eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/47

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2447 Dronsch Strecker Vogel

Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie

2021
Reinhard von Bendemann
Zum Thema Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie Reinhard von Bendemann Das Evangelium des „Markus“ 1 , welches im späteren neutestamentlichen Kanon das zweite Buch bildet, erzählt in der Form einer vordergründig relativ einfach gebauten, auf Jesus fokussierten und nur gelegentlich durch Nebenhandlungen oder komplexere Eingriffe in die Zeitstruktur angereicherten linear-episodischen Erzählung einen ca. einjährigen Zeitraum der Wirksamkeit Jesu bis zu seinem Tod. Von den späteren Großevangelien des Matthäus, Lukas und Johannes a posteriori her betrachtet, fällt der Text vergleichsweise kurz aus. Es fehlen sowohl im Bereich der Taten Jesu als auch in dem seiner Reden zahlreiche Stoffe. Aus solchen Gründen galt das Markusevangelium über Jahrhunderte, teils noch bis heute, als unspektakulär oder - je nach methodischem Betrachtungswinkel - auch als rudimentär oder defizitär. Es hat es allerdings in jeder Hinsicht in sich. Bereits frühe wichtige Repräsentanten der kritischen Evangelienforschung, die erstmals konsequenter nach der Erstleserperspektive und dem Entstehungskontext fragten, haben das Besondere und Unverwechselbare des Textes gespürt und in ersten Ansätzen erfasst. So hat klassisch William Wrede das scheinbar Abbreviatorische, Ambivalente und Rätselhafte des zweiten Evangeliums auf den Begriff des „Messiasgeheimnisses“ 1 Im folgenden Beitrag werden die Begriffe „Markus(evangelium)“ und „markinisch“ der Konvention halber und aus Gründen der Kürze synonym für den Text des zweiten Evangeliums resp. seinen uns nicht bekannten Verfasser und die ihm zukommenden Merkmale verwendet. Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 24 Reinhard von Bendemann gebracht, und Martin Dibelius prägte die Rede vom „Buch der geheimen Epiphanien“. 2 Tatsächlich stellt das Markusevangelium eine Pionierleistung der frühchristlichen Literatur dar, deren literarische und theologische Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Es bietet die spannendste und herausforderndste Jesusgeschichte, die wir im neutestamentlichen Kanon finden. Dies wollen wir im Folgenden anhand einiger ausgewählter Aspekte transparent machen. 1. Aus dem Schatten ans Licht - Forschungsgeschichtliches und Methodisches Das zweite Evangelium war in der etwa zweitausendjährigen Geschichte seiner Rezeption die längste Zeit ein „Buch im Schatten“. Schon die frühe handschriftliche Bezeugung des Textes fällt deutlich schmaler aus als im Fall der übrigen kanonischen Evangelien. Die Kirchenväter der ersten vier Jahrhunderte haben sich sehr selten ausdrücklich und dezidiert mit Markus oder Teiltexten des Evangeliums befasst. Vielmehr wurde das zweite Evangelium fast ausschließlich eingebettet, d. h. innerhalb der Klammer der Evangelien des Matthäus und Lukas gelesen, wobei vor allem das kanonisch erste Evangelium bestimmend war. Auch der in der Alten Kirche als das „geistliche“ Evangelium besonders hoch geschätzte johanneische Entwurf warf seine langen Schatten über Markus. Dies gilt cum grano salis und mit einigen wenigen bemerkenswerten Ausnahmen auch für die Rezeption im Mittelalter, in der Reformationszeit und der frühen Neuzeit. Wir stehen vor dem aufregenden Befund: Erst die philologisch-historische Kritik des 19. Jh.s hat Markus als eigenen Entwurf entdeckt. Leitend war das Altersargument. Mit der sukzessiven Durchsetzung der sog. Zwei-Quellen- Theorie als Lösung für das synoptische Problem trat das zweite Evangelium als ältestes Evangelium ins Rampenlicht. Die frühe kritische Forschung interessierte sich dabei vorrangig für den historischen Jesus hinter dem Text. Erst allmählich wurde deutlich, dass auch Markus kein „Leben Jesu“ schreibt und sein Entwurf nicht eins zu eins abbildet, wer Jesus war, was er gesagt hat und was er tat. Die frühe formkritische Forschung am Beginn des 20. Jh.s wendete darum ein Arsenal überlieferungskritischer Fragen auf Markus an: Im Fokus stand die Suche nach vorliterarischen Traditionen, die Markus verarbeitet hat, und die nun ihrerseits näher an den historischen Jesus heranführen sollten. Der Evangelist 2 W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901; M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 6 1971, 232. Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 25 galt dabei in erster Linie als ein Sammler und Tradent, mit bescheidenen eigenen literarisch-theologischen Möglichkeiten und Interessen. Postulate der Entwicklung bestimmter traditioneller Vorgaben, Motive und Stränge der Überlieferung blieben und bleiben dabei stets hypothetisch. 3 Die redaktionsgeschichtliche Forschung wertete die Leistung des Evangelisten auf. Sie gestaltete sich im Fall des zweiten Evangeliums allerdings von Beginn an schwierig, da die „Redaktion“ des Evangelisten oft nicht klar zu ermitteln ist; seine literarisch-theologische Konzeption und seine Sprache prägen vielmehr das Ganze durch und durch. In theologischer Hinsicht traute man Markus seit den 1960er Jahren mehr zu. Man stellte ihn sich dabei in der Sache als einen „Kopf“ vor, analog zu Paulus, oder tatsächlich auch: vergleichbar mit den großen theologischen Lehrern des 20. Jh.s. Man ließ Markus diejenigen Probleme „lösen“, die die Theologie in dieser Zeit beschäftigten; man fand bei ihm z.