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Prekäre Eheschließungen

2021
978-3-7398-8173-7
UVK Verlag 
Arno Haldemann
10.24053/9783739881737
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

In der Vergangenheit haben viele historische Studien Ehe und Sexualität auf kommunaler Ebene thematisiert. Dabei blieben die sich während der sogenannten ,Sattelzeit' rasant wandelnden Haltungen der übergeordneten Zentralgewalten jedoch vernachlässigt. Letztere rissen in einem gipfelnden Staatsbildungsprozess das Gewaltmonopol immer vehementer an sich und wiesen Interessen von Partikularmächten zunehmend energisch zurück. Die vorliegende Arbeit begegnet dem genannten Desiderat, indem sie Eheschließungen als Aushandlungsprozesse zwischen ehewilligem Eigensinn, kommunaler und familiärer Ressourcenpolitik sowie obrigkeitlicher Biopolitik analysiert. Exemplarischer Untersuchungsraum ist das Gebiet der ehemals großen Stadtrepublik Bern, die sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer Transformation von einem der mächtigsten alteidgenössischen Bundesglieder zu einem gleichberechtigten bundesstaatlichen Kanton befand. Die Quellengrundlage für die Erforschung des wechselseitigen Beziehungsdreiecks von ehebegehrenden Paaren, sozialem Umfeld (Familien, Verwandte, Gemeinden sowie Korporationen) und obrigkeitlichem Ehegericht bilden Ehegerichtsakten und Petitionen um Eheerlaubnis, aber auch Ehegesetze und bevölkerungspolitische Debatten, die die Aushandlungsprozesse beeinflussten.

Arno Haldemann Eigensinnige Heiratsbegehren und Bevölkerungspolitik in Bern, 1742-1848 Prekäre Eheschließungen Arno Haldemann Prekäre Eheschließungen www.uvk.de ISBN 978-3-7398-3173-2 Konflikte und Kultur In der Vergangenheit haben viele historische Studien Ehe und Sexualität auf kommunaler Ebene thematisiert. Dabei blieben die sich während der sogenannten ‚Sattelzeit‘ rasant wandelnden Haltungen der übergeordneten Zentralgewalten jedoch vernachlässigt. Letztere rissen in einem gipfelnden Staatsbildungsprozess das Gewaltmonopol immer vehementer an sich und wiesen Interessen von Partikularmächten zunehmend energisch zurück. Die vorliegende Arbeit begegnet dem genannten Desiderat, indem sie Eheschließungen als Aushandlungsprozesse zwischen ehewilligem Eigensinn, kommunaler und familiärer Ressourcenpolitik sowie obrigkeitlicher Biopolitik analysiert. Exemplarischer Untersuchungsraum ist das Gebiet der ehemals großen Stadtrepublik Bern, die sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer Transformation von einem der mächtigsten alteidgenössischen Bundesglieder zu einem gleichberechtigten bundesstaatlichen Kanton befand. Die Quellengrundlage für die Erforschung des wechselseitigen Beziehungsdreiecks von ehebegehrenden Paaren, sozialem Umfeld (Familien, Verwandte, Gemeinden sowie Korporationen) und obrigkeitlichem Ehegericht bilden Ehegerichtsakten und Petitionen um Eheerlaubnis, aber auch Ehegesetze und bevölkerungspolitische Debatten, die die Aushandlungsprozesse beeinflussten. Prekäre Eheschließungen Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Carola Dietze · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulrike Ludwig · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 39 Wissenschaftlicher Beirat: Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt Zum Autor: Arno Haldemann ist Postdoc-Assistent für die Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement Geschichte der Universität Basel. Dort forscht und lehrt er vor allem zur materiellen Dimension religiöser Praktiken in der Frühen Neuzeit. Er hat an den Universitäten Bern, Basel und an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) in Paris Allgemeine Geschichte (Major) und Interreligiöse Studien (Minor) studiert. Seine Doktorarbeit hat er am Historischen Institut der Universität Bern abgeschlossen. Arno Haldemann Prekäre Eheschließungen Eigensinnige Heiratsbegehren und Bevölkerungspolitik in Bern, 1742-1848 UVK Verlag · München Publiziert mit Unterstützung des Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Inauguraldissertation an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt von Arno Haldemann aus Bowil (Bern). Von der Philosophisch-historischen Fakultät auf Antrag von Prof. Dr. Joachim Eibach und Prof. Dr. Margareth Lanzinger angenommen. Bern, den 18. Oktober 2019. Die Dekanin: Prof. Dr. Elena Mango. © 2021 · Arno Haldemann ORCID: 0000-0003-2655-379X Departement Geschichte, Universität Basel, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel DOI: https./ / doi.org/ 10.24053/ 9783739881737 Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommon s.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-7398-3173-2 (Print) ISBN 978-3-7398-8173-7 (ePDF) Einbandmotiv: Joseph Reinhart, Hans Mast und die fünfzehnjährige Liesabett Zbinden in Guggisberg, aus dem ersten Trachtenzyklus 1791. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 9 A 11 1 12 2 16 3 22 3.1 27 3.2 31 3.3 37 3.4 44 4 50 B 55 1 74 1.1 76 1.2 80 1.3 96 1.4 101 1.5 104 2 113 2.1 113 Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik . . . . . . . . . . . . Begriffliches: Prekär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel . . . . . . . . . . Aufbau und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743: ‚Heyl und Wolfahrt‘ unter ‚abgeänderte[r] lebens-manier der menschen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik . . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen . . . . . . . . . 2.2 118 2.3 126 2.3.1 126 2.3.2 140 2.3.3 159 2.3.4 169 2.3.5 179 3 191 3.1 192 3.2 197 3.3 202 3.3.1 202 3.3.2 210 C 215 1 223 1.1 223 1.2 226 1.3 229 1.4 233 2 240 2.1 250 2.1.1 250 2.1.2 257 2.2 263 2.2.1 264 2.2.2 273 2.2.3 288 2.2.4 294 3 301 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte . . . . . . . Ressourcen, Taktiken und Einwände . . . . . . . . . . . . . . . Hartnäckiger Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alter, Körper, Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leidenschaften und Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen im ausgehenden Ancien Régime . . . . . . . . . Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstreitende Urteilslogiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das reformorientierte ehepolitische Lager . . . . . . . . . . . Das ständisch-patriarchale Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Helvetik (1798-1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helvetische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkszählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte . . . . . . . Petitionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren . . . . Heiratswillige PetentInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzeswirksamer Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Profile der PetentInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rügerituale der unaufgeklärten Opponenten als vernünftiges Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schicksalshafte Gefühle, natürliche Sexualität, empfindsamer Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichheitsforderungen aus Routine und Tradition . . . Haushaltsökonomie, wirtschaftliches Glück und ‚fortschreitende‘ Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt D 305 1 312 1.1 312 1.2 317 1.3 320 1.4 330 2 335 2.1 335 2.2 342 2.3 348 2.3.1 348 2.3.2 350 2.3.3 367 3 373 3.1 373 3.2 375 E 381 1 382 2 386 F 395 1 396 1.1 396 1.2 397 1.3 398 Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) . . Normen und Debatten: Status quo ante? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung . . . . . . . Wachsende religiös-konfessionelle Toleranz . . . . . . . . . Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik Neue Gesetze ohne Folgen? Zivilgesetzbuch (1824/ 26) und Verfassungsrevision (1830/ 31) . . . . . . . . . . . . . . . . . Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht und dem Amtsgericht, 1803-1848 . . . . . . . . . . Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte . . . . . . . . . . . Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartnäckig eigensinnig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zurückdrängung der Taktiken durch Formalisierung des Rechtsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . Emotionslose Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter im Umgang mit prekären Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichtsorganisation: Vom Oberehegericht zum Amtsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsarchiv Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweizerisches Bundesarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archives cantonales vaudoises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 2 399 2.1 399 2.2 400 3 403 4 425 429 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltungsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Online-Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Dank Dieses Buch ist das Ergebnis einer ungeheuren Gelegenheit, die mir in Form meiner Promotion zu Teil geworden ist. Finanziert wurde diese Gelegenheit vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und anschließend von der Dr. Joséphine de Karmann-Stiftung. Die mate‐ rielle Existenzsicherung ist ein sehr wesentlicher Bestandteil unabhängiger Forschung - insbesondere in den Geisteswissenschaften. Dazu kommt die Infrastruktur - Archive, Bibliotheken und Universitäten, deren Qualität stets von den Menschen abhängig ist, die sie ausmachen. Den Mitarbeiter*innen des Staatsarchivs Bern und des Bundesarchivs in Bern gilt mein Dank für die Hilfe beim Zurechtfinden in den Archivstrukturen und den entsprechenden Findmit‐ teln und das geduldige Bereitstellen der Akten. Ohne sie wäre ich anfänglich wortwörtlich verloren gewesen. Der Belegschaft der Universitätsbibliothek Bern, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus der Basisbibliothek Unitobler (BTO), gilt mein Dank für die Unterstützung bei unzähligen Ausleihen und Buchbestellungen. Die Universität Bern ist nicht nur ein ausgezeichneter Studi‐ enort gewesen, sondern hat sich auch als Arbeitgeber bewährt. Das angesprochene Privileg wurde selbstverständlich nicht nur institutio‐ nell abgestützt, sondern vor allem von vielen unterschiedlichen Menschen in meinem akademischen und privaten Umfeld ermöglicht. Sie haben mir vier enorm bereichernde und intensive Jahre beschert. Ich durfte erfahren, dass ‚fröhliche Wissenschaft‘ stets das Ergebnis von Kooperation, Austausch, gegenseitiger Stimulation, der Unterstützung und der Kritik von Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen ist. Somit ist sie stets ein kollektives Ereignis, bei dem sich im besten Fall ‚öffentliche‘ und ‚private‘ Sphären in fruchtbarer und freudvoller Weise zu überlagern beginnen. Die Chance zu dieser Erfahrung hat mir Joachim Eibach eröffnet. Er hat mir während meines Studiums das Vertrauen entgegengebracht und mich als Hilfsassistent eingestellt. Nach dem Studium bot er mir die Gelegenheit im SNF-Sinergia Projekt ‚Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700-1850)‘ einzusteigen. Für die Förderung, die großen konzeptionellen Freiheiten, die nötigen inhaltlichen Leitplanken und vor allem das enorme persönliche Engagement gilt ihm mein herzlicher Dank. In Zusammenarbeit mit Sandro Guzzi-Heeb, Claudia Opitz und Jon Mathieu hat er eine Forschungsumgebung geschaffen, die sowohl wissenschaftlich äußerst inspirierend gewesen ist als auch kollegial hervorragend funktioniert hat. Dafür gebührt ihnen allen mein bester Dank. Sandro Guzzi-Heeb möchte ich außerdem für die zahlreichen Gespräche und inhaltlichen sowie konzeptionellen Anre‐ gungen zu meiner Arbeit danken. Claudia Opitz gilt mein Dank, auch weil sie mir in der Abschlussphase der Dissertation mit der Anschlussstelle an ihrem Lehrstuhl in Basel den Vorgeschmack auf die akademische Zukunft gewährt hat. Meinen beiden engsten Mitarbeitern Eric Häusler und Maurice Cottier danke ich für ihre Freundschaft. Sie sind maßgeblich am Gelingen dieser Arbeit beteiligt. Ohne die vielen Waldläufe, die unzähligen Manöverkritiken, die gemeinsamen Essen, heiteren Abende und bereichernden Konferenzbesuche hätte alles nicht nur wesentlich weniger Spaß gemacht, sondern wäre gar nicht erst gelungen. Den weiteren Peers im Projekt - Anne Schillig, Dunja Bulinsky, Elise Vörkel, Lucas Rappo und Sophie Ruppel - danke ich für die intensive und kollegiale gegenseitige Auseinandersetzung in Kolloquien und Workshops, an Konferenzen und im Privaten. Heinz Nauer bin ich nicht nur für seine exzellente Arbeit als Projektkoordinator zu besonderem Dank verpflichtet, sondern auch für seine wissenschaftlichen Anregungen. Aline Johner hat mich mit Perspek‐ tiven in Berührung gebracht, die meine Optik auf das Leben verändern sollten. Merci! Uta Preimesser vom UVK Verlag bin ich dankbar für ihre sorgfältige und wertschätzende Betreuung im Prozess der Veröffentlichung dieses Buches. Die Publikation wurde vom SNF großzügig gefördert. Jürgen Häusler danke ich für seine Gründlichkeit und Ausdauer mit meinem Manuskript. Ohne ihn wären die Sätze in meinem Text noch länger und viel kryptischer. Andreas Kessler möchte ich für seine seit meinem Gymnasialunterricht bei ihm anhaltende Freundschaft danken, die ihn bis heute veranlasst, meine Manuskripte Korrektur zu lesen. Vor Nicolai Loboda verneige ich mich - was ich nur Dank seinen physio‐ therapeutischen Interventionen überhaupt wieder kann. Er hat mir in den letzten Wochen und Monaten der Promotion nicht nur wortwörtlich den Rücken freigehalten, sondern auch für mein Seelenheil gesorgt. Zu guter Letzt bin ich meiner Familie zu grenzenlosem Dank verpflichtet, insbesondere meiner Partnerin, die mir vor allem in der Abschlussphase mit viel Wärme, Geduld und Betreuungsarbeit unserer Kinder die Möglichkeit zu Nachtarbeit und Ausnahmezustand gewährt hat. Meinen beiden Kindern Ida und Martha danke ich für die vielen Lacher, die sie mir immer wieder bescheren und dadurch die Welt unablässig in die richtigen Verhältnisse rücken. 10 Dank A Einleitung 1 2011 lancierte die Christliche Volkspartei der Schweiz (CVP) die Initiative „Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe“. Die Initiative hat neben der Aufhebung steuerrecht‐ licher Benachteiligung heterosexueller Ehepaare gefordert, dass die Ehe auf konstitu‐ tioneller Ebene ausschließlich die „gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“ bezeichnet (vgl. den Initiativtext hier: Volksinitiative „Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe“, in: Volksabstimmung vom 28. Februar 2016. Erläuterungen des Bundesrats, hrsg. v. Bundeskanzlei, Bern 2015, 4-13, 4). Sie ist am 28. Februar 2016 zur eidgenössischen Volksabstimmung gebracht und vom Schweizer Stimmvolk nur knapp verworfen worden. Danach haben Teile der CVP aufgrund von Fehlinformationen aus den Reihen der Steuerverwaltung, die den Abstimmungsausgang beeinflusst hätten, eine Wiederholung der Abstimmung verlangt. Der Entscheid der Volksabstimmung von 2016 ist aufgrund der irreführenden Zahlen aus der Bundesverwaltung aufgehoben worden. Allerdings hat sich das Initiativkomitee wohl auch aus Gründen der Image‐ pflege dazu durchgerungen, die Volksinitiative zurückzuziehen. Daraufhin hat sich 2020 die Mehrheit des Schweizerischen Parlaments dazu entschieden, zukünftig gleich‐ geschlechtliche Paare zur Ehe zuzulassen. Heftige Diskussionen sind insbesondere in der großen Parlamentskammer an der Frage der Zulassung lesbischer Ehepaare zur Samenspende entbrannt, wobei die Nationalrät*innen auch dieser Erweiterung mit 132 zu 53 Stimmen bei 13 Enthaltungen beigepflichtet haben. Dagegen hat sich ein überparteiliches Komitee gebildet, das am 12. April 2021 mit 59‘176 beglaubigten Unterschriften erfolgreich das Referendum gegen den Parlamentsentscheid ergriffen hat. In der Abstimmung vom 26.09.2021 ist von 64,1 % der Schweizer Stimmbevölkerung die Ehe für alle angenommen worden. 1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung Die gesellschaftliche Frage, was eine Ehe ist und damit verbunden, wem sie offenstehen soll, ist zumindest in der Schweiz in vollem Gange. Die noch nicht ausgestandene und zuweilen polemisch geführte Debatte um die Öffnung beziehungsweise heteronormative Festschreibung der Ehe offenbart die Not‐ wendigkeit einer anhaltenden historisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Eheschließung. Es ist wichtig, auf die Kontinuität historisch gewachsener Machtstrukturen einer ohnehin fragwürdigen staatlichen Bezie‐ hungsinstitution hinzuweisen, wenn 2016 eine knappe Minderheit von 49,2 % der Schweizer Bevölkerung - aus vermeintlich steuerrechtlichen Gründen - die Fixierung der Diskriminierung der Sexualität und die Normierung der Lebensweise unzähliger Paare für die Zukunft in der Verfassung hinzunehmen bereit gewesen ist. 1 Auf die Fragwürdigkeit solcher Anliegen hat die politische Philosophin Clare Chambers in ihrem ausgezeichneten Buch Against Marriage, An Egalitarian 12 A Einleitung 2 Eine Zusammenfassung ihrer Argumente findet sich hier: Clare Chambers, Against Marriage 2018. https: / / aeon.co/ essays/ why-marriage-is-both-anachronistic-and-discri minatory (26.08.2021); Clare Chambers, Against Marriage. An Egalitarian Defence of the Marriage-free State, Oxford, United Kingdom 2017. 3 Cooper verweist auf „poverty activists, welfare militants, feminists, AIDS activists, and public interest lawyers“. Melinda Cooper, Family Values. Between Neoliberalism and the New Social Conservatism, New York 2017, 21. 4 Ebd., 9. Defence of the Marriage-Free State unlängst aufmerksam gemacht. 2 Sie kritisiert die staatlichen Eingriffe in die Gestaltung interpersoneller Beziehungen grund‐ sätzlich. In der Folge entstünde ein Heiratsregime, das bestimmte Rechte und Pflichten lediglich aufgrund des ehelichen Status vergibt. Dies ignoriere die Tatsache, dass alle Formen der Beziehungspraxis per se Vulnerabilität gene‐ rieren, die unabhängig vom staatlich sanktionierten Ja-Wort Rechtssicherheiten erfordern. Auf den Privilegcharakter der Ehe und die damit verbundenen Machtstruk‐ turen in der Gegenwart hat auch die Sozialwissenschaftlerin Melinda Cooper aufmerksam gemacht. In ihrem Buch Family Values, Between Neoliberalism and the New Social Conservativism hat sie auf die unheilige Allianz zwischen (amerikanischem) Sozialkonservativismus und Neoliberalismus in Bezug auf die Ehe hingewiesen. Diese Verbindung entstand ihr zufolge ab den 1960er Jahren allmählich aus Abgrenzung gegen die Befreiungsbewegungen („libera‐ tion movement“). Ziel dieser Bewegung war es, den vor allem finanziellen Schutz vor verschiedenen Risiken und die Vorsorge von der geschlechterspe‐ zifischen Arbeitsteilung sowie die Aspekte der Sozialversicherung von sexu‐ ellen Normierungen zu befreien. 3 Dagegen hätten in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika die meisten Wohlfahrtsreformen der neoliberal-sozialkonservativen Allianz vor allem auf die Förderung von Ehen („marriage promotion“) und Bildung verantwortungsvoller Familienstrukturen („responsible family formation“) fokussiert. 4 Darin erkennt die Autorin keinen Zufall: Auf der einen Seite sehen Sozialkonservative die Familie permanent durch gesellschaftlichen Zerfall - identifiziert zum Beispiel mit zunehmender Promiskuität - bedroht und wittern darin den Niedergang der traditionellen Gesellschaftsordnung, die es durch Heiratsförderung zu bewahren gilt. Auf der anderen Seite erachten Vertreter des Neoliberalismus die Familie als eine valable und kostengünstige Alternative zum Wohlfahrtsstaat, die es zu stärken gilt. Denn durch diese private Alternative als erstes wirtschaftliches Auffangnetz („primary source of economic security“) können in neoliberaler Auffassung Sozialkosten für den Staat und somit den Steuerzahler reduziert werden. Sie 13 1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung 5 Ebd., 9. 6 Ebd., 173. 7 Ich teile die Meinung von Cooper, wenn diese schreibt: „[T]he history of economic formations cannot be prized apart from the operations of gender, race, and sexuality without obscuring the politics of wealth and income distribution itself.“ Ebd. 8 Dena Goodman, Marriage Choice and Marital Success. Reasoning About Marriage, Love and Happiness, in: Family, Gender, and Law in Early Modern France, hrsg. v. Suzanne Desan/ Jeffrey Merrick, University Park 2009, 26-61, 28; eine ausführlichere und facet‐ tenreichere Kritik an der aktuell geführten Debatte in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz lässt sich in einem Interview mit der WOZ - Die Wochenzeitung nachlesen: Arno Haldemann, „Der wirkliche Fortschritt läge in der Abschaffung der Ehe“. Interview mit Caroline Baur zum Thema „Ehe für alle“, in: WOZ 29-31 (2018), 23. werden zum einen zumindest teilweise an die Familie zurückdelegiert. 5 Als Beispiel könnte man hier die Sorgearbeit um Pflegebedürftige nennen, die in der Familie geleistet wird und daher nicht von der öffentlichen Hand bezahlt werden muss. Zum anderen soll die Entstehung von bestimmten Sozialkosten, zum Beispiel durch ungeschützten Geschlechtsverkehr, durch die Förderung der Eheschließung vermieden werden. So waren es gerade neoliberale Vordenker, die in Zusammenhang mit der HIV-Problematik der 1980er und 1990er Jahre, gleichgeschlechtliche Ehen befördern wollten. 6 In diesem Lager der Allianz dienen also staatliche Maßnahmen, die gewöhnlich von liberaler Seite als Ein‐ griffe in die individuelle Freiheit verurteilt werden, der Förderung spezifischer familiärer, geschlechtlicher und sexueller Normen, die den Staat und somit die Steuerzahlenden von Sozialausgaben befreien beziehungsweise entlasten sollen. Diese politische Entwicklung der Familie kann selbstverständlich nicht losgelöst von Formen der geschlechtlichen und sexuellen Normierung und somit von herrschenden Machtstrukturen in diesen und anderen Bereichen betrachtet werden. 7 Vor diesem Hintergrund lässt die - aus politischen Motiven durchaus ver‐ ständliche - Forderung nach der Ehe für alle aufhorchen. Denn sie wirft die Frage auf, ob mit der Erfüllung dieser Forderung tatsächlich universelles Recht durchgesetzt würde oder aber „the real issue: the persistence of disparities of power within marriage“ verschleiert würde und andere Beziehungsformen von sozialen und vorsorgerischen Sicherheiten ausgeschlossen würden. 8 Der französische Intellektuelle Michel Foucault, der sich zeitlebens mit der Ge‐ schichtlichkeit von Machtbeziehungen auseinandersetzte, gab 1981 in einem Gespräch, das unter dem vielsagenden Titel Der gesellschaftliche Triumph der sexuellen Lust aufgezeichnet wurde, so auch zu bedenken: „[W]enn die Menschen die Ehe kopieren müssen, damit ihre persönliche Beziehung anerkannt wird, ist das nur ein kleiner Fortschritt. Die Institutionen haben unsere 14 1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung 9 Michel Foucault, Der gesellschaftliche Triumph der sexuellen Lust. Ein Gespräch mit Michel Foucault, in: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hrsg. v. Daniel Defert/ Martin Saar, Frankfurt a. M. 2007, 116-122, 117. Beziehungswelt beträchtlich verarmen lassen. Die Gesellschaft und die Institutionen, die deren Gerüst bilden, haben das Spektrum möglicher Beziehungen eingeschränkt, weil eine an Beziehungen reiche Welt sich nur schwer verwalten ließe. Gegen diese Verarmung des Beziehungsgeflechts müssen wir uns wehren. […] Statt darauf zu pochen, dass der Einzelne natürliche Grundrechte besitzt, sollten wir neue recht‐ liche Beziehungen erfinden und herstellen, die es gestatten, dass alle erdenklichen Beziehungen bestehen können und nicht von den die Beziehungswelt verarmenden Institutionen behindert oder blockiert werden.“ 9 Die Diskussion in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz und die erwähnte historische Dekonstruktion werfen bei Historiker*innen die Fragen auf, was eine Ehe im jeweils global eingebetteten zeitgenössischen Verständnis und lokalen Kontext konstituiert und wie sie von Gesellschaft und Regierung verwaltetet wird, nach welchen Prinzipien sie also die Gesellschaft ordnet. Das heißt, wie und zwischen wem wird wo eine legitime, also anerkannte, Ehe geschlossen? Wer wird zur Ehe aufgrund welcher Kriterien zugelassen und wer wird von ihr abgehalten und somit von Privilegien ausgeschlossen? An der Klärung dieser Fragen werden zentrale Machtbeziehungen und Ordnungs‐ mechanismen, die in einer konkreten Gesellschaft wirken, sicht- und damit hinterfragbar. An diesem kritischen Prozess - und an einer Vervielfältigung der möglichen Beziehungsformen und deren gesellschaftlicher Akzeptanz - möchte sich die vorliegende Publikation beteiligen. 15 1 Relevanz: Die Gegenwart der Eheschließung 10 Vgl. Margareth Lanzinger, Aushandeln von Ehe - Heiratsverträge in europäischen Rechtsräumen. Einleitung, in: Aushandeln von Ehe. Heitragsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, hrsg. v. Margareth Lanzinger/ Gunda Barth-Scalmani/ Ellinor Forster/ Gertrude Langer-Ostrawsky, 2. Aufl., Wien 2015, 11-25, 11. 11 Ellinor Forster/ Margareth Lanzinger, Stationen einer Ehe. Forschungsüberblick, in: L’Homme 14 (2003), 141-155, 142. 12 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 59. Sie zeigt auf, dass bis zur Reformation ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung aufgrund ihres geistlichen Stands ein Leben in Ehelosigkeit führte. 13 Andreas Gestrich, Neuzeit, in: Geschichte der Familie, hrsg. v. Andreas Ge‐ strich/ Jens-Uwe Krause/ Michael Mitterauer, Stuttgart 2003, 364-652, 366. 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive stand bei der Verhandlung der zuvor erwähnten Fragen für die daran beteiligten Menschen, Gemeinschaften und Institutionen lange Zeit nicht weniger auf dem Spiel als die Herstellung und Verwaltung des einzigen legalen beziehungsweise ‚reinen‘ und privilegierten Ausgangspunkts für Paarbeziehungen, Sexualität und Fortpflanzung, Familie, Haushalt und Verwandtschaftsnetzwerke. Mit dem bevorzugten Stand der Ehe verband sich somit ein beachtlicher Teil der sozialen Ordnung. Diese Umstände kamen erst in den letzten beiden Jahrhunderten allmählich in Be‐ wegung - und dies geschah nicht plötzlich, sondern erst allmählich, wobei die Ursachen dafür in der Geschichtswissenschaft nach wie vor umstritten sind. 10 Mit dem Zentralereignis der Eheschließung waren so weitreichende Folgen verbunden, dass deren existenzielle Tragweite im Zusammenleben der historischen Subjekte kaum unterschätzt werden kann. 11 Dies galt zumindest seit der Reformation in protestantischen Gebieten, weil es hier keine alterna‐ tiven, zölibatären Lebenswege in geistlichen Diensten mehr gab. 12 Die Heirat stellte in einer agrarischen Gesellschaft, die von Ressourcenknappheit und stark eingeschränkten Nahrungsspielräumen bestimmt war, den Schlüssel zu ökonomischen Vorteilen und rechtlicher Besserstellung schlechthin dar. Über die Ehe wurde Besitz zwischen Familien bewegt und zusammengeführt. Der Geburtsstand der Kinder, der weitreichende Folgen für ihre soziale Stellung und Erbfähigkeit hatte, war vom matrimonialen Status der Eltern abhängig. 13 Die Eheschließung ermöglichte haushaltsökonomische Partnerschaft und stiftete dadurch immaterielle Solidarität, wirtschaftliche Sicherheit und Vorsorge in 16 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess 14 Stephanie Coontz, Marriage, a History. How Love Conquered Marriage, New York 2014, 7. Sie beschreibt die Ehe ganz in diesem Sinne als „main source of social security, medical care, and unemployment insurance“; vgl. auch den Aufsatz von Sofia Ling/ Karin Hassan Jansson/ Marie Lennersand/ Christopher Pihl/ Maria Ågren, Marriage and Work. Intertwined Sources of Agency and Authority, in: Making a Living, Making a Difference. Gender and Work in Early Modern European Society, hrsg. v. Maria Ågren, New York 2017, 80-102. Darin wird die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Individuen durch die Heirat aus den Aussagen der historischen AkteurInnen abgeleitet; paradigmatisch für das Konzept des frühneuzeitlichen Arbeitspaares in der deutschsprachigen Forschung steht Heide Wunder, „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert“. Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, hrsg. v. Karin Hausen, Göttingen 1993, 19-39; vgl. auch Wunder, Sonn‘, besonders 57-154; auch Maria Ågren zeigt am Beispiel von schwedischen Beamtenfamilien der Frühen Neuzeit auf, dass Ehepaare maßgeblich als Arbeitspaare funktionierten. Dabei gab die Heirat sowohl den Männern als auch den Frauen in der Rolle von Haushaltsvorständen Macht an die Hand, die sie im ledigen Zustand nicht besessen hatten. Maria Ågren, The State as Master. Gender, State Formation and Commercialisation in Urban Sweden, 1650-1780, Manchester 2017. 15 Vgl. zum Reinheitsdiskurs, der aus der Reformation hervorging, Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit, Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der frühen Neuzeit, Paderborn 1999, 8-19. 16 Richard van Dülmen, Gesellschaft der frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und sozialer Prozess. Beiträge zur historischen Kulturforschung, Wien 1993, 194-195; auch Marga‐ reth Lanzinger und Ellinor Forster sprechen in Bezug auf die Eheschließung von einer ebensolchen „totalen Tatsache“. Forster/ Lanzinger, Stationen, 142; ihnen folgt Stephanie Coontz, die die Eheschließung als historische Tatsache zum „most important marker of adulthood and respectability as well as the main source of social security, medical care, and unemployment insurance“ erklärt. Coontz, Marriage, 7; Julie Hardwick bezeichnet die Eheschließung als „defining feature of life for both men and women“. Julie Hardwick, Family Business. Litigation and the Political Economies of Daily Life in Early Modern France, Oxford, New York 2009, 4. 17 Julie Hardwick, The practice of patriarchy. Gender and the politics of household authority in early modern France, University Park 1998, 51-52. Zeiten von Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie im Alter. 14 Erst durch sie wurden spezifische Gefühle zulässig und möglich, die außerhalb der Ehe nicht für legitim erachtet wurden oder nicht zu realisieren waren. In ihr wurde die Sexualität für ‚rein‘ erachtet, während diese außerhalb des Ehebetts stigmatisiert und illegal war. 15 Die Ehe war somit ein entscheidender Bezugspunkt frühneu‐ zeitlicher Ehrvorstellungen. Die Eheschließung stellte für die längste Dauer der Neuzeit „eine ‚totale Tatsache‘“ im Leben historischer AkteurInnen dar, deren Realisation für die historischen Subjekte mit „Überlebenswille“ zu tun hatte, weil sie teilweise ihre grundlegendsten „Überlebensmöglichkeiten“ determinierte. 16 Eine Eheschließung formte die Zukunftsaussichten von Individuen und Ge‐ meinschaften umfassend und historisch stets in geschlechtsspezifischer Weise. 17 17 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess 18 Albert Stapfer, Von der besten Auferziehung der Jugend auf dem Lande, in Absicht auf den Landbau. Eine gekrönte Preisschrift, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 5 (1764), 31-102, 98. Der Diakon aus Diessbach bei Thun engagierte sich in der Oekonomischen Gesellschaft von Bern und beteiligte sich dabei an der bevölkerungspolitischen Debatte. Er wird in dieser Arbeit an anderer Stelle noch einmal auftreten. 19 Das Verb ‚begehren‘ wurde in Zusammenhang mit der Eheschließung in den hier un‐ tersuchten Quellen im Territorium von Bern immer wieder verwendet, so zum Beispiel im Fall der Ehebrecher Ulrich Schweingruber und Anna Beyeler aus Schwarzenburg. Sie wurden vom zuständigen Ehegericht „Ihres begehrten heuwraths miteinander abgewiesen“. StABE, B III 824. Band A; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1743-1748), 390-391; vgl. außerdem Heide Wunder, die schreibt: „Ehefähigkeit wurde zur Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz. Demzufolge erstrebten die meisten diesen Status.“ Wunder, Sonn‘, 87. 20 Michel Focault hat geschrieben: „Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum […].“ Michel Foucault, Die Heterotopien; Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, 2. Aufl., Berlin 2014, 9. 21 Lanzinger, Ehe, 11. 22 Sylvia Möhle, Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740-1840, Frankfurt a. M. 1997, 9; Burghartz, Zeiten, 37-38; Cecilia Cristellon, Das Haus als Bühne. Vor- und nachreformatorische Heirats- und Ehepraxis, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach/ Inken Schmidt-Voges, Berlin 2015, 301-318, 303; Marion Lischka, Liebe als Ritual. Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe, Paderborn 2006, 7. Das beurteilen nicht nur Historiker*innen der Gegenwart so. Das sahen auch die zeitgenössischen Subjekte ähnlich, wenn sie beispielsweise formulierten, dass die Eheschließung „der wichtigste [Schritt]“ im Leben junger Menschen war. 18 Folglich „begehrten“ die meisten Menschen den ehelichen Status und versuchten nachhaltig, sich diesen anzueignen. 19 Die mit dem Begehren verbundenen Aneignungsversuche fanden nie in einem rechtsfreien Raum statt. 20 Sie ereigneten sich in mächtigen zeitlichen Strukturen von lokalen Ehegesetzen und bevölkerungspolitischen Debatten, re‐ ligiösen Vorstellungen und familiärer Verwandtschaftspolitik. Eheschließungen waren nicht nur begehrt, sondern auch „normiert, kontrolliert und umkämpft“, was offensichtlich auch heute noch so ist. 21 Historisch betrachtet, waren sie Gegenstand von umfassenden kollektiven Ordnungsanstrengungen und obrig‐ keitlichen Normierungen, die im Zuge der Reformation aufgrund der Bekämp‐ fung von klandestinen Ehen gegen den elterlichen Willen auch in katholischen Gebieten eine Intensivierung erfuhren. 22 Und so gab es zahlreiche moralisch und ökonomisch begründete und gesetzlich kodifizierte Bestimmungen, die den Zugang zur Eheschließung und legitimen Sexualität begrenzten. Diese Normen strukturierten auch das Zustandekommen der Ehe, also die Form 18 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess 23 Anne-Lise Head-König, Les politiques étatiques coercitives et leur influence sur la formation du mariage en Suisse au XVIIIe siècle, in: Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, hrsg. v. Christophe Duhamelle/ Jürgen Schlumbohm/ Pat Hudson, Göttingen 2003, 189-214. 24 Arno Haldemann, Das gerügte Haus. Rügerituale am Haus in der Ehrgesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach/ Inken Schmidt-Voges, Berlin 2015, 433-448; der Begriff des sozialen Nahraums ist bei Joachim Eibach entliehen: Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), 621-664, 626. 25 Christian Pfister, Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern 1700-1914, Bern, Stuttgart, Wien 1995, 103. Er schreibt von einem „Set von familiären, dörflichen, kirchlichen sowie obrigkeitlichen Normen und Gesetzen“. 26 Zum rechtshistorischen Konzept der Multinormativität Milos Vec, Multinormativität in der Rechtsgeschichte, in: Jahrbuch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2008 (2009), 155-166; Thomas Duve, Was ist ‚Multinormativität‘? Einführende Bemerkungen, in: Rg (Rechtsgeschichte - Legal History) 25 (2017), 88- 101; Karl Härter, Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin, Boston 2018, 42. 27 Coontz, Marriage, 9; Elisabeth Joris, Kinship and Gender. Property, Enterprise, and Politics, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Developments (1300-1900), hrsg. v. David Warren Sabean/ Simon Teuscher/ Jon Mathieu, New York 2007, 231-257, 231. 28 Vgl. zum Konzept der moralischen Ökonomie beziehungsweise der ‚moral economy‘ Edward Palmer Thompson, Die ‚moralische Ökonomie‘ der englischen Unterschichten von Eheschließungen. 23 Die Ehegesetze nahmen Einfluss auf die Eheführung und Geschlechterordnung und unterwarfen sie der Kontrolle der Ehegerichte. Daneben bestanden moralische, gewohnheitsrechtliche Vorstellungen lokaler Gemeinschaften und Familien, die aus dem „sozialen Nahraum“ laufend ver‐ gegenwärtigt und zum Teil in disziplinarischer Weise eingefordert wurden. 24 Nicht zuletzt hatten auch die Moraltheologen der Kirche ihre Ideen von der gottgefälligen Ehe und ihrer Herstellung. 25 Alle diese Faktoren formierten den multinormativen historischen Kontext der Eheschließung. 26 Dennoch konstituierten Eheschließungen, vielseitigen und komplexen ge‐ meinschaftlichen Interessen sowie Begehrlichkeiten zum Trotz, nie nur, aber letztlich immer auch Face-to-Face-Beziehungen. Darin entsprachen sie oft nicht den gesetzlichen Bestimmungen oder standen im Widerspruch zu gewohnheits‐ rechtlichen Idealen in lokalen Gemeinschaften. Sie konnten in Konflikt mit der Verwandtschaftspolitik der Familie geraten. Zum Teil befanden sie sich in Spannungen mit zeitgenössischen Moralvorstellungen oder stellten eine Bedrohung für gemeinschaftliche Ressourcen dar. 27 Gleichzeitig konnte die Auffassung einer moralischen Ökonomie von ländlichen Gemeinschaften mit den bevölkerungspolitischen Absichten der städtischen Obrigkeit kollidieren. 28 19 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess im 18. Jahrhundert, in: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Dieter Groh, Frankfurt a. M. 1980, 67-130. 29 Carsten Bünger, Die offene Frage der Mündigkeit. Studien zur Politizität der Bildung, Paderborn 2013, 17. 30 Ebd. Bünger verweist in seiner bildungstheoretischen Untersuchung in gänzlich anderem Kontext auf den Begriff der Politizität. Nichtsdestotrotz lassen sich seine Überlegungen zu diesem Begriff auf die historische Analyse der Eheschließung über‐ tragen; zum Begriff „Politizität“ allgemein Heinrich Busshoff, Der politische Prozess. Ein steuerungstheoretischer Versuch, Würzburg 1993. 31 Mit dieser These schließt die vorliegende Arbeit an die Arbeit von Margareth Lanzinger an: Es wird davon ausgegangen, dass Eheschließungen immer Aushandlungsprozesse zwischen Vertretern unterschiedlicher Interessen darstellten. Lanzinger, Ehe. 32 Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004, 3-4. 33 Andreas Gestrich macht in Bezug auf das neuzeitliche Familienleben darauf auf‐ merksam, dass „Normen […] nicht mit der Realität verwechselt werden“ sollen. Gestrich, Neuzeit, 366. 34 Forster/ Lanzinger, Stationen, 141. 35 Hardwick, Business, 17. Eheschließungen waren somit „auf konstitutive Weise uneindeutig“. 29 Sie oszil‐ lierten stets zwischen individuellen Bedürfnissen und Interessen unterschiedli‐ cher Kollektive. Die Ambivalenz und Konfliktträchtigkeit, die ihnen inhärent war, begründete ihre außerordentliche gesamtgesellschaftliche „Politizität“. 30 Aufgrund der weitreichenden sozialen Implikationen der Eheschließung wurde ihr Wesen kontinuierlich und zwischen ganz unterschiedlichen AkteurInnen, Gemeinschaften und Institutionen ausgehandelt. 31 Das hing gerade mit dem Umstand zusammen, dass die einzelne Eheschließung in ihrem Vollzug vielfach nicht mit den gemeinschaftlichen Normvorstellungen und Ehegesetzen zur Deckung kam. 32 Die vielfältige Praxis der Eheschließung erschöpfte sich nämlich keinesfalls in der Erfüllung der Normen. 33 Und so existierten nicht nur zu jeder Zeit spezifische Ehevorstellungen, die entlang bestimmter „politisch-his‐ torische[r] Phasen und Konjunkturen“ verliefen. 34 Daneben herrschten bereits in der jeweiligen Zeit zwischen den an der Herstellung von Ehe beteiligten Ak‐ teurInnen und Institutionen sehr unterschiedliche ideelle und praktische Asso‐ ziationen mit der Eheschließung in Bezug auf ihren Sinn und ihre Funktion. Die unterschiedlichen praktischen Interpretationen und Ausgestaltungen der Ehe‐ schließungen standen dabei oftmals in Konkurrenz zueinander. Die am prakti‐ schen Aushandlungsprozess der Ordnung beteiligten AkteurInnen konnten mit einer Eheschließung sehr unterschiedliche Interessen und Absichten verbinden. Verlobte, Nachbarn, Verwandte und die Obrigkeit mussten deshalb in der Praxis gemeinsam elaborieren, was in Bezug auf die Konstitution der Ehe ihren ge‐ sellschaftlichen „common ground“ bilden sollte. 35 Während die heiratswilligen 20 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess 36 Die Forschung zur Verwandtschaft und Eheschließung kann hier nicht erschöpfend wiedergegeben werden. Vgl. die Auswahl: Margareth Lanzinger, Verwaltete Verwandt‐ schaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18./ 19. Jahrhundert, Wien 2015; vgl. spezifisch zu „Politiken“ der Verwandtschaft den Sammelband von Margareth Lanzinger/ Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungs‐ netze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007. 