eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt

2021
Reidar Aasgaard
NT aktuell Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt Beiträge und Trends der modernen Forschung Reidar Aasgaard Warum sollten wir Kinder und Kindheit erforschen? Weil Kinder zu allen Zeiten in der Geschichte der Menschheit wichtig waren. Weil jeder Mensch einmal ein Kind war. Weil Kinder nicht in der Lage sind, über sich selbst zu forschen. Weil wir Erwachsenen unsere Kindheit unser ganzes Leben lang mit uns herumtragen. Und weil wir viel über unsere Werte und Wertvorstellungen lernen können, wenn wir die Haltung der Erwachsenen gegenüber Kindern untersuchen. Warum sollten wir die Geschichte der Kinder und der Kindheit erforschen? Weil sie bisher wenig erforscht wurde. Weil Kinder die größte Gruppe von Menschen sind, die je existiert hat - viele von ihnen sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Weil Erwachsene Dinge über die Geschichte lernen können, die wir sonst nicht erfahren würden. Weil unser Bild der Geschichte damit präziser wird und ihr näher kommt. Schließlich einfach deshalb, weil es ungerecht ist, wenn Kinder nicht den ihnen zustehenden Anteil an der Geschichtsschreibung bekommen. Warum sollten wir zu Kindern und Kindheit in der Bibel und ihrer Welt forschen? Weil diese Welt mit ihren altorientalischen und griechisch-römischen Kulturkreisen einschließlich Judentum und formativem Christentum die Grundlage für eine Vielzahl späterer Kulturen bildet, seien sie nun „westlich“, „orien- Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 6 Reidar Aasgaard talisch“, „arabisch“ oder anderes. Weil die Bibel im Laufe der Geschichte das Denken und Leben aller möglichen Menschen geprägt hat. Weil sie auch heute noch Wirkungen zeitigt, sogar weltweit. Weil die Bibel immer noch gelesen, interpretiert und benutzt wird, im Guten wie im Schlechten, und von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Das Thema Kinder und Kindheit in der Bibel ist seit den späten 1960er Jahren von Interesse, aber die Forschung hat sich seit den 1990er Jahren besonders entwickelt. In diesem Beitrag wird der Schwerpunkt auf dem NT liegen. Es ist jedoch auch notwendig, die Schriften des NT in zwei breiteren Kontexten zu verorten, dem der griechisch-römischen Welt und dem des Alten Testaments und des Judentums des Zweiten Tempels. Die Stellung der Kinder und die Wahrnehmung der Kindheit im Neuen Testament sind stark von diesen Kontexten geprägt und stehen in einer engen Wechselwirkung mit ihnen, und wie die moderne ntl. Forschung im Allgemeinen ist auch diejenige über Kinder und Kindheit durch ihre jeweiligen Forschungskontexte bestimmt. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über wichtige Studien zu diesem Thema, wobei ich sowohl auf bereits eingehender erforschte wie auch auf bisher eher vernachlässigte Bereiche eingehe. Darüber hinaus zeige ich einige Trends auf und zeichne nach, wie diese sich im Laufe der Jahre verändert haben. Mein Ziel ist es, sowohl ein Profil der bisherigen Forschung zu skizzieren als auch einige Möglichkeiten für weitere Studien aufzuzeigen. 1 Allgemeine Trends in der Forschung über Kinder und Kindheit in der Antike Seit den 1960er Jahren hat die Forschung bestimmte Phasen durchlaufen, Phasen freilich, welche die anderen nicht sukzessive ersetzen, sondern ergänzen. 1 Vereinfacht gesagt konzentrierte sich eine frühe Phase auf Aspekte der Bildung von Kindern wie etwa die religiöse Erziehung. 2 Eine zweite Phase betonte die 1 Für einen aktuellen Forschungsüberblick vgl. R. Aasgaard, History of Research on Children in the Bible and the Biblical World: Past Developments, Present State - and Future Potential, in: S. Betsworth / J. Faith Parker (Hg.), T&T Clark Handbook of Children in the Bible and the Biblical World, Edinburgh 2019), 13-38. Mein Dank geht an die Herausgeberinnen und den Verlag für die freundliche Erlaubnis, Teile dieses Artikels als Grundlage für den vorliegenden Beitrag zu verwenden; der Artikel wurde auch mit einigen neuen Veröffentlichungen aktualisiert. Vorgestellt werden nachfolgend hauptsächlich englischsprachige Arbeiten. Zum selben Thema gibt es selbstredend auch Forschungsbeiträge in anderen Sprachen, wenngleich nicht so viele, die hier aber aus Platzgünden unberücksichtigt bleiben müssen. 2 In den 1970er und 1980er Jahren bestand die Forschung über Kinder und Kindheit in der biblischen Welt hauptsächlich aus Untersuchungen zur Bibel als Ganzer. Diese Forschun- Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 7 sozialen Beziehungen und Netzwerke von Kindern, zum Beispiel mit dem Augenmerk auf soziale Gruppenzugehörigkeit und Abhängigkeit. In neuerer Zeit folgte dann eine Phase, in der Kinder als aktive Subjekte gesehen wurden, als Akteure in ihrem eigenen Leben und im Leben der anderen. Diese Entwicklungen teilt das biblische Feld mit anderen Forschungen über Kinder und Kindheit in der antiken Welt, insbesondere im römischen Kontext; sie sind aber auch in der Forschung zu späteren historischen Perioden zu beobachten. 3 Im Verein mit den römischen Studien hat sich die Forschung zum NT und zum frühen Christentum inhaltlich wie methodisch an die Spitze der historischen Erforschung von Kindern und Kindheit gesetzt. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wurden dabei eine Vielzahl von Aspekten wie Geschlecht, Lebensphasen, soziale Schicht, ethnische Vielfalt sowie Behinderung und Krankheit berücksichtigt. Die Forschung ist heute durch eine vitale Interdisziplinarität gekennzeichnet, insbesondere mit den Sozialwissenschaften, z. B. der Sozialgeschichte, der Kulturanthropologie und der Soziologie, sowie mit verschiedenen geisteswissenschaftlichen Bereichen wie Kunst, Altertumswissenschaft, Geschichte, Archäologie und Literatur. In jüngerer Zeit wurgen waren zu ihrer Zeit zwar wichtig, haben ihre Bedeutung jedoch mehr im Bereich der Vorarbeiten. Frühe Arbeiten sind: H. Lockyer, All the Children of the Bible, Grand Rapids 1970; R. Voeltzel, L’enfant et son éducation dans la Bible, Paris 1973; R. B. Zuck, Precious in His Sight: Childhood and Children in the Bible, Cedar Rapids 1996. 3 Neuere Arbeiten, die sich mit späteren Epochen befassen, sind: M. J. Bunge (Hg.), The Child in Christian Thought, Grand Rapids 2001; L. J. Wilkinson (Hg.), A Cultural History of Childhood and Family, Bd. 2: The Middle Ages, Oxford/ New York 2010; P. S. Fass (Hg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, London/ New York 2013; R. Aasgaard / C. B. Horn / O.