eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums?

2021
Reidar Aasgaard
Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? Reidar Aasgaard Ich behaupte, dass das Kindheitsevangelium des Thomas (KThom) - vereinfacht ausgedrückt - innerhalb des frühen Christentums Kinder zum Zielpublikum hatte. Der Gedanke ist nicht ganz neu, wurde aber noch nie so eingehend dargelegt, wie ich es in The Childhood of Jesus: Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas tue. 2 Vorliegend fasse ich meine Hauptpunkte kurz zusammen, mit einigen leichten Anpassungen. Dazu führe ich zunächst externe Belege für Kindergeschichten in der Antike an und analysiere dann das KThom selbst im Hinblick auf den Platz der Kinder in seiner Erzählwelt. Meine These lautet, dass es sich um eine Geschichte handelt, die sehr wahrscheinlich einen besonderen Reiz für Kinder hatte. 3 Diese These ist aus mehreren Gründen nicht beweisbar. Möglich ist aber, Gründe für ihre Plausibilität vorzubringen, und ich meine in der Tat, dass sie wesentlich plausibler ist als andere Forschungspositionen. Externe Belege Gibt es Belege für das Erzählen von Geschichten für Kinder in der Antike? Ja, die gibt es - auch wenn nur wenig darüber geschrieben wurde und hier noch weitere Forschungen nötig sind. Zahlreiche griechische und lateinische Quellen thematisieren das Erzählen von Geschichten, von Aristophanes und Platon bis hin zu Johannes Chrysostomos und Augustinus. 4 Es liegt auf der Hand, dass Kindern Geschichten erzählt wurden, und sie hatten wahrscheinlich eine ähn- 2 R. Aasgaard, The Childhood of Jesus: Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas , Eugene 2009. Vgl. auch meinen Artikel „Thomas, Apostel (Kindheitsevangelium)“, in Vorbereitung für das WiBiLex (Deutsche Bibelgesellschaft). 3 Meine Untersuchung basiert auf dem ältesten erhaltenen griechischen Manuskript, dem Codex Sabaiticus 259 (11. Jh.), der wahrscheinlich auf einem Archetyp aus dem 2. bis 5. Jh. fußt. Andere Handschriften können zu anderen Ergebnissen führen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass das KThom in erster Linie als erzählte Geschichte und nicht als geschriebener/ gelesener Text zu betrachten ist. Die Unterschiede zwischen den Handschriften sollten, zumindest bis zu einem gewissen Grad, als Ausdruck einer lebendigen mündlichen Überlieferung des Materials betrachtet werden. In der Antike wurde Kindern nicht vorgelesen, sondern ihnen wurden Geschichten erzählt. 4 Zahlreiche Beispiele hierzu in Aasgaard, The Childhood of Jesus, Kap. 12. 80 Reidar Aasgaard liche Freude daran wie heutige Kinder. Obwohl es problematisch ist, zwischen Geschichten für Kinder und für Erwachsene zu unterscheiden (siehe unten), dürfte es dennoch Geschichten gegeben haben, die sich eher an Kinder als an Erwachsene richteten. Aus zahlreichen Erwähnungen sowohl in den klassischen als auch in den frühchristlichen Quellen geht hervor, dass das Erzählen von Geschichten für Kinder eine gängige Praxis war. Sie dienten (oft in Kombination) verschiedenen Zwecken, etwa dem Vergnügen, der moralischen Unterweisung, der Ermutigung oder der Abschreckung, aber auch der Anstiftung zur Friedfertigkeit. Als Geschichtenerzähler fungierten verschiedene Personen, wie Eltern, Großeltern, Ammen, Sklaven, Vormünder, Lehrer und gelegentlich auch öffentliche Darsteller. Es gab ein kulturelles Klima und verschiedene soziale Umgebungen, in denen diese Weitergabe von Geschichten stattfand, vor allem zu Hause, bei den Familienmahlzeiten, in