eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/47

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2447 Dronsch Strecker Vogel

Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen

2021
Sandra Huebenthal
Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen Oder: Wie liest sich das älteste Evangelium als Erinnerungstext? Sandra Huebenthal 1. Historiographie vs. Erinnerungstext: Zwei Hermeneutiken im Vergleich Das Markusevangelium ist für Eve-Marie Becker eine Sonderform frühkaiserzeitlicher historiographischer Prosaliteratur und auf diesem literaturhistorischen Hintergrund eine Gattung sui generis. Deren Autor, von der exegetischen Forschung der vergangenen 200 Jahre eher stiefmütterlich behandelt, wird als eigenständige Autorenpersönlichkeit, individueller Schöpfer von Literatur und Historiograph vorgestellt. Die Leerstelle „Markus“ zu füllen sei deshalb notwendig, weil die Kenntnis des Autors in neuzeitlicher Hermeneutik eine Schlüsselkategorie für das Verstehen eines literarischen Werkes ist. 1 Dieser Ansatz beruft sich auch auf die Hermeneutik Schleiermachers, nach der es für das Verständnis eines Textes als essentiell ist, sich empathisch in den Autor hineinzuversetzen. Damit ist nicht gesagt, dass die Autorintention der einzige Maßstab für die Interpretation eines Textes sein muss; vielmehr geht es darum, den Gefühlen des Autors nachzuspüren und seine Erfahrungen nachzuempfinden. Interessanterweise hat Friedrich Schleiermacher selbst kaum der Autorpersönlichkeit des Markus nachgespürt, sondern vor allem dem Selbstverständnis Jesu. Offensichtlich hat Schleiermacher das Markusevangelium nicht als eigenständiges literarisches Werk, sondern als Teil der kanonisierten christlichen Traditionsliteratur verstanden, und damit, wie Jan Assmann sagen würde, als Teil des kulturellen Gedächtnisses, das seine christliche Identität prägte. 2 Um in die Nachfolge Christi und damit in die Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft 1 Ich verweise auf die im Beitrag von E.-M. Becker genannten einschlägigen Arbeiten. 2 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 5 2005, 48-66. 90 Sandra Huebenthal der Christen eintreten zu können, erschien es ihm wichtiger, sich in Jesus hineinzuversetzen als in Markus, der nur ein weiteres Mitglied dieser Gemeinschaft ist. In der Postmoderne haben sich die hermeneutischen Spielregeln gegenüber der Neuzeit wiederum verändert. Spätestens seitdem Roland Barthes den „Tod des Autors“ proklamiert und Paul Ricœur festgehalten hat, dass jedes Textverstehen ein Selbst-Verstehen vor dem Text ist, 3 geht es nicht mehr darum, einen Autor zu verstehen, sondern die im Text versprachlichten Erfahrungen. Anders formuliert: Nicht die Person des Markus und ihre Erfahrungen sind in dieser Hermeneutik der Schlüssel zur fruchtbaren Lektüre des Evangeliums, das unter seinem Namen überliefert ist; der Schlüssel liegt vielmehr im Verständnis der in diesem Text beschriebenen Erfahrungen und in der Möglichkeit, mit eigenen Erfahrungen an sie anzuknüpfen. Die folgenden Argumente sollen zeigen, dass ich das Markusevangelium ebenfalls als historische Quelle lese. Dabei geht es mir nicht darum, herauszufinden, wer oder wie der Autor ist, um durch emotionale Einfühlung in den Autor im Sinne Schleiermachers den Text zu verstehen; vielmehr geht es darum, die Pragmatik des Textes zu verstehen, von welchen Erfahrungen und in welchen Kontext hinein er spricht - und welche Identitätsangebote er macht. Mein Blick richtet sich also in erster Linie auf den Text und seinen Kontext und zu deren Erschließung verwende ich andere Werkzeuge als die historisch-kritische Exegese. Werfen wir zunächst einen Blick in den Werkzeugkasten: Um das Markusevangelium zu verstehen und auszulegen, verwende ich einen hermeneutischen Zugang, der auf den Erkenntnissen kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie aufbaut. 4 Vor der Lektüre des eigentlichen Textes stehen daher Vorüberlegungen dazu, wie Gruppen erinnern und Erinnerungen weitergeben und wie Identitätsentwürfe und Identitätsvergewisserung in Gruppen vor sich gehen. 