eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/47

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2447 Dronsch Strecker Vogel

Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums

2021
Eve-Marie Becker
Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums Eve-Marie Becker 1. Vergleich zweier Zugänge Die (monographischen) Arbeiten von Eve-Marie Becker 1 und Sandra Huebenthal 2 zum Markusevangelium stimmen darin überein, dass sie die grundlegende Bedeutung des Markusevangeliums - der ältesten Evangelienschrift - für die identity formation des frühen Christentums hervorheben und damit zu der Frage nach der Entwicklung der religiösen und sozialen Gruppenidentität der frühen Christus-gläubigen Gemeinden entscheidend beitragen. Wie Sandra Huebenthal halte auch ich die seit mehreren Generationen ausgearbeitete kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie (Maurice Halbwachs, La mémoire collective [1939]) nach wie vor für anregend, wenn es darum geht, die Funktion frühchristlicher literary memory im Zusammenhang der Entstehung einer eigenen Kultur der Christus-gläubigen Gemeinden im 1. und 2. Jh. n. Chr. zu beschreiben. Ich nehme die memoria-Forschung - so wie die von Sandra Huebenthal vorgestellten Überlegungen zur Narratologie - daher bei meiner Beschäftigung mit antiker historiographischer Literatur stets auf, ja setze sie voraus 3 und bringe Konzepte wie die counter memory (Michel Foucault) exegetisch konkret zur Anwendung. 4 Allerdings betone ich dabei die individuelle Qualität 1 Vgl. dazu als wichtigste (monographische) Publikationen in chronologischer Folge: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin/ New York 2005; dies., Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006); dies., Shaping Identity by Writing History: Earliest Christianity in its Making, RRE 2/ 2016, 152-169; dies, The Birth of Christian History: Memory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL), New Haven 2017; dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium (WUNT 380), Tübingen 2017. 2 Vgl. bes. S. Huebenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 2 2018. 3 Becker, Birth, 1-33. 4 Vgl. speziell zur Anwendung auf das Lukas- und Johannesevangelium: E.-M. Becker, John 13 as Counter-Memory: How the Fourth Gospel Revises Early Christian Historiography, in: K.B. Larsen (Hg.), The Gospel of John as Genre Mosaic (SANt 3), Göttingen/ Bristol 2015, 269-281 102 Eve-Marie Becker der Erinnerungsleistung 5 und mache die memoria-Theorie nicht zu einem umfassenden oder gar dem Verstehensschlüssel zu einem einzelnen literarischen Werk wie dem Markusevangelium. Ein Vergleich beider Zugänge zum Markusevangelium zeigt: Die Anwendung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie ermöglicht eine generelle Einordnung von Schriften wie dem Markusevangelium in das kulturelle Format von Entstehungsgeschichten unterschiedlicher Gruppierungen im Prozess ihrer Identitätsformation und widmet sich der Bestimmung der Funktion solcher Erzählungen in bestimmten environments. Wichtig ist hierbei allerdings die Differenz zwischen kommunikativem, literarischem und kulturellem Gedächtnis. Für die Entstehung des Markusevangeliums ist die Konstruktion des kommunikativen Gedächtnisses, d. h. der primären Erinnerungskultur entscheidend (so schon die klassische Formgeschichte). Die Literaturgeschichte kann und muss darüber hinaus jedoch würdigen, wie aus communicative memory gestaltete literary memory wird! Die literaturgeschichtliche Textanalyse fokussiert sich sodann auf die Konstellation von Text, Autor, Gattung (hier: Geschichtsschreibung) und Literaturbetrieb (literary activity) und stellt das Markusevangelium bewusst in die Zeitgenossenschaft mit