eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen

2021
Albertina Oegema
Annette Merz
Zum Thema Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen Albertina Oegema und Annette Merz 1 Einführung In diesem Artikel untersuchen wir, wie Kinder in ausgewählten ntl. und rabbinischen Gleichnissen als Handelnde dargestellt werden und fragen, was diese Darstellung von Kindern als handelnde Subjekte theologisch bedeutet. Zugrunde liegt dieser Untersuchung das sozialwissenschaftliche Konzept der agency , das sich durch Begriffe wie Handlungsmächtigkeit, Einflussvermögen, Selbstwirksamkeit in Interdependenz umschreiben lässt. Agency als Analyseinstrument hat in verschiedenen Disziplinen breite Akzeptanz gefunden, auch im Studium der Kindheit. Theologisch rührt die Frage nach menschlicher agency immer direkt an die Gott-Mensch-Beziehung, an theologische Debatten um göttliche Vorsehung, Allmacht und die Rolle des menschlichen Willens. Das Faszinierende an Gleichnissen ist, dass sie Geschichten, Beziehungen und Handlungsmuster des täglichen Lebens verwenden, um zum Nachdenken über solche Fragen von transzendenter Tragweite anzuregen. Ntl. und rabbinische Gleichnisse schöpfen aus demselben Pool frühjüdischer mündlicher Erzähltraditionen, weisen große Übereinstimmungen in der formalen Gestaltung auf und sind auch theologisch oft nah verwandt. Ein Gleichnis hat zwei Gesichter: es handelt sich um eine autonome Erzählung mit eigen- Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 28 Albertina Oegema und Annette Merz ständigem Sinnpotential und um ein rhetorisches Element innerhalb eines literarischen Zusammenhangs der die Interpretation (mit-)steuert. Während ntl. Gleichnisse ihren Platz in Dialogen zwischen Jesus, seinen Jüngern, dem Volk oder der jüdischen Führung haben, sind rabbinische Gleichnisse meist Teil eines Midrasch, der rabbinischen Bibelauslegung. Ihre zweiteilige Struktur besteht aus einer Erzählung ( mashal proper ) und einer Anwendung ( nimshal ), in der die Verbindung zum biblischen Text explizit gemacht wird und die Interpretation weitergeführt wird. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf Gleichnisse aus dem LkEv und aus zwei rabbinischen Schriften, Sifre Deuteronomium und Mekhilta Deuteronomium. Die letztgenannten Schriften wurden im 3./ 4. Jh. n. Chr. zusammengestellt und enthalten Midraschim über das biblische Buch Deuteronomium. Wir skizzieren zunächst den Stand der Forschung zu Kindern im Judentum im Rahmen antiker Kindheitsstudien (2.) und beschreiben dann das Konzept der agency (3.), um danach die agency von Kindern in je zwei ntl. und rabbinischen Gleichnissen zu beleuchten (4.-5.) und theologisch zu bewerten (6.). 2 Zum Stand der Forschung zu Kindern im antiken Judentum Da die Geschichte der Kinder- und Kindheitsforschung im NT in diesem Band durch den Artikel von Reidar Aasgaard dokumentiert wird, 1 konzentrieren wir uns auf den Stand der Forschung zu Kindern im antiken Judentum. Verglichen mit der ntl. Kindheitsforschung steht die Erforschung jüdischer Kinder in der Antike noch in den Anfängen. 2 Die erste substanzielle Auseinandersetzung mit der jüdischen Kindheit in der Spätantike legte Leopold Löw in Die Lebensalter in der jüdischen Literatur (1875) vor. 3 Weitere Übersichten über die jüdische Kindheit folgten, wobei als bahnbrechende und umfassendste dieser Veröffentlichungen William Feldmans The Jewish Child. Its History, Folklore, Biology, and Sociology (1917) genannt werden sollte. 4 Danach erschienen erst ab Mitte der 1970er Jahre neue Publikationen mit verschiedenen Schwerpunkten, stimuliert durch die psychologische und medizinische Erforschung von Kin- 1 Siehe dazu den Beitrag von R. Aasgaard unter der Rubrik „NT aktuell“ in diesem Heft. 2 Siehe mit ausführlicher bibliographischer Dokumentation A. Oegema, Negotiating Paternal Authority and Filial Agency. Fathers and Sons in Early Rabbinic Parables, PhD diss., Utrecht University, 2021, 103-152. 3 L. Löw, Beiträge zur jüdischen Alterthumskunde. Bd. 2: Die Lebensalter in der jüdischen Literatur. Von physiologischem, rechts-, sittenu. religionsgeschichtlichem Standpunkte betrachtet, Szegedin 1875. 4 W. M. Feldman, The Jewish Child. Its History, Folklore, Biology, and Sociology, London 1917. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 29 dern, gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf die jüdische Familie in den westlichen Gesellschaften und das neue Studiengebiet historischer Forschung über die Familie als gesellschaftliche Institution im Gefolge der einflussreichen Monographie Lʼenfant et la vie familiale sous lʼancien régime (1960) von Philippe Ariès. 5 Hervorhebung verdient Shaye Cohens Sammelband The Jewish Family in Antiquity (1993), in dem drei Artikel den jüdischen Eltern-Kind-Beziehungen gewidmet waren, wobei einerseits Ähnlichkeiten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Familienbeziehungen hervortreten und andererseits die Vielfalt von Familienrealitäten in Abhängigkeit von sozialen, wirtschaftlichen und schichtspezifischen Rahmenbedingungen deutlich wird. 6 5 Siehe Oegema, Paternal Authority, 113-132. Die obengenannte Studie von P. Ariès (Paris 1960) erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel Geschichte der Kindheit, München 1975. 6 S. J. D. Cohen (Hg.), The Jewish Family in Antiquity (BJS 289), Atlanta 1993, darin: O. L. Yarbrough, Parents and Children in the Jewish Family of Antiquity (39-59); A. Reinhartz, Prof. Dr. Annette Merz, geb. 1965, studierte Theologie in Münster und Heidelberg, wo sie 2001 mit einer Arbeit zur frühchristlichen Pseudepigraphie promoviert wurde und zusammen mit Gerd Theissen ein Lehrbuch zum historischen Jesus verfasste. Seit 2003 forscht und lehrt sie in den Niederlanden, zunächst an der Universität Utrecht, seit 2014 als Ordinaria für Neues Testament an der Protestantisch Theologischen Universität Groningen/ Amsterdam. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind historische Jesusforschung (insbesondere Wunder und Parabeln), Paulus in nachpaulinischer Zeit (apokryphe Paulusakten und paulinische Pseudepigraphie), Bibliodrama und Exegese. Dr. Albertina Oegema, geb. 1989, studierte Theologie in Groningen (BA 2010; ReMA 2013 beide mit Auszeichnung) und wurde 2021 in Utrecht mit Auszeichnung promoviert. Derzeit ist sie Postdoktorandin in Judaistik an der Protestantisch Theologischen Universität, Amsterdam/ Groningen und Dozentin für Neues Testament und Koine-Griechisch an der Radboud Universität, Nijmegen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Vater-Sohn Beziehungen, Kindheit, Alter und Männlichkeit im Neuen Testament / frühen Christentum und in der rabbinischen Literatur. 30 Albertina Oegema und Annette Merz Seit den 2010er Jahren besteht ein anhaltendes wissenschaftliches Interesse an der jüdischen Familie und der jüdischen Kindheit in der Spätantike, den größten theoretischen und methodischen Fortschritt brachte die Veröffentlichung von Hagith Sivans Monographie Jewish Childhood in the Roman World (2018). 7 Sivan untersucht rabbinische Konstruktionen jüdischer Kindheit, analysiert die Bildsprache und Epigraphik von Kindern in spätantiken Synagogen und konstruiert auf Grundlage historischer Daten vier fiktive Autobiographien jüdischer Kinder, die an verschiedenen Orten im antiken Mittelmeerraum leben. Mit dieser kreativen Form narrativer Historiographie ( faction ) bietet sie eine innovative Methode, sich die Erfahrungen von Kindern aus ihrer eigenen Perspektive vorzustellen. Die Hinwendung zur eigenen Perspektive der Kinder wird in Albertina Oegemas „Negotiating Paternal Authority and Filial Agency. Fathers and Sons in Early Rabbinic Parables“ (2021) weiter akzentuiert. Um die Dynamik von Vater-Sohn-Beziehungen in frührabbinischen Gleichnissen zu analysieren, verwendet sie das Konzept der agency und untersucht, auf welche Weisen Söhne mit ihren Vätern interagieren. Ihre Studie zeigt, dass Kinder nicht nur davon beeinflusst werden, wie ihre Väter ihre Männlichkeit, Autorität und Ehre zum Ausdruck bringen, sondern auch selbst Einfluss auf sie ausüben können. 3 Agency 8 Aufbauend auf Oegemas Untersuchung will die vorliegende Studie dazu beitragen, das Gebiet der ntl. Kindheitsstudien methodisch und theoretisch zu verfeinern, indem das Konzept kindlicher agency weiterentwickelt wird. Die kürzlich veröffentlichten Bände T&T Clark Handbook of Children in the Bible and the Biblical World (2019) und Children and Methods (2020) zeigen, dass neutestamentliche WissenschaftlerInnen sich zunehmend konzentrieren auf die Perspektive und die agency von Kindern. Im T&T Clark Handbook wird „childist biblical interpretation“ als neue Methode etabliert, die zum Ziel hat, von der agency von Kindern auszugehen und ihre Rolle und Wirkung in biblischen (inkl. apokryphen) Texten neu zu bewerten. 9 Children and Methods nennt den Parents and Children. A Philonic Perspective (61-88), R. S. Kraemer, Jewish Mothers and Daughters in the Greco-Roman World (89-112). 7 H. Sivan, Jewish Childhood in the Roman World, Cambridge 2018. Sivan war Mitarbeiterin im norwegischen Forschungsprojekt „Tiny Voices from the Past. New Perspectives on Childhood in Early Europe“ (2013-2017) unter Leitung von R. Aasgaard. 8 Der folgende Abschnitt über das Konzept von agency basiert auf Oegema, Paternal Authority, 60-66. 9 S. Betsworth / J.F. Parker (Hg.), T&T Clark Handbook of Children in the Bible and the Biblical World, London 2019. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 31 eigenen Zugang childist criticism , hier werden die literarischen und soziohistorischen Ansätze der childist biblical interpretation durch neue Methoden erweitert mit dem Ziel, Kindern in literarischen, epigraphischen und anderen materiellen Quellen ihre agency und ihre Stimme (zurück) zu geben. 10 Doch reflektieren die AutorInnen beider Bände kaum über das Konzept agency selbst. Sie verwenden das Wort als Synonym für die Handlungsfähigkeit eines Kindes. Etablierte wissenschaftliche Einsichten über agency aus anderen Disziplinen erfordern jedoch, nicht nur zu beschreiben, was Kinder tun, sondern darüber hinaus auch zu erklären, warum sie - in Abhängigkeit von und im Zusammenspiel mit den sozialen Strukturen ihrer Umgebung - tun, was sie tun und wie sie in ihrem Tun die sozialen Strukturen ihrer Umgebung beeinflussen können. Was also ist agency ? Der Begriff wurde in den Sozialwissenschaften und der Philosophie entwickelt und hat inzwischen in verschiedenen Disziplinen breite Akzeptanz gefunden. In diesem Abschnitt konzentrieren wir uns auf zwei Elemente der Konzeptualisierung von agency , die für unsere vergleichende Untersuchung von Kindern in ntl. und frühen rabbinischen Gleichnissen relevant sind. Zum ersten machen wissenschaftliche Definitionen von agency , wie etwa die der Soziologen Mustafa Emirbayer und Ann Mische, deutlich, dass agency nicht nur in der Handlungsfähigkeit eines Individuums besteht, sondern sich immer auf das Zusammenspiel zwischen den Handlungsmöglichkeiten dieses Individuums und den umgebenden sozialen Strukturen unter bestimmten gegebenen (historisch veränderlichen) Herausforderungen bezieht, wobei die Macht eingeschliffener Gewohnheiten, aber auch die Fähigkeit, sich Handlungsfolgen vorzustellen und Urteilsfähigkeit wichtige Komponenten sind. 11 Die zentrale Bedeutung des Zusammenspiels in soziologischen und anthropologischen Definitionen von agency hat dazu geführt, dass Wissenschaftler der modernen Kindheit die aktive Rolle von Kindern in ihren Wachstums- und Lernprozessen und in der Weise, wie sie mit sozialen, kulturellen, rechtlichen, physischen und wirtschaftlichen Strukturen umgehen, betonen. 