eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Kinder und ihre Erziehung im Neuen Testament und darüber hinaus

2021
Bert Jan  Lietaert Peerbolte
Kinder und ihre Erziehung im Neuen Testament und darüber hinaus Bert Jan Lietaert Peerbolte Einführung In den letzten Jahrzehnten des 2. Jh. n. Chr. stand Clemens von Alexandria an der Spitze der Katechetenausbildung in seiner Stadt. Zu diesem Zeitpunkt war Alexandria die zweitgrößte Stadt des Römischen Reiches und eine Hochburg der Bildung, mit ihrer großen Bibliothek und den vielen Gelehrten, die die in dieser Bibliothek gesammelten Texte studierten. Wie Textforscher heute z. B. den Textbestand des Neuen Testaments untersuchen, so arbeiteten die Homer- Exegeten im alten Alexandria daran, den ursprünglichen Text der Illias und der Odyssee zu rekonstruieren. In diesem geistigen Zentrum verfasste Clemens eine Reihe wichtiger Werke, von denen eines den Ausgangspunkt für diesen Beitrag bildet: Der Erzieher ( Paidagogos ). Im Paidagogos bietet der Philosoph und Theologe Clemens eine Anleitung, wie sich Christen verhalten sollten. In seiner Abhandlung deckt er fast alle Bereiche des Lebens ab, von der Frage, wie man isst und trinkt, bis hin zu einem Kapitel über das Sexualleben der Christen. Die Metapher, die er in seinem Werk verwendet, stammt aus dem täglichen Leben. Clemens begreift das Wort, Jesus Christus, als den Erzieher, der die Christen zum rechten Leben anleitet. Ein paidagōgos der Antike ist nicht mit einem Pädagogen des 21. Jh.s vergleichbar. In der Antike war der paidagōgos ein Mann, der bei einer wohlhabenden Familie angestellt und mit der Erziehung der Kinder beauftragt war. Er Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 62 Bert Jan Lietaert Peerbolte war also kein Lehrer, sondern ein Erzieher, der Kindern im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren das richtige Verhalten beibrachte. Dazu gehörten Tischmanieren, aber auch andere Umgangsformen und Anstandsregeln. Oft war der paidagōgos ein Sklave und damit Eigentum des pater familias ; für die Kinder war er eine Art Aufseher. Das Wort paidagōgos stammt von dem griechischen Verb paideuō , das „erziehen“, aber auch „disziplinieren“ oder „bestrafen“ bedeuten kann. Das sich daraus ergebende Bild zeugt von einer mitunter strengen Erziehung, bei der die Kinder an das rechte Verhalten herangeführt wurden. Paulus verwendet das Bild des paidagōgos in Gal 3,24, wenn er das Leben unter dem Gesetz (Tora) mit dem Leben in der Freiheit Christi vergleicht: Das Gesetz war der strenge Erzieher, der bis zum Kommen Christi notwendig war. In 1 Kor 4,15 nennt er die Erzieher in einem Atemzug mit den Vätern, den Eltern, also mit den Erziehungsberechtigten der Kinder. Ein paidagōgos war ausschließlich den wohlhabenden Familien vorbehalten. Es ist bemerkenswert, dass Clemens gerade diese Metapher für sein Werk über das tägliche Leben der Christen wählt: Er hält sie für unmündig und betrachtet Christus als den rechten Lehrmeister. Die Verwendung dieser Metapher belegt, dass das Familienleben der Elite in der griechisch-römischen Kultur am Ende des 2. Jh.s auch den christlichen Kreisen bekannt und vertraut war. Die zentrale Frage dieses Beitrags lautet: Was können wir über die Rolle von Kindern in Familien sagen, die der entstehenden christlichen Bewegung in den ersten beiden Jahrhunderten angehörten? 1 Um diese Frage zu beantworten, sind mehrere Schritte erforderlich: Zunächst werden wir die Rolle der Kinder im Palästina des 1. Jh.s und in der Jesusüberlieferung beleuchten. Dann werden wir den Gebrauch der familienbezogenen Terminologie in den Briefen des Paulus analysieren. Daraufhin werden wir uns mit den Anweisungen für das Leben als Christen um das Jahr 100 befassen und schließlich den Blick auf einige Autoren aus späterer Zeit richten, die weitere Einblicke in diese Thematik bieten. Dieser Beitrag wird folglich einen Überblick darüber geben, wie die frühen Christen über Kinder und das Familienleben dachten. Jesus und die Kinder In Mk 10,13-16 bringen Umstehende einige Kinder zu Jesus. Er soll sie berühren, vermutlich weil die Umstehenden davon ausgehen, dass die Kraft Jesu 1 Eine Darstellung aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen zu Kindern in der Antike bietet A. Lindemann, Kinder in der Welt der Antike als Thema gegenwärtiger Forschung, ThR 76/ 2011, 82-111. Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 63 eine segenspendende Wirkung entfalten würde. Die Jünger wollen die Kinder fernhalten, aber Jesus befiehlt ihnen, die Kinder vorzulassen. In seiner Antwort weist er darauf hin, dass jeder das Reich Gottes wie ein Kind empfangen solle; dadurch wird das Kind zum Maßstab. Der Grund, warum die Jünger die Kinder von Jesus fernhalten wollen, wird nicht genannt, scheint aber in der Annahme zu liegen, dass Jesus zweifellos wichtigere Dinge zu tun hatte, als sich mit Kindern zu beschäftigen. Und das, obwohl Jesus bereits zuvor im Markusevangelium ein Kind als Symbol für die Schutzbedürftigkeit des Menschen in die Mitte der Jüngergruppe gestellt hatte (Mk 9,33-37). Es ist bemerkenswert, dass Jesus gerade das Kind als Symbol für den Glauben wählt. Kinder galten als schwach und unreif, aber Jesus kehrt dies um: Ihre Empfänglichkeit soll den Erwachsenen ein Vorbild sein. Im Alltag waren Kinder in Galiläa und Judäa im 1. Jh. ein wichtiger Teil des Familienlebens. Zweifellos gab es im griechisch-römischen Kulturkreis eine klare Trennung zwischen öffentlichem Leben und häuslichem Familienleben. Dies galt auch für die jüdische Tradition. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass das Wohnen in einem großen Haus, einer domus , zum Beispiel mit Atrium und Peristyl, ein Privileg der Reichen war. Die Mehrzahl der Menschen in dieser Zeit fielen jedoch nicht in diese Kategorie. Familien lebten in der Regel sehr beengt, mit mehreren Personen in ein und demselben Wohnraum. Essen, Schlafen, Lieben, Geschichten erzählen - all das fand auf engstem Raum statt. Der Schutz der Familie sollte Kindern in erster Linie ein sicheres Umfeld zum Aufwachsen bieten. Dass Jesus seinen Jüngern ein Kind zum Vorbild gibt, ist auch aus einem anderen Grund bemerkenswert. In der oben angeführten Perikope des Markusevangeliums wird beiläufig erwähnt, dass Jesus in einem häuslichen Umfeld lehrte. Offenbar wurde dieses Modell - wir sprechen heute von „Kirchen“ bzw. „Gemeinden“ - später, nach der Entstehung der frühchristlichen Gruppen wei- Prof. Dr. Bert Jan Lietaert Peerbolte, geb. 1963 in den Niederlanden, studierte Theologie in Groningen und Leiden und wurde 1995 in Leiden promoviert. Nach Lehrtätigkeit in Utrecht und Kampen wurde er 2008 an die Vrije Universiteit Amsterdam berufen, wo er seither lehrt. In 2005 war er visiting professor an der Yale Divinity School . Außerdem war er Gastwissenschaftler an den Universitäten Pretoria und Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Paulus, paideia im frühen Christentum, Apokalyptik, Eschatologie und die Johannesoffenbarung. Er ist als General Editor mitverantwortlich für die Brill Encyclopedia of Early Christianity . 64 Bert Jan Lietaert Peerbolte tergeführt. Die Versammlungen der Christen in den ersten beiden Jahrhunderten fanden zwar nicht ausschließlich in Hauskirchen statt, aber sie waren Teil des Lebens der christlichen Gemeinschaften. Während bei wohlhabenden Griechen und Römern ein paidagōgos , endweder ein Sklave oder auch ein Freier, die Erziehungsarbeit erledigte, wurde die Aufgabe der Erziehung in weniger wohlhabenden Familien hauptsächlich von den Frauen der Familie übernommen: Mütter und Großmütter kümmerten sich um die Kinder. Welche Rolle Vätern und Großvätern genau zukam, entzieht sich unserer Kenntnis. Allerdings ist belegt, dass jüdische Väter mit ihren Kindern (Söhnen? ) lasen und sie die Geschichten der großen Helden Israels lehrten (vgl. 4Makk 18,10-18). Da die meisten Menschen zu Hause keinen Zugang zu diesen Texten hatten, muss dieser Teil der Ausbildung in öffentlichen Bildungsstätten wie etwa einer Synagoge stattgefunden haben. Wenngleich Jesus eine positive Einstellung gegenüber Kindern vertritt, so zielte seine Reformbewegung doch in erster Linie auf Erwachsene ab. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Erwartung der nahenden Endzeit in dieser Phase des frühen Christentums maßgebliche Bedeutung zukam. Jesus und seine Jünger bereiteten sich auf das bevorstehende Ende der Welt vor; in einem solchen Kontext spielt die Erziehung von Kindern im Hinblick auf ihr Erwachsenenleben eine untergeordnete Rolle. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, zunächst einmal zu untersuchen, welche Bezeichnungen für Kinder in den Schriften des Neuen Testaments verwendet werden. Die Texte unterscheiden zwischen verschiedenen Lebensabschnitten. Der Oberbegriff für ein Kind im Sinne von „Nachkomme“ ist teknon (z. B. Mt 3,9; 21,28; 22,24; Mk 10,29-30). Die erste Phase im Leben eines teknon ist die des Säuglings und Kleinkindes. Im Griechischen wird dies mit dem Begriff brephos (z. B. Lk 1,41, 44; 2,12, 16; 18,15) oder nēpios (1Kor 13,11; Gal 4,1; Eph 4,14; 1Thess 2,7; Heb 5,13) bezeichnet. Diese Begriffe beziehen sich auf die erste Lebensphase, in der das Kind noch hilflos ist und sich nicht verbal mitteilen kann. Es scheint, dass ersterer Begriff für die Phase des Säuglings und letzterer für die des Kleinkindes gebraucht wird. In der darauf folgenden Phase, der Zeit, in der das Kind lernt und sich auf das Erwachsensein vorbereitet, lautet die Standardbezeichnung für ein Kind paidion (z. B. Mt 2,8-9.11.13-14; 11,16; 18,2-5) oder pais (z. B. Mt 17,18; Lk 2,43; Apg 20,12). Diese Phase dauert etwa bis zum Beginn der Pubertät. Der jüdische Brauch, dreizehnjährige Jungen einen Teil der Tora lesen zu lassen, um ihre Bar-Mizwa, ihre Mündigkeit vor dem Gesetz zu feiern, ist ein späterer Brauch. Sie entstand etwa im 14. oder 15. Jh. und sollte daher nicht in die Antike zurückprojiziert werden. Gleichwohl gibt es Hinweise darauf, dass Jungen im Alter von 18 Jahren als mündig galten und dass Mädchen schon vorher als heiratsfähig angesehen wurden. In geho- Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 65 benen Kreisen der griechischen Gesellschaft folgte hierauf eine Ausbildung im ephēbeion , der Schule für wohlhabende junge Männer. Der griechische Begriff für diese jungen Erwachsenen lautet ephēbos , ein Terminus, der im Neuen Testament nicht vorkommt. In Athen wurde ein Junge in den Status des ephēbos aufgenommen, nachdem er im Alter von 18 Jahren ein Gelübde abgelegt hatte. Zusammenfassend kann man also von mindestens drei Lebensphasen vor der vollen Mündigkeit sprechen: die erste Phase ist die der