der griechisch-römischen und frühjüdischen Prosaliteratur. Literaturgeschichtliches Arbeiten ermöglicht die Zusammenarbeit mit den Classics (Alte Geschichte, Klassische Philologien, Judaistik, Archäologie) als den Grundlagenfächern zur Erforschung der antiken Welt, die den historischen Raum, in dem die neutestamentlichen Texte entstehen, weitläufig und mehrfarbig beleuchten. Die markinischen Einzeltexte wie das Markusevangelium als literarischer Gesamtwurf treten - im Blick auf ihre semantische, motivische, formale, stilistische, rhetorische Gestalt und auf ihre Gattung - so in einen größeren literaturgeschichtlichen Untersuchungsradius hellenistischer Kultur, in welchem - um mit Umberto Eco zu sprechen - ihre repetitiven und ihre innovativen Gestaltungselemente gleichermaßen sichtbar werden können. Wenn die literatur- und gattungsgeschichtliche Einordnung des Markusevangeliums im Rahmen der hellenistischen Literatur(en) dann zu dem notwendigen Ergebnis kommt, die Evangelienform sei - bei aller Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit mit anderen Gattungsformen (Mikrogattungen) in der Großgruppe der Historiographie (Makrogattung) - dennoch als Gattung sui generis entstanden, so ist damit nicht - wie vielfach behauptet 6 - zugleich vorausgesetzt, die Evangelien seien (als) 5 Becker, Birth, 21ff. 6 So zuletzt z.-B. H.K. Bond, The Biography of Jesus. Genre and Meaning in Mark’s Gospel, Grand Rapids 2020, 1-2. - Die These, die Evangelien seien am besten als biographische Literatur zu verstehen, wie sie zuletzt auch in einigen Beiträgen in R.M. Calhoun u. a. (Hg.), Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums 103 bloße Sub-Literatur (entstanden). Auch sui generis-Literatur weist Qualitätsmerkmale auf. 7 Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich: Kulturwissenschaftliche Theoriebildung und literaturgeschichtliche Analyse schließen einander nicht aus, sondern lassen sich als unterschiedliche Zugänge zum Verständnis fundierender Texte in unterschiedlichen Rahmensystemen beschreiben. 8 2. Anfragen an Sandra Huebenthal Meine Fragen an Sandra Huebenthal aus der Perspektive der Literaturgeschichte sind die folgenden: Was ist eine „Gründungsgeschichte“ - wäre Markus konzeptionell mit Livius (ab urbe condita) vergleichbar? Wie wirkt sich das kulturwissenschaftliche Modell auf die konkrete Textexegese aus? Welche philologischen, semantischen, narratologischen, pragmatischen Methoden, die bei der Einzeltextanalyse zur Anwendung kommen können, generiert es konkret? Welches neue Wissen wird erarbeitet? Das heißt: welche sprachlichen, sachlichen, hermeneutischen Erträge für das Verstehen einzelner Textsequenzen wie des Makrotextes erbringt es? Kritisch gefragt: ist die historisch-kritische Exegese, die für das Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese als philologi- Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT 451), Tübingen 2020 wieder vertreten wird, möchte ich an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal diskutieren. 7 Ernst Gombrich hat - u. a. unter Verweis auf Ciceros genus-Lehre (De orat. 3,98) - in seinem letzten Buch (2002) eindrucksvoll gezeigt, wie sich die Entwicklung der westlichen Kultur- und Literaturgeschichte wesentlich aus der „Preference for the Primitive“ speist: E.H. Gombrich, The Preference for the Primitive: Episodes in the History of Western Taste and Art, London 2002, 27. 8 Vgl. dazu grundlegend: W. Voßkamp, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, in: A. und V. Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 2003, 73-85. Prof. Dr. Eve-Marie Becker , Studium der Evangelischen Theologie in Marburg und Erlangen-Nürnberg, 2001 Promotion zum Dr. theol., 2004 Habilitation, 2006-2018 Professorin für neutestamentliche Exegese an der Universität Aarhus (Dänemark), 2016-17 Distinguished Visiting Professor of New Testament an der Candler School of Theology der Emory University (Atlanta), 2017-18 Research Fellow am Israel Institute for Advanced Studies in Jerusalem, seit 2018 Professorin für Neues Testament an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 104 Eve-Marie Becker scher und historischer Disziplin seit Aufkommen der Bibelkritik konstitutiv ist, obsolet geworden? Sind die historischen Fragen zur Genese der frühchristlichen Literatur geklärt? Wächst - mit neuen Textfunden auf Papier und Stein und archäologischen Evidenzen und Daten in Palästina/ Israel und darüber hinaus - unsere data base und unser Wissen über die frühkaiserzeitliche Welt nicht beständig? Sind wir aufgrund der gewachsenen Materialbasis nicht mehr noch als die Philologen und Historiker des 19. Jh.s imstande, in einem umfassenden Sinne „Quellenforschung“ zu betreiben? Im Zusammenhang damit stellt sich mir die weiterführende Frage, ob die kritischen Werkzeuge historischen und philologischen Arbeitens - von der Traditions- und Quellenkritik bis hin zur Sachkritik - ausgereizt oder stumpf geworden sind? Werden die kritischen Instrumente der Textanalyse in einer postmodernen Welt voller individueller und damit beliebig gewordener Fakten als wissenschaftliche tools intersubjektiven Textverstehens nicht vielmehr wichtiger denn je? Soll vielleicht kritische Exegese nur noch in Gestalt ideologischer Hermeneutiken - seien sie durch Feminismus, gender, post colonial approaches motiviert - existieren, nicht mehr aber in Gestalt der historisch-kritischen Fragestellung? In meiner Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt und Zeit ist historisch-kritisches Denken, das Mythologeme benennt, fact und fiction kennt und trennt, überlebenswichtig, um nicht nur die westlichen, sondern die globalen Lese- und Interpretationsgemeinschaften miteinander im Gespräch zu halten. Positiv gesagt: Es ist an der Zeit, die Rolle von Kulturtheorie und Literaturwissenschaft in den exegetischen Fächern der Theologie zu diskutieren, indem die Fragestellungen und Begriffe des cultural turn kritisch aufgenommen werden und gleichzeitig der Erkenntnisertrag bzw. der Wissenszuwachs, den Literaturgeschichte und classics fortlaufend generieren, neu definiert wird. 3. Zwei weiterführende Grundfragen zum Markusevangelium 3.1 Autor Auch ich behaupte nicht, dass Markus in einer „einsamen Studierstube“ entstanden sei - der Verfasser wird Mitarbeiter (vielleicht Sekretäre, Schreiber, Kopisten, Mäzene [? ], Träger von Traditionen) gehabt und um deren Kooperation gebeten haben. Der neue turn der Literaturwissenschaften geht ja zum Autor und zu dessen ‚Wiederauferstehung‘ zurück - das sollte auch von Exegeten/ Exegetinnen wahrgenommen zu werden. Wir können uns nicht an die Debatten aus dem Frankreich der 1960er Jahre und deren verzögerte Rezeption in Deutschland halten. Der turn zurück zum Autor ermöglicht es vielmehr, zum einen die Kongruenz von Schreiberhand und Sprachstil in einem literarisch gestalteten Gedächtnistheorie und Literaturgeschichte in der Interpretation des Markusevangeliums 105 Werk wieder in den Blick zu nehmen, um so Prosaschriften und deren literarisches Profil komparativ erschließen zu können - Willi Marxsen hatte „Markus“ immerhin eine besondere, sogar über Matthäus und Lukas hinausgehende individualistische Schreibleistung zuerkannt. 9 Zum anderen wird es - wie Gerhard Kurz betont - wieder möglich, Literatur als Spiegelbild kultivierter menschlicher Kommunikation zu re-humanisieren: 10 Hinter dem Text steht ein Autor aus Fleisch und Blut - nicht nur eine Summe von Zeichen oder ‚Anschlägen‘. 