eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/47

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2447 Dronsch Strecker Vogel

Zur Hermeneutik des Markusevangeliums

2021
Gudrun Guttenberger
Hermeneutik und Vermittlung Zur Hermeneutik des Markusevangeliums Gudrun Guttenberger 1. Worum es in diesem Beitrag geht Um die mit diesem Beitrag verbundene Aufgabe zu klären, beziehe ich mich auf den von Hartmut Rosa vorgelegten hermeneutischen Entwurf, 1 der in Anknüpfung an die Arbeiten von Thomas S. Kuhn und Charles Taylor und unter Bezugnahme auf Begriffe von Ludwig Wittgenstein und Hans-Georg Gadamer die Inkommensurabilität der Kulturen und die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Sprache und Praktiken annimmt. Innerhalb dieses relativistischen Modells 2 unterscheidet Rosa zwischen „Nostrifizierung“ als Überführung eines einzelnen unvertrauten, fremden Elements in das eigene kulturelle Paradigma, 1 H. Rosa, Lebensformen vergleichen und verstehen. Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen, in: ders., Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung, Frankfurt 3 2016, 19-59. 2 Die jüngsten Arbeiten von Gerd Theißen (I. Czachesz/ G. Theißen, Kognitive Ansätze in der Exegese. Ihr Beitrag zur methodischen Erforschung der Bibel in: G. Theißen/ C. L. P. Chan/ I. Czachesz (Hg.), Kontrainduktivität und Paradoxie. Zur kognitiven Analyse urchristlichen Glaubens, Berlin 2017, 31-65, bes. 32-35) begründen seinen hermeneutischen Ansatz in einem kognitionswissenschaftlichen, universalistischen Modell von Sprache und Kultur. In universalistischen Modellen wird das Verstehen von universalen, kulturübergreifenden „Eigenschaften“ oder „Bedingungen“ her gesucht, in relativistischen von den kulturellen Differenzen her. Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 47 108 Gudrun Guttenberger „Verständnis“ als Fähigkeit und Bereitschaft, die je eigene „Landkarte“ der anderen Kultur zu beschreiben und dabei die „Kontraste“ zur eigenen Weltsicht zu greifen, und „Verständigung“ als Formulierung des Vergleichs des Eigenen und des Fremden, die eine „Horizontverschmelzung“ perspektiviert und der „Erfindung“ einer eigenen Beschreibungssprache bedarf. 3 Je verschiedener „Kulturen“ sind, desto komplexer ist ihre Inkommensurabilität: Es differieren nicht einzelne Elemente, gleiche Funktionen werden nicht von anderen Elementen eingenommen, sondern das „System“ differiert. 4 Diese Differenzierungen erlauben es zunächst, die mit der Überschrift verbundene Unklarheit begrifflich zu fassen und zu deuten: In der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um das Verstehen des Textes in seinem Eigensinn, wobei (zumindest bei vielen) der eigene kulturelle Standpunkt reflektiert wird, also die Kontraste zur „Welt“ der Forschenden markiert werden. Diese Überlegungen erfolgen im Wissenschaftssystem und verwenden (historische, sozialwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche) Fachparadigmata. In diesem Rahmen geht es unter der Überschrift Hermeneutik um eine Gesamtdeutung des Markusevangeliums in seinem historischen, soziopolitischen und kulturellen Kontext. 5 Wenn hingegen (zukünftige) Lehr- oder Pfarrpersonen oder Kollegen und Kolleginnen aus der praktisch-theologischen Disziplin 6 die Überschrift lesen, erwarten sie etwas anderes. Sie suchen Antworten auf eine Frage wie „Was hat uns das Markusevangelium heute zu sagen? “ Ihre Interessen zielen nicht auf das Markusevangelium, sondern auf das „heute“, nicht auf „Verstehen“, sondern auf „Nostrifizierung“. Nun ist es leicht und dank des pejorativen Begriffs geradezu ein Selbstläufer, dieses Anliegen als sachlich unangemessen (und sogar als moralisch schlecht) zurückzuweisen. Eine solche Zurückweisung verkennt aber die inhärenten Dilemmata der Situation, deren 3 Vgl. Rosa, Lebensformen, 53. Rosa unterscheidet „Verständigung“, die durch das Verharren in einer Beobachterposition nicht erreicht werden kann und eine partielle Teilnahme erfordert, weiterhin von der „Bekehrung“ als der Übernahme des fremden kulturellen Systems. Zwischen der der „Verständigung“ dienenden Partizipation und der „Bekehrung“ ist die Grenze nicht leicht zu ziehen. Ulrich Luz ist mit seiner Hermeneutik (programmatisch) sehr nah an dieser Grenze anzusiedeln. 4 Vorsicht ist dann geboten, wenn Gleichheit der Phänomene behauptet wird, wie bei der Erklärung von Besessenheit durch psychotische Störungen oder wenn Funktionsäquivalenz unterstellt wird, wie bei ihrer Deutung als Ausdruck von Protest gegen totalitäre und (kultur)imperialistische Systeme. 5 Zu diesem Typ von Hermeneutiken gehört z.-B. die Arbeit von O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen 2004. 6 Mein eigener Zugang zur Disziplin der Praktischen Theologie erfolgt über die Religionspädagogik. Dieser prägt auch die hier vorgelegte Perspektive; die Selbstverständigungsdiskurse der praktisch-theologischen Disziplin und die Diskussionen in ihren anderen Subdisziplinen aufzunehmen, übersteigt das Vermögen dieser Skizze. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 109 Kristallisationspunkt der Kanonbegriff ist mit seinem Anspruch, dass die Lektüre neutestamentlicher Texte unabhängig vom kulturellen Kontext der Lesenden Orientierung vermitteln kann. Dilemmatisch ist die Situation deswegen, weil die Zugehörigkeit der exegetischen Disziplinen zur Theologischen Wissenschaft über den „Kanon“ begründet ist, obgleich er in ihrer Fachlogik nicht nur keine wissenschaftlich beschreibbare Funktion hat, sondern im Hinblick auf die angemessenen Auslegungsmethoden ausdrücklich zurückzuweisen ist: Eine wissenschaftliche Auslegung biblischer Texte schließt eine hermeneutica sacra aus. 7 Die Subdisziplinen der Praktischen Theologie, die neutestamentliche Texte als kanonische Texte thematisieren, folgen ihren eigenen Fachparadigmata, sind an ihre eigenen „starken Werte“ 8 gebunden und arbeiten in der Folge der „empirischen Wende“ mit einem eigenem, (zumeist) weniger reflexiven Wissenschaftsbegriff. „Lektüren“ des Markusevangeliums in religionsdidaktischen, seelsorgerlichen oder homiletischen Szenarien haben die Aufgabe, zur religiösen Bildung, zum Gedeihen oder zur Formatierung von religiösen Erfahrungen des „lesenden“ Subjekts beizutragen. Einen „starken Wert“ bildet dabei die Subjektorientierung: Nur wenn eine aktive „Aneignung“ eines Gegenstands, eine Integration in das je eigene Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Urteilen erfolgt, kann von einer gelungenen Auseinandersetzung in den Kategorien von Bildung oder Reifung gesprochen werden. Dieses zentrale Subjekt ist nicht ein „ideales“, sondern ein empirisch zu erhebendes in einer spezifischen Lebenswelt und mit seinen 7 Der Versuch, die exegetischen Wissenschaften als historische Disziplinen zu begründen, ist ebenfalls aporetisch, weil sie bestimmten Phasen der Vergangenheit normative Kraft zuschreiben muss, was wiederum innerhalb der Paradigmata der modernen Geschichtswissenschaften nicht möglich ist. 8 Der Begriff stammt von Charles Taylor und wird von Rosa verwendet, um Kuhns Begriff des Paradigmas mit einer orientierenden Dimension zu versehen, vgl. Rosa, Lebensformen, 32f. Prof. Dr. Gudrun Guttenberger , Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Tübingen, Heidelberg und Mainz. Vikariat, Beschäftigung als Assistentin im Bereich Seelsorge im Seminar Herborn und Tätigkeit im Pfarramt (1988-1994), Dissertation in Heidelberg bei Gerd Theißen, Tätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Mainz (1998-2001), Habilitation in Mainz, Professorin an der Evangelische Fachhochschule / Hochschule Hannover (2001-2013), sei 2013 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Zu ihren neuesten Publikationen zählt ein Kommentar zum Markusevangelium (ZBK). Derzeit arbeitet sie an einem Kommentar zum 1. Korintherbrief (ThHK). 