3 Vgl. R. Barthes, Der Tod des Autors in: F. Jannidis/ G. Lauer/ M. Martinez/ S. Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Reclam, Stuttgart 2000, S.- 185-193; und P. Ricœur, Philosophische und Theologische Hermeneutik in: P. Ricœur/ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh 74/ 1974, 24-34. 4 Dieser Zugang wird ausführlich beschrieben in S. Huebenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 2 2018; dies., „Frozen Moments“ - Early Christianity through the Lens of Social Memory Theory, in: S. Butticaz/ E. Norelli (Hg.), Memory and Memories in Early Christianity (WUNT I 398), Tübingen 2018, 17-43. Für einen ersten Überblick empfiehlt sich: dies., Erinnerung/ Gedächtnis in: WiBiLex: www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 48895 (2020). Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 91 2. Neutestamentliche Texte als Erinnerungstexte: die grundlegenden Annahmen Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Erzählen eine anthropologische Konstante ist. Mit Max Frisch lässt sich sagen, dass Menschen Erfahrungen gemacht haben und nun die Geschichten zu ihren Erfahrungen suchen. 5 Das trifft auf einzelne Menschen ebenso zu wie auf Gruppen, die Erfahrungen teilen oder ihre Gemeinschaft auf Erfahrungen zurückführen. Solche verbindenden Erfahrungen werden zu gemeinsamen Erfahrungen und zu einem Erfahrungsfundament, auf dem die gemeinsame Geschichte - auch die gemeinsame Geschichte mit Gott - aufbaut. Die Bibel als Bestandteil des gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses der Christen bewahrt solche Erfahrungsfundamente in Form von Gründungsgeschichten oder fundierenden Erzählungen für künftige Generationen. Beobachtungen aus kulturwissenschaftlicher Forschung, Mündlichkeitsforschung, historischer Psychologie und anderen Disziplinen bilden die Grundlage dafür, wie ich die Genese des Markustextes verstehe. Dabei gehe ich davon aus, dass sich die sozialen Prozesse der Kommunikation, Interaktion und Aushandlung von Erinnerungen und Interpretationen, die im Umfeld der Entstehung des Markusevangeliums vor sich gehen, nicht von den sozialen Prozessen anderer Gruppen unterscheiden. Anders gesagt: Die Mechanismen, die in Erinnerungsgemeinschaften zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten beobachtet wurden, gelten auch für die Gruppe(n), in deren Kontext das Markusevangelium entstanden ist. 5 M. Frisch, Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main 28 2000, 8-11. Das Originalzitat lautet: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht und jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung. (…) Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt“. Prof. Dr. Sandra Huebenthal studierte Katholische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen/ Frankfurt sowie am Milltown Institute in Dublin und wurde 2005 in Frankfurt promoviert. 2010-2013 wurde sie von der DFG mit einer eigenen Stelle an der Universität Tübingen gefördert, wo sie sich 2013 habilitierte. Nach Vertretungen an den Universitäten Basel und St. Andrews lehrt sie seit 2015 am Department für Katholische Theologie der Universität Passau. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Themenbereiche Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie und frühchristliche Identitätskonstruktion, Bibel und Wirtschaft, Biblische Methodik und Hermeneutik sowie Hochschuldidaktik. 92 Sandra Huebenthal Ich gehe außerdem davon aus, dass ein Text, der die fundierenden Ereignisse beschreibt, aus denen eine Erinnerungsgemeinschaft ihr Selbstverständnis bezieht, nicht einfach von außen an diese Gruppe herangetragen werden kann. Damit sich eine Gruppe einen Text, der ihre Gründungsereignisse erzählt, zu eigen macht, muss dieser Text sozial akzeptiert werden. Es braucht einen Aushandlungsprozess, damit die Geschichte so erzählt wird, wie die Gruppe sie jetzt erlebt und nicht, wie sie lediglich von einer Einzelperson verstanden wird. Auch für gemeinsame Erinnerungen an Gründungsereignisse gilt, dass die Wahrheit eine soziale Übereinkunft ist. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat erkannt, dass Traditionen, zu denen es keine lebendige Verbindung mehr gibt, verschwinden, und dass an deren Stelle neue Traditionen in die Vollzüge einer Gruppe integriert werden. Das bedeutet auch, dass sich die Wahrnehmung der fundierenden Ereignisse im Laufe der Zeit verändern kann. Dabei ist der Abstand zu den Gründungsereignissen ebenso entscheidend wie die Gruppenzusammensetzung, die sich im Laufe der Zeit ebenfalls verändern kann. Eine besondere Rolle spielen bei der Weitergabe von Gruppenerinnerungen und -traditionen über mehrere Generationen hinweg Momente der Krise. Typische Krisenerfahrungen sind Generationenwechsel; insbesondere mit dem Ausscheiden der Gründungsgeneration wächst gewöhnlich der Wunsch, das Gruppengedächtnis zu fixieren und zentrale Punkte für die Zukunft festzuhalten. Ähnliches gilt für die Bedrohung oder den Verlust des Heimatkontextes, sei es durch Krieg, Vertreibung oder durch Systemwechsel. Krisen führen außerdem oft zu Veränderungen in den Gedächtnis- und Kommunikationsmedien. Dass diese Ideen nicht neu sind, zeigt ein Blick auf die frühe Kirche. So hält Euseb als Grund für die Verschriftlichung des Matthäusevangeliums fest: Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache; denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren (h.e. III,24). Ähnliches findet sich auch für Markus, wenn Euseb von den Zuhörern des Petrus sagt, sie wollten von der Lehre seiner göttlichen Predigt auch Aufzeichnungen besitzen. Daher wandten sie sich mit verschiedenen Bitten an Markus, den Verfasser des Evangeliums, den Begleiter des Petrus, er möchte ihnen schriftliche Erinnerungen an die mündlich vorgetragene Lehre hinterlassen (h.e. II,15). Es gilt außerdem, dass alles, was nach drei Generationen noch nicht in irgendeiner Form fixiert ist - sei es durch einen Text, ein Ritual oder ein Bild - in den nächsten Jahrzehnten unwiederbringlich verloren gehen wird. Insofern ha- Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 93 ben Gruppen ein Interesse daran, ihren Blick auf die Ereignisse, die sie geprägt haben und die ihr Selbstverständnis bestimmen, zu fixieren. Eine Form der erfolgreichen Fixierung ist eine Gründungserzählung. Ein solcher Text hält nicht nur Ereignisse fest, die zentral für das Selbstverständnis einer Gruppe sind, sondern inkludiert auch die Deutung dieser Ereignisse und gibt damit Auskunft über das Selbstverständnis der Gruppe. Die Auswahl der Geschichten und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, lässt durchblicken, wie die Gruppe, die sie erzählt, sich selbst versteht. Auch dieser Vorgang ist generisch und lässt sich daher auch noch heute beobachten. Wann immer man in eine noch unbekannte Gruppe kommt, empfiehlt es sich, genau zuzuhören, denn mit den Geschichten, die diese Gruppe (mit)teilt, erzählt sie auch etwas über ihr Selbstverständnis. Ich gehe davon aus, dass die gleichen Mechanismen auch in den Gruppen früher Jesusnachfolger wirksam waren. Dabei bedienen sich diese Gruppen wie andere Gruppen, Familien und Interpretationsgemeinschaften der in ihrem kulturellen Kontext vorhandenen Motive und Formen. Die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, aber auch, welche kulturellen Rahmungen zur Deutung herangezogen werden, sagt eine Menge über die jeweilige Gruppe und ihren (historischen) Kontext. Wenn, wie Eve-Marie Becker annimmt, in der Zeit der Entstehung des Markusevangeliums mit der Profilierung flavischer Literatur eine bestimmte Textgattung besondere Konjunktur hatte, 6 dann liegt es nahe, dass die Jesusnachfolger dieses Genre kannten, womöglich als Kommunikationsform nutzten und damit inhaltlich wie medial an einen vorhandenen Diskurs anknüpften. Das ist heute nicht anders: Wer die Generation der 85-jährigen erreichen will, wird nicht twittern und wer mit 25-jährigen ins Gespräch kommen möchte, wird es nicht mit einer Postwurfsendung oder mit dem Festnetz versuchen. 3. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte von und für Jesusnachfolger Die Erkenntnis, die dem hier dargestellten Ansatz zugrunde liegt, ist die, dass die Erinnerungsgemeinschaft(en), in deren Kontext das Markusevangelium ent- 6 So T. Baier, „Quintilian’s approach to literary history via imitatio and utilitas“, in: The Literary Genres in the Flavian Age. Canons, Transformations, Reception (ed. by F. Bessone/ M. Fucecchi; Trands in Classics Supplementary Vol. 51; Berlin/ Boston: Walter de Gruyter, 2017), 47-61, vgl. auch die Ausführungen in Becker, E.-M, The Birth of Christian History: Memory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL; New Haven: Yale University Press, 2017); und dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium (WUNT 380; Tübingen: Mohr Siebeck, 2017) 94 Sandra Huebenthal stand, nicht anders strukturiert waren als andere Gruppen und dass bei der Aushandlung von ( Jesus-)Erinnerungen dieselben sozialen Mechanismen wirksam waren, wie in anderen Gruppen auch. Damit ist eine wichtige Vorentscheidung getroffen: Wenn das Markusevangelium im Kontext einer Gruppe entstand und Entwurf einer Gründungsgeschichte ist, dann muss es von dieser Gruppe akzeptiert worden sein. Damit ist nicht gesagt, dass nicht eine Autorpersönlichkeit diese Geschichte komponiert und verschriftlicht haben könnte, doch der Spielraum dieser Autorenpersönlichkeit wäre dadurch begrenzt, dass sich der Gruppenkonsens in der Geschichte wiederfinden muss. Eine Deutung oder Wendung im Text, die dem Erinnerungsgut oder Selbstverständnis der Gruppe widerspricht, hat es schwer, akzeptiert zu werden. Der Autor Markus erschafft also nicht selbst narrative Erinnerungen, sondern trägt dazu bei, ein vorhandenes kollektives Gedächtnis zu externalisieren, indem er es in ein anderes Medium überführt. 7 Das Markusevangelium wird demnach kaum in einer einsamen Studierstube entstanden sein, in der ein Autor unterschiedliche Traditionen zusammengetragen und in eine plausible Chronologie und erzählerische Choreographie gebracht hat; entscheidend sind vielmehr das Selbstverständnis, die Erfahrungen und der Konsens einer konkreten Erinnerungsgemeinschaft. Das schließt keineswegs aus, dass es sich beim Markusevangelium um Autorenliteratur handeln könnte, die unabhängig von der Erinnerungs- und Rezeptionsgemeinschaft entstanden ist, und von ihr aufgenommen und weitertradiert wurde. Bei einem solchen Textmodell muss allerdings erklärt werden, wie der Text zu den Rezipienten kam und auf welche Weise er in die Gruppe(n) eingeführt wurde. Das Markusevangelium wird also in einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Hermeneutik verstanden als Gründungsgeschichte einer Gruppe von Jesusnachfolgern. In diesem Text werden einerseits die Erfahrungen mit Jesus und seiner Botschaft theologisch reflektiert und gedeutet und andererseits ein Entwurf für eine Identität als Nachfolgegemeinschaft kommuniziert. Dass dabei Quellen und Traditionen verarbeitet werden, liegt in der Natur der Sache. Indem das Markusevangelium ein bestimmtes Jesusbild zeigt, grenzt es sich von anderen Entwürfen ab: Die Entscheidung für eine Deutung der Passion Jesu ist immer auch eine Entscheidung gegen andere Perspektiven und Entwürfe. 7 In diesem Punkt unterscheidet sich mein Ansatz von Eve-Marie Beckers Konzeption einer literary memory, vgl. E.-M. Becker, Shaping Identity by Writing History: Earliest Christianity in its Making, RRE 2/ 2016, 152-169. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 95 4. Erinnerungstexte und Fragen der Zuordnung zu Textgattungen Im Gefolge der Formgeschichte ist es in der Bibelwissenschaft üblich, vor der Auslegung von Texten die Frage nach der Gattung zu stellen und einen Text oder eine Textsequenz einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Die Gattungszuordnung ist konstitutiv für das Verständnis des Textes. Das betrifft Makrogattungen wie „Erzählung“ oder „Brief“ ebenso wie Mikrogattungen wie „Gleichnis“ oder „Wundererzählung“. Neben den Gattungen spielen auch literarische Genres wie „Historiographie“ oder „Biosliteratur“ eine wichtige Rolle. Dieses Vorgehen ist Teil der historisch-kritischen Analyse und kann durchaus innerhalb des formalistischen Paradigmas in der Literaturtheorie verortet werden. 