exkurshafte Ausführung über das maßvolle Strafen Gottes. Hier heißt es nun: „Du hast aber Erbarmen (ἐλεεῖς) mit allen, denn alles vermagst du, und du siehst hinweg über Verfehlungen der Menschen in Hinsicht auf ihre Reue“ (11,23). Weil Gottes unvergänglicher Geist in allem ist, straft er „die auf Abwege geraten“ (παραπίπτοντας) nur in geringem Maß und weist sie zurecht (νουθετεῖς), damit sie von der Bosheit ablassen und auf Gott vertrauen (12,1f.). Daraus folgt nicht, dass die Gottlosen nicht straflos ausgingen - im Gegenteil. Aber indem er sie „nach und nach“ bestrafte, gab er „Raum für Reue“ (12,10). Barclay schreibt: „At the end of the day God has to punish those ‚deserving of death‘ (ὀφειλομένοι θανάτῳ), even if he does so with great care and indulgence“ 95 (12,20). Gott verwaltet „als Gerechter … in Gerechtigkeit das All“; es entspricht nicht seiner Macht, den zu verurteilen, dem solches nicht zukommt (12,15). Daraus folgt, dass auch die Israeliten um Gottes Güte besorgt sein sollen (σου τὴν ἀγαθότητα μεριμνῶμεν), wenn sie richten, und auf Erbarmen rechnen sollen (προσδοκῶμεν ἔλεος), wenn sie gerichtet werden (12,22). Erbarmen und Gerechtigkeit folgen somit einem Maß. Der Autor der Sapientia versucht, Erbarmen und Gerechtigkeit in einer Weise in Beziehung zu setzen, dass beide nicht kompromittiert werden. Schließlich ist noch knapp auf das Geschenk der Weisheit hinzuweisen, wie es in der Sapientia vorgestellt wird. Sap 6,12-16 beschreibt die Weisheit als Gabe, die aus eigenem Antrieb denen erscheint, die ihrer „würdig“ (ἀξίους; 6,16) sind. Nach 8,21 gibt Gott die Weisheit 93 Nach Nesselrath bei Niebuhr, Sapientia Salomonis, 116 Anm. 73, trotz Ähnlichkeit mit 3,9 nicht zu tilgen, da sonst dem vorangehenden τὸ τοιοῦτο der Bezug fehlen würde. 94 Vgl. Barclay, Paul and the Gift, 197. 95 Barclay, Paul and the Gift, 210. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 63 als „gnädiges Geschenk“ (χάρις). Und in seinem Gebet um Weisheit redet der Erzähler Gott entsprechend als „Herr des Erbarmens“ (κύριε τοῦ ἐλέους) an (9,1). 96 Insofern die Weisheit das Leitprinzip alles Seienden ist, kommt in ihrer so beschriebenen Mitteilung noch einmal der Charakter von Gnade und Erbarmen als mit Blick auf die Empfangenden passend gewährt zum Ausdruck. 2.7 Philo von Alexandrien Die Behandlung des Themenbereichs Gabe, Gnade und Barmherzigkeit durch Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr. - 50 n. Chr.) ist so umfangreich, dass hier nur einige Streiflichter geboten werden können. 97 Philo weist der χάρις vor allem einen Ort „in der theologischen Deutung der Schöpfung“ 98 zu. In seiner Deutung von Gen 6,8 im Allegorischen Kommentar fragt Philo, was es bedeute, dass Noah „Gnade gefunden hat vor dem Herrn Gott“, und legt dar (imm 104-108), dass Noah weder einfach Gnade erlangte (χάριτος ἔτυχεν) wie alle Wesen - denn das wäre nichts Besonderes - noch der Gnade für würdig befunden wurde (χάριτος ἄξιος ἐνομίσθη) - denn so vollkommen könne keiner sein -, sondern dass er als Edler (ἀστεῖος) ein Suchender und Lernbegieriger wurde und dabei die sichere Wahrheit fand, dass Gnade Gottes (χάριν … θεοῦ) das All (τὰ πάντα) ist, also Erde, Wasser, Luft, Feuer, Sonne, Himmel, Tiere und Pflanzen. Aus der neidlosen Verteilung der Güter durch Gott (vgl. Plato, Tim. 29e) schließt Philo, dass der Grund für die Entstehung der Welt die Güte des Seienden (ἡ τοῦ ὄντος ἀγαθότης = Gottes) ist. In ähnlicher Weise deutet Philo den Ausdruck „ewiger Gott“ (Gen 21,33) auf den in der creatio continua unaufhörlich Gutes tuenden und Wohltaten (χάριτες) schenkenden Gott (plant 89). Philo macht allerdings noch einen Unterschied zwischen Noah, der seiner Auslegung zufolge den zwei Kräften Gottes („Herr“ und „Gott“) gefiel, und Mose, von dem es in Ex 33,17 heißt, er habe Gnade „mit mir“ (so in Philos Wiedergabe) gefunden; dies deute auf eine überlegene Weisheit in Mose und eine sekundäre in Noah (imm 109 f.). Barclay bilanziert: „So long as it is clear that the worth of the recipient does not reduce the infinite distance between God and his creation, and is not a cause of divine gifts, only a condition for their specific contribution, 96 Zu ἔλεος in der Sapientia vgl. noch Sap 15,1 „und in Erbarmen verwaltend das All“ sowie 16,10, wonach die Israeliten von Schlangenbissen (vgl. Num 21,6-9) durch „dein Erbarmen“ geheilt wurden. 97 Vgl. die umfangreichen Diskussionen bei Zeller, Charis, 33-128; Barclay, Paul and the Gift, 212-238; O. McFarland, God and Grace in Philo and Paul (NT.S 164), Leiden 2016, 25-102. 98 Zeller, Charis, 125. 64 Lutz Doering Philo finds it appropriate, even necessary, to speak of God’s gifts as distributed to fitting or worthy recipients.