eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/47

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2447 Dronsch Strecker Vogel

Warum eigentlich Markus?

2021
Günter Röhser
NT aktuell Warum eigentlich Markus? Ausgewählte Perspektiven der Forschung Günter Röhser Warum eigentlich Markus? - Natürlich deswegen, weil er in der Bibel steht. Aber auf den ersten Blick spricht manches dagegen, gerade das Markusevangelium in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken: Inhaltlich scheint es weitgehend überflüssig, weil sein gesamter Stoff nahezu vollständig auch im Matthäusevangelium enthalten ist. Gegenüber seinen beiden Seitenreferenten Matthäus und Lukas scheint das MkEv merkwürdig unvollständig ( Jesu Geburt und Ostererscheinungen werden nicht erzählt), der „Anfang“ ist schwer zu bestimmen und ein richtiger Schluss scheint nicht vorhanden, die Gleichnisse sollen nach der sog. Parabeltheorie (Mk 4,11f.) die Menge (4,1) nicht für die Reich-Gottes-Botschaft gewinnen, sondern scheinbar verschließen… Aber wie gesagt, vielleicht scheint das alles nur so zu sein, und die Neugier des Auslegers und der Leserin sind dadurch jedenfalls erst recht geweckt. Des Weiteren steht das MkEv im Zentrum der historisch-kritischen Evangelienforschung, seit sich im 19. Jh. die Annahme durchgesetzt hat, es sei das älteste der vier kanonischen Evangelien. Diese Annahme kann bis heute als eines der wenigen einigermaßen gesicherten Ergebnisse der Markusforschung gelten. 1 Aber erst seit ungefähr sechzig Jahren erlebt das MkEv einen unglaub- 1 S. zuletzt A. Damm, Ancient Rhetoric and the Synoptic Problem: Clarifying Markan Priority (BEThL 252), Leuven u. a. 2013, der aufgrund der Anwendung bestimmter rhetori- Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 6 Günter Röhser lichen Boom an exegetischen Veröffentlichungen, die alle mit der (Wieder-)Entdeckung des Evangelisten als profilierten Theologen und geschickten Erzähler zu tun haben. Jedoch ist dies nur die Seite der wissenschaftlichen Forschung. Die andere Seite ist diejenige, die erneut fragen lässt: Warum eigentlich Markus? Das MkEv ist von allen kanonischen Evangelien dasjenige mit der schwächsten Wirkung und geringsten Rezeption in der Kirchen- und Kulturgeschichte, und d. h. auch: im Leben von christlichen Gemeinden und Menschen. 2 Michael Kok nennt es „das Evangelium am Rande“ 3 . Insofern muss die Antwort auf die Titelfrage lauten: Weil es unsere Aufmerksamkeit braucht - und verdient! Das sollen die folgenden Ausführungen zeigen, die einige Fragestellungen ansprechen sollen, denen nachzugehen sich m. E. für Wissenschaft und Praxis lohnt. 4 Aber ob das MkEv jemals seine Geheimnisse preisgeben wird? „Geheimnis“ war und ist weiterhin ein Schlüsselbegriff in vielen Untersuchungen zum MkEv, auch wenn von William Wredes Theorie vom „Messiasgeheimnis“ aus dem Jahre 1901 nur noch das Stichwort geblieben ist. Beginnen wir mit einer Textstelle, die in diesem Zusammenhang eher weniger genannt wird: In Mk 4,22 heißt es: „Denn nicht gibt es Verborgenes, außer damit es offenbar werde, und nichts ward geheim, außer damit es ins Offenbare komme.“ Peter Dschulnigg, dessen Kommentarübersetzung ich hier wiedergebe, bezieht die Stelle auf das Geheimnis des Reiches Gottes (4,11), das von den Jüngern „trotz aller Verborgenheit zu offenbaren und verkünden ist“. 5 Klaus Berger stellt den Abschnitt unter die Überschrift „Jesus erklärt, wie das Gericht sein wird“ und übersetzt: „Alles Verscher Prinzipien bei der Benutzung von Quellen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Posteriorität von Mt und Lk gegenüber Mk erkennt. 2 Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine sehr bemerkenswerte ist etwa die „Catena in Marcum“, eine Anthologie patristischer Kommentare zum MkEv aus dem 5./ 6. Jh. (hg. u. übers. v. W. Lamb [TENT 6], Leiden 2012). 3 M. J. Kok, The Gospel on the Margins: The Reception of Mark in the Second Century, Minneapolis 2015 (mit ausführlicher Forschungsgeschichte zur Papias-Notiz über Markus als Verfasser, verbunden mit der These, das MkEv sei nur deshalb mit der Autorität des Petrus in Verbindung gebracht und als apostolisch akzeptiert worden, um es oppositionellen Kreisen zu entziehen, und deshalb auch nur wenig zitiert worden). S. auch J. Verheyden, The Reception History of the Gospel of Mark in the Early Church, in: G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First Century. Method and Meaning (BEThL 300), Leuven u. a. 2019, 395-428, wonach Markus, wenn überhaupt, dann durch die Brille von Matthäus und Lukas gelesen worden ist. 4 Einen bunten Querschnitt durch die aktuelle Markus-Forschung (mit vielen Textbearbeitungen) bietet der Sammelband: Oyen, Reading. Verschiedenste Aspekte der Markus- Forschung sind jetzt auch in dem Sammelband mit Aufsätzen von Cilliers Breytenbach vereinigt: The Gospel according to Mark as Episodic Narrative (NT.S 182), Leiden 2020. 5 P. Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 139 f. Natürlich erhebt sich sofort die Frage, wann dies (angesichts der anderweitigen Schweigegebote an die Warum eigentlich Markus? 7 borgene kommt dann ans Licht. Alles Geheime wird offenbar.