-M. Cojocaru (Hg.), Childhood in History: Perceptions of Children in the Ancient and Medieval Worlds, London/ New York 2018. Prof. Dr. Reidar Aasgaard, geb. 1955, Studium der Philologie und Theologie an der Universität Oslo, zehn Jahre Pfarrdienst in der Norwegischen Lutherischen Kirche, Doktor der Theologie 1999 (Neues Testament), Postdoc und außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo bis 2008, seit 2009 Professor für Ideengeschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Oslo, Leiter des internationalen Projekts zur Geschichte der Kindheit in der antiken Welt 2013-2017. Forschungsschwerpunkte sind Kindheitsgeschichte, Paulus, Apokryphen des NT, Augustinus und Bob Dylan. Webseite: www.hf.uio.no/ ifikk/ english/ people/ aca/ history-of-ideas/ tenured/ reidaraa/ index.html 8 Reidar Aasgaard den auch die Rechtswissenschaften und die Medizin einbezogen, z. B. im Blick auf die zivilen und religiösen Rechtsvorschriften über Kinder und Krankheiten von Kindern. Aufgrund des interdisziplinären Charakters dieser Forschungen, aber auch aufgrund von Entwicklungen innerhalb des Feldes selbst, hat die Vielfalt der methodischen Ansätze zugenommen. Beispiele für diese breite Palette von Ansätzen sind etwa Intersektionalität und Kinder als Subjekte von Interpretation („ childist interpretation “); hiervon später mehr. 2 Eine wichtige Unterscheidung: „Kinder“ versus „Kindheit“ Bei jeder Art von Forschung über Kinder und Kindheit ist es notwendig, zwischen diesen beiden Gegenständen zu unterscheiden. Während sich erstere auf Fragen wie die Lebensbedingungen, die sozialen Funktionen oder die Aktivitäten von Kindern bezieht, befasst sich letztere mit Vorstellungen von Kindern als Menschen und Ideen über Kindheit als Lebensphase. Und während sich erstere hauptsächlich auf die Kinder selbst konzentriert, spiegelt letztere in der Regel die Sichtweise von Erwachsenen wider. Beide Perspektiven sind für sich genommen wichtig, da sie auf unterschiedliche Weise spezifische Einsichten vermitteln. Die beiden Kategorien schließen sich natürlich nicht gegenseitig aus, sondern wirken auf einander, was die Beziehung zwischen ihnen, beispielsweise zwischen „Realität“ und „Ideen“ oder „Idealen“, zu einem interessanten Thema macht. Eine ähnliche, aber umfassendere Unterscheidung, die man im Auge behalten sollte, ist die zwischen der Perspektive von Kindern und der Perspektive auf Kinder. Während es bei der letzteren darum geht, die Interessen der Kinder zu berücksichtigen, d. h. im Namen der Kinder zu sprechen, zielt die erstere darauf ab, die Dinge aus der Perspektive der Kinder selbst zu sehen und auf die Stimmen der Kinder zu hören. 3 Die Suche nach Kindern/ Kindheit in der Antike und im Neuen Testament Die Erforschung von Kindern und Kindheit ist in der Vergangenheit oft auf den Einwand gestoßen, dass es kein ausreichendes Quellenmaterial für solche Studien gibt. Problematisiert wurde auch, wie man Zugang zum Leben der Kinder bekommen kann, wenn denn zutrifft, dass sie nur wenige Spuren in den Quellen hinterlassen haben. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das Material viel reicher ist, als traditionell angenommen wurde, und zwar selbst für eine so weit zurückliegende Zeit wie die des Neuen Testaments. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 9 Zu dieser Erkenntnis hat die interdisziplinäre Forschung dadurch beigetragen, dass sie verschiedene Bereiche wie Linguistik, Kunstgeschichte und Archäologie zusammengeführt hat. Darüber hinaus wurden in dem Maße neue Entdeckungen gemacht, wie die Forschenden einfach eine „neue Brille“ aufsetzten und die bekannten und weniger bekannten Quellen gezielt daraufhin befragt haben, was sie über Kinder und Kindheit mitteilen. In gewisser Parallele zu den feministischen Studien ist es der historischen Forschung zu Kindern und Kindheit gelungen, eine marginalisierte Gruppe wie Kinder in den antiken Quellen ausfindig und sichtbar zu machen. 4 Dies lässt sich leicht anhand des hier behandelten Materials zeigen, an den Schriften des NT. Am anschaulichsten begegnet uns Jesus als Kind in den Kindheitserzählungen bei Matthäus und Lukas, aber auch andere Kinder wie Johannes der Täufer, oder etwa die Kinder vom Kindermord in Bethlehem. In den Wundergeschichten der Evangelien und gelegentlich in der Apostelgeschichte tauchen häufig Kinder unterschiedlichen Alters auf. Sie sind auch unter den Menschen zu finden, die sich um Jesus versammeln und seinen Segen erbitten, und wir begegnen ihnen sogar im Tempel von Jerusalem. In den authentischen Paulusbriefen wie auch in den Deuteropaulinien und den Pastoralbriefen ist von ihnen die Rede (wenn auch nicht so oft), und sie werden auch angesprochen (viel häufiger), in den Pastoralbriefen vor allem in paränetischen Passagen wie den Haustafeln. Darüber hinaus können Begriffe, die oft anders übersetzt werden, ein Kind „verbergen“, wie paidion , pais und paidiskē . Auch doulos und doulē können sich auf ein Kind beziehen, da viele Sklaven noch keineswegs das Erwachsenenalter erreicht hatten, jedenfalls nach unserem Verständnis. Auch einige der Jünger Jesu, die als Söhne, z. B. des Zebedäus, bezeichnet werden, können als Kinder angesehen werden, wenn man Jugendliche, „Teenager“, dazuzählt. In zahlreichen Fällen tauchen Vorstellungen von Kindern und Kindheit in Form von Metaphern auf, ein Sprachgebrauch, der die weit verbreitete Haltung der Erwachsenen gegenüber Kindern deutlich widerspiegelt. Dies ist besonders häufig bei Paulus der Fall, wenn er die Beziehungen zwischen ihm und den Gläubigen darstellt. Sogar die zentrale und weit verbreitete Metapher von Gott als Vater für Israel oder die Christen kann einen Einfluss auf die Vorstellung davon haben, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Schließlich, und das ist wichtig, sollten wir die faktische Präsenz von Kindern in den Texten (oder zwischen den Zeilen) in Betracht ziehen, auch wenn sie 4 Vgl. für einen neueren Überblick zu aktuellen Trends vgl. C. Laes / V. Vuolanto (Hg.), Children and Everyday Life in the Roman and Late Antique World, London/ New York 2017. 10 Reidar Aasgaard nicht ausdrücklich erwähnt werden. Wie in vielen heutigen Kulturen dürften sie auch in der Welt des NT allgegenwärtig gewesen sein - demographische Schätzungen gehen davon aus, dass sie bis zur Hälfte der Bevölkerung ausmachten. 4 Die Forschungen zur griechisch-römischen Welt Die Entwicklungen, die die neutestamentliche Forschung durchlaufen hat, decken sich weitgehend mit anderen Forschungen über Kinder und Kindheit in der Antike und sind eng an diese angelehnt. 5 Die einschlägige Erforschung der antiken Quellen begann in den frühen 1980er Jahren und entwickelte sich schnell, vor allem im Blick auf die römischen Verhältnisse, zunächst mit einem Interesse an Familienleben und -strukturen und Geschlechterbeziehungen im Allgemeinen und dann mit einer wachsenden Aufmerksamkeit für die Kindheit als Lebensphase. 6 Eine frühe, bahnbrechende Studie (1990) stammt von Mark Golden über Kinder im klassischen Athen. Eine weitere von Jenifer Neils und John H. Oakley (2003) 7 konzentrierte sich auf das Erwachsenwerden. Die Forschung zu den klassischen und griechisch-hellenistischen Quellen machte ebenfalls Fortschritte, wenn auch in engeren Grenzen. Das Interesse an Kindern und Kindheit in der römischen Welt nahm dagegen noch zu, insbesondere durch wichtige Beiträge von Beryl Rawson und anderen in den 1990er Jahren. 8 Ihr letztes Buch über die Kindheit im römischen Italien (2003) war ein Meilenstein in dieser Phase der Forschung. 9 Seitdem hat sich die Erforschung der römischen Verhältnisse kontinuierlich weiterentwickelt, zumal in den vergangenen zehn Jahren. 10 Die Forschung ist vielfältiger geworden, hat sich weiter spezialisiert, und sie konzentriert sich u. a. auf die Lebensbedingun- 5 Aktuell hierzu L. A. Beaumont / M. Dillon / N. Harrington (Hg.), Children in Antiquity: Perspectives and Experiences of Childhood in the Ancient Mediterranean, London 2020. 6 Grundlegend für die römischen Verhältnisse ist T. Wiedemann, Adults and Children in the Roman Empire, London 1989. 7 M. Golden, Children and Childhood in Classical Athens, Baltimore 1990, 2 2015; J. Neils / J. H. Oakley (Hg.), Coming of Age in Ancient Greece: Images of Childhood from the Classical Past, New Haven/ London 2003. Vgl. auch M. Harlow / R. Laurence, Growing up and Growing Old in Ancient Rome: A Life Course Approach, London/ New York 2002. 8 Vgl. etwa B. Rawson, Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome, Canberra/ Oxford 1991. 9 B. Rawson, Children and Childhood in Roman Italy, Oxford 2003. 