eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 24/48

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2021
2448 Dronsch Strecker Vogel

Was ist neu am childist criticism?

2021
Wolfgang Grünstäudl
Hermeneutik und Vermittlung Was ist neu am childist criticism? Wolfgang Grünstäudl 1 Einführung „Innovation ist in der neutestamentlichen Wissenschaft ein Zeichen mangelnder Belesenheit“ - dieses dem Berliner Neutestamentler Rainer Kampling 1 zugesprochene Bonmot drückt eine in der Zunft wohlbekannte Innovationsskepsis aus: Lässt sich denn über den geradezu lächerlich kleinen Kerngegenstand ntl. Exegese, der von einer Heerschar hoch spezialisierter und äußerst kompetenter Ausleger: innen mit größter Leidenschaft untersucht wird, überhaupt noch etwas Neues sagen? 2 Sicherlich mag die 1936 von Charles Harold Dodd in seiner Cambridger Antrittsvorlesung geäußerte Überzeugung, die textkriti- 1 Für die mündliche Überlieferung dieses Logions danke ich herzlich Matthias Adrian (Berlin). 2 Ihren klassischen Ausdruck fand diese Frage in der ersten von fünf Schlussthesen bei M. Hengel, Aufgaben der ntl. Wissenschaft, NTS 40/ 1994, 321-357, 355: „Der beschränkte Raum unserer Disziplin, die sich auf ein kleines Buch konzentriert, droht, durch die Flut der unüberschaubar gewordenen Literatur und der damit verbundenen Unzahl von Hypothesen zu eng zu werden und unseren Gegenstand, das Neue Testament, eher zu verschütten als zu erhellen. Durch Hypothesenflut und Überinterpretation gehen uns die Kriterien für eine nüchterne Anwendung philologisch-historischer Methoden wie auch der Zugang zur theologischen Wahrheit der uns anvertrauten Texte verloren, während sich andere Disziplinen kopfschüttelnd von uns abwenden.“ Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang (2021) Heft 48 102 Wolfgang Grünstäudl sche und exegetische Arbeit am Neuen Testament sei in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s weitgehend erfolgreich abgeschlossen worden, so dass nun, im 20. Jh., nur noch einige wenige Aufgaben, vor allem der theologischen Interpretation, zu erledigen seien, 3 im 21. Jh. zum Schmunzeln anregen - doch welche: r Neutestamentler: in hat nicht schon einmal neidisch auf die etwa viermal so große Textbasis der alttestamentlichen Kolleg: innen geblickt? Andererseits steht auch die Forschung am NT wie jede Wissenschaft unter einem steten und nicht immer inspirierenden Innovationsdruck, der nicht nur in Promotionsordnungen institutionalisiert ist sondern in den Eigendynamiken drittmittelfinanzierter Forschung gegenwärtig mitunter bizarre Blüten treibt, wie sie etwa Jorge Cham in seinem berühmten Cartoon The Grant Cycle 4 aufs Korn genommen hat. Muss folglich eine Disziplin, die auf einen minimalen und fest umrissenen Textbestand verwiesen ist, ihr Heil nicht zwangsläufig in immer neuen Lektüreweisen, methodischen Ansätzen und Hypothesengeflechten suchen, die sich weniger sachlicher Notwendigkeit denn forschungspolitischer Opportunität verdanken? 5 Beides - Innovationsskepsis wie Innovationszwang im Rahmen ntl. Wissenschaft - brachte kürzlich Knut Backhaus in einem Grundsatzbeitrag pointiert zum Ausdruck: „Wie lange mögen die Flotten der Hochseefischerei in diesem kleinen Goldfischteich noch unterwegs sein, bis sich die Frage durchsetzt, die Exegeten nicht selten gestellt wird: ’Sind Sie nicht langsam überfischt? ‘ - ‚Keineswegs‘, ließe sich antworten, ,denn wir leiten immer neue Hypothesenfluten durch.’“ 6 Dieses zwiespältige Verhältnis der ntl. scientific community zum Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts - von den Besonderheiten kirchlicher Erwar- 3 C.H. Dodd, The Present Task in New Testament Studies. An Inaugural Lecture Delivered in the Divinity School on Tuesday 2 June 1936, Cambridge 1936, 10: „The major problems had in a measure been solved.“ Vgl. hierzu M. Bockmuehl, ‚To Be Or Not To Be‘: The Possible Futures of New Testament Studies, SJTh 51/ 1998, 271-306, der in einem Gedankenexperiment Dodd eine Zeitreise in die 1990er-Jahre machen lässt, um ihm den - nach Bockmuehl: keineswegs glorreichen - Zustand der ntl. Wissenschaft vorzuführen. 4 Vgl. http: / / phdcomics.com/ comics.php? f=1431 [abgerufen am 12.09.2021]. 5 So die Diagnose bei Bockmuehl, To Be, 278: „To a very large extent Neutestamentler’s scholarship has become a rootless enterprise at the mercy of intellectual fads and fashions.“ 6 K. Backhaus, Aufgegeben? Historische Kritik als Kapitulation und Kapital von Theologie, ZThK 114/ 2017, 260-288, 274. Backhaus, der natürlich damit nicht einem Ende der Exegese das Wort reden will, möchte dieser und anderen Herausforderungen der historischen Kritik mit dem durch Wolfgang Welsch inspirierten Konzept einer „transversalen Exegese“ (vgl. ebd., 285-288) begegnen. Was ist neu am childist criticism? 103 tungen an die Exegese ganz zu schweigen 7 - bildet den Hintergrund für die Leitfrage dieses Beitrages: Was ist neu am childist criticism , der, wie Reidar Aasgaard in seinem Einführungsbeitrag en détail nachzeichnet, in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer Projekte und Publikationen hervorgebracht hat? Wenig überraschend ist diese Frage selbst nicht neu. Im 2020 erschienen Sammelband Children and Methods: Listening To and Learning from Children in the Biblical World , der so etwas wie einen methodisch-hermeneutischen Zwischenbericht zur Rezeption der childhood studies 8 in den Bibelwissenschaften bietet, 9 wird sie von den Herausgeber: innen Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens folgendermaßen gestellt: „[A]re we simply engaged in asking new 7 Vgl. z. B. in römisch-katholischer Perspektive die Analyse zum „Fall Hoppe“ bei N. Lüdecke, Vom Lehramt zur Heiligen Schrift. Kanonistische Fallskizze zur Exegetenkontrolle, in: U. Busse / M. Reichardt / M. Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung, FS Rudolf Hoppe (BBB 166), Göttingen 2011, 501-525, sowie in orthodoxer Perspektive die Positionierung des Metropoliten von Volokolamsk, H. Alfejev, The „Demythologization“ of New Testament Studies, in: T. Nicklas / K.-W. Niebuhr / M. Selezev (Hg.), History and Theology in the Gospels. Seventh International East-West Symposium of New Testament Scholars, Moscow, September 26 to October 1, 2016 (WUNT 447), Tübingen 2020, 3-24, samt den Erwiderungen von W. Loader, F. Watson und J. Marcus im selben Band. 8 Ich verwende im Folgenden die Begriffe childhood studies , childist criticism und child-centred interpretation mit Blick auf die Bibelwissenschaften vorerst weitgehend synonym; zur weiteren begrifflichen Klärung vgl. Abschnitt 4. 9 A. Lindeman Allen, Rezension zu: K. H. Garroway / J. W. Martens (Hg.), Children and Methods. Listening To and Learning from Children in the Biblical World, Leiden/ Boston 2020 (www.sblcentral.org/ home/ bookDetails/ 13892, abgerufen am 12.09.2021), o.S., spricht treffend von „a seminal volume that … represents a coming of age for childist criticism as a new method of biblical criticism.“ Dr. Wolfgang Grünstäudl, geb. 1977, studierte Katholische Theologie und Religionspädagogik in Wien und Regensburg und wurde 2012 in Regensburg promoviert. Nach beruflichen Stationen im Schuldienst war er von 2008 bis 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Koblenz-Landau und ist seit 2013 Akademischer Rat bzw. Oberrat an der Bergischen Universität Wuppertal. Im Wintersemester 2021/ 22 vertritt er die Professur für Theologie des Neuen Testaments und Biblische Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind das Lukasevangelium, die Katholischen Briefe sowie Grundfragen neutestamentlicher Theologie und Hermeneutik. 104 Wolfgang Grünstäudl questions, which at a minimum we certainly are, or is the study of children something more, perhaps a new method? “ 10 Dieser Frage gehe dieser Beitrag zunächst in Auseinandersetzung mit den Vorschlägen zu einer Methodik des childist criticism bei der Pionierin Julie Faith Parker (2) sowie bei Garroway / Martens (3) nach. Eine Bestimmung des hermeneutischen Kernanliegens des childist criticism (4) soll es anschließend ermöglichen, einige Potentiale, Desiderate und Vermittlungsaufgaben dieses Ansatzes im Bereich der ntl. Bibelwissenschaften zu identifizieren (5). 2 Childist Interpretation als Prozess in sechs Schritten (J. F. Parker) Die Erforschung von Kindern und Kindheit in Bezug auf das Neue Testament begann natürlich nicht erst in den 1990er Jahren oder gar erst zu Beginn des 21. Jh.s 11 - und sie ist, wie noch zu betonen sein wird, kein Diskurs, der sich ausschließlich in englischsprachiger Literatur vollzieht. Das Verdienst, den Begriff childist in die bibelwissenschaftliche Diskussion eingebracht zu haben, kommt aber Julie Faith Parkers 2013 erschienener Monographie Valuable and Vulnerable 12 zu. Im Anschluss an den Ethiker John Wall 13 verwendet Parker den Begriff childist „to describe interpretation that focuses on the agency and action of children and youth in the biblical text, instead of seeing them primarily as passive, victimized, or marginalized. Along with feminist and womanist approaches to the text, childist interpretation examines the construction and function of certain kinds of biblical characters while challenging traditional hegemonic assumptions.“ 14 10 K. H. Garroway / J. W. Martens, Introduction. The Study of Children in the Bible. New Questions or a New Method? , in: dies., Children and Methods, 1-16, 6. 11 Diesen Eindruck erwecken allerdings Garroway / Martens, Introduction, 1 f.: „The history of the study of children in the Bible is a short history, going back to no more than twenty years or so, though the majority of work dealing with children has been produced in the last ten years.“ Vgl. dazu jedoch den forschungsgeschichtlich weit ausholenden Beitrag von R. Aasgaard in diesem Heft. 12 J. F. Parker, Valuable and Vulnerable. Children in the Hebrew Bible, Especially the Elisha Cycle (BJS 355), Providence 2013. 13 Vgl. K. Gallagher Elkins / J. F. Parker, Children in Biblical Narrative and Childist Interpretation, in: D. N. Fewell (Hg.), Oxford Handbook of Biblical Narrative, New York/ Oxford 2019, 422-433, 425 mit Verweis auf J. Wall, Ethics in Light of Childhood, Washington 2010, und in Abgrenzung von der pejorativen Verwendung von childism „to name a harmful prejudice that discriminates against children“ referiert bei E. Young-Bruehl, Childism. Confronting Prejudice against Children, New Haven 2012. 14 Gallagher Elkins / Parker, Children, 425. Vgl. Parker, Value and Vulnerable, 16 f., sowie dies., Click „Add to Dictionary“. Why We Need to Speak of Childist Interpretation (un- Was ist neu am childist criticism? 