“ 99 Die gerade genannte Unterscheidung der beiden Kräfte erlaubt es, in spannungsvoller Weise Gottes schöpferische Kraft (so deutet Philo θεός) und seine herrscherliche Kraft (so deutet er κύριος) zu unterscheiden (z. B. QGen 2,16; plant 85-92), mit der schöpferischen Kraft als der „älteren“ (QEx 2,62), 100 ohne die Güte des Seienden (d. h., Gottes, siehe oben) infrage zu stellen. Diese Kräfte sind aufeinander bezogen wie die beiden Cheruben im Tempel, die sowohl einander als auch die Sühnedecke der Bundeslade anblickten; denn „wenn Gott nicht verzeihend wäre gegen das, was jetzt ist, 101 hätte er weder etwas durch seine schöpferische (Kraft) geschaffen noch Gesetze gegeben durch seine herrscherliche“ (QEx 2,66). „Gottes χάριτες werden hier in eine wohldurchdachte, ziemlich geschlossene Konstruktion eingebaut, durch die Philo die ursprüngliche Güte Gottes in der Schöpfung gegenüber den Widersprüchen schon im Naturgeschehen absichert.“ 102 Diese Kräfte kommen aber auch in Gottes Beziehung zu den Menschen zum Tragen. In QEx 68 legt Philo dar, dass aus der schöpferischen Kraft die „verzeihende“ (nach dem griech. Fragment: ἡ ἵλεως) erwächst, die „wohltuend“ (εὐεργέτις) heißt, aus der herrscherlichen aber die „gesetzgebende“ (ἡ νομοθετική), die auch die „strafende“ (ἡ κολαστήριος) genannt wird. Nach fug 103-105 sind der göttliche Logos sowie die schöpferische und herrscherliche Macht weit vom Menschengeschlecht entfernt; hingegen sind die versöhnende und die gesetzgebende Kraft - hier noch einmal in eine vorschreibende und verbietende unterschieden - den von der Sünde befallenen Menschen nahe. Da sich Gott seiner vollkommenen Güte (ἀγαθότης) erinnert, richtet er die Menschen wieder auf, obwohl sie durch das Übermaß ihrer Sünden untergehen 99 Barclay, Paul and the Gift, 216. 100 Diese Differenzierung erinnert an die spätere rabbinische Unterscheidung zwischen dem „Maß der Gerechtigkeit“ (middat ha-din) und dem „Maß des Erbarmens“ (middat haraḥamim), die ebenfalls, jedoch gleichsam umgekehrt gegenüber Philo, auf die Gottesnamen bezogen sind: middat ha-din auf den Namen elohim, middat ha-raḥamim auf den Namen JHWH (z. B. Sif Dtn § 26 [41 Finkelstein]; GenR 33,3 [308 Theodor/ Albeck]; vgl. Sifra Aḥare Mot Par. 9,1 [85c Weiss]); vgl. Zanella, Vergeltungsvorstellungen, 196 f. Witte, „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“, 177, rechnet Sir 5,6; 16,11 (s. o.) zu den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der zwei middot Gottes. Zum Argument, dass diese im rabbinischen Judentum (anders als später in der Kabbala) Handlungswege und nicht Attribute Gottes bezeichnen, vgl. K. E. Grözinger, Middat ha-din und Middat ha-raḥamim. Die sogenannten Gottesattribute „Gerechtigkeit“ und „Barmherzigkeit“ in der rabbinischen Literatur, FJB 8 (1980) 95-114. 101 So mit dem griech. Fragment; s. R. Marcus, Philo in Ten Volumes (and Two Supplementary Volumes): Supplement II (LCL), Cambridge, MA und London 1953, 113. 102 Zeller, Charis, 48. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 65 sollten (imm 73). In diesem Zusammenhang nimmt Philo erneut Gen 6,8 auf, setzt hier aber das aus Ps 100,1 LXX genommene „Erbarmen“ ein: „Deshalb heißt es nun, Noah finde bei ihm Gnade (χάριν), während die anderen, die sich als undankbar (ἀχάριστοι) erwiesen, Strafe zahlen sollen, auf dass er das rettende Erbarmen (τὸν σωτήριον ἔλεον) mische mit dem Gericht gegen die Sünder, wie auch der Psalmist irgendwo sagt: ‚Von Erbarmen und Gericht will ich dir singen‘“ (imm-74). Gott macht in der Erhaltung des Menschengeschlechts bei der Flut vom Erbarmen sogar gegenüber den Unwürdigen Gebrauch und „erbarmt sich nicht nur nach dem Richten, sondern richtet auch mit Erbarmen“ (imm 76). Gott gewährt in seinem Strafen einen Aufschub; Philo zeigt dies etwa anhand der sieben Tage, die vom Betreten der Arche bis zum Einsetzen der Flut verstreichen. Gott erwartet aber, dass die Übertreter Reue zeigen und sich flehend an Gott wenden (vgl. QGen 2,13). Das gilt auch für die von Gott „aus Erbarmen mit unserem Geschlecht“ (sc. Israel; her 112) eingesetzten kultischen Institutionen; so wird etwa am Versöhnungstag Vergebung der Sünden geschenkt „durch die Gnaden des verzeihenden Gottes (χάρισι τοῦ ἵλεω θεοῦ), der Reue ebenso schätzt wie das Nicht-Sündigen“ (spec 1,187). Gott kann auf diese Weise seine Gnade an menschliches Verhalten binden. So sagt er nach Mos 1,72: „Denn ich bin von Natur aus gütig (ἤπιος) und den wirklich Schutzsuchenden (γνησίοις ἱκέταις) verzeihend (ἵλεως).“ Manchmal genügt dafür die Haltung; nach congr- 107 wird Gott am Versöhnungstag sofort und ohne Flehen denen gnädig, die sich herabsetzen und erniedrigen. Dabei spielt immer wieder bei Philo die Würdigkeit derer, denen sich Gott zuwendet, eine Rolle; oft scheint es so, als gelte Gottes Gnade nur den Würdigen, und das heißt in der Regel denen, die sich bemühen und etwas tun. 103 Das wird allerdings relativiert in einem Fragment aus dem verlorenen Buch der Legum Allegoriae, das Dtn 30,19 LXX „erwähle das Leben“ kommentiert: „Denn streng genommen wählt der menschliche Geist das Gute nicht aus eigenen Kräften, sondern entsprechend der Achtsamkeit Gottes, da er die besten Dinge den Würdigen schenkt.