-B. einen Beitrag zur „Kreuzestheologie“ oder zum Glaubens-Verständnis - und zwar so, wie man in dieser Zeit die „Kreuzestheologie“ oder die Rechtfertigung/ die Glaubensgerechtigkeit - vor allem bei Paulus - verstand. Oder man suchte ihn historisch in den in dieser Zeit so viel bemühten Problemkreis der sog. „Parusieverzögerung“ einzuzeichnen. Entsprechende redaktionsgeschicht- 3 Eine oft wiederholte und variierte Grundthese der Markusforschung bleibt im Kern richtig: Der Evangelist war der Erste, der die frühe nachösterliche Verkündigung von Jesus mit der Überlieferung seiner Geschichte und Taten synthetisiert hat (vgl. R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 10 1995, 372 f., formuliert mit dem heute nicht mehr verständlichen „Kerygma“-Begriff). Fragen der historischen Belastbarkeit des markinischen Bildes der Wirksamkeit Jesu sind in der Forschung nach wie vor nicht erledigt; sie sind jedoch weitgehend in die seit den 1960er Jahren neu aufgeblühte Jesus-Forschung abgewandert. Siehe zu den methodischen Problemen (auswahlweise): T. Holmén/ S.E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd.-1-4, Leiden/ Boston 2011. Prof. Dr. Reinhard von Bendemann , Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie, Altphilologie und Philosophie in Göttingen, Bern und Bonn, Vikar und Pfarrer z.A. in der Rheinischen Landeskirche, Promotion (1995) und Habilitation (1999) in Bonn, dort Lehrstuhlvertretung (1999- 2001), Lehrstuhl für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel (2001-2008). Seit 2008 ist er Professor für Neues Testament und antikes Judentums an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: frühchristliche Soteriologie und Anthropologie, Evangelienliteratur (Markus und Lukas), neutestamentliche Hermeneutik. 26 Reinhard von Bendemann liche Beiträge führten (und führen noch) im Rückblick betrachtet in vielen Fällen faktisch zu modernen Interpretationen. Die jüngere und jüngste Markus-Forschung setzt höchst spezialisiert und differenziert an. 4 Bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge ist ein gemeinsamer Nenner der, dass man Markus zunächst einmal Markus sein lassen möchte, d. h. ihn als eigenständiges Werk gelten lässt. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet u. a. die konsequente Einbeziehung erzählanalytischer und rezeptionskritischer Konzepte und Instrumente, wie sie im Bereich der Literaturwissenschaften entwickelt wurden und weiterhin werden. Es bleibt jedoch ein Problem: Der/ die Markusinterpret/ in ist mit seinem/ ihrem Gegenstand zunächst einmal in einem viel höheren Grad allein, als dies bei anderen frühchristlichen Texten der Fall ist. Es fehlen Vergleichs- und Messinstrumente, wie wir sie z.-B. in der Matthäus- und Lukasforschung auf Basis der Zwei-Quellen-Theorie besitzen; eine präzise kommunikative Situation, wie sie teils bei der Briefliteratur bestimmt werden kann, ist für Markus nur sehr schwer zu ermitteln. Die Gefahr projektiver und zirkulärer Fehlinterpretationen und Forschungssondermeinungen bleibt darum im Fall des zweiten Evangeliums besonders hoch. In theologisch-hermeneutischer Hinsicht stellt sich eine Grundfrage, die im Fach unterschiedlich bzw. auch widersprüchlich beantwortet wird: Kann, darf und soll man einen Text, der in der Kirchengeschichte ca. 18 Jahrhunderte lang stets eingebettet, in der ökumenischen Klammer zwischen Matthäus, Lukas und Johannes gelesen wurde, aufgrund des Altersarguments quasi zum Eckstein erzählter Theologie im Neuen Testament machen? Ist Markus „wertvoller“ resp. einflussreicher, weil er von Matthäus und Lukas ganz weitgehend zur Grundlage ihrer Werke gemacht wurde - und diesen vorausgegangen ist? Oder ist er umgekehrt ein Stück weit ersetzt durch diejenigen Entwürfe, die ihn aufgenommen, 4 Im Rahmen des für diesen Beitrag gesetzten Umfangs muss auf die ausdrückliche Nennung von Forschungsbeiträgen fast ganz verzichtet werden; jede hier mögliche Auswahl wäre gegenüber der so breit gefächerten Markusforschung unfair und bliebe dezisionistisch. Für diejenigen, die sich mit Markus (erstmals) intensiver beschäftigen wollen, möchte ich immerhin vier jüngere wissenschaftliche Kommentare auswahlweise empfehlen: M.E. Boring, Mark. A Commentary (The New Testament Library), Louisville/ London 2006; A.Y. Collins, Mark. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007; C. Focant, L’évangile selon Marc (Commentaire Biblique: Nouveau Testament), Paris 2004; G. Guttenberger, Das Markusevangelium (ZBK 2), Zürich 2017. Zum Stand der gegenwärtigen Markusforschung (auswahlweise): G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the twenty-first Century. Method and Meaning (BETL 301), Leuven/ Paris/ Bristol 2019. C. Breytenbach, The Gospel according to Mark as Episodic Narrative (NT.S 182), Leiden/ Boston 2021. Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 27 aber auch stark transformiert haben? Wie gehen wir mit der Zuschreibung der Kanonizität um? Tatsache ist, dass Markus von früh an und bis heute in der Christenheit - und über sie hinaus - gelesen worden ist und weiterhin gelesen wird. 2. Abschied vom heidenchristlichen Nein zur Tora bei Markus Unter den zahlreichen historischen Fragen, die die Markusforschung weiterhin umtreiben, ist die der religionsgeschichtlichen Einordnung besonders wichtig und zugleich auch strittig. Die ältere Markusforschung hat das zweite Evangelium, oftmals in einem vereinfachenden Anschluss an Paulus, als Zeugnis einer sogenannten „heidenchristlichen“ Theologie verstanden. Dieses Urteil lässt sich in dieser Weise heute nicht mehr halten. In der Diskussion sind dabei deutlicher, als dies oft früher geschehen ist, unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene ist es unstrittig, dass Markus einen Jesus erzählt, der als Jude in jüdischen Lebenszusammenhängen und Diskussionen steht. Hiervon zu unterscheiden ist die Ebene der avisierten Leserschaft. Für diese gilt dies nicht in gleichem Maß. Vieles spricht dafür, dass das Evangelium für eine in wesentlichen Teilen nichtjüdisch-christusgläubige Leserschaft verfasst ist. So erklärt sich z.