eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 23/46

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2020
2346 Dronsch Strecker Vogel

Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe

2020
Stefan Schreiber
Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe Stefan Schreiber An einer einzigen Stelle in seinen Briefen, in Röm 3,25, verwendet Paulus den Begriff hilastērion, um Gottes Heilszuwendung zu kennzeichnen, die er den sündigen Menschen in Jesus Christus schenkt. Paulus spielt den Begriff ohne weitere Erklärung ein, sodass sein religionsgeschichtlicher Hintergrund und sein soteriologischer Diskursbeitrag für uns nicht unmittelbar verständlich sind. Wie man den Begriff auch übersetzt - Sühnemal, Sühnestätte, Gnadenort, Versöhnungsgeschenk -, die Verbindung mit dem Tod Jesu, der eine heilvolle Wirkung freisetzt, stellt eine uns fremde Vorstellung aus der antiken Welt dar, in der Opfertod, Ersatztod und das „Gnädigstimmen“ (oder Versöhnen) einer (erzürnten) Gottheit zu den kulturellen Denkmustern zählten. 1. Die Deutung auf dem Hintergrund des Versöhnungstages von Lev-16 Die Herkunft und Bedeutung von hilastērion sind in der Exegese umstritten. Die verbreitete Deutung geht, bibeltheologisch orientiert, von der Beobachtung aus, dass hilastērion im Septuaginta-Pentateuch, wo sich mit 21 Belegen ein großer Teil der antiken Belege findet, den hebräischen Begriff kapporæt wiedergibt. 1 Bei der kapporæt handelt es sich nach Ex 25,17-22 um einen kultischen Ort im ersten Tempel, eine goldene Platte, an deren Seiten sich zwei geflügelte Cherubim befinden und die auf der Bundeslade lag 2 - also die „Deckplatte“ oder, 1 LXX Ex 25,17-22 (7 Belege); 31,7; 35,12; 38,5-8 (4 Belege); Lev 16,2 (2 Belege); 16,13-15 (5 Belege); Num 7,89. 2 Zur kapporæt und den Riten von Lev 16: B. Jürgens, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg u. a. 2001; W. Kraus, Der Tod Jesu Prof. Dr. Stefan Schreiber studierte 1988-1993 Katholische Theologie in Augsburg und Vallendar. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum (publiziert unter dem Titel Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg. Zeitschrift für Neues Testament 23. Jahrgang (2020) Heft 46 92 Stefan Schreiber stärker funktional gedacht, „Sühnestätte“ an der Bundeslade im ersten Tempel. Lev 16,11-17 LXX beschreibt speziell einen Blutritus im Jerusalemer Tempel, der am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, vollzogen werden soll und der Reinigung des (Hohe-)Priesters, seines Hauses und ganz Israels dient. Der Priester (Aaron) schlachtet einen Bock „für die Sünde für das Volk“, sprengt das Blut einmal an die Seite des hilastērion und siebenmal davor und bewirkt so kultische Reinigung (Lev 16,15). Deutet man auf diesem Hintergrund Röm 3,25, übernimmt Jesus als hilastērion die Funktion des Blutritus am Jom Kippur und tritt so an die Stelle des Sühneortes bzw. Sühnerituals. Ein typologisches Verständnis liegt dann nahe: „An die Stelle der im Tempel verborgenen kapporæt und des auf sie bezogenen Sühneritus hat Gott Jesus treten lassen, der durch ‚sein Blut‘, d. h. durch seine Lebenshingabe Sühne wirkte“. 3 Oder kultmetaphorisch formuliert: „Die Einsetzung zum hilastērion hat mit ‚Weihe‘ des Ortes der Sühne, Präsenz und Offenbarung Gottes zu tun“; „Jesus wurde aufgrund seiner Lebenshingabe als hilastērion, als Ort, an dem Gott anzutreffen ist, inauguriert“. 