Unmündigkeit, die zweite Phase die des Kindes und die dritte die des jungen Erwachsenen. Es liegt auf der Hand, dass nur die Wohlhabenden in der Lage waren, die Erziehung ihrer Kinder an einen paidagōgos , einen Erzieher, und einen didaskalos , einen Lehrer, zu übertragen. In der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung wurden diese Aufgaben zu Hause wahrgenommen, wobei die Hauptverantwortung im Allgemeinen bei den Frauen des Haushalts lag. Die Letztverantwortung jedoch lag beim pater familias , denn die jüdische, griechische und römische Gesellschaft des ersten Jahrhunderts war von patriarchalischen Strukturen geprägt. Der Blick auf die Jesusüberlieferung in den Evangelien lässt erkennen, dass Kinder zwar keinen zentralen Platz in der Jesusbewegung innehatten, dass Jesus aber die Empfänglichkeit der Kinder als Vorbild für die Glaubenshaltung ansah, die er von seinen Nachfolgern forderte. Erziehung war eine Aufgabe der Familie, erfolgte im Kontext der innerfamiliären Lebenswelt, und obwohl Kindererziehung kein primäres Anliegen der Jesusbewegung war, ist doch auffällig, welch bedeutende Rolle Begriffe aus dem Bereich von Familie und Verwandtschaft von Anfang an spielten. Wenden wir uns nun den Briefen des Apostels Paulus zu. Die Briefe des Paulus Bei der Analyse der Paulusbriefe ist es wichtig, zunächst kurz auf eine Forschungsdiskussion hinzuweisen, die die neutestamentliche Wissenschaft seit etwa zwei Jahrhunderten beschäftigt: die Diskussion über die Frage, ob alle Briefe, die den Namen des Paulus tragen, tatsächlich dem Apostel zuzuschreiben sind. Da es zu viel Platz in Anspruch nehmen würde, die gesamte Diskussion darzustellen, soll hier nur der Standpunkt des Verfassers dieses Beitrags dargelegt werden. Kurz gesagt geht es um Folgendes: Das Corpus Paulinum enthält dreizehn Briefe, die den Namen des Paulus tragen. Sieben davon sind unbestritten von Paulus selbst geschrieben oder - besser gesagt - diktiert worden. Es handelt sich um den Römerbrief, den 1. und 2. Korintherbrief, den Galaterbrief, den Philipperbrief, den 1. Thessalonicherbrief und den Philemonbrief. Drei der verbleibenden Briefe aus dem Corpus Paulinum stammen offensichtlich aus einer viel späteren Zeit. Sie sind als „Pastoralbriefe“ bekannt (1. und 2. Timo- 66 Bert Jan Lietaert Peerbolte theusbrief und Titusbrief) und spiegeln eine Situation der sich entwickelnden christlichen Bewegung wider, in der die kirchlichen Funktionen („Ämter“) und Strukturen deutlich weiter entwickelt waren als zur Zeit des Paulus. Diese Briefe wurden entsprechend antiker Konvention im Namen des Paulus geschrieben und wollen mithilfe dieser literarischen Fiktion Fragen behandeln, die an der Wende vom 1. zum 2. Jh. aufkamen. Indem der Verfasser (oder die Verfasser? ) der Pastoralbriefe „Paulus“ über diese Themen schreiben und sich an seine unmittelbaren Mitarbeiter Timotheus und Titus wenden ließ, konnte er die Autorität des Paulus nutzen, um in eine neu entstandene Situation hineinzuwirken. Auf die Pastoralbriefe wird an späterer Stelle in diesem Beitrag noch einmal eingegangen, da sie großen Einfluss auf die Gestaltung des frühchristlichen Familienlebens bekommen sollten. Desweiteren gibt es drei Briefe, die zwischen dem Tod des Paulus in den frühen 60er Jahren und dem Beginn des 2. Jh.s geschrieben worden sein müssen: der Kolosserbrief, der Epheserbrief und der 2. Thessalonicherbrief. Das letztgenannte Schreiben versucht, eine Alternative zu dem Endzeitszenario zu bieten, das Paulus in 1Thess skizziert. Dort scheint Paulus davon auszugehen, dass das Ende unmittelbar bevorsteht, während in 2Thess das Gegenteil behauptet wird. Im Kolosserbrief und dem damit in Zusammenhang stehenden Epheserbrief schreibt ein Autor aus dem Umfeld des Paulus unter dessen Namen über die kosmische Bedeutung Christi. Interessanterweise ist die Frage, wie eine Hausgemeinschaft, eine Familie, leben sollte, Teil beider Briefe, und wir werden auch darauf zurückkommen. Zunächst aber zu den authentischen Paulusbriefen. Die echten Paulusbriefe In den echten Paulusbriefen spielt Familienmetaphorik eine bedeutende Rolle. 2 Offenbar stand die Familie im Mittelpunkt der sozialen Struktur der Gruppen von Jesusanhängern, und dies sollte auch noch geraume Zeit so bleiben. 3 Paulus‘ häufigste Bezeichnung für Mitchristen ist „Bruder“ oder „Schwester“, auf Griechisch adelphos . Der Begriff kommt in dieser Bedeutung in den echten Paulusbriefen insgesamt 113 Mal vor. Paulus verwendet diese Bezeichnung auch für seine Mitarbeiter Quartus (Röm 16,23) und Sosthenes (1Kor 1,1) und so entsteht durch den Sprachgebrauch des Apostels gleichsam eine familiäre Beziehung unter den Nachfolgern Christi. Der Beitritt zu einer christlichen Glaubensgemein- 2 Vgl. z. B. K. O. Sandnes, A New Family: Conversion and Ecclesiology in the Early Church with Cross Cultural Comparisons (SIHC 91), Bern 1994; J. H. Hellerman, The Ancient Church as Family, Minneapolis 2001. 3 R. W. Gehring, House Church and Mission: The Importance of Household Structures in Early Christianity, Peabody 2009, 291. Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 67 schaft bedeutete also, dass man einen Platz in einer neuen Familie einnahm. In seinem Brief an Philemon empfiehlt Paulus dem Philemon, seinen entlaufenen Sklaven Onesimus zurückzunehmen. Onesimus ist durch Paulus zum Glauben an Christus gekommen, und Paulus beschreibt dies als eine Neugeburt: „So bitte ich dich für meinen Sohn Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft, der dir früher unnütz war, jetzt aber dir und mir sehr nützlich ist“ (Phlm 10 f). Paulus verwendet dieselbe Terminologie in 1Kor, als er gegenüber der Gemeinde in Korinth betont, dass er eine ganz besondere Beziehung zu ihnen hat: „Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich dies; sondern ich ermahne euch als meine lieben Kinder. Denn wenn ihr auch zehntausend Erzieher in Christus hättet, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch auch gezeugt in Christus Jesus durchs Evangelium“ (1Kor 4,14f). Für Paulus bedeutet der Glaube an Christus den Eintritt in eine neue Familie. Bemerkenswert ist, dass in dieser neuen Familie alle sozialen Unterschiede zwischen den Menschen aufgehoben sind. In Gal 3,28 betont Paulus die Einheit der Gläubigen in Christus: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus“. Die drei Kategorien, die Paulus hier erwähnt, sind die drei Kategorien, die normalerweise die Stellung einer Person in der Gesellschaft maßgeblich bestimmen: ethnische Zugehörigkeit ( Jude oder Grieche), gesellschaftlicher Status (Sklave oder Freier) und Geschlecht (Mann oder Frau). Auch wenn dieser Ansatz nicht z. B. die Abschaffung der Sklaverei zur Folge hatte - Paulus schickt Onesimus zurück zu Philemon -, so ist es doch ein revolutionärer Entwurf einer Gemeinschaft „in Christus“. Paulus stand für eine egalitäre Gemeinschaft, in der Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen gleichberechtigt waren! Dass Paulus die Einheit der Gemeinschaft der Gläubigen durch Familienmetaphorik zum Ausdruck bringt, geht nicht auf ihn selbst zurück und ist auch nicht einzigartig. Griechische Philosophen derselben Zeit bezeichneten ihre Schüler ebenfalls als „Kinder“ und stellten sich selbst als ihre „Väter“ dar. 4 Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass dieser Sprachgebrauch auf die Terminologie früherer Bildungsphasen zurückgeht, in denen Lehrer ihre Schüler ebenfalls als „Kinder“ bezeichneten. 5 Es scheint, dass die sprachlich geschaffene Familienbindung, die diese Metaphorik in den von Paulus gegründeten Gruppen erzeugte, einer der attraktiven Aspekte dieser Glaubensgemeinschaften darstellte. Außenstehende, die zum Glauben kamen, schlossen sich einer neuen Familie 4 Vgl. Cornutus, Nad.d. 1.1; Plutarch, Alc. 11.3.2; 16.9.5; Fab. 24.4.2; Sol. 30.1.6. 5 Zur Bildung in griechisch-römischer Zeit vgl. besonders T. Morgan, Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998. 68 Bert Jan Lietaert Peerbolte an, und in einer Gesellschaft, in der der Einzelne wenig Schutz genoss, war dies eine attraktive Option. In der Gründungsphase der paulinischen Gemeinden lag der Schwerpunkt folglich auf der familienähnlichen Beziehung, in die die Neuankömmlinge aufgenommen wurden, nachdem sie zum Glauben gekommen waren. In der darauffolgenden Phase sollte dann auch die Frage nach der Organisation einer christlichen Hausgemeinschaft intensiv diskutiert werden. Kolosser und Epheser Wie bereits erwähnt, wurden Kol und Eph wahrscheinlich nicht lange nach dem Tod des Paulus von einem ihm nahestehenden Autor verfasst. Es ist dabei von Bedeutung, dass Eph nach dem Vorbild des Kol gestaltet wurde. Leider reicht der Platz hier nicht aus, um auf die Fragen, die dies aufwirft, ausführlich einzugehen; daher möchte ich gleich zu der für unsere Thematik bedeutendsten Aussage dieser Briefe kommen: Offensichtlich wird hier der Versuch unternommen, die Sozialstruktur der Familie in geregelte Bahnen zu lenken. In Kol 3,18-4,1 spricht „Paulus“ die drei Gruppen an, aus denen sich eine antike Familie zusammensetzte. In allen drei Fällen wird zuerst die unterlegene Gruppe angesprochen, und dann wird die Gegenseite an ihre Verantwortung gegenüber dieser Gruppe erinnert. In 3,18 werden die Frauen aufgefordert, die Autorität ihrer Ehemänner anzuerkennen, die ihrerseits ihren Frauen in Liebe begegnen sollen (3,19). Kinder werden in 3,20 aufgefordert, ihren Eltern in allen Dingen zu gehorchen, aber Väter sollen ihre Kinder anständig behandeln (3,21). Schließlich müssen auch die Sklaven ihren Herren in allem gehorchen (3,22-25), aber die Herren werden aufgefordert, ihren Sklaven das zu geben, was ihnen zusteht, und sie gerecht zu behandeln. Schließlich ist der wahre Herr im Himmel (4,1). Was wir hier sehen, ist der Versuch eines unbekannten Verfassers, den Namen des Paulus für seine Botschaft der Aufrechterhaltung und Wahrung der Ordnung innerhalb der Familienstrukturen zu instrumentalisieren. Wie bei den meisten Anweisungen für vorbildliches Verhalten können wir davon ausgehen, dass diese Instruktionen belegen, dass das hier erwünschte und geforderte Verhalten in der Praxis nicht immer gegeben war. Könnte es sein, dass die revolutionäre Vision des Paulus von einer egalitären Gemeinschaft, in der alle sozialen Unterschiede zugunsten des Evangeliums in den Hintergrund traten, in der Praxis des täglichen Lebens hier und da zu Unruhen führte? In diesem Fall können die Anweisungen im Kol als ein Versuch angesehen werden, die Ordnung aufrechtzuerhalten oder sogar wiederherzustellen. Im Eph finden sich ähnliche Anweisungen, die nach dem Beispiel des soeben besprochenen Abschnitts im Kol