105 Drei Elemente dieser Definition fallen auf: Das Anliegen, Kindern Aktivität und (zu einem gewissen Grad) Selbstbestimmung zuzuschreiben, die diskursive Verwandtschaft zu anderen engagierten Lektüren sowie der Fokus auf (narrative) Texte, wobei der zuletzt genannte Punkt dann auch den von Parker entworfenen sechsschrittigen Prozess der childist interpretation prägt: „The interpreter begins with concentrated attention to the (1) setting, (2) characters, and (3) plot in a given passage. After gleaning information related to the child character(s), the interpreter then offers (4) interpretation based on narrative information related to the child(ren), (5) cultural and historical insights, and (6) connections with other texts involving children.“ 15 Wie sich an der exemplarischen Analyse von Mk 6,17-29, die Parker gemeinsam mit Kathleen Gallagher Elkins in ihrem Beitrag zum Oxford Handbook of Biblical Narrative durchführt, sehen lässt, ist mit diesem Sechsschritt eine an „kindlichen“ Charakteren interessierte narratologische Lektüre umrissen: Nach einer kurzen Besprechung der Schritte 1-3 (setting, character[s], plot) 16 widmen sich Gallagher/ Parker vor allem der narrativen Funktion der als to korasion (Mk 6,22.28) 17 eingeführten Tochter der Herodias 18 (Schritt 4; als „cultural and veröff. Paper am SBL Annual Meeting 2014, San Diego; zitiert nach Garroway / Martens, Introduction, 7 mit Anm. 20). 15 Gallagher Elkins / Parker, Children, 425. 16 Gallagher Elkins / Parker, Children, 427 f. Die Gäste des Herodes (vgl. Mk 6,21.26) und der den Täufer enthauptende spekoulatōr (Mk 6,27) werden in diesem Abschnitt nicht genannt (aber später als Nebencharaktere mit „key roles“ besprochen), die Jünger des Johannes (Mk 6,29) bleiben in der gesamten Analyse unerwähnt. 17 Trotz des Verweises auf „constructing children through vocabulary“ (Gallagher Elkins / Parker, Children, 424) wird to korasion von den Autorinnen ohne weitere Erörterung abwechselnd mit „girl“, „young girl“ bzw. „little girl“ übersetzt. Zu beachten wäre hier die Verwendung des Begriffs in Mk 5,41f für eine Zwölfjährige sowie - in Anbetracht der häufig gesehenen Parallelen zur Esther-Erzählung - für die bereits heiratsfähige Esther (vgl. Esther 2,9); vgl. dazu die Hinweise bei J. W. Martens, Methodology. Who Is a Child and Where Do We Find Children in the Greco-Roman World? , in: S. Betsworth / J.F. Parker (Hg.), T&T Handbook of Children in the Bible and the Biblical World, London 2019, 223-244, 232 f., zur Kindheitsgrenze bei Mädchen. Beachtet man zudem die Möglichkeit, dass die Bezeichnung ho basileus für Herodes nicht bloß ein Fehler des Markus (Herodes Antipas besaß keine Königswürde), sondern „an example of the evangelist’s irony“ ( J. Marcus, Mark 1-8, AncB 27, New Haven/ London 1999, 398) sein könnte, dann wäre auch für den Kontrastbegriff to korasion (vgl. Mk 6,22) eine bewusste literarische Gestaltung in Betracht zu ziehen. 18 Dass es sich um die/ eine Tochter der Herodias handelt, ist unstrittig (vgl. Mk 6,24). Ob to korasion zugleich als Tochter (und nicht nur Nichte bzw. Stieftochter) des Herodes gezeichnet ist (und dann selbst Herodias heißt), hängt davon ab, ob man in Mk 6,22 mit NA 27 und NA 28 der Lesart tēs thygatros autou Ērōdiados (gegen tēs thygatros autēs [tēs] ou Ērōdiados ) folgt. Zur Diskussion vgl. Marcus, Mark 1-8, 396. 106 Wolfgang Grünstäudl historical insights“ [Schritt 5] werden einige Hinweise auf die Herodianer eingespielt), wobei sie die Ambiguität der Figur betonen. 19 Anschließend werden mögliche biblische Querverweise (Esther, Judith, die Tochter des Jiftach) in den Blick genommen (Schritt 6), ehe am Ende noch „questions about our own ideas of childhood“ 20 stehen, welche die herausgestellten Ambiguitäten rund um die Tochter der Herodias als Impulse zur Selbstreflexion nutzen. In den Rahmen narratologischer Ansätze fügt sich der von Parker entworfene Analyse-Prozess zweifellos gut ein, 21 doch unter der hier verfolgten methodologischen Hinsicht ist zu fragen: „[D]oes the study of children only fit within the process outlined? “ 22 3 Childist Criticism als Methode mit vier Säulen (K. H. Garroway / J. W. Martens) Es ist kein Zufall, dass diese Frage von der Alttestamentlerin Kristine Henriksen Garroway gestellt wird, erwachte doch Garroways Forschungsinteresse an Kindern und Kindheit in der Begegnung mit einem Artefakt: Beschrifteten Tonabdrücken von Kinderfüßen aus Emar, die den Verkauf von vier Kindern durch ihre in Not geratenen Eltern dokumentieren. 23 Bei der Analyse und Interpretation dieser Art von Quellenmaterial kommt der von Parker entwickelte und an schriftlich fixierten Narrativen orientierte Auslegungsprozess offensichtlich an 19 Gallagher Elkins / Parker, Children, 429, fragen: „[A]re we to see her as a bloodthirsty daughter of her murderous mother or as a helpless victim in a horrible family? Is her dance innocent or seductive? Is she to blame for John’s death, or is it really the fault of her parents? “ 20 Gallagher Elkins / Parker, Children, 429. Die dabei gestellten Fragen („[A]re all children innocent? Do we assume too easily that children are merely products of their parents? When are children to blame [or accountable] for their actions and when are they not yet able to understand consequences? Why are young girls sexualized so pervasively? “) werden nicht (mehr) mit dem literarischen und historischen Kontext der Erzählung vermittelt. 