4 Diese Auslegung stellt die Rezeption jedoch vor begriffliche und sachliche Probleme. Die Referenz von hilastērion ist im Tanach nicht eindeutig: Die „Deckplatte“ erfüllt in Num 7,89 eine andere Funktion als Ort der Offenbarung Gottes, Ez 43 bezeichnet damit einen anderen kultischen Ort, eine Stufe am endzeitlichen Brandopferaltar, und Am 9,1 bleibt unklar (ein Säulenkapitell, ein kultischer Ort? ). Es fehlt die konkrete Anschauung zur Rezeption der hilastērion-Metapher, denn mit der Zerstörung des ersten Tempels 586 v. Chr. ging die Bundeslade zusammen mit der Deckplatte verloren. Die Metaphorik in Röm 3,25 erschwert die Rezeption, da Jesus als Opfer („in seinem Blut“) und zugleich als Stätte dieses Opfers erscheint. Da Paulus nur den Begriff hilastērion ohne weitere Erklärung verwendet, ist unklar, ob die Anspielung auf Lev 16 den Gegenstand „Deckplatte“, die Riten und Funktion des Jom Kippur oder den gesamten Tempelkult meinen soll. 5 Problematisch wird dies dann, wenn man als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25-26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 3 J. Roloff, Art. hilastērion, EWNT Bd. 2, 2 1992, 455-457, 456. Vgl. R. Jewett, Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 284-290; C.A. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament (WUNT 306), Tübingen 2013, 160-170. Anders sieht M. Wolter, Der Brief an die Römer. Bd. I (EKK VI/ 1), Ostfildern / Göttingen 2014, 256-259 keine typologische Identifikation Jesu mit dem hilastērion, da es sich um ein Abstraktum handele; der Tod Jesu stehe in einer funktionalen Analogie zum Blutritus des Versöhnungstags. 4 W. Kraus, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21-26, in: L. Doering / H.-G. Waubke / F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-216, 214f. 5 Die Unklarheit spiegelt sich in unterschiedlichen Auslegungen. Nach Kraus, Erweis, 206 bildet nicht die Sühne für persönliche Sünden, sondern die „Reinigung bzw. Weihe des Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 93 eine Ablösung des Jom Kippur durch Christus aus dem Text erschließt. Diese Unklarheiten führen mich zu einer Zwischenüberlegung in Bezug auf den Rezeptionshorizont der römischen Briefadressaten. 2. Der Rezeptionshorizont der Adressatinnen und Adressaten in Rom Entscheidend für das Verständnis der Aussage von Röm 3,25 sind die kulturellen Voraussetzungen der römischen Christen, an die der Römerbrief adressiert ist. Es handelt sich nicht um Tempelpriester in Jerusalem oder pharisäische Schriftgelehrte, sondern um Christus-Gemeinden in Rom, die überwiegend aus Heidenchristen bestanden (Röm 1,5f.13; 11,13.17; 15,15f.18). Es erscheint fraglich, ob diese beim Hören des Begriffs hilastērion ohne weitere Erklärung an den Jom Kippur und die damit verbundenen Funktionen denken konnten und ob sie genau wussten, welcher Ritus (Blutritus am hilastērion, Verbrennung der Opfermaterie, Sündenbockritual) welche Funktion besaß. Heiligtums“ den Bezugspunkt. M. Tiwald, Christ as Hilastērion (Rom 3: 25). Pauline Theology on the Day of Atonement in the Mirror of Early Jewish Thought, in: T. Hieke / T. Nicklas (Hg.), The Day of Atonement. Its Interpretations in Early Jewish and Christian Traditions (Themes in Biblical Narrative 15), Leiden / Boston 2012, 189-209, 205 f. interpretiert hingegen den Bezug sehr weit: hilastērion „as a metonymic pars pro toto expression“ für den Jom Kippur, ja den ganzen Tempelkult, sodass in Jesu Tod „the apex of fulfilment of all the expectations of redemption has now been reached“; Christus sei „the deepest fulfilment of all that temple service stood for in the now upcoming eschaton“ (kursiv i. O.). Jewett, Romans, 290 spricht direkt von „replacement of the temple“. Prof. Dr. Stefan Schreiber studierte 1988-1993 Katholische Theologie in Augsburg und Vallendar. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum (publiziert unter dem Titel Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg. 94 Stefan Schreiber Aber auch denjenigen, die mit der Jom Kippur-Überlieferung aus Lev 16lxx vertraut waren, dürfte ein Bezug auf den Jom Kippur in Röm 3,25 problematisch erschienen sein. Sie wären unweigerlich mit der theologischen Konsequenz konfrontiert, dass Jesu Tod die Ablösung des Jom Kippur, die christologisch begründete Außerkraftsetzung dieses Rituals, oder wenigstens eine starke Relativierung seiner Funktion bedeuten würde. Dagegen steht aber die jüdische Hochschätzung des Jom Kippur. 6 Von Paulus, der auch als Christus-Anhänger noch Jude war (Röm 9,3; 11,1), würden die Rezipienten eine vertiefte Reflexion über das Verhältnis des Todes Jesu zum Jom Kippur erwartet haben und keine unklare Andeutung der drastischen Konsequenz seiner Abschaffung. Auch sonst zeigt sich Paulus im Römerbrief als jüdisch geprägter Denker, der eine neue Interpretation und Anwendung der Tora aus der Perspektive des Christus- Ereignisses ausführlich begründet (vgl. Röm 7,1-25; 13,8-10). Es ist unwahrscheinlich, dass er keine Erklärung einer begrifflichen Andeutung geboten hätte, um drohende Missverständnisse auszuschließen. Andererseits verwendet Paulus gerne Metaphern, die aus der griechisch-römischen Lebenswelt seiner Zeit stammen. So vergleicht er in Gal 3,24 die Tora mit einem Pädagogen, wie er in der antiken Erziehung von Kindern (aus wohlhabenden Familien) eine Rolle spielte. In 1-Thess 2,2 begreift er die Verkündigung des Evangeliums auf dem Hintergrund eines athletischen Wettkampfs. Und in syntaktischem Zusammenhang mit der hilastērion-Aussage beschreibt er in Röm 3,24 die Wirkung des Christus-Ereignisses als Loskauf, wie ihn die antike Welt als Loskauf von Kriegsgefangenen und Sklaven kennt. 3. Die Alternative: versöhnendes Weihegeschenk Eine Herleitung des hilastērion-Motivs aus der griechisch-römischen Kultur erscheint vielversprechend. 7 In der Antike war die Praxis von Weihegaben an bestimmte Gottheiten geläufig und konnte so leicht als Metaphernbereich wachgerufen werden. Antike Menschen konnten ein Anliegen wie eine Krankheit, einen unerfüllten Kinderwunsch oder eine gefahrvolle Reise vor die zuständige 6 Dazu D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century (WUNT 163), Tübingen 2003. 7 Vgl. schon A. Deißmann, ΙΛΑΣΤΗΡΙΟΣ und ΙΛΑΣΤΗΡΙΟN. Eine lexikalische Studie, ZNW 4/ 1903, 193-212. Dann S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97/ 2006, 88-110; ders., Weitergedacht: Das versöhnende Weihegeschenk Gottes in Röm 3,25, in: ZNW 106/ 2015, 201-215. Vgl. C. Eschner, Gestorben und hingegeben „für“ die Sünder. Bd. I (WMANT 122), Neukirchen-Vluyn 2010, 45-51. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 95 Gottheit bringen und mit dem Gelübde verbinden, im Falle der Gewährung der Gottheit ein Weihegeschenk, eine Art Votivgabe, darzubringen. Mit dem Gelübde verband sich die Bitte an die Gottheit um eine bestimmte Leistung, und für den Fall der Erfüllung dieser Leistung stellt der Bittende eine Gegenleistung in Aussicht. 8 Erhalten sind vielfältige Weihegeschenke in privaten Anliegen: Bronze- und Tonfiguren, Holz- und Tontafeln, Standbilder, Denkmäler, Gemälde, Gefäße, Dreifüße. Teilweise erläutern Inschriften das Anliegen oder die geschehene Hilfeleistung. Weihegeschenke sind regelrechte Massenphänomene, meist serienmäßig nach bestimmten Typen produziert. 9 In Rom hat man bei Grabungen im Tiber haufenweise Körpervotive, Terrakotten menschlicher Körperteile, gefunden, die im Zusammenhang mit dem Aesculapius-Kult auf der Tiberinsel stehen. 