arbeitsfreien Stunden und vor dem Schlafengehen, aber auch bei der Arbeit, in der Schule, auf Märkten und auf der Straße. Gibt es Belege für Kindergeschichten aus dem Altertum? Ja, die haben wir - obwohl auch hier die Herausforderung darin besteht, Kinder als primäres Publikum zu identifizieren. Bis vor kurzem hat sich Forschung üblicherweise auf andere Fragen als die der Adressaten konzentriert, wobei oft explizit oder implizit ein erwachsenes Publikum vorausgesetzt wurde; folglich waren Kinder und Kindheit ein blinder Fleck in der Forschung zur Antike und zum frühen Christentum. Erst seit Anfang der 2000er Jahre haben sich Wissenschaftler mit diesem Bereich befasst, u. zw. nun in einem Maße, dass man von einem Aufschwung der antiken Kindheitsforschung sprechen kann. 5 Auch wenn die Forschung zu Kindergeschichten noch spärlich ist, lassen sich doch Beispiele für Material finden, das sehr wahrscheinlich vorrangig oder sogar ausschließlich für Kinder gedacht war. Einige der bereits erwähnten Quellen, aber auch viele andere Autoren wie Horaz, Lukian, Minucius Felix und Strabo geben Beispiele dafür. Es handelt sich dabei um verschiedene Arten von Material, das von Fabeln, Märchen, Mythen, Heldengeschichten (wie in der Ilias und der Aeneis), Liedern und Reimen (z. B. Matthäus 11,16f par.), Rätseln und Witzen bis hin zu Schulstunden und Aphorismen reichen kann. 6 Es liegt nahe, dass solches Material Teil des kulturellen Erbes war, das Kindern in der vorwiegend mündlich überlieferten antiken Welt 5 Vgl. hierzu meinen Beitrag im vorliegenden Heft der ZNT sowie C. Laes / V. Vuolanto (Hg.), Children and Everyday Life in the Roman and Late Antique World, London/ New York 2017. 6 Auch hierzu Beispiele in Aasgaard, The Childhood of Jesus, Kap. 12. Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? 81 vermittelt wurde, ein Erbe, mit dem viele, vielleicht sogar die meisten Kinder im frühen Christentum vertraut waren. 7 Hatten die Kinder des frühen Christentums auch eigene Geschichten? Ja, sehr wahrscheinlich hatten sie welche. In jüdischen und christlichen Kontexten wurde dieses Material durch biblische Geschichten aus beiden Testamenten ergänzt und teilweise ersetzt. Johannes Chrysostomos rät Vätern, ihren Kindern Geschichten aus der Bibel zu erzählen, anstatt ihnen von weniger verantwortungsbewussten Dienern, Hauslehrern oder Ammen „leichtfertige Altweibermärchen“ erzählen zu lassen. 8 Er gibt auch ein faszinierendes Beispiel für die pädagogische Anpassung der Geschichten von Kain und Abel sowie Esau und Jakob an Kinder unterschiedlichen Alters, die seiner Meinung nach als moralisch-erbauliche Beispielgeschichten dienen sollten. Darüber hinaus wurden Kinder im frühen Christentum wahrscheinlich mit Geschichten über die Apostel und andere christliche Helden bekannt gemacht, möglicherweise auch mit Geschichten über andere Kinder, die sie bewundern konnten oder sollten, wie z. B. Martyrien von Kindern. Besonders attraktiv waren gewiss Geschichten, die von der zentralen Figur des Christentums als kleinem Jungen handelten, d. h. von Jesus in seinen Kinderjahren - und das KThom könnte genau in dieser Weise benutzt worden sein. Die primären Orte und Anlässe für die Vermittlung solcher Geschichten wären den oben genann- 7 R. Aasgaard, Uncovering Children’s Culture in Late Antiquity: The Testimony of the Infancy Gospel of Thomas, in: C. B. Horn / R. R. Phenix (Hg.), Children in Late Ancient Christianity, Tübingen 2009, 1-27. 