37 Sandro Guzzi-Heeb, Von der Familienzur Verwandtschaftsgeschichte. Der mikrohisto‐ rische Blick. Geschichte von Verwandten im Walliser Dorf Vouvry zwischen 1750 und 1850, in: Historical Social Research 30 (2005), 107-129, insbesondere 117. 38 Vgl. zur Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert: Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980; Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn, München 2002; Lars Behrisch, Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime, Ostfildern 2016. AkteurInnen eine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation anstrebten oder Heiratsunwillige im Fall einer Eheklage eine Verschlechterung derselben abzuwehren gedachten, versuchten Gemeinden und Korporationen den Zugang zu kollektiven Ressourcen und deren Belastung durch Unterstützungsbedürftige und Fremde zu begrenzen. Familien betrieben mit der gezielten Verheiratung ihrer Angehörigen Verwandtschaftspolitik. Dieser musste der individuelle Wille eines einzelnen Mitglieds untergeordnet werden. 36 Die Familien sicherten damit ihren Besitz ab und erweiterten oder erschlossen neue Netzwerke, die ihnen Zugang zu Ressourcen in Aussicht stellten. 37 Die Obrigkeit versuchte mithilfe von Ehegerichten und über Ehebewilligungen sowie -verbote spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur aus moralisch-religiösen, sondern vor allem auch aus bevölkerungspolitischen Gründen das Reprodukti‐ onsverhalten der Untertanen zu steuern. 38 Dies erzeugte Konflikte zwischen Individuen, kommunalen Gemeinschaften und der territorialen Obrigkeit, die der Schlichtung und Mediation bedurften. 21 2 Perspektive: Eheschließung als historischer Aushandlungsprozess 39 Claudia Ulbrich, Art. Ehe, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, hrsg. v. Friedrich Jaeger, 16 Bde., Stuttgart, Weimar 2005-2012, 38-52, 38. 40 Arni, Entzweiungen, 4; mit ihrer Fallstudie für Frankreich zur Zeit der Revolution bestätigt diese Aussage Suzanne Desan, die schreibt: „As the French revolutionaries set out to rid France of ‚despotism‘ and build a new society and state, rethinking marriage became an indispensable part of their project.“ Suzanne Desan, The Family on Trial in Revolutionary France, Berkeley 2004, 15. 41 Zum Konzept der Sattelzeit siehe Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, A-D, hrsg. v. Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck, 8 Bde., Stuttgart 1974, XIII-XXVII. 42 Zur Macht und dem Reichtum der Stadtrepublik Bern unter dem Ancien Régime vgl. Stefan Altorfer-Ong, Staatsbildung ohne Steuern. Politische Ökonomie und Staatsfi‐ nanzen im Bern des 18. Jahrhunderts, Baden 2010, 144. Ebenso ders., Staatsfinanzierung ohne Steuern, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 463-468. Der Staatsschatz von Bern war sagenumwoben und bis zu seiner Konfiszierung durch französische Truppen ein gut gehütetes Geheimnis der Obrigkeit. 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung Die vorliegende Arbeit widmet sich den beschriebenen vermittlungsbedürf‐ tigen Konflikten, die in Zeiten des Umbruchs in besonders intensiver Weise geführt wurden. In Transformationsphasen wurden die Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft zeitlich konzentriert herausgefordert, weil herkömmliche Normen häufiger und stärker strapaziert und in Frage gestellt wurden. 39 So waren Zeiten tiefgreifender Wandlungsprozesse immer auch „Zeiten intensiver Beschäftigung mit der Ehe“, da sie im Zentrum sozialer und geschlechterspezi‐ fischer Ordnung stand. 40 Mit einem von der Geschichtswissenschaft als solche Transformationsphase klassifizierten Zeitabschnitt, der sogenannten ‚Sattelzeit‘, beschäftigt sich die vorliegende Studie. 41 Sie widmet sich der Erforschung der Eheschließung im Ge‐ biet der ehemals mächtigen und wohlhabenden reformierten Stadtrepublik Bern zwischen ausgehendem Ancien Régime und Bundessstaatsgründung (1848). 42 Dabei verfolgt sie das Ziel in einem lokalen Kontext im Rahmen der historischen Ehe- und Familienforschung mit einem praxeologischen Ansatz zu einer diffe‐ 22 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 43 Die Dissertationsschrift entstand an der Universität Bern aus einem von acht Teilpro‐ jekten des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Sinergia Projekts ‚Doing House and Family‘, das von Joachim Eibach geleitet wurde. Vgl. den Projektan‐ trag von Joachim Eibach/ Sandro Guzzi-Heeb/ Jon Mathieu/ Claudia Opitz, Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700-1850). Projekthomepage in der SNF-Projektdatenbank p3. http: / / p3.snf.ch/ Project-154419 (26.08.2021). 44 Andreas Würgler, Epilog. Ende und Anfang - Kontinuität und Diskontinuität im Übergang von Ancien Régime zur Moderne, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 558-563, 558. 45 Altorfer-Ong, Staatsbildung, 50. 46 So hat zum Beispiel Maurice Cottier in Anlehnung an die Sozialgeschichte in seiner kulturgeschichtlichen Gewaltstudie zu Bern formuliert, in Bern hätte die Moderne erst um 1900 Einzug gehalten. Maurice Cottier, Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868-1941, Konstanz, München 2017, 13. 47 Altorfer-Ong, Staatsbildung. 48 André Holenstein, Beschleunigung und Stillstand. Spätes Ancien Régime und Helvetik (1712-1802/ 03), in: Die Geschichte der Schweiz, hrsg. v. Georg Kreis, Basel 2014, 311-361. renzierten Einschätzung der Genese der modernen Familie zu gelangen und etablierte Meinungen dazu kritisch zu hinterfragen. 43 Die reformierte Stadtrepublik - nota bene „die grösste nördlich der Alpen“ im Ancien Régime, 44 deren Territorium bis zu ihrem Untergang ca. ein Drittel der Fläche der Eidgenossenschaft ausmachte 45 - bietet sich am Übergang vom An‐ cien Régime zum 19. Jahrhundert innerhalb der Eidgenossenschaft als besonders vielversprechender und relevanter Untersuchungsraum an, nicht zuletzt weil dem Gebiet von der Geschichtswissenschaft immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne nachgesagt wird. Es scheint unklar und eine Frage der historiographischen Perspektive zu sein, wann und in welcher Weise diese in Bern eigentlich einsetzte. 46 Im späten Ancien Régime waren die Verhältnisse in der gesamten Alten Eidgenossenschaft, zu deren 13 Mitgliedstaaten Bern seit 1353 durch multi- und bilaterale Bündnisverträge gehörte, 47 von einem spannungsreichen Nebeneinander einerseits verfassungspolitischer Stagnation und andererseits sozialer und wirtschaftlicher Dynamik geprägt. Soziale Un‐ gleichheiten akzentuierten sich in Stadt und Land und auch zwischen diesen Kulturräumen. An den meisten Orten wuchsen Bevölkerung und Wirtschaft. Ressourcenknappheit nahm zu und mit ihr Verteilungs- und Nutzungskonflikte. Das Konsumverhalten der Menschen veränderte sich, Wissen und Ideen wurden von neu entstehenden Bildungsinstitutionen und durch zunehmende Öffent‐ lichkeit multipliziert. Dennoch spielten sich diese dynamisierenden Prozesse in ständisch-korporativen und feudalen Strukturen ab. 48 Innerhalb dieser Ent‐ wicklung stellte Bern eher die Regel als die Ausnahme dar. So sei gerade Bern 23 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 49 François de Capitani, Das Regiment im Innern, in: Art. Bern (Kanton) 2018. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 007383/ 2018-01-18/ #HGesellschaft2CWirtschaf tundKulturvomHochmittelalterbisins18. Jahrhundert (26.08.2021). 50 Pfister, Strom, 25. 51 Altorfer-Ong, Staatsbildung, 54. 52 Christian Pfister, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert, in: Art. Bern (Kanton) 2018. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articl es/ 007383/ 2018-01-18/ #HStaatsbildung2CRegierenundVerwalteninderfrFChenNeuzeit (27.11.2020). 53 Altorfer-Ong, Staatsbildung, 53-87. Pfister, Gesellschaft. im 18. Jahrhundert in der Eidgenossenschaft zum „Inbegriff des aristokratischen Ancien Régime“ geworden, 49 das sowohl Elemente sozioökonomischer Dynamik wie politischer Stagnation integrierte. Das sehr große und vor allem agrarisch geprägte Territorium, das bis 1798 die Untertanengebiete Aargau und Waadt miteinschloss, erstreckte sich im 18. Jahrhundert vom Jura im Norden über das Mittelland bis in die Alpen im Süden. Folglich war die große kulturelle und wirtschaftliche Diversität ein konstitutives Merkmal des ehemals mächtigen Kantons. 50 Das Territorium von Bern beheimatete gegen Mitte des 18. Jahrhunderts über die zwanzigfache Bevölkerung (300‘000) der verhältnismäßig kleinen Stadt (weniger als 15‘000 Einwohner), von wo aus im 18. Jahrhundert ein selbstbewusstes und sich zunehmend verengendes städtisches Patriziat über ungefähr einen Drittel aller BewohnerInnen der damaligen Eidgenossenschaft regierte. So gilt Bern im 18. Jahrhundert nicht nur aufgrund seiner ausgeprägten innereidgenössisch militärischen Stärke neben Zürich als „Primus inter Pares“ innerhalb des Corpus Helveticum, sondern auch wegen seiner Ausdehnung und Bevölkerungsgröße. 51 Die soziale Ungleichheit war auf dem Gebiet des Stadtstaats im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stark ausgeprägt und erfuhr in Regionen ausbleibender Protoindustrialisierung sogar eine Akzentuierung. In der Landwirtschaft hing das ökonomische Wohlergehen von der Größe des Hofs ab. Während Groß‐ bauern durchaus wohlhabend sein konnten, waren Kleinbauern und landlose Tauner für ihr Auskommen auf Nebeneinkünfte aus gewerblichen Arbeiten angewiesen, die eng mit der Landwirtschaft verzahnt waren. 52 Die Nebener‐ werbe wurden vor allem in der Textilindustrie erzielt. Diese produzierte primär Leinwand - sowohl für den heimischen Markt als auch für den Export vor allem nach Frankreich, wo aus Flachs in Heimarbeit Garn gesponnen wurde. 53 Bis zur Abdankung von Schultheiß, Rät und Burger im Zuge der Invasion französischer Truppen im Rahmen der Helvetischen Revolution bestimmte im 18. Jahrhundert eine seit dem Abschluss des Burgerrechts 1651 immer schmaler werdende Machtelite die politischen Geschicke von Bern. Während 24 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 54 Capitani, Regiment. 55 Altorfer-Ong, Staatsbildung, 69. Sehr aufschlussreich und übersichtlich für das Ver‐ ständnis der Besetzung der Berner Regierung im 18. Jahrhundert ist die Infografik. 56 Ebd., 67-71. der Große Rat ursprünglich die Versammlung aller Burger von Bern darstellte, wurde dieser im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einem vollzählig 299 Ratsherren umfassenden Repräsentationsorgan der Bürgerschaft, der nur noch ergänzt wurde, wenn die Zahl der Räte unter 200 fiel. Das war seit 1683 noch ungefähr alle zehn Jahre der Fall. 54 In Zahlen ausgedrückt bedeutete das, dass weniger als 27 % der Bevölkerung der Stadt Bern oder 1 % der gesamten Bevölkerung des Territoriums über die Menschen in Stadt und Kanton regierte. Dabei verengte sich der Kreis der regimentsfähigen Familien immer rapider, während gleichzeitig immer weniger dieser regierungsbefugten Geschlechter tatsächlich Einsitz in der Regierung nahmen. Die Ratssitze wurden durch ein komplexes Mischverfahren von Kooptation und Wahlen besetzt. 55 Zwar vermochte sich der Große Rat seine Souveränität gegenüber dem Kleinen Rat in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch zu verbriefen. Dennoch verlagerte sich das Machtge‐ fälle des auf Ausgleich ausgelegten Politsystems zwischen den beiden Räten zu Ungunsten des Großen Rats. An der Spitze der aristokratisch organisierten Stadtrepublik standen die beiden vom Großen aus dem Kleinen Rat auf Lebzeiten gewählten stillstehenden und amtenden Schultheißen, die sich jährlich in ihren jeweiligen Aufgaben abwechselten. Der Kleine Rat setzte sich aus 27 Mitgliedern zusammen, die vom Großen Rat gewählt wurden. Sie bestimmten die Trak‐ tanden des Großen Rats und verfügten durch ihre täglichen Zusammenkünfte über einen wesentlichen Informations- und Wissensvorsprung gegenüber der großen Ratskammer. 56 Trotz dieser ausgeprägten Machtkonzentration gelang es der Berner Obrigkeit nicht, vereinheitlichte Verwaltungsstrukturen auf der Landschaft zu implementieren. So zeichnete sich das Territorium durch eine Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse und Partikularrechte aus, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestand hatten. Auch neue Abgaben waren von der Obrigkeit kaum durchzusetzen. Ausgehend von dieser Skizze der politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse in Bern am Ausgang des 18. Jahrhunderts wird hier einerseits präsupponiert, dass die zwischen ca. 1700 und 1850 veranschlagte Zeit auch für Bern eine Episode ähnlich tiefgreifender Veränderungen war, wie es die ursprünglich begriffsgeschichtliche Konzeption der Sattelzeit in einem größeren räumlichen Kontext plausibel gemacht hat. Ereignis- und verfassungsgeschicht‐ lich steht dies außer Frage: Bern verwandelte sich in diesem Zeitraum von einem reformierten, tendenziell reformabsolutistisch organisierten souveränen 25 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 57 Um die Einleitung zu entlasten, werden die näheren ehegeschichtlich relevanten Kontexte zu den verschiedenen erwähnten Zeitabschnitten jeweils zu Beginn der chronologischen Hauptteile zum ausgehenden Ancien Régime (B), der Helvetik (C) und dem nachhelvetischen Zeitraum (D) erläutert. 58 Pfister, Strom. Der entsprechende wirtschafts- und sozialgeschichtliche Rahmen wird ebenfalls jeweils am Anfang eines jeden Hauptteils erläutert. 59 Bahnbrechend für die Feststellung dieses Wandels: David Warren Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge, New York 1990; für die Schweiz: Jon Mathieu, „Ein Cousin an jeder Zaunlücke“. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700-1900, in: Politiken der Verwandt‐ schaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, hrsg. v. Margareth Lanzinger/ Edith Saurer, Göttingen 2007, 55-71; Jon Mathieu, Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500-1900, in: Historische Anthropologie 10 (2002), 225-244. 60 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 14. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, 138. In Anbetracht seiner biopolitischen Überlegungen kommt er zum Schluss, dass diese Schwelle überschritten ist, wo es einer Gesellschaft und ihrer Regierung „in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht“. Stadtstaat, der unter dem Ancien Régime von einem oligarchischen Patriziat regiert wurde, über die Helvetik (1798-1803), die Mediation (1803-1815), die Re‐ stauration (1815-1831) und die Regeneration (1831-1848) in einen demokratisch organisierten Kantonsteil des föderalistischen Schweizerischen Bundesstaats (ab 1848), der weitgehend säkularisiert war - die Eheschließung stellte nota bene eine Ausnahme dar. 57 Von einer fundamentalen Veränderung im veranschlagten Zeitraum auszu‐ gehen, legt zudem nicht nur die Verfassungsgeschichte, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte nahe. Sie wähnt das damalige Gebiet von Bern in diesem Zeitraum zumindest in einem „Strom der Modernisierung“, also in zügiger Bewegung. 58 Bezüglich der Eheschließungspraxis hat die internationale und schweizeri‐ sche Verwandtschaftsforschung auf die Zunahme von Heiraten in nahen Ver‐ wandtschaftsgraden als Ausdruck fundamentaler struktureller Veränderungen hingewiesen. 59 Und Foucault hat mit seinen diskursanalytischen Auseinander‐ setzungen zur sogenannten ‚Gouvernementalität‘, also zur Regierungslogik, längst auf die Bedeutung der Überschreitung der „biologische[n] Modernitäts‐ schwelle“ im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht. 60 Wie noch zu zeigen sein wird, fand die Überwindung dieser Schwelle um die Jahrhundertmitte auch in Bern schrittweise statt und hatte großen Einfluss auf die Konzeption, Verwaltung und Praxis der Eheschließung. 26 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 61 Vgl. zur Würdigung und Kritik des Konzepts der Sattelzeit Daniel Fulda, Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs, in: Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, hrsg. v. Elisabeth Décultot/ Daniel Fulda, Berlin, Boston 2016, 1-16, 2; 7; vgl. zudem Joachim Eibach, Die Sattelzeit. Epoche des Übergangs und Gründungsgeschichte der Moderne, in: Europa und die Welt. Studien zur Frühen Neuzeit. In memoriam Günther Lottes, hrsg. v. Robert Charlier/ Sven Trakulhun/ Brunhilde Wehninger, Hannover 2018, 133-148. 62 Joachim Eibach, Das Haus in der Moderne, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach/ Inken Schmidt-Voges, Berlin 2015, 19-37, 23. Ebenso Eibach, Sattelzeit, 147. Hier weist Joachim Eibach zudem darauf hin, dass es auch darauf zu achten gilt, welche Veränderungen „‚von unten‘ angestoßen“ wurden. 63 Alf Lüdtke, Einleitung, in: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, hrsg. v. Alf Lüdtke, Hamburg 1993, 9-22, 11. Sein historiographisches Plädoyer lautet: „Von den Rändern lässt sich […] ein Neuansatz entfalten.“ 64 Vgl. Foucault, Heterotopien, 12. Zu den Rändern schreibt er, dass sie sich dort befinden, wo sich Menschen aufhalten, „die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten“. Dennoch soll die begriffsgeschichtliche Qualifizierung der Sattelzeit in ihrem empirischen Gehalt aber nicht überschätzt werden. 61 Stattdessen wird unter‐ sucht, „was von den […] strukturellen Änderungen dieser Epoche eigentlich wie ‚unten‘ […] ankommt“, beziehungsweise vor allem wie in umgekehrter Richtung das Verhalten von ‚unten‘ strukturelle Veränderungen evoziert. 62 So möchte die vorliegende Arbeit zu einer differenzierteren Betrachtung des konstatierten Wandels beitragen. Dazu untersucht sie die Eheschließung im Spannungsverhältnis von Norm und Praxis im spezifischen Kontext der Stadtrepublik Bern. Dieser räumliche Zusammenhang umfasst die Stadt und das Territorium beziehungsweise das Kantonsgebiet, das sowohl Landstädte als auch ländliche Dörfer und Bergregionen einschließt. Dadurch wird weder der urbanen noch der agrarischen Kultur der Vorzug gegeben, sondern sie werden zusammen und in Wechselwirkung betrachtet. Dank diesem Zugang geraten die Eheschließungsversuche von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten, sozialen Stratifikaten und Berufen ins Blickfeld der Analyse. 3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik Um die Transformationen und deren Ursachen im Bereich der Eheschließung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einzufangen, empfiehlt es sich, die Geschichte der Eheschließung „von den Rändern“ her zu betrachten. 63 Die Ränder befinden sich dort, wo von der Norm abweichendes, also deviantes Ver‐ halten auftritt. 64 An dieser Stelle werden die eigensinnigen „Aneignungen“ jener 27 3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik 65 Lüdtke, Einleitung, 14. 66 Zur Differenzierung von Strategie und Taktik vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 23-24; 85-92. Weiterführende Erörterungen zu dieser Unter‐ scheidung folgen weiter unten im Text. 67 Zu den konzeptionellen Überlegungen zur Schreibweise des Begriffs vgl. Lüdtke, Ein‐ leitung, 19-20. Der im Konzeptbegriff verwendete Bindestrich wird im weiteren Verlauf der Arbeit weggelassen. Der Begriff kommt im hier verwendeten Quellenmaterial ohne diesen aus. Konzeptionell macht der Bindestrich aber durchaus Sinn. Durch ihn wird „das jeweilige Eigengewicht“ von Hauptwort und verbundenem Possessivpronomen augenfällig, was laut Lüdtke der Akzentuierung des Konzepts entspricht: „der eigene Sinn in seinen vielfältigen, nicht immer miteinander nicht [sic] zu vereinbarenden und gelegentlich auch widersprüchlichen Facetten“. 68 Ebd., 9. 69 Ebd. 70 Ebd., 10. 71 Peter Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Ge‐ schlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, hrsg. v. Peter Borscheid/ Hans Jürgen Teuteberg, Münster 1983, 112-134, 115. heiratswilligen AkteurInnen sichtbar, die mit ihren konkreten Heiratsbegehren die gesetzlichen und sozialen Normen im lokalen und familiären Umfeld heraus‐ forderten. 65 Durch ihr taktisches Handeln stellten sie gewollt oder unabsichtlich Konventionen in Frage und provozierten dadurch Reaktionen von Opponen‐ tInnen und strategische Urteile der Eherichter. 66 Mit dieser Perspektive folgt die Studie Alf Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns, das im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Handlungstheorie von Michel de Certeau kombiniert werden wird. 67 Diese Handlungstheorie gewinnt ihr Profil dadurch, dass sie insbesondere benachteiligten Menschen Handlungsmöglichkeiten zugesteht, die unablässig versuchen, sich die herrschenden Strukturen anzueignen. Sie ergänzt sich sehr gut mit dem Konzept des deutschen Historikers, der seinerseits „Eigensinn“ in Anlehnung an G. W. F. Hegel als jene stark limitierte Freiheit beschreibt, die dem ‚Knecht‘ in seiner Abhängigkeitssituation bleibt. 68 Dabei steht die Figur des Knechts bei Lüdtke stellvertretend für „die Besitzlosen“. 69 Das trifft teilweise gut auf die hier untersuchten ehewilligen AkteurInnen zu. Tatsächlich waren sie nicht selten Knechte und die Akteurinnen Mägde in landwirtschaftlichen Anstellungsverhältnissen. In vielen anderen Fällen waren sie besitzlos oder zumindest unvermögend. Der „eigene Sinn“ dieser Benachteiligten und zum Teil Mittellosen wurde wahrnehmbar, weil er sich „gegen alle und alles“ - im konkreten Fall gegen Familie, Gemeinden, Korporationen und Obrigkeit - wenden konnte. 70 Der Eigensinn bedeutet in dieser Studie die „Uneinheitlichkeit in der Auffassung von der Grundlage der Ehe und der Einstellung zur Sexualität“ der ehewilligen AkteurInnen mit den OpponentInnen und dem Gericht. 71 Mit 28 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 72 StABE, B III 826. Band C; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1756-1767), 227-228. 73 Zum Begriff des „kleinen Ereignisses“ Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn 2003, 24-25. 74 Auch Jürgen Schlumbohm macht in diesem Sinn auf die geschichtwissenschaftliche Bedeutung von „Randzonen“ aufmerksam. Jürgen Schlumbohm, Einleitung, in: Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20. Jahr‐ hundert, hrsg. v. Jürgen Schlumbohm, Hannover 1993, 9-13, 11-12. 75 Certeau, Kunst, 9. Subalternität wird in der vorliegenden Arbeit als Ergebnis von Praktiken sozialer Ausgrenzung durch die hegemoniale Ordnung verstanden. Inso‐ fern zeichneten sich die hier analysierten subalternen Akteure nicht ausschließlich de Certeau lässt sich dann erklären, auf welche Weise und mit welchem Einsatz die am Aushandlungsprozess der Ehe beteiligten und mit unterschiedlicher Handlungsmacht ausgestatteten AkteurInnen und Gruppen ihre Vorstellungen beziehungsweise ihre Normen durchzusetzen versuchten. Um die Konflikte an den Rändern in den Blick zu bekommen, werden für das ausgehende Ancien Régime und die Zeit nach der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung Ehevorhaben erforscht, die aus dem sozialen Nahraum mittels sogenannter ‚Eheeinsprachen‘ vor der zuständigen ehegerichtlichen Instanz im Territorium angefochten wurden. Die „streitig gemachte[n] Ehe‐ versprechung[en]“ 72 - ein zeitgenössischer Quellenbegriff -, die vor Gericht gezogen wurden, werden analysiert, weil in ihrer Verhandlung Praktiken auf Normen prallten und dadurch Reaktionen der Richter auslösten. Diese unab‐ lässigen Kollisionen führten, so die begründete Vermutung, zu jenen „kleinen Ereignisse[n]“, die in ihrer Kumulation durchaus zu größeren Veränderungen führen konnten und zumindest ihrem Potential nach transformativ waren. 73 Durch die gewählte Herangehensweise werden in der vorliegenden Studie somit Ehegesetz, gesellschaftliche Vorstellungen und individuelles Handeln aufeinander bezogen und in ihren Wechselwirkungen begriffen. Die Praxis der Eheschließung kommt dadurch multiperspektivisch von ‚oben‘ (das Gericht), der Mitte (die Opponierenden) und von ‚unten‘ (die Ehewilligen) in den Blick. Weiterführende Erörterungen zu dieser Unterscheidung folgen weiter unten im Text. Anhand der umstrittenen, konfliktreichen Fälle wird ersichtlich, was vom Gericht und der Gesellschaft als ‚normal‘ erachtet wurde, also was das zeitge‐ nössische Eheverständnis war und wogegen sich Opposition formierte. 74 Beim Abschreiten der Ränder und Grenzen des Normalen stößt man in den Quellen auf jene AkteurInnen, die de Certeau als „Helden des Alltags“ qualifiziert hat, und die in seiner metaphorischen Sprache „den Chor der am Rande versammelten“ ausmachen. 75 Ihre eigensinnigen Ehebegehren standen den 29 3.1 Theorie: Eigensinn, Strategie und Taktik durch materielle Armut aus, sondern dadurch, dass sie zu Subjekten matrimonialer Ausschlussmechanismen gemacht wurden. Dass dabei Armut und Exklusion oft Hand in Hand gingen, ist selbstverständlich. 76 Vgl. ebd., 94. An dieser Stelle spricht der Franzose von „Finten und taktischen Überra‐ schungen“ und „gelungene[n] Tricks des ‚Schwachen‘ in der vom ‚Starken‘ etablierten Ordnung“. 77 Ebd., 88. 78 Ebd., 90. 79 Ebd., 89. 80 Ebd., 23-24. Gesetzen und den gesellschaftlichen Normvorstellungen widerspenstig und fremd gegenüber. Um ihren Eigensinn vor Gericht durchzusetzen, mussten sie frei nach de Certeau listen- und trickreiche Taktiken entwickeln. 76 Dort schlugen ihnen die Argumente der einsprechenden Opponierenden entgegen, während die Richter ihre strategischen Urteile über den Ausgang der Verhandlungen fällten. In der Differenzierung von Strategie und Taktik folgt die Arbeit der Hand‐ lungstheorie des französischen Historikers: Die Strategie zielt auf „die Beherr‐ schung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes“. 77 Sie entwickelt dabei nicht nur laufend die Macht, diesen Ort nach ihren Rationalitäten zu organisieren und zu besitzen. Sie grenzt ihn durch strategische Handlungen auch laufend gegen außen ab. Im konkreten Fall stellte dieser Ort, den es durch die Strategen - die Berner Obrigkeit und die Eherichter - zu beherrschen galt, die Ehe dar. Bei der Erhaltung und Organisation dieses Ortes, das heißt bei der Behauptung der Herrschaftsverhältnisse konnten sie auf mächtige Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskurse zurückgreifen, die ihrerseits von ihnen produziert wurden. Dagegen definiert de Certeau die Taktik als etwas, das gegenüber der Strategie tendenziell „durch das Fehlen von Macht bestimmt“ ist. 78 Die Taktik kennt „nur den Ort des Anderen“ und „muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“. 79 „Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘. […] Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen. Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente kombiniert […]; allerdings hat deren intellektuelle Synthese nicht die Form eines Diskurses, sondern sie liegt in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird‘.“ 80 30 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 81 Joachim Eibach verweist darauf, dass „die Praxis der Lebenswelt“ zwar strukturiert, aber dennoch nicht statisch ist. Eibach, Verhöre, 24; an anderer Stelle bemerkt er zudem, dass Normen und Diskurse strukturieren, die Gerichtspraxis sich aber nicht aus der reinen Analyse der Normen herleiten lässt: Joachim Eibach, Versprochene Gleichheit - verhandelte Ungleichheit. Zum sozialen Aspekt in der Strafjustiz der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), 488-533, 509-510. 82 Certeau, Kunst, 15. Die verfolgte Herangehensweise legt somit den Akzent der Untersuchung darauf, dass sich die Aushandlungsprozesse rund um die Eheschließung stets in wirkungsmächtigen, aber in der Praxis immer auch manipulierbaren und daher zeitlich begrenzten Strukturen abspielten. 81 Heiratswillige AkteurInnen mussten sich aufgrund ihrer eigensinnigen Ehebegehren mit gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Sie wurden aufgrund ihrer eigensinnigen Vorstellungen und ihres subversiven Handelns sowohl von AkteurInnen aus dem sozialen Nahraum als auch vom Gericht geradezu zur Konfrontation gedrängt. Um sich das Privileg der Ehe trotz der Ein‐ sprachen anzueignen, waren sie gezwungen, das ihnen fremde Gesetz kreativ zu ihren eigenen Gunsten auszulegen - de Certeau hat für diese Handlung das passende Verb „umfrisieren“ verwendet. 82 Im gesetzlich normierten Raum suchten die heiratswilligen AkteurInnen taktisch kreativ nach Lücken und Ge‐ legenheiten, um ihre eigensinnigen ehelichen Interessen durchzusetzen, wenn ihre Beziehungskonstellationen nicht den herrschenden Konventionen entspra‐ chen. Dagegen versuchten einsprechende Familien, Verwandte, Gemeinden, Korporationen und selten auch Nebenbuhler ihrerseits die Eheschließungen mit ehehindernden Taktiken zu verunmöglichen. 3.2 Begriffliches: Prekär OpponentInnen gegen die hier untersuchten eigensinnigen Eheschließungen konnten Familienmitglieder, Verwandte, Nachbarn, Vögte, Gemeinden, stän‐ dische Korporationen oder Nebenbuhler der Eheaspiranten sein. Auch das entsprechende Gericht konnte von Amtes wegen auf den Plan treten. Durch die Einsprachen wurden die zwischen Individuen partnerschaftlich-konsensual gegebenen Eheversprechen ‚widerruflich‘. Die eheliche Einsegnung, die formale Vollziehung und Anerkennung der Ehe, stand dann auf dem Spiel und wurde ‚unsicher‘. Somit waren die Ehevorhaben in ihrer misslichen und heiklen Lage permanent gefährdet und drohten zu scheitern. Folgt man im Duden der Bedeutungserklärung und den Herkunftsangaben des Lemmas ‚prekär‘, dann 31 3.2 Begriffliches: Prekär 83 Art. prekär im Duden: www.duden.de/ rechtschreibung/ prekaer (29.06.2019). 84 Judith Butler, Vorwort, in: Die Regierung der Prekären. Mit einem Vorwort von Judith Butler, hrsg. v. Isabell Lorey, Wien 2012, 7-11, 8. 85 Pierre Bourdieu, Prekarität ist überall, in: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, hrsg. v. Franz Schultheis/ Louis Pinto, Konstanz 1998, 96-102, 100. 86 So zum Beispiel Robert Castel/ Klaus Dörre, Einleitung, in: Prekarität, Abstieg, Ausgren‐ zung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, hrsg. v. Robert Castel/ Klaus Dörre, Frankfurt a. M. 2009, 11-18, 12; ebenso Butler, Vorwort. 87 Vgl. zur historiographischen Verwendung des Konzepts auch Timo Luks, Prekarität. Eine nützliche Kategorie der historischen Kapitalismusanalyse, in: Archiv für Sozialge‐ schichte (AfS) 56 (2016), 51-80, 52. In Bezug auf die Kategorie ‚Prekarität‘ entwickelt der deutsche Historiker aufgrund eines Vergleichs die These, „dass ein Brückenschlag zwischen dem Vormärz und den Jahren ‚nach dem Boom‘ aufgrund struktureller Ähnlichkeiten beider Epochen aufschlussreich ist.“ 88 Bourdieu, Prekarität, 97. handelt es sich bei den hier untersuchten Eheschließungen um solche, die den Eigenschaften dieses Adjektivs exakt entsprechen. Das deutsche Wörterbuch schreibt zur Bedeutung von prekär: „in einer Weise geartet, die es äußerst schwer macht, die richtigen Maßnahmen, Entscheidungen zu treffen, aus einer schwierigen Lage herauszukommen; schwierig, heikel, misslich“. 83 Diese Begriffsdefinition schließt sich einem kulturwissenschaftlichen Kon‐ zept an, das „‚Prekarisierung‘ als einen Prozess, der nicht nur Subjekte, sondern auch ‚Unsicherheit‘ als zentrale Sorge des Subjekts produziert“, begreift. 84 Es geht maßgeblich auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Dieser hat damit zwar eine präzedenzlose Herrschaftsform im 20. Jahrhundert charakterisiert, die mit dem Neoliberalismus einhergeht, aber in den Konse‐ quenzen augenfällige Analogien mit dem frühindustriellen Kapitalismus auf‐ weist. 85 Seither haben verschiedene Sozialwissenschaftler*innen sich bemüht, die postulierte Beispiellosigkeit der Herrschaftsform für unsere Gegenwart besonders mit Blick auf moderne Anstellungsverhältnisse zu zementieren. 86 In den Augen von Historiker*innen haben sie damit aber wenig Plausibilität für ihre These dazugewonnen, weil ihnen der fundierte historische Vergleich fehlt. Tatsächlich gleichen aber die von ihnen beschriebenen Effekte für das 20. und 21. Jahrhundert jenen Erscheinungen sehr stark, die die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert für die hier untersuchten heiratswilligen AkteurInnen hatte. 87 Die von Bourdieu beschriebene „objektive Unsicherheit“ löste bei den Menschen in Bezug auf die Eheschließung im 18. und 19. Jahrhundert ebenso „eine allgemeine subjektive Unsicherheit“ aus, die auch jene bedrohte, die von ihr nicht oder zumindest nicht unmittelbar betroffen waren. 88 Die vorliegende Arbeit verwendet den 32 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 89 Einzig in einem Fall wurde das Eheversprechen von der Frau angefochten. Weil das Versprechen vom Gericht allerdings aufgrund der Aussagen des Mannes nicht in Zweifel gezogen wurde, erhob die Mutter von der Tochter veranlasst Anspruch auf ihr elterliches Recht auf Einsprache, weshalb dieser Fall ebenfalls Eingang in die Untersuchung gefunden hat. StABE, B III 824, 92-99. In einigen anderen Fällen wurde das Eheversprechen nachträglich bereut. Wo es geleugnet wurde, kam vor dem Ober‐ ehegericht heraus, dass dies auf Druck der opponierenden Partei, meistens des Vaters, getan wurde. In jedem Fall zeigte sich, dass formell die Ehe im Gerichtsverfahren nicht direkt von einem der betroffenen Brautleute bestritten wurde. Es wurden höchstens die Eltern vorgeschoben, um ein bereutes Eheversprechen durch deren Zugrecht wieder aufzulösen. 90 Das Zugrecht war ein Vetorecht, das der Vormundschaft von Minderjährigen im Sinne eines Vorzugs zukam. Es wird darauf im ersten Hauptteil zum Ancien Régime noch genauer eingegangen. Vgl. Urs Th. Roth, Samuel Ludwig Schnell und das Civil-Gesetz‐ buch für den Canton Bern von 1824-1830. Ein Beitrag zur Kodifikationsgeschichte des schweizerischen Privatrechts, Bern 1948, 181-185; Chorgericht war die Berner Bezeichnung für das Sittengericht beziehungsweise das Konsistorium. Vgl. zu den unterschiedlichen Bezeichnungen in der deutschsprachigen Schweiz Lucienne Hubler, Art. Sittengerichte 2012. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D9622.php (26.08.2021). 91 Chorgerichtssatzung (3. Juli/ 5.Dezember 1743), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 762-791, 780. Begriff, weil dieser ihren Untersuchungsgegenstand akkurat charakterisiert. Sie möchte damit historisch differenziert zur inhaltlichen Schärfung des Konzepts beitragen. Folglich werden hier prekäre Eheschließungen in Bern am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert untersucht. Diese wiesen ein spezifisches konfiguratives Element auf: Ihnen ging ein ursprünglich einvernehmliches Eheversprechen der Brautleute voraus. Gegen dieses konsensuale Ehebegehren wurde im Nachhinein von den bereits erwähnten OpponentInnen Einspruch erhoben. Entsprechende Ehehindernisse wurden geltend gemacht, um den Vollzug der Eheschließung durch die Einsegnung des Pfarrers in der Kirche zu verhindern. 89 Dazu wurden sogenannte ‚Eheeinsprachen‘ oder ‚Zugrechtsklagen‘ zunächst vor dem Pfarrer oder lokalen Chorgericht geltend gemacht. 90 Dies geschah je‐ weils in Reaktion auf das Eheaufgebot, das in Bern durch die sogenannten ‚Kan‐ zelverkündigungen‘ durch den Gemeindepfarrer geschah. Die Verkündigungen hatten an drei aufeinander folgenden Sonntagsgottesdiensten von der Kanzel in der Kirche der Heimat- und Wohngemeinde der Ehewilligen zu erfolgen. Sie waren in der Chorgerichtssatzung, dem Berner Ehegesetz, kodifiziert und obligatorisch. Allerdings bestand vor der Helvetik (1798-1803) für Angehörige des Patriziats, der hohen Beamtenschaft und des Klerus die Möglichkeit der Dispensation. 91 Für alle anderen Personen diente das Rechtsinstitut als offizielle 33 3.2 Begriffliches: Prekär 92 Bourdieu, Prekarität, 99. 93 Das älteste Manual existiert für das Jahr 1529 und trägt die Signatur StABE B III 442. Der letzte Band für das Berner Ancien Régime ist mit StABE B III 748 signiert und endet am 30. März 1798. 94 Margareth Lanzinger kommt in ihrer Studie zur Ehedispenspraxis in Österreich zum Schluss, dass „Hartnäckigkeit“ eine wichtige Eigenschaft der Akteure war, um mit dem Heiratsvorhaben zu reüssieren. Lanzinger, Verwandtschaft, 13. Auch Eva Sutter stellt fest, dass fortwährende „Ungehorsamkeit und Zermürbung“ eine erfolgreiche Taktik zur Durchsetzung von prekären Ehebegehren war: Eva Sutter, „Ein Act des Leichtsinns und der Sünde“. Illegitimität im Kanton Zürich: Recht, Moral und Lebensrealität (1800- 1860), Zürich 1995, 197; vgl. auch Erika Flückiger Strebel, Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert, Zürich 2002, 49; ähnlich gelagerte Fälle, wie die hier untersuchten, hat sich auch Chris‐ tian Simon angeschaut. Er hat festgestellt, dass „die dörfliche Selbstregulierung von Konflikten […] ihre Grenzen dort [hat], wo hartnäckige Rechthaber auf ihr angebliches Recht nicht verzichten zu können glauben.“ Christian Simon, Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels, Basel 1981, 241. öffentliche Ankündigung einer gewünschten Eheschließung, weshalb durch die untersuchten Einsprachen potentiell weite Teile der bernischen Bevölkerung aus unterschiedlichen Ständen und Schichten ins Spektrum der Untersuchung kommen. Die Verkündigungen ermöglichten kommunale, korporative und verwandtschaftliche Kontrolle und die Zurückweisung ehelicher Ansprüche. Damit sollten klandestine Ehen gegen den Willen und die Interessen der involvierten Familien, Gemeinden und Korporationen sowie Bigamie verhindert werden. Insofern waren prekäre Ehen durchaus „das Produkt eines politischen Willens“. 92 Die deponierten Eheeinsprüche sollten dann ex officio vor das terri‐ toriale beziehungsweise kantonale Ehegericht gelangen. Die Mehrheit der Fälle, die vor dem Oberehegericht landeten, wurde durch dessen Urteil abgeschlossen. Gerichtsverhandlungen und Rekurse kosteten viel Geld, mussten folglich finan‐ ziert werden und waren zeitaufwendig. Die Investition von materiellen und immateriellen Ressourcen setzte eine Aussicht auf potenziellen Erfolg voraus. Zahlreiche KlägerInnen und AntworterInnen fanden sich daher mit dem Urteil des Oberehegerichts ab. Sie arrangierten sich damit, da ein Rekurs trotz großem Ressourcenaufwand wenig erfolgsversprechend erschien. Diese Fälle finden sich im Staatsarchiv Bern (StABE) in den sogenannten ‚Chorgerichtsmanualen‘ wieder. 93 Einige sehr aussagekräftige Verhandlungen wurden allerdings von besonders eigensinnigen AkteurInnen vor den Rat gezogen und weitergeführt, weil eine der involvierten Parteien außergewöhnlich hartnäckig war und den Entscheid des Gerichts nicht annehmen wollte. 94 Die Gerichtsfälle, die zum Weiterzug vor den Rat geführt hatten, sind Gegenstand der vorliegenden Studie. Sie werden 34 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 95 Sibylle Hofer, Gerichte und Verfahren, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 471-477, 477. 96 Zum Konzept der Justiznutzung vgl. Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kon‐ trolle in der Frühen Neuzeit, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hrsg. v. Andreas Blauert/ Gerd Schwerhoff, Konstanz 2000, 503-544; zur Justiz als anruf- und nutzbare Ressource vgl. auch Hardwick, Business, 3; 17; 57-87. hier herangezogen, weil sie den Eigensinn und die Persistenz der AkteurInnen in besonderem Ausmaß demonstrieren und letztendlich von oberster Regie‐ rungsinstanz, dem Rat von Bern, beurteilt werden mussten. Hier forderten ehe‐ willige Akteur-Innen in maximaler Weise Handlungsmacht gegenüber ihrem familiären und kommunalen Umfeld ein und veranlassten das obrigkeitliche Gericht zu strategischen Reaktionen in der praktischen Normierung heraus. Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind diese politisch aufgeladenen Eheschließungen daher in besonderem Maße aufschlussreich. Dass in der Untersuchung auch Fälle von armen und besitzlosen Personen in den Blick kommen, dafür sorgten zwei Umstände: Einerseits wurde gegen viele Urteile von den OpponentInnen rekurriert, weil sie mit dem Ausgang der Verhandlung nicht zufrieden waren. Andererseits existierte ein „besonderes Armenrecht“, das es unvermögenden Menschen erlaubte, den Fall weiterzuziehen und so ihren Eigensinn trotz fehlender Mittel durchzusetzen. 