10 Im öffentlichen Bereich begegnen Weihegeschenke in größeren Dimensionen, z. B. als Tempel, Altäre, Kultbilder und Grundstücke. Die Praxis von Weihegeschenken ist auch für die jüdische Kultur bezeugt. 11 Der antike Standardbegriff für solche Weihegeschenke ist anathēma (oder anathema), der in einer Vielzahl von Texten und Inschriften begegnet. In acht Inschriften und Texten aus den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende findet sich jedoch auch der Begriff hilastērion. 12 Als Beispiel führe ich eine Inschrift von der Insel Kos an: Das Volk (gab/ weihte) für das Heil des Imperator Caesar, Sohn eines Gottes, Augustus, den Göttern ein hilastērion. 13 Genannt wird ein menschlicher Urheber des hilastērion, als Adressat eine Gottheit, hier auch ein Begünstigter („für“). Ein Verb erscheint, wie für Inschriften nicht untypisch, nicht; ergänzt werden kann „geben“ oder „weihen“. Dabei stellt hilastērion (wie charistērion, eucharistērion und dōron) eine Unterkategorie von anathēma dar, sprachwissenschaftlich ausgedrückt ein Hyponym zum Hyperonym (Oberbegriff) anathēma. 14 Das spiegelt sich in einer Aussage 8 J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 162. 9 Rüpke, Religion, 155. 10 Rüpke, Religion, 161; M. Guarducci, L’ Isola Tiberina e la sua tradizione ospitaliera, RAL Ser. VIII 26, 1971, 267-281; umfassende Hintergründe, Katalog und Abbildungen bei P. Pensabene u. a., Terracotte Votive dal Tevere (Studi Miscellanei 25), Rom 1980. 11 Vgl. 1- Chr 28,12; 2- Makk 2,13; Jdt 16,19; Josephus ant. 14,34-36; 18,18f.; Lk 21,5; slHen 45,2. 12 Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 100 f.; ergänzt von A. Weiß, Christus Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilastērion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, ZNW 105/ 2014, 294-302, 297. 13 W.R. Paton / E.L. Hicks (Hg.), The Inscriptions of Cos, Oxford 1891 (Nachdruck Hildesheim 1990), 126 Nr. 81. Zur Übersetzung vgl. Weiß, Christus, 296. 14 Zum Nachweis Schreiber, Weitergedacht, 207-209. 96 Stefan Schreiber bei Dion Chrysostomus im Kontext seiner Darstellung der Troja-Geschichte. Da die Griechen keine Rückerstattung der Kriegskosten und Wiedergutmachung an die Troer leisten können, finden sie eine andere Möglichkeit, um eine „gewisse Gerechtigkeit“ geschehen zu lassen (or. 11,121): Denn sie (die Griechen) wollen ihnen (den Troern) ein sehr schönes und großes Weihegeschenk (anathēma) für Athena zurücklassen mit der Aufschrift: Als Versöhnungsgabe (hilastērion) (gaben/ weihten dies) die Achaier der trojanischen Athena. 15 Nach Dion handelte es sich dabei um das berühmte hölzerne Pferd. Die Variation der Terminologie verweist auf eine Spezifizierung der Bedeutung von hilastērion im Vergleich zum Oberbegriff anathēma. Diese spezielle Bedeutung ergibt sich aus der Wortfamilie, die durch das Verb hilaskomai repräsentiert ist: „versöhnen, sich eine Gottheit geneigt, gewogen, gnädig machen“. 16 Damit liegt eine Übersetzung mit „versöhnendes Weihegeschenk“, „Versöhnungsgeschenk“ oder „Versöhnungsgabe“ nahe. 17 Wendet man sich an eine Gottheit, die durch ein Fehlverhalten erzürnt ist, mit dem Anliegen, Vergebung und Versöhnung zu erlangen, konnte das Weihegeschenk, das man dazu aufstellte, als hilastērion, als „Versöhnungsgabe“ bezeichnet werden. 4. Anwendung: Christus als „Versöhnungsgabe“ in Röm 3,25 Wenn Paulus in Röm 3,25 vom Hin- oder Aufstellen (proetheto) 18 des hilastērion durch Gott spricht und so den sichtbaren, öffentlichen Charakter unterstreicht, steuert er die Rezeption: Das entspricht der bekannten Praxis des Aufstellens von Weihegeschenken. Seine metaphorische Anwendung von hilastērion auf die Bedeutung des Todes Jesu verändert jedoch in zwei Aspekten die bekannte kulturelle Praxis und lässt aufhorchen. 