8 Johannes Chrysostomos, De inani gloria et de educandis liberis 37-38(-53). Prof. Dr. Reidar Aasgaard, geb. 1955, Studium der Philologie und Theologie an der Universität Oslo, zehn Jahre Pfarrdienst in der Norwegischen Lutherischen Kirche, Doktor der Theologie 1999 (Neues Testament), Postdoc und außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo bis 2008, seit 2009 Professor für Ideengeschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Oslo, Leiter des internationalen Projekts zur Geschichte der Kindheit in der antiken Welt 2013-2017. Forschungsschwerpunkte sind Kindheitsgeschichte, Paulus, Apokryphen des NT, Augustinus und Bob Dylan. Webseite: www.hf.uio.no/ ifikk/ english/ people/ aca/ history-of-ideas/ tenured/ reidaraa/ index.html 82 Reidar Aasgaard ten ziemlich ähnlich, wobei der Haushalt wahrscheinlich der Hauptschauplatz war, ergänzt durch verschiedene Arten von christlichen Versammlungen. Aus dieser Perspektive kann das KThom also als eine Parallele zu anderen Kindergeschichten in der Antike betrachtet werden, entweder als Ergänzung oder als Alternative. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Kinder in der rasch wachsenden christlichen Bewegung ein Leben ohne Geschichten führen oder mit Geschichten allein gelassen werden sollten, die zunehmend irrelevant oder sogar inakzeptabel erschienen. Stattdessen sollten sie neue Geschichten kennenlernen, Geschichten, die sie sich zu Eigen machen sollten. So wie die Erwachsenen ihre außerkanonischen Geschichten über den erwachsenen Jesus und seine Familie und Freunde tradierten, hatten auch die Kinder Geschichten über ihre Helden, insbesondere über ihren Haupthelden, Jesus, und ihn als Kind. Interne Belege Wenden wir uns nun den internen Belegen zu und lesen wir das KThom im Blick darauf, wo von Kindern erzählt wird und wo Kinder als mögliche Adressaten in Frage kommen. Ein solcher Ansatz birgt freilich methodische Schwierigkeiten: Wissen wir zum Beispiel genug über das Leben der Kinder in der Antike? Geschweige denn, was sie dachten und fühlten? Besteht nicht die große Gefahr, dass wir moderne Vorstellungen von Kindern und Kindheit auf die Gesellschaften der Spätantike übertragen? Und so weiter. Trotz solcher Einwände bin ich überzeugt, dass wir über genügend Informationen und methodische Nüchternheit für eine reflektierte Lektüre aus der „Kinderperspektive“ verfügen. Die großen Fortschritte in der Erforschung der antiken Kindheit während der letzten zwei Jahrzehnte sind in dieser Hinsicht von großem Wert. 9 Auch andere Zugänge zu den antiken Quellen wie feministische und sozialgeschichtliche Lesarten stehen vor ähnlichen Herausforderungen, was uns aber nicht daran hindert, sie anzuwenden und erfolgreich zu nutzen. Das KThom scheint sich in mehrfacher Hinsicht gut für Kinder zu eignen. Umfang und Struktur Das Evangelium ist kurz, nur sechs bis sieben Seiten lang und viel kürzer als das verwandte Kindheitsevangelium des Jakobus. Wenn es mündlich vorgetragen wurde, dauerte die Erzählung ca. 20 bis 30 Minuten und war damit gut geeignet, die Aufmerksamkeit von Kindern in verschiedenen Umgebungen zu fesseln. In den Handschriften ist es in unterschiedlicher Form und Länge überliefert. 9 Hierzu nochmals ein Hinweis auf meinen Beitrag in diesem Heft. Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? 