10 Wichtig u. a. M. Harlow / R. Laurence (Hg.), A Cultural History of Childhood and Family, Bd. 1: Antiquity, Oxford/ New York 2010; C. Laes, Children in the Roman Empire: Outsiders Within, Cambridge 2011; J. Evans Grubbs / T. Parkin / R. Bell (Hg.), The Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World, Oxford/ New York 2013; C. Laes / K. Mustakallio / V. Vuolanto (Hg.), Children and Family in Late Antiquity: Life, Death and Interaction, Leuven 2015. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 11 gen von Kindern, ihre Ausbildung, ihre Rolle in Familie und Gesellschaft und ihre kulturelle Stellung. Rechnet man die Arbeiten zu NT und frühem Christentum hinzu, kann man sagen, dass die Studien zur römischen Zeit heute inhaltlich wie methodisch zur Spitze der historischen Forschung über Kinder und Kindheit gehören. 5 Arbeiten zum Alten Testament und zum Judentum des Zweiten Tempels Als Schriftensammlung ist das AT mehr als dreimal so lang wie das NT und umfasst einen Zeitraum von mindestens sechs bis acht Jahrhunderten. Gemessen daran gibt es auf diesem Gebiet vergleichsweise wenig Forschungsliteratur. Erst ab etwa 2008 hat die Forschung auch hier an Fahrt aufgenommen und wichtige, methodologisch innovative Studien zu unserem Thema beigesteuert. 11 Es bleiben aber noch viele weiße Flecken auf der Landkarte. Eine aktuelle Übersicht über die bisherigen Forschungen hat Julie Faith Parker (2019) vorgelegt. 12 Die Tora wurde häufiger untersucht als andere Teile, aber es erschienen auch wichtige Arbeiten zu den früheren Propheten und teilweise zur Weisheitsliteratur. Methodologisch wichtig ist Parkers Studie von 2013 über den Elisa-Zyklus in 2Kön 2-8, in der sie die zentrale und aktive Rolle von Kindern in diesen Geschichten aufzeigt. 13 Bisher wurde einigen Bereichen besondere Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere dem Kontext der Familie, oft mit Schwerpunkt auf Geschlechterrollen. Studien über das tägliche Leben und die sozialen Rollen von Kindern, die aus der archäologischen Forschung hervorgegangen sind, sind in jüngster Zeit ebenfalls in den Fokus gerückt, mit wichtigen Arbeiten von Laurel W. Koepf Taylor (2013), Kristine Henriksen Garroway (2018) und anderen. 14 Immer wiederkehrende Themen sind bis heute Kinder als Opfer von Gewalt und die Diskussion, ob Kinderopfer im alten Israel eine historische Realität darstellten. 15 11 In 2008 wurde die Sektion „Kinder in der biblischen Welt“ der Society of Biblical Literature gegründet. 12 J. F. Parker, Children in the Hebrew Bible and Childist Interpretation, Currents in Biblical Research 17/ 2019, 130-57. 13 J. F. Parker, Valuable and Vulnerable: Children in the Hebrew Bible, especially the Elisha Cycle, Providence 2013. 14 L. W. Koepf Taylor, Give Me Children or I Shall Die: Children and Communal Survival in Biblical Literature, Minneapolis 2013; K. Henriksen Garroway, Growing Up in Ancient Israel: Children in Material Culture and Biblical Texts, Atlanta 2018. 15 Vgl. etwa A. Michel, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament, Tübingen 2003; E. Koskenniemi, The Exposure of Infants among Jews and Christians in Antiquity, Shef- 12 Reidar Aasgaard Auch systematisch-theologische Themen wurden behandelt, wie z. B. die Frage Gottebenbildlichkeit von Kindern. 16 Das Judentum des Zweiten Tempels steht bis heute weit weniger im Fokus als das frühe Christentum. Ein aktueller und wichtiger Beitrag auf diesem Gebiet ist jedoch die Monographie von Hagith Sivan über jüdische Kindheit in der römischen Welt (2018), die sich dem Material bewusst mit einer Perspektive „von unten“ nähert. 17 Insgesamt ist die Forschung zu AT und Judentum aber noch immer bruchstückhaft und fragmentarisch. 6 Biblische Überblicksdarstellungen und Bibliographien Für eine Annäherung an unser Thema gibt es zwei Hilfsmittel, die sich gegenseitig ergänzen: Arbeiten, die einen allgemeinen Überblick über das biblische Material und die zeitgenössische Forschung geben, und Bibliographien, die einzelne Beiträge vorstellen. Diese befassen sich häufig mit beiden Testamenten, eine Frucht des interdisziplinären Zusammenwirkens der exegetischen Fächer. Julie Faith Parker u. a. und Julia M. OʼBrien u. a. (2014) haben eine kommentierte bibliographische Übersicht zu Arbeiten vorgelegt, die auch die Wirkungsgeschichte der Texte berücksichtigen. 18 Ein wichtiger, relativ früher Sammelband, herausgegeben von Marcia J. Bunge (2008), präsentiert Studien zu zentralen biblischen Schriften und Themen, auch systematisch-theologisch. 19 Die Monographie von Cornelia B. Horn und John W. Martens (2009) beschäftigt sich in ähnlicher Weise mit NT und frühem Christentum. Beide Studien bedienen sich u. a. sozialgeschichtlicher und gendertheoretischer Ansätze. 20 James M. M. Francis gibt einen Überblick über Kindheitsmetaphern im NT und seinem field 2009; D. A. Bosworth, Infant Weeping in Akkadian, Hebrew, and Greek Literature, Winona Lake 2016; H. D. Dewrell, Child Sacrifice in Ancient Israel, Winona Lake 2017. 16 Vgl. etwa W. Sibley Towner, Children and the Image of God, in: M. J. Bunge (Hg.), The Child in the Bible, Grand Rapids, 2008, 307-321 und B. A. Strawn, ,Israel, My Childʻ: The Ethics of a Biblical Metaphor, in: Bunge, The Child in the Bible, 103-140. 17 H. Sivan, Jewish Childhood in the Roman World, Cambridge 2018. 18 J. M. O’Brien (Hg.), Art. Children, in: The Oxford Encyclopedia of the Bible and Gender Studies, Bd. 1, Oxford/ New York 2014, 25-60. Vgl. auch Aasgaard, History of Research, in: Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children. Eine wichtige deutschsprachige Arbeit ist Martin Ebner u. a. (Hg.), Gottes Kinder, Neukirchen-Vluyn 2002. 19 M. J. Bunge (Hg.), The Child in the Bible, Grand Rapids 2008. 20 C. B. Horn / J. W. Martens, ,Let the Little Children Come to Meʻ: Childhood and Children in Early Christianity, Washington 2009; M. Larsson / H. Stenström, Ett myller av liv: Om barn i Bibelns texter, Uppsala 2013. Nützlich, wenngleich kurz ist M. King, Children in Judaism and Christianity, in: The Routledge History of Childhood, 39-60. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 13 historischen Kontext (2006). Candida R. Moss und Joel S. Baden thematisieren Fragen der Kinderlosigkeit (2015). 21 Einige Online-Bibliografien stellen wichtige Beiträge zu Kindern und Kindheit in der biblischen und teilweise auch in der nachbiblischen Welt vor. Zwei davon, Julie Faith Parker (AT, 2016) und ich selbst (AT und NT, 2018) haben kommentierte Bibliographien vorgelegt. 22 Beide sind teils nach Gruppen biblischer Schriften, teils nach Themen gegliedert und kommentieren eine beträchtliche Anzahl von Einzelstudien. Die Bibliografien von Ville Vuolanto u. a. und von Yiannis Panidis 23 umfassen ein breites Spektrum von Werken aus verschiedenen Disziplinen, einschließlich der Bibelwissenschaft, und decken den Zeitraum vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 8. Jh. n. Chr. ab, so dass auch viel anderes für die Bibelforschung relevantes Material zur Verfügung steht. 7 Forschungen zum Neuen Testament Die christliche Bewegung und mit ihr das NT sind im Kontext des AT, des Judentums des Zweiten Tempels und der griechisch-römischen Welt entstanden. Wie bereits erwähnt, stand die Erforschung der Kindheit im NT hier von Anfang an in einem regen Austausch, beflügelt freilich von einem vergleichsweise weitaus größeren Interesse auf dem Gebiet des NT. 7.1 Überblick Ein frühes Stadium markieren die Bände von Simon Légasse (1969), Gerhard Krause (1973) und Hans-Ruedi Weber (1979). Alle befassen sich mit den „Jesus und die Kinder“-Stellen in den Evangelien, aber sie unterscheiden sich etwas in 21 J. M. M. Francis, Adults as Children: Images of Childhood in the Ancient World and the New Testament, Oxford 2006; C. R. Moss / J. S. Baden, Reconceiving Infertility: Biblical Perspectives on Procreation and Childlessness, Princeton 2015. 