12 Althistoriker wiederum ver- 10 K. Henriksen Garroway / J.W. Martens (Hg.), Children and Methods. Listening to and Learning from Children in the Biblical World (BSJS 67), Leiden 2020 und darin K. Henriksen Garroway, Conclusions. The Childist Criticism of the Future, 217. 11 M. Emirbayer / A. Mische, What Is Agency? , AJS 103/ 1998, 962-1023. 12 S. J. T. M. Evers / C. Notermans / E. van Ommering, Ethnographies of Children in Africa. Moving beyond Stereotypical Representations and Paradigms, in: S. J. T. M. Evers / C. Notermans / E. van Ommering (Hg.), Not Just a Victim.The Child as Catalyst and Witness of Contemporary Africa (ASCS 20), Leiden 2011, 3-5, 12-16. 32 Albertina Oegema und Annette Merz wendeten das Konzept, um die „schwachen Stimmen“ der Kinder hörbar zu machen und etwas vom Reichtum der alltäglichen Kinderkultur zu erschließen. 13 Als zweiter wichtiger Aspekt des Konzepts ist zu benennen, dass agency viele Formen von Handeln umfasst. Agency kann gleichermaßen darauf gerichtet sein, soziale Strukturen zu reproduzieren als auch ihnen Widerstand entgegen zu setzen oder sie zu transformieren. So betonen Wissenschaftlerinnen, die sich mit den Handlungsmöglichkeiten von Frauen in geschlechtertraditionellen Religionen befassen, dass agency nicht nur mit Widerstand und Subversion gleichgesetzt werden sollte. 14 Sie beschreiben verschiedene Formen, die von strenger Regelkonformität bis zu aktivem Widerstand reichen. In unserer Analyse der Agency eines Kindes in neutestamentlichen und frühen rabbinischen Gleichnissen richten wir uns auf die grundlegende soziale Struktur väterlicher Autorität und verwenden die folgende Definition von agency : Die agency eines Sohnes/ einer Tochter besteht aus den verschiedenen Modalitäten von Handeln, Sprechen, Denken und Emotionen, mit denen ein Sohn/ eine Tochter mit seinem/ ihrem Vater interagiert unter den durch die Ausübung der Autorität des Vaters auferlegten und eröffneten Möglichkeiten und Grenzen. Während der Verweis auf Handlung, Sprache, Denken und Emotion die vielfältigen Möglichkeiten beschreibt, wie agency von Söhnen und Töchtern in Gleichnissen ausgeübt werden kann, deckt der Bezug auf die Interaktion mit dem Vater das Zusammenspiel zwischen der agency eines Kindes und den sozialen Strukturen in seiner Umgebung ab. Mit dieser Definition können wir analysieren, wie die agency von Kindern diesen Gleichnissen zufolge durch die Ausübung der Autorität ihres Vaters geprägt ist und diese ihrerseits prägt. In den nächsten beiden Abschnitten wollen wir zwei Aspekte kindlicher agency näher untersuchen. Zunächst richten wir uns auf den vom Vater im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen eröffneten Handlungsspielraum. Die Gleichnisse vom bittenden Sohn (Lk 11,11-13) und von den verhungernden Kindern und Sklaven (Sifre Deuteronomium 40) beleuchten zwei unterschiedliche Realisierungen auf Basis einer vergleichbaren Ausgangssituation. Dann widmen wir uns dem Aspekt der Interaktion und wechselseitigen Beeinflussung von Vater 13 C. Laes / V. Vuolanto, A New Paradigm for the Social History of Childhood and Children in Antiquity, in: C. Laes / V. Vuolanto (Hg.), Children and Everyday Life in the Roman and Late Antique World, London 2017, 4f. 14 S. Mahmood, Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject, Princeton 2005, 5-10, 153-154, 167-174; O. Avishai, „Doing Religion“ in a Secular World. Women in Conservative Religions and the Question of Agency, GenSoc 22/ 2008, 410-413, 420-422, 429. Siehe auch K. C. Burke, Women’s Agency in Gender-Traditional Religions. A Review of Four Approaches, SocComp 6/ 2012, 123-129. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 33 und Kindern, wobei die Gleichnisse vom Vater und seinen zwei Söhnen (Lk 15,11-32) und vom König und seiner untreuen Tochter (Mekhilta Deuteronomium 1,11) im Zentrum der Analyse stehen. 4 Agency von Kindern im Rahmen der vom Vater eröffneten Möglichkeiten: Lukas 11,11-13 und Sifre Deuteronomium 40 Das Gleichnis vom bittenden Sohn steht bei Lukas im Kontext eines Abschnitts, in dem Jesus seinen Jüngerinnen und Jünger Anweisungen über das Bitten gibt (Lk 11,1-13). Er lehrt sie ein tägliches Gebet, eine kurze Version des Vaterunsers (11,2-4), und ermutigt sie mit dem Gleichnis vom bittenden Freund, ohne Scheu vor Abweisung zu bitten (11,5-8). Dies unterstreicht er durch ein dreifaches Verheißungswort über Bitten/ Empfangen, Suchen/ Finden und Anklopfen/ Geöffnet werden (11,9-10). Den Höhepunkt dieses Abschnitts formt ein in Frageform gekleidetes kurzes Gleichnis (11,11-13): „Welchen Vater unter euch wird sein Sohn um einen Fisch bitten und er wird ihm anstelle des Fisches eine Schlange geben? Oder wenn er ihn um ein Ei bitten wird, ihm einen Skorpion geben? Wenn nun ihr, die ihr schlecht seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird der Vater aus dem Himmel denen den heiligen Geist geben, die ihn darum bitten.“ Dieses Gleichnis weist mehrere redaktionelle Veränderungen gegenüber der aus dem Vergleich mit der Matthäusvariante zu erschließenden Fassung der Logienquelle auf. 15 Während Q von einem Menschen ( anthrōpos ) spricht und damit den Vergleich Gottes mit Vater und Mutter ermöglicht, hat Lukas den Text auf den Vater zugespitzt und betont damit die patriarchalen Rahmenbedingungen der imperialen römischen Kultur. Dem pater familias stand das Recht zu, über Leben und Tod seiner Kinder zu entscheiden (das ius vitae necisque ). 