“ 6 - Das sind sehr unterschiedliche Auslegungen. Aber könnten nicht beide im Sinne des Evangelisten, ja dieses geradezu typisch für ihn sein? Im Bereich der Verwendung von Metaphern und Symbolen fordert er den kreativen Verstehensprozess seiner Leserschaft förmlich heraus - wie Matthias Klinghardt eindrücklich am Beispiel von „Boot“ und „Brot“ gezeigt hat. 7 Und diese Erzählstrategie führt zwangsläufig zu einer gewissen Offenheit für unterschiedliche Interpretationen und Assoziationen. Doch sollte man den Versuch, zu gewissen Leitlinien für das Verständnis zu finden, nicht vorschnell aufgeben. Fangen wir mit der schwierigen Frage des „Anfangs“ an. Ein schwieriger, aber bedeutungsvoller Anfang und ein rätselhaftes, weil offenes Ende Im Folgenden gehe ich von der Annahme aus, dass die Probleme um das Verständnis von Mk 1,1 uns mitten hinein in aktuelle Fragestellungen der Markusforschung führen und zugleich in Korrelation zu der Frage des vermeintlich abrupten Schlusses in Mk 16,8 stehen. Geht es um die Übersetzung des ersten Verses im MkEv, welcher zugleich (s) eine Überschrift darstellt, so stellt sich zunächst die Frage, ob man die Wortverbindung „Evangelium Jesu Christi“ als Gen. subj. 8 (das legt die „wörtliche“ Jünger) eigentlich erfolgen soll (erst nachösterlich oder zumindest anfänglich auch schon vorher? ). 6 K. Berger/ C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/ Leipzig 6 2003, 403. Vgl. auch K. Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh 2011, 151 (mit Verweis auf das vorauszusetzende Erntebild in 4,8.20 und die Talio in V. 24). 7 M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19/ 2002, 183-202. Man könnte mühelos weitere Beispiele solcher metaphorischer Leitbegriffe hinzufügen: Weg, Wüste, Haus, Berg-… 8 So Berger/ Nord, Das Neue Testament, 394: „das Evangelium, das Jesus Christus, Gottes Sohn, verkündet hat“. Prof. Dr. Günter Röhser , Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn. Homepage: www.guenter.roehser.de 8 Günter Röhser deutsche Übersetzung nahe) oder als Gen. obj. („Evangelium über/ von Jesus Christus“) 9 versteht. Ist es verfrüht, im Sinne des Markus von einer bewussten Uneindeutigkeit und Komplementarität des Verständnisses auszugehen, wie sie nun einmal durch den griechischen Genitiv ermöglicht und m. E. nahegelegt wird? Außerdem könnte mit „Evangelium“ sowohl der Inhalt des MkEv (Botschaft Jesu oder/ und von Jesus) als auch das MkEv selbst (als schriftliches Werk) gemeint sein. Dies hängt jedoch von der Interpretation des ersten Wortes („Anfang“) ab: Betrachtet man das ganze MkEv lediglich als den „Anfang“ des Evangeliums, der über sich hinausweist, dann kann das Ziel und die Fortsetzung der Darstellung nur das Osterevangelium von Jesus Christus (im Sinne des paulinischen Evangeliums von 1Kor 15,3b-5) sein (vgl. Mk 16,6f.) und damit nicht notwendigerweise eine schriftliche Darstellung. 10 Ein offener Schluss, der aus dem Markustext hinausweist, passt dazu sehr gut. Es gibt aber noch drei andere Möglichkeiten: - Griech. archē kann auch mit „Ursprung“, „Grund“ wiedergegeben werden. Der Markustext stellte dann das Gründungs- und Ursprungsgeschehen für die Verkündigung des Evangeliums dar, auf das diese sich grundlegend und bleibend zu beziehen hat. Er ist selbst die „‚Grunderzählung‘ des Heils“ 11 , das im Evangelium verkündigt wird. Von der Strukturlogik dieses Ansatzes her bedarf Mk 16 keiner Fortsetzung, da ja alles Wesentliche gesagt ist. In der aktuellen Forschung entspricht dem ein Verständnis des MkEv als „ätiologische Erzählung“ (= „Begründungserzählung“) 12 oder als „Mythos“ (= „fundierende Geschichte“) 13 . „Der Zyklizität des Mythos entspricht die Zirkularität der Darstellung bei Markus. Die mythisch durchformte ätiologische Jesuserzählung findet ihre Vollendung durch den Schluss in 16,7 [Hinweis auf Galiläa als Region des Anfangs; Anm. d. V.] und 8.“ 14 - Es geht aber auch schlichter: archē kann einfach auf sich selbst bzw. auf die erläuternden Verse Mk 1,2-3 verweisen: Hier beginnt das Buch, die „Evangelienschrift“, oder zumindest eine Erzählfolge von Ereignissen, die den Inhalt des Evangeliums ausmachen: das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen 9 So die meisten. 10 So Peter Pokorný in mehreren Veröffentlichungen, am ausführlichsten in: Ders., From the Gospel to the Gospels (BZNW 195), Berlin/ Boston 2013, Kap. 6 („The Gospel in the Gospel according to Mark“). 11 So der Titel eines Forschungsberichts von K. Scholtissek, ,Grunderzählung‘ des Heils. Zum aktuellen Stand der Markusforschung, ThLZ 130/ 2005, 858-880. 12 P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung (WUNT 408), Tübingen 2018, 47f. 13 L. Schenke, Das Markusevangelium. Literarische Eigenart - Text und Kommentierung, Stuttgart 2005, 16-21. 14 Klumbies, Markusevangelium, 39. Warum eigentlich Markus? 9 Jesu von Nazareth. Dies fügt sich zum o. g. doppelten Verständnis der Genitivverbindung „Evangelium Jesu Christi“. Eve-Marie Becker, die den historiographischen Charakter des MkEv betont, spricht von einer „Ereignisgeschichte“ 15 . Selbstverständlich kann diese auch nach Mk 16,8 noch weitergehen (etwa mit den Ostererscheinungen und der Wiederkunft Jesu), sodass der offene Schluss von der Strukturlogik her kein Problem darstellt. 16 - Es gibt aber auch noch eine vierte Möglichkeit: „Anfang des Evangeliums“ bezeichnet einen bestimmten Eingangsabschnitt des MkEv bzw. dessen Inhalt. Diskutiert werden vor allem zwei Abgrenzungen des „Anfangs“ („Prolog“): (a) Mk 1,1-3, und (b) Mk 1,1(2)-(13)15. 