83 Mehrere Episoden tauchen nur in einigen Handschriften auf und weniger integriert in der Geschichte, was darauf hindeutet, dass diese auch in variierender Auswahl vorgetragen wurde. Strukturell besteht das KThom aus Erzählungen, die mit Redeteilen durchsetzt sind. Die Erzählungen mit ihren kurzen Berichten über die Taten Jesu und die Reaktionen der anderen verleihen der Geschichte ein hohes Maß an Spannung: Ständig ist etwas los. Die Reden dienen dazu, zentrale Ideen des Evangeliums zu vermitteln, insbesondere die göttliche Weisheit und die Wunderkräfte Jesu, und sie stellen einen Höhepunkt dar. In ihrer Form ähneln sie den Reden und Dialogen in anderen klassischen und frühchristlichen Werken. Gleichzeitig sind die Reden des KThom im Allgemeinen kürzer, und zwar kurz genug, um Kinder nicht zu ermüden. Das Changieren zwischen Erzählungen und Reden verleiht dem Buch einen abwechslungsreichen Charakter, der geeignet ist, das Interesse bis zum Ende aufrechtzuerhalten: Die Erzählungen bieten einprägsame Geschichten über Jesus, und die Sprüche dienen dazu, sie mit Vorstellungen von seiner Göttlichkeit zu durchdringen. Setting Das erzählerische Setting des KThom spiegelt überaus deutlich die Lebenswelt von Kindern wider. Anders als in hellenistischen Romanen und apokryphen Apostelgeschichten, die in weiter ausgreifenden Kontexten der antiken Welt spielen, geht es im KThom - mit Ausnahme des Besuchs Jesu im Tempel - nur um die alltägliche Umgebung der Kinder. Der Raum wird von Jesu Wohnung, von Häusern, Arbeitsplätzen, öffentlichen Orten, einer Schule, einem Bach, Feldern und Wäldern eingenommen - in der Tat ist dies die häusliche, kleinstädtische, ländliche Umgebung, die den meisten Kindern in der Spätantike vertraut war. Höchstwahrscheinlich ist dies ein erzählerisches Umfeld, das für Erwachsene nur von begrenztem Reiz war, im Unterschied zur Welt der Romane und Apostelakten. Aber für Kinder wäre dies ein Lebensraum, den sie wiedererkennen, mit dem sie sich identifizieren und an dem sie Freude finden konnten. Es ist ihre Welt, in der sie auch Jesus, ihren jungen Helden, gerne sehen wollten. Charaktere und soziale Interaktion Kinder nehmen im KThom eine herausragende Stellung ein; die Geschichte ist voll von ihnen. Der wichtigste ist natürlich Jesus, der verhältnismäßig facettenreich und anschaulich charakterisiert wird. Obwohl seine Persönlichkeit nur wenig entwickelt ist, zeigt er doch eine breite Palette von Emotionen und Reaktionen, und zwar auf ähnliche Weise wie normale Kinder: Er ist fröhlich, wird unruhig und zeigt Zorn. Er erscheint als ein round character , wobei das KThom 84 Reidar Aasgaard sich mehr als die kanonischen Evangelien auf seine Psychologie konzentriert. So lädt das KThom sein Publikum dazu ein, sich mit Jesus auf eine andere, mehr mental-emotionale Weise zu identifizieren, als es die Texte des NT tun. Abgesehen von Jesus sind die anderen Hauptfiguren - mit einigen signifikanten Ausnahmen - ebenfalls Kinder, wie etwa ein Sohn des Hohenpriesters, ein unvorsichtiger Junge und Jesu Bruder Jakobus. Ein Großteil der Interaktion Jesu findet mit Kindern statt: Sie spielen, streiten und schikanieren sich gegenseitig. Jesus wird sogar von seinen Spielkameraden verraten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten Figuren des KThom, zu denen ein jugendliches Publikum wahrscheinlich eine positive oder negative Beziehung aufbauen konnte, Kinder sind. Es ist jedoch auch erwähnenswert, dass es sich bei den genannten Kindern fast ausschließlich um Jungen handelt. 