95 Gleichzeitig waren, wie noch zu zeigen sein wird, an gewisse eigensinnige Ehebegehren auch Interessen einer Gemeinde geknüpft. Wenn zum Beispiel eine mittellose Verlobte bereits schwanger war, konnte das durchaus dazu führen, dass die Gemeinde der Frau kurzfristig Mittel in den Aushandlungsprozess investierte, um langfristig kommunale Ressourcen zu sparen. Insofern beweist die Konstellation der untersuchten und hier als prekär bezeichneten Fälle eine besondere, vorerst aus dem Handeln der AkteurInnen abgeleitete Form des Eigensinns: Erstens entsprachen die aspirierten ehelichen Verbindungen nicht den Interessen, dem ‚Gemeinsinn‘ und den Rechtsvorstel‐ lungen von Verwandten, Gemeinden, ständischen Korporationen und Kirchen‐ dienern. Auf diese Weise erschienen sie per se eigensinnig, weil sie durch ihren Wunsch im unmittelbaren sozialen Nahraum Widerstand evozierten. Sie wichen von allgemeinen Normvorstellungen ab und waren somit deviant. Zweitens mussten die Heiratswilligen zum Teil ihren Fall gegen solchen Widerstand im Sinne der „Justiznutzung“ selbstständig vor die zuständige gerichtliche Instanz in Bern ziehen. 96 Die oben beschriebenen Eheeinsprachen und Zugrechtsklagen sollten eigentlich auf Amtswegen an das Oberehegericht in Bern gelangen. Denn dieses war zuständig für die Beurteilung dieser Fälle. 35 3.2 Begriffliches: Prekär 97 Hofer, Gerichte, 477. In der Praxis untersagten aber Gemeinden wiederholt zwar die weiteren Verkündigungen, leiteten aber die Einsprüche nicht an das Oberehegericht weiter. Dadurch konnte es zu keiner weiteren Verhandlung kommen. Die Ehewilligen mussten unter diesen Umständen ihr Recht vor dem Oberehegericht selbstständig einfordern, wollten sie ihr eheliches Vorhaben in die Tat umsetzen. Gemeinden hielten das Pfarrpersonal teilweise auch ohne offiziellen Einspruch an, die obligaten Verkündigungen in der Pfarrei der Braut, des Bräutigams und allenfalls den davon abweichenden Wohnorten der beiden auszusetzen. Dadurch unterbrachen und behinderten sie den ehekonstituierenden Gesamt‐ prozess und vereitelten die abschließende eheliche Einsegnung der Verbindung durch einen Pfarrer auf lokaler Ebene auf unbestimmte Zeit. Das konnte die Justiznutzung seitens der Ehewilligen provozieren, um den individuellen Willen durchzusetzen. Drittens spricht für eine spezifische und besonders intensive Form des Eigen‐ sinns in den hier als prekär klassifizierten Fällen, dass die ehewilligen sowie die gegen den Ehevollzug opponierenden Parteien bei abschlägigem Urteil des Oberehegerichts dazu bereit waren, sogar gegen das Urteil des Oberehegerichts zu rekurrieren. Sie zogen den Fall bis vor die höchste Instanz, den Berner Rat. Das Rekursverfahren war entsprechend ressourcenintensiv. Den Fall aus dem lokalen chorgerichtlichen Kontext nach Bern in den Rat zu ziehen, beanspruchte Zeit, war mit unterschiedlichen physischen und psychischen Strapazen des Reisens verbunden und verzehrte Geld für die Reisekosten der Parteien und deren vorgeladene Zeugen. Die Richter, der Gerichtsschreiber und die Anwälte hatten ebenfalls ihren Preis. Auch die übrigen Verfahrenskosten und die ausge‐ stellten Dokumente mussten bezahlt werden, sofern die Kosten vom Gericht nicht abgeschlagen wurden. 97 Hinzukommen konnten je nach Beziehungskons‐ tellation und der sexuellen Vorgeschichte des Paares, das den ehelichen Status anstrebte, Geldstrafen und ehrrührige Bußpraktiken, zum Beispiel bei Ehebre‐ chern und unehelich Schwangeren. Diese konnten sowohl finanzielles als auch symbolisches Kapital kosten. Entsprechende Beschwerlichkeiten und Risiken ging man entweder ein, weil man unbedingt heiraten wollte, aber von der anderen Partei vor Gericht gezwungen wurde. Oder man war so eigensinnig, seinen Heiratswillen gegen ständische Hindernisse selbstständig vor Gericht und durch dessen Sanktionierung zur gemeinschaftlichen Anerkennung zu bringen. 36 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 98 Ulrich Im Hof, Burgdorf und Thun als schweizerische Munizipalstädte des Ancien Régime, in: Burgdorfer Jahrbuch 52 (1985), 95-111, 100. 99 Johann Conrad Fäsi, Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenos‐ senschaft, Bd. 1, 4 Bde., Zürich 1765-1768, 711. 100 StABE, B III 440. Registerband zum Instruktionenbuch Bd. I (ca. 1795), 46; vgl. zur Lokalisierung des Oberchorgerichts Lucienne Hubler, Consistoires. Le contrôle de la société, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 205; ebenso Kurt Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, 177. 101 Das Instruktionenbuch wurde auf den 1779 erfolgten Befehl des Oberchorgerichts gefertigt und im Januar 1780 vorgelegt. Diese Vorlage wurde revidiert und mit einem vollständigen Register versehen und im April 1780 dem Oberchorgericht präsentiert. Das Instruktionenbuch sollte fortan bei sämtlichen Chorgerichtssitzungen neben sechs Exemplaren deutscher und welscher Chorgerichtssatzungen, Dirnenmandaten, Maimandaten und Predikantenordnungen, der Berner Gerichtssatzung, dem Matrimo‐ nialregister und dem Coutumier du Pais de Vaud auf dem Verhandlungstisch des Gerichts liegen. Außerdem wurde das Sekretariat des Oberehegerichts angewiesen 9 Exemplare des Materialregisters anzufertigen, so dass ab 1780 dem Präsidenten, dem Co-Präsidenten, den sechs Assessoren und dem Weibel je eines zur Verfügung stand. Die Gerichtssässen des Oberehegerichts waren gehalten, ihr Exemplar beim Ausscheiden aus dem Amt zurückzugeben, damit es dem Nachfolger übergeben werden konnte. Besonders das Materialregister zum Instruktionenbuch, denn dieses enthält in summarischer Form bereits den Kern der jeweiligen Instruktion, war also seit 1780 für 3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale Um die devianten und daher prekarisierten Eheaspirationen und ihren Erfolg gegen die OpponentInnen im besagten Zeitraum historisch zu untersuchen, bedient sich die Studie der Urteilsurkunden in den im Staatsarchiv des Kantons Bern eingelagerten Rekursmanualen der zuständigen richterlichen Instanz. Das höchste territoriale Ehegericht der Stadtrepublik wurde bis 1798 in den Quellen meistens als Oberchorgericht bezeichnet. Es amtete als Konsistorium des Stadtbezirks und als Appellationsinstanz für alle unteren Chorgerichte des gesamten Berner Territoriums. Auch die Chorgerichte der Munizipalstädte waren dem obersten Chorgericht unterstellt. 98 Die von den Chorgerichten der Munizipalstädte Verurteilten hatten folglich das Recht auf Appellation an das Oberchorgericht in Bern. 99 Letzteres tagte in der Regel jeweils am Montag und Donnerstag nach den Predigten im Ostflügel des Berner Stiftsgebäudes, das noch heute existiert und sich neben dem Berner Münster befindet. 100 Dort war auch der Chorweibel untergebracht und das Chorgerichtsgefängnis befand sich ebenfalls im selben Gebäude. In den Instruktionenbüchern zu den Ehegerichtsordnungen wurde die Be‐ setzung des Oberchorgerichts beschrieben. 101 Es bestand demzufolge aus den 37 3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale die Ehegerichtspraxis wichtig geworden. StABE, B III 437. Instruktionenbuch für das obere Chorgericht der Stadt und Republik Bern (1708-1790), 3-6. 102 Der statt Bern chorgerichts satzung umb ehsachen, huerey und ehbruchs-straff, anstell- und erhaltung christenlicher zucht und ehrbarkeit, und was zur selben gehörig. Zu statt und land zugebrauchen (28. Juni 1634/ 1667), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 719-747, 733. 103 StABE, B III 437, 26-27. 104 Ebd., 101-102. 105 Rino Siffert, Verlobung und Trauung. Die geschichtliche Entwicklung des schweizeri‐ schen Eheschliessungsrechts, Zürich 2004, 35-36. zwei Münsterpfarrern, vier Mitgliedern aus der Mitte des Großen Rats, wovon zwei erfahrene Amtmänner (‚ausbediente‘ Oberamtmänner) sein mussten und zwei, die bisher noch keine Chance erhalten hatten, ein Amt zu bekleiden. Damit war wohl die Absicht verbunden, Ämtererfahrung mit der Einführung in eine Ämterlaufbahn zu paaren. Abgesehen von den Pfarrpersonen durften nur verheiratete Personen in ehegerichtlichen Angelegenheiten urteilen. 102 Das Präsidium sollte nach der Revision des Ehegesetzes von 1743 als Co-Präsidium durch zwei „Ehren-Glieder“ des Kleinen Rats geführt werden, wobei sich diese in ihrer Amtstätigkeit im Monatsrhythmus abwechselten und jeweils nur einer der beiden gnädigen Herren anwesend sein musste. Letztendlich bedeutete das, dass gleichzeitig stets acht Personen in das Gericht gewählt waren, von denen sieben aktiv sein konnten: zwei Co-Präsidenten aus dem Kleinen Rat, die sich das Amt teilten, dazu zwei Pfarrer, je zwei erfahrene und zwei unerfahrene Assessoren aus der Mitte des Großen Rats. 103 Der Große Rat entschied im April 1774 aufgrund von unpässlichen Vorfällen, das monatlich alternierende Präsidialamt abzuschaffen und durch ein jährliches zu ersetzen. Außerdem sollte das Amt nicht mehr „den Kehr machen“, das heißt im Turnus, sondern durch „die freye Wahl der Balloten“ der Venner vor den Räten und Burger - durch Zufall - mit einem Mitglied des täglichen Rats besetzt werden. 104 Um in wichtigen Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen, sollten neben einem Präsidenten mindestens sechs Mitglieder anwesend sein. Bei voller Besetzung des Oberchorgerichts standen sich weltliche und geistliche Richter in einem Verhältnis von zwei zu eins gegenüber, wobei bei diesem Verhältnis der Präsi‐ dent aus dem Kleinen Rat, dem in unentschiedenen Fällen der Stichentscheid zukam, nicht mitgerechnet ist. Um offiziell beschlussfähig zu sein, mussten neben dem Präsidenten allerdings lediglich vier Gerichtsbeisitzer präsent sein. 105 Wenn kein Präsident im Gericht war, übernahm der älteste der weltlichen Assessoren den Vorsitz. 38 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 106 Vgl. zum Verhältnis von Kirche und Staat in Bern Altorfer-Ong, Staatsbildung, 53; ebenso Regula Wyss, Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Epfendorf 2015, 41; Guggisberg, Kirchengeschichte, 178. 107 StABE, B III 437, 26-27. 108 Die Instruktion vom 10. Januar 1776 betraf die Angelegenheit eines Jacob Lyssers, der seine Niece par Alliance geschwängert hatte. In diesem Fall hatte der zuständige Pfarrer mit einem persönlichen Schreiben angeblich versucht, den Fall und das Urteil zu Gunsten des Angeklagten zu beeinflussen. Mit seinem Einfluss wollte der Geistliche den Fall am lokalen Chorgericht vorbeischleusen und gleich dem Oberchorgericht zuweisen. Dabei verschleierte er die nahen Verwandtschaftsverhältnisse des Paares; ebd., 373-379. 109 Guggisberg, Kirchengeschichte, 178. 110 StABE, B III 437, 109-110. Die Verteilung von geistlichen und weltlichen Gerichtssitzen und die Stellver‐ tretungsregelung des Präsidenten zeigen, wer in Bern das Sagen hatte: Die Kir‐ chendiener befanden sich deutlich in der Minderheit. 106 Die Stellung der Kirche drückte sich auch darin aus, dass nicht nur die weltlichen Assessoren den Eid auf die Kammer zu schwören hatten, sondern auch die kirchlichen Vertreter dazu angehalten wurden. 107 Die Regierung schien den Geistlichen im Allgemeinen nicht uneingeschränkt zu trauen. In diesem Zusammenhang verdient eine Instruktion aus dem Jahr 1776 besondere Aufmerksamkeit. In dieser Anweisung wird das Oberchorgericht aufgrund eines konkreten Falls angehalten, sich nicht von Schreiben von Pfarrern, die in ihrem eigenen Namen oder in eigener Sache das Oberchorgericht adressierten, beeinflussen zu lassen. 108 Die Ergänzung des Ehegerichts, die durch Kooptation geschah, sollte halbjährlich um zwei Sitze erfolgen. Die Geistlichen konnten sich bestätigen lassen. 109 Sofern mehrere Stellen ledig zu werden drohten, sollten die beiden jüngeren Assessoren für eine weitere Amtsperiode in ihrer Funktion als Eherichter verbleiben. 110 In den meisten Fällen wurden die Gerichtsurteile lediglich in summarischer Weise im Chorgerichtsmanual protokolliert. Weil es sich allerdings um Urteile handelte, gegen die rekurriert wurde, erfahren wir darin sowohl die Meinung der Befürworter als auch der Gegner der Ehen - vom Schreiber meist in indi‐ rekter Rede wiedergegeben, selten mittels Zitaten vom direkten Wortlaut der Meinungsträger durchzogen - und nicht einfach nur den zusammengefassten Urteilsspruch des Gerichts. Außerdem dokumentieren die Urkunden in den meisten Fällen, wie sich die Richter zu den Argumenten der Ehewilligen und ihren Opponent-Innen positionierten. Es ist aus ihnen zu erfahren, ob sich das Gericht einstimmig oder mehrstimmig für oder gegen die Eheschließung entschieden hatte. Das heißt, wenn die Stimmen der Richter in zwei oder drei voneinander abweichende Meinungen zerfielen, wurden alle Urteilslogiken in 39 3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale 111 Max Dietrich, Die Gerichtsorganisation des Kantons Bern im 19. Jahrhundert, Herzo‐ genbuchsee 1934, 40-41. 112 Betraf das Urteil BernburgerInnen, musste das oberehegerichtliche Urteil vor den Großen Rat gelangen. In allen anderen Fällen war der Kleine Rat zuständig. StABE, B III 437, 29. der Rekursurkunde protokolliert. Erst im abschließenden Urteil, das einem Mehrheitsentscheid entsprach, wurden die unterschiedlichen Meinungen der anwesenden Richter wieder austariert und in einem Spruch vereinigt. Dadurch werden ehepolitische Mehrheits- und Minderheitenpositionen unter den Rich‐ tern erkennbar, aus denen sich bevölkerungspolitische Trends innerhalb des Gerichts ableiten lassen. Es sind aber auch die Argumente der Ehewilligen, der OpponentInnen und der richterlichen Lager im Rahmen des Gerichts zugänglich, die es dem Berner Rat beziehungsweise Appellationsgericht und noch später dem Obergericht erleichtern sollten, sein abschließendes, rechtfer‐ tigungsloses Urteil zu fällen. Somit ist es möglich, die Fälle im Spannungsfeld zwischen ehewilligen Paaren, einsprechenden OpponentInnen und urteilenden Richtern, und entsprechend zwischen Eigensinn, gemeinschaftlichen Interessen und obrigkeitlicher Ehepolitik, zu betrachten. Auf diese Weise geben die Quellen trotz ihrer spezifischen herrschaftlichen Entstehungskontexte und -logiken im Gericht Aufschluss über kreative Aneignungsversuche von ehebegehrenden Paaren. Sie legen taktische Zurückdrängungsversuche von Opponierenden offen, die auf wirtschaftliche und sittliche Moralvorstellungen rekurrieren. Und sie offenbaren die oftmals uneinigen bevölkerungspolitischen, moralischen und ehegesetzlichen Bewertungen der Eheschließungsvorhaben aus den Reihen der Richter, wie zu zeigen sein wird. Der Gerichtsschreiber hatte bei seiner Tätigkeit einen offiziellen Stellver‐ treter. Zusammen mit dem Weibel bildeten sie das Sekretariat des Oberchorge‐ richts. 111 Die in ihren Meinungen differenzierten Urkunden gelangten über den Weibel anschließend versiegelt vor den Kleinen oder Großen Rat und bildeten dort die Entscheidungsgrundlage für das unumstößliche Urteil der höchsten richterlichen Instanz. 112 Die Urteile der Räte werden in dieser Arbeit allerdings nicht thematisiert, weil sie weitere Ebenen einführen würden. Doch allein die Möglichkeit des Rekurses illustriert, dass sich das Gericht und die Regierung in ihren Auffassungen nicht einig sein mussten. Die Räte behielten sich insofern ein Rekursrecht vor, mit dem sie Kontrolle über das Oberchorgericht ausübten und politisch korrigierend eingreifen konnten. Unter dem Schlagwort „Acta und Schriften“ im Register des Instruktionen‐ buchs erfahren wir interessante Details zur Archivierung und Verfügbarkeit der Akten, die dem Oberchorgericht für ihre Urteile vorlagen. Dem Gericht 40 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 113 StABE, B III 440, 4-5. 114 StABE, B III 437, 93-98. 115 Da sich die gerichtlichen Kontexte zwischen den verschiedenen Untersuchungszeit‐ räumen zum Teil mehr oder weniger stark unterschieden, werden sie und die Quellen‐ produktion jeweils an entsprechender Stelle in den chronologischen Teilen genauer erläutert. 116 StABE, B III 824; StABE, B III 826; StABE, B III 827. Band D; Rekurs-Manual des Chorge‐ richts der Stadt Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1767-1773); StABE, B III 829. Band F; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1781-1792); StABE, B III 830. Band G; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt waren nur die Unterlagen der letzten drei Jahre unmittelbar zugänglich. Die 27 vorherigen Jahrgänge der Akten wurden in einem Archivschrank mit zwei verschiedenen Schlössern aufbewahrt. Chorschreiber und amtierender Präsident verwalteten jeweils einen Schlüssel. 113 Der Präsident wurde darüber hinaus angewiesen, jeweils nach einem Jahr im Beisein eines Gerichtsbeisit‐ zers den ältesten Jahrgang zu verbrennen. 114 Dieser Umstand erklärt, wieso heute keine weiterführenden Dokumente - Zeugenberichte, Verhörprotokolle, Beweismittel etc. - für die hier behandelten Fälle zugänglich sind. Aufgrund der Helvetischen Revolution wurde das Oberchorgericht zwischen‐ zeitlich aufgehoben. Danach wurde es 1803 zum Oberehegericht umbenannt, wie es dann bis 1831 hieß. Mit der neuen Verfassung von 1831 wurde es durch die regionalen Amtsgerichte ersetzt. Folglich umfassen die zwölf Manuale des Oberchorgerichts beziehungsweise Oberehegerichts den Zeitraum zwischen 1742 und 1831. Die Rekursmanuale werden lediglich durch das rund fünfjäh‐ rige republikanische Zwischenspiel der Helvetik unterbrochen. Für die Zeit zwischen 1832 und 1848, also bis zur Bundesstaatsgründung, wird aufgrund der veränderten Gerichtsorganisation, auf die im entsprechenden Abschnitt im Hauptteil eingegangen werden soll, das sogenannte ‚Konsistorialmanual‘ des Amtsgerichts von Bern beigezogen, das bis zu diesem Zeitpunkt acht Bände umfasst. 115 Das hier analysierte Quellensample beinhaltet 134 Fälle von Urteilen über im partnerschaftlichen Einvernehmen geschlossene Eheversprechen, die auf die Agenda der zuständigen ehegerichtlichen Instanz kamen, weil Familienmit‐ glieder, Gemeinden, ständische Korporationen oder Nebenbuhler auf lokaler Ebene Einsprachen gegen deren kirchliche Einsegnung erhoben hatten. Für die Samplebildung wurde darauf geachtet, dass pro Jahrzehnt ein Band berücksich‐ tigt und jeweils der Anfangs- und Endpunkt einer verfassungsgeschichtlichen Entwicklung miteinbezogen wurde. Es wurden so für den Zeitraum von 1742 bis zum Ende des Ancien Régimes, mehr oder weniger gleichmäßig verteilt, fünf Bände des Rekursmanuals des Oberchorgerichts ausgewertet. 116 Für die etwas 41 3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1792-1797). Es muss hier angebracht werden, dass der erste Band der Rekursmanuale falsch datiert worden ist. Der erste Fall darin stammt von 1742 und betrifft ein prekarisiertes Eheversprechen. 117 StABE, B III 831. Band H; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehe‐ gerichts des Kantons Bern (1798-1809); StABE, B III 833. Band K; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1814-1820); StABE, B III 835. Band M; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehegerichts des Kantons Bern (1826-1831). 118 StABE, Bez Bern B 2748 Band 1. Konsistorial-Manual (1832-1833); StABE, Bez Bern B 2755 Band 8. Konsistorial-Manual (1844-1848). 119 Die entsprechenden Petitionen sind in den folgenden Archivbänden im Schweizeri‐ schen Bundesarchiv (BAR) versammelt: BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1798, Teil 1 (1798-1798); BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kan‐ tonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungs‐ kammern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1798 Teil 2 und 1799 Teil 1 (1798-1799); BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kan‐ tonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungs‐ kammern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 2 (1799-1799); BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regierungsstat‐ thaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 3 (1799-1799); BAR B0#1000/ 1483#226*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 4 (1799); BAR B0#1000/ 1483#227*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1800 Teil 1 (1800); BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskam‐ mern, Regierungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1800 Teil 2 (1800); BAR weniger als 30 Jahre zwischen 1803 bis 1831 wurden drei Bände des Manuals des Oberehegerichts berücksichtigt. 117 Bei den Konsistorialmanualen wurden der erste und letzte Band des hier untersuchten Zeitraums betrachtet. 118 Um das obrigkeitlich Quellenmaterial, das wie erwähnt in einem spezifischen Herrschaftskontext produziert wurde, zu kontrastieren und dadurch in seinen Aussagen kritisch zu reflektieren, werden daneben 160 Petitionen aus der Zeit der Helvetischen Republik untersucht, in der sich die politischen Vorzeichen zwischenzeitlich stark verändert hatten. 119 Darin baten Ehewillige aus allen 42 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung B0#1000/ 1483#229*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatpersonen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regierungsstat‐ thaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1801 (1801); BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz an den Kleinen Rat bzw. an den 2. Vollziehungsrat von Privatpersonen [Gesuche um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkündigung], Munizipalitäten, Regierungsstatthaltern und kantonalen Verwaltungskammern [alle Bereiche der Staatsverwaltung betreffend], geistlichen Würdeträgern, Offizieren und französi‐ schen Generälen. Korrespondenz von im Zusammenhang mit dem dritten und dem vierten Staatssreich zurückgetreten oder entlassenen bzw. neu eingesetzten Beamten. Akten über den vierten Staatsstreich vom 17./ 20. April 1802(1)\Korrespondenz von designierten Mitgliedern der Notabelnversammlung und des 3. [4.] Senats sowie von designierten Staatssekretären. 21. Dezember 1801-30. August 1802 (1801-1802); BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz. Korrespondenz an den 2. Vollziehungrat von Privatpersonen [Gesuche um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkün‐ digung], Munizipalitäten, Distrikten und Regierungsstatthaltern [alle Bereiche der Staatsverwaltung betreffend], Offizieren, französischen Generälen, Staatssekretären und Beamten [Forderung rückständiger Gehälter] und Senatoren. Korrespondenz von im Zusammenhang mit dem „Stecklikrieg“ zurückgetretenen bzw. neu eingesetzten Beamten. Korrespondenz der offiziellen helvetischen Delegation an der Konsulta in Paris(1). 13. Juli 1802 - 7. März 1803 (1802-1803); BAR B0#1000/ 1483#604*, Dis‐ pensation von sich in der Helvetischen Republik aufhaltenden Ausländern von der gesetzlich verordneten Eheverkündigung (1). Gesuche von Privatpersonen aus verschiedenen Kantonen um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkün‐ digung, Helvetischer Vollziehungsausschuss (1798-1801); BAR B0#1000/ 1483#605*, Dispensation von sich in der Helvetischen Republik aufhaltenden Ausländern von der gesetzlich verordneten Eheverkündigung (1). Gesuche von Privatpersonen aus verschiedenen Kantonen um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkün‐ digung (1798-1801). Schichten während der fünfjährigen republikanischen Ära unter französischer Besatzung um Eheerlaubnis oder um die Dispensation von den Kanzelverkün‐ digungen. In ihnen adressierten Individuen und Paare nach dem Ende der aristokratischen Herrschaft aus dem gesamten Gebiet des damaligen Bern mit der Unterstützung von Schreibern direkt das sogenannte ‚Vollziehungsdirekto‐ rium‘, das exekutive Leitungsgremium der zentralistisch regierten Republik. Dies taten sie gezielt, um mit ihren Eheaspirationen öffentliche Aufmerksamkeit zu verhindern oder mögliche Ehehindernisse im Voraus oder Nachhinein zu umgehen. Dieses Privileg war zuvor nur einer schmalen Schicht gegönnt. Gegen die opponierenden Parteien aus dem kommunalen, korporativen und familiären Umfeld, die die Ehevorhaben zu verhindern versuchten, mussten die Heiratswilligen ihr Recht auf legitime Heirat also vor der entsprechenden gerichtlichen Instanz erstreiten oder die Legitimation musste per Petition, also 43 3.3 Quellen: Rekursmanuale, Petitionen und Konsistorialmanuale 120 www.duden.de/ rechtschreibung/ prekaer (29.06.2019). 121 André Holenstein, Introduction. Empowering Interactions. Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe, 1300-1900, hrsg. v. Willem Pieter Blockmans/ André Holen‐ stein/ Jon Mathieu, Hants, Burlington 2009, 1-31, 4-5. 122 Foucault schreibt dazu: „Der Staat kann nicht vom Ensemble der Praktiken getrennt werden, die tatsächlich bewirkt haben, dass der Staat eine Art und Weise des Regierens, eine Handlungsweise und ebenso eine Art und Weise des Zur-Regie‐ rung-in-Beziehung-Stehens geworden ist.“ Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, „durch Bitten erlangt“ werden - ein Attribut, das dem Duden zufolge das Eigenschaftswort ‚prekär‘ ebenfalls umschreibt. 120 3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel Unter den ausgeführten Prämissen folgt die Arbeit einem praxeologisch ausgerichteten politikgeschichtlichen Ansatz, dessen gemeinsamen Nenner André Holenstein sinngemäß wie folgt auf den Punkt gebracht hat: Die Artikulation von Interessen, moralischen Konzepten und Bedürfnissen von Gemeinschaften, Korporationen, Interessengruppen und Subjekten von lo‐ kalen Gesellschaften steht am Ausgangspunkt des Staatsbildungsprozesses. In dieser Sichtweise erscheint die Genese des modernen Staats, die vorerst eine Ausweitung und Stärkung obrigkeitlicher Institutionen und die Intensi‐ vierung bürokratischer Aktivitäten bedeutet, nicht länger als autopoietische Errungenschaft von Regenten, Ministern, Beamten und Generälen. Vielmehr findet die Evolution des modernen Staats und seiner Institutionen im Wech‐ selspiel zwischen ziviler Nachfrage und obrigkeitlichem Angebot, respektive herrschaftlichem Zugriff statt. Beide Seiten treten als Teil desselben Prozesses auf, den sie in positiver Rückkopplung gemeinsam konstituieren. Die Aus‐ differenzierung des modernen Staats mit seinen konstitutiven Institutionen erscheint in dieser Perspektive als nicht intendiertes Produkt interaktiver Prozesse. Konkrete Probleme zwischen Menschen und die Notwendigkeit der Vermittlung unter ihnen verlangen und generieren Organe der Konflikt‐ regulierung, Interessensvermittlung und Durchsetzung sozialer Ordnung. 121 In der ständigen praktischen Auseinandersetzung mit den handelnden Men‐ schen, die Vermittlung ersuchen, an Normen und kollektiven Vorstellungen rütteln oder Regulierung einfordern, differenzieren sich Institutionen aus. Diese werden wiederum von Menschen besetzt und interpretiert. In dieser Sichtweise bezeichnet der Staat eine Praxis von Menschen. 122 44 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, in: Geschichte der Gouvernementalität I, hrsg. v. Michel Sennelart, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, 400. 123 Hardwick, Business, 3. 124 Burghartz, Zeiten, 33-34. 125 Ute Gerhard, Die Ehe als Geschlechter- und Gesellschaftsvertrag. Zum Bedeutungs‐ wandel der Ehe im 19. und 20. Jahrhundert, in: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, hrsg. v. Ingrid Bauer/ Christa Hämmerle/ Gabri‐ ella Hauch, Wien 2005, 449-468, 449. In Bezug auf die Gouvernementalität hat Michel Foucault längst auf die entscheidende Rolle der Ehe und Familie als Scharnierstelle für die Beziehung zwischen Bürger und Staat im Rahmen der werdenden Biopolitik hingewiesen. Foucault, Sicherheit, 157. 126 Hardwick, Business, 6-7; vgl. ebenso Julie Hardwick, Between State and Street. Witn‐ esses and the Family Politics of Litigation in Early Modern France, in: Family, Gender, and Law in Early Modern France, hrsg. v. Suzanne Desan/ Jeffrey Merrick, University Park 2009, 101-136. Von der Institution Gericht wurde gerade im Feld der Ehe zwecks Konflikt‐ lösung und Regulierung des Zusammenlebens im Verlauf der Frühen Neuzeit besonders intensiv Gebrauch gemacht. Die Intensivierung der Nutzung und die damit verbundene Einladung der Obrigkeit in häusliche und eheliche Konflikte öffnete gleichzeitig den Raum für die Expansion staatlicher Interventionen im Bereich der Familie und der lokalen Gemeinschaft. Den Magistraten ging es in zunehmendem Maße um die Regulierung des Familienlebens, um in der Verbindung von politischer und familiärer Stabilität die Macht des Staates auszubauen. 123 Diese These wird von Susanna Burghartz mit Blick auf das frühneuzeitliche Basel erhärtet. Sie erachtet in Anbetracht der dicht miteinander verwobenen Moral- und Geschlechterpolitik die Ehegerichte als ausgesprochen wichtige Organe für den frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess, in dessen Verlauf die Obrigkeiten in immer mehr und neue gesellschaftliche Felder ausgriffen. 124 Dabei firmierte die Ehe als die zentrale Ordnungsinstitution des sozialen Zusammenlebens. Sie konstituierte in zunehmendem Maße den entscheidenden „Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“. 125 In dieser Funktion war sie von fundamentaler Bedeutung für die Intensivierung der Beziehung zwischen werdendem Staat und seinen Subjekten. So ist Julie Hardwick zu dem Schluss gekommen, dass gerade die Aushandlungsprozesse rund um Ehe und Familie signifikante Auswirkungen auf den Staatsbildungsprozess hatten. 126 Die Grenze zwischen legitimer Reproduktion und illegitimer Sexualität, die die Eheschließung markierte, wurde im Gericht unter Mitwirken unterschied‐ lichster AkteurInnen gezogen. Diese Demarkationslinie war konstitutiv für 45 3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel 127 Zur Schnittstelle der Sexualität im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft vgl. Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700-1815, New York 1996, 1. 128 Certeau, Kunst, 20-21. 129 Zum ehelichen Status als Ressource vgl. Hardwick, Business, 2; 21. 130 Ebd., 8. 131 Vgl. zur kriminalitätshistorischen Debatte rund um die sozialdisziplinierende Funk‐ tion frühneuzeitlicher Gerichte Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a. M. 2011, 107; vgl. auch Härter, Kriminalitätsgeschichte, 158-159. 132 Ulbrich, Art. Ehe, 40. 133 Ebd., 40; Lischka, Liebe, 79-80. das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. 127 Die Taktiken der ehewilligen AkteurInnen, „die Findigkeit des Schwachen, Nutzen aus dem Starken zu ziehen“, sich also die Ehe anzueignen, führte in Anlehnung an de Certeau in der Konsequenz „zu einer Politisierung der Alltagspraktiken“. 128 Denn ihre Heiratsbegehren konnten ebenso auf der Grundlage des ehegesetzlich und gewohnheitsrechtlich normierten Rahmens in Frage gestellt werden. Der ehe‐ liche Status war selbst eine zwischen unterschiedlichen AkteurInnen unter Einsatz verschiedener Mittel verhandelbare Ressource. 129 Im praktischen Aus‐ handlungsprozess der Eheschließung war die alltagspolitische Deutung des sozialen Zusammenlebens folglich nicht lediglich Attribut, sondern stand stets im Zentrum der Verhandlung. Gerichtsverfahren politisierten konkrete Ehe‐ schließungen und als deren Ausgangspunkt ‚Familie‘ sowie ‚Haushalt‘ zu theo‐ logischen, bevölkerungspolitischen und obrigkeitlichen Auseinandersetzungen zusätzlich. In den Verhandlungen wurde darüber diskutiert, wie die praktische Umsetzung dieser Konzepte aussehen sollte. Im Rückkehrschluss wurde die betriebene Ehepolitik im Gericht familiarisiert, weil sie von da aus wieder Eingang ins Leben der Eheleute und Familien fand. 130 Dass das Feld der Eheschließung in diesem Prozess, der am Ausgang des Ancien Régimes in vollem Gange war, einen Ort besonders konzentrierter Interessensartikulation darstellte, an dem oftmals Vermittlung und Konflikt‐ regulierung erforderlich waren, zeigen auch die hier untersuchten Quellen sehr deutlich. Somit erscheint das Ehegericht nicht nur als gesetzestreue obrigkeitliche Ordnungsinstanz und Instrument der Bevölkerungspolitik. 131 Es bildete ebenso das Forum für Frauen und Männer, „ihre eigenen Vor‐ stellungen vom ehelichen Leben zu artikulieren und eigene Rechte einzufor‐ dern.“ 132 Die Ehegerichte boten Menschen aus allen Schichten die Bühne, ihre ehelichen Vorstellungen in einem besonderen Rahmen zu artikulieren und die Eheschließung einzufordern oder zu verteidigen. 133 So scheinen diese Gerichte historiographisch betrachtet ein prädestinierter Ort zu sein, 46 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 134 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin 2010, 27. 135 Ebd., 17. 136 In Anlehnung an Margareth Lanzinger geht die vorliegende Studie von einem „breit ge‐ fassten Ressourcenbegriff aus, der sowohl Materielles als auch Immaterielles einschließt und sich auf all das bezieht, worüber man verfügt, dem ein bestimmtes Nutzungspotenzial zukommt und das auf diese Weise zum Handeln befähigt“. Margareth Lanzinger, Liebe, Ehe, Ökonomie. Materielle und immaterielle Ressourcen im Kontext von Verwandten‐ heiraten, in: Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden, hrsg. v. Gabriele Jancke/ Daniel Schläppi, Stuttgart 2015, 157-176, 169; in dieselbe Richtung weist der Ansatz der Mikropolitik, den Inken Schmidt-Voges in Anschluss an Robert Emersons Konzept verfolgt. Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens. Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert, Berlin 2015, 31. 137 Zum Konzept der Mikropolitik vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 31-32. 138 Vgl. Hardwick, Business, 4. Sie schreibt: „Marriage as an institution was experiencing transition as state, church, and communities sought to determine the nature of an appropriate conjugal union.“ Dabei vergisst sie allerdings die ehewilligen Akteure, die zu diesem Wandlungsprozess ebenfalls maßgeblich beigetragen hatten. an dem in den Worten Bruno Latours „den Akteuren [… ] die Fähigkeit zurückgegeben werden [kann], ihre eigenen Theorien darüber aufzustellen, woraus das Soziale besteht.“ 134 Dabei konnten die bestehenden matrimonialen Normen im Gericht taktisch angerufen, eingesetzt, verhandelt und kritisiert werden. AkteurInnen bildeten im Gericht unablässig und zum Teil auch neue „Assoziationen zwischen heterogenen Bestandteilen“. 135 Im Hinblick auf materielle Interessen, soziale Erwägungen und emotionale Bedürfnisse steckten Heiratswillige, Haushalts- und Familienmitglieder, Nachbarn und lokale Autoritäten ungemein viel Energie in die quasi zivile Aushandlung ehelicher Verbindungen. Sie mobilisierten dazu alle verfügbaren materiellen und immateriellen Ressourcen und kombinierten sie miteinander. Dabei bestimmten stets die politisch konkrete Situation sowie die zeitlich bedingten Umstände mit, was im Gericht als Ressource eingesetzt werden konnte und als solche gehandelt wurde. 136 Durch die taktischen Aneignungspraktiken, die unter diesem massiven Ressourceneinsatz stattfanden, manipulierten die Ehewilligen mit ihren kumulierten ‚mikropolitischen‘ Handlungen die Insti‐ tution der Ehe laufend. 137 Dadurch erfuhr diese bedeutungsvolle Institution im Aushandlungsprozess zwischen den Begehren der Obrigkeit, den Kirchendie‐ nern, den Gemeindevertretern, den Korporationen, den Familienangehörigen und den heiratswilligen Subjekten andauernd kleinste Verschiebungen oder auch fundamentale Veränderungen ihrer Form. 138 Unter den Verhandlungen im Gericht erodierten Gesetze und es bildeten sich neue Strategien in der Urteilspraxis der Richter, die allmählich neue Normen formierten, mit denen 47 3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel 139 Zusammenfassend für diesen rechtsanthropologischen Ansatz Suzanne Desan/ Jeffrey Merrick, Introduction, in: Family, Gender, and Law in Early Modern France, hrsg. v. Su‐ zanne Desan/ Jeffrey Merrick, University Park 2009, xi-xxvi, xiv-xv. Zugespitzt formuliert bedeutet das: „Men and women were not simply subjected to law but actually involved in formulating, implementing, and transforming legal standards and practices“; vgl. außerdem Sally Falk Moore, Law as Process. An Anthropological Approach, London 1978, 7. Sie formuliert sehr zutreffend: „The social reality is a peculiar mix of action congruent with rules (and there may be numerous conflicting of competing rule-orders) and other action that is choice-making, discretionary, manipulative, sometimes inconsistent, and sometimes conflictual. Since ‚systems‘ of normative rules are ‚used‘ in social life, they have to be such as to accommodate that action complex. […] The analytic import is that if one is dealing with partial order and partial control of social life by rules, then any analysis which focuses entirely on the orderly and the rule-bound is limited indeed, and does not place the normative in the context of the whole complex of action, which certainly includes much more than conformity to or deviance from normative rules. A rule-focused compliance / deviance approach reduces the colorful hurlyburly of social life and the dynamic logic it has for the actors to so arid a pair of pre-selected and pre-interpreted obedience categories, that understanding of what is actually going on on the ground may be blocked.“ 140 Daniel Schläppi, Verwalten statt regieren. Management kollektiver Ressourcen als Kern‐ geschäft von Verwaltung in der alten Eidgenossenschaft, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 18 (2011), 42-55, 51 beschreibt den sich im 18. Jahrhundert allmählich ausbil‐ denden Staat als „Mixtur von kommunalen, korporativen und zentralen Institutionen unter aristokratischer Ägide“ und präzisiert: „Frühneuzeitliche Staatlichkeit manifestiert sich nicht in Form bürokratischer Abläufe oder eines schlagkräftigen Behördenapparats. In Essenz ist sie zu erkennen in einem auf das Management kollektiver Ressourcen fokussierten Korpus von Milizbehörden [zum Beispiel die Ehegerichte] und -institutionen, Abläufen, Kommunikatoinskanälen und situativ bedingten Handlungsmustern. Diese Strukturen bildeten das tragende Skelett der alteidgenössischen Staatswesen, obwohl Institutionen und Verfahren kaum formalisiert, wenig transparent und nur ansatzweise administriert waren sowie wesentlich auf personalem Handeln beruhten.“ die eigensinnigen Akteur-Innen wieder einen taktischen Umgang finden mussten. 139 Damit befinden sich gerade die prekären Eheschließungen unversehens in der Mitte des gesellschaftlichen Wandels und frühneuzeitlichen Staatsbil‐ dungsprozesses, dessen Kern eben aus der Organisation gemeinschaftlicher Ressourcen bestand. 140 Durch den gewählten hermeneutischen Zugang sind die prekären Eheschließungen zwar an den Rändern der sozialen Ordnung, aber im Mittelpunkt von gesellschaftlichen Transformationen und des Staatsbildungs‐ prozesses. Die in Betracht gezogenen - letztendlich legitimierten oder verhinderten - Eheschließungen erscheinen in der gewählten Herangehensweise stets als Re‐ sultat des praktischen Aushandlungsprozesses innerhalb der Dreiecksbeziehung von eigensinnigen AkteurInnen, opponierenden Parteien aus der Umwelt der Ehewilligen und ehegerichtlichen Instanzen. Gleichwohl normierten die mit 48 3 Gegenstand: ‚Von den Rändern‘ der Gesellschaft in die Mitte der Staatsbildung 141 Joachim Eibach, Iustitia im Zeitalter der Aufklärung, in: Gerechtigkeit, hrsg. v. Gert Melville/ Gregor Vogt-Spira/ Mirko Breitenstein, Köln, Weimar, Wien 2014, 174-190, 174. Er benennt hier einen Umstand, der zum Teil in den praxeologisch akzentuierten Studien zu Aushandlungsprozessen im Gericht etwas in Vergessenheit gerät: „Am Ende eines Prozesses muss jedes Gericht ein Urteil sprechen, und es gibt dann zwangsläufig Unzufriedene, Verlierer, Verurteilte und Bestrafte.“ 142 In dieser Annahme lehnt sich die Argumentation folgenden Autor*innen an: James Mahoney/ Kathleen Thelen, A Theory of Gradual Institutional Change, in: Explaining Institutional Change. Ambiguity, Agency, and Power, hrsg. v. James Mahoney/ Kathleen Thelen, Cambridge, New York 2010, 1-37, 4. Sie plädieren dafür, dass institutioneller Wandel dort auftritt, wo Schwierigkeiten in der Interpretation und Durchsetzung von konkreten Regeln AkteurInnen Handlungsräume für die neuartige Anwendung existie‐ render Gesetze ermöglichen. 143 Certeau, Kunst, 84. den AkteurInnen in zunehmendem Maß interagierenden Gerichte mit ihren Urteilen letztendlich deren Verhalten auf ultimative Weise. 141 Dabei mussten die Berner Richter in der praktischen Normierung nicht nur zwischen Eigensinn, gesellschaftlichem Gewohnheitsrecht und kodifiziertem Ehegesetz abwägen. Sie standen, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrem Umgang mit dem Gesetz selbst unter dem Einfluss zeitgenössischer bevölkerungspolitischer Debatten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Bern in angeregter Weise in einer entste‐ henden politischen Öffentlichkeit geführt wurden. Das Gericht bildete somit die Kontaktzone zwischen kodifiziertem Recht, aktuellen bevölkerungspolitischen Debatten, gesellschaftlichen Vorstellungen und den konkreten Lebensweisen der AkteurInnen. In genau dieser unter vielfältigem Einfluss stehenden Zone ermittelten die Richter in praxi ihre Urteile, die stets von einem Gerichtsschreiber beurkundet und ausgestellt wurden. Und so möchte die vorliegende Arbeit aufzeigen, dass, je nach bevölkerungspolitischer Konjunktur, das Gericht den Ehewilligen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gute Gelegenheiten bot, um die prekären Eheschließungen durchzusetzen. Das Ehegericht fungierte als wesentliche Schnittstelle zwischen gesellschaftlichem und bevölkerungspoli‐ tischem Wandel und definierte darin letztlich die Chancen für den Erfolg prekärer Eheschließungen. 