16 Allerdings bestand daneben auch das kulturelle Konzept der gegenseitigen pietas , die tyrannischer Ausübung der patria potestas entgegenwirkte. 17 Im jüdischen Kontext zeigt die rabbinische Diskussion um die Unterhaltspflicht des Vaters, wie fundamental diese patriarchalische Rolle des Vaters in seinem Haus war. Tannaitische 15 Siehe C. Gerber, Bitten lohnt sich (Vom bittenden Kind) - Q 11,9-13 (Mt 7,7-11 / Lk 11,9-13), in: R. Zimmermann et al. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 119-125. 16 Dieses Recht illustriert ein antiker Brief, in welchem ein Soldat seiner schwangeren Frau befiehlt, das Neugeborene aufzuziehen, wenn es ein Junge ist, ein Mädchen aber auszusetzen (P.Oxy. 744). 17 R. P. Saller, Pietas, Obligation and Authority in the Roman family, in: P. Kneissl / V. Losemann (Hg.), Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Darmstadt 1988, 393-410. 34 Albertina Oegema und Annette Merz Rabbinen sind sich nicht einig, ob ein Vater rechtlich oder moralisch verpflichtet ist, für seine Kinder zu sorgen (z. B. mKet 4,6.11; tKet 4,8). Erzählungen aus dem Talmud (yKet 4,8, 28d; bKet 49ab) zeigen, dass die Rabbinen von einzelnen Vätern herausgefordert wurden, die sich weigerten, ihre Kinder zu ernähren. Die väterliche Autorität scheint so umfassend gewesen zu sein, dass die Rabbinen Schwierigkeiten hatten, sie im Bereich der Kinderversorgung einzuschränken. 18 Unser Gleichnis setzt dieses Recht zwar voraus, betont aber die alltägliche Erfahrung, dass Bitten von Kindern um tägliche Versorgungsgüter kaum auf grausame oder schädigende Weise beantwortet werden. Die theologische Deutung des Gleichnisses in V. 13 geht einen Schritt weiter und setzt als Normalfall voraus, dass die Angesprochen ihren Kindern „gute Gaben“ geben, also die Bitte um Essbares im Allgemeinen positiv beantworten. Die Alltagserfahrung, dass Menschen trotz ihres tief verankerten Potentials zum Schlechten ihren Kindern regelmäßig Gutes tun, 19 ermöglicht die Schlussfolgerung a malo ad bonum , dass Gott, der im Wesen gut ist, sicher sich den Bitten von Menschen nicht verschließt. Der Handlungsspielraum des Sohnes im Gleichnis wird klar definiert durch ein restriktives, potentiell todbringendes Recht des Vaters, Speise zurückzuhalten oder schädigende Güter zu servieren und ist auf das Äußern einer Bitte beschränkt. Mit dieser Bitte honoriert der Sohn die im Rahmen antiker Sozialstrukturen unbestrittene Autoritätsposition seines Vaters. In der Anwendung erkennen Menschen Gottes Macht an, die erbetenen materiellen und nichtmateriellen Güter zu schenken oder zurückzuhalten, zugleich ermutigt die in Aussicht gestellte positive Antwort die Zuhörenden, ihren begrenzten Handlungsspielraum zu benutzen. 20 Im rabbinischen Gleichnis von Sifre Deuteronomium 40 wird die Handlungsfähigkeit des Kindes ebenfalls durch die restriktive Autorität des Vaters bezüglich der Versorgung mit Nahrungsmitteln definiert. Das Gleichnis ist Teil eines Midrasch zu Dtn 11,11-12: „Und das Land, das ihr durchquert, um es zu erben, ist … ein Land, um das sich JHWH, dein Gott, kümmert; die Augen JHWHs, deines Gottes, sind immer darauf gerichtet, vom Jahresanfang bis zum Jahresende.“ 18 Mehr hierzu bei Oegema, Paternal Authority, 186-195. 19 Kann man empirisch klären, ob der Mensch im Grunde schlecht und nur ausnahmsweise zum Guten imstande oder im Grunde gut, aber zum Schlechten verführbar ist? Siehe R. Bregman, Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, Rowohlt Verlag, 10 2020. 20 Die Nennung des Heiligen Geistes in V. 13b geht auf das Konto der lukanischen Redaktion. In Q stand vermutlich, wie in Mt 7,11, agatha (Gutes). Gerber, Bitten, 124 vermutet, dass Lukas mit der Geistverleihung eine innerhalb des lukanischen Geschichtswerkes verifizierbare Zusage einfügt. Die eher genannten Güter (tägliches Brot, Sündenvergebung etc.) darf man einschließen. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 35 Nachdem der vorangegangene Midrasch gezeigt hat, dass Gott sich nicht nur um das Land kümmert, sondern es auch verfluchen kann, folgt das Gleichnis: „R. Shimon ben Yohai sagt: Ein Gleichnis. Es ist wie ein König, der viele Kinder und Sklaven hatte. Sie wurden von seiner Hand erhalten und versorgt und die Schlüssel des Vorratshauses [waren in seiner Hand]. 21 Wann immer sie seinen Willen taten, öffnete er das Vorratshaus und sie aßen und wurden satt. Aber wenn sie seinen Willen nicht taten, [verschloss] 22 er das Vorratshaus und sie starben vor Hunger. Ebenso Israel: Wenn sie den Willen des Ortes 23 taten, ,wird JHWH für dich sein gutes Vorratshaus öffnen [den Himmel, um den Regen deines Landes zu seiner Zeit zu geben]ʻ (Dtn 28,12). Aber wenn sie seinen Willen nicht taten, was steht da? ,Und der Zorn JHWHs wird gegen euch entzündet [und er wird die Himmel verschließen, damit kein Regen mehr wird und das Land keinen Ertrag bringt. Und ihr werdet schnell umkommen (und verschwinden) aus dem guten Land, das JHWH euch gegeben hat]ʻ (Dtn 11,17).