21 Zum Gespräch von narrative und childist criticism vgl. S. Betsworth, Children in Early Christian Narratives (LNTS 521), London 2015, sowie dies., Narrative Criticism and Childist Interpretation. A Study of Mark 7: 24-30, in: Garroway / Martens, Children and Methods, 164-176. Die Schwerpunktsetzung bei Gallaher Elkins / Parker läge darüber hinaus noch eine stärkere Berücksichtigung der Charakterisierungs-Forschung nahe. 22 Garroway / Martens, Introduction, 9. Hervorhebung von mir. 23 Vgl. Garroway / Martens, Introduction, 5: „This inscription piqued my interest; I wanted to know what happened to those children and to find out if selling children was a common practice in the ANE.“ Zur Urkunde (Emar VI 217), zu der die Abdrücke gehören, vgl. J. Tropper / J.-P. Vita, Texte aus Emar, in: B. Janowski / G. Wilhelm (Hg.), Texte zum Rechts- und Wirtschaftsleben (TUAT.NF 1), Gütersloh 2004, 146-162, 151 f. Was ist neu am childist criticism? 107 seine Grenzen. Zusammen mit John W. Martens entwirft Garroway deshalb in dem schon erwähnten Band Children and Methods in kritischer Fortführung von Parkers Ansatz das Konzept eines bibelwissenschaftlichen childist criticism , der grundsätzlich in allen denkbaren Forschungskonstellationen anwendbar sein soll und auf vier tragenden Säulen ( pillars ) ruht. Wie die folgende tabellarische Übersicht zeigt, variiert dabei die Benennung der vier Säulen ein wenig zwischen der von Garroway und Martens gemeinsam verfassten Einführung (links) und dem nur von Garroway alleine verantworteten Ausblick (rechts): Säule Garroway/ Martens 24 Garroway 25 1 assigning voice to the (silent) child giving the children agency and a voice 2 asserting agency and filling in the gaps in a child’s narrative filling in the gaps 3 pointing to the adult-centric nature or interpretation of the text and or artifact changing the focus from adult-centric to child-centric 4 noting the interplay between the value and vulnerability that children experience exploring the interplay between a child’s value and vulnerability in their society In ihrer Rezension zu Children and Methods versteht Amy Lindemann Allen das Changieren des Begriffs agency zwischen Säule eins und zwei als Zeichen, „that assigning agency can be seen as an interpretive avenue in its own right, such that the volume effectively elucidates five pillars or avenues as characteristic of childist criticism.“ 26 M. E. drückt sich darin jedoch gerade umgekehrt die Schwierigkeit aus, in der konkreten Durchführung Säule eins und Säule zwei sauber voneinander zu scheiden, worauf Garroway selbst en passant hinweist. 27 Der tiefere Grund hierfür liegt wiederum darin, dass weder „giving the children a voice“, noch „asserting agency to children“, noch „filling in the gaps“ als bibelwissenschaftliche Methoden schritte operationalisierbar sind, sondern 24 Vgl. Garroway / Martens, Introduction, 11. 25 Vgl. Garroway, Conclusions, 217. Diese Formulierungen werden ebd., 227, noch einmal wortident wiederholt. 26 Vgl. A. Lindemann Allen, Rezension, o.S. Hervorhebung von mir. 27 Den der zweiten Säule („filling in the gaps“) gewidmeten Abschnitt ihrer abschließenden Bündelung der Beiträge des Bandes leitet Garroway (Conclusions, 222) folgendermaßen ein: „This category at times overlaps with the previous one, for in filling in gaps, one often gives voice and agency to the child.“ 108 Wolfgang Grünstäudl vielmehr in unterschiedlicher Weise dieselbe hermeneutische Grundhaltung umreißen. Das gilt ebenso für die dritte Säule („changing the focus from adultcentric to child-centric“), die nicht zufällig - und meiner Meinung nach sachlich zurecht - in Garroways abschließender Besprechung und methodologischen Auswertung der einzelnen Beiträge an erster Stelle steht, 28 wie für die vierte Säule („exploring the interplay between a child’s value and vulnerability in their society“), deren Namen an Parkers grundlegende Monographie erinnert. Das bedeutet aber letztlich, dass der mit Nachdruck unternommene Versuch von Garroway / Martens, eine neue Methode des childist criticism zu etablieren („we are at the forefront of a new method“ 29 ), nicht überzeugen kann. 4 Kindheit als hermeneutische Leitkategorie (L. W. Koepf Taylor) Genau besehen, weisen Garroway / Martens selbst bereits in eine andere, meines Erachtens zielführendere Richtung: Nach eigenem Bekunden gaben sie den Autor: innen ihres Bandes „free range to write on children within their chosen methodology “ 30 , weshalb jeder Beitrag „a specific, well-known, higher critical method“ 31 zur Anwendung bringe und der Band insgesamt „many different methodologies“ 32 repräsentiere. In ähnlicher Weise beschreibt auch die von Garroway / Martens zweimal verwendete Analogie einer Fotografie im Kern eine konzeptionelle Differenz zwischen childist criticism und exegetischem Methodenpool: „In this analogy scholars are the photographers, children in the biblical world are the subject photographed, higher criticism is the lens, and Childist Criticism becomes the filter.“ 33 Denkt man diese Unterscheidung konsequent weiter, so konturiert sich childist criticism nicht als Arbeitsweise ( method ), 28 Vgl. Garroway, Conclusions, 220-226, wo somit die vier Säulen in der Reihenfolge 3-1-2-4 besprochen werden. Eine ähnliche Fluidität der Kategorien zeigt sich bei Gallagher Elkins / Parker, Children, 425, die der Präsentation des oben diskutierten „six-step process“ das fundamentale Prinzip „to read against the grain of the text to notice child characters“ noch als „ first step of childist interpretation“ (Hervorhebung von mir) voranstellen. 