10 Auch die Erwachsenen spielen in der Geschichte eine wichtige Rolle. Sie nehmen drei Hauptrollen ein: Eltern, Lehrer und Zuschauer; letztere Gruppe lasse ich hier weg. Als Eltern treten die Erwachsenen vor allem durch ihre Kinder in Erscheinung. Jesus kommt zuerst mit den Kindern in Kontakt: Sie dienen als Hauptdarsteller und Identifikationsfiguren. Erst in einer zweiten Phase des Konflikts treten die Eltern in die Geschichte ein. Sie stehen also am Rande und sind fast nur dann beteiligt, wenn es um die Lösung von Konflikten geht. Die Eltern Jesu stehen jedoch eindeutig im Mittelpunkt der Geschichte, insbesondere Josef. Er wird sowohl mit starken als auch mit schwachen Eigenschaften dargestellt und kann aus der Perspektive eines Kindes als Folie für den eigenen Vater dienen, sowohl was die Funktion als auch die Autorität betrifft: Josef verteidigt Jesus, korrigiert ihn aber auch, bringt ihn zur Arbeit und in die Schule und steht im Dialog mit seinen Lehrern. Josef ist und tut also das, was ein Kind von einem Vater erwarten kann. Gleichzeitig wird die Vaterrolle jedoch in Frage gestellt, insbesondere als Jesus seinem Vater in der Werkstatt Befehle erteilt und als Jesus protestiert, als er am Ohr gezogen wird. Die Infragestellung ist jedoch nur geringfügig, und die richtigen Beziehungen werden am Ende wiederhergestellt. Dem Wunsch der Kinder nach Protest wird also in gewissem Maße nachgegeben, aber innerhalb klarer Grenzen und ohne die Eltern-Kind- Beziehung zu erschüttern. Abgesehen von der Tempel-Episode ist Maria eine eher blasse Figur. Sie wird in erster Linie mit dem Haus in Verbindung gebracht und tritt nur gelegentlich zusammen mit Josef auf. Der Widerstand gegen die Autorität der Erwachsenen ist in den Konflikten Jesu mit seinen Lehrern deutlich stärker ausgeprägt. Die geschilderten Szenen 10 Vgl. hierzu R. Aasgaard, From Boy to Man in Antiquity: Jesus in the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas , THYMOS: Journal of Boyhood Studies 3/ 2009, 3-20. Vgl. auch S. Betsworth, Children in Early Christian Narratives, London 2015, Kap. 7. Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? 85 spiegeln deutlich die weit verbreiteten Vorstellungen und Erfahrungen über den Schulbesuch und die oft harte Behandlung der Schüler durch die Lehrer wider, wobei körperliche Bestrafungen durchaus üblich sind. Die Weigerung Jesu, aus einem Buch vorzulesen, ist auch angesichts der Unzufriedenheit vieler früher Christen mit den paganen Curricula verständlich. Das Element des Protests ist besonders deutlich in der Episode mit dem ersten Lehrer. Hier endet der Dialog mit einer totalen Niederlage des Lehrers, der sich vor den Zuschauern blamiert. Diese für das KThom auffallend entwickelte Szene entpuppt sich als komische Travestie: Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Begeisterung eine so gewagte Geschichte bei einem Kinderpublikum aufgenommen wurde. Wie Joseph sind auch die Lehrer dank der Weisheit des dritten und letzten der auftretenden Lehrer nicht aller Autorität beraubt. Aber das KThom geht in der Infragestellung der pädagogischen Autorität viel weiter als der elterlichen. Aber auch hier wird die Autorität der Erwachsenen schließlich wiederhergestellt. Auf spielerische Weise balanciert das KThom also den Widerstand gegen die Mächtigen mit der Bestätigung der Autorität aus, aber auf eine Art und Weise, die einen Raum für die Revolte eröffnet, wenn nicht im realen Handeln, so doch zumindest in der Vorstellung und den Sehnsüchten der Kinder. Ereignisse Die Beschreibung der zentralen Ereignisse im KThom ist gut an ein junges Publikum angepasst. Kinder können sich leicht in die Aktivitäten von Jesus und seinen Spielkameraden hineinversetzen, z. B. wenn Jesus