“ Die Gleichniserzählung beschreibt die absolute Autorität eines Königs, seine zahlreichen Kinder und Sklaven zu ernähren. Er ist derjenige, der die Schlüssel des Vorratshauses in der Hand hat. Wenn die Kinder und Sklaven den Willen des Königs tun, öffnet er das Vorratshaus, sodass sie essen können und satt werden. Wenn sie seinen Willen nicht tun, schließt er das Lagerhaus, sodass sie verhungern. In der Deutung repräsentiert der König Gott, die Kinder und Sklaven stehen für Israel, das Vorratshaus für den Himmel und die Regenversorgung. Auf der Grundlage von zwei Beweistexten (Dtn 11,17 und Dtn 28,12) wird argumentiert, dass Gott Israels Gehorsam belohnt, indem er die himmlischen Lagerhäuser öffnet, während er sie bestraft, indem er keinen Regen vom Himmel spendet. Genau wie für die Kinder und Sklaven in der Erzählung des Gleichnisses ist die Bereitstellung oder das Zurückhalten von Regen für Israel eine Frage von Leben und Tod. Mehr als das Gleichnis vom bittenden Sohn zeigt das Gleichnis in Sifre Deuteronomium 40, wie die restriktive Ausübung der Autorität eines Vaters tödliche Folgen haben kann. Da die Kinder sterben, wenn der König sein Lager abschließt, werden sie als ausschließlich von der Nahrungsversorgung ihres Vaters abhängig dargestellt. Tatsächlich scheint die Autorität des Königs so umfassend zu sein, dass der Text keinen Raum für die alternative Möglichkeiten 21 MS London, MS Berlin und die Editio Princeps lesen bjdw („in seiner Hand“) am Ende dieses Satzes. Wir übersetzen den Text von MS Vatikan, wo die Phrase fehlt, gehen aber davon aus, dass in dieser Handschrift bjdw versehentlich ausgelassen wurde und ergänzen daher den Text. 22 MS Vatikan liest nwṭl („er trug davon“). Die anderen Zeugen haben nwʻl („er verschloss“), was im Kontext sinnvoller erscheint. 23 Der „Ort“ ist eine gebräuchliche Umschreibung des Gottesnamens. 36 Albertina Oegema und Annette Merz lässt, Nahrung zu erhalten, wie etwa durch Betteln (vgl. mKet 13,3) oder Versorgung durch die Gemeinschaft (bKet 49ab). Übertragen auf die theologische Anwendung zeigt diese restriktive Herrschaftsausübung des Königs, wie stark Israel von der Allmacht Gottes abhängig ist. Wenn Gott den Himmel verschließt und der Regen ausbleibt, gibt es keine alternativen Wege, um an Essen zu kommen. Angesichts von regelmäßiger Nahrungsmittelknappheit, von Hungersnöten und endemischem, langfristigen Hunger und Unterernährung in der Antike muss das Gleichnis seine Zuhörer an ihre Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Gottes Versorgung erinnert haben. 24 Dennoch impliziert das Gleichnis, dass die Kinder und Sklaven in einem anderen Lebensbereich agency haben, nämlich in ihrem Verhalten dem König gegenüber. Der König kann sie nicht zwingen, seinem Willen zu gehorchen, er kann sie nur durch Belohnung und Bestrafung dazu motivieren. Ein ähnlicher Handlungsraum wird in der Anwendung des Gleichnisses angenommen, da es an Israel liegt, Gottes Willen zu tun und seine Tora zu halten oder nicht. Gott kann sie nicht dazu zwingen. Diese Diskussion zeigt, dass das Gleichnis in Sifre Deuteronomium 40 die Interaktion zwischen der restriktiven Autorität eines Vaters/ Gottes und der Handlungsfähigkeit der Kinder/ Juden theologisch anders einsetzt als das Gleichnis vom bittenden Sohn. Angesichts der Tatsache, dass das Gleichnis vom bittenden Sohn implizit Väter missbilligt, die ihre Kinder nicht mit essbaren Lebensmitteln versorgen, wirft dies Fragen zur rabbinischen Bewertung der Lebensmittelverweigerung des Königs im Gleichnis von Sifre Deuteronomium auf. Da wie oben erwähnt rabbinische Diskussionen über den Kindesunterhalt deutlich machen, dass die Unterhaltspflicht des Vaters für seine Kinder umstritten war, können auch die Handlungen des Königs kritisiert worden sein. Einige Rabbinen, wie zum Beispiel diejenigen, die für eine moralische oder rechtliche Verpflichtung der Väter zum Unterhalt ihrer Kinder plädieren, mögen die Handlungen des Königs tatsächlich missbilligt haben. Andere mögen die rigorose Bestrafung durch den König positiver bewertet haben, da der Ungehorsam seine Ehre, Autorität und Männlichkeit antastete und damit kulturell wichtige Werte bedrohte. Indirekt mag die Priorisierung von Kinderversorgung oder Männlichkeitsideal im Alltag die Bewertung von Gottes Versorgung mit und das Zurückhalten von Regen im nimshal beeinflusst haben. 24 Siehe Oegema, Paternal Authority, 199-200 und P. Garnsey, Food and Society in Classical Antiquity (KTAH), Cambridge 1999, 1-4, 34-36, 51-60. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 37 5 Wechselseitige Abhängigkeit der agency von Kindern und der Ausübung von Autorität durch den Vater: Lukas 15,11-32 und Mekhilta Deuteronomium 1,11 Die als „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ bekannte Parabel Lukas 15,11-32 bietet ein faszinierendes Studienobjekt zur Analyse der agency von erwachsenen Söhnen im Gegenüber zu ihrem Vater. Der jüngere Sohn initiiert das Geschehen, indem er seinen Vater bittet, ihm seinen Erbteil im Voraus auszuzahlen, worin dieser einwilligt. Die Ausgangshandlung selbst bleibt unbewertet vom Erzähler, eindeutig negativ bewertet wird dann im Verlauf der Erzählung, wie der Sohn mit dem Erbe verfährt. Er macht alles zu Geld, geht ins Ausland und verschleudert seinen Besitz durch „ein ausschweifendes Leben“ (V. 13), er selbst beschreibt dies im Rückblick als „Sündigen gegen den Himmel und vor dir (dem Vater, V. 18, 21)“, der ältere Bruder vermutet, er habe den väterlichen Besitz „mit Huren verschlungen“ (V. 30). Wir sehen hier einerseits einen Vater, der seinem unternehmungslustigen Sohn zunächst maximale Möglichkeiten gibt, seinem Leben nach eigener Einsicht Gestalt zu geben, und damit formal gesprochen seiner agency keine Grenzen setzt, und andererseits einen Sohn, der seine Handlungsmacht realisiert, indem er die väterlichen und kulturellen Normen und Werte mit Füßen tritt. Durch eigene Schuld und äußere Umstände (die Hungersnot) gerät er in eine Situation, in der ihm kaum noch Handlungsspielraum bleibt, er muss als verarmter Immigrant erniedrigende Arbeit als Schweinehirt annehmen und hat doch nicht genug zum Leben. Er beschließt, nach Hause zurück zu kehren und seinen Vater darum zu bitten, als Tagelöhner auf dem Gut leben zu dürfen. Als solchem stünde ihm „Brot für Arbeit“ zu, das Überlebensnotwendige. Dieses vom Vater als Akt der Gnade erbetene neue Leben wäre jedoch, nüchtern betrachtet, ein Leben am Rande der Gesellschaft, in sozialer Isolation und in vorhersehbarem psychischem Elend. Er würde nirgends wirklich dazugehören, weder zu den „echten“ Tagelöhnern noch zu seiner Familie und er würde von seinen Mitmenschen wegen seines früheren Lebenswandels und seines sozialen Abstiegs verachtet werden. Doch ist dies die beste der Handlungsmöglichkeiten, die der Sohn vor sich sieht. 