29 Garroway / Martens, Introduction, 10. Noch deutlicher formuliert Garroway, Conclusions, 217: „Rather than a new question, Childist Criticism is indeed a new method that has started as a seed, which has developed into a fully blossoming tree.“ 30 Garroway / Martens, Introduction, 11. Hervorhebung von mir. 31 Ebd. 32 Garroway, Conclusions, 227. Ebd.: „While each individual essay focuses on a single methodology, each essay also finds common methodological connections with the other essays in the volume. These commonalities are what we are calling Childist Criticism.“ 33 Garroway, Conclusions, 217. Diese Analogie könnte noch präzisiert werden, erscheint in ihr doch childist criticism einmal als (zusätzlicher) Filter, einmal als (alternative) Kameralinse (vgl. Garroway/ Martens, 11). Der Vergleich mit einem Filter, der über eine fertige Fotografie gelegt wird (Garroway, Conclusions, 217: „Once the initial picture is develo- Was ist neu am childist criticism? 109 sondern vielmehr als hermeneutische Forschungsperspektive ( approach ), die in ihrem Wesen nach interdisziplinär angelegt ist und deshalb unterschiedlichste Methodologien vernetzt und bündelt. Doch worin besteht in dieser Vielfalt dann noch das einheitsstiftende Prinzip, die Mitte des childist criticism ? Und wie lässt sich childist criticism in seinem Umfang sinnvoll und nachvollziehbar eingrenzen, so dass er nicht einfach mit jeglicher Forschung, die sich in irgendeiner Weise dem Thema „Kind und Kindheit“ widmet, aufgeht? Eine Möglichkeit besteht darin, auf das politische, auf De-Marginalisierung angelegte Potential des Ansatzes abzuheben, das sich - wie oben bereits erwähnt - nicht zuletzt in der Bezeichnung childist ausdrückt. Angelehnt an Nachbar- und Mutterdiskurse wie feminism und womanism verweist childism so verstanden auf das Anliegen, vergangene wie gegenwärtige Diskriminierungen bestimmter Menschengruppen forschend zu erschließen um damit gesellschaftliche Veränderungen kritisch zu begleiten oder gar mit anzustoßen. In diesem Zusammenhang weist der childist criticism mindestens zwei Besonderheiten auf. Die erste ist die dem forschenden Subjekt hier immer schon mitgegebene biographische Verknüpfung mit seinem Gegenstand: Während nicht jede: r Forschende zu feministischen Themen sich als Frau bzw. jede: r Forschende mit Interesse am womanism sich als woman bezeichnen würde, gibt es wenig Zweifel daran, dass beim Themenkomplex „Kind und Kindheit“ jede: r Forschende selbst einmal Kind war. Dieser Umstand ist keineswegs banal, sondern insofern bedeutsam, als er unter Umständen heuristisch nicht ganz ungefährlich sein kann. Dann nämlich, wenn außer Blick gerät, dass es sich bei der Kindheit, welche der/ die Forschende durchlebt hat, um eine ganz bestimmte , keineswegs universale Kindheit handelt. 34 So wird aller Internationalisierung zum Trotz gegenwärtig der überwiegende Teil von hochrangigen Publikationen zum childist criticism (innerhalb wie außerhalb der Bibelwissenschaften) von Menschen verfasst, die ihre Kindheit in den sogenannten Industrienationen, das heißt unter global gesehen extrem privilegierten Rahmenbedingungen (in Bezug auf z. B. Kindersterblichkeit, Ernährung, Gesundheitsversorgung und Bildungsangebote) verbracht haben. Mehr noch, auch innerhalb der Bildungsped, a filter can be added to help further refine the particular essence or detail that the photographer wants to highlight.“), erscheint ebenfalls nicht ganz stimmig. 34 Nach L. W. Koepf Taylor, Accessing Childhoods. Interdisciplinary Tools at the Intersection of Biblical Studies and Childhood Studies, in: Betsworth / Parker, T&T Handbook of Children in the Bible, 39-63, 42, „it has become clear that scholars cannot objectively study children; we can only study children through the lens of childhoods and varying social constructions within which children function. In working with children, adults relate not only to their subjects but also to their own childhood memories.“ Koepf Taylor verdeutlicht dies am Beispiel von „oft[en] universalized constructions of childhood innocence“ (ebd.). 110 Wolfgang Grünstäudl systeme der Industrienationen folgen aus unterschiedlicher sozialer Herkunft in drastischer Weise unterschiedliche Qualifizierungschancen. Überspitzt ausgedrückt: Wer als Arbeiterkind geboren wurde, wird im Vergleich zu jemanden, dessen/ deren Eltern Akademiker: innen waren, kaum jemals in die Position kommen, die Kindheit von Arbeiterkindern wissenschaftlich zu erforschen. 35 Als eine zweite Besonderheit ist die temporale Signatur der Kategorie „Kind“ zu nennen, denn mit dem Status eines Kindes ist immer schon dessen Überwindung im Erwachsenwerden verbunden. Diese biographische „Instabilität“ seiner Bezugsgruppe teilt der childist criticism in gewisser Weise mit den dis/ ability studies , die die Bezeichnung temporarily able-bodied für Menschen ohne Behinderung kennen und so den jederzeit möglichen Wechsel vom Status des/ der „Nicht-Behinderten“ zum Status des/ der „Behinderten“ verdeutlichen. 