formuliert sind (Eph 5,22-6,9). Dabei scheint Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 69 der Eph in seinem Bestreben, das Familienleben zu strukturieren, ein wenig weiter zu gehen als der Kol. In jedem Fall sind die Anweisungen ausführlicher. Die Anweisungen an die Ehefrauen und Ehemänner aus Kol 3,18f werden in Eph 5,21-33 näher erläutert. Hier wird das Machtgefüge in der Familie verdeutlicht: Der Mann ist das Haupt der Frau, so wie Christus das Haupt der Gemeinde ist (5,23). Es fällt auf, dass die an Frauen und Männer gerichtete Unterweisung wesentlich umfangreicher ist als die an Kinder und Eltern (6,1-4). Hier wird das Gebot aus dem Kol gleichsam übernommen (Kol 3,20f). Die Anweisungen an Sklaven und Herren (Eph 6,5-9) sind etwas ausführlicher als im Kol (Kol 3,22-25), haben aber den gleichen Tenor. Die Art und Weise, in der der Eph versucht, die Ordnung in der Familie zu strukturieren, legt den Verdacht nahe, dass es hier vor allem um die Stellung der Frau geht. In der zweiten Hälfte des 1. Jh.s ist innerhalb des paulinischen Christentums offenbar eine Bewegung im Gange, die die Gleichstellung von Mann und Frau rückgängig machen und die patriarchalischen Strukturen der Gesamtgesellschaft auch in den Gruppen der Christusanhänger durchsetzen will. Die Pastoralbriefe Zu den sogenannten Pastoralbriefen, deren Bezeichnung darauf zurückzuführen ist, dass sie sich an Einzelpersonen und nicht an Gemeinschaften richten, zählen 1Tim, 2Tim und Tit. Auch hier wird eine Korrespondenz im Namen des Paulus verfasst, die die Autorität seines Namens in Anspruch nimmt, um Fragen einer späteren Generation zu erörtern und zu klären. Wenn es um familiäre Beziehungen, die Rolle der Kinder und die Rolle der Frau geht, ist der 1Tim besonders wichtig. Dieser Text hat im Laufe der Geschichte des Christentums häufig zur Rechtfertigung oder sogar zur Einführung patriarchalischer Strukturen gedient. 1Tim und Tit zielen darauf ab, das Leben der christlichen Gemeinde zu strukturieren. Die Themen, die sie behandeln, ähneln stark den Inhalten, die in der Didache behandelt werden. Bei der Didache handelt es sich um eine Art frühe Kirchenordnung, die etwa zu Beginn des 2. Jh.s entstand. Es spricht daher viel dafür, dass 1Tim und Tit ebenfalls in dieser Zeit entstanden sind. Insbesondere 1Tim 2,8-15 muss als Versuch gesehen werden, die gewonnene Freiheit der Frauen in der Kirche einzuschränken. Während Paulus selbst die Auffassung vertrat, dass Frauen den Männern gleichgestellt sind, und sogar Anweisungen für das Beten und Prophezeien der Frauen in den Gemeindeversammlungen gibt (1Kor 11,2-15), versucht dieser Abschnitt in 1Tim, diese Freiheiten wieder aufzuheben. Nach dem 1Tim sollen sich Frauen bescheiden verhalten, sich nicht auffällig kleiden und vor allem ihren Männern gehorchen - sie sollen nicht lehren, sondern gelehrt werden (2,11f). Die charismatische Freiheit, für die Paulus 70 Bert Jan Lietaert Peerbolte eintrat, wird also bereits weniger als ein halbes Jahrhundert später unter dem Pseudonym desselben Paulus ins Gegenteil verkehrt! Kinder werden in den Anweisungen des 1Tim nicht ausdrücklich thematisiert, wohl aber die Ordnung des Familienlebens. In 3,1-13 gibt „Paulus“ Anweisungen für das Amt des Aufsehers. Wir befinden uns mit diesem Schreiben in einem zu frühen Stadium der Geschichte des Christentums, als dass wir dieses Amt mit „Bischof “ übersetzen könnten, aber es ist diese Funktion, die schließlich das Bischofsamt hervorbringen sollte. Um sich als Leiter in der Gemeinde zu qualifizieren, muss ein Mann - Frauen sind nicht mehr vorgesehen - nachweislich ein angemessenes Leben führen. Es ist die altehrwürdige Tugend der Selbstbeherrschung und Mäßigung, die hier zum Maßstab für ein angemessenes Leben wird. Außerdem darf er nur mit einer Frau verheiratet sein. Diese etwas kryptische Beschreibung hat klare Wurzeln in der Jesustradition: Sie bedeutet, dass ein Mann nur dann in Frage kommt, wenn er nicht mehr als einmal verheiratet war. Nach einer Scheidung oder dem Tod seiner Frau darf er nicht ein zweites Mal heiraten (vgl. Mt 5,31-32; 19,3-9; Mk 10,2-12; Lk 10,16). Dahinter steht der Gedanke, dass die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau ein ewiger Bund ist: Selbst nach ihrer Auflösung durch Tod oder Scheidung bleibt das Band bestehen. Die Wiederverheiratung ist also für die frühe Kirche gleichbedeutend mit Polygamie. Der gleiche Maßstab gilt für die Auswahl von Witwen, die von der Gemeinde unterstützt werden können (1Tim 5,9). Interessanterweise setzt sich das Profil eines Amtsträgers in der Kirche auch in dessen Hausgemeinschaft fort. Wer nicht in der Lage ist, seiner Familie recht vorzustehen, ist nicht geeignet, eine Führungsrolle in der Gemeinde zu übernehmen (3,4f). Der wichtigste Aspekt, der hier als Nachweis der erforderlichen Fähigkeiten genannt wird, ist, dass der Amtsanwärter als Vater seine Kinder im Gehorsam erziehen soll. Bemerkenswerterweise sind die hier formulierten Anforderungen denjenigen sehr ähnlich, die Aristoteles im vierten 4. Jh. v. Chr. in seiner Politica (II.1) niederschrieb: Der Staat beginnt in der Hausgemeinschaft, also in der Familie des Hausherrn. Wenn jemand eine herausragende Rolle im Staat spielen möchte, muss er aufzeigen können, dass er als Familienoberhaupt seiner Familie samt Besitz und Sklaven gut vorsteht. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: 1Tim ist ein Versuch, die charismatische Freiheit der frühen Phase der christlichen Bewegung rückgängig zu machen und die allgemeinen gesellschaftlichen mores auch in der christlichen Gemeinschaft zu verankern. In Tit 1,6-9 finden wir eine ähnliche Anweisung. Hier schreibt „Paulus“ an einen anderen seiner Mitarbeiter, Titus, über Älteste und Aufseher, presbyteroi und episkopoi . Um sich als Ältester zu qualifizieren, darf ein Mann nur einmal verheiratet sein und muss gläubige Kinder haben, die sich angemessen verhalten. Für die Aufseher gelten mehr oder weniger die gleichen Anforderungen Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 71 wie in 1Tim. Der Unterschied zu diesem Brief besteht darin, dass im Tit nicht nur von „Aufsehern“, sondern auch von „Ältesten“ die Rede ist. Diese Briefe wurden in einer Zeit geschrieben, in der sich die christliche Gemeinschaft erst konstituierte, wahrscheinlich zu Beginn des 2. Jh. Die Entwicklung, die in den Pastoralbriefen sichtbar wird, lässt eine Anpassung an das soziale Umfeld erkennen. Während die echten Paulusbriefe eindeutig an frei organisierte, charismatische Gruppen gerichtet sind, in welchen zahlreiche Funktionen und Aufgaben ohne formale Struktur erfüllt werden (vgl. z. B. 1Kor 12,28-30; 14,1-5), passen sich die Christen zu Beginn des 2. Jh.s an die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen an. Ein Aspekt dieser Anpassung betrifft die Stärkung der patriarchalischen Hierarchie und die Einschränkung der Freiheit der Frauen in der Kirche. Zu Beginn des 2. Jh.s zeichnet sich die Tendenz ab, das Leben der Christen so zu gestalten, dass es nicht wesentlich vom Leben in der umgebenden Gesellschaft abweicht. Insbesondere die Anweisungen für das angemessene Verhalten von Frauen in 1Tim 2 haben in der weiteren Geschichte des Christentums erhebliche Bedeutung erlangt und die Freiheit der Frauen stark eingeschränkt. Entwicklungen im zweiten Jahrhundert Mit den Pastoralbriefen sind wir bereits im frühen 2. Jh. angekommen, und von da an geht die Entwicklung weiter. Die Christen werden für Außenstehende zu einer erkennbaren Gruppe, oder vielmehr: zu erkennbaren Gruppen. Der römische Statthalter von Bithynien und Pontus, Plinius der Jüngere, schreibt im Jahr 112 einen Brief an Kaiser Trajan, in dem er erklärt, wie er mit Christen umgeht ( ep. X.96). Er hält ihren Glauben für verwerflich, findet aber an sich nichts Böses an ihnen. Er fordert sie auf, den Göttern und dem Kaiser zu opfern, was aus seiner Sicht eine unbedenkliche Handlung ist. Als sie sich aus für Plinius nicht nachvollziehbaren Gründen weigern, lässt er sie hinrichten. Der Kaiser antwortet Plinius daraufhin, dass er dies gut geregelt habe, dass es aber nicht nötig sei, Christen aktiv aufzuspüren ( ep . X.97): Sollte er einem Christen begegnen, so solle er diese Vorgehensweise beibehalten, aber dem Kaiser erscheine es unnötig, mehr Energie in diese Angelegenheit zu investieren. Der Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan zeigt sehr deutlich den großen Unterschied zwischen den Christen und ihrer griechisch-römischen Umwelt. Die Christen erkennen einzig den Gott und Vater Jesu Christi an, Jesus Christus betrachten sie als seinen Sohn; sie leugnen die Existenz anderer Götter. Die Exklusivität des Glaubens, dem sie anhängen, marginalisiert sie in der Gesellschaft. Gleichzeitig leben die Christen des 2. Jh.s in einer Welt, in der sie täg- 72 Bert Jan Lietaert Peerbolte lich mit den Erscheinungsformen des griechisch-römischen Polytheismus konfrontiert sind. Die Pastoralbriefe haben bereits gezeigt, wie die charismatische Freiheit der Anfangsphase zunehmend zurückgedrängt wird und die Christen versuchen, ihr Leben an den Normen der sie umgebenden Gesellschaft auszurichten. Dieser Prozess setzt sich im Verlauf des 2. Jh.s fort. Gegen Ende des 1. Jh.s, wahrscheinlich im Jahr 96, schreibt Bischof Clemens von Rom einen Brief an die Christen in Korinth. In diesem Brief führt Clemens einen Begriff ein, der Schule machen wird: Er spricht von einer „Erziehung in Christus“ ( en christō paideia ; 21,8). Clemens erklärt, was er als Ziel dieser besonderen Form der Erziehung ansieht: Die Lernenden sollen erfahren, wie mächtig eine demütige Haltung gegenüber Gott ist, was die reine Liebe zu Gott vermag und wie Gottesfurcht zur Erlösung führt, wenn man als Christ in seinem Leben die rechte Grundhaltung wählt. Ein Blick auf eine Reihe weiterer Texte dieser Zeit macht deutlich, dass die Ordnung des täglichen Lebens und der Familienstrukturen ein Thema ist, das in der christlichen Literatur des 2. Jh.s häufig wiederkehrt. Im zweiten Viertel des Jahrhunderts schreibt Bischof Polykarp von Smyrna einen Brief an die Christen in Philippi. Polykarp war ein Freund des Ignatius von Antiochien, der als Märtyrer in Rom starb, und er sollte um das Jahr 156 das gleiche Schicksal erleiden. Nach der Schilderung im Martyrium des Polykarp , einem Bericht über seinen Tod, war er zum Zeitpunkt seines Todes 86 Jahre alt ( mart. Pol. 9,3). Irenäus und Eusebius zufolge soll er ein Schüler des Apostels Johannes gewesen sein. In seinem Brief an die Philipper 4,2f spricht Polykarp dasselbe aus, was wir bereits in 1Tim und Tit kennengelernt haben. Er ermahnt seine männlichen Zuhörer, ihre Frauen