-B., dass der Erzähler jüdische Praktiken teils für seine Leserschaft übersetzt resp. erläutert (besonders deutlich: Mk 7,3f.; vgl. 3,17; 5,41; 7,11.34; 15,42). Doch spricht zugleich manches dafür, dass innerhalb der intendierten Leserschaft Fragen der jüdischen Halacha noch lebendig sind. Besonders die Streitgespräche (v. a. Mk 2,1-3,6; 11,27-12,37) lassen sich als innovative und wesentliche Darstellungsbauformen des zweiten Evangeliums kaum befriedigend lesen, wenn sie lediglich im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung aufgefasst werden. Sie sind vielmehr Ausdruck von Gestalten eines Fragens und Argumentierens, das nur unter jüdischen Prämissen verständlich und kommunikabel wird. Inhaltlich tangiert ist vor allem der Vorwurf der Blasphemie, den die markinischen Schriftgelehrten bereits in Mk 2,7 erheben und der am Ende dann auch das Verhör vor dem Synhedrium bestimmt (Mk 14,64). Insgesamt entwickelt sich die markinische Christologie terminologisch wie erzähltechnisch so, dass sie lebendiges innerjüdisches Fragen aufnimmt, weiterführt und korrigiert - und zwar so, dass es hier nicht lediglich um praeterita (Vergangenes) geht (siehe unten Punkt 6). Auf der dritten Ebene schließlich ist der hinter dem Erzähler/ der Erzählung stehende Verfasser selbst höchst wahrscheinlich kein „Heidenchrist“, sondern ein christusgläubiger Jude; für ihn und seine Erzählung gibt es eine lebendige 28 Reinhard von Bendemann Bindung nicht nur an die heiligen Schriften Israels, die auch für Markus Normendiskurse entscheiden können, sondern auch an zeitgenössische jüdische Glaubensüberzeugungen und Frömmigkeitsformen. So scharf der Konflikt zwischen Jesus und seiner Gruppe und anderen jüdischen Akteuren auch geführt wird - dies darf man nicht bagatellisieren und verharmlosen -, so wenig entstehen dabei erzählerisch einfache schwarz-weiß- Fronten. So ist z.-B. richtig, dass die markinischen Schriftgelehrten die Hauptgegner Jesu sind; doch gibt es auch einen Schriftgelehrten, dem Jesus am Ende zugesteht, „nicht fern von der Königsherrschaft Gottes“ zu sein (Mk 12,34: die doppelte Verneinung bedeutet Bejahung; Figur der Litotes). Wir begegnen weiteren freundlichen jüdischen Charakteren, wie z.-B. Simon von Kyrene, der - anders als die Jesusjünger, von denen das eigentlich zu erwarten wäre - das Kreuz trägt (vgl. Mk 15,21/ 8,34: im Griechischen jeweils das gleichlautende Verb), oder dem jüdischen Ratsherrn Josef von Arimatäa, der offenbar mit der Jesusbewegung sympathisiert und die Pflicht der Bestattung des Leichnams Jesu auf sich nimmt (Mk 15,43.45f.). Zugleich erweisen sich im zweiten Evangelium Charaktere und Gruppen als „Feinde“ resp. „Gegner“ Jesu, die auch im zeitgenössischen Judentum als feindlich wahrgenommen werden können. Dies gilt besonders für die Zugehörigen zum Haus des Herodes („Herodäer“ oder „Herodianer“), die schon in Mk 3,6 am Plan der Beseitigung Jesu beteiligt sind (vgl. auch Mk 6,14-29; 8,15; 12,13). Präzise Zuordnungen und Verortungen von jüdischen Positionen bleiben auf der Ebene der Beanspruchung und Bestreitung schwierig. Über die frühjüdischen Gruppierungen, die in der Forschung oftmals als quasi festumrissene Vergleichsgrößen aufgefasst werden, sind wir teils überhaupt erst durch Markus informiert. Der Text enthält z.-B. den frühesten Beleg für den griechischen Begriff „Sadduzäer“ (Mk 12,18). Besonders problematisch ist im Rückblick auf die ältere Markusforschung die These einer sogenannten „Gesetzeskritik“ bzw. eines klaren „Nein“ zur Mose- Tora. Diese verfehlt das erzählerisch-theologischen Gefälle des Evangeliums. Gewiss sind im Tora-Verständnis - der griechische Begriff „Gesetz“ fehlt - bei Markus beträchtliche Umbrüche und Weiterentwicklungen zu verzeichnen, die mit dem Standpunkt Jesu und seiner späteren Aneignung in den ca. 30-40 Jahren nach dessen Tod zusammenhängen. Doch ist im Markusevangelium der Lebenszusammenhang zu den Forderungen der Mose-Tora keineswegs vollständig gekappt. Beredt ist hier das oben schon angeführte Streitgespräch mit dem Schriftgelehrten über die Frage nach dem höchsten Gebot in Mk 12,28-34, welches wechselseitig affirmierend und freundlich verläuft. Das „erste Gebot“ wird hier als ein Doppelgebot aufgefasst. Dieses will im Sinn des Markus aber in keinem Fall die übrigen Tora-Gebote entkräften oder ersetzen. Die Anspie- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 29 lung auf Hos 6,6 (oder 1Sam 15,22 LXX) in Mk 12,33 ist ebenfalls nicht so zu verstehen, dass hier die sog. Kulttora programmatisch kritisiert würde. Der markinischen Erzählung ist eine scharfe Unterscheidung von ethischer Tora und rituell-kultischer Tora insgesamt unangemessen, und gegen die Annahme, dass Markus jede Beziehung zu jüdisch-rituellen Vorschriften verloren hätte, spricht schon Mk 1,40-44. Der in der Forschung immer wieder für den „gesetzeskritischen Heidenchristen“ bemühte Abschnitt Mk 7,1-23 geht von einem Reinigungsproblem aus, das in der Tora gar nicht geregelt ist. Streitpunkt sind vielmehr „väterliche Überlieferungen“, d. h. Meinungen aus dem Bereich der Tradition und interpretativen Lehre. In Mk 7,15 wird dann im Sinn des Markus auch nicht die gesamte Speisetora entkräftet und erledigt, wie dieser Text in der Forschung oft verstanden wurde. Deutlich ist dagegen, dass im Sinn des Markus jüdische und christusgläubige Menschen miteinander essen dürfen/ sollen. Beachtet werden sollte auch, dass im zweiten Evangelium über die Zukunft des Gottesvolkes per se nicht apodiktisch negativ geurteilt wird; prophetische Kritik an den Eliten darf nicht in dieser Weise missverstanden werden. Möglich ist auch, dass Markus eine Tür für ein eschatologisch-heilvolles Geschick der Stadt Jerusalem offen hält. Zwar hat die Stadt sich in Gestalt ihrer Kultus-Aristokratie der Evidenz Jesu verweigert sowie den Tod Jesu mit betrieben. Sie bleibt mit dem tödlichen Lebensende