15 Zur Übersetzung Weiß, Christus, 299; Schreiber, Weitergedacht, 208. 16 F. Passow, Handwörterbuch der Griechischen Sprache I/ 2, Leipzig 5 1847, Nachdruck Darmstadt 2008, 1478. Er nennt auch die Bedeutung ‚sühnen‘. 17 Weiß, Christus, 301 schlägt „Sühnemal“ als deutsche Übersetzung von hilastērion vor. Doch der Begriff „Sühne“ verdankt sich nicht den antiken Quellen, sondern der theologischen Beschreibungssprache. Er stammt aus dem germanischen Rechtswesen und bezeichnet dort die Entstörung eines gestörten sozialen Verhältnisses. In der Theologie wird er jedoch gerne als Umschreibung kultischer Opferhandlungen, die eine Wiedergutmachung vor Gott bewirken, gebraucht. Der Begriff bleibt unscharf und zur präzisen Beschreibung ungeeignet. 18 Weil hilastērion, das hier als Objekt von proetheto steht, immer einen Gegenstand bezeichnet, keinen Opfervorgang, kann das Verb hier nicht auf die Darbringung eines Opfers deuten. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 97 Erstens stellen in der griechisch-römischen Welt Menschen Weihegeschenke für eine Gottheit auf, um ein Gelübde einzulösen oder sie gnädig zu stimmen. Bei Paulus ist es jetzt umgekehrt Gott, der im Tod Jesu ein Weihegeschenk zur Versöhnung mit den Menschen aufstellt. Dieses Geschehen können sich die Hörer bzw. Leser des Briefes, der Bildwelt entsprechend, konkret vorstellen. Dass die Funktion der Versöhnung das Geschehen bestimmt, wird darin sichtbar, dass Paulus statt des gängigen Begriffs anathēma das seltene hilastērion benutzt. Die Pointe besteht dann darin, dass Gott gleichsam Menschen „gnädig stimmen“, mit sich versöhnen, in eine Beziehung zu sich bringen will. Zweitens bezieht sich hilastērion, das sonst immer einen Gegenstand bezeichnet, hier auf den gewaltsamen Tod Jesu. Dieser ist durch die Apposition „in seinem Blut“ ausgedrückt, die metonymisch das durch Gewalt verursachte Sterben eines Menschen meint. 19 Speziell an Opferblut in einem kultischen Kontext ist dabei nicht zu denken. Daher ist der Präpositionalausdruck „in seinem Blut“ auch nicht als Hinweis zu verstehen, der die Rezeption auf den Kontext von Ex 25 bzw. Lev 16 lenken würde. Wenn Philo (vit. Mos. 2,95.97; fug. 100 f.; her. 166; cher. 25) oder der Autor des Hebräerbriefs (Hebr 9,5) auf diesen Kontext Bezug nehmen, benennen sie ihn ausdrücklich. In Röm 3,25 hingegen handelt es sich bei Jesus als Versöhnungsgeschenk um ein Geschehen, nämlich den gewaltsamen Tod Jesu am Kreuz, bei dem Gott unmittelbar - ohne eine kultische Vermittlung durch Priester, Opfermaterie und Opferritual - die Beziehung zu den Menschen aufnimmt. Mehr als das Leben seines Messias (des „Christus Jesus“, 3,24), und das bedeutet: seines Repräsentanten, kann Gott nicht geben. Der Tod Jesu am Kreuz zeigt, dass das Versöhnungshandeln Gottes unwiderruflich geschehen ist. Durch den Tod Jesu bietet Gott allen Menschen, die ihm mit „Vertrauen“ (3,25) antworten, Versöhnung an. 5. Die Versöhnungsgabe im Kontext von Röm 3,23-26 Eine Übersetzung von Röm 3,23-26 stellt die „Versöhnungsgabe“ in ihren Kontext: 23 Denn alle sündigten und ermangeln der Herrlichkeit Gottes; 24 sie werden gerecht gemacht geschenkweise in seiner Gnade durch den Loskauf im Christus Jesus, 19 Vgl. Mt 23,30.35; 27,4.6.8.24f.; Lk 11,50f.; Apg 5,28; 18,6; 20,26; 22,20; Röm 3,15; Kol 1,20; Hebr 12,4; Offb 6,10; 16,3.6; 17,6; 18,24; 19,2. 