8 Entscheidend ist, dass die hermeneutischen Voraussetzungen, die Formgeschichte und literaturwissenschaftlicher Formalismus teilen, auf Erinnerungstexte in dieser Form nicht angewandt werden können. Wird das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstanden, dann ist das insofern keine Genrezuordnung als die gängigen Genrebezeichnungen auf Autorenliteratur zugeschnitten sind und sich mit externalisierten Erinnerungstexten im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit schwertun, die mit Begriffen wie „Tradition“ oder „Mythos“ bezeichnet und vom historiographischen Diskurs abgegrenzt werden. 9 David M. Litwa fasst zusammen, was einer Erweiterung des Spektrums an Gattungen um Erinnerungstexte im Wege steht: „‚History‘, among its various meanings, tends to designate our story, the story that we believe, that we allow to shape our identity. ‚Myth‘, on the other hand, refers to their story, the story of other people that our community may consider strange, wrongheaded, or implausible.“ Wenn diese hermeneutische Barriere erkannt wird, 10 erschließt sich leichter, warum Erinnerungstexte quer zu gängigen Gattungs- und Genredefinitionen stehen und dass die Zuschreibung „Erinnerungstext“ eine neue Perspektive bieten kann. Wird ein Text als Erinnerungstext verstanden, dann lässt sich durchaus fragen, welchem Genre er zugeordnet werden kann und welche Mikrogattungen er aufnimmt. Das Verständnis dieses Textes entscheidet sich aber nicht an dieser Zuordnung. 8 Vgl. M. B. Dinkler, Literary Theory and the New Testament, New Haven 2019, 42-70. 9 Vgl. D. M. Litwa, How the Gospels became History. Jesus and Mediterranean Myths, New Haven 2019, 218-219. 10 Vgl. hierzu die Ausführungen von W. Kelber, Die frühe Jesustradition im Kontext der Kommunikationsgeschichte, ZNT 22/ 2019, Heft 43/ 44, 79-143. 96 Sandra Huebenthal Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte es sein, Genre nicht als einen Aspekt des Endproduktes zu verstehen, das nur noch einer Kategorie zugeordnet werden muss, sondern als eine bestimmte Form eines Kommunikationsprozesses. Die Frage lautet dann nicht mehr, wie Michal Beth Dinkler es formuliert, was ein Evangelium ist, sondern wie ein Evangelium qua Genre kommuniziert. 11 Genres werden in dieser Sichtweise verstanden als Teile der kulturellen Referenzrahmen, mit denen ein neutestamentlicher Text interagiert und auf die er zurückgreifen kann. Dann stellt sich die Frage: Werden Ereignisse und Erfahrungen in vorhandene Referenzrahmen einsortiert oder werden neue Referenzrahmen für das Verständnis der Ereignisse und Erfahrungen angeboten? Diese Unterscheidung macht im Anschluss an Maurice Halbwachs den Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis aus. 12 Interessant wird es, wenn durch Vergleichstexte rekonstruiert werden kann, wie sich kulturelle Referenzrahmen weiterentwickeln und ab wann ein „neuer“ Referenzrahmen zum Traditionsgut einer Gruppe gehört. Anhand solcher Prozesse können außerdem Rückschlüsse auf den zeitlichen Abstand zwischen Erinnerungstexten und den in ihnen beschriebenen Ereignissen gezogen werden. Damit lassen sich die Texte zwar nicht exakt datieren, doch eine Einschätzung, ob man zwanzig, vierzig, sechzig, achtzig oder noch mehr Jahre von den fundierenden Ereignissen entfernt ist, ist möglich und realistisch. Das heißt auch, dass die Ergebnisse einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Untersuchung ein Gesprächsangebot für Einleitungswissenschaft und Exegese sein können, wenn es um Datierungsfragen geht. Im Falle des Markusevangeliums kann das beispielsweise eine Auseinandersetzung mit der sog. Flavierthese sein. 13 5. Erinnerungstexte sind Momentaufnahmen Als Erinnerungstexte verstanden, sind die neutestamentlichen Schriften Momentaufnahmen im Prozess der Identitätsbildung und Identitätsvergewisserung der ersten Generationen der Jesusnachfolger. Die Fragen „Wie lassen sich die 11 M. B. Dinkler, What is a Genre? Contemporary Genre Theory and the Gospels, in: D. P. Moessner/ M. Calhoun/ T. Nicklas (Hg.), The Gospel and Ancient Literary Criticism. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT I 451), Tübingen 2020, 77-96. 12 Grundgelegt in den Werken M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1925 und ders., Das kollektive Gedächtnis, 1949/ 50. Vgl. auch Huebenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 126-131. 13 Vgl. hierzu S. Huebenthal, Anti-Gospel revisited, in: J. Synder/ K. Zamfir (Hg.), Reading the ‚Political‘ in Jewish and Christian Texts. Biblical Tools and Studies 38, Leuven 2020, 137-158. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 97 Erfahrungen, die für unser Selbstverständnis entscheidend sind, verstehen und einordnen? “ und „Wer sind wir aufgrund dieser Erfahrungen geworden und wer wollen wir sein? “ stehen im Vordergrund. Auch die Frage „Was ist da eigentlich genau passiert? “ wird nicht in Bezug auf historische Korrektheit, sondern in Bezug auf das Selbstverständnis der Gruppe beantwortet. Anders formuliert: Wenn man das Markusevangelium als Gedächtnistext versteht, geht es nicht darum, wer Jesus in der Vergangenheit war, sondern wer Jesus für diese konkrete Gruppe in ihrer Gegenwart ist. Dieses Verständnis der neutestamentlichen Texte als Momentaufnahmen erlaubt es auch, unterschiedliche Ausprägungen von Gruppenidentitäten zu erkennen, voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen. Dass die Form, in der dieser Text vorliegt, mit literarischen Formen und Strömungen seiner Zeit interagiert, ist selbstverständlich. Ob er einer bestimmten Gattung oder einem bestimmten Genre zugeordnet werden kann, ist für das Verständnis des Textes aber zweitrangig. Ich habe an anderer Stelle formuliert, dass das Markusevangelium unbeabsichtigt das erfunden haben könnte, was später als eigene literarische Gattung verstanden wurde: das Evangelium. 14 Wer neutestamentliche Texte als Erinnerungstexte versteht, kann Facetten dieser Texte erkennen, die in der fachexegetischen Diskussion kaum in den Blick genommen werden. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Lektüre des Endtextes mit synchroner Methodik: Sie arbeitet narratologisch, analysiert literarische Motive, Aufnahmen anderer Texte sowie Kommunikationsebenen im Text und interessiert sich besonders für seine Pragmatik. Diese punktuellen Erkenntnisse verbindet sie und versucht eine Linie zu ziehen zu der Erinnerungsgemeinschaft hinter dem Text. Der Begriff „Momentaufnahme“ bedeutet aber auch, dass der Text als Teil eines Prozesses verstanden werden muss. Eine Momentaufnahme verstehen heißt, sie einerseits synchron zu betrachten und andererseits diachron in ihre historischen Kontexte einzuordnen. Eine kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretische Hermeneutik arbeitet ebenso wie historisch-kritische Zugänge in erster Linie produktionsorientiert. Anders als historisch-kritische Zugänge stellt sie aber nicht die Produktionsbedingungen und den Autor des Textes in den Vordergrund, sondern dessen Produktions- und Rezeptionskontexte. Was heißt das für Markusevangelium? Es wird nicht als Jesusbiographie verstanden, sondern als Anfang der Geschichte des Evangeliums Jesu Christi, Sohn Gottes (Mk 1,1), die zunächst untrennbar mit dem Schicksal ihres Protagonisten verbunden ist, aber auch darüber hinausweist. Während im Markusevangelium einerseits der Weg des Menschensohns zum Kreuz erzählt wird, werden auf 14 Huebenthal, Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, 455-456. 