eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder?

2021
Ursula Ulrike Kaiser
Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder? Ursula Ulrike Kaiser Die Wahrnehmung des sogenannten „Kindheitsevangeliums des Thomas“ (KThom) hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Das betrifft sowohl die Textgeschichte als auch viele inhaltliche Aspekte. Als ich 1999 die Aufgabe einer neuen Übersetzung des Texts samt Einleitung für die 7. Auflage der „Neutestamentlichen Apokryphen“ übernahm, deren erster, völlig neu bearbeiteter Doppelband dann unter dem veränderten Titel „Antike Christliche Apokryphen“ erst ein reichliches Jahrzehnt später erschien, 1 war die älteste griechische Textfassung aus dem Codex Sabaiticus (Ende 11. Jh.) zwar bereits bekannt, aber noch nicht ediert. 2 Daher fiel die Entscheidung, eine Übersetzung der noch deutlich älteren syrischen Fassung (aus dem 6. Jh.) neben die Übersetzung der einflussreichen, von Konstantin von Tischendorf kompilierten Langversion A (aus griechischen Handschriften des 15. und 16. Jh.s) zu stellen. Das war damals ein Kompromiss, zugleich aber auch ein echter Fortschritt. Denn eine deutsche Wiedergabe dieses alten syrischen Textes war bis dahin nicht verfügbar. 3 Inzwischen ist der Text des KThom in seiner Version nach dem Codex Sabaiticus ediert und auch endlich eine erste deutsche Übersetzung 1 U. U. Kaiser, Das Kindheitsevangelium des Thomas: Einleitung und Übersetzung. Unter Mitwirkung von Josef Tropper, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Band 1/ 2: Evangelien und Verwandtes. Tübingen 2012, 930-959. 2 2001 edierte Tony Burke den Text dann erstmals in seiner Dissertation, neun Jahre später erfolgte die wissenschaftliche Erstedition: T. Burke, De infantia Iesv evangelivm Thomae (CChr.SA 17), Turnhout 2010. 3 Die Übersetzung wurde von Josef Tropper erstellt. Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 92 Ursula Ulrike Kaiser im Druck. 4 Der ursprünglichen Form des Textes ist die Forschung damit jedoch nur bedingt nähergekommen. Nach einer Phase intensiver Texterforschung, die bereits in den 1970er Jahren mit Stephen Geros Forschungen entscheidende Impulse erhielt, 5 lässt sich bilanzieren, dass ein Urtext wohl nie zu ermitteln sein wird 6 und es wesentlich ertragreicher ist, den Text gerade in seiner Vielfältigkeit und Offenheit für Veränderungen und Anpassungen in den Blick zu nehmen. Spätestens hier kommen dann die von Reidar Aasgaard mit Vehemenz aufgeworfenen Fragen nach der Intention des Textes und nach den vom Text Adressierten ins Spiel. Allerdings wird damit auch zugleich deutlich, dass man diese Fragen genau genommen immer an mehrere Textvarianten stellen muss. Oder anders gesagt: Weil es den Text des sogenannten KThom nicht gibt, wird es unter Umständen entsprechend schwierig, die primär Adressierten des Textes zu bestimmen. Stellen wir die Problematik verschiedener Textfassungen aber vorerst noch einmal zurück und greifen die Grundthese Aasgaards zu den primären Adressaten des KThom als solche auf: Waren es Kinder? Ich stehe dieser These kritisch gegenüber, will aber zuerst die aus meiner Sicht positiven Aspekte dieses Herangehens hervorheben: Bedeutsam ist m. E., dass überhaupt nach Kindern als möglichen Rezipienten antiker Texte gefragt wird, auch wenn es methodisch schwer nachweisbar bleibt, dass sie die primären Adressaten bestimmter Texte gewesen sein sollen (wie Aasgaard auch selbst konzediert). Aber Kinder fallen als tatsächliche Rezipienten von Texten nicht einfach weg, nur weil wir sie nicht eindeutig als intendierte Leser- und Hörerschaft bestimmen können. Nur