36 Diese Charakteristika verleihen dem childist criticism innerhalb verwandter, ebenfalls an De-Marginalisierung interessierter Forschungsperspektiven eine eigene Prägung, zeigen aber zugleich seine enge Verbundenheit mit diesen auf. Trotz der forschungsgeschichtlichen Bedeutung des politischen und inklusiven Akzents des childism criticism , der auf die Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse zielt, ist dieser Akzent jedoch nur begrenzt ein tauglicher Kandidat für die Rolle als Prinzip oder Mitte des gesamten Diskurses. Wenn Anna Rebecca Solevåg das intersektionale Spannungsfeld der Kategorien „Behinderung“, „Geschlecht“ und „Kindheit“ innerhalb der Pastoralbriefe kartographiert und insbesondere auf die Risse in der konstruierten Männlichkeit des Timotheus in 1Tim hinweist, 37 so lässt sich diese erhellende Studie dennoch schwerlich unter politischen Vorzeichen lesen. 38 Gleiches gilt für Sharon Bets- 35 Vgl. zur Situation in Deutschland nun C. Möller u. a., Vom Arbeiterkind zur Professur. Gesellschaftliche Relevanz, empirische Befunde und die Bedeutung biographischer Reflexionen, in: J. Reuter u. a. (Hg.), Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und sozialbiographische Analysen, Bielefeld 2020, 9-63, bes. 29-33. 36 Vgl. Solevåg, Perspectives, 184 f. Die Differenz liegt dabei in der Notwendigkeit des Übergangs: Jedes Kind wird zum Erwachsenen (wenn es das Erwachsenenalter erlebt), aber nicht jede: r „Nicht-Behinderte: r“ wird zum/ zur „Behinderten“. 37 A.R. Solevåg, Perspectives from Disability Sudies in the Pastoral Epistles, in: Garroway / Martens, Children and Methods, 177-195, 191 f., notiert drei Punkte, an denen sich „from a childist and also from a disability perspective … some fluidity in his [= Timothy’s, W.G.] identity“ zeige: (1) Den Kontrast zwischen der Mahnung, Ältere zu respektieren (1Tim 5,17) und der Ermutigung, sich nicht wegen seines (zu geringen) Alters gering schätzen zu lassen (1Tim 4,12), (2) die Erwähnung von Timotheus‘ Schwächen ( astheneiai , 1Tim 5,23), die als Beeinträchtigung seiner Männlichkeit gelesen werden können und (3) zudem in Spannung zur Gesundheitsmetaphorik (Häresie als Krankheit, Orthodoxie als gesunde Lehre) der Past stehen. 38 Allerdings kann sie als Beitrag zur Ideologiekritik unreflektierter und diskriminierender Lektüren der Past rezipiert werden. Was ist neu am childist criticism? 111 worths childist und narrative criticism verknüpfende Lektüre von Mk 7,24-30 39 oder für die dekonstruktive Analyse der Kinder im Markusevangelium bei A. James Murphy, 40 der in der Tochter der Herodias (Mk 6,17-29) den negativen Gegenpol zu weitgehend positiven Darstellungen der anderen Kinder (insbesondere der Tochter des Jairus, Mk 5,21-24.35-43) im markinischen Narrativ erkennt, um dann die Sklavin des Hohepriesters (vgl. Mk 14,66.69) als Grenzfigur im typisch kreativ-dekonstruktiven „Dazwischen“ zu verorten. 41 Was diese Beiträge in all ihrer methodologischen Verschiedenheit jedoch verbindet, ist die Betrachtung von „Kindheit“ als kulturelles Konstrukt: Bei Murphy mit einem Schwerpunkt auf der Rezipient: innenseite und dem Spiel unterschiedlicher Kindheitskonstruktionen in den Zwischenräumen des markinischen Textes, bei Betsworth unter Berücksichtigung der Frage, wie sich die Gewichte im „daughter cycle in Mark“ 42 bei der Applikation einer kindheitsorientierten Perspektive verschieben, schließlich bei Solevåg, die unter intersektionalen Vorzeichen die konstruierten Kindheiten der Past in die Dynamik des antiken oikos einschreibt. Völlig zurecht ist für Laurel W. Koepf Taylor „[t] he assertion that no construction of childhood is universal … one of the primary contributions that has come out of the conversation childhood studies fosters as an interdisciplinary field“ 43 . Diese Einsicht ist u. a. das bleibende Erbe der epochemachenden Geschichte der Kindheit von Philipp Ariès. 44 Wenngleich seine Ergebnisse heute zum Teil als überholt gelten müssen - insbesondere seine These, „Kindheit“ seine eine „Erfindung“ des 17. und 18. Jh.s 45 -, so bleibt 39 Vgl. Betsworth, Narrative Criticism, passim, sowie dies., Children, 52-56. 40 A. James Murphy, Children in Mark. A Deconstructive Approach, in: Garroway / Martens, Children and Methods, 196-216. 41 Murphy, Children, 213: „The slave girl of Mark 14 is not fully woven into Mark’s garment and she calls Mark’s otherwise authoritative characterizations into question. Deconstruction highlights her sameness and otherness. There are traces of her in both realms, the kingdom represented by the Jerusalem high priest, and the kingdom that Jesus ushers in.“ 42 Betsworth, Children, 47, bezeichnet damit Mk 4,35-8,26. 43 Koepf Taylor, Childhoods, 43; Hervorhebung von mir. Bei Garroway / Martens, Introduction, 9, wird Koepf Taylors Ansatz kurz besprochen, ein eigener Beitrag in Children and Methods kam „[d]ue to time constraints“ (Garroway, Conclusions, 217) nicht zustande. 44 P. Ariès, Geschichte der Kindheit, Wien/ München 1975 (franz. Original: L’enfance et la vie familiale sous l’ancient régime, Paris 1960; engl. Übers.: Centuries of Childhood. A Social History of Family Life, New York 1962). 45 Vgl. z. B. R. H. von Thaden Jr., Procreation, Children, and Family, in: B. H. Dunningham (Hg.), The Oxford Handbook of New Testament, Gender, and Sexuality, New York 2019, 539-556, 542; Koepf Taylor, Childhoods, 47 f., sowie W. Stegemann, Kinder im Neuen Testament und in der Antike, in: ders., Streitbare Exegesen. Sozialgeschichtliche, kulturanthropologische und ideologiekritische Lektüren neutestamentlicher Texte. Hrsg. von K. Neumann, Stuttgart 2021, 74-86, 75f. 112 Wolfgang Grünstäudl es sein Verdienst, nachdrücklich darauf verwiesen zu haben, dass „Kind“ und „Kindheit“ zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten sehr unterschiedliche Denotate besitzen. 