25 Mit seiner Rückkehr „erzwingt“ der Sohn eine Reaktion seines Vaters, die über sein zukünftiges Schicksal entscheidet. Das fällt in den eingeschränkten, aber immer noch vorhandenen Spielraum seiner agency . Wie wird der Vater 25 Man kann als ausgeschlossene alternative Möglichkeiten benennen: An Hunger und Verelendung sterben, Suizid begehen, eine kriminelle Laufbahn einschlagen, betteln, sich prostituieren. 38 Albertina Oegema und Annette Merz reagieren? Er könnte dem Sohn Aufnahme ins väterliche Haus verweigern und den heimatlos Gewordenen einem ungewissen Schicksal überlassen. Er könnte der vorgetragenen Bitte seines Sohnes entsprechen, und ihn zu einem Schattendasein in Sichtweite des verlorenen Vaterhauses verurteilen. Er könnte ihn auch als „gefallenen Sohn“ aufnehmen, dessen Verfehlungen Vorwürfe und schlechte Behandlung rechtfertigen und eine Familienkonstellation schaffen, die den älteren Sohn ermutigen würde, seinen jüngeren Bruder zu verachten. Das alles tut der Vater nicht. Stattdessen setzt er den Heimkehrer vor aller Augen demonstrativ wieder ein in die Rolle des geliebten Kindes, indem er ihm entgegenläuft, ihn umarmt und küsst, ihn mit Festkleid, Siegelring und Schuhen ausstattet und ein Freudenfest veranstaltet, bei dem das gemästete Kalb zum Verzehr kommt. Triebfeder der Entscheidung des Vaters ist sein tiefes Mitgefühl (V. 20: esplanchnisthē , frei übersetzt: er fühlte den erbärmlichen Zustand seines Sohnes in den eigenen Eingeweiden). 26 Sein Verhalten ist nicht an der Wiederherstellung seiner eigenen, durch das Verhalten seines Sohnes beschädigten Ehre interessiert und widersetzt sich dem kulturell vorherrschenden Maskulinitätsideal, das demonstrative Dominanz fordert. Als der ältere Bruder von dieser Handlungsweise seines Vaters erfährt, reagiert er wütend und weigert sich, ins Haus zu kommen. Indem er die Teilnahme am Fest verweigert, gibt der ältere Sohn zu erkennen, dass er sich nicht mehr als „Sohn des Hauses“ verstehen will. Auch erkennt er den Zurückgekehrten nicht als seinen Bruder („dieser, dein Sohn“, V. 30), während der Vater die brüderliche Beziehung ins Zentrum stellt (V. 32: „dein Bruder war tot und lebt wieder…“). Der ältere Sohn beschreibt rückblickend sein Verständnis von dem ihm zukommenden Handlungsspielraum als extrem gering und verwendet für sich selbst die Metapher eines regeltreuen Sklaven: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir wie ein Sklave ( douleuō soi ) und habe noch niemals dein Gebot übertreten, aber mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.“ (V. 29). 27 Der Vater hält dem ein ganz anderes Bild entgegen: „Kind, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein.“ (V. 31). Während der jüngere Sohn seinen Handlungsspielraum maximal ausnützte und gegen die väterlichen Normen verstieß, hat der ältere den ihm als Sohn zukommenden Spielraum nicht ausgeschöpft. Er hielt die Gebote seines Vaters in Ehren, ver- 26 Siehe A. Merz, Ways of Teaching Compassion in the Synoptic Gospels, in: L. J. M. Claassens / F. de Lange (Hg.), Considering Compassion. Global Ethics, Human Dignity, and the Compassionate God, Eugene 2018, 66-86. 27 Die Verwendung von douleuō zur Beschreibung des Handelns eines Sohnes gegenüber seinem Vater ist ungewöhnlich. Siehe M. J. Stoutjesdijk, ,Not Like the Rest of the Slaves’? Slavery Parables in Early Rabbinic and Early Christian Literature, PhD diss., Tilburg University, 2021, 141f. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 39 hielt sich dabei jedoch wie ein Sklave und dachte beispielsweise nicht daran, dass er den Vater hätte bitten können, ihm ein Fest mit seinen Freunden zu ermöglichen. Die Rückkehr des jüngeren Sohnes wirkt als Katalysator der Neugestaltung dieser zweiten Vater-Sohn-Beziehung. Der Sohn distanziert sich vom Verhalten seines Vaters und macht damit von seinem Sohnesrecht Gebrauch, eine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen; ein Sklave hätte das nicht ohne Gefahr für Leben und Gesundheit tun können. Der Vater, dessen männliche imago durch die demonstrative Abwesenheit des älteren Sohnes wiederum beschädigt zu werden droht, tut den ersten Schritt zur Versöhnung. Er geht zu seinem älteren Sohn heraus, bittet ihn, anstatt zu befehlen (V. 28b), hört ihn an (V. 29-30) und legt ihm eine alternative Sicht ihres Verhältnisses und des Schicksals seines Bruders nahe (V. 31-32). Damit honorierte er die Freiheit seines Sohnes, selbst zu entscheiden, ob er am Fest teilnehmen will und fordert ihn auf, eine Neubewertung seines Bildes vom Vater und seines eigenen, dieser Beziehung angemessenen Verhaltens vorzunehmen (als Teilhaber an Besitz und Freude des Vaters und Bruder des Heimgekehrten). Wieder scheint die Autoritätsausübung des Vaters an der Ermöglichung größtmöglicher Autonomie des Sohnes orientiert zu sein. Ob die Versöhnung von Vater und älterem Sohn und von älterem und jüngerem Bruder gelingt, lässt das Gleichnis offen. Genau hier liegt der Appell an die Zuhörenden, die einander als gleichwertige Geschwister ihres göttlichen Vaters erkennen sollen