142 Mit de Certeau kann man deshalb sagen, dass es sich bei der Praxis prekärer Eheschließungen immer „um Kämpfe oder Spiele zwischen dem Starken und dem Schwachen und um ‚Aktionen‘, die dem Schwachen noch möglich sind“, handelte. 143 Das Gelingen prekärer Eheschließungen war somit in jeweils spezifischer Art und Weise abhängig von der taktischen Raffinesse der Ehewilligen, dem politischen Geschick der OpponentInnen, von der Geschlossen- oder Offenheit des gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmens sowie der Ausrichtung der richterlichen Normierungspraxis, also der Strategie. 49 3.4 Erkenntnisinteresse: Verhandelter Wandel 4 Aufbau und Gliederung Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass hier der eheliche Aushandlungsprozess - im zwar nicht gleichschenkligen, aber wechselwirk‐ samen Beziehungsdreieck - zwischen Ehewilligen, OpponentInnen und zustän‐ diger ehegerichtlicher Instanz in Abhängigkeit von der Zeit analysiert werden soll. Ressourcen und Handlungsmacht in dieser Triade waren ungleich verteilt und der Aushandlungsprozess war gerahmt von zeitspezifischen bevölkerungs‐ politischen Debatten und relativ statischen ehegesetzlichen Bedingungen. Der normative Rahmen konnte die Distanz zwischen den Absichten der Obrigkeit und den Interessen lokaler Gemeinden, die sie jeweils mit der Ehe verbanden, kleiner oder größer werden lassen. Gleichzeitig konnten demographische und ökonomische Entwicklungen Einfluss auf die Bevölkerungspolitik der Richter ausüben und den matrimonialen Eigensinn und die Taktiken der Ehewilligen auf Kosten der Gemeindeinteressen den Richtern näherbringen oder nicht. Allerdings konnte ebenso das taktische Kalkül der Ehewilligen die Eherichter bei günstiger Gelegenheit dazu bewegen, gegen geltendes Gesetz und im Sinne bevölkerungspolitischer Konjunkturen zu entscheiden. Denn Recht und bevöl‐ kerungspolitische Debatten mussten nicht zwingend derselben Logik folgen und konnten durchaus in Konkurrenz zueinander stehen, wie noch zu zeigen sein wird. So lässt sich aus den angestellten Überlegungen ein dreifaches Erkenntnisinteresse ableiten, das in der Folge auch die Gliederung dieser Arbeit bestimmen wird. Auf der ersten Ebene der Gliederung folgt die Arbeit der Zeit. Sie ist in drei chronologische Teile untergliedert. Diese Unterteilung erfolgt entlang des vorerst verfassungs- und politikgeschichtlich gedeuteten Einschnitts der Helve‐ tischen Revolution. Diese Zäsur ließ in Bern das Ancien Régime (Teil B) mit dem Einmarsch französischer Truppen 1798 offiziell enden. Dem kurzen indirekt-de‐ mokratischen Intermezzo der Helvetischen Republik zwischen 1798 und 1803 (Teil C) folgte eine nachhelvetische Zeit, die von der Verfassungs- und Politik‐ geschichte wiederum in drei, mehr oder weniger zusammenhängend gedachte, Abschnitte untergliedert wird: die Mediation (1803-15), die Restauration (1815- 30) und die Regeneration (1830-48). In dieser Studie wird der Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetik und der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats aufgrund der Quellenlage und ehethematisch begründeten Anhaltspunkten als nachhelvetische Einheit (Teil D) behandelt. Bei der chronologischen Gliederung auf erster Ebene wird folglich auf etablierte Epochenbegriffe und -einteilungen 50 4 Aufbau und Gliederung 144 Die angesprochenen Veränderungen werden jeweils in den entsprechenden Teil erläu‐ tert. 145 Certeau, Kunst, 89. 146 Ebd., 20. 147 Ebd., 21. Auch wenn sich Michel de Certeau mit der Untersuchung zum alltäglichen Handeln in seiner eigenen Gegenwart aufgehalten hat, darf der Anfang des ‚technokra‐ tischen Ausbaus‘ der hier mit einer Intensivierung der staatlichen Verwaltungstätigkeit und damit einhergehenden Zunahme von Gesetzen und Verordnungen gleichgesetzt wird, für Bern getrost im hier untersuchten Zeitraum angenommen werden. Denn im 18. und 19. Jahrhundert nahm die Verwaltungstätigkeit durch die Regierung in Bern massiv zu und produzierte eine Vielzahl neuer schriftlicher Quellen. Auch die statistische Erfassung der Bevölkerung, die die wesentliche Grundlage zu ihrer technischen Verwaltung wurde, hatte in Bern ihren Ursprung im hier thematisierten Untersuchungszeitraum. Darauf wird im ersten Hauptteil zum Ancien Régime ausführ‐ lich eingegangen. in der schweizerischen Geschichtswissenschaft zurückgegriffen. Das wird aller‐ dings nicht getan, weil die zu den Epochen bestehenden (Vor-)Urteile voreilig und unhinterfragt übernommen werden. Vielmehr möchte die Arbeit die allge‐ meinen historiographischen Charakterisierungen der konstatierten Epochen am konkreten Gegenstand der Eheschließung auf inhaltlicher Ebene überprüfen beziehungsweise konkretisieren und differenzieren. Gleichzeitig macht diese temporale Aufteilung der Arbeit Sinn, weil mit den Ereignissen der Helvetischen Revolution und ihrem Ende auf ehegesetzlicher und gerichtsorganisatorischer Ebene jeweils grundlegende Richtungsänderungen vollzogen wurden. Damit fiel jeweils auch eine veränderte Quellenproduktion zusammen. 144 Die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Epochengrenzen wird entlang einer dreifachen thematischen Untergliederung geführt. Auf der ersten Ebene (1 Normen) werden die herrschenden Gesetze und bevölkerungspoliti‐ schen Debatten analysiert, die normierend auf die Aushandlungspraxis der Eheschließung wirkten. Dabei wird in metaphorischer Anlehnung an de Certeau der „Ort des Anderen“ abgesteckt, 145 der „die Spielräume“ definierte, die „die [bevölkerungspolitischen] Konjunkturen den Verbrauchern [der Ehegesetze] lassen und in denen diese ihre ‚Kunst‘ ausüben können“. 146 Hier wird der mehr oder weniger „technokratisch ausgebaute, vollgeschriebene und funktio‐ nalisierte Raum“ ausgeleuchtet, in dem sich Ehewillige und OpponentInnen bewegen mussten und in dem sie ihre Taktiken entwickelten und anwendeten. 147 Gleichzeitig mussten sich auch die strategisch agierenden Richter zu ihnen in ein spezifisches Verhältnis setzen. Der Begriff der Konjunktur zeigt an, dass die angesprochenen normativen Strukturen Veränderungen unterworfen waren. Das Netz aus Normen konnte mal „engmaschig“ und mal loser sein 51 4 Aufbau und Gliederung 148 Ebd., 95. 149 Der Ausdruck „Prekarier“ wurde dem Sammelband von Robert Castel/ Klaus Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahr‐ hunderts, Frankfurt a. M. 2009 entliehen. Er bezeichnet im Verständnis der dort versam‐ melten Autor*innen ganz allgemein „Menschen in prekären Lebenslagen“. Michael Behr, Zur Einführung, in: Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, dies., Frankfurt a. M. 2009, 171-174, 171. 150 Certeau, Kunst, 59. 151 Ebd. 152 Ebd., 25. 153 Ebd., 87-88. und dadurch den Ehewilligen im Gericht unterschiedlich viel Raum für ihre taktischen Manöver gewähren. 148 Auf der zweiten Ebene der thematischen Untergliederung des Inhalts (2 Taktiken) werden die AkteurInnen prekärer Eheschließungen und ihre Oppo‐ nentInnen vor Gericht in den Fokus gerückt. Einerseits wird an dieser Stelle untersucht, wer die „Prekarier“ und „Prekarierinnen“ in ehelicher Hinsicht waren, 149 und wer gegen ihre Ehebegehren zu welchem Zeitpunkt Einspruch erhob. Dazu werden aufgrund der in den Quellen zugänglichen Informationen soziale Profile von ehewilligen Paaren und einsprechenden Parteien entwickelt. Es werden Beziehungskonstellationen eruiert, die den sozialen Widerstand in besonderem Maße provozierten. Andererseits werden die Motive, Ressourcen und Taktiken der OpponentInnen und der von ihnen prekarisierten Ehewilligen analysiert, die sie in Abhängigkeit der zeitlichen Normen ins Gericht führen konnten. Wie „[gebrauchen] sie einen Bezugsrahmen […], der […] von einer äußeren Macht kommt […]“? 150 Wie „verwenden [sie] ein System, das ganz und gar nicht ihr eigenes ist und von anderen konstruiert und verbreitet wurde“? 151 Dadurch gelangen sowohl die taktischen ehelichen Assoziationen zwischen heterogenen Elementen - dem Eigensinn und der fremden Ordnung - in den Blick als auch die Taktiken der OpponentInnen, diese Verbindungen zu kappen und die Richter auf ihre Seite zu bewegen. Auf der thematisch dritten Ebene (3 Strategie) wird das strategische Ver‐ halten der Gerichte zwischen taktierendem Eigensinn und Eheeinsprachen, Gesetz und Bevölkerungspolitik betrachtet. An der Urteilspraxis des Gerichts wird zum einen sichtbar, welcher Erfolg den Taktiken der ehewilligen Akteu‐ rInnen beschert war - also wie günstig die temporalen „Gelegenheiten und Umstände“ 152 für die prekären Ehebegehren jeweils waren. Zum anderen zeigt sich daran, wie gut es dem obrigkeitlichen Gericht gelang, „das ‚Umfeld‘ von dem ‚eigenen Bereich‘, das heißt vom Ort der eigenen Macht und des eigenen Willens, abzugrenzen“. 153 Dabei befanden sich die aristokratischen Richter in 52 4 Aufbau und Gliederung 154 Margareth Lanzinger hat in Bezug auf die Verwaltung von Verwandtenehen in der Neuzeit darauf aufmerksam gemacht, wie selten die „politisch-administrativ-institutio‐ nelle Seite“ von der Forschung miteinbezogen worden ist. Die vorliegende Arbeit teilt die Meinung, dass gerade durch diesen Einbezug „Prozesse der Integration“ zwischen sich ausdifferenzierendem Staat, lokalen Gemeinschaften und Subjekten in den Blick der Forschung geraten. Lanzinger, Verwandtschaft, 27-28. Bern sowohl in einer Frontstellung gegenüber den eigensinnigen AkteurInnen als auch gegenüber den Gemeinden, Familien und Korporationen. Tendierten sie dazu, den ehelichen Eigensinn zu begünstigen, wurden die patriarchalen Interessen der Hausväter protegiert oder unterstützten sie die ressourcenöko‐ nomischen Überlegungen lokaler Gemeinschaften? In der Beantwortung dieser Frage anhand der Urteile wird sichtbar, zu welchem Zeitpunkt die Gerichte welche Allianzen mit welchen AkteurInnen schlossen, um ihre eigene Macht auszubauen oder möglichst umfangreich zu bewahren. Damit offenbart sich die vom Gericht verfolgte Strategie als praktische Normierung, die sich im Spektrum zwischen rigider und gnädiger Anwendung patriarchaler Ehegesetze, populationistischer Überzeugung und Angst vor Überbevölkerung bewegen konnte. Im Schlusskapitel (Teil E) werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Zeiträumen miteinander in Beziehung gesetzt. Durch den Vergleich werden bevölkerungspolitische Konjunkturen im Gebiet des damaligen Berns sichtbar. Sie zeigen, wie der Staatsbildungsprozess im dafür durchaus zentralen Aushand‐ lungsprozess zwischen ehewilligen AkteurInnen, OpponentInnen und Gericht in Abhängigkeit der Zeit verlief und welche Gelegenheiten dieser Prozess den Verlobten bei der Durchsetzung ihrer prekären Eheschließungen eröffnete. Mit diesem Vorgehen wird beabsichtigt, von einem tendenziell dichotomi‐ schen Verständnis der Beziehung zwischen lokalen Ehegerichten - in der Vergangenheit thematisierte die Forschung vor allem deren disziplinarische Funktionsweise - und Subjekten Abstand zu nehmen. Durch die Einführung einer dritten, politisch-administrativen Instanz - dem jeweils übergeordneten Ehegericht - kommen sowohl quasi-staatliche Bevölkerungspolitik, Staatsbil‐ dungsprozesse als auch die Handlungsmacht der AkteurInnen in wechselsei‐ tiger Abhängigkeit voneinander in den Blick. Diese Sichtweise soll zu Erkennt‐ nissen über das Verhältnis von Individuen, fortschreitender Staatsbildung, lokalen Gemeinschaften, Korporationen und Familien am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert führen. 154 53 4 Aufbau und Gliederung 1 Für einen gesamteidgenössischen Überblick vgl. Siffert, Verlobung. 2 Es ist unerlässlich, im Rahmen dieses Unterkapitels den Kontext über die Grenzen Berns hinaus zu öffnen, da das anfängliche reformatorische Epizentrum in der Eidgenossen‐ schaft eindeutig in Zürich lag. 3 Zu den reformatorischen Entwicklungen in Bern von den ersten Regungen zur institu‐ tionellen Etablierung mit dem Reformationsmandat vgl. Guggisberg, Kirchengeschichte, 55-132; Martin Sallmann, The Reformation in Bern, in: A Companion to the Swiss Reformation, hrsg. v. Amy Nelson Burnett/ Emidio Campi, Leiden, Boston 2016, 126-169. 4 In den Gemeinen Herrschaften, die zum Teil mit katholischen Bündnispartnern ver‐ waltet wurden, war die Situation etwas komplizierter. Diese Gebiete finden allerdings aufgrund der untersuchten Quellen keine Berücksichtigung. 5 Bruce Gordon, The Swiss Reformation, Manchester, New York 2008, 101-107; vgl. zu den Folgen der Reformation für die Matrimonialgerichtsbarkeit auch Lischka, Liebe, 29-30; zum Verhältnis von Kirche und Staat in Bezug auf die Ehegerichtsbarkeit in B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) Bevor die Arbeit zum konkreten eherechtlichen und bevölkerungspolitischen Rahmen der Eheschließung in Bern im ausgehenden Ancien Régime vordringt, ist es für das allgemeine Verständnis unerlässlich zunächst die für die Kantone und die Schweiz insgesamt gut aufgearbeiteten Entwicklungen des Eheschlie‐ ßungsrechts seit der Reformation und seine sozialgeschichtlichen Folgen auf‐ zugreifen. 1 Reformatorische Vorgeschichte Nachdem es Huldrych Zwingli 1523 gelungen war, die Reformation in Zürich zu installieren, griff diese bald auf weitere Deutschschweizer Kantone über. Schon vorher erreichten durch einen Buchhändler 1518 erste Schriften des Zürcher Reformators Bern. 2 Die Reformation benötigte hier allerdings noch rund zehn Jahre, bis sie durch die Berner Disputation von 1528 und die Verabschiedung des Reformationsmandats endgültig etabliert war. 3 Diese Entwicklung hatte nicht nur weitreichende theologische und ekklesi‐ ologische Folgen. Durch den Anschluss der Berner Obrigkeit an die Reformation übernahmen die Magistrate auch die Hoheit und Kontrolle über sämtliche kirchliche Angelegenheiten, dabei auch die Matrimonialgerichtsbarkeit, was de facto ein reformiertes Staatskirchentum in den Grenzen Berns zur Folge hatte. Die Autorität der Bischöfe von Sion, Lausanne, Basel und Konstanz, deren Diözesen Teile von Berns Herrschaftsgebiet abgedeckt hatten, wurde im Territorium, in dem Bern Alleinherrschaft genoss, 4 von Berns Obrigkeit annulliert und übernommen. 5 Fortan fielen die Bestimmungen über die Ehege‐ den reformierten Ständen der Eidgenossenschaft vgl. Pius Hafner, Die Mischehe und deren Scheidung kraft Bundesrecht im ersten Bundesstaat (1848-1874), in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 73 (1979), 1-168, 2-3. 6 Ludwig Schmugge, Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin 2008, 9. 7 Dagmar C. G. Lorenz (Hrsg.), Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe, Nachdr., Stuttgart 2006, 13. 8 Artickel und satzung, die ee beträffend (17. Mai 1529), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 1; Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1960, 381-389. 9 Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Land‐ gemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart, New York 1995, 254. 10 Danièle Tosato-Rigo/ Nicole Staremberg Goy, Avant-propos, in: Sous l’œil du consistoire. Sources consistoriales et histoire du contrôle social sous L’Ancien Régime, hrsg. v. Danièle Tosato-Rigo/ Nicole Staremberg Goy, Lausanne 2004, 5-9, 5; Burghartz, Zeiten. richtsbarkeit und Sittenzucht den weltlichen Machthabern zu - nota bene selbst alle verheiratete Hausväter aus regimentsfähigen Berner Geschlechtern. Damit wurde ein zentrales Handlungsfeld der Kirche, das starke Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Männern hatte, weltlicher Aufsicht unterstellt. 6 Das in den Worten Luthers „päpstlich verdammte Gesetz“ 7 der Römer Kurie - gemeint war damit das kanonische Eherecht - wurde in den reformierten Kantonen der Eidgenossenschaft durch ständisch verfasste Ehegesetze der jeweiligen Magistrate ersetzt. Zürich erließ auf Zwinglis Vorschlag hin bereits am 10. Mai 1525 eine als Provisorium gedachte Ehegerichtsordnung, die in ihren Grundzügen von den anderen reformierten Deutschschweizer Kantonen bald nach der jeweiligen Einführung der Reformation adaptiert wurde. Bern erließ am 17. Mai 1529 die „Artickel und satzung, die ee beträffend“, 8 die von da an bis ins 19. Jahrhundert mit einigen Modifikationen dem Anspruch nach ihre Gültigkeit behielten und inhaltlich große Konstanz besaßen. 9 Ihre letzte umfassende Revision erfuhr die Berner Ehegesetzordnung am Vorabend der Französischen Revolution im Jahr 1787. Die daraus resultierende Version behielt faktisch bis zum Erlass der Berner Zivilgesetzordnung von 1824 ihre Gültigkeit, die ihrerseits zahlreiche Aspekte aus der reformierten Berner Ehegesetzgebung übernahm und damit nach wie vor markante normative Kontinuitäten aufwies. Parallel zu den Ehegerichtsordnungen wurden in den reformierten Kantonen auf kommunaler wie kantonaler Ebene Ehegerichte installiert, die je nach Ort und Zeit auch Chorgerichte oder Konsistorien genannt wurden. Von der kulturgeschichtlichen Forschung werden sie primär als Instanz der sittlich-mo‐ ralischen Disziplinierung der Bevölkerung durch die Obrigkeit interpretiert, 10 deren disziplinarischer Erfolg aber vom 16. zum 18. Jahrhundert kontinuierlich 56 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 11 Diese Meinung vertrat zuletzt Susanna Burghartz, Competing Logics of Public Order. Matrimony and the Fight Against Illicit Sexuality in Germany and Switzerland from the Sixteenth to the Eighteenth Century, in: Marriage in Europe, 1400-1800, hrsg. v. Silvana Seidel Menchi, Toronto, Buffalo, London 2016, 176-200, 186. Sie schreibt: „[…] in the course of the sixteenth, the seventeenth, and the eighteenth century, increasing and visible discrepancies between authorities‘ aims and social needs gradually emerged in the areas of courtship, marriage and weddings. Authorities, who were bent on establishing norms and primarily interested in drawing clear lines between pure and impure, moral and immoral, privileged questions of sexual order. In contrast, actual practice, which had deep social roots legitimized by custom, sought above all to stabilize and represent socio-economic conditions, ensure a functioning gender and generational order, and preserve the logic of the culture of honour, thus emphasizing social order.“ 12 Schmidt, Dorf, 46; 57-58; ebenso Tosato-Rigo/ Staremberg Goy, Avant-propos. 13 Martin Luther, Von Ehesachen (1530), in: Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamt‐ ausgabe. Die Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 30,3, 120 Bde. 1883-2009, 205-248, 205. 14 Dieter Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1967, 222. 15 Schmidt, Dorf, 251-252. abzunehmen schien. 11 Sie wurden sowohl mit zum Teil juristisch gebildeten und mit Ämtererfahrung beschiedenen Assessoren als auch theologisch geschultem Personal besetzt. In den Gemeinden auf dem Land waren die wohlhabenden Bauern unter den Chorrichtern übervertreten. Allerdings hat Schmidt aufge‐ zeigt, dass die kommunalen Ehegerichte eine breite Trägerschicht aufwiesen. Die Ambiguität zwischen zivilem und religiösem Charakter der Ehe in der reformierten Theologie bildete sich folglich auch in der dualen Besetzung des Gerichts mit Pfarrern, die in Bern auf lokaler Ebene als Schreiber amteten, und Amtsleuten, die als Richter fungierten, ab. 12 Es würde allerdings entschieden zu kurz greifen und den reformatorischen Ausspruch über die Ehe als „ein weltlich Ding“ falsch akzentuieren, wenn man die Entwicklungen deswegen in ein modernisierungstheoretisches, teleologisches Säkularisierungsnarrativ ein‐ gliedern würde. 13 Obwohl die Chorgerichte keiner geistlichen Oberinstanz mehr unterstanden und in die säkulare Gerichtsorganisation eingegliedert wurden, stellte die Bibel dem Anspruch des reformierten Schriftprinzips (sola scriptura) nach den ausschließlichen Bezugsrahmen der erneuerten Ehegesetzgebung dar. Die reformierte Ehegesetzgebung war von der Vorstellung geprägt, dass sich das verbindliche Recht für die gesellschaftliche Ordnung direkt aus dem göttlich inspirierten biblischen Wort ergießen sollte. 14 Das reformatorische Wegfallen des sakramentalen Charakters bedeutete auf theologischer Ebene keinesfalls eine Profanierung der Ehe. „[V]ielmehr wird auch die weltliche Ordnung insge‐ samt und mit ihr die Ehe geheiligt und zum Gottesdienst berufen“, so Schmidt. 15 Dadurch wurde ein Referenzpunkt geschaffen, in dem der theologische mit dem städtischen Reformdiskurs verschränkt wurde. Sowohl die Reformatoren 57 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 16 Burghartz, Zeiten, 20. 17 Ebd., 50. 18 Alle Zitate bei Heinrich Bullinger, Volkommene underrichtung desz christenlichenn eestands (1527), in: Theologische Schriften, Bd. 5. Pastoraltheologische Schriften, hrsg. v. Detlef Roth, 8 Bde., Zürich 2009, 1-78, 4. als auch die städtischen Obrigkeiten strebten eine Verbesserung der Moral an - die einen aus Gründen theologischer Abgrenzung gegen das Papsttum, die anderen aus Motiven sittlicher Distinktion von den Unterschichten. Mit der Überlagerung von Reinheits- und Sittlichkeitsdiskurs entstand für die Eheschließung ein grundlegend neuer Rahmen. 16 Darin führten die reformato‐ rischen Entwicklungen zu einer hybriden Konstitution der Ehe, die, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bis ins 19. Jahrhundert stets zwischen ziviler Institution und göttlicher Ordnung oszillierte. Exemplarisch kommt dieser duale reformierte Charakter des frühneuzeit‐ lichen Eheverständnisses in einer frühen Schrift Heinrich Bullingers zum Ausdruck. In der 1527 gedruckten pastoraltheologischen Publikation formu‐ lierte Bullinger, der nach Zwinglis Tod die eidgenössische Reformation konsoli‐ dierte, 17 dass es keinen göttlicheren und lustbareren Stand als die Ehe gäbe: „Wer hat aber sölichs ingesetzt, wer hats geheyssen? Gott hat die Ee also ingesetzt, […].“ Bullingers Bezugspunkt dafür war mit Genesis 2, Vers 18 selbstverständlich die als Offenbarungsschrift begriffene Bibel. Insofern war die Ehe von Gott installiert, aber nun den irdischen Trieben und dem freien Willen der Menschen ausgesetzt. Die Sexualität im priesterlichen Zölibat, Mönchtum oder der Jung‐ fräulichkeit zu überwinden, lag der reformatorischen Anthropologie zufolge nicht mehr im Bereich des Menschenmöglichen. Die Ehe nicht in Anspruch zu nehmen, also Ehelosigkeit zu leben, war laut Bullinger Sünde „wider die Schöppfung und den Schöppffer selbs“ gewesen. 18 Die menschliche Natur war durch Gottes Schöpfung gegeben und von den Menschen anzunehmen. Sie bein‐ haltete auch eine Sexualität, die sich im Verständnis reformierter Anthropologie nicht sublimieren ließ. Das Zölibat widersprach in den Augen der Reformatoren der Schöpfung selbst und wurde als Kreation des Teufels bekämpft. Sowohl die menschliche Sexualität als auch die Ehe waren somit Teil göttlicher Vorsehung und sollten von den Menschen aufeinander bezogen werden. Disziplinarische Konsequenzen des reformatorischen Eheverständnisses In der Konsequenz avancierte die Ehe durch die Reformation zum exklusiven Ort sexueller Reinheit. Sie war von Zwingli und seinen Epigonen in der Eidge‐ nossenschaft als göttliche Arznei gegen menschliche Sündhaftigkeit postuliert 58 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 19 Burghartz, Zeiten, 42. 20 Burghartz, Logics, 177; Wunder, Sonn‘, 65-67. 21 Möhle, Ehekonflikte, 9; Burghartz, Zeiten, 37-38. 22 Burghartz, Zeiten, 24. 23 Simon, Untertanenverhalten. 24 Lyndal Roper, „Going to Church and Street“. Weddings in Reformation Augsburg, in: Past and Present 106 (1985), 62-101, 64; Wunder, Sonn‘, 68-70. 25 Cristellon, Haus, 303. worden. Nur sie konnte die Menschen von der Sünde heilen. 19 Fortan stellte sie also nicht mehr die inferiore Alternative zum Zölibat dar, sondern war in den reformierten Territorien zum allgemeingültigen Lebensmodell auserkoren worden. Durch das veränderte reformatorische Menschenbild konnten Zölibat und Enthaltsamkeit die Reinheit der sozialen Ordnung keinesfalls mehr garan‐ tieren. Das demonstrierten für die Reformatoren die Zustände im katholischen Klerus. Gesellschaftliche und sexuelle Reinheit und damit Ordnung konnten in reformierter Auffassung ausschließlich über die christliche Ehe hergestellt und garantiert werden. 20 Mit dieser hybriden reformatorischen Ehekonzeption erfuhr das heterose‐ xuelle eheliche Zusammenleben eine systematische Aufwertung und in der Folge intensive Aufmerksamkeit durch die protestantischen Obrigkeiten. Das Eheleben ihrer Untertanen wurde zum zentralen Ansatzpunkt ihrer Ordnungs‐ anstrengungen. Die gottgefällige Eheführung mutierte unter den reformierten Ehetheologien zur grundlegenden Voraussetzung gesellschaftlicher Ordnung überhaupt. 21 Nun oblag den reformierten Herrschaften im Hinblick auf die Ehe die Bewahrung der Reinheit des Gesellschaftskörpers als göttlicher Auftrag. Die Erfüllung ihres christlichen Herrschaftsauftrags erforderte folglich Mittel zur Herstellung und Überwachung sexueller und gesellschaftlicher Ordnung. Die erste Ordnung Gottes musste durchgesetzt und mit Argusaugen überwacht werden. Die Eheschließung und die Bewahrung ihrer Reinheit avancierten zum zentralen Maßstab für die Güte und Gottgefälligkeit christlicher Herrschaft 22 und „obrigkeitlicher Moralpolitik“ 23 . Darin war sogar die Kirche fortan der weltlichen Macht subordiniert, respektive Teil des obrigkeitlichen Verwaltungs‐ apparats. 24 Wiederholt ist von Historiker*innen ein Reglementierungsschub beobachtet worden, der von der Reformation ausging und neue Normen be‐ züglich der Trauungsinstitutionen evozierte. Die Gültigkeit der Ehe wurde im Nachgang der Reformation in gesteigertem Maß von obrigkeitlich vorge‐ schriebenen Formalitäten abhängig. Bedeutung und Verbindlichkeiten von lokalen Bräuchen und Gepflogenheiten traten diesen gegenüber zurück, so die These. 25 Es ist von einer Zunahme der Formalisierung und Kodifizierung der Eheordnung die Rede. Die gesteigerte Festschreibung habe in Bezug auf 59 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 26 Burghartz, Logics, 178; 181. 27 Simon, Untertanenverhalten, 234-238. 28 Roper, Church, 65-66. 29 Burghartz, Logics, 178. die Kontrolle über die Eheschließung in reformierten Gebieten tendenziell zu einer Machtverschiebung hin zu den Eltern, beziehungsweise vor allem zum Vater, und zu kirchlichen sowie staatlichen Autoritäten geführt. Dagegen habe die Selbstbestimmung der Brautleute wie auch die Macht der erweiterten Verwandtschaft, ständisch-korporativer Verbände und der peer groups der Brautleute abgenommen. Kinder, die ohne elterlichen Konsens heirateten, konnten jetzt leicht enterbt werden, voreheliche Sexualität wurde kriminalisiert und bestraft. 26 Für die vorreformatorische Hochzeitsgemeinschaft war nicht die vom Pfarrer gespendete Kasualhandlung ehekonstitutives Moment gewesen. Mit Blick auf populäre Sichtweisen und lokale Traditionen war es oftmals nicht eindeutig, wann eine Eheschließung rechtsgültig vollzogen war, da sie durch eine ganze Reihe verschiedener mehr oder weniger öffentlicher eheein‐ leitender und -formierender Rituale und Konventionen zwischen Kirche und Straße zustande kam. 27 Dieser Umstand hatte immer wieder zu konfliktreichen Verhandlungen über die Gültigkeit von Ehen zwischen den verschiedenen involvierten Interessengruppen und Personen geführt. Die reformierten Gesetzgeber waren bestrebt, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen. 28 Mit der dreimaligen Verkündigung der bevorstehenden Heirat am Wohn- und Heimatort von Braut und Bräutigam durch die Pfarrer der entsprechenden Gemeinden von der Kanzel und dem öffentlichen Kirchgang zur Eheeinsegnung wurde seitens der Regierung ein sozialdisziplinierendes Moment verbunden. Die Praxis wurde gleichzeitig formalisiert und reglemen‐ tiert. Damit strebten die Obrigkeiten eine Uniformierung und Kanalisierung populärer Hochzeitsrituale an. Die Unterstellung einer sexuellen Beziehung und der Ausgangspunkt einer rechtlich anerkannten Ehe wurden dadurch - anders als in der populären Wahrnehmung - eindeutig geschieden. 29 Entjungferungen und Brautschwangerschaften konnten fortan zumindest nicht mehr einfach per gesetzlicher Definition als ehekonstituierende Verlobungen interpretiert und ohne Weiteres zu einer vor Gott geschlossenen Ehe erklärt werden. Heimlich geschlossenen Verbindungen, sogenannten ‚klandestinen Winkelehen‘, wurde durch die ehekonstituierende Öffentlichkeit und die damit implizierte Kontrolle der Dorfgemeinschaft so besser vorgebeugt. Verborgen geschlossene Ehebünd‐ nisse zwischen zwei Individuen waren rechtlich erheblich leichter aufzulösen oder wurden erst gar nicht mehr anerkannt, da sie formellen Kriterien der Eheschließung nicht genügten. Das Eheversprechen genoss auf reformiertem 60 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 30 Cristellon, Haus, 304; Roper, Church, 65. 31 In diesem Punkt akzentuiert die vorliegende Arbeit tendenziell anders als Heinrich Richard Schmidt, der in seiner Argumentation den ehestiftenden Charakter der Verlo‐ bung stark hervorhebt, jedoch den Gegensatz zum katholischen Eheversprechen nicht kontrastiert. Aus theologischer Sicht war die Verbindlichkeit des katholischen Ehever‐ sprechens aufgrund seines sakramentalen Charakters ungleich höher; vgl. Schmidt, Dorf, 253. 32 Richard van Dülmen (Hrsg.), Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Das Haus und seine Menschen. 16.-18. Jahrhundert, 3 Bde., München 1990, 134; Schmidt, Dorf, 190-191; aus rechtshistorischer Perspektive und mit Fokus auf das 19. Jahrhundert vgl. Siffert, Verlobung, 69. 33 Siffert, Verlobung. Terrain keinen sakramentalen Charakter mehr. In vorreformatorischem Ver‐ ständnis war allein der freiwillige Konsens zwischen zukünftiger Braut und zukünftigem Bräutigam als von Gott gestiftet und daher als unauflösliches Sakrament erachtet worden. 30 Seit der Einführung des ersten Ehemandats genügte den Berner Magistraten das im gegenseitigen Einvernehmen gemachte mündliche Eheversprechen zwischen zwei Brautleuten allerdings nicht mehr zur Anerkennung einer gültigen Ehe. 31 Als Ereignis war die spezifische Ehe von der weltlichen Herrschaft respektive deren geistlichen quasi-Beamten zu stiften, kontrollieren und sanktionieren. Die Ehe war im spezifischen Einzel‐ fall nicht mehr durch Gott eingesetzt, sondern eine Entsprechung göttlicher Ordnung. Die durch die kirchliche Institution kontrollierte und exekutierte öffentliche Einsegnung der Ehe erhielt dadurch im Verhältnis zur intimeren, informelleren Verlobung eine starke Bedeutungssteigerung. 32 Das konsensuale Eheversprechen initiierte die Ehe nach wie vor, doch vollzog es sie nicht abschließend. Gewisse materielle und güterrechtliche Forderungen konnten auch in der reformatorischen Ehekonstitution bereits nach der Verlobung geltend gemacht werden, falls eine Partei beschlossene Abmachungen bezüglich der Eheschließung nicht einhalten sollte. Dazu musste sich die Verlobung aber an öffentlich überprüfbare Kriterien der Gültigkeit halten, die jetzt weltlicher und nicht mehr sakramentaler Natur waren, um den Ausgangspunkt für eine anerkannte Ehe darstellen zu können: Sie musste nun durch Zeugen beglaubigt, schriftlichen Vertrag verbrieft oder Ehepfänder bewiesen sein. Das Ehemündig‐ keitsalter musste eingehalten werden, der Konsens des gesetzlichen Vormunds musste bei Minderjährigkeit bestehen. Gleichzeitig durfte de jure niemand in eine eheliche Verbindung mit einem unliebsamen Partner gezwungen werden. Weiter durften keine ehemindernden Verwandtschaftsgrade zwischen den Brautleuten vorliegen, wobei dieser Umstand, wenn auch in z. T. abweichenden Verwandtschaftsgraden, auch in der katholischen Ehetheologie vorlag. 33 Ehen 61 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 34 Roper, Church, 304. 35 Burghartz, Logics, 181; Ulrike Strasser, State of Virginity. Gender, Religion, and Politics in an Early Modern Catholic State, Ann Arbor 2004, 46-47. 36 Hardwick, Practice, 53. 37 Roper, Church, 65. Roper schreibt: „Moreover, the Protestant view of marriage appro‐ ximated more closely to German townspeople’s traditional notions of how a marriage was made. Townsfolk seem to have regarded marriage as being created through the progression of a ritual cycle in which the participation of kin and parents, not just the couple themselves, was extremely important.“ Reno Siffert weist ebenfalls darauf hin, dass sich auch Zwingli in der Normierung der Eheschließung neben der Bibel und dem kanonischen Eheschließungsrecht „an den im Volk bestehenden Sitten“ orientiert habe; Siffert, Verlobung, 36. 38 Zum Konzept der ‚Vergesellschaftung unter Anwesenden‘ vgl. Rudolf Schlögl, Anwe‐ sende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, 13; vgl. außerdem zur Öffentlichkeit der Eheschließung Cristellon, Haus, 304; Burghartz, Logics, 177. mussten vor ihrer Einsegnung dreimal von der Kanzel im Wohnort der Braut und des Bräutigams sowie in den jeweiligen Heimatgemeinden verkündet werden. Menschen aus dem sozialen Nahraum konnten auf gesetzlicher Grundlage dagegen opponieren und Ehehindernisse geltend machen. Mit der Einführung des elterlichen Konsenses wurde die Kontrolle der Eltern über die Eheverbindungen ihrer Kinder institutionalisiert und massiv intensiviert. Die Gültigkeit eines Eheverlöbnisses war rein normativ durch die reformatorischen Entwicklungen zu einer mehr oder weniger öffentlichen gesellschaftlichen Frage der religiösen Legitimität und der Legalität erklärt worden, auch wenn die Obrigkeit in ihrem Anspruch an den Praktiken der Untertanen weiterhin oft scheiterte. 34 Die patriarchale Kontrolle über die Ehe‐ schließung nahm dadurch nicht dagewesene Ausmaße an. 35 Das Bestreben der reformierten Obrigkeit, die, wie gesagt, ausschließlich aus verheirateten, regi‐ mentsfähigen Hausvätern bestand, war klar: Definitionsmacht, Kontrolle und Alleinherrschaft über das zu erlangen, was analytisch gesehen die Schnittmenge aus Gewohnheitsrechten, Familienstrategien und individuellen Interessen dar‐ stellte. 36 Das reformierte Ehegesetz integrierte dabei zwar populäre Vorstel‐ lungen und Praktiken der öffentlichen Eheschließung. 37 Dahinter steckten aber die patriarchalen Interessen reformierter Obrigkeiten, die sich teilweise mit gemeinschaftlichen Interessen überschnitten; nämlich die Eheschließung aus der schlecht überprüfbaren Intimität und Privatheit des ‚Winkels‘ und damit der Geheimhaltung in den öffentlichen und sozial überwachten Raum der Kirche „unter Anwesenden“ zu ziehen und den wachsamen Augen und kollektiven Interessen der Gemeinschaft auszusetzen. 38 Aufgrund der rudimentär ausgebil‐ deten Verwaltungsstruktur war die Berner Obrigkeit in diesem Bereich geradezu 62 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 39 Joachim Eibach befindet in Bezug auf die frühneuzeitlichen Kommunikationsverhält‐ nisse auf dem Dorf, die fluide und durchlässige Grenzen zwischen dem Innen und Außen der einzelnen Haushaltungen zogen, dass es mit erheblicher Mühe verbunden war „Konflikte vor dem ‚Dorfauge‘ zu verbergen und somit auf eine Art Hinterbühne zu verlagern“. Eibach, Haus, 634. 40 Schmidt, Dorf, 353. 41 Ebd., 376. 42 E. Aeberhardt, Mitteilungen aus den Chorgerichtsprotokollen der Kirchgemeinde Arch. Ein Beitrag zur bernischen Volkskunde, in: Neues Berner Taschenbuch 38 (1932), 116- 137, 117. Der Vorname des Autors von diesem Artikel konnte nicht ausfindig gemacht werden. 43 Zur Verantwortung der Obrigkeit hinsichtlich der Zurückdrängung der Sünden vgl. Schmidt, Dorf, 4-5. auf Denunziationen und Anzeigen sittlichen Fehlverhaltens aus den Reihen der Bevölkerung vor den lokalen Chorgerichten angewiesen. Erst dörfliche Gerüchte und kooperierende Gemeindemitglieder brachten Regelverstöße vor die örtlichen Sittengerichte. 39 Je nach Schwere des Delikts sollten diese dann Anzeige beim Oberchorgericht in Bern erstatten. 40 Die Anzeigen kamen folglich „aus der Gesellschaft selber“. 41 Diese Begebenheit konnte in den Gemeinden durchaus zu einem „System gegenseitiger Aufpasserei, Verdächtigung und An‐ geberei“ führen, das nicht nur in ehelichen, sondern auch in anderen sittlichen Angelegenheiten „auf den Gemütern lastete, die Gewissen beschwerte und die persönliche Freiheit knechtete und knebelte“. 42 Zwischen religiösem Anspruch und sozialer Ordnung In der Gegenüberstellung von reformierter Ehetheologie und obrigkeitlichem Ehegesetz offenbarte sich bald eine wachsende Diskrepanz zwischen religiösem Anspruch, der die ideale sexuelle Ordnung der Gesellschaft priorisierte, und weltlichen Ordnungsvorstellungen, die pragmatisch auf die soziale Ordnung der Gesellschaft abzielten: Einerseits gab es für den geschlechtsreifen Menschen in der reformierten Anthropologie keine andere Möglichkeit, in Sündlosigkeit zu leben als in der Ehe. Wie oben ausgeführt, gingen die Vertreter des reformierten Menschenbilds von der Unmöglichkeit der sexuellen Enthaltsamkeit aus, sie erachteten das Risiko als zu groß, zu scheitern und sich zu versündigen. Vor- und außereheliche Sexualität sowie gewisse Sexualpraktiken, zusammengefasst unter den zeitgenössischen Begriffen ‚Unzucht‘ und ‚Hurerei‘, verunreinigten den theologisch interpretierten Gesellschaftskörper. Die durch einzelne Glieder beschmutzte Gesellschaft würde Gottes Argwohn auf sich ziehen, so die theo‐ logische Vorstellung der Obrigkeit. Daher musste die Unzucht durch Gerichte mittels Kriminalisierung und Sanktionierung eingedämmt werden, um nicht von der kollektiven Strafe Gottes heimgesucht zu werden. 43 Sozialmoralisch war 63 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 44 Cott schreibt von der „architecture of private life“. Nancy F. Cott, Public Vows. A History of Marriage and the Nation, Cambridge Mass 2000, 1; Hardwick, Business, 4-6. 45 Cott, Vows, 1; ebenso van Dülmen, Gesellschaft, 5; Monika Wienfort, Verliebt, Verlobt, Verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014, 27; Hardwick, Business, 4. 46 Zu Leichtfertigkeit und Armenbeziehungsweise Bettelehen vgl. Stefan Breit, „Leicht‐ fertigkeit“ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991, 5; Schmidt, Dorf, 212-213; Elisabeth Joris, Familie und Verwandtschaft, in: Die Geschichte der Schweiz, hrsg. v. Georg Kreis, Basel 2014, 250-253, 251. das nur mit einer Öffnung der Eheschließung für alle Schichten und Stände zu bewerkstelligen. Andererseits wurde von Berns Regenten und den lokalen Autoritäten streng darüber gewacht, wer wen zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Vorausset‐ zungen legal heiraten durfte. Nur so schien es möglich, die permanent gefähr‐ dete soziale und ökonomische Ordnung der Ständegesellschaft in einem kom‐ munalen System knapper Ressourcen aufrechtzuerhalten. Die Eheschließung bildete die zentrale Scharnierstelle für den frühneuzeitlichen Besitztransfer, markierte eine Schlüsselstelle im Erbschaftssystem und determinierte so die „Architektur des Privaten“. 44 Außerdem waren zahlreiche politische und pri‐ vate Rechte, die das Ansehen in der Gemeinschaft und im Staat maßgeblich mitbestimmten und das individuelle Selbstverständnis konstituierten, exklusiv an den ehelichen Status geknüpft. 45 Das Interesse der Patriarchen war ent‐ sprechend groß, ausschließlich Ehen zuzulassen, die Haushalte formierten, deren materielle Basis ausreichte, um sämtliche Mitglieder ernähren und unterhalten zu können. Sogenannte ‚leichtfertige‘ Eheschließungen, die in ‚Bettelehen‘ münden konnten, weil sie den gegründeten Haushalt aufgrund der ökonomischen Situation nicht mit genügend Auskommen versorgen konnten, mussten unbedingt verhindert werden. 46 Für die Schweiz und Deutschland konnte diesbezüglich gezeigt werden, dass vom 16. über das 17. bis ins 18. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen dem obrigkeitlichen Anliegen der sexuellen Ordnung und dem kommunalen Bedürfnis nach sozialer Ordnung im Bereich der Eheschließung laufend anwuchs. Die Regierung war darauf aus, Normen zu etablieren, die klare Linien zwischen moralischer Reinheit und unmoralischer Unzucht zogen, was vor allem über eine Ordnung der Sexualität erfolgte. Dem liefen jene sexuellen Praktiken zuwider, die sozial tief verwurzelt waren und in der lokalen Gemeinschaft gewohnheitsrechtlich opportun erschienen. Sie folgten lokalen Vorstellungen und sollten prioritär die kommunalen sozioökonomischen Verhältnisse abbilden und stabilisieren, die Geschlechter- und generationelle Ordnung unter sich verändernden zeitlichen 64 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 47 Burghartz, Logics, 186. 48 Ebd., 181-182. 49 Joris, Familie, 251; für einen Überblick zur Beobachtung dieser Tendenz an unterschied‐ lichen Orten und Regionen Burghartz, Logics, 189-193; Strasser, State, 46-47. Umständen reproduzieren und die Logik einer männlich geprägten Ehrkultur aufrechterhalten, was letztlich die soziale Ordnung priorisierte. 47 Bei der Auflösung dieser Widersprüchlichkeit zwischen religiös akzentu‐ ierter moralisch-sexueller und ehrgeleiteter sozialer Ordnung wurde in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation von den Sittengerichten die Herstel‐ lung sexueller Ordnung bevorzugt. Ausdruck davon war, dass AkteurInnen, die ihre Eheanspruchsklagen vor das Ehegericht zogen, schichtübergreifend signifikante Erfolgschancen besaßen. Die Ehegerichte förderten eheliche Ver‐ bindungen geradezu, um die angestrebte gesellschaftliche Reinheit herzustellen und zu garantieren. Doch bereits seit den 1560er Jahren bröckelte der Primat sexueller Ordnung, und die Diskrepanz zwischen moralischen Ansprüchen und materiellen Interessen wuchs. Die ständische Gesellschaft, die in ihrer materiellen Ausformung maßgeblich auf der Agrarwirtschaft aufbaute, war geprägt von sozialer Stratifikation und von begrenzten Ressourcen, so dass die durch reformatorische Dynamiken ausgelöste inkludierende Haltung der Ehegerichte bald abnahm. Sie wich einer Praxis, die knappe Ressourcen hütete, indem sie das Recht auf Ehe stark beschränkte und eine zunehmend repressive Moralpolitik verfolgte. So kam es in der Folge durch die gesetzgeberische und richterliche Praxis zu einem relativen Rückgang der Eheschließungen - dies mit einem paradoxen Effekt: Das Ungemach der sittlich-moralischen Verunreinigung, die es durch die christliche Obrigkeit abzuwenden galt, nahm zu und wurde auf diese Weise perpetuiert. 48 Historiker*innen sind sich denn auch über die Folgen des aufgezeigten wach‐ senden Widerspruchs zwischen sexueller und sozialer Ordnung auf normativer und disziplinarischer Ebene einig: Spätestens im Verlauf des 17. Jahrhunderts verschärften sich die Ehegesetze kontinuierlich zu Ungunsten vermögensloser, besitzloser, armer Bevölkerungsschichten. Für die Eheschließung wurden Ver‐ mögensnachweise und Einzugsgelder eingeführt und sukzessive erhöht. Gleich‐ zeitig wurden Strafandrohungen und effektive Sanktionen gegen voreheliche Schwangerschaften verschärft. Der moralische Druck auf die unteren Schichten nahm massiv und stetig zu. 49 Für Bern hat Schmidt anhand der Berner Ge‐ meinden Vechigen und Stettlen für den Zeitraum von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt, dass es zu einer gesetzlichen und gerichtlichen „Verschärfung der Gesamtlage“ für mittellose Eheschließungen kam. Gesetzlich wurde das Ehemündigkeitsalter im Herrschaftsgebiet von Bern 65 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 50 Schmidt, Dorf, 196; FN 140. 51 Ebd., 202. 52 Ebd., 236-237; vgl. außerdem Heinrich Richard Schmidt, Ehezucht in Berner Sittenge‐ richten 1580-1800, in: Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe, hrsg. v. Ronnie Po-chia Hsia/ Robert W. Scribner, Wiesbaden 1997, 287-321. 53 Zur Differenzierung zwischen den Kategorien ‚uneheliche Kinder‘, ‚illegitime Ge‐ burten‘ und ‚voreheliche Schwangerschaften‘ Brigitte Schnegg, Illegitimität im ländli‐ chen Bern des 18. Jahrhunderts, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 44 (1982), 53-86, 60. 54 Ebd., 59-66. Die Illegitimenrate beschreibt den Anteil unehelicher Geburten am Total der Geburten multipliziert mit 100. 55 Benedikt Bietenhard, Langnau im 18. Jahrhundert. Die Biografie einer ländlichen Kirchgemeinde im bernischen Ancien Régime, Langnau 1988. 56 Breit, Leichtfertigkeit, 289. 57 Capitani, Regiment. kontinuierlich angehoben. Schmidt hat für Bern eine Aufstellung des Mündig‐ keitsalters seit der Einführung der Reformation bis zur letzten Revision der Ehegerichtsordnung gemacht. Während das Mündigkeitsalter 1529 bei 19 Jahren für Frauen und 20 Jahren für Männer lag, mussten 1743 beide Geschlechter 25 Jahre alt sein; mit der Ordnung von 1787 wurde es um ein Jahr auf 24 reduziert. 50 Hurerei- und Ehebruchsdelikte wurden strikt verfolgt und rigide bestraft, Brautschwangerschaften vehement bekämpft und Armenehen mit aller Macht verhindert. 51 Der disziplinarische Erfolg der Gesetze blieb allerdings aus: Berns Obrigkeit und den lokalen Chorgerichten gelang es nicht, die voreheliche Sexualität einzudämmen, geschweige denn zu unterbinden. Die relative Delin‐ quenz nahm vom 17. zum 18. Jahrhundert zu. Und so ist Schmidt in Anbetracht dieser Entwicklungen für Bern zur These gelangt, dass die bernische Sittenzucht gescheitert war, wenn es ihr Ziel gewesen war, diesen Trend aufzuhalten. 52 Forschungen, die sich über Bern hinaus intensiv mit der Thematik der Illegiti‐ mität auseinandergesetzt haben, kommen zu dem quantitativen Befund, dass in Europa im 18. Jahrhundert die Zahl der unehelichen Kinder stetig zunahm und die vorehelichen Konzeptionen drastisch stiegen. 53 Für Bern belegt Brigitte Schnegg diesen Befund anhand des Beispiels der Kirchgemeinde Thurnen. Sie kann zeigen, dass die Illegitimenrate von der Mitte des 18. Jahrhunderts von 2 % bis zum Ende des Jahrhunderts langsam zunahm und dann im 19. Jahrhundert auf 6 % anstieg. 54 Für die Berner Kirchgemeinde Langnau kommt Benedikt Bietenhard zu vergleichbaren Ergebnissen. 55 Die parallel dazu restriktiver werdende Heirats- und Moralpolitik, die scheinbar „jede Lücke für die Heirat armer Leute schloss“ 56 , weil die Fürsorgeein‐ richtungen seit dem 16. Jahrhundert zunehmend an ihre Grenzen stießen, 57 er‐ weckt in Bezug auf die obrigkeitliche Bevölkerungs- und Moralpolitik von Bern 66 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 58 Schmidt, Dorf, 238. 59 Chorgerichtssatzung 1667, 719. 60 Der beschriebene Zusammenhang zwischen Reproduktion und Normen lässt sich beispielsweise bei Christian Pfister nachlesen: Pfister, Strom, 103. 61 Beatrix Mesmer, Die Bevölkerung. Wachstum und Umschichtung, in: Siedlungen und Architektur im Kanton Bern, hrsg. v. Peter Meyer, IV, Wabern 1987, 158-169, 161. 62 Ebd., 161-162. den Eindruck, die Potentaten wären bei der Verhinderung illegitimer sexueller Verbindungen einer wirkungslosen, naiven und unbelehrbaren Logik gefolgt. Demzufolge hätten sie die sozioökonomischen Entwicklungen nicht registriert und bereits simple Zusammenhänge weder erkannt noch verstanden, während der Konnex zwischen Sexualität und Heirat in der Praxis der AkteurInnen gleichzeitig immer loser wurde. 58 Die strengeren Gesetze und die restriktive Ehegerichtspraxis, die Berns Regierung wie andere Obrigkeiten bewusst an‐ drohte, wenn sie in der Ehegerichtsordnung von 1667 forderte, „die straffen bey zunemmung der ubertrettungen zu stercken und zu vermehren“ 59 , vermochten die Zahl unehelicher Geburten etc. offensichtlich nicht einzudämmen. Im Gegenteil: Im 18. und 19. Jahrhundert schossen die Ziffern in die Höhe. Der besagte Eindruck mag insbesondere entstehen, wenn Sozialhisto‐ riker*innen einen unvermittelten Zusammenhang zwischen Gesetz und Re‐ produktionsverhalten annehmen. 60 Diese Annahme geht davon aus, dass der Obrigkeit und den Gemeinden über die Ehebewilligungspraxis ein mehr oder weniger effektives Instrument zur Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens der Menschen zur Verfügung gestanden habe. Entsprechend dieser Auffassung waren es primär die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen angelegten Normen und Sanktionsmaßnahmen, die das Reproduktionsverhalten der Men‐ schen regulierten. Sie folgt damit dem malthusianischen Standpunkt, dass sich jede Gesellschaft Regeln auferlegt, die implizit dazu tendieren, „dass nicht mehr Individuen das Erwachsenenalter erreichen, als ernährt und beschäftigt werden können“. 61 In einer Gesellschaft, die die außereheliche Sexualität scheinbar nicht tolerierte, erfolgte die maßgebliche Steuerung der Geburten - neben dem weiblichen Stillverhalten, das die Intervalle zwischen den Geburten bestimmte - über das gesetzlich festgeschriebene Ehefähigkeitsalter. 62 In dieser Sichtweise erscheinen die Ehegesetze tendenziell als über die Jahre ineffizient gewordenes bevölkerungspolitisches Instrument der Berner Machteliten, das nicht mehr zu steuern vermochte, was es steuern sollte. Die gesetzlichen Regulative der Eheschließung dienten in dieser Optik primär der Strukturierung der Bevölke‐ rungsgröße und -zusammensetzung, mit dem Ziel, das materielle ‚Gemeinwohl‘ zu sichern, respektive die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht über die 67 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 63 Hull, Sexuality, 1. 64 Anne-Lise Head-König, Forced Marriages and Forbidden Marriages in Switzerland. State Control of the Formation of Marriage in Catholic and Protestant Cantons in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Continuity and Change 8 (1993), 441-465, 441. 65 Vergleichbare Entwicklungen finden sich für ganz Europa. Vgl. bezüglich Trends der Illegitimitätsentwicklung in Europa, der Schweiz und für Zürich im Spezifischen aufgearbeitet Sutter, Act, 38-39. Maßen zu strapazieren. 63 Kurzum: Die Eheschließung tritt in dieser Perspektive als jene bevölkerungspolitische Einrichtung auf, die die Größe der Gesellschaft erfolgreich und effizient nach gewissen historischen Vorstellungen zu steuern hatte. 64 Das konnte sie allerdings in zunehmendem Maß nicht mehr leisten. Die Regierung scheint mit ihren Ansprüchen gescheitert zu sein. Gesteigerte soziale Distinktion durch repressive Ehepolitik Folgen wir der ausgeführten sozialhistorischen Logik, dann hätte Berns Regie‐ rung strenggenommen auf der Überzeugung beharrt, dass die Sexualität der Untertanen tatsächlich über eine restriktive und disziplinarische Ehepolitik effektiv gesteuert werden konnte - dies, obwohl alle Zeichen der Zeit, die nota bene durch protostatistische Erhebungen allmählich messbar gemacht wurden, gegen diese direkte Korrelation sprachen. Damit hätte die Regierung sowohl kontraintuitiv als auch entgegen reformierter Anthropologie an der Überzeugung eines evidenten Zusammenhangs zwischen Ehebewilligungen und Sexualverhalten festgehalten. Berns Magistrate hätten sich somit in dop‐ pelter Weise geirrt. Denn der Berner Obrigkeit im 18. Jahrhundert misslang angesichts der steigenden unehelichen Geburtenzahlen und der vorehelichen Schwangerschaften sowie der wachsenden Bevölkerung ganz offensichtlich so‐ wohl die sittlich-moralische Veredlung ihrer Standesgenossen und Untertanen als auch die effektive und effiziente Steuerung des Bevölkerungswachstums. 65 Angesichts der seinerzeit zur Verfügung stehenden Zahlen zur Illegitimität fällt es schwer, eine solche Naivität der Berner Regierung anzunehmen und davon auszugehen, dass die Räte und Gerichte des Stadtstaates mit strengeren ehepolitischen Auflagen verzweifelt, aber erfolglos versucht hätten, die vorehe‐ liche Sexualität, die illegitimen Geburten und die wachsende Zahl besitzloser Bevölkerungsteile in den Griff zu bekommen. Gerade die Reformierten waren, wie oben dargelegt, der Überzeugung, dass die menschliche Sexualität integraler Bestandteil der fehlerlosen göttlichen Schöpfungsordnung war. Deswegen konnte das sexuelle Schicksal der Menschen nicht überwunden werden, sondern lediglich in die richtigen Bahnen gelenkt und in diesen ausgelebt werden. Aus religiösen Gründen also forderten die Reformatoren die Ehe für alle Männer und 68 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 66 Schmidt, Dorf, 353. 67 Gutachten zur Chorgerichtssatzungsrevision, verfasst von den Eherichtern, Dezember 1759, StAB RP X1, 947-948 zitiert nach: Schnegg, Illegitimität, 60. 68 Sie schreibt, dass sich „der von den Moralisten des 18. und 19. Jahrhunderts beklagte Anstieg der Illegitimität in der Kirchgemeinde Thurnen tatsächlich beobachten [lässt]“; ebd., 62. 69 Zu Reinigung und Verchristlichung der Gesellschaft vgl. Susanna Burghartz, Art. Unzucht 2014. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D43742.php (26.08.2021). 70 David Müslin, Bern wie es war, ist und seyn wird, Bern 1798, 24-25. Frauen und lehnten das Zölibat, die vollständige Enthaltsamkeit, ab. Entspre‐ chend mussten sie davon ausgehen, dass die immer strengeren Zugangskriterien zum einzigen Ort reiner Sexualität weder die sexualmoralischen Probleme von ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Unzucht‘ und ‚Hurerei‘ lösen würden, noch dass sie damit die Bevölkerungsvermehrung subalterner Bevölkerungsschichten erfolgreich steuern konnten. Auch die Aussagen von Oberchorrichtern wecken Zweifel daran, dass es der Berner Obrigkeit im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nach wie vor primär um die moralische Reinheit der Gesellschaft und die Beschränkung der Population ging, weil sie den „Verlust der ethisch-religiösen Zentrierung“ ihrer Untertanen nicht wahrhaben wollten. 66 Berns weltliche und geistliche Eherichter beklagten immer wieder die Renitenz ihrer Untertanen. Sie zeigten damit in expliziter Weise an, dass es ihnen nicht an Problembewusstsein mangelte. Die Oberchorrichter schrieben in einem Gutachten zur Chorgerichts‐ satzungsrevision 1759 an Schultheiß und Räte, dass „der Landmann durch und durch weder treu noch Glauben mehr kennet und […] aller Orten, wo er nur zugelassen wird, mit mundlichen Betheürungen und Versprechungen die Töchteren ehrlicher Elteren zu verführen und die Unschuld zu stürzen […]“ versuche. 67 Bestätigt wird diese Vermutung auch von Brigitte Schneggs Studie, die indirekt aufgezeigt hat, dass die ‚Moralisten‘ des 18. und 19. Jahrhunderts den Anstieg illegitimer Geburten durchaus in der Art wahrnahmen, wie es die nachträglich errechneten Raten aufzeigen. 68 Die Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch der Gesetze auf eine gereinigte und verchristlichte Gesellschaft und der Ehe- und Sexualpraxis der Menschen war den Zeitgenossen bewusst. 69 Zwar wurde die Ursache allzu oft in der „Unsittlichkeit des männli‐ chen, und [der] des weiblichen Geschlechts aus der untersten Classe“ gesehen, die im 18. Jahrhundert angeblich „ihre höchste Höhe erreichet hatte“. 70 Es existierten aber auch sehr gesetzes- und obrigkeitskritische Stimmen. So gab 1794 zum Beispiel ein Dekan in der obrigkeitlichen Kommission, die sich explizit 69 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 71 StABE, B III 179. Akten der Kommission über den Verfall der Religion; Band 1 (1793- 1795), fol. 39. 72 Ebd. 73 Müslin, Bern, 24-25. 74 Vgl. Rudolf Dellsperger, Art. David Müslin 2009. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 0107 65/ 2009-06-22/ (26.08.2021). 75 Dieselbe Frage stellt sich Christian Simon, wenn er schreibt, „warum eigentlich Massnahmen [von der Basler Obrigkeit im 18. Jahrhundert] weiter eingesetzt werden, obschon sie den Verhältnissen inadäquat oder mindestens ineffizient sind“. Simon, Untertanenverhalten, 142. mit dem Religionsverfall beschäftigte, zu Protokoll, dass „aus einer solchen Verfassung des Landes […] wenig Sittlichkeit zu hoffen“ wäre: 71 „[W]enn die Laster allgemein werden, sich in alle Stände einschleichen, so sind gewiss die Strafgeseze, keine Geseze mehr in ihrer Ausübung, und dann wird die Straflosigkeit, die bloß zum Schein verhängte leichte Bestrafung, die Quelle der Frechheit des Lasters, das immer weiter um sich greifft, und neue, und mehrere Anlässe zu seiner Sättigung sucht, und anstellt.“ 72 Die zitierten Quellen illustrieren, dass die „Verachtung aller Keuschheitsgesetze“ von den zeitgenössischen Eliten durchaus selbstkritisch problematisiert wurde, „[s]o dass in den letzten Tagen unserer alten Existenz, Bern in dieser Rücksicht nach Verhältniß ihrer Größe die verdorbenste Stadt im deutschen Europa gewesen seyn mag“. 73 So jedenfalls brachte es 1798 der Münsterpfarrer David Müslin moralisierend zum Ausdruck. 74 Er ließ bezüglich der Ehe- und Sexual‐ moral kein gutes Haar an der alten Ordnung. Wenn man diese Feststellungen einem zu allen Zeiten existierenden reforma‐ torisch-disziplinarischen Moralismus der Eliten zuschreiben würde, der blind für die gesellschaftlichen Verhältnisse war, dann würde man das Problembe‐ wusstsein der Zeitgenossen unterschätzen. So wie es Historiker*innen im Nach‐ hinein bemerkten, so erkannten auch die mit der Ehegesetzgebung und deren Exekution betrauten Amtsleute unmittelbar, dass die repressiven Ehegesetze eine wachsende Zahl von Menschen in die illegitime Sexualität trieben. Folglich stellt sich die entscheidende Frage, wozu dieser spezifische Moralismus und die repressiven Ehegesetze im 18. und 19. Jahrhundert dienten. Welche Effekte erzeugte die klaffende Differenz zwischen dem strengen Ehegesetz und dem zunehmend promiskuitiven Sexual- und Eheverhalten der Menschen unterhalb der Oberfläche? 75 Dabei macht es wenig Sinn, aus dem Wortlaut der historisch gewachsenen Gesetze die Intentionen der Gesetzgeber und das Verhalten der 70 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 76 Pierre Bourdieu schreibt im Rahmen einer generativen Untersuchung ganz in diesem Sinn: „Il faut rompre en effet avec le juridisme […] qui tend à traiter toute pratique comme exécution: exécution d’un ordre ou d’un plan dans le cas du juridisme naïf, qui fait comme si les pratiques étaient directement déductibles de règles juridiques ex‐ pressément constituées et légalement sanctionnées […].“ Pierre Bourdieu, Les stratégies matrimoniales dans le système de reproduction, in: Annales. Histoire, Sciences Siociales 27 (1972), 1105-1127, 1105. 77 Jürgen Schlumbohm schreibt in Bezug auf die selektive Exekution von juristischen Bestimmungen, dass es dabei nicht genügt, nur die obrigkeitlichen Disziplinierungs‐ anstrengungen zu untersuchen, sondern dass auch das Verhalten der Untertanen - „Bürger, Bauern und Unterschichten ebenso wie Grundherren und ‚Zwischenge‐ stalten‘“ - in Wechselwirkung mit einzubeziehen ist. Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? , in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647-663, 662. 78 Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 107. 79 Wienfort, Verliebt, 27. 80 Nadir Weber, Auf dem Weg zur Adelsrepublik. Die Titulaturenfrage im Bern des 18. Jahrhunderts, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 70 (2008), 3-34. Untertanen abzuleiten. 76 Norm und Praxis stehen in einem komplexeren Zusam‐ menhang. 77 Gerd Schwerhoff hat in Anlehnung an Karl Härter diesbezüglich bemerkt, dass die verkürzte Annahme ineffektiver frühneuzeitlicher Gesetze von der sozialdisziplinarischen Vorstellung linearer Gesetzeswirkung ausgeht. Damit werden strukturelle Merkmale, die konstitutiv für die frühneuzeitliche Rechtsprechung sind, nicht wahrgenommen und Funktionen des Gesetzes aus‐ geblendet. 78 Folglich war die restriktive Bewilligung von Eheschließungen kein ineffizientes Instrument zur Regulierung der Moral und des Reproduktionsver‐ haltens ihrer Untertanen, sondern ein Werkzeug, das tatsächlich dazu gereichte, die ständisch determinierte, materielle und rechtliche Distinktion einer sich zunehmend verengenden Aristokratie zu akzentuieren. Dadurch wurden immer größer werdende Teile der Bevölkerung vom eigenen Wohlstand und von der politischen Partizipation rechtlich wie faktisch ausgeschlossen. 79 Auf diese Bestrebungen weisen auch andere politische Entwicklungen hin, wie etwa das Adelsdekret von 1783. Dieses erhob die regimentsfähigen Geschlechter durch die Selbstnobilitierung in den Adelsrang und setzte damit in einem ständischen System gleichzeitig alle anderen Burger und Untertanen zusätzlich herab. 80 Die Ehepolitik entwickelte sich in Bern also in zunehmendem Maße zu einer Distinktions- und Ausgrenzungspolitik, die ständische Interessen angesichts wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen zu bewahren versuchte. Diese Politik fand ihre Unterfütterung in den im 18. Jahrhundert immer bekannteren und elaborierteren empfängnisverhütenden Sexualpraktiken und den zuneh‐ menden Schwangerschaftsabbrüchen. Sie waren vor allem in der Aristokratie 71 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 81 Holenstein, Beschleunigung, 314. 82 StABE, B III 438. Instruktionenbuch für das obere Chorgericht der Stadt und Republik Bern (1790-1828), 570-571. 83 Head-König zeigt auf, dass unterschiedliche ehepolitische Logiken von Obrigkeiten die Verhaltensweisen der Untertanen sehr unterschiedlich beeinflussen konnten. Illegiti‐ menraten und Unfruchtbarkeitsraten etc. müssen zwar als Symptome obrigkeitlicher Politik gelesen werden, jedoch widerspiegeln sie keineswegs den einzigen Effekt. „They are often a direct indicator of the growing propensity of the state to interfere in matrimonial affairs, and to control entry into marriage.“ Der Einfluss der gesetzlichen Normierung der Ehe umfasst die Macht unterschiedlicher sozialer Gruppen, die öffent‐ liche Ordnung und die Moral. Darüber hinaus hat er demographische Effekte zur Folge. Head-König, Marriages, 441-442. 84 Diese These findet sich für das benachbarte Freiburg im Üechtland durch die Studie von Rita Binz-Wohlhauser bestätigt, die in Freiburgs Eliten im 18. Jahrhundert ein gestei‐ gertes „Streben nach Exklusivität und Abgrenzung“ beobachtet. Rita Binz-Wohlhauser, Zwischen Glanz und Elend. Städtische Elite in Freiburg im Üechtland (18. Jahrhundert), Zürich 2014, 59-62. bekannt und verbreitet. Durch sie konnte bei fortwährendem Geschlechtsver‐ kehr Nachwuchs vermieden und daher weiterhin ein standesgemäßes Leben geführt werden. Denn dieses erforderte zur Abgrenzung gegen ‚unten‘ die entsprechenden materiellen Mittel und finanziellen Ausgaben. Kinder musste man sich nämlich leisten können. 81 Den herrschenden Berner Geschlechtern war durchaus bewusst, dass das menschliche Fortpflanzungsverhalten - ob aus „Wahl oder Noth“ 82 - aufgrund ihrer rigiden Ehepolitik eigene Dynamiken entfesselte. Diese korrelierten zwar mit der repressiven Gesetzgebung und Gerichtspraxis, allerdings gerade nicht in der Weise, wie sie einzelne Sozialhistoriker*innen konstatiert haben. Berns Regenten, Richter und Pfarrer waren keineswegs uneinsichtig. Folglich stellt sich die Frage, was die Regenten und Ehegerichte unter der Oberfläche des Moralismus intendierten und steuerten, und was sie kollateral beeinflussten. 83 Dabei drängt sich die These auf, dass die patriarchalische Regierung durchaus erfolgreich kontrollierte, was sie kontrollieren wollte: Es war der Zugang zu Privilegien, Rechten, Chancen und Besitz, den sie mit zunehmender Strenge normierte und mit wachsender Aufmerksamkeit bewachte und beschränkte. 84 So ist beispielsweise eine Instruktion aus dem Jahr 1756 zu bewerten. Darin untersagten Räte und Burger dem Oberchorgericht, Kopulationsscheine an Burger auszustellen, die unbemittelte auswärtige Frauen zu heiraten wünschten, wenn diese nicht zuvor das festgesetzte Einzugsgeld bei der Burgerkammer bezahlt hatten. Begründet wurde dies damit, der „unbesonnenen Heirath an unbemittelte Weibsperson, und darauf erfolgender Verarmung, sonderlich im Handwerks-Stande“ zuvorzukommen; gleichzeitig schloss man damit konkur‐ 72 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 85 StABE, B III 437, 176. 86 Ulrike Strasser geht davon aus, dass die kirchlich unterfütterte ehegerichtliche Ordnung einem säkularen ökonomischen Prinzip folgte, das auf den Schutz des Eigentums der Besitzenden abzielte, indem es den Besitzlosen die Heirat verbot: „The state’s primary interest consisted of strengthening propertied patriarchal householders and mobilizing household governance for political rule.“ Strasser, State, 46-47. Vgl. auch Holenstein, Beschleunigung, 314. rierende Burger von der Heirat und somit von Ämtern aus. 85 In dieser Logik war die wachsende Armut der Unterschichten die Kontrastfolie, respektive der Kollateralschaden, des eigenen Reichtums und folglich ein notwendiges Übel für die eigene Selbstinszenierung und -wahrnehmung in einer ständisch organisierten Welt. 86 73 B Das ausgehende Ancien Régime (1742-1798) 87 Zur Erörterung des Dispositiv-Begriffs Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, Frankfurt a. M. 2013, 49. In Anlehnung an Michel Foucault umschreibt der Soziologe das Dispositiv wie folgt: „Ein Dispositiv bildet keine bloße Institution, kein abgeschlossenes Funktionssystem, kein Wert- und Normenmuster und mehr als einen Diskurs. Es umfasst ein ganzes soziales Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen, die nicht völlig homogen, aber doch identifzierbar durch bestimmte Wissensordnungen koordiniert werden.“ 88 Foucault, Sicherheit, 88. 89 Foucault, Heterotopien, 12. 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen Nachdem die reformatorische Vorgeschichte erörtert wurde, werden an dieser Stelle der Arbeit die Handlungsräume ausgelotet, die das ehepolitische Dis‐ positiv den um prekäre Eheschließungen versammelten AkteurInnen im 18. Jahrhundert ließ. 87 Dabei liegt der Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des Centenniums. Um dieses Dispositiv rund um die Eheschließung für Bern zu rekonstruieren, beleuchtet die vorliegende Untersuchung zum einen den rele‐ vanten ehegesetzlichen Rahmen für das Handeln der ehewilligen AkteurInnen. Das geschieht anhand von Ehegerichtsordnungen und deren Revisionen. Dabei folgt die Studie Foucaults Unterscheidung von Gesetz und Norm, nach der die Funktion des Gesetzes in der Kodifizierung und somit der schriftlichen Konden‐ sation der Norm liegt. 88 Erst die Fixierung der Norm lässt das abweichende Verhalten historischer AkteurInnen am Rande der Gesetze hervortreten. 89 In den folgenden Ausführungen werden die kodifizierten Normen der Berner Herrschaft zur ehelichen Konstitution des Zusammenlebens von Mann und Frau - die familiäre Koexistenz war ausschließlich heterosexuell gedacht - zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten des 18. Jahrhunderts (1743 und 1787) miteinander verglichen. Sie werden jeweils als Ausdruck unterschiedlicher Konjunkturen bevölkerungspolitischer Logiken, Ansichten und Meinungen der Berner Regierung interpretiert, die von den Wechselwirkungen zwischen Ehe- und Sexualverhalten der AkteurInnen auf dem Land sowie in der Stadt und der obrigkeitlichen Wahrnehmung sozioökonomischer Verhältnisse im Herr‐ schaftsgebiet Berns abhingen. Da sich die vorliegende Arbeit der Erforschung der Sattelzeit widmet, stellt die revidierte bernische Chorgerichtssatzung von 1743 formal einen idealen Anfangspunkt für diese Studie dar. Zudem fiel das Erscheinen des oberchorgerichtlichen Rekursmanuals beinahe exakt mit der 74 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 90 Emil Erne, Art. Ökonomische Gesellschaften 2017. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D1642 0.php (26.08.2021); Emil Erne, Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, Zürich 1988, 188-204. 91 Katrin Keller, Die Preisfragen der Oekonomischen Gesellschaft Bern, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 37. 92 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, in: Geschichte der Gouvernementalität II, hrsg. v. Michel Sennelart, 4 Aufl., Frankfurt a. M. 2015, 14. Das ist gewissermaßen die Definition dessen, was Michel Foucault im weitesten Sinn unter ‚Regierungskunst‘ oder eben ‚Gouvernementalität‘ verstanden hat. Einsetzung dieser revidierten Ehegerichtsordnung zusammen und stand in direktem Zusammenhang damit. Die vom Gerichtsschreiber verfassten Manuale bilden die materielle Grundlage für die weiteren Untersuchungen zur Akteurs‐ praxis von Heiratswilligen, eheeinsprechenden Personen und Parteien sowie der Gerichtstätigkeit. Zum anderen wird für den angestrebten Vergleich die bevölkerungspolitische Debatte rund um die Oekonomische Gesellschaft in Bern berücksichtigt. Diese spätaufklärerische Sozietät war „die erste bedeutende kontinentaleurop[äische] […] dieser Art“. 90 Sie setzte sich im Rahmen eines umfassenden Ökonomievers‐ tändnisses, das auch die Bevölkerungsentwicklung einschloss, mit den relativ unflexiblen ehepolitischen Strukturen auseinander und kritisierte oder stützte diese je nach Zeitpunkt. Die gelehrte Gesellschaft verschrieb sich dabei dem Generieren, Diskutieren, Verbreiten und Umsetzen von nützlichem Wissen, um die Produktion insbesondere in der Agrarwirtschaft zu steigern. Sie setzte sich in ihren sogenannten ‚Preisfragen‘ in politisch brisanter Weise mit dem Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Ressourcen auseinander, indem sie wiederholt die Frage aufwarf, wie eine Regierung dieses Verhältnis erfolgreich steuern sollte. Für hochstehende Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen wurden Preise ausgeschrieben und die Publikation der Schreiben in Aussicht gestellt. Damit wandte die Sozietät ein zeitgenössisch bekanntes Mittel zur Wissensgenerierung an, das schon zuvor in anderen Gelehrtengesellschaften und Akademien angewandt wurde. 91 Mitglieder und Assoziierte setzten sich dezidiert mit der konkreten Frage auseinander, „wie man am besten regiert“, weil sie an „der Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität“ interessiert waren. 92 Ihre Abhandlungen bildeten - im Kontrast zu den relativ starren obrigkeitlichen Ehegerichtsordnungen - eine unmittelbare und dynamische diskursive Auseinandersetzung mit der aktuellen Wahrnehmung demographischer Zustände und Entwicklungen ab. Dabei bezogen einige Autoren in den auf Preisfragen hin eingereichten Schriften spezifisch Stellung zur obrigkeitlichen Ehenormierung als Kontroll- 75 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 93 Chorgerichtssatzung 1743, 762. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Susanna Burghartz, Wandel durch Kontinuität? Zur Moralpolitik von Reformation und Konfessionalisierung, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 7 (2000), 23-35, 24-25. und Steuerungsinstrument bevölkerungspolitischer Bestrebungen. Darin kriti‐ sierten sie zum Teil die obrigkeitliche Bevölkerungspolitik mehr oder weniger offenkundig. Hier sollen diejenigen bevölkerungspolitisch einschlägigen Ein‐ gaben an die Oekonomische Gesellschaft in die Untersuchung des normativen Handlungsrahmens miteinbezogen werden, die die Eheschließung als Regu‐ lativ des Bevölkerungswachstums thematisierten. Sie geben Auskunft über zeitgenössische Wahrnehmungen und Einschätzungen der sozioökonomischen Zustände des Kantons in der entstehenden politischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Die öffentliche Debatte fand in Auseinandersetzung mit den herrschenden Gesetzen und der Erfahrung der ehegerichtlichen Praxis statt. Sie war über die Ehepraxis der Bevölkerung ebenso informiert wie sie dieselbe theoretisch und schreibend zu beeinflussen versuchte, indem sie auf Reformen in der Gesetzgebung drängte oder kritisch auf neue Mandate und Verordnungen reagierte. 1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743: ‚Heyl und Wolfahrt‘ unter ‚abgeänderte[r] lebens-manier der menschen‘ Der Anfang des Untersuchungszeitraums dieser Studie fällt, wie erwähnt, mit dem Erlass der revidierten Chorgerichtssatzung 1743 zusammen. Mit der Erneuerung der Satzung beanspruchten Schultheiß, Kleiner und Großer Rat dem Verfall der sittlichen Ordnung entgegenzuwirken und die Gesetze der „abgeänderte[n] lebens-manier der menschen“ anzupassen. 93 Die obrigkeitliche Anstrengung der Gesetzesrevision diente offensichtlich dazu, den Bürgern, Un‐ tertanen und anderen im Herrschaftsgebiet wohnhaften Menschen gesetzliche Bestimmungen in Erinnerung zu rufen, damit diese nicht in „Vergess gestellt“ wurden. 94 Vor allem aber wurden sie erinnert und modifiziert, um kontinuier‐ liche Herrschaft unter veränderten Vorzeichen zu reproduzieren, sodass „Heyl und Wolfahrt“, also Sitte und Ökonomie, im Sinne der herrschenden Staatsräson reproduziert werden konnten. 95 Dieser Vorgang kann als „Prozesscharakter der Konstruktion“ analysiert werden : 96 Den Potentaten ging es darum, bestehende Machtunterschiede unter transformierten gesellschaftlichen und kulturellen 76 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 97 Chorgerichtssatzung 1743, 762. 98 Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M., New York 1994, 24; vgl. auch Martin Dinges, Frühneu‐ zeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), 5-29, 28. 99 Schlumbohm, Gesetze, 661-662. 100 Burghartz, Wandel, 23-24. 101 Chorgerichtssatzung 1743, 762. Bedingungen aufrechtzuerhalten. Schließlich sollte die Adjustierung der Ge‐ setze dazu führen, „Zucht und Ehrbarkeit“ unter veränderten soziokulturellen Bedingungen in ihrer Wirkung fortbestehen zu lassen. Berns Machthaber erkannten zweifelsohne die „ohnumgängliche Nothdurfft“ der fortlaufenden Anpassung der Ordnung an die Zeitumstände, wenn sie ihre Herrschaft auf‐ rechterhalten wollten. 97 Dass die Ehe- und Sexualpraktiken der AkteurInnen die Gesetze im „Justiz-Alltag ‚abschliffen‘“ und durch die Aneignung veränderten, ist folglich nicht nur aus historischer Distanz zu ersehen. 98 Auch Burgern und Räten, in deren Namen die Ordnung erlassen wurde, war offensichtlich wohlbekannt, dass die Wirkung von Gesetzen nachlassen konnte. 99 Was Burghartz für die Ordnung der Geschlechter konzeptionell gefasst hat, schien den Berner Macht‐ habern bei der Revision ihrer Ehegesetzordnung als Funktionsmechanismus gegenwärtig gewesen zu sein. Moderate gesetzliche Anpassungen schienen notwendig, um den strukturellen Fortbestand der Machtbeziehungen unter sich wandelnden gesellschaftlichen Umständen aufrechterhalten zu können. 100 Um die Herrschaftsverhältnisse erfolgreich tradieren oder gar ausbauen zu können, bedurfte es feingliedriger Anpassungen an die zeitgenössischen Ge‐ wohnheiten und das Verhalten der Landesbewohner. Dass dieser Umstand der Herrschaftsschicht bewusst war, dokumentiert wiederum die revidierte Chorgerichtssatzung von 1743. Dort ließ die bernische Obrigkeit verlauten, dass sie „nicht nur gutfunden, diss-örthige ehemalige Satzungen für die Hand zu nemmen und mit Fleiß zu durchgehen, sondern in eint- und anderem, gestalten Dingen nach, auf gegenwärtige Zeiten und Läuff selbe einzurichten, zu verbessern und in fernerem hiemit anzuordnen […].” 101 In der Folge ist es interessant zu untersuchen, mit welcher bevölkerungspoli‐ tischen Intention die Berner Regenten die Chorgerichtssatzung von 1743 revi‐ dierten, um die abgenutzte Ordnung in ihrer ehemaligen Wirkung wiederherzu‐ stellen. Während die Berner Magistrate mit den christlichen Mandaten von 1628 im 17. Jahrhundert und in der Folge kontinuierlich mit weiteren Verordnungen 77 1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743 102 Ebd. 103 Heinrich Richard Schmidt, Über die Tätigkeit von Berner Chorgerichten 1540-1800, in: Konfessionalisierung und Region, hrsg. v. Peer Frieß/ Rolf Kießling, Konstanz 1999, 275-316, 292. 104 Vgl. zur Form und Funktion des Zugrechts im Allgemeinen Roth, Civil-Gesetzbuch, 181-185. 105 Chorgerichtssatzung 1743, 763. 106 Schmidt, Dorf, 195-197. 107 Eibach, Gleichheit, 529. und Gesetzen mittels Normierung der Eheschließung auf Armutsphänomene zu reagieren begannen, erreichten die Gemeinden mit der „lands-vätterliche[n]“ 102 Ehegesetzordnung von 1743, dass sie unabhängig vom Alter alle Almosenbe‐ züger-Innen und Menschen mit körperlichen Gebrechen mittels Zugrecht von der Ehe und damit von der ‚reinen‘ Sexualität ausschließen konnten. Das Zug‐ recht war „ein Vetorecht“, das ursprünglich den Eltern oder, im Fall von deren Tod oder Unmündigkeit, nahen Verwandten oder Vögten minderjähriger Kinder zukam, wenn sie Einwände gegen deren Eheaspirationen hatten. 103 Dieses Recht wurde nun in bestimmten Fällen auf Gemeinden und Korporationen ausgedehnt: Gemeindeangehörige, die zu heiraten wünschten, konnten jetzt von diesen, sogar über die Volljährigkeit hinaus, daran gehindert werden, wenn sie von ihren Korporationen oder Gemeinden Unterstützungsleistungen bezogen oder in der Vergangenheit erhalten, aber nicht zurückbezahlt hatten. 104 Die ent‐ sprechenden Neuerungen fanden unter dem Titel „Artickel und Sazungen, die Ehe betreffend“ unter dem dritten Absatz Eingang in das schriftlich verbriefte Ehegesetz von Bern. AlmosenempfängerInnen und Menschen mit leiblichen Gebrechen, denen nicht zugetraut wurde, sich und allfälligen Nachwuchs zu versorgen, konnten fortan über das 25. Lebensjahr hinaus an der Eheschließung gehindert werden. 105 Faktisch wurde damit ein Ehehindernis errichtet und im Gesetzestext verankert, das arme Personen und Menschen mit körperlichen Gebrechen komplett von der Reinheitsordnung ausschloss. Die Sexualität dieser Menschen wurde per se diskreditiert, indem sie das Gesetz als ‚leichtsinnig‘ verurteilte. 106 Das stellte die bisher schärfste gesetzgeberische Restriktion von Armenehen in der bernischen Ehegesetzgebung dar. Sie reihte sich in jene Entwicklung „intensivierter Kontrolle von Sexualität“ ein, die mit der starken Bevölkerungszunahme und der zunehmenden sozialen Polarisierung einher‐ ging, die Joachim Eibach für das 18. Jahrhundert aus kriminalitätshistorischer Perspektive thematisiert hat. 107 In Bezug auf die frühneuzeitliche Ehegesetzgebung in Bern von der Refor‐ mation bis 1824 kann von einer beachtlichen Beständigkeit gesprochen werden. An den Prinzipien der Ehedefinition, der konstitutiven Merkmale und Anfor‐ 78 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 108 Schmidt, Dorf, 254. 109 Diese obrigkeitliche Furcht begründend schreibt Joachim Eibach: „Das säkulare Bevöl‐ kerungswachstum sorgte für eine Überbelastung der traditionalen Ökonomie in Stadt und Land mit dem Effekt einer Zunahme entwurzelter mobiler Unterschichten auf der verzweifelten Suche nach einem Lebensunterhalt.“ Eibach, Gleichheit, 527-528. 110 Isabelle Lorey schreibt: „Das Begriffsgefüge des Prekären lässt sich im weitesten Sinne als Unsicherheit und Verletzbarkeit, als Verunsicherung und Gefährdung beschreiben.“ Hier zeigt sich deutlich, dass der Begriff der Prekarisierung in Bezug auf die Eheschlie‐ ßungen im 18. Jahrhundert berechtigterweise verwendet wird. Isabell Lorey (Hrsg.), Die Regierung der Prekären. Mit einem Vorwort von Judith Butler, Wien 2012, 22. 111 Eibach, Gleichheit, 526-532. derungen, der Rolle der Kirche und der Scheidung änderte sich im Verlauf der Frühen Neuzeit relativ wenig. Offensichtlich genügten diese dem Zweck der Herrschaftssicherung nach wie vor. Hingegen fanden im Ehehindernis für besteuerte Armengenössige bevölkerungspolitische Neuerungen Niederschlag, die der Idee aufgeklärter Staatsräson folgten und das biblische Recht auf Ehe für AlmosenempfängerInnen drastisch einschränkten. 108 Die Ausdehnung des patri‐ archalen Zugrechts auf Gemeinden und Korporationen hatte ganz offensichtlich nicht mehr viel mit reformiert-religiösen Vorstellungen vom Menschen zu tun, der sich nicht für die vollständige sexuelle Abstinenz, das Zölibat, eignete. Durch den Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen von der Ehe hatte man seitens der Räte und Burger im Geist reformierter Anthropologie sehr sündenbewusst uneheliche Kinder, illegitime sexuelle Beziehungen und Lebensformen in Kauf genommen. Nun wuchs aber die Angst vor dem Verlust ständischer Privilegien, insbesondere in Anbetracht der Vermehrung subalterner Schichten, dermaßen an, dass man sie kurzerhand von der reinen Gesellschaft prinzipiell ausschloss. 109 Dadurch wurden diese Schichten eherechtlich prekarisiert und in der Konse‐ quenz sexuell diskriminiert: Diese zahlenmäßig große Gesellschaftsgruppe wurde somit rechtlich verunsichert, materiell noch verletzlicher gemacht und sexuell tendenziell inkriminiert. 110 Die Beobachtungen von Eibach in Bezug auf den markanten Anstieg von Sexual- und Eigentumsdelikten im 18. Jahrhundert erhärten diese These. 