Jesu verknüpft. Doch wird Jerusalem für Markus nicht zum tödlichen Gegen-Raum Galiläas. Die auf E. Lohmeyer zurückgehende und in der Sache auch in jüngeren literarischen Untersuchungen des Markusevangeliums oft aufgegriffene Qualifikation Jerusalems als „Ort der Sünde und des Todes“ 5 im Gegenüber zu Galiläa als quasi idealem Topos trifft nicht die markinische Sicht; anders als in der Spruchquelle Q wird Jerusalem als solches nicht mit dem Gericht bedroht (das Logion über den Tempel ist im Angesicht der faktischen bzw. kurz bevorstehenden tatsächlichen Zerstörung des Tempels gesprochen: Mk 13,2f.). Zudem ist im Licht des dem Markusevangelium von Beginn an Richtung verleihenden Jesaja-Buches (und auch im Licht des in der Passion wichtigen Sacharja-Buches) das erwartete resp. erhoffte Erscheinen des Menschensohnes und das endzeitliche Handeln Gottes kaum ohne Jerusalem denkbar. Dass Markus eine entsprechende heilvolle Hoffnung für die Stadt nicht weiter ausführt - und dies nicht kann -, liegt an dem gegebenen Faktum des Todes Jesu in der Stadt sowie der Erwartung bzw. der Einsicht in ihre Zerstörung durch die Römer. Mit dem zweiten Evangelium verbindet sich damit insgesamt die Notwendigkeit, gerade in der protestantischen Forschung lange Zeit bestimmende theologische Geschichtsbilder zu korrigieren. Markus widersetzt sich einem 5 E. Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem (FRLANT 34), Göttingen 1936, 33. 30 Reinhard von Bendemann Geschichtsschema, nach dem die „heidenchristliche“ Kirche Israel resp. das „Judentum“ sehr bald nach dem Tod Jesu quasi abgelöst habe (sog. „Substitutionstheorie“). Markus steht als Entwurf mit anderen neutestamentlichen Schriften wie z.-B. dem lukanischen Doppelwerk in Nachbarschaft, die uns zeigen, dass es ein vitales christusgläubiges Judentum bis zum Ende des ersten Jahrhunderts (und über dieses hinaus) gegeben hat und dass die Lebensverbindung von Christentum und dem in sich so vielfältigen und reichen Judentum nonsubstituierbar (unersetzlich/ unauflösbar) ist. 3. Der apokalyptisch-eschatologische Rahmen der markinischen Jesusgeschichte Die markinische Jesusgeschichte ist der Gattung nach kein apokalyptischer Text. Sie wird jedoch inhaltlich ganz wesentlich dadurch geprägt, dass sie prophetisch-apokalyptische Sprachformen der ältesten Jesustradition zur Geltung bringt und dabei im Episodischen wie im Gerüstbau der Erzählung auch Schemata der Wirklichkeitswahrnehmung nutzt, wie sie die frühjüdisch-apokalyptische Literatur kennt. Gerechnet wird mit einem qualifizierten Ende des „jetzigen“ Welt-Zeitraums. Die raumzeitliche Schnittstelle, an der die himmlische Welt sich in die irdische Welt hinein öffnet, wird im Eingangsteil des Evangeliums u. a. durch das Zerreißen der Himmel und das Eingehen des schöpferischen Geistes in Jesus markiert, der damit zum endzeitlichen Repräsentanten und Agenten Gottes auf der Erde wird (Mk 1,9-11); diese universal-zeitenwendende Dimension und Bedeutsamkeit spiegelt sich wahrscheinlich auch im Zerreißen des den Kosmos abbildenden (äußeren oder inneren) Tempelvorhangs in der Stunde des Todes Jesu (Mk 15,38; vgl. Josephus, Bell. V 214). Apokalyptisches Reden und Denken wird dabei im Markusevangelium unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen weiter transformiert. Im Hintergrund stehen apokalyptische Erwartungen, Interpretamente und Sprachformen, die wahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der drohenden Katastrophe Jerusalems am Ende des jüdischen Krieges kursieren, mit denen sich das zweite Evangelium kritisch auseinandersetzt. Nach der für das Verständnis der theologischen Konzeption des Evangeliums eminent wichtigen Endzeitrede (Mk 13,5-37), der längsten Rede Jesu im zweiten Evangelium, die sich in planvoller Achterstellung noch einmal an die erstberufenen Jünger richtet, liegt der Fokus auf der Aussage: „noch nicht das Ende“ (Mk 13,7). Der markinische Jesus wehrt hier jeder Verwechslung innergeschichtlicher Ereignisse mit dem erhofften/ erwarteten Endzeithandeln Gottes. Die Rede bietet in dieser Hinsicht eine Art Negativ-Checkliste. Die in Mk 13,26 im Anschluss an Dan 7,13f. avisierte Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 31 Ankunft des Menschensohnes - nach Markus die eigentlich unverwechselbare Kategorie für das Erfassen der Identität Jesu (siehe unten Punkt 6) - beendet alles menschliche Erwarten, Deuten und Handeln. In Mk 13,24-27 antizipiert die Hauptfigur in für die Leserschaft verlässlicher Weise das eigentliche Ende des Plots des Markusevangeliums; die Bedeutung Jesu für die Zeit und Welt wird hier in nicht mehr überholbarer Weise fixiert (siehe unten Punkt 7). Eine Markus verpflichtete Theologie kann und darf folglich die apokalyptische Signatur nicht verlieren. Diese verhält sich zur Geschichte und Verkündigung Jesu nicht wie ein Äußeres (vgl. die Metapher der „Eierschalen“ o. ä.), sondern trägt, durchdringt und prägt diese in nuce. Mit dem Verlust des eschatologischen reframings würde das Ganze der markinischen Theologie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. 6 Die zentrale hermeneutische Herausforderung, der sich schon die frühen Rezipienten des Markusevangeliums konfrontiert sahen, lautet: Wie kann man eine solche apokalyptische Wirklichkeitssicht in einer Zeit und Welt kommunizieren, die ihre Prämissen - nämlich v. a. die einer himmlischen Machtsphäre im Gegenüber zu irdischen Mächten und die einer vergehenden Zeit im Gegenüber zu einer realen kommenden, gänzlich neuen Welt - nicht mehr teilt? 