110 Gudrun Guttenberger je eigenen Werten, Erfahrungen, Bereitschaften und Fähigkeiten. Eine solche subjektorientierte Aneignung aber ist „Nostrifizierung“. „Nostrifizierung“ wird somit zum programmatischen Ziel von Lektüreformen in Leseszenarien in solchen Feldern, die in den Subdisziplinen der praktischen Theologie modelliert und reflektiert werden. 9 Anstelle solcher „Nostrifizierung“ eine „Verständigung“, durch die auf der Grundlage von Verstehen dem starken Wert der Subjektorientierung ebenfalls Genüge getan würde, als Norm einzufordern, bedeutet die Verkennung der Komplexität der Konstellation. Die Subjekte, um die es geht, sind eben keine idealen Subjekte. Die Schülerin im 8. Schuljahr einer Realschule, der über den Verlust des langjährigen Partners trauernde Sechzigjährige, selbst die interessierte Besucherin einer Vortragsreihe zur Bibel in der Kirchengemeinde haben i. d. R. weder die Bereitschaft noch die Fähigkeiten, das Markusevangelium zu verstehen. Die allermeisten werden diese auch nicht erwerben wollen. Das ändert sich nicht durch Ermahnung. Wer auf „Verständigung“ als Norm besteht, unterstützt den Bedeutungsverlust der Bibel in praktisch-theologischen Arbeitsfeldern. Die folgenden hermeneutischen Überlegungen zielen also nicht direkt auf das Markusevangelium, sondern sind der Versuch, eine „Verständigung“ zwischen der neutestamentlichen „Heimat“ und der praktisch-theologischen „Welt“ im Hinblick auf Lektüren des Markusevangeliums zu erreichen. Einen ersten Schritt dazu haben wir nun getan: Wir bewerten den Umgang in der praktischen Theologie mit „unseren neutestamentlichen Texten“ nicht negativ, sondern beschreiben die Kontraste. Noch einmal: Der wichtigste Kontrast ist dieser: In der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um das Verstehen des Markusevangeliums; dies ist ein „starker Wert“. In der „Welt“ der Praktischen Theologie geht es um die die jeweiligen (autonomen) Subjekte. Subjektorientierung ist ein starker Wert. Nötig ist eine zweite, kurze Vorbemerkung: Die Ergebnisse der überwiegend synchronen, v. a. narrativ-analytischen Markusforschung der vergangenen Jahrzehnte erfordern es, das gesamte Evangelium zu lesen bzw., wenn der Ausgang von einer Episode genommen wird, die jeweiligen Erzählstränge umfassend präsent zu machen. Die in Unterricht und Predigt übliche Lektüre von einzelnen „Perikopen“, die nicht selten auch noch mit einem „evangelienharmonischen“ Fokus präsentiert werden, ist damit nicht gut vereinbar. Thematisiert werden deswegen im Folgenden weder einzelne Episoden oder Passagen der Erzählung, noch übergreifende Motive, die Erleben, Deuten und Verhalten der ältesten 9 Der Lesbarkeit wegen von nun an „praktisch-theologische Leseszenarien“ etc. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 111 Christusanhängenden insgesamt ausmachen, sondern Merkmale, die das Markusevangelium als Erzählung auszeichnen. 2. Sich selbst verstehen und den Text verstehen: Der „hermeneutische Zirkel“ in der neutestamentlichen und der praktisch-theologischen Welt Unter den Einleitungsfragen ist für unseren Zusammenhang die Frage nach dem dominanten religionsgeschichtlichen Hintergrund des Markusevangeliums besonders relevant: Im Rahmen welcher antiken Kultur ist es zu verstehen? In der älteren Forschung wurde das Markusevangelium mit Verweis v. a. auf Mk 14,1f.12; Mk 7,1-23 als heidenchristlicher Text bestimmt und als Zeugnis für ein bereits um 70 n. Chr. vorliegendes christliches Selbstverständnis herangezogen, in dem die Tora auf das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28-32) reduziert und das sog. Ritualgesetz (Mk 7,15) als abgetan gegolten habe. 10 Das historiographische Pendant bilden Varianten der These Ferdinand Christian Baurs, der die Geschichte des Urchristentums als eine dialektische Bewegung vom Judenchristentum über das Heidenchristentum zum Frühkatholizismus erzählte. 11 In den letzten Jahrzehnten ist das Markusevangelium immer häufiger als jüdischer Text klassifiziert worden. 12 Im Kontext eines von Vielfalt bestimmten Judentums vor 70 kann die Verankerung des Markusevangelium in der antiken jüdischen Kultur wahrgenommen und beschrieben werden; so wird eine differenzierte Einzeichnung der traditionell als Belege für eine heidenchristliche Verfasserschaft angeführten Texte in innerjüdische Diskurse möglich. 13 Das historiographische Pendant bildet das Modell des „Parting of the Ways“, nach 10 Vgl. z.- B. bei S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, 87-92: „Die alttestamentlich-spätjüdischen Speisevorschriften sind für Markus völlig absurd (…) die gesamte kultisch-rituelle Gesetzgebung wird für ungültig erklärt (…) Die gesamte Kulttora des Alten Testaments mitsamt der pharisäischen Gesetzesauslegung hat für Markus keine theologische Bedeutung vor Gott und ist auch nicht Offenbarung des Willens Gottes (…) Der Wille Gottes ist allein in den Geboten offenbar geworden, die vom Menschen die Mitmenschlichkeit fordern, nichts anderes also als Nächstenliebe (…)“; zeitgenössisch z.-B. noch bei U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 2017, 268.270f. Dort mit dem Versuch verbunden, früh ein eigenständiges Christentum als „Religion“ nachzuweisen; vgl. ders., Über Judentum und Hellenismus hinaus. Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, ZNW 111/ 2020, 124-155. 11 Baur selbst ging von einer Matthäuspriorität aus und beurteilte das Markusevangelium als „neutral“; vgl. Ders., Kritische Untersuchung über die Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und ihren Ursprung, Tübingen 1947, 561-567. 12 Vgl. z.-B. A. Y. Collins, Mark. A Commentary, Minneapolis 2007, 6. 13 Vgl. G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus, Zürich 2017, 163-175; 326; Collins, Mark, 344-363.623f.640. 112 Gudrun Guttenberger dem sich die Christusanhängenden als Gruppe innerhalb des Judentums konstituierten und sich ihre Wege frühestens vom zweiten Jh. an von denen des entstehenden rabbinischen Judentum allmählich trennten. 