17 (a) Diese Abgrenzung bedeutet, eine - theologisch hoch bedeutsame - programmatische Intertextualität des MkEv mit den heiligen Schriften Israels (hier: der Prophetie) herzustellen. Denn entgegen der Interpunktion im Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) wird das Schriftzitat dann nicht zum Folgenden ( Johannes der Täufer), sondern als Inhalt von V. 1 zu V. 1 gezogen: Der Anfang des Evangeliums liegt in alttestamentlicher Zeit ( Jesaja) 18 und besteht darin, dass Gott im Blick auf Jesus äußert, seinen Boten ( Johannes den Täufer) vor ihm ( Jesus, dem Herrn) her senden zu wollen, der ihm den Weg bereiten wird. Nur dies ist der „Anfang des Evangeliums“, und er liegt lange vor Jesu und des Täufers irdischem Wirken und besteht in dem vom Propheten protokollierten Reden und Ankündigen des Gottes Israels. (b) Hier umfasst der „Anfang“ nicht nur die Ankündigung des Täufers und seiner Sendung, sondern auch dessen gesamtes Wirken, die Taufe (Geistbegabung) und Versuchung Jesu sowie den Beginn von Jesu öffentlicher Wirksamkeit in Galiläa. Dies entspricht dann ungefähr dem ersten Hauptabschnitt in antiken Biographien (Herkunft und erstes Wirken der Hauptperson). 19 15 E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, 110, 407-410. 16 Vgl. das Ende der Apostelgeschichte und dazu: T. M. Troftgruben, A Conclusion Unhindered. A Study of the Ending of Acts within its Literary Environment (WUNT II 280), Tübingen 2010. 17 Vgl. H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog (BThSt 32), Neukirchen-Vluyn 1997. 18 So auch Becker, Markus-Evangelium, 245 f., allerdings unter Zurückweisung der Bezeichnung „Prolog“ (109). 19 Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen/ Basel 1997, bes. 351-369 (zu Mk 1,1-15). Auch die Gegenüberstellung mit einer anderen bedeutenden Person ( Johannes) ist dafür nicht untypisch. 10 Günter Röhser Was den Schluss des Evangeliums angeht, so ist auch hier wieder zu fragen, ob ein sinnvoller Aufriss gefunden werden kann, der mit Mk 16,8 endet, bzw. ob eine biographische Darstellung so enden kann (mögliche Gliederungsgesichtspunkte, die in der Forschung diskutiert werden, sind: geographische und topographische Markierungen, Adressaten des Wirkens Jesu, Aspekte der Christologie bzw. von Nachfolge und [Nicht-]Verstehen der Jünger, zwei- oder dreiteiliger Grundaufbau, chronologische Angaben und Wochenstruktur des Erzähltextes, Bedeutung der Dreizahl wichtiger Ereignisse und symmetrischer Strukturen). Die Frage nach der Funktion des Schlusses kann jedoch m. E. nur beantwortet werden, wenn man den Erzählcharakter des MkEv ernst nimmt. Diese Überlegungen führen uns ganz von selbst zur Gattungsfrage. Das MkEv als geschichtliche Erzählung biographischen Charakters Wenn wir das MkEv so bezeichnen, dann kommen darin drei Bestimmungen zusammen; wir gehen also gewissermaßen von einem „Gattungsmix“ aus. 20 Eve- Marie Becker stellt in ihren Arbeiten den historiographischen Charakter des MkEv heraus. Die materialreichste Darstellung zu den Evangelien als antike Biographien bietet immer noch Dirk Frickenschmidt. 21 Die ältere Entgegensetzung von Evangelium (Historisierung des Kerygmas) und hellenistischer Biographie (Zeichnung einer individuellen Persönlichkeit und ihrer Entwicklung) darf heute als überwunden gelten. Trotzdem muss die Frage nach der dominanten formgeschichtlichen Prägung der Evangelien weiter diskutiert werden. Eine Stärke des Biographie-Vergleichs ist es, dass er durch seine Orientierung an der Hauptperson sowohl deren Charakterisierung durch Worte und Taten bzw. die Enthüllung von deren (ggf. noch verborgener) Identität (in unserem Falle also: die Christologie des MkEv) formgeschichtlich zu beschreiben vermag als auch das Rollenvorbild und die Modellfunktion, die der Hauptperson zukommen (in unserem Falle also: das Leben und Sterben Jesu, das in die Nachfolge ruft). Letzteres darf dabei nicht ethisch-moralisch enggeführt werden, denn die „Art von Zusammenleben mit der Hauptperson“ (vgl. Plutarch, Aemilius 1), die durch eine Biographie (bzw. das Evangelium) ermöglicht werden soll, bedeutet eine „grundlegende Bereicherung“ des eigenen Lebens der 20 So auch jüngst A. Seifert, Der Markusschluss. Narratologie und Traditionsgeschichte (BWANT 220), Stuttgart 2019, 87. 21 Zu beiden s. oben Anm. 15 und 19! - Ein neuerer Vertreter des biographischen Ansatzes ist M. R. Licona, Why Are There Differences in the Gospels? What We Can Learn from Ancient Biography, Oxford 2017, der seine Titelfrage durch den Vergleich mit differierenden Parallelperikopen bei Plutarch u. a. zu beantworten sucht. Warum eigentlich Markus? 11 Lesenden, die über eine moralische Vorbildfunktion weit hinausgeht. 22 Damit hilft dieser Ansatz auch, Einseitigkeiten in der Markus-Exegese zu vermeiden: in der Betonung der Christologie und Soteriologie einerseits oder der Anthropologie und Nachfolgethematik andererseits, aber auch in der Beschreibung der Rolle Jesu als „divine agent“ einerseits oder als „ethical role model“ andererseits. 