4. „Es verließen ihn alle“ (Mk 14,50) - Zur markinischen Jüngergeschichte Die markinische Erzählung führt die „großen“ Anfangsgestalten der Jesusnachfolge wie Simon Petrus oder die beiden Zebedaiden Jakobus und Johannes sukzessive an ihre äußersten Grenzen, bis hin zum völligen Versagen - und dies im Zusammenhang einer Erzählstrategie, mittels derer sich die Leserschaft mit den Jüngern mehr und mehr identifizieren muss. Dieser Befund ist in der Forschung und in der Rezeptionsgeschichte oft nicht scharf genug herausgestellt worden. In Spannung zu der ihnen in der Parabeltheorie zugesagten Einsicht in das Geheimnis der Königsherrschaft Gottes (Mk 4,11f.) verstehen die Jünger im ersten Teil der Erzählung nicht, im zweiten Teil missverstehen sie Jesus und damit das Desiderat ihrer eigenen Leidensnachfolge; dies alles wird in einer subtilen Erzählstrategie auf die Leserschaft weitergelenkt. Nach den Erzählungen des Nichtverstehens und des Missverstehens beschreibt dann die dritte Phase, nämlich die der gänzlich verfehlten praktischen Konsequenzen, den entscheidenden 6 In der Sache kann man an das berühmte dictum Karl Barths in der 2. Aufl. seines „Römerbriefs“ denken: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“ (K. Barth, Der Römerbrief, 1922/ Nachdruck Zürich 1978, 298). 32 Reinhard von Bendemann Höheresp. Tiefpunkt der Jüngergeschichte. Der Kontrast zwischen Anspruch und Realisierung könnte schärfer nicht sein. In Mk 14,71 endet die Erzählung der Gruppe der Zwölf als handelnde Subjekte im zweiten Evangelium. Nur in der Figurenrede - immerhin Mk 14,28 in Jesusrede und 16,7 in Engelrede - ist angedeutet, dass es jenseits des Endes der Erzählung in der Begegnung mit dem Auferstandenen zu einer neuen Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern, d. h. zu einer Restitution kommen könnte. Doch wenn man die engsten Jünger des markinischen Jesus unter dem Aspekt betrachtet, ob sie sich als Identifikationsfiguren für das Handeln der Leserschaft anbieten, müssen sie am Ende der Erzählung als quasi verbraucht angesehen werden. Handelt es sich bei Mk 16,8 um den ursprünglichen Schluss, so reihen sich am Ende auch die Frauen in die Geschichte sukzessiven Nachfolgeversagens ein. Die Notiz ihrer Furcht, mit der die Erzählung endet, ist im Sinne des Markus negativ zu verstehen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Erstleserschaft des zweiten Evangeliums, die in einer Zeit lebte, in der mindestens Petrus oder auch die Zebedaiden in der sich etablierenden und ausbreitenden Christenheit bereits einen Namen hatten und in der auch bekannt gewesen sein muss, dass der Bruder Jesu, Jakobus (vgl. zu ihm: Mk 3,32-35; 6,3: „Ärgernis nehmen an“), nach dem Tod Jesu eine Leitungsfunktion in der frühen Jerusalemer Gemeinde übernommen hatte (vgl. insgesamt: Gal 1 f.), die auf die Erstjünger und auch auf die Familie Jesu gerichteten kritischen Nuancen entgehen konnten. Auch wenn die späteren Evangelien die kritischen Züge im Blick auf Petrus nicht gänzlich tilgen bzw. sie weiterentwickelt haben, gilt: Es gibt keinen anderen neutestamentlichen Erzähltext, der sich im Blick auf Petrus so negativ äußert, wie das Markusevangelium (vgl. aber Gal 2). Dieser Gesamtbefund fordert in Hinsicht auf die markinische Ekklesiologie eine differenzierte Analyse und Bewertung. In Kürze: Er darf nicht einfach im Sinne eines Konzessionsmodells interpretiert werden, d. h. in dem Sinn, Versagen werde hier als uranfängliche Möglichkeit der Kirche etabliert. Nach Mk 8,38 verhalten sich die Anfangsjünger so, dass sie den Geistträger Jesus - unvergebbar - verleugnen und sich der Menschensohn bei seinem Kommen ihrer schämen muss. Sicher werden die Anfangsjünger auch nicht gänzlich disqualifiziert. Ihre Rolle, die sie für die Leserschaft übernehmen, ist wichtig, und ihnen verbleibt eine mögliche, freilich nicht mehr narrativ umgesetzte positive Rolle über die erzählte Passion hinaus. - Dass der Erzähler und seine Leserschaft nichts von einer Tradition der Christuserscheinung vor Petrus (und weiteren Jüngern) wissen, ist nahezu ausgeschlossen (vgl. Mk 16,7). Zu beachten ist auch, dass die Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 33 Erzählung das Wissen zu erkennen gibt, dass die Anfangszeugen mehrheitlich nicht mehr am Leben sind. Wie manche in der Forschung vertreten haben, sucht die markinische Erzählung ihren ekklesiologischen Ort strukturell nicht bei Petrus und den Zwölfen, sondern in den randständigen „Heldinnen“ und „Helden“, denen man ein adäquates Verhalten innerhalb der erzählten Welt zunächst nicht zutraut. Bleibende Identifikationsfiguren für die Leserschaft wären dann nicht Petrus und die Zwölf, sondern Nebenfiguren wie Bartimäus, der in die Nachfolge Jesu eintritt (Mk 10,46-52), oder die namenlose Frau, die Jesus salbt und damit die kommende Passion richtig versteht (Mk 14,3-9), oder auch Simon von Kyrene, der das Kreuz trägt (Mk 15,21), oder Josef von Arimatäa, der Jesus bestattet (Mk 15,43-46). Richtig ist, dass sich hier ein Kontrast zu den „echten“ Jüngern ergibt; allerdings ist die Intentionalität des Handelns dieser Nebenfiguren oft nicht klar; es ist erst die markinische Deutung, die ihnen einen positiv-vorbildlichen Sinn zuschreibt. Aus diesem Gesamtbefund scharfer Kontraste und zugespitzter Konflikte, die jedoch nicht einseitig aufgelöst werden, ergibt sich ein erster, wichtiger Zugang zur christologischen Leitfrage des Evangeliums (siehe unten Punkt 6): Der Entwurf des Markus repräsentiert als älteste kohärente Jesusgeschichte so etwas wie ein programmatisches ad fontes („zurück zu den Quellen/ Ursprüngen“). Er insistiert als Erzählung auf dem solus Christus - Jesus allein ist zentral - in einer Zeit, in der sich die etablierende und ausbreitende Christenheit bereits auf ein sich verfestigendes Apostelbild und eine sich verfestigende kirchliche Tradition bezieht und sich zugleich christliches Zeugnis in Beziehung zu outsidern lebendig, übergangsreich und mehrdimensional gestaltet. 