eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Wer waren die Adressaten des „Kindheitsevangeliums des Thomas“?

2021
Susanne Luther
Kontroverse Wer waren die Adressaten des „Kindheitsevangeliums des Thomas“? Einleitung in die Kontroverse Susanne Luther Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas geht ausführlich auf die Kinderjahre Jesu ein. Die Erzählung berichtet über das alltägliche Leben Jesu als Kind, das spielt, seinen Eltern hilft und in die Schule geht, aber auch Heilungswunder vollbringt und seine Gegner verflucht, so dass sie verdorren oder gar sterben. Sie endet mit der an Lk orientierten Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41-52). 1 Die älteste bekannte griechische Handschrift, der Codex Sabaiticus , stammt aus dem späten 11. Jh., doch wird die Entstehung des Textes z.T. bereits im 2. Jh. n. Chr. angesetzt. Er ist wahrscheinlich im griechisch-sprachigen Milieu entstanden und wurde bereits im 3. Jh. ins Syrische und Lateinische übersetzt, im 6. Jh. ins Armenische, Georgische und Äthiopische und später ins Irische und 1 Eine gute Einführung bietet R. Aasgaard, The Childhood of Jesus: Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas, Eugene 2009; vgl. zudem J. Hartenstein, Art. Kindheitsevangelium nach Thomas (KThom), in: WiBiLex (2012), www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 51906. Als Standardausgabe des Textes sei verwiesen auf Tony Burke, De Infantia Iesu Evangelium Thomae, Graece, CCSA 17; Turnhout 2010; siehe auch die online-Materialien auf der Seite www.nasscal.com/ e-clavis-christian-apocrypha/ infancy-gospel-ofthomas/ . Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 78 Susanne Luther Arabische. Auch im Koran lassen sich Anspielungen auf die Erzählung finden (3: 49; 5: 110). In einigen Manuskripten wird der ursprünglich anonyme Text einem „Thomas“ zugeschrieben. Seine geografische Herkunft ist ungewiss, zumeist wird der Ursprungskontext im östlichen Mittelmeerraum verortet. Aufgrund der komplexen Text- und Überlieferungsgeschichte des Kindheitsevangeliums des Thomas lag der Fokus der Forschung im 20. Jh. zunächst auf den unterschiedlichen Textfassungen und dem Bestreben, einen Urtext zu rekonstruieren. Der Inhalt wurde nur marginal in den Blick genommen, zumal die Erzählung - nicht zuletzt wegen der befremdlichen Charakterzeichnung des Jesuskindes - als theologisch randständig und banal wahrgenommen wurde und z.T. auch in gnostischen, antijüdischen oder ebionitischen Kreisen situiert wurde. Seit Beginn des 21. Jh.s wird vermehrt für einen Ursprung im frühchristlichen „Mainstream“ plädiert und der Text auf das soziale Umfeld und das theologische Denken der frühen Christen hin analysiert. In den letzten Jahren lässt sich daher in der fachwissenschaftlichen Diskussion auch ein verstärktes Interesse an Inhalt und Intention der Erzählung erkennen: Wurde der Text geschaffen, um die Wissbegierde der frühen Christen über die Kindheit Jesu zu befriedi-gen, um die biografische Lücke zu füllen, die die kanonischen Evangelien aufweisen? Wurde die Erzählung von Gegnern des Christentums verfasst, um Charakter und Autorität Jesu zu untergraben? Sollte Jesus als puer senex gezeichnet werden, als weiser Mann, der in seiner Kindheit bereits ein kleiner Erwachsener ohne kindliche Eigenschaften ist - oder als göttliches Kind, das mit seinen übermenschlichen Fähigkeiten experimentiert? Die Frage, die am intensivsten und kontroversesten diskutiert wird, ist die Frage nach den Adressaten des Kindheitsevangeliums des Thomas. Die vorliegende Kontroverse, in der zwei prominente Positionen der fachwissenschaftlichen Diskussion aufeinandertreffen, greift diese Frage auf: Ist das Kindheitsevangelium als das erste Kinderbuch der Christenheit zu verstehen? Oder diente es im frühen Christentum auch Erwachsenen, vielleicht gerade Eltern, als spannende Lektüre?