22 J. Faith Parker, Children in the Hebrew Bible, in: C. R. Matthews (Hg.), Oxford Bibliographies: Biblical Studies, Oxford, 2016. DOI: 10.1093/ obo/ 9780195393361-0209; R. Aasgaard, The Bible and Children, in: H. Montgomery (Hg.), Oxford Bibliographies: Childhood Studies, Oxford 2 2018, DOI: 10.1093/ obo/ 9780199791231-0163. 23 V. Vuolanto / R. Aasgaard / O.-M. Cojocaru (Hg.), Children in the Ancient World and the Early Middle Ages: A Bibliography for Scholars and Students (Eighth Century BC- Eighth Century AD), Oslo 9 2018, zugänglich unter http: / / www.hf.uio.no/ ifikk/ english/ research/ projects/ childhood/ index.html; Y. Panidis (Hg.), Children in Antiquity: A Selected Bibliography, 2 2020, zugänglich unter https: / / www.academia.edu/ 44435219/ _Children_ in_the_Ancient_World_A_Selected_Bibliography_2nd_edition_4860_entries_? email_ work_card=title. (Letzter Zugriff am 31.1.2021). 14 Reidar Aasgaard ihrem jeweligen Schwerpunkt auf soziohistorischen, rezeptionsgeschichtlichen und hermeneutischen Fragen. 24 Nach einer Phase relativ geringen Interesses in den späten 1970er und in den 1980er Jahren erfreute sich das Thema ab Anfang der 1990er erneuter Aufmerksamkeit. Grundlage und Ausgangspunkt war in den 1980er Jahren die Erforschung der griechisch-römischen und frühchristlichen, insbesondere familialen Sozialbeziehungen. Diese Perspektive ist bis heute zentral. Zwei wichtige und bahnbrechende Werke in dieser Phase waren die Monographien von Peter Müller (1992) und William Strange (1996). 25 Erstere ist eine detaillierte wissenschaftliche Analyse des Wortfeldes „Kind“ im Neuen Testament und seinem Kontext, während letztere eine populäre Übersicht über die Vorstellungen von Kindheit in der griechisch-römischen Welt, den Evangelien und dem frühen Christentum darstellt. Beiden gemeinsam ist das Interesse an der Sozialgeschichte und an hermeneutischen Fragen. Dies sind auch Anliegen, die sich wie ein roter Faden durch viele spätere Studien ziehen. Ein besonderes, wenn auch etwas isoliertes Forschungsfeld ist der historische Jesus, sowohl seine Einstellung zu Kindern als auch seine eigene Kindheit. Nach den Arbeiten ab den späten 1960er Jahren taucht das Interesse an Jesu Einstellung zu Kindern in den Artikeln von Judith M. Gundry-Volf (2000/ 2008) und Bettina Eltrop (2002) wieder auf. 26 Der wichtigste und aktuellste Beitrag zu diesem Thema stammt von A. James Murphy (2013), der einen dekonstruktiven literarischen Ansatz auf die Evangelien anwendet. 27 Murphy kritisiert die Vorstellung, Jesus sei besonders kinderfreundlich gewesen, und vertritt die Ansicht, dass die eschatologische Jesus-Bewegung Spannungen innerhalb der Familien zum Nachteil der Kinder verursachte. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Mar- 24 S. Légasse, Jésus et l’enfant: ‚enfants‘, ‚petits‘ et ‚simples‘ dans la tradition synoptique, Paris 1969; G. Krause (Hg.), Die Kinder im Evangelium, Stuttgart/ Göttingen 1973; H.-R. Weber, Jesus and the Children: Biblical Resources for Study and Preaching, Genf 1979. Zu älteren Arbeiten zur Kindertaufe vgl. O. M. Bakke, When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity, Minneapolis 2005, Kap. 6, v. a. 223-230. Zum Thema des Schwangerschaftsabbruchs vgl. A. Lindemann, ,Do Not Let a Woman Destroy the Unborn Babe in Her Bellyʻ: Abortion in Ancient Judaism and Christianity, StTh 49/ 1995, 253-271. 25 P. Müller, In der Mitte der Gemeinde: Kinder im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1992; W. Strange, Children in the Early Church: Children in the Ancient World, the New Testament and the Early Church, Carlisle 1996. 26 J. M. Gundry-Volf, ,To Such as These Belongs the Reign of Godʻ: Jesus and Children, ThTo 56/ 2000, 469-80; Dies., The Least and the Greatest: Children in the New Testament, in: Bunge, The Child in Christian Thought, 29-60; B. Eltrop, Kinder im Neuen Testament: Eine sozialgeschichtliche Nachfrage, in: Ebner, Gottes Kinder, 83-96. 27 A. J. Murphy, Kids and Kingdom: The Precarious Presence of Children in the Synoptic Gospels, Eugene 2013. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 15 tin Ebner (2002). 28 Ein bemerkenswerter Beitrag zur Kindheit des historischen Jesus stammt von Andries van Aarde (2001), der unter Berücksichtigung psychologischer und sozialer Aspekte behauptet, dass Jesus vaterlos aufgewachsen ist und dass sich diese Erfahrung in seiner Betonung Gottes als seines Vaters und in seinem eigenen Mitgefühl für die sozial Ausgegrenzten widerspiegelt. 29 Im 21. Jh. hat sich die Forschung auf bestimmte Textgruppen (z. B. die Evangelien und die Paulusbriefe), einzelne Schriften (z. B. ein Evangelium), einzelne Perikopen (z. B. Markus 10,13-16) oder auf bestimmte Unterthemen konzentriert. Viel Aufmerksamkeit wurde der Frage der Eltern-Kind-Beziehungen gewidmet, 30 u. a. in der Monographie von Peter Balla zu den Eltern-Kind-Beziehungen im NT und seinen griechisch-römischen und jüdischen Kontexten, wobei der Schwerpunkt auf den Rechten und Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern liegt. 31 Wichtig waren in den letzten zehn Jahren Überlegungen zur Methodik. Hier wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um spezifische kindzentrierte Ansätze für das biblische Material zu entwickeln. In den drei von Julie Faith Parker und Sharon Betsworth (2019), von Shawn W. Flynn (2019) und von Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens (2020) herausgegebenen Bänden sind dies zentrale Anliegen, insbesondere im Band von Garroway/ Martens. 32 Die Sammelbände spiegeln die enge Zusammenarbeit zwischen den exegetischen Disziplinen wider. In einer kürzlich von Parker und Garroway herausgegebenen Sonderausgabe einer Zeitschrift befassen sich mehrere Beiträge auch mit methodischen Fragen. 33 Im Folgenden werde ich näher auf die Frage der Methodik eingehen. 28 M. Ebner, Kinderevangelium oder markinische Sozialkritik? Mk 10,13-16 im Kontext, in: Ders., Gottes Kinder, 315-336. 29 A. van Aarde, Fatherless in Galilee: Jesus as a Child of God, Harrisburg 2001. 30 Vgl. etwa J. W. Martens, Fathers and Daughters in 1 Corinthians 7: 36-38: The Social Implications of Marriage in Early Christian Families, in: Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children, 335-356. 31 P. Balla, The Child-Parent Relationship in the New Testament and Its Environment, Tübingen 2003), dazu die weitere Arbeiten zu Eltern-Kind-Beziehungen von Burke (2003), Aasgaard (2004), Gerber (2005), Gaventa (2007), MacDonald (2008; 2012), McNeel (2014), s.u. 32 Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children; S. W. Flynn (Hg.), Children in the Bible and the Ancient World: Comparative and Historical Methods in Reading Ancient Children, London 2019; K. Henriksen Garroway / J. W. Martens (Hg.), Children and Methods: Listening To and Learning From Children in the Biblical World, Leiden 2020). 33 Biblical Interpretation 28/ 2020, 533-676. 16 Reidar Aasgaard 7.2 Evangelien und die Apostelgeschichte In dem von Marcia J. Bunge herausgegebenen Band von 2008 finden sich Beiträge zu den einzelnen Evangelien, ebenso in einigen Aufsätzen in verschiedenen Monografien. Die umfangreichste und systematischste Darstellung hat Sharon Betsworth vorgelegt (2015), mit Kapiteln zu jedem der kanonischen Evangelien. 