und über diesen Vater etwas lernen sollen: dass er vergebungsbereit ist und eine kindliche, nicht eine servile Beziehung wünscht. Auch im Gleichnis von der untreuen Tochter (Mekhilta Deuteronomium 1,11) fungiert die agency einer Tochter als Katalysator der Vater-Tochter-Beziehung. Dieses Gleichnis soll erklären, warum Mose in Dtn 1,11 den Wunsch zum Ausdruck bringt, dass Gott Israel tausendmal vermehren möge, während er gleichzeitig seine Unfähigkeit beklagt, Israel zu tragen (V. 9) und ihre Last und ihren Streit (V. 12) nicht ertragen kann. Warum steht an dieser Stelle ein Segen? Das Gleichnis von der untreuen Tochter schafft eine imaginäre Reihe von Ereignissen, die diese Erzähllücke in Dtn 1,11 ausfüllt: „Ein Gleichnis. Womit ist die Sache zu vergleichen? Mit einem König, der seine Tochter verheiratete und für sie einen großzügigen Ehevertrag aufsetzte und sie warnte, nicht untreu zu handeln. Am Ende handelte sie untreu. Und der Brautführer tadelte sie und brachte sie zurück, sie aber kehrte nicht um. Schließlich jedoch bekehrte sie sich zum Besseren. Sobald der Brautführer sah, dass sie sich zum Besseren bekehrt hatte, begann er, sie für ihre Taten zu tadeln. Und sie hörte zu und schwieg und antwortete ihm kein Wort. Sobald ihr Vater sah, dass seine Tochter zurechtgewiesen wurde, sich schämte und die Zurechtweisungen akzeptierte, sagte er zum Brautführer: ,Verdoppele 40 Albertina Oegema und Annette Merz ihren Ehevertrag! ʻ Ebenso die Versammlung Israels. Denn der Heilige, Gesegnet sei Er, liebte sie mit der Liebe der Jugend, wie es heißt: ,Als Israel jung war, habe ich ihn geliebtʻ (Hos 11,1). Sie handelten untreu, wie es heißt: ,Und Israel hängte sich an den Baal Peorʻ (Num 25,3). Mose stand auf und tadelte sie für ihre Taten. Und sie schämten sich dafür und antworteten ihm kein Wort. In diesem Moment sagte der Heilige, gesegnet sei Er, zu Mose: ,Da sie geschwiegen und die Zurechtweisung angenommen haben, segne sie, und zwar nicht zu Hunderten, sondern zu Tausenden.ʻ Deshalb öffnete Mose (seinen Mund) und sagte: ,Möge JHWH, der Gott eurer Väter, euch tausendmal zahlreicher machen als ihr seidʻ (Dtn 1,11).“ Das Gleichnis dreht sich um einen König, der seine Tochter verheiratet und für sie eine große Mitgift im Ehevertrag festlegt. Trotz seiner Vorwarnungen verletzt die Tochter akzeptierte sexuelle Normen und handelt untreu ( qlqlh mʻśjh ). 28 Selbst als der Brautführer (der mit der Überführung der Braut betraute Bevollmächtigte des Vaters, vgl. ShemR 44,4; BemR 2,15; 18,12) sie tadelt, beharrt sie auf ihrem Fehlverhalten. Erst als sie ihr Leben aus eigenem Antrieb verbessert, ist sie empfänglich für die Zurechtweisungen des Brautführers. Sobald ihr Vater die Verhaltensänderung seiner Tochter bemerkt, befiehlt er dem Brautführer, die Mitgift in ihrem Ehevertrag zu verdoppeln. Im nimshal , der theologischen Anwendung, symbolisiert das sexuelle Fehlverhalten des Mädchens Israels sexuelles und religiöses Fehlverhalten in Schittim mit der Anbetung von Baal Peor (Num 25,1). Wenn dort gesagt wird, dass Mose (wie der Brautführer) die Israeliten getadelt hat, ist möglicherweise an das Gebot des Mose gedacht, alle Anbeter von Baal Peor zu töten (V. 5). Da Israel sich schämte (vgl. Israels Weinen in V. 6), soll Gott, genau wie der König, Israel mit einem zusätzlichen Segen belohnt haben. Mit diesem imaginären Gang der Ereignisse erklärt das Gleichnis, warum Mose in Dtn 1,11 seinen Wunsch nach einer Vermehrung Israels äußerte. Wie der jüngste Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn nutzt die Tochter in diesem Gleichnis ihren Handlungsspielraum. Als der König für sie einen großzügigen Ehevertrag schreibt, scheinen seine Warnungen nicht zwingend zu sein. Er lässt seiner Tochter einen Handlungsraum, in dem sie den Rat ihres Vaters missachten und akzeptierte sexuelle Normen verletzen kann. Sie hätte wie eine „anständige“ jungfräuliche Braut auftreten können, zieht es aber vor, sexuell aktiv zu sein (oder vielleicht auch nur: diesen Verdacht zu erwecken). 29 28 In der rabbinischen Literatur wird dieses Verb auf eine breite Palette von schädlichen Handlungen, halachischen Verstößen, korrupten Lehren und sozial inakzeptablem oder sexuell illegalem Verhalten angewendet. Siehe z. B. mYev 10,2; mNed 11,12; mSan 8,4. 29 Im Zeitalter von #metoo ist zu beachten, dass das Gleichnis die Tochter für ihr sexuelles Fehlverhalten verantwortlich macht und nicht ihren Sexualpartner. Das Gleichnis mobilisiert eine heute zu Recht kritisierte uralte kulturelle Rhetorik, die Frauen als unfähig ansah, ihre sexuellen Wünsche zu kontrollieren und Männer als Opfer von Verführung Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 41 Auch wenn der Agent der Braut sie tadelt und zurückbringt, macht das Gleichnis deutlich, dass es von dem Mädchen abhängt, ob sie sich zum Besseren wendet oder nicht. Erst dann fällt der Tadel des Brautagenten auf fruchtbaren Boden. Wie der jüngste Sohn handelt das Mädchen unabhängig von ihrem Vater und seinem Bevollmächtigten und verfolgt stattdessen ihre eigenen Ziele und Wünsche. 30 Angesichts des kulturellen Wertes, der der Jungfräulichkeit von Bräuten bei der Heirat beigemessen wurde, muss die sexuelle Affäre (oder das verdächtige Verhalten) der Tochter in der antiken Perzeption als Schande und Charakterschwäche aufgefasst worden sein. 31 Ihr Verhalten muss die Ehre ihres zukünftigen Mannes verletzt und ihrem Vater Schande gebracht haben (vgl. Sir 42,9-11). 