14 In der gegenwärtigen Diskussion wird darüber hinaus die Kategorisierung des antiken Judentums als Religion zunehmend fraglich und „jüdisch“, „christlich“ oder „griechisch“ und „römisch“ werden nicht mehr essentialistisch - als gäbe es Eigenschaften, durch die Subjekte wesensmäßig zu charakterisieren wären - verstanden, sondern als Formen kommunikativen Handelns, nämlich als Beanspruchung, Bestreitung und Zuschreibung gedeutet. Greifbar werden damit komplexe Prozesse der Gruppen- und Identitätsbildung, in denen ethnische, regionale, kulturelle, politische und religiöse Kategorien eine Rolle spielen können. Die einschlägigen Markustexte, v. a. Mk 7,2f. können als Formen kommunikativen Handelns beschrieben werden, die sich lebensweltlich und situativ erklären können und gegenüber dem Versuch, den markinischen Text als „jüdisch“ (i.S. einer „festen religiösen Identität“) oder „(heiden)christlich“ zu charakterisieren, sperrig bleiben. 15 Im forschungsgeschichtlichen Rückblick lässt sich die Kategorisierung des Markusevangeliums als „heidenchristlich“ leicht als Widerspiegelung der damaligen Forschungsbedingungen und des zeitgeschichtlichen Deutungsrahmens durchschauen: Protestantische Theologen finden ihre eigene identitätsstiftende Abgrenzung zum „modernitätsfeindlichen“, „rituellen“ und „werkgerechten“ Katholizismus als einer dem „Spätjudentum“ strukturähnlichen Religion, im Markusevangelium wieder und konstruieren fremde Kulturen nach dem Muster normierender Identitätsdiskurse, die sich in der Polemik gegen Kollegen, der Schulbildung, der Rhetorik, kurz in der Institution der Ordinarienuniversität abbilden. Die Klassifizierung als „jüdischer Text“ zeigt sich in der Folge der Bewusstwerdung antijudaistischer Verständnistraditionen und einer Relativierung normativer Identitätskonzepte seit den 70er Jahren: Antijudaismus wird reflektiert, Vielfalt wird wertgeschätzt, Normierungsversuche werden als Formen von Machtansprüchen durchschaut, abweichende Positionen können nicht mehr nur als Polemik gegen Rivalen gedeutet, sondern lebensweltlich erklärt werden. Dass neueste Relativierungen der Kategorien eine erkennbare Affinität zu postmodernen Identitäts- und Gruppenbildungsprozessen haben, 14 Vgl. A. Standhartinger, „Parting of the Ways“. Stationen einer Debatte, in: EvTh 80/ 2020, 406-417; S. Krauter, Vom ‚Parting of the Ways‘ zu ‚Ways that Never Parted‘, in: VuF 65/ 2020, 17-25. 15 Vgl. G. Guttenberger, Ethnizität im Markusevangelium, in: P. v. Gemünden/ R. Hochschildt (Hg.), Jesus Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Gesellschaft und Kirche, Göttingen 2013, 125-152. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 113 die von Fluidität, 16 Hybridität und Intersektionalität gekennzeichnet sind, ist ebenfalls offensichtlich. Anzunehmen ist auch, dass eine steigende Komplexität in der Lebenswelt der Forschenden aufmerksam macht für Komplexitäten ihres Forschungsgegenstands. Der forschungsgeschichtliche Rückblick demonstriert die Bindung jeden Verstehens an den je eigenen kulturellen Kontext. So wenig wie empirische Forschung in der „Welt“ der praktischen Theologie „objektive“ Ergebnisse hervorbringen kann, so wenig kann es philologische, literaturwissenschaftliche und historische in den Paradigmen der exegetischen Wissenschaften. Damit ist aber keineswegs auf die Differenz schlechterer und besserer Hypothesen verzichtet: Ein Forschungsfortschritt ist trotz der Bindung jeder Deutung an den Kontext der Auslegenden erzielt worden: Die aktuellen Diskussionen über die kulturelle Einordnung des Markusevangeliums werden dem Textbefund besser gerecht als seine Klassifizierung als heidenchristlich. Dabei sind es die Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaft und Kultur und sind es aus der Gegenwart entlehnte Wahrnehmungs- und Deutekategorien, die solche Einsicht ermöglichen. Für die Lektüren des Markusevangeliums in praktisch-theologischen Leseszenarien soll diese Beobachtung im Hinblick auf die Struktur fruchtbar gemacht werden: Jede Textlektüre, selbst die methodisch reflektierte und „abgesicherte“, deckt den Lesenden, seine Einstellungen, Werte, Selbstdeutungen auf: Ohne Vorverständnis gibt es gar kein Verstehen. 17 Dieses Vorverständnis offenzulegen, ist die Voraussetzung für jeden Verstehensversuch. Das gilt für die wissenschaftliche Exegese mit ihrer abgesicherten Methodik, und um wie viel mehr für methodisch ungesicherte, erst recht für „falsche“ oder „ablehnende“ Textlektüren. Ein Missverstehen des Textes schließt ein besseres Verstehen der eigenen Person und der eigenen Welt durch die Lektüre keineswegs aus. Zunächst ist es also ein wichtiger Schritt im Hinblick auf den „starken Wert“ der Subjektorientierung unter der Maßgabe der Individualität dieser Subjekte, den Fokus 16 Die Rede von „fluiden Identitäten“ als Kennzeichen einer (als beängstigend qualifizierten) Postmoderne wird zumeist mit Zygmund Baumann in Zusammenhang gebracht. Begriffsgebrauch und Konzept werden kritisiert von Jürgen Straub, der darauf verweist, dass Fluidität konstitutiver Bestandteil von Identitätskonzepten nicht erst in der Postmoderne ist, sondern den Begriff seit seiner Einführung bestimmt. Das von Baumann Gemeinte erklärt Straub v. a. durch den expotentiellen Zuwachs an biographischer und synchroner Komplexität, die mit dem Verlust von Sicherheits- und Stabilitätsgefühlen einhergehe. Vgl. dazu J. Straub, Ordnung, Reinheit, Identität und ihre Auflösung. Zygmunt Baumans Ideen von Mensch und Moral in der Post-/ Moderne, in: K. Platt (Hg.), Fehlfarben der Postmoderne. Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman, Weilerswist, 111- 203. 17 Gadamer spricht vom „Vorurteil“; Der Begriff „Vorverständnis“ begegnet erstmals bei Heidegger; vgl. zu Begriff und Kontroversen G. Kühne-Bertram, Art. Vorverständnis, HWPh (online). 114 Gudrun Guttenberger auf das Selbst-Verstehen zu legen, wie es durch die Lektüre des Textes offengelegt wird. Dieser Schritt gewinnt zugleich für diejenigen, die Leseszenarien in praktisch-theologischen Feldern inszenieren, also Religionslehrende oder Pfarrpersonen eine diagnostische Funktion, die dazu hilft, weitere Leseszenarien so zu konstellieren, dass „Nostrifizierung“, „Verstehen“ und „Verständigung“ als ein Kontinuum konstruiert werden können. Nun sind weder das Markusevangelium noch seine Lesenden in solchen Leseszenarien Größen, die es „einfach gibt“; im Leseszenario werden sie modelliert. Eine solche Modellierung erfolgt notwendig. Häufig geschieht sie unreflektiert mit erfahrungsbasiertem Wissen oder auf der Grundlage von professionsspezifischen Theorien (Entwicklungspsychologie, Milieutheorien etc.). Wenn zusätzlich Theorien aus dem kultur-, sozial- und humanwissenschaftlichen Bereich ausgewählt werden, die auch erschließende Kraft für die Texte des Markusevangeliums gewinnen können, kann die „Inkommensurabilität“ leichter beschreibbar werden. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Verstehen des Textes in den Horizont von praktisch-theologischen Lektüreszenarien rückt. 