weil die antiken Quellen über Kinder (und andere Menschen mit geringem gesellschaftlichem Status) sowieso wenig sagen und noch viel weniger deren eigene Weltsicht transportieren, 7 sollte die Forschung sie nicht aus dem Blick verlieren. Auch wenn wir es also m. E. nicht mit Kindern als den primär vom KThom Adressierten zu tun haben, so doch sicherlich mit einem anderen Publikum als 4 U. U. Kaiser, Das Kindheitsevangelium des Thomas. Einleitung und Übersetzung, in J. Wehnert (Hg.), Große Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur, Paderborn 2022. 5 S. Gero, The Infancy Gospel of Thomas. A Study of the Textual and Literary Problems, NT 13/ 1971, 46-80. 6 S. J. Voicu, Verso il testo primitivo dei Παιδικὰ τοῦ κυρίου Ἰησοῦ/ Raconti dell’infanzia del Signore Gesù, Apocrypha 9/ 1998, 7-95. 7 Das geschieht in der Regel nur selten einmal indirekt in Form eines Rückblicks eines erwachsenen Autors auf eigene Kindheitserfahrungen. Für das KThom inhaltlich interessant ist hier z. B. Lukian, der von verbotenen Nebenbeschäftigungen während seiner Schulzeit berichtet (er formt aus Wachsresten Tier- und Menschenfiguren; vgl. KThom 2) und von den Strafen durch die Lehrer (vgl. KThom 6 ff.). Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder? 93 jenem, das z. B. die Bibelkommentare der Kirchenväter las. Das hat in der Geschichte der Erforschung des KThom aber keinesfalls zu einer positiven Evaluation des Textes geführt. Über eine Beurteilung des Textes als „theologisch unerhört banal“ 8 wurden auch seine Trägergruppen entsprechend abgewertet, indem man ihnen wenig Geschmack und bloße „frommer Neugier“ 9 als wesentliches Motiv attestierte. Und so trifft die offensichtlich große Beliebtheit des KThom, wie sie sich in der breiten Überlieferung in vielen verschiedenen Versionen in verschiedenen Sprachen über einen längeren Zeitraum spiegelt, noch bis in die 1990er Jahre auf eine ähnlich große Ablehnung in der Forschung. Dass diese Attitüde dem Text gegenüber nicht angemessen und letztlich auch nicht wissenschaftlich ist, sehe ich genauso wie Reidar Aasgaard. Zugleich steht sein Vorschlag, Kinder als primäre Adressaten des KThom zu postulieren, m. E. in der Gefahr, die in der Forschung lange Zeit propagierten Abwertungen dieses Textes unterschwellig weiterzutransportieren: Denn es könnte der Eindruck entstehen, dass dessen Gleichsetzung mit „anspruchslosen Märlein“ 10 voller unreflektierter Fabulierlust 11 an sich bestehen bleibt, dies jedoch plötzlich kein Verdikt mehr gegen das KThom darstellt, weil der Text nun als ein für Kinder intendierter verstanden wird. Aber welches Maß für theologische Tiefe und 8 G. Schneider, Evangelia infantiae apocrypha (FC 18), Freiburg/ Br. u. a. 1995, 37. 9 W. Rebell, Neutestamentliche Apokryphen und Apostolische Väter, München 1992, 134. 10 W. Michaelis, Die Apokryphen Schriften zum Neuen Testament (Sammlung Dieterich 129), Bremen 3 1956, 98. 11 Vgl. O. Cullmann, der dem „Sammler“ dieser Geschichten einen „Mangel[] an gutem Geschmack, an Maß und Diskretion“ vorwirft, aber immerhin ein „naiv-anschauliches Erzähltalent“ zugesteht (O. Cullmann, Kinderheitserzählung des Thomas, in: NTApo I 6 , 349-359, hier 352). Prof. Dr. Ursula Ulrike Kaiser, geb. 1971, studierte Neuere Deutsche Literatur und Evangelische Theologie in Berlin sowie in Bern und wurde 2005 in Berlin promoviert. Nach Vikariat und Entsendungsdienst in Berlin war sie von 2009 bis 2016 als Postdoc am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg tätig, wo sie sich 2016 habilitierte. Von Ende 2016 bis 2018 lehrte sie als Akademische Rätin an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2019 ist sie Professorin für Biblische Theologie und ihre Didaktik an der TU Braunschweig. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind frühchristliche Apokryphen, koptisch-gnostische Schriften sowie Metaphern in frühchristlichen Texten und in deren Umfeld. 94 Ursula Ulrike Kaiser angemessene Erzählfreude soll hier eigentlich gelten? Und wie lässt sich rekonstruieren, was eine kindliche Sicht auf Jesus wäre und ob das KThom diese Perspektive gut trifft? Aasgaard adressiert alle diese Fragen und macht deutlich, dass ein methodisch umsichtiges Herangehen wichtig ist, um nicht unreflektiert moderne Maßstäbe anzulegen. Seines Erachtens haben die neueren Forschungen zur Kindheit in der Antike genügend Ergebnisse hervorgebracht, um ein einigermaßen zuverlässiges Bild zu gewinnen und auf dieser Grundlage das KThom als einen für Kinder intendierten Text einzuordnen. Ich würde dieser Einschätzung insoweit zustimmen, dass das KThom auch geeigneten Erzählstoff für Kinder enthält und als solcher genutzt werden konnte. Aber ich denke nicht, dass sich nachweisen lässt, dass der Text im Wesentlichen mit dieser Intention entstanden ist. Ich greife im Folgenden einige Punkte auf, die für Aasgaards Argumentation wichtig sind und die ich zum Teil anders einschätze. Zunächst einmal präferiere ich als Bezeichnung des Textes das Wort Paidika , „Kindheitstaten“, das mit großer Wahrscheinlichkeit zum ursprünglichen Titel gehörte. Denn als Evangelium wird der Text in keiner der alten Überlieferungen bezeichnet und präsentiert sich selbst auch nicht als ein solches. Wohl aber signalisiert vor allem die letzte Episode vom 12jährigen Jesus im Tempel, die sich deutlich an Lk 2,41-52 orientiert, ein spezifisches Verhältnis zu den Evangelien. Die Paidika bauen hier eine direkte Brücke zur Erzähltradition der Evangelien (oder wenigstens des LkEv) mit dem Ziel auf, diese um „fehlenden“ Stoff zu ergänzen. Aasgaard hält den Text dagegen eher für unabhängig, wenn auch mit Kenntnis der Evangelien verfasst, denn daran lassen die vielen Anspielungen und Übernahmen von Gattungsmustern keinen Zweifel. M.E. ist es für das Verständnis der Paidika aber wichtig wahrzunehmen, dass sie sich nicht in Konkurrenz oder als Alternative zu den Evangelien verstehen, sondern diese als Basis voraussetzen. Denn damit lässt sich die häufig vorgebrachte Kritik an der so einseitig erscheinenden Herrlichkeitschristologie, die alle Ansätze eines leidenswilligen Jesus vermissen lässt, entkräften. Richtig daran ist: Die Paidika bieten keine vollständige Christologie (dazu gleich noch mehr). Sie treten aber auch nicht mit diesem Anspruch an, sondern sind Teil eines Traditionsraums, auf den sie sich immer wieder selbst beziehen, in den sie mit der Nacherzählung von Stoff aus Lk 2,41-52 bewusst einmünden und dessen Inhalte sie somit als bekannt voraussetzen. 12 12 Noch weiterentwickelt und auf ein spezifisches Verhältnis zum Lukasevangelium (und Apostelgeschichte) enggeführt wurde dieser Gedanke von T. Chartrand-Burke, Completing the Gospel. The Infancy Gospel of Thomas as a Supplement to the Gospel of Luke, in: L. DiTommaso / L. Turescu (Hg.), The Reception and Interpretation of the Bible in Late Antiquity. Proceedings of the Montreal Colloquium in Honour of Charles Kannegiesser, Leiden 2008, 101-119. Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder? 95 Das schließt umgekehrt aber keinesfalls aus, dass Episoden aus der lockeren Anreihung von Erzählungen - auf die der Plural Paidika im Übrigen auch deutlich hinweist - einzeln weitererzählt wurden, 13 wie es für einzelne Geschichten aus den Evangelien oder andere Bibelgeschichten ja zweifellos auch der Fall gewesen sein wird. Aasgaard verweist hier auf Johannes Chrysostomus ( Inan. Glor. 37-46), der für Kinder und deren christliche Erziehung gut erzählte Bibelgeschichten statt alter Ammenmärchen fordert und dabei unter anderem selbst einen Vorschlag für den pädagogischen Einsatz der Geschichten von Kain und Abel und Esau und Jakob bringt. Diese Forderung ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass sich christliche Theologen wie Johannes Chrysostomus im 4. Jh. sehr wohl Gedanken über für Kinder taugliche Erzählungen machen und wie sie im Sinne einer christlichen Erziehung einzusetzen wären. Von eigens für Kinder verfassten Texten hören wir hier allerdings nichts. Und so ist Johannes Chrysostomus einerseits ein wertvoller Zeuge für eine Perspektive, die Kinder als spezifische Rezipienten wahrnimmt und deren Interesse an gut erzählten Geschichten im Sinne einer christlichen Erziehung nutzen möchte, zugleich steht Johannes Chrysostomus apokryphen Inhalten aber erkennbar kritisch gegenüber und bemerkt andernorts speziell im Hinblick auf „Zeichen, von denen gesagt wird, sie seien die ‚Kindheitstaten Christi‘ ( paidika … tou Christou )“, dass sie „erlogen“ seien und „Fiktionen irgendwelcher Leute“ ( In Iohannem homilia 17). Ob sich Johannes Chrysostomus hier bereits von „Kindheitstaten Christi“ in Gestalt einer frühen Textfassung der Paidika abgrenzt oder eher auf mündlich kursierende Geschichten Bezug nimmt, ist nicht sicher zu ermitteln. Klar ist aber, dass zu seinem Erziehungsprogramm für Kinder keine Geschichten über den kleinen Jesus gehören, die in den kanonisch gewordenen Evangelien keinen Rückhalt haben. Dennoch lässt sich noch etwas anderes an dem von Aasgaard eingebrachten Zitat aus Inan. Glor. 37-46 erkennen und vertiefen: Johannes Chrysostomus greift als geeignete Bibelgeschichten für Kinder hier mit den Erzählungen von Kain und Abel und Esau und Jakob Beispiele von zwei Geschwister- Konflikten auf, die thematisch für Kinder unmittelbar anschlussfähig sind (und das gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit für Kinder zu allen Zeiten). Diese Qualität lässt sich ähnlich auch in der Geschichtensammlung der Paidika erkennen. Es geht, mit wenigen Ausnahmen, um eine Lebenswelt, wie sie für Kinder in einer eher ländlich geprägten Umgebung in der ausgehenden Antike gut vorstellbar ist. 14 13 Dass die Lehrerepisode in der Epistula Apostolorum (EpAp 4) begegnet, zeugt z. B. davon. 14 Zu den Ausnahmen zählen vor allem jene Züge, mit denen in den Paidika die jüdische Herkunft Jesu illustriert wird, auch wenn dies offensichtlich bereits aus einer eher entfernteren Position heraus geschieht und an der Oberfläche bleibt. Insbesondere die Wallfahrt nach Jerusalem kann nach 70 n. Chr. in der Lebenswelt des Publikums keinen Haft- 96 Ursula Ulrike Kaiser Konflikte entstehen im Wesentlichen aus dem gemeinsamen Spiel heraus und aus der Auseinandersetzung mit Autoritätspersonen (Vater und Lehrer), aber auch die Hilfe im Haushalt und bei der Arbeit des Vaters wird thematisiert. Dass das aber bereits ein entscheidendes Indiz dafür sei, dass diese Geschichten für Kinder entworfen und erzählt wurden, halte ich nicht für zwingend. Denn schließlich ist diese Lebenswelt, die in den Paidika aus der kindlichen Perspektive wahrgenommen wird, weil die Hauptperson der Erzählungen ein Kind ist, ja auch die Lebenswelt der Erwachsenen. Jene Punkte, die Aasgaard insbesondere im Hinblick auf die Wundergeschichten noch einmal als speziell auf Kinder zugeschnittene aufzählt (die familienbezogenen Aktivitäten