46 Im Anschluss an Koepf Taylor erscheint es daher sinnvoll, die These der stets kulturell bedingten Konstruktion von „Kindheit“ als diskursives Zentrum des childist criticism zu identifizieren. Kindheit als kulturelle Konstruktion dient dann als hermeneutische Leitkategorie, 47 die sich ganz unterschiedlicher Methodologien bedienen kann und damit ein immer schon interdisziplinäres Forschungsfeld aufspannt, 48 zugleich aber dieses Forschungsfeld als ein distinktes markiert, indem sie eine Grenze in die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand „Kind“ einzieht. Mit ntl. Beispielen gesprochen: So wie nicht jeder Beitrag zu Mk 2,1-12 den dis/ ability studies zuzurechnen ist, 49 so nicht jeder Beitrag zu Lk 18,15-17 dem childist criticism . 50 Vielmehr sollte man von childist criticism dort und nur dort sprechen, wo die kulturelle Konstruktion von Kindheit sowohl im Hinblick auf den Forschungsgegenstand als auch im Hinblick auf den/ die Forschende: n bedacht wird. So verstanden, ist die hermeneutische Leitkategorie des childist criticism zugleich Schutz gegen die stete Gefahr anachronistischer Urteile im Umgang mit antiken Quellen, 51 stellt sie doch die Differenz und den 46 Vgl. zuletzt C. Butschi / I. Hedderich, Kindheit und Kindheitsforschung im Wandel, in: I. Hedderich / J. Reppin / C. Butschi (Hg.), Perspektiven auf Vielfalt in der frühen Kindheit. Mit Kindern Diversität erforschen, Bad Heilbrunn 2 2021, 19-40, 20. 47 In Anlehnung an W. Grünstäudl / M. Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies 4), Stuttgart 2012. 48 Vgl. dazu nochmals den Beitrag von R. Aasgaard in diesem Heft sowie Koepf Taylor, Childhoods, 44-62, die Verbindungen zur Kinderpsychologie, zur Kindheitsgeschichte, zur Literaturwissenschaft (Kinderliteratur), zur Archäologie der Antike, zu Anthropologie und Ethnographie sowie zu empirischen Ansätzen der Kindheitsforschung aus bibelwissenschaftlicher Sicht ausführlich erörtert. 49 Vgl. M. Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykritische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: B. Kollmann / R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT 339), Tübingen 2014, 627-646. Als intersektionale Schnittmenge notiert Martens, Methodolgy, 235, „in light of all the other healing accounts of children and the use of the language in the infancy narratives“ die Möglichkeit, den von Jesus als teknon (Mk 2,5) angesprochenen paralytikos als Kind / Jungen anzusehen. 50 Vgl. A. Lindemann Allen, „ Theirs is the Kingdom“. Children as Proprietors of the Kingdom of God in Luke 18: 15-17, in: Betsworth / Parker, T&T Handbook of Children in the Bible, 265-289. 51 Zurecht warnt von Thaden, Procreation, 539: „Investigating how children and families are deployed in ancient texts requires great care in order to avoid importing sentimental anachronistic assumptions into the source material.“ Wichtig ist aber zugleich zu sehen, dass neue Forschungsperspektiven neue Zugänge zum vorhandenen Quellenmaterial er- Was ist neu am childist criticism? 113 Eigenwert unterschiedlicher kultureller Konstruktionen von Kindheit in den Mittelpunkt. 5 Zusammenfassung und Ausblick Das Neue am childist criticism ist weder das Thema „Kind“ noch eine spezifische Methodik, sondern die Verwendung von „Kindheit“ (im Sinne einer kulturellen Konstruktion) als hermeneutischer Leitkategorie in einem offenen und interdisziplinären Forschungsfeld. Es steht zu hoffen, dass die weitere Entwicklung der Diskurssystematik sich konsequent an dieser Mitte orientiert und nicht in letztlich unfruchtbaren Methodendiskussionen aufgeht. Für die ntl. Wissenschaft werden sich aus der Begegnung mit dem childist criticism mit Sicherheit weitere Impulse, Anregungen und Aufgaben ergeben, von denen einige bereits greifbar sind und zum Abschluss - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - zumindest kurz genannt seien. Der im Grunde unübersetzbare Begriff childist/ childism 52 macht die starke anglophone Prägung des Diskurses deutlich, die sich mitunter in einer Entkoppelung von nicht-englischsprachiger Forschung negativ bemerkbar macht, wenn etwa ganze Sammelbände zu Kindheit und biblischer Literatur ohne einen einzigen Hinweis auf grundlegende deutschsprachige Monographien wie z. B. die von Christine Gerber 53 oder Peter Müller 54 auszukommen meinen. Die stets weiter zunehmende Bedeutung des Englischen als lingua franca auch der Geisteswissenschaften ist weder neu noch auf die Kindheitsforschung beschränkt. Sie stellt aber Forschende jedweder Herkunft vor die Herausforderung, forschungsgeschichtlichen Traditionsabbrüchen entschieden entgegenzuwirken. Besonders deutlich wird die genannte Entkoppelung in anwendungsbezogenen Bereichen wie der Bibeldidaktik und der Rezeptionsforschung. Wenn etwa die 2017 erschienene Arbeit von Melody Briggs zur Rezeption des Lukasevangeöffnen und damit in gewissem Sinne die Quellenbasis selbst verbreitern können. So Garroway / Martens, Introduction, 6: „When we begin to ask the questions, the data begin to appear.