“ 104 Auch das scheinbare Wählen seitens des Würdigen ist Gottes Geschenk. Dieter Zeller resümiert: „Erlösung besteht letztlich, so könnte man sagen, in der dankbaren Anerkennung des alles bewirkenden Schöpfers.“ 105 Der gebefreudige Gott schenkt also das Gute (χαρίζεται τὰ ἀγαθά) auch den Unvollkommenen, ruft sie aber zugleich zur Teilhabe an der Tugend und zum Eifer für dieselbe auf (all 1,34). Die Mühe auf dem Weg zur Tugend wird, wie im Rückblick deutlich wird, durch den göttlichen Eros erträglich (vgl. z. B. all 3,136f.), 103 Vgl. z. B. QEx 2,51; migr 56 f.; somn 2,177; fug 96 und dazu Zeller, Charis, 67-69. 104 Der Text nach J. R. Harris, Fragments of Philo Judæus, Cambridge 1886, 8. Die Übersetzung folgt Zeller, Charis, 71. 105 Zeller, Charis, 72. 66 Lutz Doering und die Verwirklichung der Tugend wird durch das Bild der Befruchtung der Seele durch Gott als göttliches Werk erkennbar (vgl. z. B. her 36; mut 141 f.). Philo führt den Weg zur Tugend idealtypisch an den Patriarchen vor: an Abrahams Aufbruch zur Tugend, an Isaak als freudigem Günstling und an Jakob als mit dem Engel ringenden Sich-Mühenden; ferner empfiehlt er an Mose als König, Gesetzgeber, Prophet und Priester das jüdische Gesetz als Weg zur Tugend. 106 Zusammenfassend lässt sich sagen, das Philo wesentlich häufiger von Gnade und Gabe als von Erbarmen spricht und Letzteres insbesondere dort tut, wo das biblische Erbe es ihm vorgibt. Philo hebt den Überfluss der Gnade hervor, ebenso ihre „Singularität“ (Gott handelt nur aus Güte und Wohlwollen) und ihr Zuvorkommen. Da Gott letztlich alles bewirkt, hält Philo auch an der Effektivität der Gnade fest, geht aber üblicherweise davon aus, dass Gott Dankbarkeit als angemessene Entgegnung („Vergeltung“) erwartet. Damit vertritt Philo nicht die (neuzeitliche) Vorstellung der „reinen Gabe“. Umstritten ist, welches Gewicht Philo auf die Inkongruenz der Gnade legt. Während Barclay betont, dass Philo üblicherweise die Würdigkeit des Empfängers hervorhebt, und dazu neigt, die Stellen, nach denen auch die Unwürdigen begnadet werden, als eher untypisch zu betrachten, ist zu erwägen, mit Zeller und anderen diesen Stellen ein größeres Gewicht beizumessen. 107 2.8 Das 4. Esrabuch und das 2. Baruchbuch Wir betreten völlig anderen, jedoch kaum weniger spannenden und konzeptionell beeindruckenden Boden im 4. Esrabuch. Auch hier müssen wir uns in der Darstellung auf das Wesentliche beschränken. 4 Esr ist um 100 n. Chr. abgefasst worden, 108 wahrscheinlich auf Hebräisch, ist aber nur in Übersetzungen erhalten, von denen die lateinische und syrische einerseits und die äthiopische andererseits als Vertreterinnen zweier Zweige der Textüberlieferung im Folgenden herangezogen werden. 109 Bekanntlich ringt in dieser in sieben sogenannte 106 Vgl. im Einzelnen Zeller, Charis, 83-103; auch Barclay, Paul and the Gift, 231-237. 107 Vgl. einerseits Barclay, Paul and the Gift, 223-229; andererseits Zeller, Charis, 65-74; M. B. Cover, Rezension von J. Barclay, Paul and the Gift, StPhA 30 (2018) 204-207. 108 Die Vision des dreiköpfigen und vielflügligen Adlers in 4 Esr 11-12 spielt mit den drei Köpfen offenbar auf die drei Flavier-Kaiser an. Es wird diskutiert, ob die Schrift ans Ende der Regierungszeit Domitians zu setzen ist (so M. E. Stone, Fourth Ezra: A Commentary on the Book of Fourth Ezra [Hermeneia], Minneapolis, MN 1990, 10) oder - weil 4 Esr 12,2.28 das Verschwinden des letzten Kopfes erwähnt - in die Zeit kurz nach Domitians Regentschaft (so J. Schreiner, Das 4. Buch Esra, JSHRZ 5/ 4, Gütersloh 1981, 291-411 [301]). 109 Zu Text und Textüberlieferung von 4 Esr vgl. knapp Stone, Fourth Ezra, 1-9. Die Unterscheidung zweier Zweige der Textüberlieferung geht zurück auf R. Blake. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 67 visiones gliederbaren 110 Schrift der Seher Esra mit dem Engel Uriel um das Verständnis des Geschicks der Menschen im Allgemeinen und Israels im Besonderen. Esras fragende und skeptische Haltung in den drei Dialogen der visiones I-III klärt sich erst in visio IV in der Begegnung mit der trauernden Frau, die Zion repräsentiert und sodann ins (himmlische) Jerusalem verwandelt wird (4 Esr 10,25-28). 111 Während „Gnade“ (lat. gratia, syr. raḥme, äth. mogasa) nur in der idiomatischen Wendung „Gnade finden“ vorkommt, 112 ist von „Erbarmen“ (lat. misericordia, syr. raḥme, äth. √meḥra) erstmals in 4 Esr 4,24 die Rede im Anschluss an Esras Frage, weshalb Israel den Völkern zur Schmach ausgeliefert ist (Lat.): „Wir gehen vorüber aus der Welt wie Heuschrecken, und unser Leben ist wie Rauch. Auch sind wir es nicht wert, Erbarmen zu erlangen.