5. Ansätze kommunikativ-egalitärer Gruppenstrukturen - Zur markinischen Ethik Unter dem Aspekt der Kommunikation mit der Leserschaft und ihrer ethischen Orientierung sind die Episoden, in denen Jesus sich mit seinen Schülern/ Jüngern „privat“ zurückzieht (vgl. Mk 7,17-23; 9,28f.; 10,10-12 u. a.), bzw. die längeren didaktischen Szenen, die der Schüler-/ Jüngerunterweisung dienen, besonders wichtig. Der erzählte Weg an die Schwelle zum Leiden in Jerusalem (Mk 8-10) wird planvoll durch eine dreifache Abfolge von Leidensankündigungen Jesu (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34; vgl. 9,9.12; 10,45; 12,8-11), groben Missverständnissen auf Seiten der Jünger (Mk 8,32f.; 9,33f.; 10,35-41) und korrektiven Abschnitten der Lehre Jesu (Mk 8,34-9,1; 9,35-50; 10,42-45) strukturiert. Die Leser und Leserinnen lernen hier zusammen mit den Jüngern: Kreuz-Tragen bedeutet 34 Reinhard von Bendemann Selbstverleugnung, es bedeutet, dazu bereit zu sein, von allen Statuswünschen und allem Insistieren auf eigener Würde abzusehen und die Schmach/ Schande (weiter-)zutragen, die der Glaube an einen Gekreuzigten mit sich bringt. Es ist richtig, dass sich dem Markusevangeliums vergleichsweise wenig darüber entnehmen lässt, wie die angesprochenen Jünger ihre Gruppe denn positiv gestalten und zusammenhalten sollen; das zweite Evangelium bietet kein wirkliches Gruppenethos. In Hinsicht auf die Gestaltung der Innenrelationen der angesprochenen Gruppe zeichnet sich das zweite Evangelium dagegen vor allem durch einen anti-hierarchischen, nicht an Status, ökonomischer Disposition und Ansehen orientierten Impuls aus. „Herrschaft“ bedeutet nach Markus Sklavendienst, „Erster“ sein wollen bedeutet „Letzter“ zu sein (vgl. vor allem Mk 10,35-45). Das zweite Evangelium setzt sich hierbei wahrscheinlich nicht direkt mit römisch-imperialen Strukturen auseinander; es richtet sich aber in aller Klarheit gegen die Übernahme entsprechender top-down-Verhaltensmuster in die eigene Gruppe. Im Unterschied zu Konzepten der griechisch-römischen Antike, die ebenfalls die Vorstellung kennt, dass der wahre Herrscher Diener der Seinen sein soll, geht es bei Markus nicht um eine Strategie, wie man Macht möglichst klug kaschiert bzw. effizient durchsetzt. „Dienst“ negiert nach Markus hierarchische Abhängigkeits- und Herrschaftsstrukturen als solche. Ein Bild wie im lukanischen Doppelwerk, das von Christinnen und Christen weiß, die eigene Sklaven besitzen, ist für Markus ekklesiologisch nicht denkbar. Vergleichbar ist, was Philo von Alexandria über die Essener schreibt, bei denen es „auch nicht einen einzigen Sklaven“ gibt (Quod omnis probus liber sit 79). Die markinische Konzeption stellt ein bleibendes Korrektiv im Blick auf jedwede Formen kirchlicher und auch gesellschaftlicher Hierarchiebildung dar. 6. Das Menschensohn-Geheimnis - Zur markinischen Christologie Wegweisend wurde über die formkritische Forschung hinaus vor allem das literarische Konzept des „Messiasgeheimnisses“ im zweiten Evangelium, wie William Wrede, dem wir diesen die Forschung bis heute in den Bann nehmenden Begriff verdanken, es für alle Evangelien postuliert hat. Wredes Ausgangspunkt erwies sich allerdings bald als unsachgemäß. Die These, dass der irdische Jesus keinerlei messianischen Anspruch erhoben habe - im Unterschied zur Christenheit nach Ostern -, und dass das „Messiasgeheimnis“ beide Befunde in der Erzählung der Wirksamkeit Jesu vermitteln würde, steht auf tönernen Füßen. Allerdings hat Wrede mit Recht eine Dramatik innerhalb der Erzählung erkannt, die in späteren Forschungsbeiträgen, die sich bis heute zumeist an den sogenannten „Hoheitstiteln“ orientieren, nicht immer gewahrt wurde. Markus Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 35 gibt keine (statische) Christus-„Lehre“, weshalb der markinische Entwurf auch nicht einfach mit Paulus zu vergleichen ist. 7 Vielmehr muss der Dynamik der Erzählung Rechnung getragen werden. Deutlich wird diese Dynamik z.-B. daran: Bis zum 8. Kapitel agiert der markinische Jesus als ein machtvoller Wundertäter; dem geistbegabten Sohn Gottes dienen die Engel (Mk 1,12f.); als Menschensohn hat Jesus die Gott vorbehaltene Vollmacht, Sünden zu vergeben (vgl. Mk 2,5f.); er gebietet über den von Gott geschaffenen Sabbat (Mk 2,27f.); die Dämonen geben in seiner Gegenwart klein bei (Mk 1,21-28; 5,1-20; 9,14-27); er behandelt und heilt zahlreiche Kranke (vgl. die Bündelung dieses Bildes in den erzählerischen Summaren: Mk 1,32-34; 3,10f.; 6,54-56 u. a.). Das zweite Evangelium ist in seiner ersten Hälfte ein Wundergeschichtenbuch; die wunderbaren Machttaten Jesu haben eine positive Darstellungsfunktion; sie sind essentieller Bestandteil der „neuen Lehre gemäß/ kraft Vollmacht“ (Mk 1,27); sie sollen und wollen nicht vom „Kreuz“ Jesu her korrigiert werden - wie man in der älteren Forschung z. T. meinte. Gerade die zahlreichen Wundererzählungen und -summare unterscheiden das zweite Evangelium von der Q-Tradition (hier nur Lk 7,1-10 par; vgl. 11,14-23 par u. a.). Jesus erweist sich dabei nicht allein als Herr über physische Leiden und Tod (vgl. Mk 5,35-43; vgl. 9,14-29), er gilt auch als Herr über die Chaos-Mächte (Mk 4,41; 6,45-52). Von Mk 8,27 an wird dieses Bild unbedingter Autorität und Handlungsvollmacht (auctoritas und potestas) Jesu jedoch sukzessive und sachlich durchaus spannungsreich überschrieben durch die gewisse Prognose des Leidensgeschickes. Episoden, die die Hoheit Jesu anzeigen (vgl. besonders Mk 9,2-10), werden planvoll mit Aussagen des kommenden Martyriums ausbalanciert. Ab dem Ende des so wichtigen Weg-Abschnittes Mk 8-10 häufen sich Aussagen, in denen die Hauptfigur die Limitierung ihrer Machtmittel und Möglichkeiten betont und sich ganz der Notwendigkeit des von Gott verhängten Leidens und Sterbens unterordnet (vgl. Mk 10,40: Jesus hat nicht die Macht, die Sitzordnung im Escha- 7 Um nur einen zentralen Befund anzusprechen: Paulus interpretiert