“ 52 Eine Möglichkeit wäre eventuell - analog zu „Feminismus/ feministisch“ - der dem Latein entlehnte Neologismus „infantistische Kritik“ (mit Abgrenzung zu „infantil“), doch dürfte dessen Praktikabilität äußerst gering sein. 53 Vgl. C. Gerber, Paulus und seine Kinder. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin 2005. Zur Unterscheidung von „wirklichen“ Kindern und ihrem metaphorischen Gebrauch notiert von Thaden, Procreation, 540: „… regardless of whether they are ‚real‘ or ’figurative,’ the only children that hearers/ readers encounter in the New Testament texts are rhetorical ones.“ 54 Vgl. P. Müller, In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament, Neukirchen- Vluyn 1992. 114 Wolfgang Grünstäudl liums bei 11-14-Jährigen als „an outstanding foundation for ongoing empirical research into children’s reading of biblical texts“ 55 vorgestellt wird, kommt der/ dem deutschsprachigen Leser: in natürlich ein ganzes bibeldidaktisches Forschungsfeld zum Bibelverständnis bei Kindern und Jugendlichen in den Sinn. 56 Darüber hinaus wären die reichen Forschungserträge der Kinder- und Jugendtheologie, wie sie gerade an der Schnittstelle zum NT von Forscher: innen wie Hanna Roose oder Mirjam Zimmermann erarbeitet werden, eine wichtige Ergänzung und Vertiefung des childist criticism - besonders wenn dessen Interesse an giving the children agency betont wird. Umgekehrt könnten die Impulse des childist criticism über die bibeldidaktische Schnittstelle die Religionspädagogik dazu anregen, ihre immer noch stark von entwicklungspsychologischen Einsichten geprägte Konzeptionierung von Kindheit um neue kulturwissenschaftliche Ansätze zu erweitern. 57 Trotz (oder gerade wegen) der Beheimatung des childist criticism im Rahmen ideologiekritischer Ansätze ist er auch mit klassischen Verfahrensweisen der historischen Kritik kompatibel, betont er doch gerade die Andersartigkeit und Pluralität antiker Kindheitskonzeptionen, widersetzt sich jedem scheinbar unmittelbaren Zugriff auf Kindheitsmotive im Neuen Testament und teilt somit das Anliegen, biblischen Texten das Recht auf ihre Fremdheit und Andersheit zuzuerkennen. 58 Die zentrale Herausforderung ist dabei sicherlich „an accurate balance between foreigness and recognition“ 59 , wobei wiederum die historische Kindheitsforschung hilfreich sein kann, indem sie die wesentlich von der Rezeption biblischer Motive und Konzepte geprägte eigene Kultur- und Religionsgeschichte in ihrer Fremdheit sichtbar macht. Zur Illustration sei nur auf das Phänomen der sanctuaires à répit verwiesen, Wallfahrtsorte, „an die man totgeborene (oder kurz nach der Geburt verstorbene) Kinder verbrachte, um sie durch ein Wunder ‚mit aufschiebender Wirkung‘ kurzzeitig zum Leben zu erwecken[,] … ihnen umgehend das Sakrament der Taufe zu spenden und sie nach dem kurz darauf erneut eintretenden Tod in geweihter Erde beisetzen zu 55 Koepf Taylor, Childhoods, 62. 56 Vgl. z. B. die Klassiker J. Theis, Biblische Texte verstehen lernen. Eine bibeldidaktische Studie mit einer empirischen Untersuchung zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter (PTHe 64), Stuttgart 2005; A. A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln (PTD 5), Freiburg 1990. 57 Diesen Hinweis verdanke ich meinem Wuppertaler Kollegen Norbert Brieden. 58 Vgl. A. Wypadlo / V. Niggemeier, Das Recht der Bibel, anders zu sein - Überlegungen zur Aufgabe der Exegese angesichts der Fremdheit der Texte. Eine neutestamentliche Perspektive, in: M.-T. Wacker (Hg.), Wozu ist die Bibel gut? Theologische Anstöße (MBTh.NF 3), Münster 2019, 279-299, und die Impulse bei Martens, Methodology, 243. 59 Von Thaden, Procreation, 539. Was ist neu am childist criticism? 115 können.“ 60 Im schweizerischen Oberbüren, einem spätmittelalterlichen sanctuaire à répit , fand man 1993 bei „archäologischen Ausgrabungen Skelettreste [mehrerer] hundert totgeborener oder nach der Geburt verstorbener Kinder.“ 61 Die Fremdheit einer solchen - in Europa einst weit verbreiteten - religiösen Praxis im Umgang mit (verstorbenen) Kindern vermag für die kulturelle Distanz zur chronologisch noch wesentlich weiter entfernten ntl. Zeit zu sensibilisieren. Die sanctuaires à répit verdeutlichen auch die Spannung zwischen Wert(schätzung) und Verletzlichkeit, die viele Arbeiten des childist criticism prägt (vgl. Abschnitt 3). Unter theologischen Vorzeichen ist insbesondere zu hoffen, dass durch diesen Ansatz motivierte Arbeiten einen signifikanten Beitrag zur Aufarbeitung der zahllosen Missbrauchsverbrechen an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Kontexten, die nicht zuletzt unter Verwendung biblischer Texte in Anbahnung, Durchführung und Vertuschung der Taten begangen wurden, leisten werden. Aus ntl. Sicht geht es dabei nicht nur um die (wichtige) Frage nach der Interpretation und Kontextualisierung einschlägiger ntl. Texte, 62 sondern darüber hinaus um die Identifizierung und Kritik von Auslegungstraditionen, die Kindern zum Verhängnis wurden. Denn auch so könnte man das Anliegen des childist criticism zusammenfassen: Keine Kindheit ist universal, doch jedes Kind verdient, geschützt zu werden. 60 E. Parhud de Mortanges, Der versperrte Himmel. Das Phänomen der sanctuaires à répit aus theologiegeschichtlicher Perspektive, SZRKG 98/ 2004, 31-47, 31. 61 Ebd., 32. 62 Vgl. z. B. L. R. Zelyck, Matthew 18,1-14 and the Exposure and Sexual Abuse of Children in the Roman World, Bib 98/ 2017, 37-54.