111 Die gesetzliche Normierung entwarf die reine Ordnung in der Folge in zunehmendem Ausmaß als eine immer exklusivere Gesellschaft. Außerdem war mit der Säkularisierung im Zuge der Aufklärung die Furcht vor göttlicher Kol‐ lektivstrafe gesunken, was die Bedeutung der gesamtgesellschaftlichen Reinheit aus theo-logischer Perspektive reduziert erscheinen ließ. Gleichzeitig nahm die ökonomistische Furcht vor materieller Armut und dem Zerfall des diesseitigen Wohlstands zu. Im 18. Jahrhundert wurden transzendentale Heilsvorstellungen von einer ökonomistischen Sichtweise abgelöst, die moralisch-sozialpolitisch 79 1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743 112 Vgl. Burghartz, Art. Unzucht. 113 Hier äußerte sich der bereits zuvor zitierte Dekan in einer Kommission, die vom Rat dazu eingesetzt war, den „Verfall der Religion“ aufzuhalten. StABE, B III 179, fol. 39. 114 Daniel Schläppi, Wohltätigkeit zwischen republikanischem Gemeinsinn und rechen‐ haftem Haushalten. Funktionsweise, Struktur und Bedeutung der Wohlfahrtseinrich‐ tungen der bernischen Burgerschaft im Sog der Ökonomisierung, in: Reichtum und Armut in den schweizerischen Republiken des 18. Jahrhunderts. Akten des Kolloquiums vom 23.-25. November 2006 in Lausanne, hrsg. v. André Holenstein/ Béla Kapossy/ Da‐ nièle Tosato-Rigo/ Simone Zurbuchen, Genève 2010, 75-91; auch Justus Nipperdey weist darauf hin, dass bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine ökonomische Perspektive die Bevölkerungstheorie dominierte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfuhr diese Perspektive eine zusätzliche ökonomistische Akzentuierung; Justus Nipperdey, Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, 365-376. 115 Wilhelm Bickel, Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters, Zürich 1947, 30. auf diesseitige Güter fokussierte. 112 Der religiöse Wert der moralischen Reinheit war einer utilitaristischen Konnotation der Reinheit gewichen, die Armut und Unreinheit miteinander verschränkte. In dieser Verquickung wurde die Reinheit mit Hygiene in Zusammenhang gebracht, wenn es hieß, dass die außereheliche Sexualität, „die verderblichsten Krankheiten nach sich zieh[e]“. 113 Sexuelle und damit moralische Unversehrtheit wurden in Bern Mitte des 18. Jahrhunderts quasi als schriftlich fixiertes Privileg der besitzenden Klasse im gedruckten Ehegesetz manifestiert. Dadurch wurde sie unverhohlen als ein ökonomisches Vorrecht kodifiziert. Der von Daniel Schläppi bezüglich des Armenwesens von Bern konstatierte „Sog der Ökonomisierung“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbarte sich ebenso in der Ehegesetzgebung der Berner Obrigkeit: Er zeigte sich auch hier „in effizienterem und sparsamerem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen“ und „beeinträchtigte [ebenfalls] das integrative Potential“ des Ehegesetzes. 114 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik In Widerspruch zum zunehmenden gesetzlichen Ausschluss der besitzlosen Be‐ völkerungsschichten von der Ehe im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung des 18. Jahrhunderts stieg in derselben Zeit in Europa das Interesse an Fragen der korrekten Bevölkerungspolitik zur Steuerung der Gesellschaftsgröße. 115 Die be‐ völkerungspolitischen Debatten, und als deren Gegenstand die Eheschließung, wurden zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - im Gegensatz zur 80 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 116 Vgl. zur Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg i. Br., München 1959; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft ; mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, 14. Aufl., Frankfurt am Main 2015; konkret zur Schweiz vgl. Albert Tanner, Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz. Die ‚Mittelklassen‘ an der Macht, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1; Einheit und Vielfalt, hrsg. v. Jürgen Kocka, 3 Bde., Göttingen 1995, 199-229; Justus Nipperdey spricht in Bezug auf die bevölkerungspolitische Phase nach 1750 vom „Hoch-Populationismus“. Nipperdey, Erfindung, 421-430; Rudolf Braun bezeichnet diesen mit dem zeitgenössi‐ schen Begriff der „Peuplierungspolitik“. Rudolf Braun, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen, Zürich 1984, 56. 117 Zitiert nach: Bickel, Bevölkerungsgeschichte, 11. 118 Nipperdey, Erfindung, 412-421. oben skizzierten manifesten Gesetzgebung - in der entstehenden Öffentlichkeit vor allem vom sogenannten ‚Populationismus‘ geprägt. 116 Dieser forderte in seinen Grundzügen das Gegenteil der Ehegesetzgebung, weil er davon ausging, dass eine florierende (Land-)Wirtschaft von der Ver‐ fügbarkeit humaner Ressourcen abhängig sei. Da im 17. und 18. Jahrhundert territoriale Macht und herrschaftlicher Einfluss in starker Abhängigkeit von der Größe der Armee gesehen wurden und dazu Menschen (Soldaten) und Kapital (Steuerzahler) erforderlich waren, ging es darum, das eigene Territorium sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus militärischen Gründen zu bevölkern: Die Wirtschaft, die das Heer finanzierte, brauchte Arbeitskräfte und sollte potente Steuerzahler generieren. Das Militär benötigte möglichst viele Soldaten. „Comme cet axiome est certain que le nombre des peuples fait la richesse des États“, wird Friedrich der Große, der als idealtypischer und mächtiger Verfechter des Populationismus betrachtet werden darf, aus seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges zitiert. 117 Dabei war der preußische Herrscher durch Johann Peter Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts informiert. Die Schrift des brandenburgischen Pfarrers erschien 1741 und wurde in den 1760er Jahren in überarbeiteter Version neu aufgelegt. Sie ging im Grundsatz davon aus, dass die Bevölkerungsentwicklung einer göttlichen Ordnung folgte. Damit lagen ihr die Prämissen der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘ zugrunde, in der Natur das Wirken Gottes zu verorten. Süßmilch übte mit seinem Werk großen Einfluss auf den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs aus. 118 In der populationistischen Auffassung sollte sich die Bevölkerung also vermehren, weil sie das Fundament eines wirtschaftlich florierenden und militärisch schlagkräftigen Staates bildete. Sie stellte das Steuersubstrat des 81 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 119 Bickel, Bevölkerungsgeschichte, 11-12. 120 Behrisch, Berechnung, 18; Wyss, Reformprogramm, 148. 121 Pfister, Strom, 158. 122 Ebd. 123 Ebd., 158-159. 124 In Anlehnung an Michel Foucault wird in dieser Arbeit unter dem Begriff der Gouvernementalität eine „spezifische Regierungskunst, eine Kunst, die ihre eigene Vernunft hatte, ihre eigene Rationalität, ihre eigene ratio“ und zeitlich kontingent war, verstanden. Mit jeder spezifischen ‚Regierungsvernunft‘ verband sich eine je spezifische „Art und Weise des Regierens“ sowie eine einzigartige „Art und Weise des werdenden Staates dar und sollte daher wachsen. Wirtschaftspolitik und Macht‐ politik wurden somit in der Bevölkerungspolitik verschränkt. 119 Ökonomie und Demographie standen in unzertrennlicher Wechselwirkung zueinander. Diese Wechselwirkung determinierte die Macht und den Wohlstand eines Staates. Sie musste daher erfolgreich gesteuert werden, um die „Glückseligkeit“ in utilitaristischer Weise zu maximieren. 120 Für Berns Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert wurde bereits auf die herr‐ schende Ambivalenz von „pronatalistischen Massnahmen im medizinisch-öko‐ nomischen Bereich und von antinatalistischen Massnahmen im sozialen Be‐ reich“ in den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Handlungslogiken aufmerksam gemacht. 121 Bern litt im 18. Jahrhundert, wie auch andere Teile Europas, unter einer länger anhaltenden stagnierenden Bevölkerungsentwick‐ lung. 122 Deswegen wurden auf der einen Seite verschiedene ‚gesundheitspoli‐ ceyliche‘ Anstrengungen unternommen und Maßnahmen ergriffen, die auch in anderen Territorien Anwendung fanden, um das Wachstum zu fördern: Die Regierungen versuchten, die epidemiebedingte Sterblichkeit zurückzudrängen, indem sie Anleitungen zu Therapien und Hygieneanweisungen verbreiteten. Bern gründete 1778 eine Hebammenschule. Die professionalisierte Ausbildung der Geburtshelferinnen trug dazu bei, die Kindersterblichkeit und die Geburts‐ risiken für die Mütter zu reduzieren. Gleichzeitig unternahm die Obrigkeit verschiedene Anstrengungen, der Kontrazeption und der nachgeburtlichen Geburtenkontrolle konsequent vorzubeugen. Den Versorgungsengpässen in Krisensituationen versuchte man durch das Anlegen und Bewirtschaften von Vorräten in zunehmendem Maß Herr zu werden. Gleichzeitig wurde aber auf der anderen Seite „ein rechtliches Instrumentarium gegen die unerwünschte Eheschliessung in den Unterschichten aufgebaut“, das in der Umsetzung auch „zunehmend griffiger ausgestaltet“ wurde. 123 Darin konkretisiert sich für Bern exakt jene janusköpfige Entwicklung, die auch Foucault für den ungefähr gleichen Zeitraum in der Veränderung der gouvernementalen Logik im Allge‐ meinen beobachtet hat. 124 Er hat sie als Changieren zwischen „verschiedenen 82 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen Zur-Regierung-in-Beziehung-Stehens“. Foucault, Sicherheit, zuerst 414, dann 400; eine spezifische gouvernementale Logik umschreibt eine spezifische politische Rationalität. Thomas Lemke, Die politische Theorie der Gouvernementalität. Michel Foucault, in: Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 1, hrsg. v. André Brodocz/ Gary S. Schaal, 4. Aufl., 3 Bde., Opladen 2016, 479-500, 486-495. 125 Foucault, Biopolitik, 30. 126 Hull, Sexuality, 172-197. 127 Diese ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ (Ernst Bloch), den Übergang von einer ständisch-patriarchalen zu einer paternalistischen Regierungsweise und seine Effekte, beschreibt Sandro Guzzi-Heeb im Protoskript seiner voraussichtlich 2021 erschei‐ nenden Publikation in Kapitel VIII: L’amour de l’Etat pour le corps social exemplarisch. Ich möchte ihm an dieser Stelle ganz herzlich dafür danken, dass er mir dieses Skript so großzügig zur Verfügung gestellt hat. Sandro Guzzi-Heeb, Le sexe, l’impôt, les cousins. Une histoire sociale et politique de la sexualité moderne (1450-1830 ca.). Version provisoire. Publication prévue en 2022, 19-20. 128 Christian Pfister, Warum Pfarrer Jean-Louis Murets Abhandlung über die Bevölkerung der Waadt Anstoss erregte, in: Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759-2009), hrsg. v. Martin Stuber/ Peter Moser/ Gerrendina Gerber-Visser/ Christian Pfister, Bern, Stuttgart, Wien 2009, 95-98, 95; Wyss, Reformprogramm, 139-145. Bedeutungspolen“ politischer Ökonomien charakterisiert. 125 Auch Isabel V. Hull hat - für den deutschen Raum - im Übergang von der Ständezur bürgerlichen Gesellschaft auf den Widerspruch zwischen moralischen Schriften und polizei‐ wissenschaftlichen Administrationsbemühungen hingewiesen. 126 Im Ehegesetz fanden in dieser widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Atmosphäre zwischen utilitaristisch geprägtem Populationismus und der Wah‐ rung ständischer Partikularinteressen neue, zunehmend an Besitz gebundene Eheprivilegien Eingang. Dagegen beschäftigten sich die Reformer in der bevöl‐ kerungspolitischen Debatte mit der Frage, wie man Berns Agrarwirtschaft modernisieren und die Landschaft zur Beförderung des Handwerks und der Manufakturen stärker bevölkern könnte, um Wohlstand und Glück auszuweiten und stärker zu verbreiten. Einerseits hielt die Berner Obrigkeit im gedruckten Gesetz also an der ständischen Privilegienordnung fest. Andererseits regte die Oekonomische Gesellschaft Diskussionen an, in denen Gelehrte fortschrittsop‐ timistisch und auf die Zukunft ausgerichtet darüber debattierten, wie eine prosperierende Gesamtwirtschaft zu schaffen sei. Darin zeigt sich, wie für kurze Zeit zwei verschiedene Formen der Gouvernementalität nebeneinander existierten 127 - was, wie noch zu zeigen sein wird, in der Gerichtspraxis Wider‐ sprüche und Konkurrenz zwischen gegensätzlichen Urteilslogiken produzierte. In der europäischen gelehrten Öffentlichkeit grassierte seit den 1740er Jahren, entsprechend der populationistischen Diskussion, die spezifische Angst vor dem ökonomisch und militärisch bedrohlichen Szenario der Entvölkerung. 128 Der 83 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 129 Christian Pfister, Entvölkerung. Genese, handlungsleitende Bedeutung und Realitäts‐ gehalt eines politischen Erklärungsmodells am Beispiel des alten Bern in der Epoche der Spätaufklärung, in: Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete: neun Beiträge, hrsg. v. Urs Martin Zahnd/ Rudolf Endres, Erlangen 1990, 283-313, 301. 130 Christian Simon, Hintergründe bevölkerungsstatistischer Erhebungen in Schweizer Städteorten des 18. Jahrhunderts. Zur Geschichte des demographischen Interesses, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 34 (1984), 186-205, 198. 131 Pfister, Strom, 116-119; Pfister, Entvölkerung, 301. 132 Pfister, Entvölkerung, 307-308. 133 Pfister, Strom, 157-159. 134 Simon, Hintergründe, 195-201. An dieser Stelle lässt sich jener Bruch, den Foucault als Übergang von der Macht des Fürsten zur Macht des Souveräns charakterisiert, festmachen. Während der Fürst die Gesetze kennen und sie handhaben können muss, zeichnet sich der Souverän durch die Kenntnis der Dinge aus; „die Dinge, welche eben die Realität des Staates sind, das ist genau das was man damals ‚Statistik‘ nennt. Die Statistik ist etymologisch die Kenntnis des Staates, die Kenntnis der Kräfte und der befürchtete Rückgang der Bevölkerung nährte die Angst vor rückläufigen Sol‐ datenzahlen, 129 schwindenden Steuereinnahmen und mangelnder agrarischer Produktion zur Versorgung der Bevölkerung. In Bern wurde die Angst vor der Entvölkerung der ländlichen Gegenden anfangs der 1760er Jahre zusätzlich ge‐ schürt: Regierungsagenten, die in der Waadt Handwerker rekrutieren wollten, berichteten über die Entvölkerung ganzer Gegenden und untermauerten mit ihren Meldungen die entsprechenden Befürchtungen der Regierung. 130 Realhis‐ torisch dürfte diese Furcht vor der Entvölkerung, die auf der Grundlage heutiger Datenreihen haltlos erscheint, vor allem durch die Erfahrung der Epidemie der Roten Ruhr genährt worden sein. Sie hatte im Spätsommer 1750 5 % der bernischen Bevölkerung dahingerafft und kam damit in ihren demographischen Auswirkungen einem Pestzug gleich. Betroffen waren davon vor allem Kinder und Jugendliche. Als die betroffenen Jahrgänge in den Arbeitsprozess eintreten sollten, machte sich der Mangel an Arbeitskräften bemerkbar. 131 Außerdem schlug sich die demographische Entwicklung zu Zeiten des Siebenjährigen Kriegs im militärisch bedrohlichen Szenario einer sich verschärfenden Ab‐ nahme der Rekrutenzahlen in den Mannschaftsrödeln der Berner Herrschaften nieder. 132 Aufgrund dieser Erfahrungen lässt sich die zeitgenössische öffentliche Meinung relativ schlüssig erklären, obwohl Bern nach der Epidemie bis 1770 ein nachholendes und danach ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum aufwies. 133 Die Furcht vor der ‚Depopulation‘, die auch unter Gelehrten kursierte, weckte und beförderte das obrigkeitliche Interesse an der statistischen Erfassung der Bevölkerung. Die gute Herrschaft musste wissen, wie es um ihre Bevölkerung und somit ihre Steuereinnahmen und militärische Stärke stand. 134 Deswegen 84 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen Ressourcen, die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren. […] Also nicht mehr der Korpus der Gesetze oder die Geschicklichkeit, sie dann, wenn es sein muss, anzuwenden, sondern das Ensemble technischer Kenntnisse charakterisieren die Realität des Staates selbst.“ Foucault, Sicherheit, 396-397. 135 Pfister, Pfarrer, 97-98. 136 Behrisch, Berechnung, 17. 137 Ebd. 138 Vgl. zur Entwicklung der Demographie als eigenständige Disziplin und der wichtigen Rolle von Johann Peter Süßmilch Nipperdey, Erfindung, 412-421; zur Entwicklung und Übernahme statistischer Methoden in Bern vgl. Pfister, Pfarrer, 95-96; Gerrendina Gerber-Visser, Die Erfassung des Territoriums mittels Enquêten und beschreibender Statistik, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Ho‐ lenstein, Bern 2008, 41-45, 41; André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), Bd. 1, 2 Bde., Tübingen 2003, 101-106. 139 André Holenstein, Die Helvetik als reformabsolutistische Republik, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. v. Daniel Schläppi, Basel 2009, 82-104, 103. wollten die Berner Magistraten „den Zustand der Ungewissheit in diesem sicherheitspolitisch sensiblen Bereich überwinden, das Phänomen intellektuell unter Kontrolle bringen und damit einer Bewältigung durch Massnahmen zugänglich machen“. 135 Folglich wurden in diesem politischen Klima in Bern erste statistische Techniken zur Erhebung demographischer Daten wie Gebur‐ tenzahlen, Todesraten und Eheschließungsziffern übernommen, angewendet und entwickelt. Diese Entwicklung trug sich an verschiedenen Orten in Eu‐ ropa zeitgleich zu. Die Datenerhebungen und die damit gewonnenen Zahlen erhielten im hier beschriebenen Zeitraum eine ganz neue Bedeutung. Sie wurden zum Schlüssel der „Realitätserfassung“, 136 mutierten zur Grundlage für politische Entscheidungen schlechthin und wurden zum Ausgangspunkt obrigkeitlicher Planungen. Demographische und ökonomische Daten, die sich in Ziffern ausdrückten, wurden zum mächtigen Mittel der Rechtfertigung in der politischen Entscheidungsfindung. 137 Sie sollten fortan als rechnerische Grundlage für die gesamte weitere Planung und Umsetzung staatlicher Bevöl‐ kerungspolitik figurieren. 138 Empirie und Rationalität sollten die grundlegenden Prinzipien sämtlicher politischer Reformen werden. Die erhobenen Daten zur Bevölkerung wurden zu Faktoren der Regulierung und somit Dimensionen der Macht, weshalb sie von den Obrigkeiten meistens für ein sicherheitspolitisches Risiko erachtet und geheim gehalten wurden. Verfolgt wurde das Ziel, die Leis‐ tungsfähigkeit des Staates auf sämtlichen Ebenen zu steigern. So sollten Macht und Souveränität gegen innen und außen befördert werden. 139 Bevölkerung und 85 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 140 Behrisch, Berechnung, 17. 141 Gerber-Visser, Erfassung, 41. 142 Pfister, Entvölkerung, 284-285. 143 Wyss schreibt: „Obwohl die Zahlen dieser Pfarrerenquête den befürchteten Rückgang der Bevölkerung nicht bestätigten, blieb die Angst vor einer Entvölkerung sowohl bei der Regierung als auch in der Oekonomischen Gesellschaft bestehen. Die aus der Pfarrerenquête gewonnenen Bevölkerungszahlen wurden von der Obrigkeit im Interesse der ‚nationalen Sicherheit‘ nicht veröffentlicht und die vorherrschenden Befürchtungen damit auch nicht entkräftet.“ Wyss, Reformprogramm, 141; siehe auch Gerber-Visser, Erfassung, 44. 144 Martin Stuber, Die Oekonomische Gesellschaft Bern, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 36-40, 38; Wyss, Reformprogramm, 139-148. Wirtschaft wurden in ihrer Verbindung als Gegenstand und legitimatorisches Prinzip der Regierung entdeckt. 140 In diesem Licht muss auch die Volkszählung der Berner Regierung von 1764 betrachtet werden. Im Sommer dieses Jahres wurden sämtliche Pfarrer Berns von der Almosen-Revisions-Kommission aufgefordert, zwecks Datenerhebung von der Regierung zugestellte Fragebögen auszufüllen. 141 Die Fragebögen um‐ fassten unter anderem die Bezifferung der Taufen, der Todesfälle und der Eheschließungen. Aus rein statistischer Sicht hätten die erhobenen Daten die Angst vor einer drohenden Entvölkerung mildern können, da sie keine Anhalts‐ punkte für eine Entvölkerung lieferten. 142 Dennoch ebbte die Furcht vor dem Bevölkerungsschwund keineswegs ab. Sie war größer als das Vertrauen in die Zahlen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und der Staatsräson publizierte der Rat, der, trotz der gewonnenen Daten, Herrschaftskritik befürchtete, die Resultate der Zählung nicht. Dadurch ließ Berns paternalistische Regierung - aus heutiger Sicht - quasi die Chance aus, die grassierende Befürchtung einer Verkleinerung der Bevölkerung zu entkräften. 143 Die Oekonomische Gesellschaft von Bern und die Furcht vor der Entvölkerung Ganz im reformabsolutistischen Geist stand auch das Programm der Oekono‐ mischen Gesellschaft von Bern. Sie wurde im Jahr 1759 in Reaktion auf eine Missernte und die allgemein missliche Versorgungslage aufgrund des Siebenjäh‐ rigen Kriegs im umliegenden Europa von Johann Rudolf Tschiffeli gegründet. Es war auch die Oekonomische Gesellschaft, die über ihre zahlreichen personellen Querverbindungen mit den Berner Räten die Volkszählung angeregt hatte und dadurch zu deren Durchführung beitrug. 144 Das tat sie auf drei Wegen: erstens mit der Ausschreibung ihrer Preisfragen und den Veröffentlichungen der Preisschriften, die das Thema publik machten. Zweitens trugen Mitglieder 86 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 145 Wyss, Reformprogramm, 145-147; ebenso Gerrendina Gerber-Visser, Kindsmord, Kinds‐ aussetzung, „Ammkinder“, in: Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2006, 395, 41. 146 Bickel, Bevölkerungsgeschichte, 31. 147 Vinzenz Bernhard Tscharner zitiert nach: Stuber, Gesellschaft, 36. 148 Pfister, Strom, 338; Hans Rudolf Rytz, Geistliche des alten Bern zwischen Merkantilismus und Physiokratie. Ein Beitrag zur Schweizer Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Basel, Stuttgart 1971, 3. 149 Bickel, Bevölkerungsgeschichte, 30-31; Stuber, Gesellschaft, 36-40. 150 Vgl. Braun, Ancien Régime, 56. der Gesellschaft in ihrer Funktion als Ratsherren die Diskussion mittels Vor‐ stößen in den Großen Rat. Und drittens saßen Exponenten der Sozietät in der Almosen-Revisions-Kommission, also in genau jenem Gremium, das die Volkszählung umsetzte. 145 Die Sozietät bildete in den folgenden Jahren das eidgenössische Zentrum des zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Interesses: Sie wusste herausragende Denker ihrer Zeit in den eigenen Reihen - z. B. Albrecht von Haller, Niklaus Emmanuel Tscharner und Samuel Engel - und zählte namhafte Männer wie Hans Caspar Hirzel, Isaak Iselin, Carl von Linné, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau und Voltaire zu ihrem korrespondierenden Netzwerk. 146 Damit wirkte sie über die Eidgenossenschaft hinaus. Das umfassende Reform‐ programm der Sozietät sollte „‚die Lebenssäfte des Landes‘ in Gang setzen und ’dem schmachtenden Körper Nahrung, Gesundheit, Stärke und Wohlstand’ bringen“. 147 Anfänglich standen die agrarwirtschaftlichen Reformbestrebungen ganz deutlich im Mittelpunkt der öffentlich ausgeschriebenen Preisfragen und damit im Zentrum des Reforminteresses. So ergänzten sie das merkantilistisch gefärbte Vorgehen des bernischen Kommerzienrats, der mittels Förderung der lokalen Heimindustrien versuchte, eine aktive Handelsbilanz zu erwirken. 148 Seit den 1760er Jahren kamen vermehrt auch Zuschriften hinzu, die sich dezidiert bevölkerungspolitischen Fragen stellten, und als sich kameralistische und phy‐ siokratische Überlegungen zur Wirtschaft in spezifischer Weise zu überlagern begannen. 149 Außerdem wurde in diesen Zuschriften auch die Forderung nach einem neuen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungsverhältnis zwischen Regierung und Regierten, beziehungsweise zwischen dem sich ausbildenden modernen Staat und der Bevölkerung, laut. 150 Praktisch zeitgleich mit der erwähnten Bevölkerungszählung schrieb die Gesellschaft 1764 eine Preisfrage aus. Diese forderte als Antwort einen umfas‐ senden Bericht zum Zustand der Bevölkerung des gesamten Territoriums von Bern oder eines einzelnen Bezirks. In der Vorrede zu den publizierten Abhand‐ lungen und Beobachtungen kam Vinzenz Bernhard Tscharner, der Präsident der 87 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 151 Vinzenz Bernhard Tscharner, Vorrede, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 4 (1763), III-XI, VII-VIII. 152 In Bezug auf die fiskalische Belastung der Untertanen stellte Bern im 18. Jahrhundert allerdings einen europäischen Sonderfall dar. Aufgrund der Investition von staatlichen Gesellschaft, auf die Entvölkerung zu sprechen. Sie war seinen Aussagen zufolge im ganzen Land beträchtlich, aber an einigen Orten stärker ausgeprägt als an anderen. Bisher wäre der Bevölkerungsrückgang aber zu wenig analysiert und berechnet worden und die Bemühungen zu dessen Verhinderung zu spärlich ausgefallen. Der Staatsräson verpflichtet, gab er in populationistischem Geist zu Protokoll: „Ohne von diesem ersten grundgeseze aller bürgerlichen gesellschaften zu reden, daß nemlich ihre verfassung abzielen soll, so eine grosse anzahl von menschen, als immer nach den phisischen umständen des landes möglich ist, glüklich zu machen; wenn man das volk auch blosserdingen als das erste werkzeug der macht und stärke eines Staates betrachten will; so darf die erhaltung und vermehrung der einwohner nicht ohne schwächung desselben verabsäumet werden. Wir wünschten, daß das nachdenken über diese materie zu der entdekung sichrer und geschikter mittel, oder starker und dennoch der freyheit unnachtheiliger beweggründe führen möchte, diesem ausreissen so vieler unterthanen der Republik zu steuren, die der betrugliche reiz der fremden kriegsdienste, ein leichtgläubiger ehrgeiz, oder die blinde hofnung sich zu bereichern, täglich dem vaterlande entziehn.“ 151 Die von Tscharner hergestellten Beziehungen zwischen Bevölkerungsvermeh‐ rung, Wirtschaft und Glück sind nicht zu überlesen. Dabei kam der Vermehrung der Bevölkerung eine Vorrangstellung als ‚erstes Werkzeug der Macht und Stärke‘ des Staates zu. Um diese Ressource hatte sich der Staat zu kümmern. Damit wurde ihre - statistisch erfasste - Größe zum Maßstab für die Qualität der Regierungstätigkeit. Die Regierung musste Sorge um ihre Bevölkerung tragen. Dadurch trat sie in ein neues Beziehungsverhältnis zu ihren Untertanen. Diese Beziehung bestand fortan tendenziell nicht mehr darin, den Gehorsam der Untertanen per Disziplinierung und mittels effizienter Vollstreckung von Gesetzen einzufordern, sicherzustellen und im Gegenzug Schutz und Schirm zu gewähren. Vielmehr ging es jetzt darum, die Bevölkerung zu hegen und zu pflegen, sich mit ‚policeylichen‘ Maßnahmen um die Gesundheit und die Fruchtbarkeit des Volkskörpers zu kümmern, sodass dieser gedeihen konnte. Im Gegenzug verlangte der moderne Staat in statu nascendi quasi als Bezah‐ lung Loyalität in Form von patriotischer Liebe und steigenden fiskalischen Einnahmen. 152 Es ist hier für Bern die Geburtsstunde jener Politik zu beobachten, 88 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen Überschüssen auf dem europäischen Kapitalmarkt konnten hier die Steuern pro Kopf tief gehalten werden. Altorfer-Ong, Staatsbildung. 153 Foucault, gewissermaßen der Übervater des Konzepts der Biopolitik, beschreibt deren Kern wie folgt: „Eine der großen Neuerungen in den Machttechniken des 18. Jahr‐ hunderts bestand im Auftreten der ‚Bevölkerung‘ als ökonomisches und politisches Problem: die Bevölkerung als Reichtum, die Bevölkerung als Arbeitskraft oder Arbeits‐ fähigkeit, die Bevölkerung im Gleichgewicht zwischen ihrem eigenen Wachstum und dem ihrer Ressourcen. Die Regierungen entdecken, dass sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit dem ‚Volk‘, sondern mit einer ‚Bevölkerung‘ mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungs‐ weise und Wohnverhältnissen.“ Foucault, Wille, 31; vgl. auch Foucault, Sicherheit, 87. 154 Wyss, Reformprogramm, 145-146; Simon, Hintergründe, 201. 155 Foucault, Wille, 142. 156 Wyss, Reformprogramm, 148. deren Technologie in der Regierung der Bevölkerung besteht und von Foucault mit dem Begriff ‚Biopolitik‘ bezeichnet worden ist 153 . Mit ihren ausgeschriebenen Preisfragen thematisierte die Sozietät die Bevöl‐ kerungspolitik im Berner Kontext folglich explizit und öffentlich. Dadurch ergaben sich gleichzeitig zwei Gelegenheiten für die gelehrten Eliten, die zum Teil durchaus in einem Unterordnungsverhältnis zur aristokratischen Regierung der Stadtrepublik standen: Sie konnten in den Zuschriften ihre Mei‐ nungen und Einschätzungen zu vormals und eigentlich nach wie vor geheimen Staatsangelegenheiten öffentlich formulieren. Durch die Publikation dieser An‐ sichten flossen außerdem neuartige Informationen, insbesondere an gebildete Untertanen, was wiederum bei diesen eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik zuließ. 154 Für die vorliegende Studie sind einige Einsendungen auf die Preisfrage besonders interessant, weil sie sich explizit mit der Frage der richtigen obrigkeitlichen Ehepolitik auseinandersetzten. Diese Schriften fokussierten exakt jenen biopolitischen „Kreuzungspunkt von ‚Körper‘ und ‚Bevölkerung‘“, den Foucault „zur zentralen Zielscheibe für eine Macht“ erklärt hat, „deren Organisation […] auf der Verwaltung des Lebens […] beruht“. 155 Es sind dies in chronologischer Reihenfolge die Schriften von Benjamin Samuel Carrard (1765), Jean Bertrand (1765), Abraham Pagan (1765), Jean Louis Muret (1766) und Charles-Louis Loys de Cheseaux (1766). Sie offenbaren die Diskrepanz zwischen der bevölkerungspolitischen Debatte, die „eine grosse Bevölkerung als Massstab der Glückseligkeit unter allen Umständen“ propagierte, und dem rigiden Berner Ehegesetz. 156 Hier deutet sich bereits an, in welchem gouverne‐ mental induzierten Dilemma sich die Eherichter mit ihren Urteilen über weite Strecken des Untersuchungszeitraums befanden. 89 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 157 Für eine ausführliche Verortung Carrards bevölkerungspolitischer Position, die der Physiokratie nahe stand, und seiner natürlichen Theologie vgl. Rytz, Geistliche, 58-93; ebenso Hans Rudolf Rytz-Preiswerk, Art. Benjamin Samuel Carrard 2005. www.hls-dhs -dss.ch/ textes/ d/ D25872.php (26.08.2021). 158 Als Accessit werden kleinere Preise für weitere gute Zuschriften bezeichnet, die aber in den Augen der Jury nicht den Siegerpreis, meistens eine Goldmedaille, verdienten. Keller, Preisfragen. 159 Elie Bertrand, Wettschriften, welche die löb. öconomische Gesellschaft zum Druk erkennt hat, über des Herrn Grafen Michael Mniszechs, Starosts von Ivanow, Preis‐ frage: welches ist der wahre Geist der Gesezgebung, der zum endzweke hat den Feldbau, und in absicht auf diesen höchstwichtigen gegenstand die Bevölkerung, die Künste, und die Handlung in Aufnahme zu bringen, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 6 (1765), 13-40, 17. 160 Rytz, Geistliche, 1-19. Die publizierte Zuschrift, die sich am weitläufigsten mit der Eheschließung als Mittel zur Verhinderung der Entvölkerung der Landschaft auseinander‐ setzte, war jene aus der Feder des Theologen Benjamin Samuel Carrard. Sie verdient hier besondere Beachtung. Der Waadtländer hatte, sehr wahrschein‐ lich aufgrund der herrschenden kirchlichen Orthodoxie in Bern, auf eine Laufbahn als Pfarrer verzichtet und gehörte somit potenziell zu einer eher herrschaftskritischen Bildungselite in der Berner Landschaft. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung amtete er als Pfarrhelfer in Orbe, einer Gemeinde in der Waadt. 157 Für seine Schrift, die das Accessit für die Publikation erhielt, 158 wurde er mit einer silbernen Denkmünze ausgezeichnet. 159 Dies bedeutet, dass er mit seinen publizierten, kritischen Überlegungen zumindest im genannten halböffentlichen Raum der gelehrten Elite einige Aufmerksamkeit erregte. In seiner Zusendung an die Oekonomische Gesellschaft reflektierte er den Cha‐ rakter der Gesetzgebung, die eine Regierung zu erlassen hätte, um Wohlstand und Glück in der Bevölkerung zu steigern, also Fortschritt zu generieren. Die Schrift umfasste zwei Teile, die jene für das damalige Bern typische Mischung aus merkantilistischer und physiokratischer Wirtschaftspolitik wi‐ derspiegelten: 160 Der erste Teil konzentrierte sich auf die Möglichkeiten der Steigerung der agrarischen Ressourcen im Ackerbau und die gesetzlichen Maßnahmen, die dafür in physiokratischer Gesinnung in die Wege geleitet werden mussten. Voraussetzung für einen florierenden Staat stellte ihm zufolge eine intakte Landwirtschaft dar. Sie erforderte die Umsetzung einer Reihe paternalistischer Reformen, damit die landwirtschaftlichen Erträge bereits vor dem Einsetzen des Bevölkerungswachstums gesteigert werden konnten. Die Fortsetzungsschrift widmete sich der populationistischen Herausforderung, das Bevölkerungswachstum anzukurbeln. Denn dieses bildete für den Autor 90 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 161 Benjamin Carrard, Fortsezung der Wettschrift, welche wegen ihres vortreflichen Inhalts um den Vorzug gestritten. Zweyter Theil. In welchem der Geist der Gesezgebung, in absicht auf die Bevölkerung, entwikelt wird, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 6 (1765), 3-138, 5. 162 Ebd., 36. 163 Damit verweist Samuel Carrard auf exakt jenes Moment, das Michel Foucault in der Analyse der Physiokratie wie folgt beschreibt: „Man beginnt sie [die Bevölkerung] als eine Gesamtheit von Vorgängen zu betrachten, die man in ihrer Natürlichkeit und ausgehend von ihrer Natürlichkeit verwalten muss.“ Foucault, Sicherheit, 108. 164 Carrard, Fortsetzung, 37. 165 Ebd. 166 Ebd., 37-38. 167 Ebd., 42; der Terminus ‚Demokratisierung‘ in diesem Kontext ist bei Margreth Lanzinger entliehen. Sie weist in Hinblick auf die Verwandtenheiraten in Österreich im 19. Jahr‐ hundert auf diese hin. Lanzinger, Verwandtschaft, 25. die Grundlage eines prosperierenden Gewerbes und eines mächtigen Staats. 161 Dabei spielte für den Landgeistlichen die Heiratspolitik eine zentrale Rolle: „Eine kluge politic wird also erfordern, die heyrathen zu begünstigen, und ihre fruchtbarkeit aufzumuntern, um soviel mehr, als es zugleich das sicherste mittel ist, die Bevölkerung zu befördern“, lautete sein vorweggenommenes Fazit. 162 Zuvorderst unternahm der Theologe den Versuch, in aufklärerischer Manier zu beweisen, wieso die Ehe die populationistisch gesehen ‚nützlichste‘ Institu‐ tion der Fortpflanzung sei. Als Anhänger der sogenannten ‚natürlichen Theo‐ logie‘, gewissermaßen des aufgeklärten Flügels der zeitgenössischen Theologie, verwies er dabei unablässig auf den Sinn und die ‚Nützlichkeit‘ der göttlichen Ordnung. Sie befand sich in seinen Augen in vollkommener Harmonie mit Natur und Vernunft. 163 Außerhalb dieser natürlichen Ordnung waren, seiner Auffassung nach, die Frauen wesentlich weniger fruchtbar, wodurch das po‐ tentielle Wachstum der Bevölkerung nicht ausgeschöpft werden konnte. 164 Die Ehe war seiner Meinung nach auch das probateste Mittel zur Reduktion der Kindersterblichkeit. Nur Kinder aus ehelichen Verhältnissen erfuhren „die ganze sorgfalt eines vaters und einer mutter“ und hatten deshalb bessere Überlebenschancen. 165 Die erzieherische Vernachlässigung der Kinder hatte aber nicht nur Konsequenzen für deren Gesundheit und Sterblichkeit, sondern ließ sie in aufklärungspädagogischer Sichtweise auch zu „schlechte[n] glieder[n] der gesellschaft“ werden. 166 Dem utilitaristischen Beweis der Nützlichkeit der ehelichen Ordnung folgte ein Plan zu deren Ausweitung auf immer mehr Menschen: Als erstes forderte Carrard ganz grundsätzlich den Abbau von Ehehindernissen. Damit verband er unmissverständliche Forderungen nach Gleichheit. 167 Der Zugang zur Ehe sollte quasi demokratisiert werden, um „ihre freyheit auf festen fuß zu setzen“ und 91 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 168 Carrard, Fortsetzung, 39. 169 Ebd. 170 Ebd., 40. 171 Ebd. 172 Ebd., 46. 173 Ebd., 43-49. damit das Bevölkerungswachstum zu fördern. 168 Carrard deutete die Ehe somit explizit als nützliches Freiheitsrecht. Diese Freiheitsforderung war der Gegen‐ entwurf zum ständisch-patriarchalen Ehegesetz in Bern, das die Untertanen in zunehmendem Maß von der Ehe ausschloss. Dabei beabsichtigte Carrard mittels Eheschließungen „den wohlstand in allen classen der einwohner auszubreiten“ und „das glük aller bürger gleich zu verschaffen“. 169 Im Zuge dieser Forderung verlangte der Theologe die Reduktion von Abgaben der Untertanen: „[D]urch die fehler der Regierung, durch schwere auflagen, durch einen mangel des schuzes zum vortheil der anschlägigkeit, durch vereinigung aller glüksgüter auf wenige geschlechter, durch vorzüge, die man einem allzuzahlreichen adel gestatet“, müsse die Zahl der Eheschließungen und damit die Fruchtbarkeit sinken. 170 Dieser Anspruch auf Demokratisierung der Eheschließung aus der Feder eines Waadtländer Pfarrhelfers in einem Herrschaftsgebiet mit vermeint‐ lich abnehmender Bevölkerung muss folglich als massive aufklärerische Kritik an einer patrizischen Regierung interpretiert werden - so auch wenn er schrieb: „Diese üble politic verstopft die quellen ihres reichthums sehr geschwinde: sie macht, daß die anzahl der Heyrathen abnihmt, daß das volk und mit demselben die summ der abgaben sich vermindert.“ 171 Auf die Grundsatzforderung nach der Demokratisierung der Eheschließung folgten in Carrards Argumentation sieben weitere Maßnahmen zur „aufmunte‐ rung zum Heyrathen und zur fruchtbarkeit“. 172 Diese erscheinen aus heutiger Sicht teilweise eher disparat. Sie umfassten so unterschiedliche Anliegen wie die Förderung der Fischzucht zur Steigerung der Ernährungsgesundheit, die Steuerung des mütterlichen Stillverhaltens, die Verhinderung der Abwanderung von Bauern in die Stadt sowie typische zeitgenössische Luxuskritik, die die Verkleinerung des Dienstbotenstandes forderte und eine ‚natürliche‘ Lebens‐ weise propagierte. 173 In ihrem Kern mahnten sie aber immer die Sorgfaltspflicht der Obrigkeit gegenüber ihrer Bevölkerung an und fußten im Wesentlichen auf dem Ziel der Bevölkerungsvermehrung. Im Hinblick auf die weiter unten zu untersuchende Ehegerichtspraxis und die ehepolitische Urteilslogik der Richter interessieren insbesondere die Forderung nach der Bekämpfung der Unkeuschheit und die allgemeine Stigmatisierung von Ehelosigkeit und Wit‐ wenheiraten. Im Zusammenhang mit der Unkeuschheit kontrastierte Carrard 92 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 174 Ebd., 47-48. 175 Ebd., 47. 176 Auf ähnliche Kritik an der Handhabung der Gesetze durch die Chorgerichte sind wir bereits weiter oben im Zitat aus den Akten der Kommission über den Verfall der Religion gestoßen. Vgl. StABE, B III 179, fol. 39. 177 Carrard, Fortsetzung, 47-48. 178 Ebd., 50. 179 Ebd., 53. 180 Carrards Auffassung des Eigensinns als elterlicher Egoismus entspricht der Inversion jenes Eigensinns, den das Oberehegericht gewissen ehewilligen Akteuren zuschrieb und der weiter unten thematisiert wird. Während vor dem Oberehegericht vor allem die opponierenden Parteien den Heiratswilligen Eigensinn unterstellten, verurteilte Carrard hier gerade umgekehrt den elterlichen Widerstand gegen gewisse Ehen als eigensinnig, womit er seine reformorientierte bevölkerungspolitische Haltung gegen‐ über einer patriarchalen Ehepolitik verdeutlichte. 181 Carrard, Fortsetzung, 53. in idealtypisch aufklärerischer Weise die leidenschaftliche mit der vernünftigen Liebe. Den Ursprung der Leidenschaft verortete er in der „sträflichen lust“ und der „anziehende[n] kraft“, die „eine unaufhörliche verschiedenheit“ aus‐ löste. 174 Ihr stellte er die „innigste […] verbindung“ gegenüber, die aus einer „gegenseitigen hochschäzung, aus einer gemeinschaftlichen dienstfertigkeit“ und der gemeinsamen Kindererziehung herrührte. 175 Um die beständigen und ungleich fruchtbareren Eheverbindungen zu fördern und den außerehelichen Leichtsinn zu bekämpfen, forderte der Theologe die konsequente Durchsetzung strenger Sittengesetze mittels disziplinierender Strafen. 176 Die Richter müssten unabhängig vom Stand der devianten Subjekte unparteiisch und konsequent urteilen, weil ansonsten die Gesetze wirkungslos würden. 177 Im Rahmen einer „gesunde[n] staatskunst […] unter einer guten Regierung“ propagierte Carrard außerdem die allgemeine Stigmatisierung des ehelosen Standes und die Heiraten von Witwen. 178 Dazu forderte er unter anderem explizit die Senkung des gesetz‐ lichen Ehemündigkeitsalters, um „die kinder nicht allzulange der väterlichen gewalt zu unterwerfen, und dieselben vor dem unwillen der väter in sicherheit zu sezen“. 179 Die Obrigkeit sollte also das patriarchale Zugrecht eindämmen, um die Ehen ihrer Bevölkerung in jüngerem Alter zu fördern. Denn Eltern würden zusehends aus „hochmuth, eigennuz, oder nur aus eigensinn“ ihre Kinder in deren fruchtbarsten Jahren am Heiraten hindern und „durch übelangewendte widersprüche für immer das heyrathen ekelhaft machen“. 180 Daneben sprach er sich für die Bekämpfung von Witwenheiraten aus, weil er sie aufgrund der zum Teil großen Altersdifferenz der Ehepartner oder des hohen Alters beider involvierter Eheleute für unnatürlich und ungesund hielt. 