“ Während sich dies in Esras Klage über Israels trostlose Lage fügt, bietet die nächste Stelle, 7,33, die aufschlussreiche Bemerkung, dass nach der siebentägigen Auflösung der Schöpfung sowie dem Hervortreten einer neuen Welt, der Auferstehung und dem Erscheinen Gottes zum Gericht „das Erbarmen vergeht“ (Syr. fügt noch an: „die Barmherzigkeit [rāfā] sich entfernt“) und „die Langmut verschwindet“, so dass (7,34) „nur das Gericht“ bleibt. Das zeigt an, dass Erbarmen in der neuen, unvergänglichen Welt keinen Platz hat. Dies kommt in zugespitzter Form in 7,106-115 zur Sprache: Auf Esras Bemerkung, dass die Erzväter und die Vorfahren Israels für Sünder gebetet haben, antwortet Uriel, dass dies nur für die gegenwärtige Welt gilt. Mit dem Gericht kommt aber das Ende der gegenwärtigen und der Anfang der kommenden, unvergänglichen Welt. „Daher kann sich dann niemand dessen erbarmen (lat. misereri, syr. neraḥem, äth. meḥiroto), der im Gericht unterlegen ist, noch den stürzen, der gewonnen hat“ (7,115). Barclay stellt fest: „The logic is clear and impeccable. Mercy would represent a compromise with sin. Such a compromise is necessary in this imperfect world, but it can have no place in a future world where justice and truth take maximal effect.“ 113 Noch jedoch hält Esra an seiner Hoffnung auf Gnade auch im jüngsten Gericht fest. In 7,132-140 führt er eine Auslegung der Gottesattribute aus der in 110 Visio I: 4 Esr 3,1-5,19; II: 5,20-6,34; III: 6,35-9,25; IV: 9,26-10,59; V: 10,60-12,49; VI: 12,50-13,56; VII: 13,57-14,47. Nur IV-VII sind Visionen; I-III sind Dialoge. 111 Ich folge somit einer dynamischen Deutung von 4 Esr, nach der „Esra“ zu einem Sichtwechsel gelangt und hinsichtlich des Ausgangs bei der künftigen Welt die Perspektive Uriels einnehmen kann, ohne dass die Berechtigung der anfänglichen Position Esras für die gegenwärtige Welt geleugnet wird. Ähnlich Barclay, Paul and the Gift, 280-308. Gegen Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 409-418, der - allein Uriels Sicht als die Position des Autors anerkennend - in 4 Esr „the closest approach to legalistic worksrighteousness which can be found in the Jewish literature of the period“ (418) sieht. 112 4 Esr 4,44; 5,55; 6,11; 7,75.102.104; 8,42; 12,6; 14,22. 113 Barclay, Paul and the Gift, 293 (dort z.T. kursiv). 68 Lutz Doering diesem Beitrag schon mehrfach erwähnten „Gnadenformel“ Ex 34,6f. auf: 114 Gott wird „der Barmherzige“ genannt (misericors, mraḥmānā, maḥāri), „der Erbarmer“ (miserator, ḥanānā, mastasāhel), „der Langmütige“ (longanimis, naggir ruḥā, masta‘ages), „der Freigebige“ (munificus, 115 yāhoḇā [wörtl.: „Geber“], ṣaggāwi), „reich an Erbarmen“ (multae misericordiae, saggi raḥme, besux meḥrat), „der Geber“ (donator, yāhoḇā, ṣaggāwi) und „der Richter“ (iudex, dayyānā, makwannen), vermutlich im Sinn eines gnädigen Richters, 116 als den Esra Gott hier ins Spiel bringt. Uriel gibt nur kurz zurück, dass Gott die gegenwärtige Welt um der vielen erschaffen hat, „die zukünftige aber nur um der wenigen willen“ (8,1): „Viele sind zwar geschaffen, aber nur wenige werden gerettet werden“ (8,3). Esra setzt noch einmal an, erinnert Gott daran, dass er sein Geschöpf „durch dein Erbarmen“ fördert sowie durch das Gesetz erzieht (8,11f.) und beschwört Gottes Nachsicht: Wegen „uns Sündern“ wird Gott „der Barmherzige“ (misericors etc. 8,31) genannt. „Denn wenn du dich unser erbarmen willst, die wir keine Werke der Gerechtigkeit haben, wirst du der Barmherzige genannt. Denn die Gerechten, die viele Werke bei dir liegen haben, empfangen ihren Lohn aus ihren eigenen Werken“ (8,32f.). Dies wird noch einmal verbunden mit der Aussage, dass niemand kein Unrecht getan hat. „Darin wird nämlich (Lat. ergänzt: deine Gerechtigkeit und) deine Güte (bonitas tua, ṭuḇeḵ, xirutka) angezeigt, Herr, wenn du dich derer erbarmen wirst, die keinen Bestand an Werken haben“ (8,36). Uriel geht freilich nur auf die Schöpfung der Gerechten, die Rettung und den Lohnempfang ein (8,39). Ein drittes Mal versucht es Esra, gipfelnd im Aufruf: „Schone dein Volk und erbarme dich (miserere, eṯraḥem, maḥar) deines Erbes, ja, deiner Schöpfung erbarme dich“ (8,45). Uriels Antwort fällt wieder unnachgiebig aus: „Jetziges den Jetzigen und Zukünftiges den Zukünftigen“ (8,46). Sie fordert Esra auf, von der zukünftigen Welt her zu denken und sein eigenes Los unter den Gerechten zu bedenken (8,51f.). Gerettet, das weiß Esra, werden weniger als zugrunde gehen (7,47; 9,14). Uriel präzisiert: Wer entrinnen kann „durch seine Werke (lat. per opera sua) oder seinen Glauben, mit dem er glaubte (bzw. seiner Treue, mit der er sich als treu erwies: per fidem, in qua credidit)“, wird das Heil Gottes sehen „in meinem Land und in meinem Gebiet“ (9,7f.). Der Israel-Bezug wird festgehalten, doch wird nur ein Rest gerettet: eine Beere von der Traube, ein Spross vom Wald (9,21f.). 114 Vgl. D. Simonsen, Ein Midrasch im 4. Buch Esra, in: M. Brann/ I. Elbogen (Hg.), Festschrift zu I. Lewy’s 70. Geburtstag, Breslau 1911, 270-278, demzufolge es sich um einen Midrasch über die dreizehn middot (Attribute) Gottes handelt. 115 So mit Vulgata Clementina, Bensly, Violet (lat. Hss.: muneribus). 116 Anders Schreiner, 4. Buch Esra, 361, der „entsprechend dem Aufbau der Reihe“ „der Verzeihende“ konjiziert. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 69 Nach dem Wendepunkt, der Begegnung Esras mit der trauernden Frau auf der Blumenwiese, bei der Esra zum Tröster der Frau wird, dabei aber die Hoffnung auf den Wiederaufbau des irdischen Jerusalems aufgibt und die Frau sich sodann in das himmlische Jerusalem verwandelt, kommt Barmherzigkeit vor allem 117 in Esras vollmächtiger Rede an das Volk im letzten Kapitel des Buches zur Sprache: „Wenn ihr also euren Sinn beherrscht und euer Herz in Zucht nehmt, werdet ihr am Leben erhalten werden und nach dem Tod Erbarmen (lat. misericordiam, syr. raḥme) finden“ (14,34). 118 Hier ist Erbarmen eine passende Gabe für die sich an der Tora orientierenden Gerechten. Dies ist auch angedeutet in Uriels Deutung der Adler-Vision, wonach Gott sein „übriggebliebenes Volk mit Erbarmen (cum misericordia, braḥme, ba-meḥrat) befreien wird, die in meinem Land gerettet worden sind“ (12,34). Im 4. Esrabuch ist Barmherzigkeit somit - das zeigt v. a. der Abschnitt 7,102- 8,62 - als inkongruente Gabe an Sünder lediglich auf die gegenwärtige Welt begrenzt und hat daher vorläufigen Charakter; im Gericht und in der zukünftigen, unvergänglichen Welt widerfährt Barmherzigkeit nur den Würdigen, die ein an der Tora orientiertes Leben geführt haben. Wäre es anders, würde Gott mit der Sünde kooperieren. 4. Esra unterscheidet somit zwischen im Gericht Verlorenen (unter Einschluss von Israeliten) und Geretteten (dem Rest Israels); Maßstab ist die Orientierung an der Tora. Die Paränese ruft zu einem toragemäßen Leben auf. Das 2.-Baruchbuch, vermutlich um dieselbe Zeit entstanden und im Ganzen nur auf Syrisch erhalten, 119 teilt manche Züge im Verständnis der Barmherzigkeit mit dem 4. Esrabuch, nicht aber den Pessimismus Esras. Grundsätzlich gilt auch in 2. Baruch, dass in der zukünftigen Welt das Erbarmen keinen Platz hat: Nur die Gerechten werden diese verheißene Zeit ererben (2 Bar 44,13; vgl. 14,12; 24,1). Sie haben sich Schätze der Weisheit und Vorräte der Einsicht angelegt. „Und vom Erbarmen (raḥme) haben sie sich nicht entfernt, und die Wahrheit des Gesetzes (d.h.: der Tora) haben sie bewahrt“ (44,14). Hingegen „erbarmt sich“ die neue Welt „nicht“ (lā mraḥem) derer, die in die Pein gehen (44,12). Das Unglück über die Israeliten ist Strafe für vergangene Sünden, auf dass ihnen vergeben werden könnte (13,9f.; vgl. 1,5; 78,3), während die Israel unterdrückenden Völker schuldig geworden sind und vergehen werden, weil sie die Güte bzw. Gnade 117 Vgl. noch 11,46; 12,48. Zu 12,34 s.u. 118 Im Syr. lautet die Wendung genauer: „wird über euch Erbarmen sein“. Äth. hat statt des letzten Glieds in Lat. und Syr.: „und ihr werdet nicht sterben“. 119 Zu den Einleitungsfragen vgl. M. Henze, Jewish Apocalypticism in Late First Century Israel: Reading Second Baruch in Context (TSAJ 142), Tübingen 2011, 16-36. Zu meiner Sicht der literarischen Struktur von 2 Bar und der Rolle des Briefs Baruch im Ganzen s. L. Doering, The Epistle of Baruch and Ist Role in 2 Baruch, in: M. Henze/ G. Boccaccini (Hg.), Fourth Ezra and Second Baruch: Reconstruction after the Fall ( JSJ.S 164), Leiden 2013, 151-173. 70 Lutz Doering (ṭayḇuṯā) Gottes geleugnet haben (13,11f.; vgl. 82,3-9). Über die Friedenszeit unter David und Salomo heißt es, dass das Land in jener Zeit „Barmherzigkeit fand“ (d-eṯraḥmaṯ), weil seine Einwohner nicht sündigten (61,7), was ein kongruentes Verständnis von Erbarmen nahelegt. Baruch betet deshalb, dass Gott „in Erbarmen“ (braḥme) seine Zusagen wahrmache, auf dass diejenigen Gottes Macht erkennen, die seine Langmut für Schwäche halten (20,20), und dass er alle, die zu ihm kommen, in seinem „Erbarmen“ (braḥamayḵ) und seinem „Mitleid“ (baḥnānāḵ) schütze (48,18f.). Ferner bittet Baruch mit Blick auf die Auferstehung Gott als den Schöpfer um „Erbarmen“ (49,1). In den eschatologischen Wehen wird das heilige Land sich der Seinigen erbarmen (traḥem; 71,1). Nachdem der Engel Ramael die letzten hellen Wasser der Vision Baruchs auf die unvergängliche Welt gedeutet hat, preist Baruch die Größe und Unbegreiflichkeit von Gottes Güte (ṭāḇuṯāḵ), Barmherzigkeit (raḥamayḵ), Einsicht und Gedanken (75,1-4) und bemerkt, dass kein Mensch zu diesen (sc. Wesenszügen Gottes? ) hinzukommen kann, es sei denn, „du bist ihm barmherzig (meṯraḥam) und gnädig (mraḥef)“. „Denn gewiss, wenn du den Menschen nicht barmherzig wärst, würden (selbst) die, die unter deiner Rechten sind, nicht zu diesen hinzukommen, außer denen, die zu der illustren Zahl berufen werden können“ (75,5f.). Hier wird offenbar zwischen solchen Auserwählten unterschieden, die in jedem Fall hinzukommen, und solchen (immerhin auch unter Gottes „Rechter“ Stehenden), die das nur aufgrund der Barmherzigkeit Gottes können. 