98 Sandra Huebenthal einer anderen Kommunikationsebene weitere Fragen geklärt. Dazu gehören das adäquate Jesusverständnis (dieser Gruppe), die Konstitution der Erinnerungsgemeinschaft auf der Basis dieses Verständnisses (Mk 1,16-8,30), und ihre Organisation als Nachfolgegemeinschaft (Mk 8,31-11,10). Während die Jesusgeschichte erzählt wird, werden gleichzeitig die entscheidenden Ereignisse und Erfahrungen mit Jesus gedeutet, heilsame und befreiende Begegnungen ebenso wie traumatischen Erfahrungen von Verlust und Verrat (Mk 11,11-15,39) verarbeitet, und Strategien zum Umgang mit Krisensituationen aufgezeigt. So wird die Geschichte des Evangeliums Jesu Christi, Sohn Gottes, im Leben der Erinnerungsgemeinschaft und an künftige Generationen weitergegeben, und so kann die Geschichte des Evangeliums von künftigen Generationen weitergeschrieben werden. 6. Markus: Autor oder Erinnerungsfigur? Über Markus als Autorenpersönlichkeit und Schöpfer des frühesten Evangeliums erfahren wir im Rahmen dieser Untersuchungen fast nichts, noch nicht einmal, ob es tatsächlich eine Person mit dem römischen Allerweltsnamen Markus war, der die Feder geführt hat. Wenn man das Markusevangelium als Erinnerungstext und fundierende Geschichte einer Gruppe von Jesusnachfolgern der dritten Generation versteht, ist die Autorenzuordnung nicht entscheidend: Der Text bezieht seine Autorität nicht von einem Autor, er wirkt aus sich selbst heraus. Dass dem anonym überlieferten Text im zweiten Jahrhundert mit „nach Markus“ eine Überschrift und Autorenzuschreibung zugewachsen ist, lässt sich ebenfalls als Wirkung des kollektiven Gedächtnisses verstehen. Um einen Gründungstext von anderen zu unterscheiden, braucht es ein Distinktionsmerkmal. Was könnte überzeugender sein als ein Autor, der nahe an den fundierenden Ereignissen ist? Die Zuschreibung des frühesten Evangeliums an den Petrus- und Paulusbegleiter Markus schafft eine Tradition und eine Erinnerungsfigur. Dass das in der Mitte des zweiten Jahrhunderts passiert, um die 120 Jahre oder drei Generationen nach den Ereignissen, überrascht aus gedächtnistheoretischer Perspektive keineswegs. An der Schwelle zur vierten Generation ist die lebendige Verbindung zu den Ursprüngen besonders gefährdet. Diese „Epochenschwelle“ 15 kann mit einer ungebrochenen Kette von Tradenten überbrückt 15 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48-56. Das Markusevangelium als Gründungsgeschichte verstehen 99 werden, und genau das ist es, was Papias, der als erster die Markus-Petrus-Tradition überliefert, mit seiner Zuschreibung erreicht. 16 Papias sieht sich selbst in der vierten Generation nach den fundierenden Ereignissen: Jesus - Johannes - der Presbyter Johannes und Aristion - er selbst. 17 Wenn wir gedächtnistheoretische Begriffe auf seine Situation anwenden, dann steht Papias bereits jenseits des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses. Er gehört zu einer Zeit, die auf halbwegs feste Traditionen und Externalisierungen des kollektiven Gedächtnisses zurückgreifen kann und diese bewahren und sichern will. In dieser Sichtweise erschließt sich das nur in Fragmenten erhaltene Werk des Papias als Sammlung von Traditionen und Paratexten. Diese Traditionen sollen durch die schriftliche Fixierung vor dem Vergessen bewahrt und bereits bekannte Texte sollen autoritativ abgesichert werden. Da kommt ein Autor und Zeuge, der bereits in der Tradition zu finden ist, gerade recht. Die altkirchliche Tradition hat die Erinnerungsfigur „Markus“ aufgriffen und weiterentwickelt - und damit gleichzeitig das älteste Evangelium für spätere Generationen als zentralen und identitätsstiftenden Gründungstext bewahrt. 16 Udo Schnelle hält fest: „Niemand würde hinter der eigenständigen Theologie des Mk die Person des Petrus vermuten, wenn es nicht jene Papiastradition gäbe.“ U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 243. 17 Dazu muss man die Papiasfragmente in ihren unterschiedlichen Überlieferungen genauer studieren. Euseb überliefert Papias wohl zutreffend als Angehörigen der vierten Generation (h.e. III 39), Irenäus verschiebt ihn in die dritte Generation und macht ihn zum Teil des lebendigen Dreigenerationengedächtnisses (ad. haer. V 33,3-4), während spätere Zeugen ab dem 5. Jh. Papias wieder in der dritten Generation sehen.