34 Sie betrachtet die Evangelien aus soziohistorischer, redaktionskritischer, literarischer und gendertheoretischer Perspektive. 35 Bislang sind drei Monographien zu den synoptischen Evangelien erschienen, die früheste von Bettina Eltrop über Matthäus (1996) zu sämtlichen mt. Passagen, die von Kindern handeln, detailliert zu 18,1-5 und 19,13-15. 36 Ihr Ansatz ist soziohistorisch und feministisch, mit hermeneutischen Überlegungen. Die feministische Perspektive auf Matthäus wird außerdem von Sharon Betsworth in einem Buchkapitel weiterverfolgt. 37 Die zweite von Betsworth vorgelegte Monografie, 38 nun zum MkEv (2010), konzentriert sich auf die Rolle der Töchter, vergleicht die Texte mit den Einstellungen gegenüber Mädchen in griechisch-römischen Quellen und in der Septuaginta und zeigt, dass Markus damit teils übereinstimmt, teils auch davon abweicht, und zwar auf eine Weise, die dazu dient, seine Vorstellungen über das Reich Gottes zu pointieren. Die Artikel von Melanie A. Howard und Anna Rebecca Solevåg befassen sich mit Kindern in Wundergeschichten bei Markus, einem Jungen (9,14-29) und einem Mädchen (7,24-30). Beide analysieren die Texte aus der Perspektive der disabilitiy studies . 39 34 Bei Bunge, The Child in the Bible, wird dies thematisiert von K. J. White (Mt), J. M. Gundry (Mk), J. T. Carroll (Lk), and M. M. Thompson ( Joh). Vgl. auch J. M. Gundry-Volf, The Least and the Greatest: Children in the New Testament, in: Bunge, The Child in Christian Thought, 29-60; J. M. M. Francis, Children and Childhood in the New Testament, in: S. C. Barton (Hg.), The Family in Theological Perspective, Edinburgh 1996, 65-85. 35 S. Betsworth, Children in Early Christian Narratives, London 2015. 36 B. Eltrop, Denn solchen gehört das Himmelreich: Kinder im Matthäusevangelium: Eine feministisch-sozialgeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1996. 37 S. Betsworth, What Child Is This? A Contextual Feminist Literary Analysis of the Child in Matthew 2, in: N. Wilkinson Duran / J. P. Grimshaw (Hg.), Matthew, Minneapolis 2013, 49-64. Eine knappe narratologische Analsyse bietet K. J. White, ,He Placed a Little Child in the Midstʻ: Jesus, the Kingdom, and Children, in: Bunge, The Child in the Bible, 353-74. 38 S. Betsworth, The Reign of God Is Such as These: A Socio-literary Analysis of Daughters in the Gospel of Mark, London 2010. See also J. M. Gundry, Children in the Gospel of Mark, with Special Attention to Jesus‘ Blessing of the Children (Mark 10: 13-16) and the Purpose of Mark, in: Bunge, The Child in the Bible, 143-176. 39 M. A. Howard, Jesus Loves the Little Children: A Theological Reading of Mark 9: 14-29 for Children with Serious Illnesses or Disabilities and Their Caregivers, Word & World 33/ 2013, 275-283; A. R. Solevåg, Listening for the Voices of Two Disabled Girls in Early Christian Literature, in: Laes / Vuolanto, Children and Everyday Life, 290-302. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 17 Das dritte und jüngste Buch (2019) zum LkEv hat Amy Lindeman Allen publiziert. Sie liest die Texte eingehend aus einer kindzentrierten und kindlichen Perspektive, auch mit einem hermeneutischen Interesse an den vielfältigen und aktiven Rollen von Kinder im Evangelium, etwa als Jünger Jesu und als Hörer und Täter von Gottes Wort. 40 John T. Carroll gibt einen Überblick über das lukanische Material, und Nils Krückemeier und Bradly S. Billings konzentrieren sich auf die Passagen über den Jesusknaben im Tempel (2,41-52), mit besonderem Augenmerk auf den literarischen und soziohistorischen Kontext. 41 Die Wahrnehmung von Kindern im synoptischen Spruchgut (Q) wurde außerdem in einer Reihe von Artikeln von A. James Murphy diskutiert. 42 Angesichts der fast unsichtbaren Stellung von Kindern im Johannesevangelium ist es nicht verwunderlich, dass hierüber nur wenig geschrieben wurde. Eine Ausnahme bilden die Aufsätze von Marianne Meye Thompson und Joachim Kügler, jedoch mit Blick auf den metaphorischen Rekurs auf „Kinder“ bei Johannes. 43 Zur Apostelgeschichte liegen nur wenig Studien vor, obwohl Kinder dort einen sichtbareren Platz einnehmen als bei Johannes, freilich weniger als im LkEv. Joel B. Green gibt immerhin einen Überblick über die relevanten Passagen und erörtert die Relevanz des Materials für eine Theologie der Kindheit. 44 Gelegentlich geht auch Diane G. Chen in ihrer Analyse von Gott als Vater in der Apostelgeschichte auf Kinder ein, sei es in einem realen oder metaphorischen Sinn. 45 40 A. Lindeman Allen, For Theirs Is the Kingdom: Inclusion and Participation of Children in the Gospel according to Luke, London 2019. Vgl. auch Dies., ,Theirs is the Kingdomʻ: Children as Proprietors of the Kingdom of God in Luke 18: 15-17, in Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children, 265-290. 41 John T. Carroll, ,What Then Will This Child Becomeʻ: Perspectives on Children in the Gospel of Luke, in: Bunge, The Child in the Bible, 177-194; N. Krückemeier, Der zwölfjahrige Jesus im Tempel (Lk 2.40-52) und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, NTS 50/ 2004, 307-319; B. S. Billings, ,At the Age of 12ʻ: The Boy Jesus in the Temple (Luke 2: 41-52), the Emperor Augustus, and the Social Setting of the Third Gospel, JTS 60/ 2009, 70-89. 42 A. J. Murphy, Children and the Sayings Source Q: What the Double Tradition Reveals about Qʼs Attitude toward Children (Q 11: 19-20; 12: 53; 14: 26; and 17: 1-2), Biblical Interpretation 27/ 2019, 69-90; Ders., The ,Lost Boysʻ (and Girls) of Q’s ,Neverlandʻ, in Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children, 291-310. 43 J. Kügler, ,Denen aber, die ihn aufnamen …ʻ ( Joh 1,12): Die Würde der Gotteskinder in der johanneischen Theologie, in Ebner, Gottes Kinder, 83-96; M. M. Thompson, Children in the Gospel of John, in: Bunge, The Child in the Bible, 195-214. 44 J. B. Green, ,Tell Me a Storyʻ: Perspectives on Children from the Acts of the Apostles, in: Bunge, The Child in the Bible, 215-232. 45 D. G. Chen, God as Father in Luke-Acts, New York 2006. 18 Reidar Aasgaard 7.3 Briefe und Offenbarung Die Paulusbriefe und die Briefe der paulinischen Tradition sind relativ ausführlich behandelt worden, vor allem aus theologischer und soziohistorischer Sicht. Von Beverly Roberts Gaventa und mir selbst gibt es kurze Übersichten und Diskussionen über die sieben unbestrittenen Paulusbriefe. Gaventas Beitrag befasst sich mit der modernen Relevanz, der meinige mit der rhetorischen Funktion. 46 Beide untersuchen u. a. Paulus‘ Verwendung von einschlägigen Metaphern, ein Thema, das die Forschung auch sonst beschäftigt. Christine Gerber (2005) und Trevor J. Burke (2003) behandeln in monographischem Umfang Eltern-Kind-Metaphern, Gerber in eingehenden Analysen von Passagen aus verschiedenen Briefen, Burke speziell zu 1Thess. 47 Ebenfalls monographisch befassen sich Gaventa (2007) und Jenifer Houston McNeel (2014) mit Mutter-Kind-Metaphern, erstere bei Paulus, letztere zu 1Thess. 48 Alle diese Studien bedienen sich metapherntheoretischer und soziohistorischer Ansätze, wobei sie der rhetorischen und theologischen Funktion des Materials große Aufmerksamkeit widmen. Viele von ihnen konzentrieren sich auch auf den hierarchischen Charakter der Eltern-Kind-Beziehung. Im Vergleich zu den umfangreichen Forschungen zu paulinischen Familien- und Kindheitsmetaphern ist die Forschung zur Stellung der Kinder bei Paulus und in seinen Gemeinden eher dürftig. Der Mangel an solchen Studien ist wahrscheinlich der marginalen Rolle von Kindern in den Paulusbriefen geschuldet, mit 1Kor 7,14 als der einzigen ausdrücklichen Erwähnung ist, und dies auch nur am Rande; in einem Buchkapitel befasst sich Judith M. Gundry immerhin mit dieser Stelle. 