23 Den Streit darüber, ob die Evangelien gegenüber der Biographie eine Gattung sui generis darstellen, halte ich für überflüssig. Denn schon immer war klar, dass eine Gattung Teil einer bestimmten Literaturgeschichte ebenso wie innovationsfähig ist und sowohl aufgrund dominierender formaler als auch inhaltlicher Merkmale bestimmt wird. Ob aber die Darstellung Jesu als Gottessohn oder der eschatologische Anspruch des Kerygmas von Jesus Christus schon eine eigene Gattung begründen, ist letztlich eine Ermessensfrage und m. E. eher zu verneinen. Dann stellen aber die Evangelien nur eine Sonderform oder Untergattung der antiken Biographie dar. Sucht man eine gemeinsame Bezeichnung für sie, so empfiehlt sich am ehesten die von Detlev Dormeyer vorgeschlagene „kerygmatisch-historiographische Biographie“ 24 bzw. „historiographische Idealbiographie“ 25 . An dieser Stelle soll auch noch einmal der Vorschlag erwähnt werden, das MkEv als „Mythos“ zu bezeichnen. Dies steht in engem Zusammenhang mit der oben erwähnten Interpretation von Mk 1,1 und zielt auf den identitätsstiftenden, existenzbegründenden Charakter des Evangeliums. Natürlich hängt es davon ab, was genau man unter „Mythos“ versteht; man kann aber vielleicht so viel sagen: Wohl gibt es mythische Züge im MkEv - wie auch in anderer biographischhistoriographischer Literatur der Antike -, aber als Gattungsbezeichnung ist „Mythos“ schon wegen fehlender fester Formmerkmale nicht geeignet, und das MkEv spielt nicht in ferner Vorzeit und nicht in einer numinosen Sphäre, sondern in einer wenige Jahrzehnte zurückliegenden geschichtlichen Vergangenheit - ist also letztlich kein „Mythos“, sondern eine „geschichtliche Erzählung“. 26 22 D. Frickenschmidt, Evangelium als antike Biographie, ZNT 1/ 1998, Heft 2, 29-39, 37. Vgl. auch ders., Evangelium, 217-224.386f. 23 Zusammenfassend dazu (mit weiterer Lit.): A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie (BWANT 197), Stuttgart 2011, 36-43. 24 D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung (EdF 263), Darmstadt 1989, 173.188. 25 Ders., Das Markusevangelium, Darmstadt 2005, 124 (jeweils mit ausführlicher Forschungsgeschichte). - Der Begriff „Idealbiographie“ ist gewählt im Anschluss an Klaus Baltzers Bezeichnung für ein biographisches Schema im Alten Testament für Gesetzgeber, Könige und Propheten. „Im Unterschied zur antiken Biographie werden im Alten und Neuen Testament die prophetischen und königlichen Gründer nicht als gemischte Charaktere, sondern als Idealgestalten vorgestellt“ (D. Dormeyer, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010, 72). 26 Vgl. Scholtissek, Grunderzählung, 879f. 12 Günter Röhser Das Markusevangelium als Erzählung Die allgemeinste Bestimmung des MkEv ist „Erzählung“ bzw. „Erzähltext“. Damit ist Grundlegendes gesagt: 1. Das MkEv ist kein bloßer Bericht von vergangenen Ereignissen (im Sinne einer Dokumentation oder eines Verlaufsprotokolls), es ist auch kein argumentativer oder appellativer Text; sondern in ihm wird eine Geschichte erzählt. Das heißt nicht, dass das Evangelium nicht solche Texte und Elemente enthielte - im Gegenteil: Es wird manches berichtet und beschrieben, es wird viel geredet, argumentiert und appelliert; aber alles dieses ist eingebettet in eine Gesamterzählung, in einen narrativen Gesamttext, der vorwiegend aus (biographisch) erzählenden Elementen besteht. 2. Der Unterschied zwischen einer Erzählung und einem Bericht besteht darin, dass erstere immer schon eine bewusste Deutung des berichteten Geschehens enthält - anders ausgedrückt: in dem „Ineinander von Bericht und Deutung“ 27 in der Erzählung. Und zwar entsteht dieses Ineinander sowohl durch die „Einbettung jeder Episode in die Gesamterzählung“ 28 als auch durch die perspektivische Interpretation des im Einzelnen dargestellten Geschehens. Jeder Erzähler wählt aus der Fülle der Ereignisse eine bestimmte Anzahl aus, ordnet sie in einer bestimmten Weise an und unterwirft sie seinem Gestaltungswillen. So verleiht er ihnen durch den Einsatz bestimmter sprachlicher Darstellungsmittel eine bestimmte „Bedeutung“, die er seinen Leserinnen und Lesern vermitteln will. 3. Dies bedeutet weiterhin, dass wir es bei einer Erzählung mit einem Stück „Dichtung“ zu tun haben - nicht notwendigerweise im Sinne einer rein fiktiven Geschichte (wie beim Märchen), aber doch im Sinne einer bewusst gestalteten (wie bei den Evangelien). Dichtung aber ist literaturwissenschaftlicher Analyse zugänglich. Damit sind wir bei einer Forschungsrichtung angelangt, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Raum eingesetzt und sich seitdem auch bei uns verbreitet hat: der biblischen Erzählforschung bzw. Erzähltext- oder narratologischen Analyse. Begründer dieser Forschungsrichtung im Hinblick auf das Neue Testament waren David Rhoads und Donald Michie mit 27 P. Müller, ,Wer ist dieser? ‘ Jesus im Markusevangelium. Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer, Neukirchen-Vluyn 1995, 15. 28 Ebd.; zum Ganzen 171f. Warum eigentlich Markus? 13 ihrem Buch „Mark as Story“ 29 . Kategorien und Unterscheidungen wie „story“ und „discourse“, realer und impliziter Autor bzw. Leser, Erzählstil und Erzählperspektive („point of view“), der allwissende Erzähler des auktorialen Erzählstils, der „plot“ und die „events“, Figuren, Charaktere und „settings“ sind seither in aller Munde und haben ihre Leistungsfähigkeit für die Exegese vielfach erwiesen. Zur vertiefenden Beschäftigung mit dem Werk von Rhoads, Dewey und Mitchie sowie seiner Entwicklung in den drei Auflagen und den Diskussionen, die es ausgelöst hat, verweise ich hier auf den von Kelly R. Iverson und Christopher W. Skinner herausgegebenen Sammelband, der anlässlich des 30jährigen Jubiläums des Werkes erschienen ist und der instruktive Beiträge namhafter Vertreterinnen und Vertreter des Narrative Criticism enthält. 