32 Da die Tochter bis zum Vollzug der Ehe immer noch unter die Autorität ihres Vaters fiel, wird ihre (echte oder vermeintliche) Promiskuität als Missachtung der Autorität des Königs über sie verstanden worden sein. Da er das Verhalten seiner Tochter nicht kontrollieren konnte, wird sich die demonstrativ gegen den väterlichen Willen gerichtete agency seiner Tochter auch negativ auf die Männlichkeitsimago ihres Vaters und sein Auftreten als Mann ausgewirkt haben. 33 Es überrascht daher nicht, dass der Agent der Braut eine Verhaltensänderung der Tochter zu erreichen versucht. Wie die beiden Söhne im Gleichnis vom verlorenen Sohn ehrt das Gleichnis von der untreuen Tochter die Freiheit und Autonomie des Mädchens, nach ihren Zielen und Wünschen zu handeln. Schließlich signalisiert die Verdoppelung ihrer Mitgift im Ehevertrag durch den König eine Wiederherstellung der Familienbeziehungen. Der König initiiert Hochzeitsvorbereitungen, offenbar in der Annahme, dass auch der zukünftige Ehemann und seine Familie die Verhaltensänderung der Tochter honorieren. Übertragen auf die theologische Anwendung repräsentiert der Verhaltensfreiraum der Tochter die Freiheit und Autonomie, die Gott Israel lässt, nach seinen Geboten zu handeln oder nicht. In signifikantem Unterschied zu der in Num 25,4-5 genannten Todesstrafe legt das Gleichnis nahe, dass die Israeliten durch Mose lediglich getadelt werden und ihr Fehlverhalten aus eigenem Antrieb, nach eigener Einsicht und zu einem selbstgewählten Zeitpunkt ändern können. Darüber hinaus zeigt die zusätzliche Segnung Israels durch Gott wie auch das entschuldigte. Zur rabbinischen Rhetorik z. B. M. L. Satlow, Tasting the Dish. Rabbinic Rhetorics of Sexuality (BJS 303), Atlanta 1995, 158-169. 30 Siehe Oegema, Paternal Authority, 418, 420. 31 T. Ilan, Jewish Women in Greco-Roman Palestine. An Inquiry into Image and Status (TSAJ 44), Tübingen 1995, 61 f; M. L. Satlow, Jewish Marriage in Antiquity, Princeton 2001, 118f. 32 Satlow, Tasting, 155 f; Satlow, Jewish Marriage, 102f. 33 Cf. Oegema, Paternal Authority, 419. 42 Albertina Oegema und Annette Merz Verhalten des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn, dass Gott sich intensiv um seine Beziehung zu Israel bemüht. Anstatt ihre Bande aufzulösen, stellt er ihre Beziehung wieder her und erhöht Israels Bundessegen nach ihrer Reue von ihrer abgöttischen Anbetung von Baal Peor. 6 Theologischer Ausblick Alle besprochenen Gleichnisse zeigen, dass Gott trotz seiner potentiell restriktiven Autoritätsausübung dem Menschen immer einen Handlungsspielraum lässt. Die parabolischen Skizzen der Handlungsmöglichkeiten von Kindern zeichnen ein Weltbild, in dem der freie menschliche Wille durch Gottes Allmacht gegeben und begrenzt, aber nie vollständig eingeschränkt wird. Auch wenn Gott die volle Kontrolle über Nahrung und nicht-materielle Ressourcen hat (siehe das Gleichnis vom bittenden Sohn), ermutigt seine Bereitschaft, gute Gaben zu geben, die Zuhörer dazu, ihren begrenzten Handlungsspielraum im Gebet zuversichtlich zu nutzen. Insbesondere die Gleichnisse vom verlorenen Sohn, den hungernden Kindern und Sklaven und der untreuen Tochter machen deutlich, dass die Handlungsmacht der Menschheit außerhalb der direkten Kontrolle Gottes liegt. Aufgrund der begrenzten Autorität Gottes haben die Menschen die Freiheit und Autonomie, ihre eigenen Wünsche zu verfolgen, auch wenn diese Gottes Willen entgegenstehen. Die Betonung der agency von Kindern in den Gleichnissen wird erzählerisch eingesetzt, um der Adressatenschaft einen Spiegel vorzuhalten, sie zur Reflexion über ihren eigenen Handlungsspielraum anzuregen und bestimmte Verhaltensweisen zu ermutigen, vor anderen hingegen zu warnen. Mit der Gegenüberstellung von Belohnung und Bestrafung ermahnt das Gleichnis von den hungernden Kindern und Sklaven sein jüdisches Publikum unmissverständlich, ihre Bundesverpflichtungen gegenüber Gott zu erfüllen. Verhaltensregulierende Appelle sind auch in den anderen Gleichnissen präsent, etwa wenn die Zuhörer des Gleichnisses vom verlorenen Sohn mit dem offenen Ende des Gleichnisses aufgefordert werden, nicht nur ihr Verhalten gegenüber reuigen Gemeindemitgliedern zu überdenken, sondern auch ihre eigene Rolle Gott gegenüber zu überprüfen (verhalte ich mich wie ein Kind oder wie ein Sklave? ). Auch auf Abwege geratene Gemeindemitglieder werden angesprochen. Da die Gleichnisse vom verlorenen Sohn und der untreuen Tochter zeigen, dass Gott Umkehr und Neuanfang belohnt und seine Beziehung zu zeitweise verlorenen Kindern wiederherstellt, wird ihnen die ermutigende Botschaft mitgegeben, dass in der Vergangenheit gemachte Fehler nicht das Ende der Beziehung bedeuten und dass es immer einen Weg zurück gibt. Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen 43 Interessant sind die Auswirkungen des geschilderten Spielraums für menschliche Autonomie auf das Gottesbild. Gott macht sich „angreifbar“, nonkonformes Verhalten seiner Kinder beeinträchtigt seine imago . Interessanterweise gilt dies sowohl für besonders restriktives wie für besonders nachgiebiges Verhalten. Der König, der seine Kinder verhungern lässt, provoziert (sei es verhaltene) Kritik, ein Vater der das gemästete Kalb schlachtet, den verbitterten Sohn auf dem Feld aufsucht oder seiner sexuell aktiven Tochter ihren Willen lässt, entspricht nicht dem antiken Männlichkeitsideal. Möglicherweise liegt in der hierdurch hervorgerufenen kognitiven Dissonanz ein Teil der Überzeugungskraft der Gleichnisse: Sie appellieren an das menschliche Urbedürfnis nach harmonischen Beziehungen zwischen Vater und Kindern, wie sie im Gleichnis vom bittenden Sohn deutlich porträtiert werden. Ein Vater, dessen Autoritätsausübung die Bedürfnisse seiner Kinder honoriert, und ein Kind, das die Autoritätsposition des Vaters nicht anficht, gelten als anzustrebendes Ideal, auch für die Gottesbeziehung.