3. Erzählte Zukunft Die Komplexität der Inkommensurabilität der Welten von Text und Lesenden wird besser beschreibbar, wenn bezogen auf einzelne Elemente eine wirkungsgeschichtliche Kontinuität erkennbar wird. Im folgenden Beispiel wird eine solche anhand eines Erzählmusters aufgenommen: Elemente apokalyptischer Vorstellungswelten durchdringen die Erzählung 18 und entfalten eine besondere Wirkung in den beiden längsten Reden des marki- 18 Zur konstitutiven Bedeutung hermeneutischer Überlegungen für die Apokalyptizität eines Textes vgl. Reynolds/ Stuckenbruck, Introduction. Die apokalyptische Prägung des Markusevangeliums wird insbesondere im Kommentar von A.Y. Collins herausgearbeitet. Unter den neueren Arbeiten sind besonders zu nennen die Monographie von E. Shively, Apocalyptic Imagination in the Gospel of Mark: The Literary and Theological Role of Mark von 2012, der Beitrag von G. Macaskill, Apocalypse and the Gospel of Mark in dem von L.T. Stuckenbruck und B.E. Reynolds herausgegebenen Band Jewish apocalyptic tradition and the shaping of New Testament thought von 2017, der Aufsatz von S. Hultgren, „A Vision for the End of Days“. Deferral of Revelation in Daniel and at the End of Mark, ZNW 109/ 2018, 153-184 und der Aufsatz von C. Breytenbach, Das Wissen und Nicht-Wissen um die Zeit als Verhaltensregel: Eine textpragmatische Analyse der Endzeitrede in Markus 13 (in: ders., The Gospel according to Mark as Episodic Narrative, Leiden/ Boston 2021, 274-291. Aus den vielen, interessanten Facetten müssen wenige, grundlegende Aspekte herausgegriffen werden. Besonders bedauerlich ist, dass die mit dem Tempelmotiv verbundenen hermeneutischen Perspektiven nicht ausgeführt werden können, wie sie sich auf dem Hintergrund der Interpretation der Moderne und insbes. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 115 nischen Jesus, in Mk 4,3-32 und Mk 13,5-37. Das betrifft zuerst die hermeneutischen Überlegungen, die in der Erzählung selbst angestellt werden und in der Gleichnisrede eng mit solchen Gleichniserzählungen verknüpft sind, die über die Königsherrschaft Gottes belehren (Mk 4,1). 19 Diese Gleichniserzählungen werden in Mk 4,10-12 mithilfe des aus dem Danielbuch stammenden apokalyptischen Terminus des „Geheimnisses“, das der Entschlüsselung bedarf (und die paradigmatisch in 4,13-20 für das erste Gleichnis der Rede durchgeführt wird), gedeutet. Dieses „Geheimnis“ zu verstehen, ist nur für diejenigen möglich, denen Gott besonderes Wissen verleiht. Daraus entsteht eine Insidergruppe, die über Offenbarungswissen verfügt, und eine Outsidergruppe, der dieses verwehrt bleibt und die „verloren gehen wird“. Ausbleibende Resonanz und Akzeptanz der Verkündigung des Evangeliums werden sowohl in der Gleichniserzählung „Vom vierfachen Ackergrund“ thematisiert als auch mit der sog. Geheimnistheorie gedeutet. Für die Rezeption apokalyptischer Topoi im Markusevangelium typisch ist die uneindeutige Kausalattribuierung ausbleibender Resonanz: Mk 4,12 führt sie auf Gottes Handeln zurück (passiva divina), die Deutung der Gleichniserzählung (Mk 4,15b) macht Satan dafür verantwortlich, wenn es erst gar nicht zu einer Aufnahme des Wortes kommt. Probleme, die nach der Aufnahme auftreten, die anhand des Geschicks der Samengruppen zwei (Mk 4,16f.) und drei (Mk 4,18f.) besprochen werden und sowohl für die spätere Erzählung (Petrusverleugnung und Jüngerflucht) als auch für die Situation des Auditoriums (Mk 13,9-13; 7f.18f.) transparent werden, bleiben im Verantwortungsbereich der Menschen. Eine zweite Besonderheit ist zu ergänzen: Das Bildwort vom Licht in Mk 4,21-23 nimmt das Thema des Geheimwissens erneut auf und begrenzt seine Geltung: Nichts kann geheim bleiben, alles wird offenbar werden. Besonders deutlich greift die Abschiedsrede Jesu eine Reihe von apokalyptischen Topoi auf. 20 Die Rede zeichnet die Gegenwart der Lesenden - unabhängig davon, ob diese vor oder nach Mk 13,14-17 angesetzt wird - als apokalyptisch konzipierte Endzeit. Innerhalb dieser Qualifikation heben die den ersten Teil der Rede rahmenden Warnungen vor Pseudomessiassen und Pseudopropheten (Mk der NS-Zeit durch (von Mary Douglas inspirierten) Reinheitsvorstellungen durch Z. Baumann in herausfordernder Weise auftun. 19 Die Gleichnisrede ist eng mit dem vorangehenden Abschnitt verknüpft, dessen Vorstellungswelt in Mk 3,22-30 im Hinblick auf den Auftrag Jesu mit apokalyptischen Farben ausgestaltet wird (vgl. Shively, Imagination) und die Trennung der Menschen in zwei Gruppen bereits vorwegnimmt (Mk 3,21-35). Zur Gleichnisrede vgl. Guttenberger, Evangelium, 94-113. 20 Die Qualifizierung als eines apokalyptisch geprägten Textes ist nicht zuerst von diesen Topoi, sondern über die Verbindung zu Mk 4,18f. vorzunehmen; die Einwände von M. Wolter, Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, NTS 51/ 2005, 171-191, 183, werden damit gegenstandslos. 116 Gudrun Guttenberger 13,5f.21-23), die vermutlich zur Lebenswelt der Adressaten gehören, hervor, dass das Ende noch nicht da ist (Mk 13,7bβ), und dass die über Menschenmaß schwere Zeit noch andauern wird. Erst mit der Parusie des Menschensohns wird alle Ambiguität aufgelöst und Evidenz herbeigeführt (Mk 13,26). Das fortwährende Warten auf diesen Zeitpunkt erfordert von den Auserwählten (Mk 13,27) Treue und Ausdauer und wird dadurch erschwert, dass der Zeitpunkt des Endes nicht spezifiziert werden kann, selbst nicht durch den Sohn (Mk 13,32). Gleichwohl bleiben dessen Worte (Mk 13,30) die einzig verlässliche Größe in einer dahinschwindenden Welt. Die Versuchung, vor der in der Abschiedsrede so eindringlich gewarnt wird, besteht v. a. darin, die Ambiguität der Situation und das Fernbleiben, die Unerreichbarkeit des Sohnes nicht durchzustehen. 21 Die Zeitspanne, in der über Jesus nur gesagt werden kann „hier ist er nicht“ beginnt bereits mit der Auferweckung, wie die Schlussszene des Evangeliums nahelegt. Der Auferweckte bleibt „außer Landes“ und will wachsam erwartet werden (Mk 13,33-37). Apokalyptische Erzählmuster haben eine bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte. Nach der Analyse der Literaturwissenschaftlerin Eva Horn sind sie für zeitgenössische nicht-fiktionale und fiktionale Zukunftserzählungen typisch, insofern diese das Ende der Menschheit durch den Eintritt einer Katastrophe zu ihrem Gegenstand machen 22 und damit gegenwärtiges Lebensgefühl auf den Punkt bringen: „The present feels as though it is stumbling towards an end“ 23 . Varianten des Musters inszenieren entweder Stresssituationen (kosmischen oder globalen Ausmaßes), in denen Menschen um ihr Überleben kämpfen, oder Szenarien, in denen es darum geht, wie die Katastrophe abgewendet werden und die Menschheit gerettet werden kann. 24 In beiden Varianten werden einerseits Hierarchisierungen von Werten und Beziehungen und andererseits die Bewährung von Charakteren durchgespielt. Prominentes (aber keineswegs einziges) Beispiel ist die „Klimakatastrophe“. Die Geburtsstunde der zeitgenössischen Zukunftserzählungen mit ihrem apokalyptischen Erzählmuster erkennt Horn im frühen 19. Jh. mit Mary Shelleys Pandemie-Erzählung „Last Man“ (die 21 Nach der Vorstellung des Markusevangeliums wird Jesus über die Evangelienerzählung „präsent“ - gebunden an das Vorlesen des Textes, und zwar als Gestalt der Vergangenheit und der Zukunft. Die Abgrenzung erfolgt in Mk 13,5.21-23 gegen die Annahme, er werde in der prophetischen Rede in der Gemeindeversammlung als der Auferweckte und Erhöhte in der Gegenwart präsent. Ein Pendant zu Mt 18,20; 28,20b findet sich im Markusevangelium nicht. 