des Wasserholens, des handwerklichen Arbeitens und Erntens; die sozialen Interaktionen beim Spiel, bei der Arbeit und in der Schule; die basalen Elemente des täglichen Lebens: Wasser, Getreide, Holz zum Feuermachen, ein Bett; die Gefährdungen des Lebens durch gefährliche Tiere und Unfälle), beschreiben insgesamt die ländliche Lebenswelt einfacher Leute - sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen. Dazu gehört sicherlich auch die Präsenz des Todes. Dass hier häufiger von Kindern erzählt wird, die sterben und von Jesus wieder auferweckt werden, als von Erwachsenen (wobei in der Fassung des Codex Sabaiticus drei gegen zwei Geschichten stehen, was in meiner Sicht nicht so signifikant ist, wie Aasgaard es darstellt), 15 betrifft wiederum ein Thema, das für Erwachsene zweifellos ebenso von bedrückender Relevanz angesichts hoher Kindersterblichkeit war, wie für Kinder. Da die Lebenswelt, die die Paidika schildern, m. E. also nicht allein aus der Perspektive von Kindern nachvollziehbar und bedeutsam war, halte ich es auch nicht für plausibel, dass diese Sammlung von Geschichten aufgrund ebendieser Verortung und auch nicht aufgrund ihrer Kürze und Episodenhaftigkeit für Erwachsene eher langweilig wirken musste, wie Aasgaard meint. Vielmehr zeigt sich hier im Text ein erzählerisches Geschick, das die Perspektive des kindlichen Hauptprotagonisten gut aufzugreifen und wiederzugeben weiß. Das wussten erwachsene Leserinnen und Leser bzw. Hörerinnen und Hörer, gerade dann, wenn sie selbst aus diesem eher einfachen Milieu stammten, das der Text schildert, sicherlich (und vermutlich besser als ein Teil der modernen Forschung) zu schätzen. Außerdem zieht sich ein christologisches Thema durch diese Erzähpunkt mehr finden, umso deutlicher wird, dass diese Episode innerhalb der Paidika eine besondere Scharnierfunktion innehat (s. o.). 15 Vgl. in der Reihenfolge des Codex Sabaiticus die Episoden 3; 4 und 9, in denen Kinder von Jesus auferweckt werden (wobei in letzterer Zeno nur auferweckt wird, um Jesu Unschuld zu bestätigen, und danach wieder entschläft), und die Episoden 13 und 16, in denen ein Lehrer und ein Holzhacker ihr Leben zurückerhalten. In Episode 15 wird Jesu Bruder Jakobus von einer Schlange gebissen, stirbt aber nicht. Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder? 97 lungen, dessen vertiefte Wahrnehmung durchaus eine komplexere Reflexionsfähigkeit bei den Rezipientinnen und Rezipienten voraussetzt. Die These, dass der Text daher „so gut wie nichts“ von den theologischen Debatten des frühen Christentums widerspiegle, kann ich deshalb nicht teilen. Vielmehr wird die Frage, wie ein Mensch Gott sein kann und mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet ist, zugespitzt auf die Frage, wie dieser inkarnierte Gott als Kind agiert haben mag. Die Antworten, die der Text darauf gibt, sind durchaus anspruchsvoll und scheuen sich nicht vor erzählerischen Wendungen, die gegenwärtigen Leserinnen und Lesern oft als sehr befremdlich erscheinen, aber sicherlich auch für das damalige Publikum eine gewisse Herausforderung darstellten. Das zeigen z. B. die Strategien in verschiedenen Überlieferungsschichten (einschließlich der frühen Übersetzungen), bestimmte Strafwunder Jesu in ihrer Auswirkung zu mildern oder in ihrer Motivation plausibler zu machen. 16 Insgesamt aber buchstabieren die Episoden der Paidika mit großer Konsequenz durch, wie sich die vollständige Menschwerdung Jesu - konkret: seine Kindlichkeit - mit seiner gleichzeitig vorhandenen vollständigen Göttlichkeit in alltäglichen Situationen auswirkt und wie der kleine Jesus nach und nach lernt, mit seiner göttlichen Kraft umzugehen. 