2. Baruch ist noch stärker als 4. Esra von Tora-Paränese geprägt, mit der seine Adressaten zu einem toragemäßen Leben aufgerufen werden. Das kommt insbesondere in Baruchs letzter Rede an das Volk und in seinem Brief an die Stämme im „assyrischen“ Exil zum Ausdruck. Dem bei Jerusalem versammelten Volk stellt Baruch in Aussicht, dass sie dann nicht ins Exil müssen wie ihre Brüder, wenn sie „ihre Wege gerade machen“; vielmehr werden die Exulanten umgekehrt zu ihnen kommen, denn Gott ist „barmherzig“ (d-mraḥmānā) und „gnädig“ (dmraḥfānā) und „treu“ (2 Bar 77,6f.). Das Volk verspricht, aller Wohltaten Gottes zu gedenken, derer sie sich erinnern, während Gott das, woran sie sich nicht erinnern können, „in seinem Erbarmen“ (b-raḥmaw) weiß (77,11). Im Brief an die neuneinhalb Stämme grüßt Baruch zunächst mit der auch für die neutestamentlichen Briefpräskripte aufschlussreichen salutatio „Erbarmen (raḥme) und Frieden sei mit euch“ (78,2), 120 womit bereits ein tröstender Ton angeschlagen wird. So schreibt Baruch ferner, dass, wenn die Exulanten das Exil als gerechte Strafe anerkennen und sich von ihrem Irrtum bekehren, Gott seiner Verheißung eingedenk wäre, er würde die Zerstreuten „mit großem Erbarmen“ (braḥme saggi’e) wieder sam- 120 Vgl. dazu L. Doering, Ancient Jewish Letters and the Beginnings of Christian Epistolography (WUNT I 298), Tübingen 2012, 245-248.410-412. Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit 71 meln (78,7). Baruch teilt mit, dass er „Erbarmen (raḥme) vom Höchsten“ erbeten habe (81,2) und dass dieser „nach der Fülle seines Erbarmens (suḡā’ā draḥmaw)“ und „nach der Größe seiner Gnade (rabbuṯā daḥnāneh)“ gehandelt und Baruch Visionen gezeigt habe (81,4). Deshalb schreibe er nun zum Trost und teile den Adressaten mit, dass Gottes Erbarmen (raḥmaw) kommt und die Vollstreckung seines Urteils nicht fern ist (82,2). Baruch weist die Adressaten an, diesen Brief zusammen mit den Überlieferungen des Gesetzes ihren Kindern weiter zu überliefern, sowie darum zu bitten, dass Gott die Menge ihrer Sünden nicht anrechne, sondern nur der Rechtschaffenheit ihrer Väter gedenke (84,9f.). „Denn wenn er uns nicht nach der Größe seines Erbarmens (suḡā’ā draḥmaw) richtet, wehe uns allen, die geboren sind! “ (84,11). Im brieflichen Trost an die Exulanten erkennt Baruch somit dem (offenbar nicht einfach kongruent vestandenen) Erbarmen auch eine Rolle im Endgericht zu. Im Ganzen ist 2. Baruch weniger scharf als 4. Esra in der Abhebung des Erbarmens von der kommenden Welt; es geht dieser Schrift mehr um die Bewahrung vieler aus Israel 121 (einschließlich Proselyten: 2 Bar 41,4), die durch Tora-Paränese auf ein nur als barmherzig denkbares Gericht vorbereitet werden sollen. 3. Schluss Der Durchgang durch die besprochenen Texte 122 hat gezeigt, dass Gnade und Erbarmen in jüdischen Texten dieser Zeit unbestritten eine wichtige Rolle spielen, zugleich aber jeweils unterschiedlich akzentuiert werden. Auch das Verhältnis zu menschlicher agency stellt sich in den Texten jeweils unterschiedlich dar. Damit haben sich Barclays Anfragen an Sanders’ einheitliches Gnadenverständnis als stets zuvorkommende und inkongruente Gnade bestätigt und vertieft. Die Zusammenfassungen am Ende der Analysen oben zeigen, dass viele Texte Gnade und/ oder Erbarmen als kennzeichnend für Gott verstehen (Sirach, Philo, 4. Esra, 2. Baruch) und dabei in der Regel deren Größe und Überfließen betonen. Eine Reihe von Texten versteht dabei Gnade und/ oder Erbarmen vorwiegend kongruent: Sie kommen den Würdigen zu (mit Unterschieden, was die Würdigkeit ausmacht: Sirach, Wächterbuch, Epistel Henochs, Sapientia Salomonis), sind für das Volk Israel reserviert ( Jubiläenbuch) oder auch nur für den Jachad (Hodajot, doch siehe gleich). In einigen Texten ist deutlich von einer erwarteten 121 Vgl. Henze, Jewish Apocalypticism, 285: „Baruch expects the righteous who will enter the new world to be many“. 122 Vgl. darüber hinaus die Analyse zu Ps.-Philo, Liber Antiquitatum Biblicarum in Barclay, Paul and the Gift, 266-279 oder die Ausführungen zu den Psalmen Salomos in Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 387-409. Re-Aktion des Menschen die Rede (Sirach, Hodajot, Philo); Gnade ist hier also durchaus „zirkulär“. In anderen Texten wird freilich die Inkongruenz der Gnade betont (Gleichnisreden Henochs [1 Hen 50,2f.]; in den Hodajot mit Blick auf die Unwürdigkeit des einzelnen Gemeindeglieds; in 4. Esra als inkongruente Gabe auf die gegenwärtige Welt begrenzt; ähnlich, doch weniger scharf abgrenzend, 2. Baruch). Wie bei Philo neben der Betonung der Würdigkeit auch Ansätze eines inkongruenten Gnadenverständnisses zu bewerten sind, ist umstritten. Das Zuvorkommen der Gnade wird in einigen Texten (z. B. bei Philo), aber nicht allen herausgestellt. Zwar hat Gott mehreren Texten zufolge Israel aus Erbarmen Mittel zur Sühne bereitgestellt (z. B. Jubiläenbuch, Philo), aber es gibt (z. B. im Jubiläenbuch) auch Übertretungen, die nicht gesühnt werden können und die Ausrottungsstrafe nach sich ziehen. Nach 4. Esra wird im Gericht nur ein Rest gerettet, während 2. Baruch an der Bewahrung vieler aus Israel interessiert ist und beide Bücher in unterschiedlichem Maß zur Orientierung an der Tora anleiten. Das Judentum hellenistisch-römischer Zeit bietet somit ein breites Spektrum in Verständnis und Akzentuierung von Gnade und Erbarmen Gottes. Diese Vielfalt ist auch für den Vergleich mit neutestamentlichen Texten, von denen die meisten von christusgläubigen Juden verfasst wurden, zu berücksichtigen. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium Gerechtigkeit und Verantwortung als Zeit und Raum des Glücks François Vouga Eine Königsherrschaft - es sein denn, man befände sich in der zwischen Autor und Leser vereinbarten Fantasie eines Märchens oder eines Traumes - definiert sich durch die Zeit, in welcher der König seine Herrschaft angetreten hat und während derer er regiert, regiert hat oder regieren wird. Sie ist ferner definiert durch einen räumlichen Herrschaftsbereich, der seine Identität durch Grenzen erhält, und durch eine politische Ordnung, die die asymmetrische Reziprozität zwischen der Autorität des herrschenden Königs und den Privilegien und Pflichten der Männer, Frauen und Kinder, die in seinem Reich wohnen, regelt. Vom MkEv hat Mt die literarische Idee übernommen, das Programm des Auftretens Jesu in Galiläa als die Verkündigung der nahe gekommenen Königsherrschaft Gottes vorzustellen. 1 Da diese gute Nachricht eines kurz bevorstehenden oder sogar schon Gegenwart gewordenen Herrschaftswechsels einen Imperativ begründet, der kein neues politisches System einführt, sondern zu einer Veränderung des Denkens oder der persönlichen Haltung auffordert, können die Lesenden voraussetzen, dass sowohl im Markusals auch im MtEv der Begriff im übertragenen Sinne, d. h. metaphorisch gemeint ist. Worauf verweist also die matthäische (oder die von Mt neu belebte) Metapher der basileia tou theou und der basileia tōn ouranōn? 1 Das MtEv verwendet ohne deutliche Sinnunterschiede die beiden Begriffe der „Herrschaft der Himmel“ und der „Herrschaft Gottes“. Prof. Dr. François Vouga, geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 74 François Vouga 1. Zeit - Die Gegenwart der Herrschaft der Himmel Die erste Dimension, die die metaphorische Vorstellung der basileia tou theou oder tōn ouranōn definiert, ist die Zeit. Und die Zeit der Herrschaft Gottes scheint im MtEv, wie es bereits im Verständnis des MkEv der Fall ist, 2 die Gegenwart zu sein. 1.1 Das Programm der nah gewordenen Herrschaft der Himmel Auffällig ist zunächst die Parallelität, die Matthäus zwischen dem Programm der Predigt des Täufers und dem des ersten Auftretens Jesu in Kafarnaum am See literarisch konstruiert. Von den drei anderen Evangelien unterscheidet sich das MtEv nämlich dadurch, dass es die ersten Worte der Johannes-Botschaft in der jüdäischen Wüste und diejenigen der Verkündigung Jesu im „Galiläa der Heiden“ (3,15) identisch formuliert: „Kehrt um, denn nahe gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (3,2; 4,17). 3 Die Gegenwart einer neuen Wirklichkeit als das Ereignis, das jetzt eine Veränderung verlangt, wird zweimal im Perfekt verkündigt. Die Formulierung baut eine gewisse paradoxe Spannung auf: Auf der einen Seite stellt die Wahl des Tempus die Präsenz dieser Herrschaft als eine bereits vorhandene Tatsache vor. Auf der anderen Seite setzt die Bewegung des Nahegekommenseins eine noch bestehende Offenheit voraus. Calvin hat dieses Problem dadurch gelöst, dass er kommentierte: Der König holt sein Volk ab, um über es zu regieren. 4 Damit sind die beiden Momente des geschehenen Herrschaftswechsels, der für die Adressaten faktisch eine neue Situation schafft, und der subjektiven Antwort, die dadurch als Möglichkeit entsteht, miteinander verbunden. Mit einer klaren Kohärenz kann Matthäus dann summarisch notieren, dass Jesus das Evangelium der (Gottes-)Herrschaft verkündigt (4,23; 9,35). Da das Evangelium, wenn man die außerchristliche, politische Konnotation des Begriffes mitliest, die öffentliche Verkündigung des Herrschaftsantritts eines neuen Autoritätsinhabers meint, kann man annehmen, dass mit der gegenwärtigen Nähe der basileia tōn ouranōn zunächst von Johannes dem Täufer und dann von Jesus die reale Gegenwart einer befreienden Kraft Gottes verkündigt wird. Entsprechend werden später die zwölf Jünger in der Aussendungsrede beauftragt, dieselbe gute Nachricht kundzutun: „Kehrt um, denn nah gekommen ist die Herrschaft der Himmel“ (10,7; vgl. 24,14). 2 M. Hauser, Die Herrschaft Gottes im Markusevangelium, Frankfurt u. a. 1998. 3 C. Rohmer / F. Vouga, Jean Baptiste aux sources (Essais bibliques 55), Genf 2020, 39-55. 4 J. Calvin, Sur la Concordance ou Harmonie composée de trois évangélistes asçavoir S. Matthieu, S. Marc et S. Luc (Commentaires de Jehan Calvin sur le Nouveau Testament I), Paris 1854, 157. Gottes- und Himmelsherrschaft im Matthäusevangelium 75 1.2 Die präsentischen Verheißungen der Seligpreisungen Eine zweite Paradoxie bildet die Zeitstruktur der mt Seligpreisungen. Sie preisen Menschen selig, die durch eine bestimmte existentielle Haltung gekennzeichnet sind: Vertrauen, Barmherzigkeit, aktive Gewaltlosigkeit, Klarheit, Suche nach Frieden, Engagement für Gerechtigkeit, Fähigkeit zu trauern. 