22 E. Horn, The Future as Catatrophe. Imagining Desaster in the Modern Age, New York 2018, 1-20. Die folgende Skizze muss ihre Analyse notwendig vereinfachen. Horn, Future, 5 zur Einordnung in Zeitdiskurse in der Philosophie und Kulturwissenschaft. 23 Horn, Future, 6. 24 Horn, Future, 15. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 117 zugleich eine soziale Dystopie zeichnet) sowie in Byrons Gedicht „Darkness“. Hier werde der religiöse Deuterahmen aufgegeben und das Ende der Welt, der Menschlichkeit und der Menschheit wird dargestellt: In Byrons Gedicht sterben die letzten zwei Menschen in dem Moment, in dem sie wahrnehmen, was aus dem anderen geworden ist: „Their eyes as it grew lighter, and beheld Each other’s aspects - saw, and shriek’d, and died - Even of their mutual hideousness they died, Unknowing who he was upon whose brow Famine had written Fiend.“ Als typisches Kennzeichen aktueller Katastrophenerzählung arbeitet Horn das Muster „catastrophe without event“ 25 heraus, in der die Katastrophe nicht durch ein außergewöhnliches Ereignis, sondern durch die Weiterführung alltäglicher Lebensformen bis zur Erreichung eines „Kipppunktes“ ausgelöst werde, wodurch komplexe Systeme (wie z.-B. das Klima) instabil würden. Die exakte zeitliche Vorhersage des Erreichens eines solchen Kipppunktes ist in komplexen Systemen naturgemäß schwer zu bewerkstelligen und verweist auf die hermeneutische, Horn nennt sie die epistemologische, Ebene der Zukunftserzählungen: Das Problem der Unvorhersagbarkeit dieses Kipppunktes werde typischerweise dadurch gelöst, dass ein „unmöglicher“, postapokalyptischer Standort des Erzählens gewählt werde: der eines zukünftigen Zeugen. 26 Das gilt auch für (weit verbreitete) nicht-fiktionale Werke wie „The Earth After Us. What Legacy Will Humans Leave in the Rocks? “ von dem „Erfinder“ des Anthropozäns, Jan Zalasiewicz: Dort wird die Perspektive eines in hundert Millionen Jahren auf der Erde die Relikte früherer Kulturen suchenden Aliens als Erzähler gewählt. Für die Rezipierenden verbinde sich mit diesem zentralen Problem des Erzählmusters jedoch Unsicherheit: Denn so wenig einerseits sicher sei, dass dieser Kipppunkt in absehbarer Zeit erreicht werde und damit, ob die Katastrophe überhaupt zu Lebzeiten eintreten werde, so wahrscheinlich sei es andererseits, dass wenn sie tatsächlich eingetreten sei, sich die Indizien dafür bereits zuvor hätten beobachten lassen. Die damit verbundenen Widersprüchlichkeiten formuliert Horn folgendermaßen: „What will we have known about the present, seen from a vantage point of future? Both seeing and not seeing, knowing and not knowing, both observer and observed, the Last Man is the ultimate personification of the intricate and entanglement of insight and blindness that characterizes our relation to the future“ 27 . 25 Horn, Future, 8. 26 Horn, Future, 1-3 verweist auf „I’m a Legend“ von 2007. Neuere Dystopien verwenden ähnliche Muster vgl. z.-B. „The Survivalist“ von 2015. 27 Horn, Future, 229. 118 Gudrun Guttenberger Bringen wir das Markusevangelium als antike apokalyptisch geprägte Erzählung und die zeitgenössischen Zukunftserzählungen in einen Zusammenhang: Die Textpragmatik weist (an das Erzählmuster gebundene) Ähnlichkeiten auf: Die mit dem Katastrophalen verbundenen Anforderungen haben eine Prüffunktion für die Güte und Verlässlichkeit von Werten und Beziehungen. Gegen Alarmismus und Verharmlosung ist die Ungewissheit der Gegenwart auszuhalten. Mk 4; 13 können in einer Linie mit zeitgenössischen Zukunftserzählungen gelesen werden und in Leseszenarien in praktisch-theologischen Arbeitsfeldern dazu anregen, die Gefährdung unserer Zivilisation, die Ambiguität unserer Gegenwart im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit und die von Alarmismus und Verharmlosung ausgehenden Gefährdungen auszuloten. Die Lektüre kann auch auf ein Nachdenken über gesellschaftliche und individuelle Wertehierarchisierungen und Güterabwägungen geöffnet werden. Eine intertextuelle Analyse (und nicht etwa eine allegorisierende Auslegung) erschließt die wirkungsgeschichtliche Beziehung zwischen markinischem Prätext und zeitgenössischen Posttexten: 28 Echos werden erkennbar: So hat Mk 13,32 in der Rede von der Unvorhersagbarkeit des Zeitpunkts gefolgt von dem Feigenbaumgleichnis als an sich klares Indiz eine Affinität zur „Kipppunkt-Problematik“; auch das „Greuelbild der Verwüstung“ (Mk 13,14) lässt sich in einen Zusammenhang mit diesem bringen. Das oben im Zitat wiedergegebene, die epistemologische Ebene betreffende Dilemma hat eine erschließende Kraft für die Lektüre von Mk 4,10-12 und die Frage nach der Zugehörigkeit zur Ingroup. Die ähnliche Textpragmatik und intertextuelle Beziehungen ermöglichen eine textorientierte (methodisch beschreibbare) „nostrifizierende“ Lektüre, die wiederum zwar noch kein Verstehen des markinischen Textes erreicht, aber Anknüpfungspunkte am Text findet, auch wenn dieser verzerrt wahrgenommen wird. Die zeitgenössischen Zukunftserzählungen in ihrer Vielfalt (Varianten, Sachbuch, Science-Fiction, Hollywood-Film oder „anspruchsvolle“ Literatur wie McCarthys „The Road“) unterstützen darüber hinaus Anschlüsse an die vielfältigen Werte, Lebenswelten, Weltzugänge und ästhetischen Stile heutiger Rezipierenden. Unabwendbar legt ein solches Leseszenario jedoch auch maßgebende Variationsdimensionen, 29 andere wirklichkeitskonstituierende Deutekategorien, offen: Die zeitgenössischen Zukunftserzählung zielen (im Zusammenhang der 28 In konkreten Leseszenarien wird es sich empfehlen, das Markusevangelium mit einem konkreten aktuellen Einzeltext zu verbinden; in diesem Beitrag wird auf das Erzählmuster verwiesen und es können auch nur Beispiele genannt werden. Der Religionsunterricht in der Oberstufe kann weitere antike apokalyptische Texte hinzuziehen und damit das kulturelle Umfeld des Markusevangeliums erschließen. 29 Vgl. Rosa, Lebensformen, 45. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 119 Säkularisierung des Erzählmusters) auf eine Rettung vor der Katastrophe 30 und erhoffen sich diese vom Handeln der Menschen. Die markinische Zukunftserzählung sehnt das baldige Ende der diesseitigen Welt herbei (Mk 13,20), erwartet Rettung von der jenseitigen Figur des Menschensohns (Mk 13,27) und mahnt als proaktives Handeln einzig die Bezeugung des Evangeliums an (Mk 13,11). Das Verhältnis der Lesenden zur erzählten Zukunft unterscheidet sich damit fundamental: Das Auditorium des Markusevangeliums darf - sofern es treu und ausdauernd ist - auf einen guten Ausgang für sich hoffen (Mk 13,26). Für die Leserschaft von modernen Zukunftserzählungen gilt das nicht oder abhängig von den Varianten nur unter der Bedingung der gelingenden Rettung oder nur um einen hohen Preis (Byron). Diesen Kontrast auszuleuchten, diese Grenzen der Nostrifizierung nicht nur auszuhalten, sondern eigens zu inszenieren, ist die Bedingung dafür, sich einem Verstehen des markinischen Textes anzunähern und die mit dem Verstehensprozess verbundene „kategoriale“ Erweiterung der eigenen „Welt“, eine „Verständigung“ nicht von vornherein auszuschließen. Viele unterrichtliche und gemeindliche Lernsettings - dazu regt das übliche „Material“ zum Thema Zukunft gerade an - zielen darauf, diesen Kontrast unsichtbar zu machen. Stattdessen werden die christlichen Varianten solcher „starken Werte“ in das Leseszenario implementiert, die zeitgenössischen Zukunftserzählungen ohnehin bereits inhärent sind, nämlich „Bewahrung der Schöpfung“ und „Abweisung supranaturaler Vorstellungen“. Dadurch wird ein hermeneutischer Stopp ausgelöst: Ein schon zum Greifen nahes (punktuelles) Verstehen - die Beschreibung der Kontraste - wird ausgebremst. Unterbunden wird damit eine Reflexion des „Eigenen“, die das Potential zu einer „Verständigung“ in sich trägt. Die markinische Erzählung kann mit ihrer „Inkommensurabilität“ zum Nachdenken darüber anregen, ob eine Rettung unserer Zivilisation unter allen Umständen wünschenswert ist - und für wen. Sie kann die Macht- und Kontrollphantasien, die nicht nur das Gefährdungs-, sondern auch das Rettungs- und Bewahrungshandeln in diesen Zukunftserzählungen durchdringen, in ein neues Licht stellen. Sie kann dazu beitragen, sich Erfahrungen von Ohnmacht auszusetzen und diese als Konstitutivum des Menschlichen zu erwägen. Und sie kann schließlich ins Nachsinnen darüber geraten, in welches Licht die Annahme eines prinzipiell Unzugänglichen, Jenseitigen, Heiligen, unsere Zukunftserzählungen tauchen würde. 30 Darin ähneln sie dem Erzählmuster der Noaherzählung im Rahmen der priesterschriftlichen Erzählung. Mit diesem biblischen Text wäre dann analog zu verfahren. 120 Gudrun Guttenberger 4. Leid und Tod In der „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ 31 wird der Weg der Jesusfigur von Beginn an mittels des Geschicks der Figur Johannes‘ des Täufers (Mk 1,14a; 6,14-29), durch die Offenlegung der Bewertungen und Absichten der Antagonisten Jesu (Mk 2,7; 14,63f.; 3,6.22; 11,18; 12,13; 14,1f.) und durch die Aussagen der Jesusfigur selbst (Mk 2,19b; 8,33; 9,11-13.31; 10,33.45; 12,1-12; 14,18-21.27) auf dessen Hinrichtung hin perspektiviert und gedeutet. In diesem zweiten Beispiel soll versucht werden, empirische Befunde zur Deutung von Leid in der pastoralpsychologischen Gesundheitsforschung in ein Leseszenario einzubringen. Auch in diesem Leseszenario ist die Komplexität der Inkommensurabilität durch wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge reduziert. Kontraste werden so leichter beschreibbar. Die Frage nach dem Leid ist in christlicher Tradition durch die Verschmelzung philosophischer Traditionen mit biblischen Vorstellungen durch die seit Leibniz so genannte Theodizeefrage formatisiert. Die neuzeitliche Form der Frage gehört in den Kontext der Religionskritik bzw. der Apologetik. 32 Die Relevanz der theoretischen Frage wird für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kontrovers diskutiert: Für manche markiert die Frage die Sollbruchstelle des Glaubens in der Pubertät, andere erleben sie als Anfechtung ihres christlichen Glaubens, wieder andere berührt die Fragestellung gar nicht. Derzeit wird angenommen, dass ihre Bedeutsamkeit abhängig von Lebenserfahrungen, religiösen Prägungen und Werteorientierungen differiert. 33 Wo Menschen im Zusammenhang von „major life events“ 34 religiöse Fragen in einem christlich geprägten Interpretationsraum stellen, gibt die Theodizee weiterhin 31 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892, 34. 32 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur die einschlägigen Artikel von H. Rosenau, Art. Theodizee Dogmatisch, TRE Bd.-10, 222-229; S. Lorenz, Art. Theodizee, HWPh (online); vgl. weiter das verbreitete Lehrbuch von K. v. Stosch, Theodizee, Paderborn 2013. 33 Vgl. G. Büttner/ V.-J. Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2016, 172-190; E. Stögbauer-Elsner, Art. Theodizee, in: wirelex.de. 34 Der aus der Psychologie stammende Begriff gehört in die Emotions- und Gesundheitsforschung und bezeichnet dort starke Stressoren, die die körperliche und psychische Gesundheit gefährden. Vgl. D. G. Myers, Psychologie, Berlin, Heidelberg 3 2014, 526 f. Religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen werden in diesem Kontext als Copingstrategien konzeptionalisiert. Vgl. dazu A. Dörr, Religiöses Coping als Ressource bei Bewältigung von Life Events in: C. Zwingmann/ H. Moosbrugger (Hg.), Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Neue Beiträge zur Religionspsychologie, Münster 2004, 261-275. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 121 die Kategorien vor. 35 Die Bewältigung („Coping“) von schweren Leiderfahrungen („major life events“) wird in der Gesundheitsforschung untersucht. Viele Untersuchungen beziehen sich auf den „Copingstil“, also auf habitualisierte Bewältigungsstrategien in Stresssituationen. In der religionspsychologischen Forschung wird dabei zwischen einem „self-directing style“, durch den die betroffene Person annimmt, von Gott dazu befähigt zu werden, ihre Probleme selbst zu lösen, einem „deferring-style“, durch den der passive Mensch von Gott Rettung erhofft, und einem „collaborative-style“ unterschieden, durch den die von Leid betroffene Person bereit ist, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, zugleich aber auch annimmt, dass Gott handelt. Zusätzlich zu den durch die Unterstützung der sozialen Gruppe, z.-B. einer Gemeinde, hervorgerufenen positiven Effekten, lassen sich auch kognitive Deutemuster und emotionale Erfahrungen von Gottesnähe als unterstützende Faktoren erweisen. 36 Die Wirkungen von kognitiven religiösen Deutemustern hat Christoph Morgenthaler im Rahmen einer Befragung von Eltern, die ein Kind verloren haben, untersucht. Dabei hat sich die Deutung, dass sich das Geschehen durch einen unbegreiflichen, aber göttlichen Plan erklären lasse, als stärkender und entlastender erwiesen als die Deutung als Strafe oder dadurch, dass Gott mitleide. 