17 Es entstehen dabei Geschichten, die viel von ihrem Unterhaltungswert aus dem erzählerischen Geschick ziehen, mit dieser Reibung umzugehen, die aber zugleich einen theologischen Unterbau haben, der m. E. nicht in erster Linie auf Kinder als Rezipienten zielt. Nicht zuletzt angesichts der vielgestaltigen Überlieferung der Paidika (s. o.) bleibt die Frage nach der intentio operis (ganz zu schweigen von der intentio auctoris ) allerdings in jedem Falle eine schwierige, denn sie müsste für verschiedene Fassungen des Textes u. U. auch differenziert entschieden werden. Mit Sicherheit zeigt die große Verbreitung der Episoden der Paidika in unterschiedlichen Zusammenstellungen jedoch, dass es ein breites und vermutlich ebenso vielfältiges Publikum für diese Sammlung von Erzählungen über den kleinen Jesus gab. 16 Zum Beispiel wird von jenem Jungen, der in KThom 4 im Vorbeilaufen an Jesu Schulter stößt und von diesem sofort verflucht wird, in der griechischen Kurzversion B gesagt, dass er einen Stein nach Jesus geworfen hätte. In der lateinischen Version des sog. „Pseudo-Matthäusevangeliums“ als auch in der irischen und georgischen Übersetzung werden dem anderen Jungen ebenfalls ausdrücklich böse Absichten unterstellt, gegen die Jesus sich - dann in sehr nachvollziehbarer Weise - zur Wehr setzt. 17 Diese Entwicklung geht zweifellos in gewissen Sprüngen vor sich - der episodische Charakter lässt anderes kaum zu, die Tendenz ist aber in allen verschiedenen Textfassungen trotz unterschiedlichen Textumfangs erhalten und wird, sowohl anhand von Altersangaben aber auch von altersgemäßen Beschäftigungen des kleinen Jesus, in eine Reihenfolge gebracht, die in der Überlieferung recht große Konstanz aufweist. S. dazu auch: U. U. Kaiser, Die sogenannte „Kindheitserzählung des Thomas“. Überlegungen zur Darstellung Jesu als Kind, deren Intention und Rezeption, in C. Clivaz u. a. (Hg.), Infancy Gospels. Stories and Identities (WUNT 281) Tübingen 2011, 459-481. 98 Ursula Ulrike Kaiser In einem Aufsatz von 2010 habe ich, in Reaktion auf die damals gerade erschienenen Überlegungen von Aasgaard, wie „most attractive“ es für christliche Kinder gewesen sein muss, Geschichten „of their main hero as a small boy“ zu lesen, 18 abschließend vorgeschlagen, in vergleichbarer Weise die Lektüre von Eltern zu imaginieren, und habe gefragt, ob die Paidika vielleicht „eigentlich ein Kinderbuch für Eltern“ gewesen sein könnten. 19 Was dort mit einem deutlichen Hinweis auf meine eigene Perspektive als moderne Leserin und Mutter zweier damals 6 und 7 Jahre alter Söhne nur im Konjunktiv formuliert und eher als kreatives Gedankenexperiment gemeint war, greife ich hier gern noch einmal mit der Absicht der Klärung auf. 20 Worauf ich hinweisen wollte und will, ist die Schwierigkeit, aus der Thematik der Paidika ( Jesus als Kind) und der spezifischen Weise der Darstellung (kindgemäße Lebenswelt und Charakterdarstellung) notwendig auf Kinder als intendierte Rezipienten zu schließen, wenn doch ebenso jene, die mit Kindern leben und für ihre Erziehung sorgen, viel aus diesem Text „most attractive“ finden könnten. Gerade die Autoritätskonflikte und das kindliche Protestpotenzial, die in den Paidika immer wieder thematisiert werden und die Aasgaard als Hinweise deutet, dass wir es mit einem Text für Kinder zu tun haben, könnte m. E. ebenso auf einen Text deuten, der diejenigen anzusprechen vermochte, die mit solchen kindlichen Ausbrüchen von Aggression und Verweigerung täglich umzugehen hatten (und haben): Eltern. Dass der Text hier keine Lösungen bietet, sondern Josef (weniger