anzuweisen, ihren Ehemännern in Liebe und Reinheit zu begegnen und sich gegenüber anderen keusch zu verhalten. Außerdem sollen sie ihre Kinder in der Furcht Gottes erziehen. Der Begriff, den Polykarp dafür verwendet, wurde zu einem Fachbegriff: paideia tou phobou tou kyriou („Erziehung in der Furcht des Herrn“). Und auch hier folgt eine Anweisung zum Verhalten von Witwen. Ähnliche Vorschriften finden sich auch in anderen Texten aus dem 2. Jh. Das angeführte Textmaterial zeugt davon, dass sich die Christen an ihren griechisch-römischen Kontext anpassten, indem sie die Verhaltensmuster ihrer Umgebung zu ihrer Norm machten. Dennoch lassen sich zwei Unterschiede ausmachen, die hier kurz erwähnt werden sollen: Erstens wird an etlichen Stellen ausdrücklich betont, dass Männer wie auch Frauen nur einmal verheiratet sein dürfen. Dies deutet darauf hin, dass die Auslegung der Ehe durch Jesus als einmalige und ewige Verbindung auch für seine Anhänger im 2. Jh. leitend war. Dies war ein bedeutender Unterschied zur paganen Umwelt, aber auch zur jüdischen Tradition. Ein zweiter Punkt, in dem sich die frühchristliche Erzie- Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 73 hung von der paideia der griechisch-römischen Welt zu unterscheiden scheint, ist die Art und Weise, wie die Eltern, genauer gesagt die Väter, ihre Kinder in der Kenntnis der heiligen Texte unterweisen sollten. Dieses Element leitet sich zweifellos von der jüdischen Tradition ab, in der, wie oben dargelegt, die Väter mit ihren Kindern die Tora und die Geschichten der Helden des alten Israel lasen. Es liegt nahe, dass dieses Element der jüdischen Kindererziehung von den Christen übernommen wurde. Dies hat der Autor des großen Klassikers über die Geschichte der Bildung in der Antike, Henri-Irénée Marrou, 6 eindrucksvoll dargelegt. In seiner Analyse der Erziehung und Bildung von Kindern in der frühen Kirche vertrat Marrou die Ansicht, dass die größte Verantwortung für die Erziehung der Kinder im frühen Christentum nicht bei den Schulen oder Lehrern lag, sondern bei der Familie. In gewissem Sinne ist das Christentum also ursprünglich eine Familienreligion, so wie es auch die jüdische Religion war und ist. In seiner umfassenden Studie hebt Marrou die Rolle hervor, die die Kirche bei der Erziehung von Kindern und Erwachsenen spielte. In seiner Rekonstruktion war die Einrichtung des Katechumenats, d. h. der Bildungseinrichtung, die den Zugang zur vollen Mitgliedschaft in der Kirche ermöglichte, bereits um das Jahr 180 vollzogen. Die Katechumenen, d. h. die angehenden Mitglieder der christlichen Gemeinde, durchliefen einen dreijährigen Unterricht, bevor sie zur Taufe und damit auch zur Eucharistie zugelassen wurden. Ein wichtiger Bestandteil dieser Ausbildung war es, sich mit den heiligen Texten des Christentums vertraut zu machen: der jüdischen Bibel (dem Alten Testament), die auch die Bibel der ersten Christen war, sowie einigen autoritativen apostolischen Schriften. Der spätere christliche Kanon stand zu dieser Zeit noch nicht fest. Lesen und Schreiben waren daher zentrale Elemente des religiösen Lebens in der jüdischen Tradition, und folglich auch in der christlichen. Sowohl das Judentum als auch das Christentum haben in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung einen Formierungsprozess durchlaufen, beide waren Schriftkulturen, in denen Texte einen hohen Stellenwert besaßen. In einer Kultur, in der die Analphabetenrate hoch war, schätzungsweise 85 %, ist eine solche Schriftkultur eine Ausnahme, und das muss Folgen für die Kinder und Familien in diesen Kulturen gehabt haben. So wie 4Makk 18 deutlich macht, dass die Väter ihren Kindern aus den heiligen Texten Israels vorlasen, so diskutierten Christen über ihre heiligen Texte. Voraussetzung dafür war jedoch, dass diese Texte verfügbar waren und dass die Teilnehmer an diesen Debatten die Texte auch lesen konnten. 6 H.-I. Marrou, Histoire de l’éducation dans l’antiquité, Paris 1948. Deutsche Übersetzung: Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg 1957. 74 Bert Jan Lietaert Peerbolte Das Bild, das sich aus den obigen Ausführungen ergibt, ist paradox. Einerseits sehen wir, dass die Christen seit Beginn des 2. Jh.s versuchen, ihr Familienleben nach den Idealen der griechisch-römischen Gesellschaft, in der sie leben, zu gestalten: Mäßigung gilt als wichtigste Tugend, Gehorsam als Ideal für das Verhalten von Frauen und Kindern. Andererseits distanzieren sich die Christen entschieden von der polytheistischen Welt, in der sie leben. Sie schärfen ihre Eheethik ausgehend von der Predigt Jesu, der zufolge eine Scheidung nicht erlaubt ist, weil die Ehe eine einmalige Angelegenheit ist. Bei der Erziehung ihrer Kinder müssen auch die Christen auf dieses Paradox gestoßen sein. Es war wichtig, dass Kinder lesen und schreiben lernten, denn die Offenbarung Gottes wurde in Texten festgehalten. Andererseits setzten die Unterrichtsangebote voraus, dass Kinder, die bereits eine Schulbildung erhielten, das Lesen mit Hilfe der Texte paganer Autoren erlernten. In späteren Zeiten führte dies zu erheblichen Diskussionen: Ist es richtig oder falsch, Texte paganer Autoren in der Schulbildung und Erziehung von Kindern zu verwenden? Das Entstehen eines christlichen Bildungsideals Ab dem späten 2. Jh. entwickelte sich ein christliches Bildungsideal, das