30 Eine bis heute gebräuchliche englische Bezeichnung für das ganze Unternehmen ist „(New) Literary Criticism“. Da es sich jedoch der Sache nach um Erzähl(text)analyse handelt, ist es besser, von „Narrative Criticism“ zu sprechen (der Ausdruck geht auf Rhoads zurück und ist auch nur in der Bibelwissenschaft gebräuchlich) oder von „narratological criticism“. Der Hauptunterschied zu herkömmlicher, historisch-kritischer Arbeit am Neuen Testament ergibt sich schon aus Rhoads‘ Vergleich des MkEv mit einer „short story“: Erzählforschung kann die biblischen Texte unter völliger Absehung von einleitungswissenschaftlichen Fragestellungen betrachten. Es interessiert (zunächst oder überhaupt) nicht, wer wann für wen geschrieben hat, sondern die Erzählung wird ganz aus sich selbst heraus analysiert; sie ist eine „autosemantische“ Größe. Der Schwerpunkt des Interesses hat sich aber im Laufe der Zeit ganz von selbst vom Text und seinem Erzähler auf die Lesenden bzw. Hörenden verlagert, da Texte nun einmal normalerweise für Letztere (und damit auch für Exegetinnen und Exegeten) gemacht werden. So kann man den „reader-oriented narrative criticism“ in Gestalt des „reader-response criticism“ als die Seele des Narrative Criticism bezeichnen, 31 auch wenn es daneben noch die Ansätze des „text-“ und des „author-oriented“ narrative criticism gibt. „Despite their differences, all three approaches aim to answer the same question: How should the implied reader respond to the text? “ 32 An den Merkmalen des Textes soll abgelesen werden, wie die Lesenden verstehend reagieren sollen. 29 Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982, Minneapolis 2 1999 mit Joanna Dewey; Minneapolis 3 2012). 30 K. R. Iverson/ C. W. Skinner (Hg.), Mark as Story. Retrospect and Prospect (SBL.RBS 65), Atlanta 2011. 31 Als dafür maßgebliches Werk (für das MkEv) darf wohl „Let the Reader Understand: Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark“ (Minneapolis 1991, Harrisburg 2 2001) von Robert M. Fowler gelten (der Buchtitel ist Mk 13,14 entnommen). 32 So C. W. Skinner in der Einführung (12) zu dem in Anm. 30 genannten Band mit Bezug auf den Beitrag von M. A. Powell (ebd. 19-43). 14 Günter Röhser Zur Würdigung der literaturtheoretischen Ansätze lässt sich Folgendes festhalten: Sie leiten an zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Bibeltext, seinen Strukturen und beabsichtigten Wirkungen. Damit liefern sie ein zusätzliches Instrumentarium für die semantische und pragmatische Analyse eines Textes im Rahmen einer methodisch verantworteten Exegese. Vor allem aber ist Erzähltextanalyse jederzeit ohne historische und theologische Spezialkenntnisse von und mit interessierten Schülerinnen und Schülern wie auch mit Erwachsenen durchzuführen: Sie ist Anleitung zu eigenen intelligenten Beobachtungen am Text! 33 Damit ist aber auch ihre Grenze bezeichnet: So berechtigt und notwendig methodisch der Vorrang der synchronen vor der diachronen Analyse auch ist, so wenig ist prinzipiell eine Exegese angemessen, welche auf die historische Fragestellung verzichtet. Dies zeigt auch ein Blick auf die Entwicklung von „Mark as Story“ in den drei Auflagen mit der stärkeren Berücksichtigung des kulturellen und historischen Hintergrundes der Erzählung und ihrer Leserinnen und Leser (und damit von deren Verstehensvoraussetzungen). Und nur eine ideologische Sichtweise kann die Erzählforschung von der historischen Forschung strikt abgrenzen wollen. Mittlerweile gibt es Ansätze, die über das Nebeneinander der beiden Zugänge auch theoretisch-konzeptionell hinauskommen wollen und beides zu integrieren suchen. Zu nennen ist hier vor allem die kognitive Narratologie - in der deutschsprachigen Evangelienexegese zur Zeit maßgeblich vertreten durch Sönke Finnern und Jan Rüggemeier. 34 David Rhoads selbst ist zwischenzeitlich in zahlreichen Veröffentlichungen vom (Biblical) Narrative Criticism zum (Biblical) Performance Criticism („Performanzkritik“) fortgeschritten. 35 Dieser Ansatz vertritt die These, ein (antiker) Text wie das MkEv sei ursprünglich nicht zum einfachen Lesen oder Vorlesen, sondern zum inszenierten Vortrag bestimmt gewesen (z.- B. im Gottesdienst). 33 Eine gelungene Einführung (zum MkEv) bietet: U. E. Eisen, Das Markusevangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 135-153. 34 S. Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT II 285), Tübingen 2010; J. Rüggemeier, Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese (WUNT II 458), Tübingen 2017. Zusammenfassend zur Methode: S. Finnern/ J. Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 2016, 173-235. - Zur selben Zeit ist erschienen: M. R. Whitenton, Hearing Kyriotic Sonship. A Cognitive and Rhetorical Approach to the Characterization of Mark’s Jesus (BIS 148), Leiden/ Boston 2016. 35 S. etwa D. Rhoads, What is Performance Criticism? , in: H. E. Hearon/ P. Ruge-Jones (Hg.), The Bible in Ancient and Modern Media, Eugene 2009, 83-100. Vgl. auch https: / / www. biblicalperformancecriticism.org/ (zuletzt abgerufen am 16.10.2020). Warum eigentlich Markus? 15 Das im Erscheinen begriffene Buch von Jan Heilmann wird an dieser Forschungsrichtung die nötigen Korrekturen anbringen. 