37 Stellt man das Markusevangelium in ein von derartigen pastoralpsychologischen Einsichten mitbestimmtes Leseszenario ein, ist zunächst zu beachten, dass die „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ in dieser Einleitung einen starken Kontrapunkt setzt: Leuchtet die Erzählung doch den Kontrast zwischen der Würde Jesu, die das Evangelium in seinem besonders engen Gottesverhältnis begründet sieht (1,11; 9,7), und die sich in seiner vollmächtigen Verkündigung, mit er die Menschen gewinnt, sowie in seiner Macht über die Mächte des Chaos (Dämonen, Meer, römische Besatzung) manifestiert, und seinem Leiden und Sterben besonders hell aus. Der Kontrast erschließt sich dabei nicht durch die Kategorie der Gerechtigkeit, sondern durch die der Zugehörigkeit, erkennbar an Präsenz und Absenz Gottes. Dem visionär geöffneten Himmel in der Taufszene und der Überschattung des Zusammentreffens des verklärten Jesus 35 Die Thematisierung im Religionsunterricht und in Lehramtsstudiengängen könnte deutlich davon profitieren, zwischen einem religionskritischen und einem lebenspraktischen Rahmen zu unterscheiden. Beide Fragestellungen gehören zu verschiedenen „Systemen“ (im Sinne Luhmanns) und folgen verschiedenen, nicht miteinander verrechenbaren Codes: Während sich die theoretische Theodizeefrage dem Kriterium der „Wahrheit“ stellen muss, untersteht die „lebenspraktische“ dem Kriterium der Lebensförderlichkeit. Eine „Verständigung“ zwischen beiden „Welten“ ist wiederum eine hermeneutische Aufgabe. 36 Vgl. Dörr, Religiöses Coping, 270-272. 37 Vgl. H. Znoij/ C. Morgenthaler/ C. Zwingmann: Mehr als nur Bewältigen? Religiosität, Stressreaktionen und Coping bei elterlicher Depressivität nach Verlust eines Kindes, in: Zwingmann/ Moosbrugger, Religiosität, 277-298. 122 Gudrun Guttenberger mit den himmlischen Gestalten Mose und Elia durch die göttliche Präsenz anzeigende Wolke korrespondiert das Schweigen Gottes in der Gethsemane- (Mk 14,32-42) und der Kreuzigungsszene, in der der sterbende Jesus die Abwendung Gottes ausdrücklich beklagt (Mk 15,34). Der Kommentar des Zenturios verschärft dem Kontrast noch: So stirbt ein Gottessohn (Mk 15,39). Die Gefühle des leidenden Jesus werden in der Gethsemaneszene eindrücklich gezeigt: Der markinische Jesus bricht unter Zittern und Todesängsten zusammen (Mk 14,34). Die Kreuzigungsszene verstärkt durch die Einblendung der Perspektive der „Feinde“ Jesu und deren spöttischer Kommentierung seiner Ohnmacht (Mk 15,29-32) diese Grundstruktur der markinischen Erzählung: Den Helfer sehen die Umstehenden hilflos, den Wundertäter machtlos, den Moderator der Präsenz Gottes hören sie seine Gottverlassenheit beklagen. In der Perspektive der Feinde falsifiziert die Hinrichtung Jesu seine besondere Würde. Die Perspektive des Erzählers ist eine andere: Leiden und Sterben Jesu und der (geheime) epiphanale Charakter seines Wirkens gehören zusammen und können nicht gegeneinander aufgerechnet werden. In diesem Leseszenario lässt sich zunächst „nostrifizierend“ beschreiben, dass das Markusevangelium keine der argumentativen Strategien einsetzt, durch die in der Diskussion der Theodizeefrage das Leiden relativiert wird: Es wird nicht über Erziehungs- und Bewährungsmodelle bonifiziert; soteriologische Motive leuchten zwar mit Mk 10,45; 14,24 die Vorstellungswelt des Christusglaubens der Adressaten aus, haben für die markinische Erzählung des Todes Jesu aber keine tragende Funktion. Das gilt auch für die Relativierung durch Straf- oder Lohnvorstellungen. Zwar erwartet Unheil diejenigen, die für Jesu gewaltsamen Tod verantwortlich sind (Mk 12,9; 14,21.62), und es wird denen, die ihr Kreuz auf sich nehmen, eschatologischer Lebensgewinn versprochen (Mk 8,35), eine „ausgleichende“ Gerechtigkeit im Diesseits oder Jenseits, wie sie im Zusammenhang des Motivs vom Leidenden Gerechten z.-B. in Sap 2 f. greifbar wird, findet sich aber nicht prominent. Erklärungsstrategien, die auf eine Relativierung der Allmacht Gottes setzen oder darauf verweisen, dass Gott mitleide, sind der markinischen Erzählung sogar gegenläufig: Die Vorstellung von der Allmacht Gottes (Mk 10,27; 14,36) wird bei Mk auf die Glaubenden ausgeweitet (Mk 9,23; 11,22f.); durch die Gottesklage in Mk 15,34 wird die Abwendung Gottes vom Leiden eindrücklich inszeniert. 38 Das Leidensgeschick Jesu wird hingegen v. a. durch das auf Gottes Plan zu beziehende „muss“ (δεῖ, Mk 8,31) erklärt, was wie- 38 Mk 12,6 (vgl. 1,11; 9,7) erklärt die Beziehung von Jesus und Gott über die Vatermetapher als von Liebe bestimmt. Das Potential der Metapher, ein Mitleiden Gottes zu zeigen, wird aber nicht aktualisiert. In der Gleichniserzählung liegt der Akzent nicht auf den Affekten des Weinbergbesitzers (Mk 12,9 ließe allenfalls auf Zorn schließen), sondern auf seinem Gerichtshandeln. Die Gethsemanszene verstärkt dieses Fehlen des Mitleidens Gottes. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 123 derum mit den Schriften verbunden ist (Mk 12,10f.14,27). Einen tieferen Einblick in diesen Plan eröffnet die Erzählung nicht. 39 Die Gethsemaneszene zeigt, wie schwer dieser Plan zu akzeptieren ist. Mit der Vorhersage der Auferstehung (vgl. Mk 16, 6 f.) wird er so konzipiert, dass er über die Todesgrenze hinausreicht. Da die Erscheinungen des Auferstandenen jedoch nicht erzählt werden und das „Sehen“ auf das Ende verwiesen bleibt (Mk 13,27), wird die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, dem Zugänglichen und dem Unzugänglichen gewahrt. Das Markusevangelium begründet Hoffnung, suggeriert aber keine Evidenz, wo Ambiguität herrscht. Noch im Rahmen einer solchen „nostrifizierenden“ Lektüre, die an Textbeobachtungen anknüpfen kann, diese aber perspektivisch verzerrt wahrnimmt, können zwei Impulse aufgenommen werden, durch die unsere eigenen Wahrnehmungen und Deutungen von Leid linear erweitert werden. Auf der Grundlage der Annahme des göttlichen Plans kann die markinische Erzählung der Passionsereignisse das Stilmittel der Ironie verwenden. Die Wahrnehmung der Situation Jesu durch seine Feinde wird mit einer hintergründigen Deutung versehen: Der Tempel wird durch die Kreuzigung tatsächlich seiner Auflösung überantwortet (Mk 15,38), die Hilflosigkeit Jesu rettet tatsächlich anderen das Leben (Mk 10,45), der Gekreuzigte ist tatsächlich der König, der Verstorbene ist tatsächlich als solcher der Gottessohn. Die Situation ist ganz anders zu bewerten als es prima facie scheint. Kränkungs- und Verletzungsabsicht der Umstehenden treffen ins Leere. Durch die Annahme eines Plans kann eine anscheinend eindeutige Situation einem neuem „Framing“ unterzogen werden, durch die vom Leid Betroffene eine Stärkung ihrer Identität erfahren können. Die kontrastreiche Christologie des Markusevangeliums zeigt erzählend, dass Erfahrungen der Zuwendung und der Verborgenheit Gottes zusammengehören; die Erzählung stemmt sich gegen den Versuch, diese gegeneinander zu verrechnen oder Erfahrungen der Gottesnähe als Illusion zu deuten. Dies kann sowohl auf der Ebene der praktischen Leidbewältigung z.- B. im Zusammenhang von Biographiearbeit unterstützend wirken, als auch zur weiteren Differenzierung der theoretischen Beschäftigung mit der Theodizeefrage (zumindest im Bereich von Unterricht) beitragen: Nach Deutung verlangt nicht nur die Existenz des Übels, sondern auch die Erfahrung von Resonanz, von Ordnung, von Gelingen, von Glück. 