das Kreuz und die Auferwekkung Jesu in anderer Weise, als es Markus tut: Die Wurzel „Kreuz“/ „Kreuzigen“/ „gekreuzigt“ wird im zweiten Evangelium - anders als bei Paulus zumeist - nicht kritisch-demarkativ resp. polemisch verwendet. Sie verweist in den relativ wenigen expliziten Äußerungen realistisch auf das schändliche Lebensende Jesu; unter dem Aspekt der Scham/ Schmach/ Erniedrigung wird sie auch ethisch gebraucht (so im ersten Beleg in Mk 8,34). Das Markusevangelium setzt sodann in den wichtigen Prognosen Jesu die Rede von der Auferstehung voraus (Mk 8,31; 9,31; 10,34); das Evangelium weiß im Rückblick auch von Erscheinungen des Auferstandenen (vgl. Mk 16,7). Doch gibt es bei Markus nicht den bei Paulus in 1Thess 4,13-18 und 1Kor 15 etablierten Konnex von Auferstehung Jesu und Auferstehung der toten Christen. Das entscheidende Datum ist vielmehr die kontingent erwartete Ankunft des Menschensohnes (vgl. Mk 13,24-27). Siehe unten Punkt 7. 36 Reinhard von Bendemann ton zu vergeben; 13,32: der Christus nesciens [der nicht-wissende Christus]). Insbesondere dem Spott, der den Gekreuzigten trifft und der zur Selbst-Rettung auffordert, hat Jesus nichts entgegenzusetzen (Mk 15,29-32); die Ohnmacht kulminiert in Jesu letztem Wort, dem aramäischen Zitat aus Ps 22,2 am Kreuz. Man kann damit durchaus von einer Entwicklung der Jesus-Figur im Verlauf der Erzählung sprechen, die konsequent auf die Kommunikation mit der Leserschaft abgestimmt ist. Das literarische Spiel von Nicht-Verstehen, Missverstehen und Versagen hat dabei nicht nur ethische Implikationen; es bezieht sich vielmehr sehr konkret auf bestimmte messianologische Konzepte. - Beide Bereiche verhalten sich dabei für Markus so wie zwei Seiten derselben Medaille. In Gestalt der Jünger soll die Leserschaft vor allem lernen, dass eine politische Messianologie insuffizient ist, um Jesu Bedeutung zu erschließen. Vom ersten Vers an setzt das zweite Evangelium voraus, dass Jesus der „Christus“ (außer in Mk 1,1 nur in 8,29; 9,41; 12,35; 13,21; 14,61, 15,32) und zugleich „Sohn Gottes“ (siehe hierzu Punkt 7) ist; beide Attribute erzeugen vor einem antik-jüdischen Hintergrund zusammen genommen die Erwartung einer royalen Figur, die mächtig zugunsten Israels in die Geschichte eingreifen wird; im Hintergrund steht die ideal-nationale Erinnerung an den König David und sein Reich (vgl. den „Sohn Davids“ in Mk 10,47f.; 12,35-37). So ist Jesus jedoch nicht zu verstehen (zum Versagen davidischer Kategorien für Jesus vgl. auch Mk 11,1-11). Am deutlichsten wird eine dezidierte Abgrenzung von politischen bzw. imperialen Verstehenskategorien im achten Kapitel. Der scharfe Tadel an die Adresse des Petrus „bei den Dörfern von Cäsarea Philippi“ ist von der Leserschaft in eine zeitgeschichtliche Verbindung zum jüdischen Krieg und entsprechende Konzepte von Herrschaft zu bringen. Möglich ist, dass im achten Kapitel konkrete zeitgeschichtliche Bezüge zum Herrschaftsantritt des Kaisers Vespasian im Hintergrund stehen. Mk 8,22-26 lässt konkret an eine Blindenheilung denken, die Vespasian als Retter in Alexandria zur Legitimierung seiner Herrschaft zugeschrieben wurde (vgl. Tacitus, Historien IV 81 f.; Sueton, Vita Vespasiani VII). Mk 8 bietet ein Erzählgefüge, in dem das „Sehen“, „Durchdringen“ und „Begreifen“ Jesu als einer ganz anders gearteten Herrscherfigur möglich wird (vgl. Mk 8,14-26 vor 8,27-33). Diese narrative Konstruktion ermöglicht es der Leserschaft, die verschiedenen Facetten wahrzunehmen, die das notwendige Leiden des Menschensohnes aufweist. Wie den Christustitel setzt Markus die Vorstellung der Gottessohnschaft Jesu voraus. 8 Er nutzt sie, um positiv zu klären, wer Jesus ist: nämlich Repräsentant 8 In frühjüdischen Texten verweisen Begriffe wie „Geist-Begabter“, „Gesalbter“/ „Messias“ und „Sohn Gottes“ nicht auf distinkte „Amtsbereiche“, sie sind vielmehr funktional ge- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 37 und Agent Gottes (siehe unten Punkt 7). Auch der Verstehenskategorie der Gottessohnschaft (Mk 1,11 affirmiert die Himmelsstimme die Erzähleraussage in 1,1; vgl. 3,11; 5,7; 9,7; 13,32; 14,61; 15,39; vgl. im Gleichnis: 12,6) haftet jedoch bei Markus etwas Ambivalentes an; sie ist auch Dämonen möglich (Mk 3,11; 5,7). Sehr umstritten ist dabei besonders die Gottessohn-Aussage des römischen Zenturio unter dem Kreuz in Mk 15,39. Man hat ihr in der Forschung teils zu viel aufgebürdet. Betont wurde oft das „heidnische Bekenntnis“ zum Gekreuzigten im Rückblick auf die Wirksamkeit Jesu (zum Problem oben Punkt 3). In Mk 15,39 geht es allerdings nicht so sehr um eine positive Belichtung des Zenturio und seines „Bekenntnisses“, als vielmehr im Kontrast um eine Abwertung all der erzählten jüdischen Akteure, die den Gekreuzigten verspotten. Die Auseinandersetzung mit messianischen Konzepten geschieht dabei im zweiten Evangelium nicht im luftleeren Raum. Die christologische Leitfrage des Evangeliums ist vielmehr als solche wahrscheinlich ausgelöst und bestimmt durch konkrete zeitgenössisch-jüdische Erwartungen und entsprechende Sprachformen und Interpretamente in der Schlussphase des jüdisch-römischen Krieges (vgl. zum zeitgeschichtlichen Hintergrund messianischer Erwartungen: Josephus, Bell. VI 285.288-309; Ant. XX 97-99; 102; 167-172 u. a.). Hierfür sprechen u. a. die Warnungen Jesu in der testamentarischen Abschiedsrede Mk 13,5f.21f. Entscheidend ist, dass Markus die Frage der wahren Identität Jesu nicht „auflöst“. Die Auflösung erfolgt auch keineswegs im Gefolge der Auferweckung Jesu. - In dieser Richtung hat man in der Forschung seit William Wrede v. a. Mk 9,9 missverstanden. Vielmehr bleibt Jesus designiert, er wird aber nicht abschließend identifiziert. Denn es gilt: Erst der „Menschensohn“ wird bei seinem Kommen am Ende der Zeit (Mk 13,24-27) Eindeutigkeit herstellen. Von