36 Neben der Hauptperson Jesus sind Gott, Johannes der Täufer und die Jüngerinnen und Jünger, die Gegner Jesu sowie die sog. Nebenfiguren die wichtigsten Charaktere der markinischen Erzählung. Am meisten und längsten werden in der Forschung die Jünger auf die verfolgte Erzähl- und Lesestrategie hin untersucht - sind sie doch gewissermaßen die ersten Hörer der Stimme Jesu, mit der der Erzähler sich identifiziert. Dies begann schon 1977 mit einem einflussreichen Aufsatz von Robert C. Tannehill, 37 viele weitere Arbeiten folgten. Idealtypisch gibt es drei Möglichkeiten, was der Evangelist erzählpragmatisch mit seiner Darstellung erreichen will: - Die Lesenden sollen sich mit den Jüngerinnen und Jüngern identifizieren. Markus geht es „um eine sensible Charakterisierung der Nachfolge Jesu zu allen Zeiten“. 38 - Die Lesenden sollen sich v. a. kritisch von den Jüngern distanzieren. Markus geht es darum, gegen bestimmte Auffassungen und Haltungen zu polemisieren. 39 - Die Lesenden sollen wahrnehmen, dass ihre Verstehensmöglichkeiten diejenigen der Jünger im Text (Motiv vom Jüngerunverständnis! ) bei weitem übersteigen. Markus geht es darum, dass sie sich ihrer Glaubenserkenntnis vergewissern, sie immer weiter vertiefen und dankbar dafür werden. 40 Generationen von Religionslehrerinnen und -lehrern haben mit diesen Optionen gearbeitet und die Jünger in dieser Weise unterrichtlich „verwendet“; und sie haben dabei ganz im Sinne des Markus und des Narrative Criticism gehandelt. 36 J. Heilmann, Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, Habil. Bochum 2019 (erscheint in der Reihe TANZ). 37 R. C. Tannehill, The Disciples in Mark: The Function of a Narrative Role, JR 57/ 1977, 386- 405; wiederabgedruckt (zusammen mit weiteren wichtigen Beiträgen und einem vorzüglichen Forschungsbericht des Herausgebers) in: W. R. Telford (Hg.), The Interpretation of Mark, Edinburgh 2 1995, 169-195. 38 Scholtissek, Grunderzählung, 874. 39 S. dazu W. Telford, The Theology of the Gospel of Mark, Cambridge 2 2003, 127-163. 40 Zum Jüngerunverständnis vgl. umfassend O. Franzmann, Jüngerunverständnis. Zur Geschichte und Interpretation eines Motivs der Evangelien; zugleich auch ein Beitrag zur Forschungsgeschichte des Messiasgeheimnisses im Markusevangelium, Diss. Bonn 2015 (http: / / hdl.handle.net/ 20.500.11811/ 6221). 16 Günter Röhser Aber auch Gott kann man im Text zum Gegenstand einer Figurenanalyse machen. Christian Blumenthal hat gezeigt, welch aktive Rolle Gott in der markinischen Erzählung spielt, auch wenn (oder gerade weil) er in vielen Fällen nur in von Jesus zitierter Rede in Schriftworten erscheint, und wie er auch über Passion und Tod Jesu hinweg verborgen anwesend bleibt. 41 Blumenthal gibt auch - mit vielen anderen Narratologen - den entscheidenden Hinweis für das Verständnis des Markusschlusses: Dieser will nicht die Frage offenlassen, wie die damaligen Jüngerinnen und Jünger sich anschließend verhalten haben, sondern Mk 16,7 verweist zurück auf 14,28 und über die dortige Ankündigung Jesu (die in 16,7 als erfüllt dargestellt wird: Vorangehen nach oder in Galiläa) zurück auf den (biographischen) Anfang des Evangeliums in Galiläa (1,14), wo alles begann. Dort ist Jesus zu finden, „nicht hier“ im Grabe (16,6). Der offene Schluss weist nicht nur über den Text hinaus (16,7: Sehen des Auferstandenen), sondern v. a. in ihn hinein. Die Lesenden sollen also mit ihrer Lektüre von vorne beginnen, die Erzählung vom Evangelium immer besser verstehen und Jesus, dem „Vorangehenden“, nachfolgen. Es geht nicht so sehr darum, die Botschaft des schriftlichen Evangeliums anzunehmen und weiterzusagen 42 oder überhaupt das Evangelium zu verkündigen 43 , sondern darum, selber besser zu verstehen und Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen. 44 Man kann dazu leicht die Gegenprobe machen, indem man fragt, was sich durch die Anfügung des sekundären Markusschlusses (Mk 16,9-20) geändert hat. Ob dieser nun im Rahmen der Vierevangeliensammlung 45 oder der sog. Kanonischen Ausgabe 46 entstanden ist - das Evangelium endet jedenfalls jetzt mit dem Auftrag und der Durchführung der Mission (jetzt geht es ums Weitersagen! ). Die Glaubenden wissen jetzt, was sie zu tun haben (ganz im Sinne von 41 C. Blumenthal, Gott im Markusevangelium. Wort und Gegenwart Gottes bei Markus (BThSt 144), Neukirchen-Vluyn 2014. 42 So aber T. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999, 41 ff., der Mk 1,1 im Sinne von „Grundlegung des Evangeliums Jesu Christi“ versteht, welche auf eine „Vervollständigung“ (54) durch die Rezipienten des MkEv abzielt. 43 Müller, ,Wer ist dieser? ‘, 179. 44 Vgl. auch Seifert, Markusschluss, 257 f. - Kritisch zu dieser Zirkularitätsthese äußert sich jetzt: R. von Bendemann, ,Er ist nicht hier […] Er geht euch voraus nach Galiläa‘ (Mk 16,6f.). Die Bedeutung des Erzählschlusses für die narrative Topographie des zweiten Evangeliums, in: Oyen, Reading the Gospel of Mark, 39-68, 59ff. 45 So J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission. The Authentication of Missionaries and Their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT II 112), Tübingen 2000, 137-156. 46 So M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien, Bd. I (TANZ 60/ 1), Tübingen 2 2020, 344 f., der allerdings die „primäre literarische Funktion“ dieses Textes nicht in der „Mitteilung bestimmter Inhalte“, sondern in der Integration des MkEv in eine erste Ausgabe des Neuen Testaments sieht (ebd. 345). Warum eigentlich Markus? 