Maria, s. u.) immer wieder an Grenzen führt, spricht m. E. nicht gegen eine solche Lesart, sondern eher für einen guten Realitätssinn und wiederum auch für das Geschick der Erzählung, die Göttlichkeit Jesu in Reibung mit der Vater-Kind-Beziehung darzustellen. Genauso wenig wäre im Übrigen Jesu Umgang mit den Lehrern eine praktikable Handlungsanweisung für Kinder, auch wenn deren Empörung über damals gängige Züchtigungen und langweilige Lehrmethoden berechtigt gewesen sein mag. Dennoch würde ich nicht im Affirmativ von den Paidika als 18 R. Aasgaard, The Childhood of Jesus: Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas, Eugene 2009, 202. 19 U. U. Kaiser, Jesus als Kind. Neuere Forschungen zur Jesusüberlieferung in apokryphen „Kindheitsevangelien“, in: J. Frey / J. Schröter, Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen. Beiträge zu außerkanonischen Jesusüberlieferungen aus verschiedenen Sprach- und Kulturtraditionen (WUNT 254), Tübingen 2010, 253-269, hier 269. 20 Offenbar erschließt sich der unaufhebbare Bezug meiner These auf Aasgaards These und vor allem die leichte Ironisierung in der Einbeziehung meiner eigenen Eltern-Position nur im Deutschen klar genug. Jedenfalls ging es mir ganz sicher nicht darum, „contemporary parental psychology as a basis for historical reconstruction“ zu nutzen, wie S. J. Davies, Christ Child. Cultural Memories of a Young Jesus, New Haven/ London 2014, 12 kritisch anmerkt und dies zu Recht zurückweisen würde, wenn es denn darum gegangen wäre. Das apokryphe „Kindheitsevangelium des Thomas“: Wirklich „nur“ eine Geschichte für Kinder? 99 „Kinderbuch für Eltern“ sprechen. Für die Frage nach Rezeptionsperspektiven halte ich den Blick auf die Eltern aber für ähnlich spannend wie den Blick auf die Kinder, den ich abschließend noch einmal kritisch aufgreifen möchte: Schauen wir noch ein letztes Mal genauer auf die Lebenswelt der Kinder, die die Episoden der Paidika so plastisch aufgreifen, dann bleibt aus einer Genderperspektive zu präzisieren, dass es sich ausschließlich um die Lebenswelt von Jungen handelt. 21 Es gibt keine weiblichen Spielkameraden, es kommen keine Schwestern Jesu vor (obwohl wir in Mk 6,3 par. auch von Schwestern hören), wohl aber Jakobus als Bruder und es gibt kaum andere weibliche Figuren im Text: Maria spielt außer in der letzten Episode, die durch die lukanische Vorgabe in eigener Weise geprägt ist, eine marginale Rolle, weitere weibliche Figuren werden nur inklusiv als Eltern anderer Kinder sichtbar. 22 An die These Aasgaards von den Kindern als primären Adressaten bliebe daher die Frage zu stellen, ob das Wort „Adressaten“ hier als generisches oder als genuines Maskulinum verstanden werden soll. Anders und ohne die Spitzfindigkeiten der deutschen Grammatik formuliert: Wie sähe die These von den Kindern als dem ursprünglich intendierten Publikum der Paidika aus, wenn man ausdrücklich nach der Lebenswelt von Mädchen fragte? 21 S. dazu auch: U. U. Kaiser, Geschlechterrollen in der „Kindheitserzählung des Thomas“, in: S. Petersen / O. Lehtipuu, Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums, Stuttgart: Kohlhammer, 2019, 96-107 (Bd. 3.2 der Reihe C. de Groot / I. Fischer / M. Navarro / A. Valerio (Hg.), Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie). 22 In Episoden, die erst in späteren Textfassungen nachgewiesen werden können, verändert sich dieses Verhältnis leicht, aber keineswegs signifikant. Nur in der griechischen Textfassung D (15. Jh.) bekommt Maria in mehreren vorangestellten Episoden von Jesus als Kleinkind in Ägypten eine prominente Rolle, während hier Josef völlig zurücktritt.