diesem „Menschensohn“ spricht bei Markus nur Jesus selbst, niemand sonst. Und er spricht von ihm stets in der 3. Person, wenngleich ganz deutlich ist, dass Jesus und der „Menschensohn“ als himmlisch-hoheitliche Figur eine Einheit bilden (v. a. Mk 2; vgl. 8,38). Der „Menschensohn“ bildet ein kritisches Widerlager zum „Sohn Gottes“, zum „Christus“, zum „Sohn des Hochgelobten“ u. a. (vgl. Mk 8,31.38; 9,9.12; 13,26; 14,21.61f. im jeweiligen Kontext). Er ist die einzige nichtambivalente Verstehenskategorie für Jesus; diese liegt jedoch nicht offen. Der „Menschensohn“ bildet erzählerisch die Theozentrik des Markusevangeliums in nuce ab: Gott selbst behält sich die Lösung des Rätsels der Geschichte vor. fasst und können je nach betontem Aspekt (prophetisch, kultisch, königlich), besonders wenn es um eschatologisch erwartete Gestalten geht, ineinander übergehen (vgl. die Rede vom „Messias“ für eine endzeitlich erwartete Gestalt in 11QMelch und 4Q521; vgl. 4Q175 für die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose/ Dtn 18,15-18), wobei weitere metaphorische Bezeichnungen aus den Schriften Israels hinzutreten können. 38 Reinhard von Bendemann 7. Die Theozentrik der Erzählung und das Ende der Geschichte Rückblickend hat William Wredes so berühmte These des „Messiasgeheimnisses“ zu einer vereinseitigenden Fokussierung auf die christologische Frage im zweiten Evangelium geführt. Wie oben mit Blick auf den apokalyptischen Rahmen der Erzählung schon angesprochen wurde (siehe oben Punkt 3), verfolgt dieses jedoch die Frage nach der Identität Jesu von Beginn an und durchgängig nur innerhalb der Klammer einer anderen Leitfrage: Nämlich der, wie das endzeitliche Handeln des Gottes Israels in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ziel kommt. Damit schließt das zweite Evangelium an die strikte Theozentrik der Verkündigung Jesu an. Für Markus ist es Gott in seiner Geschichtsmächtigkeit an der Schnittstelle der Zeiten, der Jesus bringt - nicht umgekehrt. Schon der Erzählanfang stellt diese Theozentrik unmissverständlich sicher: Jesus ist im ersten Satz, der den initialen Kontrakt des Erzählers mit der Leserschaft begründet, der Sohn Gottes (Mk 1,1; textkritisch allerdings unsicher); wie es sich mit dem „Anfang“, dem „Ursprung“ des „Evangeliums“ verhält, wird in Gottesrede eingeleitet, die sich an Israel richtet. Die Kombination von Mal 3,1 (vgl. Ex 23,20) und Jes 40,3LXX in Mk 1,2f. zielt dabei zunächst auf das ab Mk 1,4 berichtete Wirken des Johannes, setzt aber zugleich den Ton für das Auftreten Jesu, in den bei seiner Taufe in Mk 1,10f. „der Geist“ einfährt und der daraufhin von der Himmelsstimme als „geliebter“ und erwählter „Sohn“ angesprochen wird. Vorausgesetzt ist eine frühchristliche Vorstellung, nach der Jesus ein David-Nachkomme „nach dem Fleisch“ ist, er aber zum „Sohn“, d. h. zum Repräsentanten und Agenten Gottes, durch den lebensschaffenden, schöpferischen Geist Gottes geworden ist (vgl. Röm 1,3f.). Es ist darum dann auch das Evangelium Gottes (Mk 1,14), welches Jesus bekannt macht (vgl. zum „Evangelium“: Mk 1,1.15; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). D. h. es geht darum, dass Gott sowohl selbst der Garant und der Urheber des anhebenden Heilsgeschehens ist als auch der Inhalt von dessen Verkündigung. Er realisiert das Vollwerden/ Erfülltsein der Zeit, indem seine Königsherrschaft unmittelbar vor der Durchsetzung steht (Mk 1,15). Hier kommt ein apokalyptisches Schema zum Zug: Was in der Sphäre der Transzendenz schon entschieden ist (vertikale Dimension), realisiert sich nun unaufhaltsam durch Jesus in der Geschichte (horizontale Dimension). Nimmt man die strikte Theozentrik der markinischen Jesusgeschichte ernst, die insbesondere auch in der Menschensohn-Christologie ihren Ausdruck findet, so gilt: Streng genommen hat die Christenheit (bis heute) ein qualitativ vollgültiges Verständnis von Jesus noch nicht; die Christenheit ist vielmehr immer noch unterwegs zu einem offenbaren und von geschichtlichen Verstellungen und Verblendungen freien Blick. Die Auflösung gibt es erst am Ende, bis dahin bleibt auch alles Fragen immer nur vorläufig, und niemand kann das Ende aus- Das Markusevangelium als Herausforderung für die Theologie 39 rechnen (vgl. Mk 16,6: „er ist nicht hier“ kritisch gegenüber denen, die sagen: „er ist hier“; vgl. Mk 13,6.21-23). In dieser Konzeption liegt sehr wahrscheinlich auch der sachliche Grund, warum das ursprüngliche Evangelium mit Mk 16,8 enden kann (und muss): Der Schluss möchte nicht einer theologia gloriae („Theologie der Herrlichkeit“) wehren, wie man in der Forschung im Rückgriff auf Luther (Heidelberger Disputation [1518; WA 1, 350-374]) in verschiedenen Variierungen gemeint hat. Die Schlussgebung der Erzählung will nicht das „Kreuz“ als Heilsgeschehen gegenüber der Osterherrlichkeit aufwerten. Auch geht es in Mk 16,7f. nicht darum, den Weg der Leserschaft zurück zum Buchanfang resp. nach Galiläa zu lenken. Entsprechende Interpretationen der letzten Verse des Markusevangeliums basieren auf modernen Prämissen. Vielmehr bringt die Schlussgebung der markinischen Erzählung zum Ausdruck, dass Ostern in seiner Bedeutung nicht an das futurum (die Zukunft) heranreicht, wenn der Menschensohn „in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln“ kommen wird (Mk 8,38) und wenn er die Sammlung der „Auserwählten“ einleitet (Mk 13,26f.). Da es sich um ein echtes futurum handelt, welches auch vom point of view des Sprechzeitraums der Erzählung her gesehen noch aussteht, kann dieses im Buchschluss nicht in die vergangenheitlich-retrospektive Erzählung integriert werden und diese als solche schließen; dass dieses qualifizierte futurum mit Gewissheit eintreffen wird, ist jedoch durch die Prognose der Hauptfigur (vgl. Mk 8,38; 13 u. a.) für die Leserschaft sichergestellt.