49 Ganz anders als in den sieben authentischen Briefen werden Kinder in den deuteropaulinischen Briefen (Eph, Kol und 2Thess) und den Pastoralbriefen (1-2Tim und Titus) an vorderster Stelle genannt, vor allem in den Haustafeln (z. B. Kol 3,18-4,1; Eph 5,21-6,9) und ähnlichen Texten, aber auch in verstreuten Ermahnungen zum verantwortungsvollen Umgang mit Kindern (z. B. 1Tim 5; 46 B. R. Gaventa, Finding a Place for Children in the Letters of Paul, in: Bunge, The Child in the Bible, 233-248; R. Aasgaard, Like a Child: Paul’s Rhetorical Uses of Childhood, in: Bunge, The Child in the Bible, 249-277. 47 C. Gerber, Paulus and seine ,Kinderʻ: Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe, Berlin 2005; T. J. Burke, Family Matters: A Socio-historical Study of Fictive Kinship Metaphors in 1 Thessalonians, London 2003; R. Aasgaard, My Beloved Brothers and Sisters! : Christian Siblingship in Paul, London 2004. 48 B. R. Gaventa, Our Mother Saint Paul, Louisville 2007; J. Houston McNeel, Paul as Infant and Nursing Mother: Metaphor, Rhetoric, and Identity in 1 Thessalonians 2: 5-8, Atlanta 2014. 49 J. M. Gundry, Children, Parents, and God/ Gods in Interreligious Roman Households and the Interpretation of 1 Corinthians 7: 14, in Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children, 311-334. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 19 Tit 2,4). Margaret Y. MacDonald hat die umfangreichste und systematischste Analyse dieses Materials vorgenommen (2014). 50 Ihr Schwerpunkt liegt auf der Wahrnehmung von Kindern und Kindheit sowie auf den sozialen und religiösen Funktionen von Kindern in der Familie und in den Hauskirchen. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Identitätskonstruktion und -bildung und zeigt die komplexen familiären und gesellschaftlichen Muster auf, in die Kinder eingebettet waren. Carolyn A. Osiek, Janet H. Tulloch und Margaret Y. MacDonald befassen sich in ihrem Band über Frauen im frühen Christentum (2006) ebenfalls mit diesem Material und widmen Kindern, insbesondere Mädchen, besondere Aufmerksamkeit. 51 In den katholischen Briefen ( Jak; 1-2 Petr; 1-3 Joh; Judas) und im Hebräerbrief geht es um Kinder vor allem in metaphorischer Sprache, wenn die Gläubigen als Kinder angesprochen oder als Kinder Gottes charakterisiert werden, oder wenn Bilder aus dem Bereich der Kindheit Verwendung finden (z. B. Hebr 5,13; 1Petr 1,14; 1Joh 2; 2Joh 1). James M.M. Francis sowie Horn und Martens haben sich neben anderen kurz mit diesem Thema beschäftigt. 52 Für die Offenbarung des Johannes, in der Kinder und Kindheit nur eine marginale Rolle zu spielen scheinen, gibt es nur wenige Arbeiten, mit Ausnahme eines Artikels, in dem Betsworth die Offenbarung aus der Perspektive von Kindern betrachtet. 53 7.4 Einige weiterführende Überlegungen In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Forschung über Kinder und Kindheit im Neuen Testament recht umfangreich geworden. Die Forschungen sind jedoch sehr ungleichmäßig verteilt, wobei den synoptischen Evangelien und den Briefen des Paulus und der paulinischen Tradition die größte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe sind nur in begrenztem Umfang erforscht worden, die Offenbarung des Johannes nur sehr wenig. Der Schwerpunkt lag häufig auf der Familie, den 50 M. Y. MacDonald, A Place of Belonging: Perspectives on Children from Colossians and Ephesians, in: Bunge, The Child in the Bible, 278-304; Dies., Reading the New Testament Household Codes in Light of New Research on Children and Childhood in the Roman World, SR 41/ 2012, 376-387; Dies., The Power of Children: The Construction of Christian Families in the Greco-Roman World, Waco 2014. 51 C. A. Osiek / M. Y. MacDonald / J. H. Tulloch, A Woman’s Place: House Churches in Earliest Christianity, Minneapolis 2006. 52 J. M. M. Francis, Children and Childhood in the New Testament, in: Barton, The Family in Theological Perspective, 65-85; Horn / Martens, Let the Little Children Come to Me. 53 S. Betsworth, The Child Snatched Away: Reading Revelation Through a Childist Lens, Biblical Interpretation 28/ 2020, 658-676. 20 Reidar Aasgaard Generationenhierarchien und der bildhaften Familiensprache, und zwar zunehmend mit einer Perspektive „von unten“. Eine Vielzahl von Methoden wurde auf das Material angewendet: sozio-historische, feministische/ geschlechtsspezifische, metapherntheoretische und begrenzt auch lingusitische Lektüren. Auch andere Ansätze gewinnen zunehmend an Bedeutung, wie im Folgenden erläutert wird. Einige bisher wenig beachtete Bereiche sind hier zu notieren. So sollte beispielsweise die Einstellung des historischen Jesus zu Kindern und zur Kindheit näher untersucht werden. Die traditionelle und weit verbreitete Vorstellung, Jesus sei besonders kinderfreundlich gewesen, ist bisher kaum diskutiert oder gar problematisiert worden, mit Ausnahme des genannten Buches von Murphy. Das Thema ist sowohl historisch, theologisch und hermeneutisch von Bedeutung: Zum einen kann es Auswirkungen auf die vielfach hohe Wertschätzung von Kindern im christlichen Denken haben, zum anderen aber auch auf etablierte Vorstellungen von Jesus. Ein nicht so kinderfreundlicher Jesus könnte aus christologischer Sicht durchaus beunruhigend wirken. Ein weiterer Bereich, dem bisher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist das Material aus Q und den vorsynoptischen Sondergutbeständen: Ist ein Unterschied zwischen diesen Stoffen und den Evangelien, in die sie Eingang gefunden haben, festzustellen? Ein letzter Bereich, der hier zu erwähnen ist, sind die ntl. Schriften, in denen Kinder wenig oder gar keine Rolle zu spielen scheinen: Bedeutet dies zwangsläufig, dass das Thema für das Material irrelevant ist? Oder sollte es umgekehrt als Herausforderung dienen, danach zu fragen, wie Lesarten aus der Perspektive von Kindern für diese Quellen relevant sein können - ähnlich wie es in feministischen Interpretationen geschehen ist? 8 Methodologisches Das Methodenspektrum der Arbeiten zu Kindern und Kindheit in der biblischen Welt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erweitert. Die Forschung hat sich interdisziplinär entwickelt, wie in vielen der oben erwähnten Studien zu sehen ist; Beispiele für eine solche Interdisziplinarität sind bibelwissenschaftliche Kooperationen mit Archäologie, Medizin, Kunstgeschichte und Kulturanthropologie. 54 Freilich war dieses Forschungsthema von Anfang an methodologisch breit aufgestellt. In den unter 7.1 genannten Bänden werden sowohl etablierte wie auch einige neuere Ansätze vorgestellt, diskutiert und an 54 So etwa in einigen Kapiteln in Laes / Vuolanto, Children and Everyday Life. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 21 konkreten Texten ausprobiert. 55 Die Autorinnen und Autoren veranschaulichen, wie solche Ansätze auf die Kindheitsforschung im Allgemeinen mit Blick auf das NT im Besonderen angewendet werden können. Beispiele sind die Kapitel über feministische Studien von Kathleen Gallagher Elkins, über disability studies von Anna Rebecca Solevåg, über Dekonstruktivismus von Murphy und über ritual studies von Betsworth und Martens. 56 Einige andere Ansätze sind in ihrer besonderen Eignung für unser Thema ebenfalls erwähnenswert, etwa die Mikrogeschichte, die es ermöglicht, Alltagssituationen im Leben der Kinder zu konzeptualisieren. Durch das Zusammenfügen von Materialfragmenten aus unterschiedlichen Quellen lassen sich Szenarien entwerfen, die zum Teil fiktiv sind, sich aber dennoch als historisch eindeutig plausibel erweisen. 