181 Deswegen „sollten 93 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 182 Ebd., 52-54. 183 Karin Marti-Weissenbach, Art. Jean Bertrand 2002. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D495 02.php (26.08.2021). 184 Jean Bertrand, Wettschrift, welche den Preis erhalten: quid verum atque decens curo & roto, & omnis in hoc fum, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekono‐ mische Gesellschaft zu Bern gesammelt 6 (1765), 41-132, 75. 185 Gerrendina Gerber-Visser, Art. Pagan, Abraham 2009. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D4 9502.php (26.08.2021). 186 Abraham Pagan, Versuch über die Aufgabe: welches ist der wahre Geist der Gesezge‐ bung, die zum Endzweke hat, den Feldbau, und in Absicht auf diesen höchstwichtigen Gegenstand, die Bevölkerung, die Künste und die Handlung in Aufnahme zu bringen. Eine Wettschrift, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 6 (1765), 139-250. 187 Es geht hier um jene Abgrenzung, die Michel Foucault zwischen den Regierungsweisen des Fürsten und des Souveräns gemacht hat. Während der Fürst ein Territorium regiert und von seinen Untertanen Gehorsam verlangt hatte, sollte in der neu entstehenden Regierungskunst die Bevölkerung umsorgt und regiert werden. die geseze mit der natur übereinstimmen, und einen ekel ab dergleichen Ehen einflössen.“ 182 Carrard war mit seinem detailreichen Vorschlag zur Förderung der Ehe zwecks Bevölkerungsvermehrung zwar sehr konkret und pointiert und hat hier deswegen detaillierte Erwähnung erfahren. Er war aber keineswegs allein. Mit ihm konkurrierte Jean Bertrand, der die Preisfrage gewann. Dieser war ebenfalls ein Waadtländer Theologe und der Bruder des ungleich bekannteren zeitweiligen Sekretärs der Oekonomischen Gesellschaft Elie Bertrand. 183 Und auch er war der Meinung, dass „Heyrathen ohne widerspruch die versichertsten und tüchtigsten mittel sind, dem Staate kinder zu verschaffen und zu seinem nutzen zu erziehn“. 184 Neben den zwei Theologen, die mit ihren Schriften um den ersten Platz konkurrierten, meldete sich auch noch Abraham Pagan, Sekretär der Zweigstelle Nidau der Oekonomischen Gesellschaft, 185 auf dieselbe Preisausschreibung mit einem Beitrag, der allerdings keine Auszeichnung erhielt. 186 Er teilte mit den beiden Vorgängern die populationistische Sicht und sprach sich deshalb ebenfalls für die Vermehrung der Eheschließungen aus. Allen erwähnten Autoren waren, neben geringfügigen Nuancen, zentrale Gemeinsamkeiten in ihrer Auffassung zur Bevölkerungspolitik zu eigen: Der größte Reichtum eines Staates war in ihren Augen dessen Bevölkerung. Je größer die Bevölkerung, desto mächtiger der Staat, desto prosperierender die Wirtschaft, desto größer und verbreiteter letztlich das Glück und der Wohlstand. Durch diese Spielart des Utilitarismus wurde aus Untertanen eine Bevölkerung, die ihrerseits zum zentralen Objekt der Regierung avancierte. 187 Eine schwindende Bevölkerung wurde zum maßgebenden Indikator verfehlter 94 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 188 Foucault, Sicherheit, 157. 189 Foucault, Biopolitik, 33. Herrschaftstätigkeit. Eines der ‚nützlichsten‘, also in utilitaristischem Sinn effektivsten populationistischen Mittel, um die Fruchtbarkeit und Fortpflanzung zu steigern, war eindeutig die Förderung der Eheschließungen. Dadurch wurde die Institution der Ehe unmittelbar mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht. Die Ehe, interpretiert als Ausgangspunkt der Familie, wurde zu jenem „Element innerhalb der Bevölkerung“, das Foucault in seinen Analysen zur Gouverne‐ mentalität „als grundlegendes Relais zu deren Regierung“ bezeichnet hat. Die Ehe wird in seinen Worten ein „privilegiertes Segment, weil man, wenn man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muss“. 188 Die Ehe war natürlich, nützlich und gesund und entsprach in der Logik der natürlichen Theologie zugleich der moralischen göttlichen Ordnung. Diese und die Natur befanden sich folglich in vollkommenem Einklang. Indes avancierte die Eheschließung damit in der Auf‐ fassung dieser Populationisten zu einem Naturrecht, das es unter den Auspizien des Fortschritts zu fördern galt. Nach physiokratischem Vorbild sollte die Natur zum Ausgangspunkt sämtlicher Beziehungen werden und deren Steuerung determinieren. Die Regenten hatten das Wesen dieser Natur zu erkennen, um demselben zum Durchbruch zu verhelfen. Der Fortschritt folgte der Natur. Insofern ging „der Ausübung der Gouvernementalität“ in dieser Auffassung „eine bestimmte Natürlichkeit, die der Regierungspraxis selbst eigentümlich [war]“, voraus. 189 Eheschließungen konnten durch eine paternalistische Regierung mit ver‐ schiedenen wirtschaftlichen und gesetzlichen Mitteln gefördert werden. Am stärksten betont wurde in den Forderungen die Herabsetzung gesetzlicher und finanzieller Zugangskriterien zur Ehe. Gleichzeitig sollten Eheschließungen mittels Vorsorgefonds, Steuern und Verdienstmöglichkeiten für Mittellose sub‐ ventioniert und mit dem exklusiven Zugang zu Ämtern für die Aristokratie privilegiert werden. Aber auch die Förderung bestimmter Gewerbe und die Bekämpfung des Luxus sollten die Eheschließungen vermehren. Mit diesen Maßnahmen war implizit die Forderung nach der Demokratisierung der Ehe verbunden. Die bevölkerungspolitischen Zuschriften und ihre Autoren standen somit in einem fundamentalen Widerspruch zur ständischen Eheordnung und deren patriarchalen Gesetzen. Die hier vorgestellte propagierte fortschrittsop‐ timistische und reformorientierte Bevölkerungspolitik verband sich außerdem mit einer spezifischen Kritik am Luxus und der ständischen Ordnung: Das 95 1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik 190 Carrard, Fortsetzung, 39. 191 Ebd. 192 Guzzi-Heeb, Sexe. standesgemäße Leben und die damit verbundene ‚Üppigkeit‘ verschlangen dem‐ zufolge finanzielle Mittel und humane Ressourcen in Form von Dienstpersonal, die man besser für Eheschließungen einsetzen konnte. In dieser biopolitischen Logik traten Regierung und Regierte in ein spezifi‐ sches Beziehungsverhältnis. Dieses war diskursiv tendenziell von ‚Zärtlichkeit‘, ‚Zuneigung‘ und ‚Liebe‘ geprägt und fand mehr Entsprechung in der elterlichen Liebe zu den Kindern als in der strengen patriarchalen Disziplinierung. Die Sorge um die Bevölkerung zeichnete sich als oberste politische Maxime dieser Populationisten ab. Wie der liebevolle Vater seinen Kindern, sollte sich „das Vaterland“ seiner Bevölkerung zuwenden. 190 Wie „eine zärtliche mutter […], die für alle die eine zärtliche sorgfalt trägt, denen sie das leben gegeben hat“, musste sich die Regierung um ihre Bürger kümmern. 191 Damit benannte Carrard exakt jene Liebesanalogie, auf die Sandro Guzzi-Heeb hinweist, wenn er anführt, dass die Aufklärung die Liebe zum generellen Beziehungscode erklärt hatte. In der Überlagerung von elterlicher Liebe, Patriotismus und paternalistischer Zuneigung des Souveräns für seine Bevölkerung kam hier eine neue umfassende gouvernementale Logik zum Ausdruck: „Les politiques de reproduction, les interventions poupulationnistes sont conceptualisées en terme d’actes pour le bien-être du peuple.“ 192 1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret Im gleichen politischen Klima wie Carrard, Bertrand und Pagan trat ein Jahr später der waadtländische Geistliche Jean-Louis Muret mit einer Zuschrift an die Oekonomische Gesellschaft von Bern auf. Auch seine Abhandlung beschäftigte sich mit dem Zustand der Bevölkerung, allerdings explizit mit derjenigen in der Waadt. Seine Feststellungen und die daraus abgeleiteten Forderungen zur Bevölkerungsvermehrung unterschieden sich höchstens geringfügig vom bisher Präsentierten. In Bezug auf die Eheschließung forderte auch er ihre Begünstigung aus den bereits bekannten ökonomischen, gesundheitlichen und 96 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 193 Jean-Louis Muret, Abhandlung über die Bevölkerung der Waadt. Eine Preisschrift von Hrn. Muret Oberstpfarrherrn, und der Oekonomis. Gesellschaft Sekretär, zu Vivis, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 7 (1766), 1-140, 105. 194 Ebd., 7. 195 Malthus thematisiert Muret, dessen Daten und Methode in seinem Essay on the Principle of Population eingehend. Thomas Robert Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölke‐ rungsgesetz. Eine Untersuchung seiner Bedeutung für die menschliche Wohlfahrt in Vergangenheit und Zukunft, nebst einer Prüfung unserer Aussichten auf eine künftige Beseitigung oder Linderung der Übel, die es verursacht, Nachdr. der 6. Aufl. von 1826, Jena 1905, 307-329; Cem L. Behar, Le pasteur Jean-Louis Muret (1715-1796). De la controverse sur la dépopulation à l’analyse démographique, in: Population (French Edition) 51 (1996), 609-644; Gerber-Visser, Erfassung, 45. 196 Muret, Abhandlung, 60-62. moralischen Gründen. 193 Die populationistische Logik dahinter glich der seiner Vorgänger. Verbal in seiner Kritik nicht expliziter als Carrard, machte auch er die Berner Obrigkeit für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich. Die gegenwärtige Entvölkerung erfolgte laut Muret „aus moralischen gründen“. 194 Die sittlichen Zustände in Bern spiegelten in seiner Sicht die verfehlte Bevölkerungspolitik der Obrigkeit. Was seine Studie allerdings von den Darstellungen der zuvor präsentierten Populationisten grundlegend unterschied, waren die statistische Datengrundlage und die mathematische Methode, die er anwandte und die nachhaltigen Eindruck hinterließen. 195 Sein Vorhaben in Bezug auf die Ehe‐ schließung exemplifizierend, formulierte er: „Was […] den ehestand belanget, wenn solcher gegen den ledigen stande verglichen wird, so begreiffet man leicht, daß der vorzug auf der seite des standes sey, der den absichten des Schöpfers entspricht. Da Mann und Weib zum Ehestande beruffen sind, so ist es voraus zu vermuthen, daß ihnen die erfüllung dieses beruffes nicht schädlich seyn, sondern vielmehr zu ihrer gesundheit und erhaltung des lebens beytragen soll; allein das ist eine würkliche wahrheit, die sich besser durch berechnung, als durch theologische gründe erweisen läßt.“ 196 Schon seit 1761 arbeitete der Pfarrer Muret als Sekretär des Ablegers der Oekonomischen Gesellschaft in Vevey - dessen Gründer er auch war - an seiner Studie zur Waadtländer Bevölkerungsentwicklung. Dazu erhob er eine Reihe von Daten, die zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten. Er berief sich in seiner Analyse daneben auf die von der Regierung erhobenen Zahlen der Volks‐ zählung von 1764 sowie auf Taufziffern aus 46 Kirchgemeinden. Diese hatte er sich von Pfarrkollegen liefern lassen. Das erworbene Datenmaterial breitete er auf 270 Seiten aus. Davon waren 130 Seiten Text, die gewissermaßen einen 97 1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret 197 Ebd., 7; 9. 198 Ebd., 16; Pfister, Pfarrer, 96. 199 Muret, Abhandlung, 7. 200 Pfister, Pfarrer, 97; Foucault schreibt über die „Notwendigkeit der Geheimhaltung“ von statistischem Datenmaterial in seiner Analyse der Gouvernementalitäten außerdem Folgendes: „[…] das Wissen, das der Staat von sich selbst und aus sich heraus formen muss, dieses Wissen riskiert, eine gewisse Anzahl seiner Effekte einzubüßen und nicht die Folgen zu haben, die man von ihm erwartet, wenn im Grunde alle Welt wüsste, was geschieht, und besonders die Feinde des Staates, die Rivalen des Staates durften nicht wissen, welches die wirklichen Reserven an Menschen, an Reichtümern usw. sind, über die er verfügt.“ Deswegen wurden solche Daten vom Souverän als „Geheimnisse der Macht“ behandelt. Foucault, Sicherheit, 397-398; zur Arkanpolitik: Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahr‐ hundert, Tübingen 1995, 13; 34. 201 Anonym, Vorrede, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 7 (1766), I-IV, II. 140 Seiten langen Anhang, bestehend aus Tabellen und Bevölkerungszahlen unterschiedlichster Art, ausführlich und detailreich kommentierten. 197 Auf die genannten, staatspolitisch betrachtet vertraulichen, Bevölkerungsdaten hatte er nur in seiner Funktion als Pfarrer Zugriff. Aus seinen Datenreihen zur Waadt, die er für repräsentativ für das gesamte Berner Territorium hielt, 198 leitete er induktiv den Befund ab, dass sich die Bevölkerung im Rückgang befinde. 199 Damit stellte er seine Herrschaftskritik auf eine Grundlage, die wesentlich mehr Sprengkraft enthielt und folglich ungleich höhere Wellen in der politischen Öffentlichkeit von Bern schlug als die bisher vorgestellten Schriften. Mit seiner umfangreichen Schrift veröffentlichte er sicherheitspolitisch sensibles Datenmaterial und stellte damit die Regierung bloß, die eine strikte Arkanpo‐ litik verfolgte. Das oberste Prinzip dieser Politik war die Geheimhaltung von Regierungsgeheimnissen. 200 Die statistisch ausgewiesene Obrigkeitskritik, die durch Murets Studie zum Ausdruck kam, wurde durch die Vorrede der Oekonomischen Gesellschaft noch verschärft. Unter expliziter Bezugnahme auf die Bevölkerungsanalysen des Pfarrers wurde im Vorwort bemerkt, dass eine erfolgreiche Regierung ihre Bevölkerung zu vermehren wissen würde: „In diesem neuen Jahrgange erscheinet vorerst die längste angekündete Abhandlung von dem Zustande der Bevölkerung unsers Landes. Ein immer wichtiger gegenstand. Denn darauf kommt alle Staatskunst an; die kenntniß von der zahl und geschäftigkeit der Untergebenen ist einem Fürsten unentbehrlich. Sein beruf, seine vorschrift ist, die gröste mögliche zahl von menschen zu beglüken. Die Bevölkerung ist die probe der Regierung. Ist jene blühend, ist sie im anwuchse; so schliessen wir, die verfassung, und welches eine folge davon ist, die verwaltung ist gut.“ 201 98 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 202 Hans Rudolf Rytz-Preiswerk, Art. Jean Louis Muret 2009. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D26080.php (26.08.2021). 203 Regula Wyss/ Gerrendina Gerber-Visser, Formen der Generierung und Verbreitung nützlichen Wissens. Pfarrherren als lokale Mitarbeiter der Oekonomischen Gesell‐ schaft Bern, in: Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, hrsg. v. André Holenstein/ Martin Stuber/ Gerren‐ dina Gerber-Visser, Heidelberg 2007, 41-64, 42; Wyss, Reformprogramm, 146. 204 Muret, Abhandlung, 68-69. 205 Ebd., 70. Berns Bevölkerung schien im Rückgang begriffen. Ergo wurde hier unverhohlen formuliert, dass die Potentaten Berns die angesprochene Probe nicht bestanden und ihre Pflicht nicht erfüllt hatten. Der Erfolg einer Regierung wurde im Geist der aufgeklärten Staatsräson von den gelehrten Zeitgenossen an ihrer Bevölkerungspolitik und der Zahl der Untertanen gemessen. Murets Kritik traf die Berner Obrigkeit also im Kern ihres eigenen Herrschaftsverständnisses. 202 Die Ausführungen des Geistlichen waren folglich politisch höchst brisant. Ein Untertan aus der Waadt - als Pfarrer zwar zweifellos gebildet und vor Ort eine besondere Zwitterstellung zwischen Obrigkeit und Lokalbevölkerung einnehmend, aber trotz dieses Wissens und seiner Stellung als lokaler Beamter von der politischen Partizipation ausgeschlossen 203 - kritisierte mehr oder weniger öffentlich die Bevölkerungspolitik der gnädigen Herren von Bern: „Obwohl indessen aus der vergleichung der Tauf- und Todtenregister erhellet, daß (wenn jedoch die Auswanderung ausgenommen wird) sogar bey dem gegenwärtigen zustande der sache, ein ziemlich beträchtlicher überschuß, und ein sicheres erholungs‐ mittel vorhanden wäre, das land wieder zu bevölkern, so fehlet doch noch vieles daran, daß das land alle seine vortheile sich zu nuzen mache.“ 204 In Murets Argumentation erschien die restriktive Ehegesetzgebung, die eine große Zahl der Menschen von der Ehe ausschloss, nicht nur nutzlos, son‐ dern vollkommen verfehlt. Denn sie verhinderte, dass sich die Bevölkerung vermehrte, obwohl genügend Ressourcen dazu vorhanden waren. 205 Murets preisgekrönte Schrift brachte das politische Parkett von Bern zum Beben: Eine konservative Mehrheit im Rat stieß sich daran, dass Mitglieder aus den eigenen Reihen in einer privaten Vereinigung - gemeint war die Oekonomische Gesellschaft - einer Kritik Raum boten, die die Wirksamkeit der obrigkeitlichen Bevölkerungspolitik offen in Frage stellte. Albrecht von Haller, der zu dem Zeitpunkt amtierender Präsident der Oekonomischen Gesellschaft war, wurde daraufhin vom amtierenden Schultheißen Johann Anton Tillier vorgeladen. Der Regierungsvorsteher tadelte den Repräsentanten der Sozietät für die öffentliche Einmischung in staatspolitisch sensible Angelegenheiten. Haller thematisierte 99 1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret 206 Vgl. Martin Stuber, „Vous ignorez que je suis cultivateur“. Albrecht von Hallers Kor‐ respondenz zu Themen der Ökonomischen Gesellschaft Bern, in: Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, hrsg. v. Martin Stuber/ Stefan Hächler/ Luc Lienhard, Basel 2005, 505-541, 533. 207 Emil Erne, Art. Helvetische Gesellschaft 2007. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D16429.ph p (26.08.2021); die 1761/ 62 von einem aufklärerisch gesinnten Freundeskreis gegründete Sozietät vereinigte in sich die prominentesten eidgenössischen Aufklärer dieser Zeit. Ihre reformerischen Vertreter waren bestrebt, die aufklärerischen Denker und Theore‐ tiker in einer gesamteidgenössischen Gesellschaft zusammenzuführen. Die Helvetische Gesellschaft war ein Forum für die Diskussion von Reformen in den Alten Orten der Eidgenossenschaft, deren politische Systeme zunehmend zu Abschließung und Stagnation führten. Gleichzeitig wurde hier so etwas wie ein gesamtschweizerischer Patriotismus entwickelt und eingeübt. Erne, Sozietäten, 35-40. 208 Wyss, Reformprogramm, 143; Pfister, Pfarrer; Braun, Ancien Régime, 55-57. 209 Maria-Cristina Pitassi, Art. Charles-Louis Loy de Cheseaux 2008. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D31227.php (26.08.2021). 210 Charles-Louis Loys de Cheseaux, Versuch über die Preis-Frage von der Bevölkerung oder Entvölkerung des Kantons, ihren Ursachen, Wirkungen und Mitteln etc., in: die Vorladung in einem Schreiben an Samuel Auguste André Tissot: Man fürchte sich in Bern vor privater Kritik an der Regierungspraxis, womit er gleich noch die Ignoranz der in seinen Augen konservativen Regierung der Kritik aussetzte. 206 Murets Studie und die ebenfalls kritische Stellungnahme der Oekonomischen Gesellschaft in der Vorrede zum selben Heft der Abhandlungen führten in der Folge dazu, dass der Rat der Sozietät die Beschäftigung mit regierungsrelevanten Themen - was im zeitgenössischen gouvernementalen Verständnis bevölke‐ rungspolitische Gegenstände waren - untersagte. Zusätzlich verbot man den Regierungsmitgliedern der Gesellschaft die Teilnahme an den Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft. 207 Es wurde befürchtet, dass durch regierungs‐ kritische Gesellschaftsglieder Bernische Staatsgeheimnisse nach Schinznach getragen würden und den Miteidgenossen zu militärischen, demographischen und wirtschaftlichen Vorteilen verhelfen könnten. In konservativen Regierungs‐ kreisen bestand die latente Angst vor politischem Einfluss aus den aufkläreri‐ schen Kreisen der Helvetischen Gesellschaft. Die Ableger der Oekonomischen Gesellschaft in Berns Landschaft wurden mittels Mandat vom 20. September 1766 fortan unter die Aufsicht der betreffenden Landvögte gestellt. 208 Nach Muret meldete sich noch Charles-Louis Loys de Cheseaux mit einer populationistischen Zuschrift zum Zustand der Bevölkerung, worin die Förde‐ rung der Eheschließung wiederum eine wesentliche Rolle für das Bevölkerungs‐ wachstum spielte. 209 Die Schrift war in ihrer Tonalität allerdings ausgesprochen zurückhaltend. Trotzdem wurde auch dort in der „Seltenheit der Ehen“ eine maßgebliche Ursache für den Bevölkerungsrückgang gesehen. 210 Der gemäßigte 100 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen Abhandlungen und Beobachtungen durch die Oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt 7 (1766), 3-107, 21. 211 Wyss, Reformprogramm, 29. 212 Karin Marti-Weissenbach, Art. Albrecht Stapfer 2012. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles / 026174/ 2012-02-28/ (26.08.2021). 213 Stapfer, Auferziehung, 98. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Ebd. Ton dürfte eine direkte Folge der vorausgegangenen Rüge von Seiten der Obrigkeit an die Adresse Murets und der Oekonomischen Gesellschaft gewesen sein. Auch die Oekonomische Gesellschaft war offensichtlich darum bemüht, die Wogen zu glätten, wenn sie im Vorwort zu Loys Schrift die Hoffnung ausdrückte, eine der Regierungsmeinung entgegengesetzte Position publizieren zu dürfen, ohne dass ihr politisches Kalkül zur Last gelegt würde. 1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung Schon in den 1760er Jahren gab es in der Oekonomischen Gesellschaft allerdings auch Stimmen, die dem propagierten Populationismus gegenüber kritisch einge‐ stellt waren. Sie schlugen eine ganz andere, nämlich patriarchale Ehepolitik vor, die viel stärker „der Tradition des Hausvater-Modells“ folgte 211 - so zum Beispiel der Berner Landgeistliche Albrecht Stapfer, 212 der für einen prosperierenden Landbau klassisch anmutende patriarchale Maßnahmen propagierte: Die Eltern sollten darauf achten, dass ihre Kinder eher spät heirateten, weil in seinen Augen Verehelichungen in jungen Jahren meistens unglücklich endeten. 213 Wer sich dagegen im reifen Alter traute, tat das nicht „aus einem jugendlichen und hizigen triebe“, sondern „[gründet] sich zugleich auf vernunft“, woraus eine „zärtliche und unzertrennliche freundschaft“ in der Ehe resultiere. 214 Diese Beziehungsgrundlage ließ auch in der Auffassung des Vikars den Nachwuchs „gesünder und stärker“ werden, weil die Erziehung in diesen kooperativen Ehen besser gewährleistet werden könne. Zudem stellte diese Freundschaft die Basis dar, um „einem hauswesen recht vorzustehen“. 215 Die Verantwortung lag nach Stapfers Auffassung bei den Eltern, „dass sie ihren kindern nicht allzuviele freyheit in dieser so wichtigen sache gestatten“. 216 Vätern und Müttern oblag es, ihre Kinder von „böser gesellschaft“ in „weinhäuser[n]“ fernzuhalten. 217 Denn dort würde sich die ausgelassene Jugend treffen, die Söhne und Töchter 101 1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung 218 Ebd; zur aufklärerischen Kritik an den Ritualen der Eheanbahnung, die vor allem in der ländlichen Kultur ihren festen Platz hatten, kommt die Arbeit in Teil B noch ausführlicher zu sprechen. Spezifisch für Bern war der sogenannte ‚Kiltgang‘. Dieser wird beschrieben in: Christian Rubi, Liebstes Herz, ich bitte dich! Liebeszeichen und Verlobungsbräuche im Bernerland, Wabern 1969, 72-79; vgl. außerdem allgemein zu ländlichen Eheanbahnungsritualen Lischka, Liebe. 219 Stapfer, Auferziehung, 99. 220 Ebd. 221 Ebd., 96. verführte. Er warnte in durchaus aufklärerischem Duktus vor den ländlichen Gepflogenheiten der Eheanbahnung, die entweder zu unglücklichen Ehen oder einem zahlreichen unehelichen Nachwuchs führen würden. 218 Stapfer forderte deswegen, dass die Eltern besonders die Schamhaftigkeit ihrer Söhne pflegten. Sie sollten diese fördern, indem sie den männlichen Nachwuchs abends im Haus behielten. Dadurch würden die Söhne vom nächtlichen Umherschweifen ab- und somit von den liederlichen Mägden ferngehalten, die in Stapfers Vorstellung nur listig danach trachteten, die Söhne „anzuloken“. 219 Aus den elterlich unkontrollierten Verbindungen konnten nur zwei denkbar schlechte Szenarien resultieren. Entweder mussten die Eltern eine Frau in ihrem Haus aufnehmen, die ihnen missfiel, oder der Sohn musste in einer hier ständisch-pa‐ triarchal gedachten Ehrgesellschaft „für sein ganzes leben einen schandflek“ tragen, der ihn zeitlebens „an einer guten heyrath hindert[e]“. 220 In Stapfers konservativer Abhandlung war es somit nicht vordringlich die Aufgabe des Staates, ehefördernde Maßnahmen zur Bevölkerungsvermehrung zu betreiben. Im Vordergrund stand die Obliegenheit der Eltern, die Eheschließungen ihrer Kinder in patriarchaler Manier zu kontrollieren, restriktiv zu verwalten und in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu sollten Väter und Mütter - nicht die Regierung - Rahmenbedingungen schaffen, damit sich die Kinder bei Tag treffen konnten. Die Eltern der potenziellen Eheleute sollten sich vorgängig kennen. Als einzige ehefördernde Maßnahme schlug der Pfarrhelfer von Oberdiessbach die Aufweichung der örtlichen Endogamie vor. Erhöhte eheliche Mobilität würde dazu führen, dass weiterhin standesgerecht geheiratet werden könnte. Denn aufgrund der streng eingehaltenen lokalen Endogamie war es für reiche Bauern schwierig, dem „sohne ein weib von seinem stande zu finden, weil ihm keine töchtern, als die von seiner gegend bekannt sind, und auf dem lande heyrathen sich die reichen eben so ungerne an ärmere, als in den städten.“ 221 Stapfers tendenziell konservative Stimme war aber trotz der Auszeichnung mit einem Preis durch die Gesellschaft in den 1760er Jahren in Bern nicht die dominante in bevölkerungspolitischen Fragen. Nachdem in dieser Zeit der bevölkerungspolitische Diskurs von der Angst beherrscht wurde, die Landbe‐ 102 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 222 Pfister, Strom, 97; 152. 223 Wyss, Reformprogramm, 148. 224 Christian Pfister, Sterblichkeitskrisen 1750-1918, in: Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern, 1750-1995. Umwelt, Bevölkerung, Wirtschaft, Politik, hrsg. v. Christian Pfister/ Hans-Rudolf Egli, Bern 1998, 56-57. völkerung sei in drastischer Abnahme begriffen, kamen in der Oekonomischen Gesellschaft Berns allerdings bereits gegen Ende der 1770er Jahre breiter abgestützte Zweifel an dieser Annahme auf. Die anhand sozialhistorischer Analysen konstatierte Lücke in Berns Bevölkerung, die ein nachholendes Bevölkerungswachstum nach sich zog, wurde zwischen ca. 1750 und 1770 allmählich geschlossen. Das zeitlich verschobene Wachstum führte dazu, dass um 1770 die Bevölkerung auch in Bern merklich zu wachsen begann. Denn jetzt war das Bevölkerungsdefizit, das die Rote Ruhr 1750 verursacht hatte, ausgeglichen und die Bevölkerung wuchs über den Umfang vor 1750 hinaus. Dadurch offenbarte sich im Kanton Bern dasselbe demographische Phänomen wie in der restlichen Eidgenossenschaft: Die Differenz zwischen Geburten- und Sterberate entwickelte sich zu Gunsten eines anhaltenden Wachstums. 222 Das für Bern neuartige Bevölkerungswachstum, das das Trauma der Roten Ruhr, die Furcht vor drohender wirtschaftlicher Stagnation und die Angst vor schwindender militärischer Stärke in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund treten ließ, nahmen die Zeitgenossen etwas verzögert wahr. 1778 überlegte die Oekonomische Gesellschaft in einer ihrer Sitzungen, eine Preis‐ frage auszuschreiben, deren Inhalt nahelegt, dass das Wachstumsphänomen im Kreis der Sozietät durchaus registriert wurde. Man war sich in den Reihen der Gesellschaft nicht mehr sicher, ob die gegenwärtige Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik der Regierung immer noch den aktuellen Bevölkerungs‐ zuständen im Territorium entsprach. Damit stand die Frage zur Debatte, ob eine große Bevölkerung wirklich automatisch zu einer prosperierenden Wirt‐ schaft, militärischer Stärke und in der Folge zur maximalen Glückseligkeit im Sinne des Wohlstands eines Volks führte - oder aber eine Bedrohung für die Versorgungslage Berns darstellte. Gefährdete nicht gerade der drohende Ver‐ sorgungsnotstand, den eine über die agrarischen Ressourcen hinauswachsende Bevölkerung erwarten ließ, die Zufriedenheit der Untertanen und damit die Stabilität der politischen Ordnung und Ruhe? Zwar vertagte die Gesellschaft eine Entscheidung über die Beantwortung dieser Frage. 223 Die Debatte in der Sozietät offenbart jedoch, dass die zuvor von Entvölkerungsängsten genährte Stimmung aufgrund der Erfahrungen, die seit den 1770er Jahren mit dem aufholenden Wachstum in Bern gemacht wurden, 224 langsam umschlug: Aus versorgungspolitischen Erwägungen begann man, sich zunehmend vor der 103 1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung 225 Braun, Ancien Régime, 54-55. 226 Karl Ludwig von Haller zitiert nach: Wyss, Reformprogramm, 150. 227 Fuhrmann, Volksvermehrung, 129. 228 Martin Fuhrmann schreibt von einer „liberalen Wende“ um 1790, im Zuge derer der Rückzug des Staates aus der Bevölkerungspolitik gefordert wurde. Sie ging einher mit einer „Absage an eine direkte Eheförderung“; ebd., 128-205. Die Zitate sind Titel von Unterkapiteln auf den Seiten 128 und 203. Überbevölkerung zu fürchten. Inwiefern auch die Hungersnot von 1770/ 71 eine Rolle für diese Wende im bevölkerungspolitischen Diskurs spielte, darüber lässt sich hier im Zusammenhang mit Bern nur mutmaßen. In Bezug auf die gesamte Schweiz hat Rudolf Braun erwähnt, dass die Versorgungskrise zwischenzeitlich zu einer steigenden Zahl besitzarmer und -loser Menschen geführt hatte und sich deswegen die kritischen Stimmen zumindest mittelfristig mehrten. 225 Fest steht, dass Karl Ludwig von Haller in seinem Gutachten zu den Wettschriften „Nahrungssorgen“ thematisierte und als Resultat einer zu stark anwachsenden Unterschicht interpretierte. 226 Dieser in Bern in den 1770er Jahren vorerst angedeutete Wandel in der öffentlichen Bevölkerungsdebatte stellte keinesfalls ein lokales oder lediglich eidgenössisches Phänomen dar. Die geschichtswissen‐ schaftliche Literatur zeigt, dass in den bevölkerungspolitischen Ansichten am Ausgang des 18. Jahrhunderts allgemein ein regelrechter „Paradigmenwechsel“ in Gang war. 227 Dieser begann sich in Bern allerdings bereits zehn bis fünfzehn Jahre früher abzuzeichnen, als dies generell die Literatur veranschlagt. 228 1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) Die Bevölkerungstheoretiker in Bern nahmen während den 1760er Jahren kontroverse Positionen zur restriktiven Ehegesetzgebung ein. Dagegen stellte die oben erwähnte Auseinandersetzung der Oekonomischen Gesellschaft mit dem Bevölkerungswachstum seit den späten 1770er Jahren eine tendenzielle Annäherung zwischen Bevölkerungstheorie und Eherecht dar. Die Angst vor der Entvölkerung wich im halböffentlichen Kreis der Theoretiker allmählich Befürchtungen vor einer zu stark und zu schnell anwachsenden Bevölkerung. Ihre Versorgung, so die Angst, würde die natürlichen Ressourcen Berns in zunehmendem Maß (über)strapazieren. Physiokratische Überzeugungen ge‐ wannen im Lager der Oekonomischen Gesellschaft auf Kosten kameralistischer Ansichten an Boden. Gleichzeitig blieb die ehegesetzliche Lage unverändert und restriktiv. Sie verschärfte sich sogar mit dem letzten umfassenden Revisi‐ 104 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 229 Bickel irrt sich in seinem undifferenzierten Urteil, wenn er pauschalisierend zum Schluss kommt, dass die Bevölkerungstheoretiker der alten Eidgenossenschaft in ihren Ansichten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts generell von der gesetzlich konkretisierten Bevölkerungspolitik der Kantonsregierungen des Ancien Régime ab‐ wichen. Bickel, Bevölkerungsgeschichte, 35. 230 Ehegerichts-satzung für die stadt Bern und dero lande (25. Januar 1787), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 794-825, 794. 231 Ebd. 232 Vgl. Eva Sutter, Illegitimität und Armut im 19. Jahrhundert. Ledige Mütter zwischen Not und Norm, in: Armut in der Schweiz (17.-20. Jh.). La pauvreté en Suisse (17e-20e s.), hrsg. v. Anne-Lise Head-König/ Brigitte Schnegg, Zürich 1989, 43-54, 44-45. 233 Denn wie Schmidt bemerkt, perpetuierte die Industrialisierung und die damit einher‐ gehende Ökonomisierung die „außerhäusliche Tätigkeit“ der Jugendlichen und entzog jene damit „der ständigen Aufsicht der Eltern“. Gleichzeitig wurde ihre Arbeit, „z.B. in der Heimindustrie“ zunehmend „gleichwertig“ mit jener des Hausvaters, was dessen Autorität diminuierte. Schmidt, Dorf, 182-183. onsprozess unter dem Ancien Régime und der daraus resultierenden letzten Bernischen Ehegerichtsordnung von 1787. Denn diese Ordnung prononcierte die Exklusivität und damit den ständischen Charakter des ehelichen Status. 229 Die Magistraten verfolgten mit dem letzten vollständigen Revisionsprozess - danach wurde die Satzung bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs (1824/ 26) nur noch partiell abgeändert oder in Teilaspekten aufgehoben - nicht nur die Intention, die Ehegesetze den zeitgenössischen Gesellschaftsverhältnissen anzupassen, sondern sie auch im Sinne ihrer Effektivität „zu verbessern“. 230 Was für Schultheiß, Kleinen und Großen Rat dabei ‚verbessern‘ bedeutete, ging unmissverständlich aus der Präambel der Ordnung hervor: Es galt primär „die so schädlichen folgen des lasters der unreinigkeit, die menge der bastarden, und die den gemeinden obliegend (! ) lästende erhaltung derselben“ einzudämmen. 231 Un‐ eheliche Nachkommen wurden im Geist dieser Ordnung primär als materielle Belastung der kommunalen Ressourcen identifiziert. Im Zentrum der Ordnungs‐ anstrengungen stand aber nicht mehr die Herstellung der gesellschaftlichen Reinheit per se, sondern die effiziente Abwehr der Folgen der moralischen Un‐ reinheit: kostspielige und ressourcenzehrende mittellose Kinder armer Eltern. 232 Um den sittlichen Wandel sämtlicher Gesellschaftsglieder zu steigern, sollten entsprechend der tatsächlich sehr reformiert formulierten Vorrede, erstens, „die ehen befördert“ und, zweitens, aber die Eltern dennoch zu „sorgfältigerer aufsicht über ihre kinder“ angehalten werden. 233 Die Präambel der fast ein halbes Jahrhundert zuvor revidierten Ehegesetz‐ ordnung von 1743 hatte über das Problem der überproportionalen Vermehrung mittelloser Schichten noch geschwiegen. Dagegen wurde der rasante Anstieg 105 1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) 234 Ehegerichtssatzung 1787, 794. 235 Ebd., 795. Für eine Aufstellung über die Entwicklung des Ehemündigkeitsalters in Bern vgl. Schmidt, Dorf, S. 196, Fussnote 140. 236 Ehegerichtssatzung 1787, 795. 237 Chorgerichtssatzung 1743, 762. mittelloser Bevölkerungsgruppen in der Fassung von 1787 unumwunden thema‐ tisiert und in den Mittelpunkt der Revisionsabsichten gestellt. Um das Problem in den Griff zu bekommen, war man seitens des Berner Patriziats bereit, die Autorität der lokalen Chorgerichte und des Oberchorgerichts durch „mehrere Gewalt“ zu stärken. 234 Um verheimlichte Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindsmorde zu bekämpfen, war man außerdem gewillt, die Strafen für illegitime Schwangerschaften zu mildern. Was es für die Gesetzgeber allerdings hieß, die Eheschließungen zu fördern, erschließt sich nicht auf Anhieb und erscheint danach diffus und paradox. Zwar wurde das Alter der Ehemündigkeit tatsächlich zögerlich um ein Jahr gesenkt - was als ehefördernde Maßnahme interpretiert werden kann. Dadurch endete das Zugrecht des Vaters „oder deren, die an vaters statt sind, als der mutter, großvater, großmutter, vögten oder nächsten verwandten“, mit dem Antritt des 24. Lebensjahrs. 235 Doch die Einschränkungen gegen AlmosenempfängerInnen, die 1743 Eingang in die Ordnung fanden, wurden unverändert belassen: In der Stadt genossen die Gesellschaften das Vetorecht gegen Ehen ihrer Unterstützungsbedürftigen, auf dem Land waren es die Honoratioren, die nun nach Erreichen des 24. Lebensjahrs im Namen der Gemeinden gegen Armenehen opponieren durften. Wer Almosen empfing, konnte an der Ehe gehindert werden, bis die Steuern zurückbezahlt waren. Wer während seiner Erziehung Almosen in Anspruch genommen hatte, durfte mindestens bis zum 24. Lebensjahr an der Eheschließung gehindert werden, auch wenn von Gesellschaft oder Gemeinde aktuell keine Unterstützungsleis‐ tungen mehr bezogen wurden. Somit ist anzunehmen, dass einerseits das bevölkerungspolitische Interesse der Herrschaft an der Eheschließung wuchs, weil man die Zahl der unehelich Geborenen zu verringern wünschte. Doch andererseits bestand dieses Interesse keinesfalls darin, prekäre Eheschließungen generell zuzulassen. Vielmehr galt es, diese laut der Zentralaussage der Prä‐ ambel unbedingt zu verhindern. Oberstes Gebot war es, der rasch anwachsenden Schicht armer Menschen und unterstützungsbedürftiger Familien Einhalt zu gebieten. 236 Ökonomistische Überzeugungen ließen in immer ausgeprägterer und offenkundigerer Weise religiös akzentuierte Sittlichkeits- und Moralvor‐ stellungen in den Hintergrund treten. Während 1743 die „fortpflanzung wahrer gottesforcht, christlichen lebens, handels und wandels“ noch an oberster Stelle der Chorgerichtssatzung stand, 237 „erwarte[te]“ die Berner Obrigkeit 1787 nur 106 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 238 Ehegerichtssatzung 1787, 794. 239 Wyss, Reformprogramm, 148. 240 Karl Ludwig Haller, Vorrede, in: Neueste Sammlung von Abhandlungen und Beobach‐ tungen, hrgs. v. der Oekonomischen Gesellschaft in Bern (1796), 3-27, 15-16. noch abschließend und sogar etwas selbstgefällig „zuversichtlich den göttlichen segen“ für ihre unter wirtschaftlichen Vorzeichen revidierten Ehegesetze 238 . Ille‐ gitimität wurde dadurch ein verhältnismäßig kleineres Problem, sobald die ma‐ terielle Versorgung der Kinder gewährleistet war. Heiraten mit unzureichendem Auskommen hingegen wurde im Zuge der bereits konstatierten allgemeinen Ökonomisierung stärker problematisiert. Und so erstaunt es wenig, dass gerade kirchliche Funktionsträger diese gesetzlichen Entwicklungen kritisierten. Die verzögerte Ausschreibung der Preisfrage Die Rhetorik der Ehegerichtsordnung und der Geist der zeitgenössischen be‐ völkerungspolitischen Diskussion kamen sich immer näher und überlagerten sich 1791. Denn jetzt schrieben die Verantwortlichen der Oekonomischen Gesellschaft explizit eine Preisfrage aus, deren Beantwortung sich mit den Vorzügen und Nachteilen einer Bevölkerungsvermehrung auseinanderzusetzen hatte. Die Bevölkerungszunahme war in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mittlerweile eine unbezweifelbare Tatsache geworden, die selbst in den Kreisen der Oekonomischen Gesellschaft nicht mehr positiv bewertet wurde. 239 Karl Ludwig Haller stellte als Sekretär der Gesellschaft 1796 in der Neuesten Samm‐ lung von Abhandlungen der Berner Sozietät den in den 1760er Jahren noch gelobten Populationismus durchaus tendenziös in Frage: „Schon seit einiger Zeit hatte man in verschiedenen Staaten, und auch in dem hiesigen, zu bemerken angefangen, daß die besonders seit König Friedrich II. so sehr in Umlauf gekommene, und fast von allen Regierungen befolgte Maxime, die Bevölkerung ihrer Staaten so sehr immer möglich zu befördern, nicht unbedingt richtig sey, und daß der beständige Anwachs einer nur durch unzureichende oder unsichere Erwerbungsarten sich ernährenden, meistentheils eigenthumslosen Volksmenge, dem Staate in mancherley Rücksichten nachtheilig und beschwerlicher werden könne. Durch diese und andere Betrachtungen ward demnach die ökonomische Gesellschaft veranlasset, im Jahr 1791 mit einem Preis von 20 Dukaten die Beantwortung der Frage auszuschreiben: In wiefern die zunehmende Bevölkerung für den Canton Bern und seine verschiedenen Distrikte vortheilhaft oder nachtheilig sey? “ 240 Auf die Ausschreibung der Frage gingen zwei Antworten ein, wobei die eine von der Redaktion aber wegen mangelnder Gründlichkeit nicht publiziert wurde. Die andere, bereits 1792 eingereichte und schon damals von der Versammlung 107 1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) 241 Wyss/ Gerber-Visser, Formen. 242 Carl Wyss, Gottlieb Gruner. Ein Lebensbild, in: Berner Taschenbuch 7 (1858), 1-18 243 Wyss, Reformprogramm, 149; Luc Lienhard, Art. Gottlieb Gruner 2006. www.hls-dhs-d ss.ch/ textes/ d/ D32019.php (26.08.2021). 244 Gottlieb Sigmund Gruner, Versuch einer Preisschrift über die von E. Löbl. ökon. Gesellschaft ausgeschriebene Frage. In wiefern ist die zunehmende Bevölkerung für den Canton Bern und die verschiedenen Distrikte desselben vortheilhaft oder nachtheilig? Gekrönt den 18. April 1792, in: Neueste Sammlung von Abhandlungen und Beobach‐ tungen, herausgegeben von der Oekonomischen Gesellschaft in Bern (1796), 304-390, 308. 245 Ebd., 309-313. preisgekrönte, aber erst vier Jahre später publizierte Antwort, wurde wiederum von einem Pfarrer verfasst. 241 Allerdings handelte es sich nun nicht um einen waadtländischen Landgeistlichen, sondern um einen noch in der Ausbildung befindlichen Pfarrvikar, der laut einem Nachruf in der Eidgenossenschaft weit herumgekommen war. 242 Gottlieb Siegmund Gruner, der noch im Jahr der Pu‐ blikation das Amt des scheidenden Sekretärs Karl Ludwig von Haller übernahm und bis 1807 innehaben sollte, bezog eingehend Stellung zur Frage, ob es die Bevölkerung zu vermehren galt oder ob man sie davon abhalten sollte. 