40 Zu einem „Verstehen“ der markinischen Erzählung im Hinblick auf das Leiden bedarf es der Wahrnehmung der Kontraste: Gott wird schon hier als abgewandt gezeigt. Gezeigt wird eher das Gegenteil eines mitleidenden Gottes. 39 Mk 12,1-12 zeigt immerhin, dass die Bindung Gottes an sein Volk diesen Plan begründet. 40 Vgl. dazu G. Theißen, Religionskritik als Religionsdiskurs, Stuttgart 2020, 90-95. 124 Gudrun Guttenberger Die Theodizeefrage ist in ihrer theoretischen Strukturierung an die Bedingungen der Aufklärung und die nur nach der Aufklärung in dieser Form möglichen Religionskritik gebunden. Dazu gehören auch die argumentativen Strategien im Umgang mit ihr: Sie setzen theologische und philosophische Argumentationen am Zusammenfluss von antiker Philosophie und biblischen Traditionen voraus. Bewältigungsversuche von Leiderfahrungen im sozialen Zusammenhang christlicher Lebensdeutung sind davon zwar unterschwellig, aber strukturgebend betroffen. Die markinische Erzählung stellt ihre Deutung des Leidens Jesu in keiner Weise in einen religionskritischen Zusammenhang. Weder Gott noch der Glaube an ihn werden durch die Passion Jesu fraglich. 41 Auch wenn die traditionelle Annahme, Religion sei eine stets aktualisierte Dimension antiker Kultur, Atheismus allenfalls bei wenigen, hochgebildeten Oberschichtsmitgliedern eine Möglichkeit gewesen, kritisch diskutiert wird, 42 ist die Wirklichkeitsdeutung der ersten Christusanhänger, die wir in Texten greifen können, massiv und durchgehend von der Erfahrung durchdrungen und geformt, dass Gott Jesus auferweckt und ihn erhöht hat und dass die Gabe des Geistes 43 die Christusgläubigen mit diesem Geschehen verbindet. Die damit einhergehenden Evidenzerfahrungen sind m. E. für Personen, die unsere kulturelle Welt bewohnen, wegen des hohen Grades an Reflexivität im Umgang mit Religion, den wir seit der Aufklärung erworben haben und der in der Postmoderne zwar umstrukturiert, aber keineswegs reduziert worden ist, so nicht zugänglich. 44 Eine Anbahnung des Verstehens kann vielleicht auf einem Umweg erfolgen: Die Wundererzählungen perspektivieren verschiedenartige Ausprägungen menschlichen Leidens auf dessen Überwindung hin. Insbesondere die Exorzismuserzählungen konfigurieren (durch ihre dualistische Deutung) Leiden als „Übel“ par excellence und verbinden mit seiner „Vertreibung“ im Zusammenhang der Errichtung der Königsherrschaft Gottes eine Welt ohne Leid. Die Erzählung zielt überhaupt nicht darauf „Leiden“ (schon gar nicht erfolgreich) in das Leben zu integrieren, sie erzählt von einer kontrafaktischen Wirklichkeit, stellt einen anhaltenden Protest gegen das Leid dar. Das Korrelat dazu bilden 41 Auch den Leiderfahrungen der intendierten Adressaten der Erzählung, die ebenfalls durch den göttlichen Plan gedeutet werden (Mk 13,7.10.14), wird keine Gefahr zugeschrieben, die religionskritisch eingeordnet werden könnte. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass sie ihre religiösen Deutungen ausweiten könnten, indem sie Personen fälschlich als Propheten oder Messias interpretieren könnten. 42 Vgl. J. Rüpke, Pantheon, München 2016, 13-34. 43 Vgl. Mk 13,11. 44 Die Ablehnung solcher Reflexivität in der Aufklärung gegenüber abweisenden, fundamentalistischen Kreisen führt natürlich nicht in das Erleben der Antike zurück, sondern mitten in eine Ideologie hinein, die sich nur durch Verleugnung, Verschwörungstheorien und „Blasenbildung“ stabilisieren lässt. Zur Hermeneutik des Markusevangeliums 125 die schwer erträglichen Radikalisierungen des Leidens Jesu durch Verspottung, Vereinsamung und durch seine Gottverlassenheit. Indem der markinische Jesus diese mit dem Ruf von Ps 22,2 selbst formuliert und beklagt, zeigt das Markusevangelium, wie das Leid einen Menschen zerbricht. Der markinische Jesus stirbt nicht „mit seinem Geschick (irgendwie) versöhnt“, sondern durch es gebrochen. 45 Die Voraussetzung für eine solche Konfigurierung des Leidens - und zwar in beiden skizzierten Extrempunkten - ist m. E. die starke Evidenzerfahrung der frühen Christusanhänger. Die Reflexion dieser Deutung von Leid auf das innerhalb unserer Kultur dominante Muster der „Integration“ deckt möglicherweise eine kulturtypische Vereinseitigung und Verflachung auf. Diese betrifft weniger die professionelle Gesundheitsforschung als die Verselbständigung ihrer inhärenten Werte zu Normen. Ich formuliere vorsichtige (und keineswegs rhetorische) Fragen: Gehört zu einer gesellschaftlichen Utopie vielleicht doch eine Befreiung von Leid - und zwar eine, die realistische Ziele sozialpolitischen Handelns qualitativ übersteigt? Gehört zum Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben vielleicht auch die Hoffnung auf eine Befreiung von Einschränkungen, die über die Möglichkeiten von „Inklusion“ deutlich hinausreicht? Und als Korrelat (nicht als Kontrast): Wird das Humanum nicht vielleicht auch dadurch konstituiert, dass Menschen am Leid zerbrechen können - und in einigen Fällen daran zerbrechen müssen? Verdeckt nicht die Rede vom „Coping“ und von der Resilienz (insbesondere da, wo sie generalisiert wird) diese Dimension von Mensch-Sein? Zeigt unsere Art und Weise des Umgehens mit dem Leid, unsere „Bewältigungsbemühung“ nicht auch Merkmale von Bemächtigungsversuchen, die etwas Inhumanes haben und zur Spiegelfechterei degenerieren können? An zwei Beispielen habe ich versucht, die praktisch-theologische und die exegetische „Welt“ miteinander ins Gespräch zu bringen und dabei ein „Verstehen“ des Markusevangeliums in einer Weise anzubahnen, die auch außerhalb der exegetischen Welt Interesse zu finden hofft. Die Umfangsbegrenzung des Beitrags macht nicht nur die Besprechung weiterer Beispiele unmöglich, sondern hat auch dazu geführt, dass die Perspektiven der praktischen Theologie stark reduziert und die der systematischen Theologie gar nicht oder nur höchst unzureichend eingespielt werden konnten. Die Thematisierung hermeneutischer Fragen bringt mit ihrer Komplexität viele unserer Kommunikationsformate und 45 Traditionsgeschichtlich bestehen Beziehungen zur apokalyptischen Weltsicht der Erzählung sowie zum Topos vom leidenden Gerechten. Wie die Gethsemaneszene deutlich macht, bleibt Jesus auch in der Passion der gehorsame Sohn. Auch wenn „das Zerbrechen“ somit nicht die Fundamente der Wirklichkeitsdeutung der Erzählung erreicht, dominiert es die Ebene der dargestellten Affekte und des Erlebens des Protagonisten. 126 Gudrun Guttenberger möglicherweise auch die Bereitschaft und die Fähigkeiten vieler Akteure (die Verfasserin eingeschlossen) und Rezipierenden an die Grenzen. Diese Fragen dürfen aber nicht suspendiert werden, wenn die Disziplinen der wissenschaftlichen Theologie nicht einen Fluchtpunkt und das religionsbezogene Handeln und seine Reflexion in Schule und Gemeinde nicht seine theologische Dimension aufs Spiel setzen will.