57 Beispiele hierfür bietet H. Sivan in ihrem Band über Kindheit in jüdischen Kontexten. 58 Von besonderem Interesse ist auch das Paradigma der Intersektionalität im Blick auf das Zusammentreffen von Alter, Klasse, Geschlecht, Status und anderen Faktoren im Leben von Kindern. Dieser Ansatz wird zum Beispiel von M.Y. MacDonald und Marianne Bjelland Kartzow auf das biblische Material angewendet. 59 Mit „Gedächtnis“ bzw. „Erinnerung“ und „Mündlichkeit“ sind weitere Ansätze benannt, die für die historische Kindheitsforschung von offenkundiger Bedeutung sind, bisher jedoch nur wenig Beachtung gefunden haben. Das Glei- 55 Vgl. etwa L. W. Koepf Taylor, Accessing Childhoods: Interdisciplinary Tools at the Intersection of Biblical Studies and Childhood Studies; J. W. Martens, Methodology: Who Is a Child and Where Do We Find Children in the Greco-Roman World? , beide in Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook on Children, 39-64 und 223-244. 56 K. Gallgher Elkins, Feminist Studies as the Mother of Childist Approaches to the Bible, 19-34; A. R. Solevåg, Perspectives from Disability Studies in the Pastoral Epistles, 177- 95; A. J. Murphy, Children in Mark: a Deconstructive Approach, 196-216, alle in Garroway / Martens, Children and Methods; S. Betsworth, Girls and Goddesses: The Gospel of Mark and the Eleusinian Mysteries, 77-93; J. W. Martens, Children and Church: The Ritual Entry of Children into Pauline Churches, 94-114, beide in Flynn, Children in the Bible and the Ancient World. Zum Bereich der disability studies , vgl. auch Howard, Jesus Loves the Little Children; Solevåg, Listening for the Voices of Two Disabled Girls. 57 Im Englischen spricht man hier bisweilen von faction , auch außerhalb der Bibelwissenschaften. 58 Vgl. außerdem O. M. Cojocaru, Byzantine Childhood: Representations and Experiences of Children in Middle Byzantine Society, London/ New York 2021, Kap. 8; R. Aasgaard, Growing up in Constantinople: Fifth-Century Life in a Christian City from a Child’s Perspective, in: Laes / Mustakallio / Vuolanto, Children and Family, 135-167; B. Brooten, Early Christian Enslaved Families, in: Laes / Mustakallio / Vuolanto, Children and Family, 111-134. 59 MacDonald, The Power of Children; M. Bjelland Kartzow, Slave children in the first-century Jesus movement, in: Aasgaard / Horn / Cojocaru, Childhood in History, 111-126. 22 Reidar Aasgaard che gilt für die Männlichkeitsforschung. 60 Gelegentlich haben sich Forschende dem biblischen Material über Kinder aus einer psychologischen Perspektive genähert, aber nur sehr vereinzelt geht es um das Neue Testament. 61 Im Laufe der Jahre hat die Forschung über Kinder und Kindheit in der biblischen Welt selbst zu neuen Entwicklungen in der Methodik beigetragen. Diese lassen sich in zwei Haupttypen einteilen, einen systematisch-synthetischen und einen historisch-analytischen Typ. Ersterer ist enger mit der Hermeneutik verbunden, letzterer mit der Exegese. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sie in einem engen und kontinuierlichen Austausch miteinander stehen. Der erste, traditionellere Typus besteht in der kritischen Reflexion über den Platz der Kinder in der Welt der Bibel, über den historischen Einfluss der Bibel auf das Leben von Kindern und über die Bedeutung und den Wert der Bibel für Kinder. Im Dialog mit der systematischen Theologie wurden im Laufe der Jahre Konzepte einer „Theologie der Kindheit“ entwickelt. Ein älteres Buch von Hans Urs von Balthasar (1988) ist in erster Linie forschungsgeschichtlich von Bedeutung, sofern es das Interesse an der Reflexion über Kinder in der Bibel geweckt hat. 62 Ein neuerer Aufsatz von Walter Brüggemann (2008) verfolgt ein ähnliches Ziel und dient als Anregung, die Sorge um die Kinder auf ein biblisches Verständnis von Gott zu gründen. 63 In einer Monographie entwickelt David Hadley Jensen (2005) eine Theologie der Kindheit auf der Grundlage des Kindes als „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen. 64 Kennzeichnend für die meisten dieser Beiträge ist, dass sie sich mit der Bibel als Ganzer befassen und dass sie sich den Quellen meist aus der Perspektive der Erwachsenen nähern. Etwas anders verhält es sich bei Francis Landy (1997), Danna Nolan Fewell (2003) und Kristin Herzog (2005), die sich kritisch mit dem Material aus der Perspektive moderner 60 S. M. Wilson, Why Hebrew Masculinity Studies and Childhood Studies Have Not Connected, and Why They Should, in: Garroway / Martens, Children and Methods, 35-52. 61 J. L. Berquist, Childhood and Age in the Bible, Pastoral Psychology 58/ 2009, 521-530; S. A. Rogers, The Parent-Child Relationship as an Archetype for the Relationship between God and Humanity in Genesis, Pastoral Psychology 50/ 2002, 377-85. 62 Hans Urs von Balthasar, Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, Ostfildern 1988. 63 W. Brueggemann, Vulnerable Children, Divine Passion, and Human Obligation, in: Bunge, The Child in the Bible, 399-422. Eine gemeinverständliche Einführung in unterschiedliche Themen und Ansätze bietet M. J. Bunge, Christian Understandings of Children: Central Biblical Themes and Resources, in: Dies. (Hg.), Children, Adults, and Shared Responsibilities: Jewish, Christian, and Muslim Perspectives, Cambridge/ New York 2012, 59-78. 64 D. Hadley Jensen, Graced Vulnerability: A Theology of Childhood, Cleveland 2005; vgl. auch W. S. Towner, Children and the Image of God, in: Bunge, The Child in the Bible, 307-321. Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 23 Kinder und ihrer Bedürfnisse und Interessen auseinandersetzen. 65 Joyce Mercer (2005) verbindet eine Theologie der Kindheit mit biblischer Exegese und wendet diese in einem modernen sozialen und religiösen Kontext an. 66 Während Ansätze einer „Theologie der Kindheit“ mindestens seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt wurden, hat die „kindliche ( childist ) Auslegung“ oder „kindliche ( childist ) Interpretationen“ biblischer und anderer antiker, auch nicht-kanonischer Quellen, erst im letzten Jahrzehnt an Boden gewonnen. 67 Dies ist das Ergebnis von Impulsen vor allem aus der allgemeinen Kindheitsforschung und den feministischen Studien, aber auch von Ansätzen innerhalb der Bibelwissenschaften selbst, wie der Redaktionskritik. Mehr noch als den Theologien der Kindheit liegt dieser Richtung daran, in enger Fühlung mit den Texten die Welt aus der Perspektive der Kinder selbst zu betrachten. Eine Monographie von Joseph Colle Grassi ist ein früher Beitrag (1991) hierzu. 68 In jüngerer Zeit haben Julie Faith Parker (2013) und auch Sharon Betsworth (2015) Verfahren für eine kindgemäße Auslegung von Bibelstellen entwickelt. 69 So entwickelt Parker beispielsweise ein spezifisches sechsstufiges exegetisches Verfahren für eine solche Auslegung. In einleitenden Artikeln geben Parker und Kathleen Gallagher Elkins sowie Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens einen Überblick über diese Ansätze. 70 Darüber hinaus analysiert Danna Nolan Fewell in ihrer Monographie (2003) das biblische Material aus der Perspektive der Handlungsfähigkeit von Kindern, und ich selbst entwickele in einem Kapitel spezifische Kriterien, um sich der Lebenswirklichkeit und dem kulturellen Umfeld von Kindern in der Antike anzunähern. 71 Mehrere Kapitel in einem von Christian Laes und Ville Vuolanto herausgegebenen Band enthalten ebenfalls 65 F. Landy, Do We Want Our Children to Read This Book? , in: D. N. Fewell / G. A. Phillips (Hg.), Bible and Ethics of Reading, Atlanta 1997, 157-176; D. N. Fewell, The Children of Israel: Reading the Bible for the Sake of Our Children, Nashville 2003; K. Herzog, Children and Our Global Future: Theological and Social Challenges, Cleveland 2005. 