5 Begründet werden die jeweiligen Seligpreisungen durch adressatenbezogene Kausalsätze, die Aussagen im Futurum beinhalten, allerdings ohne dass eindeutig entschieden werden kann, ob das Futurum zukünftig, etwa als Verweis auf die Vollendung der Zeit verstanden werden soll (Mt 28,20), oder besser und einfacher logisch als unmittelbare Konsequenz der eigenen Lebenshaltung: „Selig die…, weil sie… werden“. Zwei Ausnahmen unterbrechen die Regelmäßigkeit dieser Konstruktion und sprengen die zeitliche Abfolge der Kontinuität oder der zugesprochenen Reziprozität durch eine Begründung im Präsens: Selig die Armen durch (in dem oder für) den Geist, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,3). Selig die wegen Gerechtigkeit Verfolgten, denn ihrer ist die Herrschaft der Himmel (5,10). Die aktuelle Zeit der basileia tōn ouranōn ist die Gegenwart, und die Offenbarung oder die Erinnerung, dass diese basileia tōn ouranōn den Angeredeten hier und jetzt bereits gehört, ist der sachliche Grund für die Seligpreisung der Jünger, der versammelten Zuhörer und der Leser (5,1), die ihr ganzes Vertrauen 5 Unterscheiden möchte ich die Fragestellung der existentiellen Haltung vom Bereich der Ethik. Ethik generiert begründete Empfehlungen für konkretes Handlungen durch Werturteile, die konsensfähige Werte voraussetzen, während Imperative unbegründete Anweisungen und existentielle Haltungen, intime, geistige Einstellungen beschreiben, vgl. R. M. Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt 1983. Prof. Dr. François Vouga , geboren 1948, 1975-82 Pfarrer in Genf, 1982-86 Professor für Neues Testament in Montpellier, 1984-85 Gastprofessor an der theologischen Fakultät in Neuchâtel; seit 1986 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, dann Wuppertal / Bethel, 1999 Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Laval in Québec. Lebt und arbeitet seit 2016 in Frankreich. 76 François Vouga auf den Geist ihres himmlischen Vaters 6 und auf seine Gerechtigkeit gesetzt haben. Zugestanden: Die beiden Seligpreisungen erklären weder, warum ihnen die basileia tōn ouranōn gehört, noch, was diese hier und jetzt relevante Verheißung für sie konkret bedeutet. So überraschend wie evident orientieren sie aber die kausale Kontinuität zwischen Ursache und Wirkung um. Die Verheißungen werden nämlich nicht durch die Haltung der Adressaten bedingt, sondern die Präsenz der basileia tōn ouranōn wird umgekehrt als die im Indikativ Präsens gegebene Bedingung dafür genannt, dass Jesus diejenigen, die er als Arme durch, in oder für den Geist und als die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten anspricht, selig preisen kann. Erste Ergebnisse fasse ich in drei Hypothesen samt kurzen Erläuterungen zusammen: Hypothese 1: Der mt Begriff der basileia tōn ouranōn wird argumentativ eingeführt weder als zukünftiges Reich noch als der endzeitliche Horizont einer göttlichen Belohnung oder eines göttlichen Trostes. Die gute Nachricht der bereits gegenwärtigen basileia tōn ouranōn stellt vielmehr das Ereignis der Verkündigung einer aktiven Befreiungsmacht vor, die die Bergpredigt als der Grund, als die Möglichkeit und als die wirksame Kraft einer Veränderung aktualisiert. Hypothese 2: Die Offenbarung der Präsenz der Befreiungskraft der basileia tōn ouranōn als bedingungslosen Indikativ begründet nicht nur die erste und die achte Seligpreisung (5,2.10), sondern sie prägt auch die pragmatische Struktur der Wirklichkeit, auf welcher die Kontinuität oder die Reziprozität basiert, die die Kausalsätze der anderen Seligpreisungen strukturieren. 7 Die Trauernden, die wegen ihrer Trauer getröstet werden, die Gewaltlosen, die wegen ihrer Gewaltlosigkeit das Land erben werden, die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die wegen ihres Hungers und Durstes gesättigt werden, die Barmherzigen, die wegen ihrer Barmherzigkeit selber Barmherzigkeit erlangen werden, die reinen Herzens, die wegen ihrer Herzensreinheit Gott schauen werden, und die Frieden Stiftenden, die wegen ihrer Friedfertigkeit Söhne, Töchter und 6 Die Interpretation und folglich die Übersetzung der mt Fassung der ersten Seligpreisung bleibt wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffes des Geistes und der Multifunktionnalität des Dativs unscharf. Auffällig ist, dass üblicherweise der Geist in Mt 1-4 durchweg im Sinne des heiligen Geistes (1,18.20) und des Geistes Gottes (3,11.16; cf. 4,1) verstanden wird. Der Vorschlag von F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 15 1979, 159, den Dativ als Dativ der Beziehung zu lesen, verschiebt nur das Problem. 7 Die Begrifflichkeit entnehme ich Ch. Perelman / L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique, Brüssel 1958, ebenso die dort getroffene Unterscheidung zwischen der quasi-logischen Struktur von Argumenten, die die Struktur der Wirklichkeit begründen, d. h. eine neue Struktur der Wirklichkeit begründen einerseits, und Argumenten, die auf der (angenommenen) Struktur der Wirklichkeit basieren, andererseits.