98 Stefan Schreiber 25 den Gott öffentlich aufstellte als Versöhnungsgabe durch Vertrauen in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit um des Erlasses der Sünden willen, die vorher geschehen sind 26 während der Geduld Gottes, zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der Jetzt-Zeit, dass er gerecht ist und den gerecht macht, der aus Vertrauen zu Jesus lebt. Paulus deutet den Tod Jesu durch die (damals wie heute) ungewohnte Metapher vom Hinstellen eines versöhnenden Weihegeschenks für die Menschen durch Gott als direkte und heilvolle Zuwendung Gottes zu den Menschen. Gott selbst handelt, ergreift von sich aus die Initiative und wirkt Versöhnung mit den Menschen, indem er die Beziehung zu ihnen ohne Vorbedingungen („geschenkweise in seiner Gnade“, 3,24) neu aufnimmt. Das verdeutlicht die Fortsetzung in 3,25f.: „zum Erweis seiner (sc. Gottes) Gerechtigkeit“, seiner rettenden Zuwendung, 20 die in Jesu Tod sichtbar und wirksam wird. Sie bewirkt den Erlass, 21 die Vergebung der Sünden, die die Menschen von Gott trennten und die sich angesammelt hatten, weil Gott in seiner Geduld (3,26) immer die Möglichkeit zur Umkehr offenhielt. Gottes heilschenkende, vergebende und versöhnende Gerechtigkeit wurde notwendig, weil „alle sündigten und die Herrlichkeit Gottes entbehren“, d. h. ihre Beziehung zu Gott beeinträchtigt ist (3,23; vgl. 1,18-3,20). In 3,25 fügt Paulus direkt nach hilastērion die Parenthese „durch pistis“ ein. Damit verdeutlicht er, dass den getöteten Jesus nur derjenige als Versöhnungsgabe verstehen und annehmen kann, der ihm mit „Vertrauen“ (als passende Übersetzung von pisits, das auch Treue, Loyalität, Überzeugung heißen kann) begegnet, sich auf die existentielle Beziehung zu Gott und Christus einlässt. Der Mensch bringt in diese Beziehung nichts anderes als sein Vertrauen ein, durch das er am Tod Jesu als Heilstat Gottes Anteil erhält. Entsprechend heißt es in 3,26, dass Gott „den gerecht macht, der aus Vertrauen zu Jesus lebt“. 20 So schon im Themasatz Röm 1,16f. Zur „Gerechtigkeit Gottes“ als „rettender Zuwendung“ vgl. Ps 98,2; Jes 56,1; 45,8; 46,13; 51,5; 59,17; Ps 40,11; 71,15; auch 4-Esr 8,36. 21 Ich entscheide mich aufgrund des Kontextes der „Gerechtigkeit Gottes“ für diese Bedeutung von πάρεσις. Anders Kraus, Erweis, 199f.: „hingehen lassen“. Christus als hilastērion in Röm 3,25: Gottes Versöhnungsgabe 99 6. Folgerungen Liegt keine Anwendung des Jom Kippur-Rituals auf den Tod Jesu vor, propagiert Paulus auch keine Ablösung dieser kultischen Praxis durch Jesu Tod. Eine Auseinandersetzung mit dem Jom Kippur steht nicht im Fokus des Textes, der an Gemeinden gerichtet ist, die fern vom Jerusalemer Tempel lebten. Für sie ist entscheidend, dass Gott ihnen in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zugewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet hat. Genau diese theologische Gewissheit vermittelt Paulus mit der Vorstellung der „Versöhnungsgabe“, die Gott selbst wirksam im Tod Jesu aufstellte. Menschen, die zu Christus gehören, müssen demnach keine Angst mehr vor zürnenden, strafenden oder schädigenden Gottheiten haben, die sie aus ihrer Kultur kennen, denn der eine und einzige Gott Israels hat ihnen bereits von sich aus Versöhnung geschenkt. Legt man die Herleitung des Begriffs hilastērion in Röm 3,25 aus der antiken Praxis der Versöhnungsgeschenke zugrunde, dann akzentuiert Paulus durch die Umkehrung der Handlungsrollen die Gnade und Zuwendung Gottes. Gott will sich Menschen geneigt machen. Im Sterben Jesu eröffnet er den Menschen, die seine Zuwendung im Vertrauen annehmen, Versöhnung, abstrakt: eine unzerstörbare und heilvolle Beziehung zu sich.