Spatzen aus Ton formt. Seine Belebung der Vögel könnte sogar die Fantasiewelt eines Kindes widerspiegeln, den Traum, etwas Außergewöhnliches zu vollbringen, etwas zum Leben zu erwecken. Die Episoden über den Sohn des Hohepriesters, der die Teiche Jesu zerstört, und über einen Jungen, der ihn anrempelt, stellen charakteristische Konflikte dar, in denen Kinder Erfahrungen von Übergriffen und Belästigungen wiedererkennen konnten. In beiden Fällen geht der Wunsch in Erfüllung, dass der Feind tot umfallen möge. Die Episode über Jesus, der von seiner Mutter Wasser holen geschickt wird und dann seinen Krug zerbricht, erzählt von einem Vorfall, der für einen Erwachsenen unbedeutend erscheinen würde, für ein kleines Kind aber eine große Tragödie darstellt. Auch hier rettet das Wunschdenken den Tag: Jesus sorgt dafür, dass sein Mantel das Wasser auffängt. Die Wundergeschichten gehören zu den charakteristischsten Elementen des KThom und entsprechen auf ihre Weise der kindlichen Perspektive. Viele der Wunder ereignen sich in den wichtigsten sozialen Kontexten von Kindern: in 86 Reidar Aasgaard der Familie (Wasserholen, Holzarbeiten, Ernte), in der primären sozialen Interaktion (Spiel, Arbeit, Schule) und im Zusammenhang mit grundlegenden Elementen für Kinder: Nahrung (Wasser, Brot, Heizung) und Ruhe (Bett). Die Wunder befassen sich auch mit Bedrohungen, die Kindern sehr vertraut sind: tödliche Tiere (Schlange) und Unfälle (Hinfallen). Auch die Heilungswunder verdienen Beachtung. Im KThom stehen sie fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Tod und der Auferstehung von den Toten. Einige erinnern an die kanonischen Evangelien, aber das Repertoire ist begrenzter. Dies wurde als Ausdruck einer Vulgarisierung des Geschmacks späterer christlicher Generationen interpretiert. Eine vernünftigere Erklärung ist jedoch, dass solche Wunder vor allem die Kleinen ansprechen konnten: Wunder auf Leben und Tod, die auch in Märchen vorkommen, waren für sie am eindrucksvollsten. Kinder ab einem Alter von etwa fünf Jahren befinden sich in einem Stadium, in dem sie über Leben und Tod als Phänomene nachdenken. Zu beachten ist auch, dass die Sterberate bei Kindern in der Antike weitaus höher war als bei Erwachsenen. Es ist auf diesem Hintergrund nicht unwahrscheinlich, dass Kinder eher daran interessiert waren, von der Wiederbelebung von Kindern als von Erwachsenen zu hören. Im KThom sind fast alle, die von den Toten auferweckt werden, Kinder oder Jugendliche. Als Gesamtbild ergibt sich, dass die verschiedenen Ereignisse ausgeprägt mit Kindern zu tun haben. In dem, was mit Jesus geschieht, in seinen Handlungen und Reaktionen und in den Beschreibungen seiner Lebensumstände spiegeln sich das Schicksal und die Gefühle junger Menschen wider. Sie konnten ihre eigene Welt wiedererkennen und die gleichen Freuden und Ängste empfinden. Sie waren in der Lage sich mit dem Zorn Jesu zu identifizieren, mit seinen Rachegelüsten mitzufühlen, davon zu träumen, ähnliche Kräfte zu besitzen. Dies wird in einer Weise formuliert, die für Erwachsene übertrieben und sogar beleidigend gewesen sein mag, die aber sehr wahrscheinlich die Erfahrungen von Kindern wiedergibt. Jesu Alter und Entwicklung Das Lebensalter Jesu zu verschiedenen Zeitpunkten der Erzählung entspricht gut den allgemeinen Vorstellungen der Antike über die Sozialisation von Kindern und ebenso den Geschlechterrollen: Mit fünf Jahren spielt Jesus und geht zur Schule, mit sieben wird er an üblicherweise von Frauen verrichteten Arbeiten im Haushalt beteiligt, mit acht an männlichen Aufgaben in der Werkstatt und mit zwölf steht er schließlich im Tempel an der Schwelle zur Erwachsenenwelt. Die Entwicklung der Tätigkeiten Jesu und seine allmähliche soziale Enkul- Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? 