vor allem im 4. Jh., nach der konstantinischen Wende, seine Vollendung fand. Ein Überblick über diesen Zeitraum würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber es lohnt sich dennoch, drei Werke zu erwähnen, die einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben. Zunächst ist Clemens von Alexandria zu nennen, der bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnt wurde. Es ist bezeichnend, dass dieser prominente Intellektuelle, der ursprünglich ein paganer Philosoph war und daher mit der Literatur der Griechen und Römer und deren Idealen der paideia sehr vertraut war, die Metapher des Erziehers wählt, um die Rolle Christi im Leben der Christen zu erklären. Wie ein Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden von einem Erzieher begleitet wird, so führt Christus Menschen, als Kinder oder Erwachsene, individuell oder kollektiv, auf dem Weg zu einem vollkommenen Leben vor Gott. Am Übergang vom 2. zum 3. Jh. zeigt sich, dass die christliche Tradition sich weiterentwickelt und beginnt, traditionellere Formen der Kindererziehung zu übernehmen. Im 4. Jh., in der Zeit nach der konstantinischen Wende, ist auf Basilius den Großen (ca. 330-379) zu verweisen. Basilius ist einer der sogenannten kappadokischen Väter (zusammen mit seinem Bruder Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz). Seine Werke wurden in den höchsten Kreisen des Imperiums gelesen, wodurch er schon zu Lebzeiten ein einflussreicher Autor war. In seinen Metapher und Realität in den Pastoralbriefen 75 zahlreichen Werken haben die großen griechischen Autoren der Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen. Aus Basilius‘ Schriften geht hervor, dass er zumindest Aischylos, Euripides, Archilochos, Simonides, Solon, Theognis, Hesiod und Homer kannte. Am Ende seines Lebens schrieb er das Traktat ad adolescentes . Darin erörtert er die Nützlichkeit der Lektüre paganer Autoren und weist darauf hin, dass die großen Klassiker durchaus zur Bildung junger Männer gehören sollten, jedoch nicht alle ihre Schriften: „Aber wenn sie von Handlungen und Reden guter Männer erzählen, so sollt ihr sie lieben und nach Kräften nachzuahmen versuchen. Kommen sie auf schlechte Menschen zu sprechen, so müsst ihr euch in Acht nehmen und eure Ohren verschließen, genau so, wie es Odysseus bei den Sirenengesängen gemacht haben soll“ (IV.1-2). 7 Basilius fordert seine Schüler auf, wie Bienen vorzugehen und ausschließlich das aus den Blüten aufzusammeln, was sie als erbaulich und für ein gutes Leben förderlich empfinden (IV.7-8). Es ist bezeichnend, dass Basilius sogar Odysseus als Beispiel dafür anführt, wie man mit den Klassikern umgehen sollte. Wenngleich das Christentum als kleine Gruppierung begann, die sich außerhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung positionierte, ist Basilius der Beweis dafür, dass das Christentum im 4. Jh. diese gesellschaftliche und kulturelle Ordnung nicht nur übernommen hatte, sondern sie sogar maßgeblich prägte. Ein letzter Autor, der hier erwähnt werden soll, ist Johannes Chrysostomus (um 350-407). Chrysostomus hat ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen. Darin ist ein Traktat erhalten, das zeigt, wie sich christliche Werte mit dem Ideal der paideia , d. h. der Kindererziehung als einem Mittel zur Herausbildung einer vorbildlichen Gesellschaft, verbinden: Über Hoffart und Kindererziehung . In diesem Traktat wendet sich Johannes Chrysostomus immer wieder gegen ein Leben im Luxus und argumentiert, dass der Mensch nicht den Luxus, sondern eine gute Erziehung braucht: „Ich höre nicht auf, euch zu ermahnen, zu bitten, zu beschwören, vor allem anderen eure Kinder zu erziehen! “ ( Kindererziehung §19). 8 In diesem Traktat entwickelt Chrysostomus ein christliches Erziehungsprogramm für Kinder. Er würde es vorziehen, wenn ein jeder ein Mönch werden würde, versteht aber, dass das zu viel verlangt wäre (§19), und hält es deshalb für wichtig, ein Programm für die Nachfolger Christi, die in der Welt leben, zu entwickeln, um die Menschen auf dieses Leben in der Welt vorzubereiten. Den Inhalt dieses Programms darzustellen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, doch sei abschließend das Ziel benannt, das Chry- 7 Übersetzung: K. Holzbauer (Hg.), Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen ausgewählte Schriften Bd. 2 (BKV 1. Reihe, Bd. 47), Kempten/ München 1925, 453. 8 Übersetzung: J. Glagla (Hg.), Johannes Chrysostomus, Über Hoffart und Kindererziehung (Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften, Quellen zur Geschichte der Pädagogik), Paderborn 1968. 76 Bert Jan Lietaert Peerbolte sostomus damit anstrebt: Er möchte, dass Kinder so erzogen werden, dass sie vernünftige Menschen werden. Das zu erstrebende Ziel fasst er in ein einziges Wort: phronēsis (§85), was er als „vernünftig leben“ auffasst, oder vielleicht könnte man sagen: „verantwortungsvoll leben“. Das ideale Leben besteht seiner Meinung nach aus Einfachheit, Verzicht auf Luxus und einem Leben nach den biblischen Grundsätzen. Chrysostomus äußert sich hier nicht zur Lektüre paganer Autoren, sondern zitiert biblische Geschichten, die bei der Kindererziehung verwendet werden sollen. So hat das Christentum am Ende des 4. und zu Beginn des 5. Jh.s das antike Bildungsideal der Griechen und Römer aufgenommen und es christianisiert.