3.2 Gruppenkonsens Für äußerst spannend halte ich die von Sandra Huebenthal aufgeworfene Frage, wie es „Markus“ als individuellem Autor gelingt, dass sich „der Gruppenkonsens in der Geschichte“ wiederfindet. Ist damit vorausgesetzt, dass die Evangelien - anders als Paulus oder so wie Paulus? - ‚konsensuale Erzählungen‘ bzw. Produkte miteinander ausgehandelter Narrative in bestimmten Gruppen sind? Stehen hinter den Kapernaumtraditionen einerseits (Mk 2 f.) und den Jerusalemtraditionen andererseits (Mk 11 ff.) solche Gruppen? Handelt der Evangelist Markus - so wie wir im Anschluss an die Formbzw. Sozialgeschichte vermuten können - divergierende ‚Narrative‘ aus, wenn er Logienüberlieferung, Wundergeschichten und die Passionsgeschichte zu einer kohärenten Erzählung verknüpft und mit einem distinkten plot ausstattet? Grundsätzlich gilt: Die Kategorie der Gruppe - ihre ideologische Prägung und ihre literarische Gestaltungskraft - kann nicht im Rahmen einer Theorie allgemein vorausgesetzt, sondern muss aus den Texten selbst jeweils historisch plausibel gemacht werden. Wie kommen wir zu diesen Gruppen und zu ihrem Profil? Das könnte für die synoptischen Evangelien - eher als für Johannes - in unterschiedlichem Ausmaße gelingen. Aber auch dann sind zwei Fragen zu beantworten: (1) Wie erklären sich das individuelle Vokabular, der individuelle Stil und das individuelle, stringent und äußerst dicht geformte narrative Konzept des Markusevangeliums, das den Endtext ausmacht? Hier muss sich jede Gruppentheorie kritisch befragen lassen - und damit sind wir mindestens an diesem Punkt wieder beim Text und seiner literarischen Gestalt. 9 Vgl. W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studie zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums (FRLANT 67), Göttingen 1956; 2 1959), 9. Nun bezeichnete Marxsen Markus zwar als „Individuum“ und „Schriftstellerpersönlichkeit“, hielt aber zugleich fest: Markus hat - anders als Matthäus und Lukas - „lediglich anonyme Einzeltraditionen vor sich. Die Leistung der eigenen Gestaltung ist also hier ungleich höher. Markus bringt… als erster das individualistische Moment in die Formung und Gestaltung der Tradition hinein.“ 10 Vgl. G. Kurz, Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation, Stuttgart 2 2020. 106 Eve-Marie Becker (2) Wenn - wie Sandra Huebenthal vorschlägt - Erinnerungstexte allein „Momentaufnahmen“ sind und wir nicht auch ihr formatives Potential (vgl. Gerd Theißen) anerkennen: wie erklärt sich, dass Leser/ Leserinnen des 21. Jh.s noch immer das Markusevangelium fasziniert lesen und darin eine konzeptionelle Stringenz und stilistische Brillanz erkennen (z.-B. Hans-Martin Gauger), die vielen, wenn nicht den meisten literarischen Werken der Menschheitsgeschichte sonst fehlt? Entweder wirkten Markus und seine „Kollegen“ Lukas, Matthäus und Johannes zufällig genial, als sie ihre „Erinnerungstexte“ zusammenstellten, oder Markus und seine Wettbewerber schufen mit bewusst gewählten sprachlichen, literarischen und konzeptionellen Mitteln Weltliteratur: Ich nehme Letzteres an und suche mit Hilfe der Literaturgeschichte im Einzelnen zu erkunden, wer diese Leute waren und worin genau die Kraft und Qualität oder die „Durchschlagskraft“ 11 der von ihnen geschaffenen formativen Literatur im Rahmen frühkaiserzeitlicher Prosaerzählungen liegt. Mehr Arbeit am Konzept der frühchristlichen Autorschaft ist dabei geboten. 12 11 W. Schemme, Art. Autor II., HWPh 1, Basel 1971, 722-723, 722: „Der A(utor) erstrebt nicht Schönheit, sondern höchste Durchschlagskraft der Aussage“. 12 Vgl. dazu E.-M. Becker, Markus, der Historiograph. Ein Beitrag zum Autorschaftskonzept der frühesten Evangelienschrift“ (in Vorbereitung).