87 turation vermitteln also einen Eindruck von Authentizität, der den Erwartungen und Erfahrungen junger Menschen entsprach. Interessant ist auch die schmale Bandbreite der Lebensjahre Jesu, die im KThom im Mittelpunkt stehen: Abgesehen von Jesus im Tempel im Alter von zwölf Jahren behandeln die Episoden nur seine Lebensjahre von fünf bis acht. Oft wurde behauptet, dass ein Hauptziel des KThom darin bestand, die Lücken in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu zu füllen, um die Neugier des frühen christlichen Publikums zu befriedigen. Hierzu trägt das KThom indes nur wenig bei: Über die Jahre dazwischen verlautet nichts, und auch nichts über den weitaus längeren Zeitraum zwischen seinem zwölften und dreißigsten Lebensjahr. Tatsächlich gibt es kaum antike Quellen, die diesen Bereich abdecken. Eine viel plausiblere Erklärung für die Entstehung des KThom ist, dass seine Hauptadressaten Menschen waren, die demselben Lebensabschnitt angehörten wie sein Jesus, nämlich Kinder im Alter von etwa fünf bis zwölf Jahren. Soziale Werte und Theologie Im Allgemeinen spiegelt das KThom zeitgenössische Werte wider, wie z. B. die Verpflichtung der Kinder zur Loyalität und zum Gehorsam gegenüber den Eltern sowie die geltenden Ehrenkodizes. Erwähnenswert ist auch, dass das KThom dem Bedürfnis der Kinder nach psychischer und sozialer Bestätigung Beachtung schenkt: Sowohl Maria als auch Josef zeigen ihre Liebe, indem sie Jesus umarmen und küssen. Ähnliche Beschreibungen von intimer Körperlichkeit gegenüber Kindern kommen in den kanonischen Kindheitsgeschichten nicht vor und auch sonst nur selten im Neuen Testament. In diesem Punkt ist das KThom vielleicht lebensnäher. Auffallend ist, dass das KThom keine moralischen oder anderen Themen enthält, die in zeitgenössischen christlichen Quellen eine zentrale Rolle spielen, wie z. B. Askese und Ehe. Auch wenn solche Themen in einer Geschichte über die Kindheit Jesu nicht wichtig sein müssen, könnten sie dennoch angedeutet werden, wenn das KThom in erster Linie für Erwachsene gedacht wäre. Das ist aber nicht der Fall. Das KThom spiegelt auch so gut wie nichts von den theologischen Debatten im frühen Christentum wider, seien sie lehrhaft, polemisch oder apologetisch. Während die Jungfräulichkeit Marias im Kindheitsevangelium des Jakobus ein grundlegendes Thema ist, wird sie im KThom überhaupt nicht reflektiert; im Gegenteil, Jesu Bruder Jakobus scheint älter zu sein als Jesus, ohne dass dies in irgendeiner Weise problematisiert wird. Und während die antijüdische Polemik in anderen Werken des 2. Jh.s eindeutig im Vordergrund steht, ist davon im KThom wenig oder gar nichts zu finden. Stattdessen ist die Christologie ein- 88 Reidar Aasgaard deutig ihr wichtigstes theologisches Anliegen, mit dem Ziel, ein für die Zuhörerschaft glaubwürdiges Porträt von Jesus zu vermitteln. Auch in dieser Hinsicht scheint das KThom gut für Kinder geeignet zu sein. Mit der Christologie behandelt es ein grundlegendes und entscheidendes Thema des christlichen Glaubens. Durch die Konzentration auf ein einziges Hauptthema erhöht sich die Chance, dass die Botschaft ankommt. Und indem die Theologie in einer Kombination aus Erzählung und dramatischem Dialog präsentiert wird, ist