66 J. Mercer, Welcoming Children: A Practical Theology of Childhood, Saint Louis 2005. 67 Einige Forschende bevorzugen „kindzentriert“ ( child-centered ) statt „kindlich“ ( childist ). 68 J. Colle Grassi, Children’s Liberation: A Biblical Perspective, Collegeville 1991. 69 Parker, Valuable and Vulnerable, v. a. 77 f; Betsworth, Children in Early Christian Narratives. 70 J. F. Parker / K. Gallagher Elkins, Children in Biblical Narrative and Childist Biblical Interpretation, in: D. N. Fewell (Hg.), The Oxford Handbook of Biblical Narrative, New York 2016, 422-433; K. Henriksen / J. W. Martens, Introduction: the Study of Children in the Bible: New Questions or a New Method? , in: Dies. / Martens, Children and Methods, 1-16. 71 Fewell, The Children of Israel; R. Aasgaard, How Close Can We Get to the Roman Child? Reflections on Methodological Achievements and New Advances, in: Laes / Vuolanto (Hg.), Children and Everyday Life, 321-334; vgl. auch Ders., The Childhood of Jesus, v. a. Kap. 7 und 12. 24 Reidar Aasgaard Ansätze, die zur Entwicklung kindlicher Interpretationen beitragen. 72 Erkennbar beziehen sich Theologien der Kindheit und kindertheologische Konzepte nicht auf spezifische, klar definierte Konzepte; vielmehr dienen sie als Überbegriffe für Ansätze, die auf unterschiedliche Weise Kinder und ihre Lebensbedingungen, Rollen, Funktionen und Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellen. In Anbetracht der vielen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte ist die Zeit vielleicht reif für eine systematischere Reflexion und auch für Versuche einer theologischen Synthese des Denkens über Kinder und Kindheit in der Bibel und insbesondere im NT. 9 Schlussbetrachtungen und Zukunftsperspektiven In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Erforschung von Kindern und Kindheit in der biblischen Welt stetig zugenommen und sich als ernsthaftes wissenschaftliches Forschungsgebiet etabliert, ähnlich wie andere Bereiche der Bibelwissenschaft und andere Disziplinen. Diese Forschung wird weltweit und in vielen Sprachen betrieben, insbesondere in Nordamerika, England, den skandinavischen Ländern und einigen anderen europäischen Ländern, aber auch in Asien und Afrika. 73 Sie formuliert immer neue Forschungsfragen und erschließt immer besser die antiken Quellen. Sie ist auch methodisch gereift und hat ein eigenes Profil und eigene Anliegen entwickelt. Gegenwärtig sind weitere Studien in Arbeit, die einen reichen Ertrag an Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien erwarten lassen. 74 Wie bereits angedeutet, ist weitere Arbeit an den Quellen erforderlich, und eine Reihe von Fragen muss weiter diskutiert werden. Einige dieser Fragen habe ich bereits angesprochen, sodass hier nur noch einige abschließende Vorschläge für das Studium des NT folgen. Zum Beispiel haben Teile des NT, insbesondere die katholischen Briefe und die Offenbarung, bisher nur begrenzte Aufmerksamkeit erhalten, ebenso wie die neutestamentlichen Apokryphen und andere christliche Werke des 1. bis 3. Jh.s. 75 Auch neutestamentliche Schriften, die sich nicht explizit mit Kindern befassen, können von erheblichem Interesse sein, wie 72 Laes / Vuolanto, Children and Everyday Life. Für reflektierte kind-zentrierte Interpretationen vgl. auch Koepf Taylor, Give Me Children; Allen, For Theirs in the Kingdom. 73 Viele Forschende beteiligen sich an Netzwerken innerhalb der Sektionen Children in the Biblical World und Families and Children in the Ancient World der Society of Biblical Literature . 74 Hierzu K. Henriksen Garroway, Conclusions: the Childist Criticism of the Future, in: Garroway / Martens, Children and Methods, 217-228. 75 Vgl. aber in Betsworth / Parker, T&T Clark Handbook of Children, die Beiträge von T. Burke, Travelling with Children: Flight Stories and Pilgrimage Routes in the Apocryphal Kinder und Kindheit im Neuen Testament und seiner Welt 25 z. B. das Johannesevangelium. Frühere Anläufe etwa der feministischen Exegese, sich mit diesen Schriften zu befassen, können orientierend sein. Gegenwärtig wächst auch das Interesse an der Erforschung der Jugend in der antiken Welt, unabhängig davon, ob man sie als eine besondere Phase der Kindheit oder als eine eigene Lebensphase betrachtet. Auch hier eröffnen sich neue Forschungsfelder. 76 Üblicherweise tendiert man in der Forschung, auch in der Erforschung des NT dazu, Kinder mit anderen marginalisierten Gruppen wie Frauen, Sklaven und alten Menschen in Verbindung zu bringen und eine Art Gemeinsamkeit oder sogar Harmonie der Interessen dieser Gruppen vorauszusetzen. Gewiss gibt es tatsächlich gemeinsame Anliegen, aber wie man aus einem intersektionalen Ansatz lernen kann, sind auch Konflikte möglich. So wie sich die Perspektiven von Kindern oft stark von denen männlicher Erwachsener unterscheiden, sollten sie sich auch von denen weiblicher Erwachsener unterscheiden. Auch hier ist eine Hermeneutik des Verdachts erforderlich: Die Interessen von Kindern, seien es die von Mädchen und/ oder Jungen, sollten als anders als die von Frauen betrachtet werden. In Studien über Eltern-Kind-Beziehungen beispielsweise wird den Anliegen der Erwachsenen oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt als denen der Kinder. Man sollte auch auf die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kategorien von Kindern achten, wobei die jüngsten Arbeiten der disability studies zu Kindern in dieser Hinsicht aufschlussreich sind. 77 Ein Thema schließlich, das noch stärker diskutiert werden müsste, ist die Frage nach Kontinuitäten und Veränderungen im Laufe der Zeit, sowohl in der Wahrnehmung der Kindheit als auch in den Lebensbedingungen der Kinder selbst. Dies gilt natürlich für den fast tausendjährigen Zeitraum, den die Schriften des AT abdecken, auf seine Weise aber auch aber auch für das NT. Was kann zum Beispiel über den historischen Jesus gesagt werden: Was war charakteristisch für seine Beziehung zu Kindern, wenn es eine solche denn gab? Hat sich die Einstellung zu und der Umgang mit Kindern von Jesus hin zu den frühen Christen verändert? Und wie unterschied sich das frühe Christentum im Vergleich zu seinem jüdischen und griechisch-römischen Kontext in seinen Vorstellungen über die Kindheit sowie über die Rolle und den Status von Kindern? Infancy Gospels (379-398) und A. R. Solevag, Absence and Presence of Children in the Apocryphal Acts (359-378). 76 Hierzu u. a. C. Laes / J. Strubbe, Youth in the Roman Empire: The Young and the Restless Years? , Cambridge 2014. 77 Auch die sich rasch entwickelnde Textkritik - vgl. hierzu etwa T. Wasserman / P. J. Gurry, A New Approach to Textual Criticism: An Introduction to the Coherence-Based Genealogical Method, Atlanta/ Stuttgart 2017 - ist für unser Thema von Interesse: In den Evangelien erweist sich zumal die Nennung von „Kindern“ in Weglassungen oder Hinzufügungen in den Handschriften als textkritisch fluid. 26 Reidar Aasgaard Solche Fragen sind gewiss nicht neu und können auch nicht endgültig beantwortet werden. Aber mit vielen neuen Forschungsergebnissen, neuen Erkenntnissen und neuen methodischen Ansätzen können und sollten solche und ähnliche Fragen kontinuierlich untersucht werden. Um der neutestamentlichen Forschung willen. Um der Welt willen, in der wir heute leben. Und um der kleinen Stimmen der Vergangenheit und der Gegenwart willen - der Kinder selbst.