17 13,10); einer Rückkehr zu den Anfängen bedarf es jetzt nicht mehr. Auch als Abschluss einer Jesusbiographie kann 16,15-20 (Missionsauftrag, Himmelfahrt, Beglaubigung der Botschaft durch Wunderzeichen; vgl. Mt 28,16-20) viel besser verstanden werden, als dies bei 16,8 der Fall ist (dort endet die biographische Erzählung mit dem Tod - spätestens der Auferweckung [16,6] - Jesu). Narrative Christologie und Geheimnismotiv Ich versuche, Grundlinien der Forschung dazu wie folgt zusammenzufassen: Narrative Christologie 47 ist die Darstellung der Identität Jesu als/ durch Erzählung, anders ausgedrückt: seine Charakterisierung durch Taten und Worte im Rahmen seiner erzählten Biographie. Dabei hat sie es einerseits mit den sog. christologischen Hoheitstiteln zu tun, die sie andererseits in den narrativen Gesamtzusammenhang einbettet. Diese Einbettung wiederum geschieht auf zweierlei Weise: a) dadurch, dass die titularen Bezeichnungen Jesu miteinander kombiniert werden (sowohl an einzelnen zentralen Stellen wie Mk 8,28-31 und 14,61f. als auch durch den unmittelbaren, den näheren und den weiteren Kontext) und sich dadurch gegenseitig ergänzen, vertiefen und ggf. auch modifizieren; b) dadurch, dass einige wichtige Bezeichnungen (der Heilige Gottes, der Gesalbte, der Sohn Gottes) erzählerisch der Geheimnis-„Theorie“ unterworfen werden, die sich in Schweigegeboten Jesu an Dämonen und Jünger zeigt (1,24f.34; 3,12; 8,30; 9,9), die für die Letzteren aber nur bis zur Auferstehung Jesu Geltung haben (9,9b). Was ist der erzählerische Sinn dieser das ganze MkEv übergreifenden Konstruktion, und gibt es weitere Texte, die dabei zu berücksichtigen sind? Ich nenne exemplarisch zwei Extrempositionen, die miteinander im Streit liegen und denen m. E. beiden nicht gefolgt werden kann: a) Ferdinand Hahn vertritt in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ ein das gesamte Heilsgeschehen umfassendes Verständnis des von ihm sog. Offenbarungsgeheimnisses (Schlüsselstelle: Mk 4,11). Der Geheimnischarakter einer verborgenen Offenbarung, die (bis zur Parusie) nicht durch äußere Manifestation, sondern nur dem Glauben zugänglich ist, betrifft sowohl die Gottesherrschaft als auch die Christologie. Alle Schweigegebote (auch diejenigen an Geheilte und Zeugen des Geschehens, die wiederholt 47 Der Ausdruck geht zurück auf R. C. Tannehill, The Gospel of Mark as Narrative Christology, Semeia 16/ 1979, 57-95. 18 Günter Röhser übertreten werden), die Rede Jesu in Gleichnissen und das Motiv des Jüngerunverständnisses sind Ausdruck dieser Konzeption. 48 b) Heikki Räisäinen soll hier als klassischer Vertreter der „separatistischen“ Interpretation genannt werden. 49 Er erkennt überhaupt kein gemeinsames Konzept hinter den verschiedenen separaten „Geheimnis“-Motiven (die zum Teil gar keine sind). Er kann darauf hinweisen, dass das Geheimnis des Reiches Gottes (4,11) den Jüngern offenbart ist und ihr Unverständnis von Jesus scharf getadelt wird, beides sich überdies widerspricht und der Stellenwert des eigentlichen „Messiasgeheimnisses“ (Schweigebote an Dämonen und Jünger) für das MkEv fraglich ist. 50 Eine mögliche mittlere Lösung könnte sein: Jesus gebietet Schweigen, weil er nicht durch Dämonen oder fehlbare Menschen als der offenbar gemacht werden will, der er ist (Identitätsfrage! ), sondern allein durch Gott 51 - vorläufig in der Auferweckung (dann endet auch das Schweigegebot), endgültig dann für alle Welt sichtbar in der Parusie (Schlüsselstellen: Mk 9,9; 13,26; 16,6f.). Erst am Ostermorgen wird das von einem Römer abgelegte, etwas zweideutige Bekenntnis (15,39: „Dieser Mensch war ein Gottessohn“) bestätigt und präsentisch vereindeutigt. Das Reden Jesu in Gleichnissen und das Jüngerunverständnis gehören zu dieser Geheimnis-„Theorie“ nicht unmittelbar hinzu. Deutlich ist: Der Evangelist will von Ostern her ein Gesamtbild von Jesu Identität entstehen lassen. Das betrifft dessen Vollständigkeit 52 ebenso wie dessen Zuverlässigkeit - was wiederum dem zirkularen Lesecharakter des MkEv gut entspricht. Wie aber verhalten sich die erzählerisch späteren Zeugnisse vom leidenden und gekreuzigten Menschensohn zu den erzählerisch früheren vom vollmächtig auftretenden Gottessohn, Dämonenaustreiber, Wunderheiler und Lehrer? Eine - für viele - exemplarische Lösung findet sich bei Detlev Dormeyer. In der „Hinführung“ zu den Wundererzählungen im MkEv in dem 2013 er- 48 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I. Die Vielfalt des Neuen Testaments, Tübingen 2 2005, 511-514. 49 H. Räisänen, Das ‚Messiasgeheimnis‘ im Markusevangelium (SFEG 28), Helsinki 1976, bes. 159-168 (engl. 1990, 2 2000). 50 S. auch die gründliche Darstellung und Auseinandersetzung bei F. Fendler, Studien zum Markusevangelium (GTA 49), Göttingen 1991, 106-146. 51 Dieser Gedanke findet sich etwa bei K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen/ Basel 2005, 179.410-412; Rüggemeier, Poetik, 372.505-507 (andere Aufstellungen Rüggemeiers halte ich hingegen für Eintragungen in den Text, die sich auch kognitiv-narratologisch nicht eindeutig begründen lassen). 52 Vgl. etwa Fendler, Studien, 143 f.; Müller, ,Wer ist dieser? ‘, 139 ff. („integrative Christologie“). Warum eigentlich Markus? 