sie so gestaltet, dass sie leicht im Gedächtnis zu behalten ist, aber auch Passagen enthält, die zum Nachdenken anregen. So wird die Theologie im KThom auf eine Art und Weise artikuliert, die Kinder anspricht - eine Geschichte über Jesus, der, pointiert gesagt, sowohl wahrer Gott als auch wahres Kind ist. Fazit Ich habe hier in vereinfachter Form die wichtigsten Punkte für meine These dargelegt, dass das KThom ursprünglich eine Kindergeschichte ist. Natürlich bedeutet die Tatsache, dass es im KThom um Jesus als Kind geht, nicht schon automatisch, dass die Geschichte für Kinder gedacht ist - ich bin mir sehr wohl bewusst, wie schwierig es ist, von der erzählten Welt des KThom auf die „reale“ Welt zu schließen. Ansätze wie die Hermeneutik des Verdachts und die Dekonstruktion haben uns auf die Gefahren der Vermischung von Fiktion und Fakten sowie auf die vielfältigen Risiken des mirror reading aufmerksam gemacht. Gleichwohl ist die erzählte Welt einer Geschichte nicht kontextfrei, sie steht immer in irgendeiner Beziehung - nah oder fern, positiv oder negativ - zu der Umgebung, in der sie produziert wurde, und zu dem Publikum, für das sie produziert wurde. Diese Beziehung ist in der Tat eine Voraussetzung für einen Großteil der modernen Forschung zum Neuen Testament. In meiner Untersuchung habe ich - soweit möglich - versucht, das KThom soziokulturell zu verorten, und zwar mit Blick auf seine Adressaten. Wie ausbaufähig diese These ist, wird sich zeigen. Natürlich ist die kindliche Perspektive im KThom nicht allgegenwärtig, aber sie ist dennoch durchgängig zentral: Die Geschichte ist in hohem Maße psychologisch und pädagogisch an das Niveau von Kindern angepasst und zeichnet - wenn auch in kleinem Format - ein realistisches Bild der antiken Kindheit und von Jesus als spätantikem Kind. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Forschungsmeinung waren Erwachsene in der antiken Welt - ob Geschichtenerzähler, Eltern oder andere - sehr wohl in der Lage, sich in Kinder einzufühlen, und zwar in einer Weise, wie wir es auch heute tun. Das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas: Die erste Kindergeschichte des Christentums? 89 Meine Behauptung, das KThom sei eine Geschichte für Kinder, schließt natürlich nicht aus, dass sie auch Erwachsene ansprach. Andernfalls wäre sie schwerlich überliefert und bewahrt worden. Einige meiner obigen Argumente gelten auch für Erwachsene: Auch sie konnten etwa ihre eigenen Erfahrungen mit sozialen Höhergestellten (im KThom: Lehrern) und ihren eigenen Glauben an Jesus als Sohn Gottes darin wiedererkennen. In der Zusammenschau deuten meine Argumente jedoch eindeutig darauf hin, dass das Hauptpublikum des KThom Kinder waren. In der modernen Kinderliteraturforschung ist das Konzept der „altersübergreifenden Literatur“ auf großes Interesse gestoßen. 11 Darunter versteht man Literatur, die sich hauptsächlich an Kinder richtet, aber auch - auf ähnlichen oder anderen Ebenen - andere Altersgruppen anspricht. Das Kindheitsevangelium des Thomas ist meines Erachtens ein solches Werk, allerdings nicht als Text, sondern als erzählte „altersübergreifende Geschichte“, die vor allem für Kinder gedacht war, aber auch vielen anderen große Freude bereiten konnte. 11 Vgl. B. Wall, The Narrator’s Voice: The Dilemma of Children’s Fiction, Basingstoke 1991/ 2017 (hier die Unterscheidung single address , double address , und dual address ). Im Norwegischen spricht man von „Allalderlitteratur“, Literatur geeignet für alle Altersgruppen.