19 schienenen Kompendium der Wundererzählungen 53 vertritt er die These, Jesus wolle nach Markus nicht vordergründig als außergewöhnlicher Wundertäter und Magier wahrgenommen werden. Die Schweigegebote an Dämonen und Geheilte dienten dazu, diesem Missverständnis zu wehren. Vielmehr könnten die Wunder nur in der Nachfolge bis zum Kreuz und im Bekenntnis zu dem Gekreuzigten richtig verstanden werden. - Man könnte noch hinzufügen, dass Jesus auch in der Passion seine Würde und Vollmacht behält: Er weiß souverän um sein Leiden und dessen genauere Umstände und kündigt sie vorher an. Als Gekreuzigter ist er auch - nicht-paradoxal - der König der Juden (15,26) und verzichtet lediglich auf den Gebrauch seiner Wundervollmacht (15,30-32). Die früheren Zeugnisse sollen also durch das Kreuz nicht entwertet oder kritisiert, sondern gegen Missverständnisse geschützt werden. Dass solche Klärungen notwendig sind, weiß der Evangelist: Wunder sind nicht eindeutig (3,22; 13,22), Hoheitsaussagen können gewaltig missverstanden werden (8,29-32; 10,37f.). Hier bestehen auch noch andere Korrelationen in der Markus-Auslegung: Eine soteriologische Deutung des Todes Jesu (10,45; 14,24) steht eher in Spannung zu der Charakterisierung Jesu als vollmächtiger Wundertäter und will im Glauben an das Evangelium angenommen werden, wohingegen Leiden und Sterben Jesu als Versuchung und Möglichkeit der Bewährung der Gottessohnschaft eher das Vorbildhafte im Verhalten Jesu betonen und in die praktische Kreuzesnachfolge rufen (Kombinationen nicht ausgeschlossen). Welcher Option man folgt, entscheidet auch über die Nähe der markinischen Theologie zu Paulus. 54 Rom-, Kultur- und Imperiumskritik Wenn es richtig ist, dass die Erzählung des MkEv nicht ohne ihre historische Dimension verstanden werden kann, dann kann und muss man auch versuchen, seine Entstehung aus dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund seiner Zeit heraus zu erklären. Man kann hier grob drei Schwerpunkte von Fragestellungen unterscheiden, die sich allerdings in der Praxis der Forschung überschneiden und in den Veröffentlichungen in Kombination erscheinen. Wir finden mit Blick auf ihre Fokussierung: 53 D. Dormeyer, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen I. Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 193-201. 54 Vgl. hierzu den Beitrag von Heidrun Mader in diesem Heft. 20 Günter Röhser a) Arbeiten, die den genauen historischen Ort der markinischen Gemeinde und der Entstehung des MkEv zu ermitteln suchen (in der Regel ist dies der jüdisch-römische Krieg und die Zeit um 70 n. Chr.); 55 b) Arbeiten, die sich mehr mit dem allgemeinen römisch-kulturellen Hintergrund beschäftigen, vor dem das MkEv und seine Botschaft verstanden werden müssen und mit dem es sich auseinandersetzen muss; 56 c) Arbeiten, die das MkEv speziell mit dem Aufstieg der Flavier (seit Vespasian) in Verbindung bringen. 57 Die These der Imperiumskritik im MkEv lautet: Das MkEv stellt einen Gegenentwurf zu der Propaganda der römischen Kaiser, speziell des flavischen Hauses, dar. 58 Der politischen und militärischen Macht der Unterdrückung stellt Jesus das Ideal des Machtverzichts gegenüber. Man muss sich ab sofort zwischen dem Imperium der Römer und der durch Jesus heraufgeführten Gottesherrschaft entscheiden. Zentraler Text dieses Ansatzes ist Mk 10,42-45 - zweifellos der beste, aber auch der einzige Text, der direkt auf die reale Herrschaftspraxis der Zeit zu sprechen kommt. Hat man erst einmal diesen zeitgeschichtlichen Horizont erkannt, kann man unschwer den Weg Jesu ans Kreuz, der zum Heil führt, mit dem Aufstieg der Flavier zur Macht, der zur Unterdrückung führt, oder mit dem Bild eines römischen Triumphzuges 59 kontrastieren. Das Evangelium ist bewusst darauf angelegt, diesen Gegensatz zu erkennen. Die Stärke dieses Ansatzes liegt in seiner hermeneutischen Anschlussfähigkeit an heutige kirchliche und gesellschaftliche Herausforderungen. 60 Zugleich wird aber auch seine Grenze sichtbar: Es besteht die Gefahr eines Zirkelschlus- 55 Exemplarisch: B. J. Incigneri, The Gospel to the Romans: The Setting and Rhetoric of Mark’s Gospel (BIS 65), Leiden 2003. Nach ihm ist das MkEv in der zweiten Hälfte des Jahres 71 n. Chr. entstanden und setzt sich in vielerlei Hinsicht mit der durch den Triumphzug des Titus (nach der Eroberung Jerusalems) entstandenen Bedrängnis der römischen Gemeinde der Christusgläubigen auseinander. 56 Exemplarisch: M. Peppard, The Son of God in the Roman World: Divine Sonship in Its Social and Political Context, Oxford 2011 (zum MkEv: 86-131). 57 Exemplarisch: M. Ebner, Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, BN 116/ 2003, 28-42; A. Winn, The Purpose of Mark’s Gospel: An Early Christian Response to Roman Imperial Propaganda (WUNT II 245), Tübingen 2008; ders., Reading Mark’s Christology under Caesar: Jesus the Messiah and Roman Imperial Ideology, Downers Grove 2018. 58 S. etwa H. Blatz, Die Semantik der Macht. Eine zeit- und religionsgeschichtliche Studie zu den markinischen Wundererzählungen (NTA NF 59), Münster 2016, der im MkEv ein gegen Vespasian gerichtetes „hidden transcript“ im Sinne von J. C. Scott findet. 59 S. etwa M. Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium (NTOA/ StUNT 114), Göttingen 2019. 60 Vgl. M. Ebner, Die Rede von der „Vollmacht“ Jesu im MkEv - und die realpolitischen Implikationen, ZNT 16/ 2013, Heft 31, 21-30. Warum eigentlich Markus? 21 ses; man findet solche Elemente im Text wieder, die man vorher (aus ihm) als seinen kulturellen und historischen Hintergrund rekonstruiert hat. So bleibt es dabei: Auch auf diesem Wege wird man dem MkEv nicht alle seine Geheimnisse entlocken können. Aber gerade deshalb kommt es für heutige Rezipientinnen und Rezipienten mitunter „so frisch und unverbraucht (…) wie am ersten Tag“ 61 daher und birgt lohnende Herausforderungen für Lehre und Forschung, Verkündigung und Unterricht. 61 Klauck, Vorspiel, 115.