243 Der traditionelle Geist dieser Schrift wird schnell ersichtlich, wenn man sie vor dem populationistischen Hintergrund der Waadtländer Geistlichen liest, die ihre Einschriften rund ein Vierteljahrhundert früher formuliert hatten. Gruners Publikation war geradezu eine Abrechnung mit dem merkantilistisch geprägten Populationismus. Laut dem Autor entsprach die populationistische Bevölkerungstheorie einer Täuschung, die den unbescheidenen „Launen“ Ein‐ zelner entsprang. 244 Sie schenkten seiner Meinung nach abstrakten Größen wie Volksmenge, Reichtum, Handel, Manufakturen etc. aus egoistischen wirtschaft‐ lichen Motiven mehr Glauben als der materiellen Realität des Gemeinwesens, die es für Gruner primär zu berücksichtigen galt. Den Merkantilisten warf er deswegen in diskreditierender Weise Spekulation vor, während er sich der empirischen Faktizität rühmte. Nur tyrannische Despoten könnten sich eine uneingeschränkte Vermehrung ihrer Untertanen wünschen, weil ihnen deren Wohl gleichgültig wäre, so Gruner. Eine menschenliebende und landesväterliche Regierung müsse sich wegen der uneingeschränkten Bevölkerungsvermehrung über die Grenzen der natürlichen Ressourcen hinaus hingegen Sorgen machen, weil die Versorgung ihrer geliebten Untertanen auf dem Spiel stünde. 245 Damit verriet der Antwortende unverhohlen seine physiokratische Gegenposition: Das wahre Wohl lag für ihn nicht in merkantilistischen Einbildungen, sondern erschöpfte sich in den Grenzen der durch den Menschen zu steigernden Frucht‐ barkeit und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die der Boden hergab. In 108 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 246 Ebd., 318. Damit erscheint Gruner als quasi Vorbote jener „Politiker, Bevölkerungs‐ theoretiker und Geistliche[n]“, auf die Elisabeth Mantel in ihrer Studie zu den obrig‐ keitlichen Heiratsbeschränkungen im 19. Jahrhundert referenziert. Diese sahen in der zunehmenden Bedeutung der Erwerbsarbeit in Gewerbe und Industrie ebenfalls die Ursache für Massenarmut und Überbevölkerung sowie die Veränderungen im Sexual- und Heiratsverhalten der Bevölkerung, vgl. Elisabeth Mantl, Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol und Vorarlberg 1820 bis 1920. Diss. an der Universität Bielefeld, Wien 1997, 9. 247 Gruner, Versuch, 340; zu den Anfängen der Begriffsverwendung vgl. Ruedi Brassel-Moser, Art. Klassengesellschaft 2012. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D15984.php (26.08.2021). 248 Gruner, Versuch, 329. 249 Ebd., 348; vgl. zudem Wyss, Reformprogramm, 149. dieser bevölkerungspolitischen Logik waren also vor allem Landarbeiter nötig, die die natürlichen Ressourcen bewirtschafteten und optimal ausnutzten. Wo die Bauern ihren Beruf gegen vermeintlich lukrativere und scheinbar bequemere Erwerbsarbeit eintauschten, würden sie die durch die Landwirtschaft garan‐ tierte Nahrungssicherheit aufgeben. 246 In Gruners Schrift lässt sich somit die pessimistische Interpretation des Übergangs von einer ständisch organisierten Gesellschaft hin zu einer Klassengesellschaft finden. Wenn der Bauer „seinen Stand verlässt“, beginnt die dystopische Klassengesellschaft, weil er die Produk‐ tionsmittel aus der Hand gibt und zum abhängigen Arbeiter oder Händler wird. 247 Daraus resultierte ein System, in dem immer weniger produzierende Bauern eine wachsende Schicht handeltreibender Spekulanten und über ihre Verhältnisse lebender Konsumenten ernähren müssten. „Wenn dieser Stand mit seinen Sitten der sich mehrenden Volksmenge weichen muß, so wird er von einer Klasse verdrängt, die, was er uns verschafte, in viel geringerem Maße hervorbringt und hingegen in grösserm verzehrt.“ 248 Gruner erachtete folglich nur ein den organischen Ressourcen entsprechendes Bevölkerungswachstum als für den Staat wünschenswerte Entwicklung. Zudem sollte dieses von den hofbesitzenden Bauern ausgehen. 249 Im Zuge seiner bevölkerungspolitischen Überlegungen spielten zur Regulierung der Gesell‐ schaftsgröße deshalb auch ehepolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Dabei unterschied sich der Physiokrat in seiner Argumentation von den kameralistisch inspirierten Populationisten darin nicht, dass die Ehe als einzige legitime Ordnung der Sexualität und Fortpflanzung gelten sollte. Doch die daraus abge‐ leiteten heiratspolitischen Forderungen waren komplett verschieden. Während die Populationisten mit der Herabsetzung der Volljährigkeit versuchten, junge Männer und Frauen der väterlichen Gewalt zu entwinden, galt es für Gruner im Umkehrschluss, den Zugang zur Eheschließung durch die Stärkung der 109 1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) 250 Gruner, Versuch, 346-347. 251 Ebd., 317. 252 Ebd., 316. 253 Ebd., 331. Darin gleicht Gruners rund 30 Jahre jüngere Argumentation den Ausführungen des Lustenauer Pfarrers, die Mantl ihrer Studie voranstellt, vgl. Mantl, Heirat, 9. patriarchalen Kontrolle zu erschweren. Die Ehe sollte restriktiv verwaltet und an Besitz, Arbeit und Vermögen geknüpft werden. Sie sollte bestimmt nicht demokratisiert und breiteren Schichten zugänglich gemacht werden. In Bezug auf die ehepolitischen Folgen kritisierte Gruner ganz besonders die in Bern weitverbreitete Realteilung. Dagegen hob er die Vorzüge der Primogenitur hervor: Wo Väter nicht jedem Sohn, sondern nur dem Erstgeborenen ihren Besitz hinterließen, da wären die Ehen rarer, stabiler und glücklicher, aber auch fruchtbarer. 250 Dass in diesem Erbschaftssystem einige Söhne unverheiratet bleiben mussten, war Gruner gerne bereit hinzunehmen. Denn dadurch blieb der Besitz zusammen und band die ledigen Söhne an den elterlichen Hof. Sie mussten in der Theorie des Vikars deshalb nicht in jungem Alter verkostgeldet werden, weil sie auf dem elterlichen Hof gebraucht wurden. Das hatte den positiven Effekt, dass sie ortsansässig und der Aufsicht und Kontrolle der lokalen Gemeinschaft unterstellt blieben. Auf diese Weise konnte „daher jedem Hange zum Leichtsinne, zur Liederlichkeit oder Verschwendung beyzeiten vorgebeugt […] werden“. 251 Wo hingegen die Grundgüter durch Realteilung kontinuierlich verkleinert würden, stellten dem Vikar zufolge Heim- und Fabrikarbeit eine verführerische Alternative zum Getreideanbau dar. Das Resultat war in den Augen Gruners Sittenzerfall und die ungebremste „Vermehrung armseliger Haushaltungen und unnützer, unglücklicher Menschen“. 252 In seiner Abhand‐ lung war es deswegen auch eine besondere Qualität kommunaler agrarischer Verfassungen, hohe Einzugsgelder für Neuankömmlinge und Einheiratende zu verlangen. Gruner interpretierte es geradezu als einen Akt der landesväterlichen Güte, Eheschließungen von Armen, die bei ihm per se leichtsinnig waren, mit diesem Mittel zu verhindern. Denn der Pfarrvikar stellte Armutsphänomene in einen kausalen Zusammenhang mit sexueller Unreinheit. Das tat er, indem er den Tatbestand des Leichtsinns zum Normalfall des sexuellen Kontakts in den unteren Bevölkerungsschichten erhob. „Der die Armuth gewöhnlich begleitende Leichtsinn“ und „besonderer niedriger Eigennuz“ dieser spezifi‐ schen Bevölkerungsschicht gingen für ihn einher. Es war in seinen Augen der sexuelle Leichtsinn der Armen, der sämtliche Solidarität in den Gemeinden lähmte und die gemeinnützigen Institutionen bedrohte. 253 Bei Gruner erschienen moralischer Zerfall und sexuelle Promiskuität als logische Konsequenzen von wirtschaftlichem Abstieg und materieller Armut. Hiermit wurde eine direkte 110 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 254 Vgl. zur Verkquickung von Armut und Verstößen gegen die Sexualmoral Regula Ludi, Frauenarmut und weibliche Devianz um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern, in: Armut in der Schweiz (17.-20. Jh.). La pauvreté en Suisse (17e-20e s.), hrsg. v. Anne-Lise Head-König/ Brigitte Schnegg, Zürich 1989, 19-32, 29-32. Diese Verbindung prägte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stärker aus, wie im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu zeigen sein wird. 255 Insofern entwarf Gruner in seinem Text eine „Form der Regulierung“, in der „Prekarität selbst zu einem Regime geworden [war]“. Deshalb stellt sich auch hier wieder die Frage, wie neu diese Form der Regierung der Bevölkerung tatsächlich ist, die von vielen Sozialwissenschaftler*innen gemeinhin als vollkommen neue Erscheinung des 21. Jahrhunderts proklamiert wird. Meines Erachtens ist „diese [angeblich so] besondere Macht“ bereits in der Bevölkerungstheorie und -politik des Physiokraten angelegt. In den Worten Butlers ausgedrückt, war das Ziel von Gruner ebenso „die Herstellung des Bedürfnisses nach Sicherheit als einem ultimativen politischen Ideal“. Butler, Vorwort, 7-9. 256 Gruner, Versuch, 315. Kausalität zwischen Prekarität und Sittenlosigkeit hergestellt. 254 Die armen Gesellschaftsschichten stellten damit ein permanentes Sicherheitsrisiko für die Wohlfahrt und die Sitten der Gesellschaft dar. 255 Folglich redete der Vikar, nach der populationistischen Konjunktur, mit seiner Zuschrift also wieder einer dezidiert disziplinarischen Ehepolitik das Wort, der es um die Verknappung der Eheschließungen und die Stärkung patriarchaler Macht ging. Dagegen tadelte er den in seinen Augen in der zeitgenössischen Ehepolitik nach wie vor beobachtbaren „zu starken Einfluß“ des populationistisch-merkantilistischen „Bevölkerungsgrundsaz“, der seiner Ansicht nach nichts anderes besagte, als „dass die Vermehrung des Volks, besonders der Armen, ohne Einschränkung zu begünstigen seye“. 256 Bezogen auf die Normen und bevölkerungspolitischen Debatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich also abschließend sagen: Während man sich in den 1760er Jahren in den Reihen der Oekonomischen Gesellschaft von Bern vor einer Entvölkerung fürchtete und daher die Lösung staats- und wirtschaftspolitischer Herausforderungen, die unentwirrbar zusammenge‐ dacht wurden, in der Peuplierung der Landschaft erspähte, kippte der Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Bern allmählich ins Gegenteil. Sowohl die 1787 revidierte Ehegesetzordnung als auch Gruners exemplarische Preisschrift verraten, dass man die Bevölkerungsvermehrung zunehmend als Ursprung allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Übels sah. Beiden Diskurspositionen war bei aller Widersprüchlichkeit allerdings gemein, dass wirtschafts- und staatspolitische Fragen fortan über die Steuerung der Bevölke‐ rung gelöst werden sollten und die Ehepolitik dabei die Rolle eines Scharniers in der Herrschaftspolitik einnahm. Das zentrale politische Handlungsmotiv bildete 111 1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787) die Sorge um die Bevölkerung. Die skizzierten Positionen innerhalb dieses biopolitischen Diskurses werden weiter unten in Bezug auf die Urteilssprechung im Oberchorgericht erneut in Betracht gezogen. 112 1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen 257 Alexandra Lutz, Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M., New York 2006, 107-127. 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 Im Anschluss an die Darstellung der durch Gesetze und bevölkerungspolitische Debatten normierten Eheschließung geht es im zweiten Kapitel einerseits um die an den prekarisierten Eheschließungen beteiligten AkteurInnen. Anderer‐ seits steht der taktische Umgang der verschiedenen AkteurInnen mit dem historisch spezifischen ehelichen Handlungsrahmen im Zentrum. Dazu werden in den anschließenden Ausführungen die ehewilligen Paare - wie es das Quellenmaterial eben zulässt - bestmöglich identifiziert und die gegen deren Eheschließungen opponierenden Gruppen so genau wie möglich bezeichnet. In einem weiteren Schritt sollen dann die zentralen Argumente der opponie‐ renden Parteien aus den Ehegerichtsakten herausgearbeitet werden, die die hier untersuchten Heiratsbegehren prekarisierten. Darauf bezogen werden die Taktiken der heiratswilligen AkteurInnen eruiert, die diese anwendeten, um ihre eigensinnigen Ehebegehren gegen die prekarisierenden Einsprachen gerichtlich legitimieren zu lassen. Dabei wird sichtbar, auf welche Ressourcen sich Ehewillige und OpponentInnen bezogen und welche Mittel sie einsetzten, um ihre konträren Interessen durchzusetzen. 2.1 Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen Eine konsequente quantitative soziale Einteilung nach Unter-, Mittel- und Ober‐ schicht, wie sie zum Beispiel Alexandra Lutz für konfligierende Eheleute in der Propstei Münsterdorf in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgenommen hat, 257 lässt sich für die AkteurInnen prekärer Eheschließungen aus den summa‐ risch verfassten Protokollen des bernischen Oberchorgerichts nicht herleiten. Zu spärlich und unsystematisch sind die Angaben des Gerichtsschreibers zu Rechtstiteln, Beruf und Besitzstand der einzelnen Protagonisten in den Rekurs‐ manualen zwischen 1742 und 1798. Allerdings dürfte der grundsätzliche Ehe‐ wille auch weniger von der sozialen Zugehörigkeit abhängig gewesen sein, als die von Lutz untersuchten vor Gericht angezeigten Scheidungsklagen. Letztere korrelierten stärker mit schichtspezifischen Erwartungen und soziokulturellen 113 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 258 Richard van Dülmen schreibt in diesem Sinn: „Zweifellos strebte fast jeder Mann und jede Frau in der [F]rühen Neuzeit eine Verheiratung an […].“ Van Dülmen (Hrsg.), Kultur, 134; vgl. ebenso Wunder, Sonn‘, 92. 259 Lutz, Ehepaare, 107-110. Die in den Runden Klammern angegebene Ziffer hinter dem Prozentsatz entspricht in der gesamten Arbeit jeweils der absoluten Zahl. Die Prozentzahlen sind jeweils arithmetisch gerundet. 260 In dieser Arbeit wird ‚Subalternität‘ als weitgefasster Begriff verwendet. Unter subal‐ ternen AkteurInnen oder Subalternen werden hier Menschen verstanden, denen der Zugang zu Rechten und Privilegien, also zur hegemoniellen Ordnung, verwehrt bleiben konnte. Insofern drohten allen hier untersuchten AkteurInnen in die Subalternität zu fallen, wenn ihnen die Eheschließung verweigert wurde. Vorstellungen, die im konkreten Eheleben nicht erfüllt wurden. Außerdem betrafen diese Urteile Menschen, die die Gnade der Eheschließung bereits empfangen durften. Unabhängig vom Stand waren mit jeder Eheschließung Statusgewinn, Rechte und Privilegien verbunden, weshalb sie auch aus allen sozialen Schichten begehrt wurde. Auch wenn es für die verschiedenen Stände zum Teil unterschiedliche Vorrechte waren, die aus der Heirat folgten, war der Heiratswunsch wohl weniger von der Wirtschafts- und Lebensform als allge‐ mein von Vorteilen und standesspezifischen Besitzverhältnissen abhängig. Auch wenn die rollenspezifischen Erwartungen gegenüber dem Ehepartner je nach Stand variierten, stellte die Ehe als Institution, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, stände- und auch geschlechterübergreifend eine außerordentlich begehrte Ressource dar. 258 In Bezug auf die prekären Eheschließungen scheinen also Schicht oder Stand nicht unbedingt die signifikanten Kriterien für deren Charakterisierung zu sein. Lutz ordnet auffällig viele Ehekonflikte aufgrund von Berufs-, Besitz- und Statusbezeichnungen in den Quellen sozial der Unterschicht zu, die Mittel‐ schicht kommt bezüglich der verursachten Fälle in der Mitte zu liegen und die Oberschicht ist in den gerichtlichen Konflikten in absoluten Zahlen unter‐ repräsentiert - 63 % (151) der 241 Fälle, in denen auf eine Schichtzugehörigkeit der Paare geschlossen werden konnte, resultierten aus der Unterschicht, 21 % (51) wurden durch die Mittelschicht verursacht und 16 % (39) wurden durch die Oberschicht ausgelöst. 259 Diese Zahlen entsprechen großzügig gerechnet den relativen Bevölkerungsanteilen der jeweiligen Schicht in der Frühen Neuzeit. Meine Quellen zeigen ebenfalls, dass die matrimoniale Prekarität AkteurInnen aus allen Schichten und Ständen erreichen und in Bezug auf die Eheschließung zu Subalternen degradieren konnte. Ihnen allen konnte der Zugang zum privi‐ legierten Stand der Ehe potentiell verwehrt werden: 260 Im Zeitraum zwischen 1742-1798 wurde im Rahmen der hier untersuchten Samples, die zusammen 61 Fälle prekärer Eheschließungen umfassen, mindestens gegen sechs Eheaspira‐ 114 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 261 Es steht hier ‚mindestens‘, weil es in diesen sechs Fällen aufgrund der Bezeichnung der Betroffenen klar wird, dass sie Burger von Bern waren. Vielfach ist keine Bezeichnung oder kein Titel erwähnt, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich dabei nicht auch um jemanden mit Burgerrechten handelte. 262 André Holenstein, Art. Ewige Einwohner 2014. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D28679.p hp (26.08.2021). 263 StABE, B III 824, 527-539; StABE, B III 826, 80-82; 582-590; StABE, B III 827, 159-170; StABE, B III 829, 83-85; 580-583; StABE, B III 830, 483-491. 264 StABE, B III 826, 412-414; StABE, B III 824, 207-217. 265 StABE, B III 830, 627-634. 266 StABE, B III 829, 376-378; StABE, B III 830, 368-372. 267 StABE, B III 824, 20-51. 268 StABE, B III 826, 80-82; StABE, B III 826, 552-557; StABE, B III 827, 159-170. 269 StABE, B III 826, 97-100. 270 StABE, B III 824, 233-238. 271 StABE, B III 829, 96-99. 272 StABE, B III 826, 447-451. Durch Lohstampfen wurde aus Baumrinde jene Essenz gewonnen, die zum Gerben von Leder eingesetzt wurde. 273 StABE, B III 830, 492-507. tionen Hindernisse geltend gemacht oder das Zugrecht eingefordert, von denen der ehewillige Mann ein Burger der Stadt Bern war, also der privilegierten städtischen Elite angehörte. 261 In einem weiteren Fall war der Bräutigam ein Kleinburger Berns, also einer jener bevorzugten Stadtbürger, denen zwar die‐ selben Rechte und Privilegien zu Teil wurden wie den Burgern. Vom Regiment und den Ämtern blieben sie hingegen ausgeschlossen. 262 Mindestens weitere sieben besaßen das Bürgerrecht von Städten auf der Berner Landschaft, 263 das ebenfalls mit erheblichen lokalen Vorrechten verbunden war. Der geburtsständische Status blieb bei den betroffenen Frauen wesentlich öfter unerwähnt als bei den Männern. Dabei zeigt der Titel Jungfrau, respek‐ tive ‚Jungfr‘, nicht unbedingt die Keuschheit der Braut, sondern den Stand der Frau an. Darauf lässt die Verwendung des Titels auch bei schwangeren Frauen schließen. Lediglich zwei Frauen stammten demnach aus der bernischen Burgerschaft, 264 eine weitere war Kleinburgerin von Bern. 265 Zwei stammten aus Basel, 266 eine aus Straßburg; 267 sie besaßen das jeweilige Bürgerrecht. Drei weitere Frauen, deren Status sich eruieren lässt, waren Angehörige der jeweiligen lokalen Elite kleinerer Städte auf dem Kantonsgebiet. 268 Nicht nur der Stand spielte eine untergeordnete Rolle für die eheliche Unsicherheit. Die Einsprüche und das interponierte Zugrecht konnten den Sohn eines lokalen Chorweibels, 269 den Verwandten einer wohlhabenden Tante 270 oder den Notarssohn mit Befugnis zum notarius publicus  271 ebenso treffen wie den verurteilten Kriminellen, der aufgrund von illegalem Lohstampfen zwei Jahre aus Bern verbannt worden war. 272 Gegen Militärs - ob Söldner 273 oder 115 2.1 Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen 274 Ebd., 83-86. 275 Ebd., 106-107. 276 StABE, B III 829, 434-437; StABE, B III 830, 627-634. 277 StABE, B III 827, 298-303; StABE, B III 830, 368-372. 278 StABE, B III 826, 670-673. 279 Ebd., 142-145. 280 StABE, B III 824, 207-217. 281 StABE, B III 830, 483-491. 282 StABE, B III 826, 582-590; StABE, B III 827, 159-170. 283 StABE, B III 824, 20-51; StABE, B III 824, 316-321. 284 StABE, B III 830, 368-372. 285 StABE, B III 826, 80-82. 286 StABE, B III 827, 159-170. 287 StABE, B III 824, 233-238. 288 StABE, B III 830, 106-107. 289 StABE, B III 824, 316-321. 290 StABE, B III 827, 298-303. 291 StABE, B III 826, 225-231. 292 StABE, B III 829, 485-487. Korporal 274 -, Dienstboten, 275 Müllermeister, 276 Schneider, 277 Wirte, 278 Gerber‐ meister, 279 Kunstmaler, 280 Strumpfweber, 281 Spezierer (Gemischtwarenhändler) und Handelsmänner 282 wurden gleichermaßen Einsprachen und Zugrechts‐ klagen erhoben. Die wenigen Frauen, von denen wir aus den Quellen Infor‐ mationen zu ihrem Stand oder Beruf erhalten, wurden vor allem über das Ansehen der Familie oder den Status und den Beruf ihrer Väter objektiviert: Sie stammten von „honnethen“, beziehungsweise „ehrlichen“ Leuten 283 , oder aber einer berüchtigten Familie ab, 284 waren die Tochter eines Ratsherrn 285 , Pfrundvogts 286 , Wachtmeisters 287 oder Handwerksmeisters. 288 Nur drei ehewil‐ lige Frauen wurden über ihre persönliche berufliche Tätigkeit identifiziert: eine Magd 289 , eine Wäscherin 290 und eine Dienstbotin. Allerdings war für den Status der Letzteren wohl wichtiger, dass sie „in einem Ehrenhaus in würklichen Diensten stehend; ohne gröste Berschwärde ihrer Herrschaft“ arbeitete. 291 An den erwähnten Berufen von Männern fällt außerdem auf, dass vor allem bür‐ gerliche und Handwerksberufe vom Gerichtschreiber erfasst wurden. Zudem wurde der Rechtsstand, außer bei einer Heimatlosen, 292 nur dann im Protokoll notiert, wenn er mit städtischen Bürgerrechten zusammenhing. Die Protokolle zu den 25 Fällen, die aufgrund der Bezeichnung des Mannes eine ungefähre schichtspezifische Zuordnung zulassen, verorten die männlichen Akteure vor allem in der Aristokratie und im Handwerk. Diesen Protokollen stehen 36 Rekursurkunden gegenüber, in denen wir zur sozioökonomischen Verortung der heiratswilligen Männer nicht viel mehr als den Herkunftsort erfahren. Die geographische Herkunft lässt aber höchstens eine rurale oder urbane 116 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 293 Holenstein, Beschleunigung, 312. Sozialisation erahnen - und dies ist mit großer Unschärfe behaftet. Sie sagt allerdings nichts über den Wohn-, respektive Aufenthaltsort, die Tätigkeiten und den Stand der Brautleute aus. Agrarische Berufe finden vor 1798 in den Rekursmanualen keine explizite Erwähnung. Sie dürften aber in den 36 Fällen ohne standes- oder schichtspezifische Angaben mitvertreten sein. Es zeichnet sich hingegen deutlich ab, dass die Mehrheit der AkteurInnen prekärer Eheschließungen eine ländliche Herkunft aufwies. Dieser Umstand vermag nicht zu erstaunen, lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Gebiet des Stadtstaats noch der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land und direkt von der Agrarwirtschaft. 293 In 46 von 61 Fällen stammten Mann und Frau aus den ruralen Regionen Berns. In zwei Fällen stammte die eine Hälfte des Paars aus Bern und die andere aus einer ländlichen Gemeinde. Von den 13 restlichen Fällen stammten in fünf beide aus der Stadt Bern. In den anderen neun Fällen kam das Paar aus kleineren Stadtorten (Lausanne, Thun, Zofingen, Burgdorf, Murten etc.). Es bleibt außerdem zu erwähnen, dass in den Samples sowohl Fälle aus der Waadt, dem Oberland, dem Jura und dem Mitteland Niederschlag fanden. Aufgrund der Größe der Samples macht es allerdings keinen Sinn, deren Proportionalität zu analysieren. Hier soll deshalb lediglich festgehalten werden, dass alle größeren Gebiete des Kantons Bern in den Samples vertreten sind. Dabei ist immer in Rücksicht auf die beschränkte Zahl der Fälle verhältnismäßig keine Region übermäßig oft oder selten ver‐ treten. Auffällig ist allerdings, dass lediglich 14 der als prekär charakterisierten Eheschließungen, von denen sowohl der Heimatort der Braut als auch des Bräutigams aus der Quelle eruiert werden kann, endogamer Natur waren, also von Frauen und Männern aus derselben Gemeinde oder Stadt begehrt wurden. In 44 Fällen unterschieden sich die Heimatorte der Ehewilligen. In drei Fällen fehlte die Herkunftsangabe der einen Hälfte des Paares. Rund drei Viertel der vor dem Oberchorgericht in Bern hartnäckig begehrten Eheschließungen waren also exogame Beziehungskonfigurationen. Diese Verlobungen bestanden zwischen Ehewilligen aus unterschiedlichen Heimatgemeinden und verursachten, wo vorhanden, nicht nur einen Besitztransfer zwischen Familien, sondern vor allem materielle Umverteilungen zwischen Gemeinden. Die sozioökonomischen und kulturellen Hintergründe der beteiligten Prot‐ agonisten konnten nur für die Minderheit der Fälle ausgeleuchtet werden. Und bereits eine Analyse jener Fälle, die eine Auswertung nach Beruf und/ oder Stand erlauben, ergibt, wie weitgefächert das soziale Spektrum prekärer Eheschließungen war. Sowohl das Ehevorhaben des burgerlichen Kunstmalers 117 2.1 Soziale Vielfalt heiratswilliger AkteurInnen 294 Eibach, Gleichheit, 489. 295 Damit zeigen die Ehegerichtsfälle gewisse Parallelen mit den durch Michel Foucaults und Arlette Farges Analyse bekannt gewordenen ‚Lettres de cachet‘ auf. Auch die vorliegenden Quellen zeichnen nicht den obrigkeitlichen „Groll“ auf, sondern vor allem die „Leidenschaften […], in deren Mittelpunkt familiäre Beziehungen stehen“. Arlette als auch des einfachen Dienstboten konnte durch den Widerstand aus dem sozialen Nahraum prekarisiert werden. Es lässt sich bezüglich der Charakteri‐ sierung der Prekarität von Eheaspirationen auch keine klare Grenze zwischen städtischer und ländlicher Herkunft der Ehewilligen ziehen. Folglich lässt sich die Unsicherheit in Bezug auf den Heiratsanspruch mit sozioökonomischen Parametern wie Stand, Beruf und geographischer Herkunft nicht ausreichend deutlich spezifizieren. Die eheliche Unsicherheit weist in ihren soziale Gruppen übergreifenden Charakter jene „Spuren von Gleichheit“ auf, auf die Eibach im juristischen sowie im Diskurs über die Justiz der Frühen Neuzeit gestoßen ist. 294 Prekäre Eheabsichten waren ein Phänomen, das im Ancien Régime unabhängig von Schicht, Stand und Herkunft auftreten konnte. Im Vergleich mit der oben erwähnten Studie von Lutz erscheint es eher erstaunlich, dass vom Gerichtsschreiber in den Rekursurkunden so selten eindeutigere ständische (oder andere sozialstrukturelle) Zuordnungen vorgenommen wurden. Wenn die Rekursurkunde diese trotzdem erwähnte, wurde eher die Zugehörigkeit zur Aristokratie ausgewiesen als die unteren Stände bezeichnet. Schließlich entsprang die Quelle einem aristokratisch besetzten Gericht, das Urteile über Mitglieder einer ständisch organisierten Gesellschaft fällte. In Anbetracht dieses Befundes stellt sich die Frage, welche anderen Faktoren und Zuschreibungen - neben der bereits erwähnten Exogamie - aspirierte Eheschließungen deut‐ licher als prekäre Ehebegehren hervortreten ließen und den Eigensinn der AkteurInnen erforderlich machten. Solche möglichen anderen Faktoren sollen im folgenden Kapitel ausgeleuchtet werden. 2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte Per Definition ließen die Einsprachen und Zugrechtsklagen Eheschließungen prekär werden. Folglich geht es an dieser Stelle der Arbeit um die Analyse der Eheeinsprechenden, die die betreffenden Eheschließungen zu verhindern versuchten. In den meisten Fällen machte erst die Anzeige und Anfechtung der Legitimität einer ehelichen Verbindung aus dem Umfeld der AkteurInnen den Vollzug der Eheschließung in der Anwesenheitsgesellschaft unsicher. Das Oberchorgericht schritt in den wenigsten Fällen von sich aus ein. 295 In den hier 118 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 Farge/ Michel Foucault, Familiäre Konflikte. Die „Lettres de cachet“ aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989, 10. 296 StABE, B III 824, 202-206; 390-391. 297 Dinges, Justiznutzungen; Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 108-109. 298 Vgl. Martin Ingram, Charivari and Shame Punishments. Folk Justice and State Justice in Early Modern England, in: Social Control in Europe, hrsg. v. Herman Roodenburg, Columbus 2004, 288-308, 305; Hermann Heidrich, Grenzübergänge. Das Haus und die Volkskultur in der frühen Neuzeit, in: Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. v. Richard van Dülmen, München 1983, 17-41, 25; Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 81-82. 299 StABE, B III 824, 515-520. analysierten Fällen war das lediglich zwei Mal der Fall, als jeweils ein frisch verwitweter Mann jene Frau heiraten wollte, mit der er zu Lebzeiten der Ehefrau Ehebruch begangen hatte. Zum einen wogen diese Delikte in gesetzesstrenger Lesart schwer, weil sie die Reinheit der Gesellschaft und ergo das kollektive Heil gefährdeten. Zum anderen trat das Oberchorgericht in den beiden besagten Fällen auf den Plan, weil der vorgängige Ehebruch gerichtsnotorisch war und es sich nun um das moralisch gewichtige Vergehen der Hurerei handelte. 296 Viele Vorgänge in den Gemeinden entzogen sich allerdings der Kenntnis der Assessoren des Berner Oberchorgerichts, die nicht vor Ort, sondern auf Informationen aus dem lokalen Umfeld angewiesen waren. Das Gericht war also seinerseits auf die Justiznutzung aus der Mitte der Gesellschaft oder die Anzeige der Bernischen Landvögte und Pfarrer in den Gemeinden angewiesen, um schlichtend und strafend in die matrimonialen Konflikte eingreifen zu können. Dadurch gerät das Gericht, ganz im Sinne des maßgeblich von Martin Dinges geprägten Konzepts, als Angebot - und nicht primär als disziplinierende und sanktionierende Institution - in den Blick, das von ‚unten‘ und aus der Mitte der Gesellschaft genutzt werden konnte. Somit konnte es für die AkteurInnen von großem Wert bei der Durchsetzung eigener Interessen sein und wurde zu diesem Zweck angerufen. 297 Gerichtliche Formen der Konfliktregulierung wurden von lokalen Gesellschaften während der Frühen Neuzeit aber häufig erst als letzte Option zur Schlichtung von Konflikten in Betracht gezogen. 298 Die außergerichtlichen und gewohnheitsrechtlichen Integrationsversuche auf horizontaler Ebene konnten zeitweise sehr heftig ausfallen - so heftig, dass z. B. ein Heiratswilliger im Fall einer prekären Eheschließung „aus forcht vor seiner gemeind und von ihra ihme desstwegen erwekenden verdrieslichkeiten“ von seiner Heimat fernblieb, obwohl er „weder aus dem land bannisiert, noch ver‐ geltstaget, oder von denen schulden getreiben, sonderen im gegentheil ehrliche mittel im land besizet […]“ hatte. 299 Insofern waren die vor Gericht gebrachten Fälle der Eheschließung vielfach in äußerstem Maß prekär. Ihnen waren oft‐ 119 2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte 300 Vgl. zur Stufenabfolge frühneuzeitlicher Konfliktregulierung Eduard Hoffmann-Krayer, Knabenschaften und Volksjustiz in der Schweiz, in: Schweizerisches Archiv für Volks‐ kunde 8 (1904), 81-99; 161-178, 88-99; 161-178; vgl. außerdem Schmidt-Voges, Mikro‐ politiken, 280-309. 301 Vgl. zu den verschiedenen Formen kommunaler Rügepraktiken Haldemann, Haus. 302 Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 31-37; Julia Günther, Nachbarschaft und nachbarschaft‐ liche Beziehungen, in: Handbuch Persönliche Beziehungen, hrsg. v. Karl Lenz/ Frank Nestmann, Weinheim 2009, 445-463, 447-448. mals bereits außergerichtliche Streitigkeiten vorgelagert. Sie hatten zum Teil schon Formen der Konfliktregulierung auf lokaler Ebene durchschritten, die allerdings in Bezug auf die Beilegung der Streitigkeiten in den hier untersuchten Fällen erfolglos geblieben sein mussten. 300 Die aufwendigen und kostspieligen Gerichtsverfahren wurden erst angestrebt, wenn informellere Formen der Integration versagt hatten. 301 Dann riefen die Menschen aus der Nachbarschaft das überregionale Gericht der Magistraten im entfernten Machtzentrum an. 302 Es musste also ein ausdrückliches und angezeigtes Hindernis gegenüber einer Ehe bestehen, damit die Heirat durch das Gericht verhindert oder erlaubt werden konnte. 1; 2% 4; 6% 13; 21% 19; 31% 1; 2% 5; 8% 15; 25% 1; 2% 2; 3% Allianz ♂ Gesellschaft ♂ Gemeinde ♂ Verwandtschaft ♂ Allianz ♀ Gemeinde ♀ Verwandtschaft ♀ Konkurrent Gericht Diagramm 1: Opponenten (61) gegen prekäre Eheschließungen, 1742-1798 (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830) 120 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 303 Vgl. zu dem Nexus zwischen Ehe und Ehre in der zeitgenössischen Ehekonzeption in der Quelle von Stapfer, Auferziehung, 98-100; zu der Beziehung von Ehre und Ehe aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Susanna Burghartz, Geschlecht - Körper - Ehre. Überlegungen zur weiblichen Ehre in der frühen Neuzeit am Beispiel der Basler Ehegerichtsprotokolle, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflike in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff, Köln 1995, 214-234; zum Konzept der Ehre im Allgemeinen vgl. den klaren Überblick von Cottier, Gewalt, 32-35; vgl. außerdem den Text von Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff, Verletzte Ehre in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflike Während auf der Seite der Heiratsbegehrenden keine eindeutige soziale Zu‐ ordnung der AkteurInnen im Einzelnen möglich ist, lässt die Auswertung der Quellensamples für das Ancien Régime die grobe Differenzierung der opponierenden Parteien in zwei hauptsächliche Akteursgruppen zu. Dabei ist festzustellen, dass am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Hauptträger der Einsprachen gegen eigensinnige Ehen die Verwandten waren - 36 Zugrechts‐ klagen und Eheeinsprachen aus dem Sample zum Ancien Régime wurden unter Beteiligung von mehr oder weniger nahen Verwandten der Brautleute erhoben. Das entspricht bei einer Gesamtzahl von 61 prekären Eheschließungen rund 59 % der für diesen Zeitraum untersuchten Einsprüche. Von diesen wurde eine Klage gemeinsam von Verwandtschaft und burgerlicher Korporation erhoben, eine weitere resultierte aus einer Allianz zwischen Verwandtschaftsteilen und einer Gemeinde. In 34 Fällen, also in rund 56 % aller Fälle, wurde die Klage gegen eine Ehe ausschließlich von Verwandten der Brautleute angestrebt. Es lässt sich also festhalten, dass sich matrimonialer Eigensinn während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor Gericht primär gegen verwandt‐ schaftlichen Widerstand behaupten musste. Die eigensinnigen Eheaspirationen standen in dieser Phase überwiegend im Widerspruch zu den patriarchalen Interessen der involvierten Familien und wurden durch deren Einsprüche preka‐ risiert. Dass der Widerstand aus diesem Lager zahlenmäßig überwog, überrascht in Anbetracht der historischen Verwandtschaftsforschung nicht: Heirat stand in der geburtsständisch stratifizierten Gesellschaft am Ausgangspunkt vielfältiger Austausch- und Erbprozesse und somit im Mittelpunkt verwandtschaftlicher Interessen und wertvoller Beziehungsnetzwerke. Durch geschickte Vereheli‐ chung und Schaffung von Verwandtschaftsnetzwerken konnte in der nach wie vor agrarisch dominierten Berner Gesellschaft der Familienbesitz zusammen‐ gehalten und akkumuliert werden. Durch die ehelichen Verbindungen wurden neue Beziehungen geknüpft, bestehende gepflegt und intensiviert. Sie besaßen für die Verwandtschaft als Ressource in der geburtsständisch gegliederten Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine immense Bedeutung, nicht zuletzt, weil sie am Ausgang familialer Ehre standen. 303 Verwandtschaft konnte vor allem durch 121 2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff, Köln 1995, 1-28. 304 Jon Mathieu, Kin Marriages. Trends and Interpretations from the Swiss Example, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Developments (1300-1900), hrsg. v. David Warren Sabean/ Simon Teuscher/ Jon Mathieu, New York 2007, 211-230, 211; David Warren Sabean, Social Background to Veterlewirtschaft. Kinship in Neckarhausen, in: Frühe Neuzeit - frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangs‐ prozessen, hrsg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1992, 113-132. 305 Sabean, Background, 116. 306 Vgl. zum spezifischen Gepräge der bernischen Zunftgesellschaften Daniel Schläppi, Die Zunftgesellschaft zu Schmieden in Bern zwischen Tradition und Moderne. Sozial-, struktur- und kulturgeschichtliche Aspekte von der Helvetik bis ins ausgehende 20. Jahrhundert, Bern 2001, 39-46. Die Gesellschaften waren gegen Ende des 18. Jahr‐ hunderts „keine Handwerkszünfte im eigentlichen Sinne mehr“, sondern wurden zu einer Art „moderner Verwaltungseinheiten“ der aristokratischen Familien von Bern; im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts stießen die kirchlichen Fürsorgeeinrichtungen des Armenwesens an ihre Grenzen. Durch die Bettelordnung von 1676 kam es zu einer Reorganisation desselben, indem den Dorfgemeinden auf dem Land und den Zünften bzw. eben Gesellschaften in den Städten das Armenwesen überantwortet wurde, vgl. Capitani, Art. Regiment. die Technik der Eheverbindung hergestellt und ausgebaut werden. 304 Ein viel‐ fältig bestätigter Trend der Multiplikation der Verwandtenehen in katholischen Gebieten im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert verdeutlicht die Bedeutung der Kategorie Verwandtschaft für diese Periode. David Sabean spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚kinship hot‘ society“. 305 Ebenso zeigt die hier gemachte Beobachtung für ein reformiertes Territorium die Wichtigkeit des Einflusses der Verwandtschaft auf das Heiratsverhalten ihrer Mitglieder. In dieser Perspektive waren die einzelnen Verwandtschaftsglieder Agenten kollek‐ tiver Interessen. Sie hatten der patriarchalen Heiratspolitik dieses hausväterlich organisierten Kollektivs in einer kommunal strukturierten Gesellschaft zu ge‐ horchen, die immer noch vor allem von der Landwirtschaft lebte. Missachteten die Angehörigen diese übergeordneten Interessen, erschienen sie in den Augen der Verwandten eigensinnig und deviant wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird. Sie drohten die geburtsständischen materiellen sowie immateriellen Exis‐ tenzgrundlagen auszudünnen oder gar zu vernichten. Die Verwandten leisteten in der Folge Widerstand gegen die angestrebte Eheschließung, auch weil diese immer eine Verletzung der patriarchalen Ehre bedeutete. Die von der Allianz von Familie und lokaler Gemeinschaft oder Gesellschaft erhobenen Einsprachen illustrieren dabei das gemeinsame patriarchale Interesse von Familien und kommunalen Gemeinschaften sowie ursprünglich zünftischen Korporationen, in Bern ‚Gesellschaften‘ genannt. 306 Die Verbindungslinie bestand darin, dass unmündige Angehörige ohne die patriarchal gedachte Autorisation des Vaters, 122 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 307 StABE, B III 829, 91-93. 308 Inken Schmidt-Voges, Einführung. Interaktion und soziale Umwelt, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach/ Inken Schmidt-Voges, Berlin 2015, 411-416, 413. 309 Ebd. der Verwandten, der Gemeinden oder zünftischen Gesellschaften und ihren vögtlichen Vertretern „nicht über den Leib, deme das Guth nothwendig folge“, eigenmächtig „sich der Ehe halb freywillig und nach Belieben […] verpflichten“ sollten. 307 Gemeinden, ständische Korporationen und Verwandtschaft waren Gemeinschaften, die ihren gemeinsamen Bezugspunkt in den Hausvätern und deren Herrschaft besaßen. Sie alle waren daher, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an der Wahrung und Reproduktion der hausväterlichen Vorrechte interessiert. Folglich wurden viele Einsprachen auch von Gemeinden erhoben, denen es ebenso darum ging, „den Haushalt in seinem Bestand zu schützen“. 308 Wenn Inken Schmidt-Voges schreibt, dass „[d]as Funktionieren häuslicher Ökonomien […] auf die soziale Umwelt angewiesen“ war, so galt auch der Um‐ kehrschluss: Die Gemeinschaft war in ihrer Funktionsweise ebenso angewiesen auf das ökonomische Gelingen der Summe der Haushalte. 309 In Bezug auf das Verhältnis von gemeinschaftlichen zu familiären Einspra‐ chen lassen sich zwei Auffälligkeiten feststellen - eine entlang der Kategorie ‚Geschlecht‘ und eine zweite entlang des zeitlichen Verlaufs: Bezüglich des Geschlechts lässt sich in 58 Fällen eindeutig sagen, aus welchem sozialen Umfeld die jeweiligen Opponierenden kamen, ob aus dem der Frau oder jenem des Mannes. 37 Mal war dabei das soziale Umfeld des Mannes verantwortlich für die Einsprache. Das entspricht 64 % der Summe der geschlechtlich einem sozialen Umfeld zuweisbaren Fälle. Dagegen erhoben in 21 Fällen die Angehörigen der Frau Einspruch gegen die begehrte eheliche Verbindung. Das entspricht 36 % der Fälle, in denen den Opponierenden eine Bezugsperson zuzuordnen ist. 13 Mal (ca. 22 % von 58) erhob die Gemeinde des betroffenen Mannes Einsprache gegen die begehrte Eheverbindung. In den vier Fällen, in denen die burgerlichen Gesellschaften aus Bern ihr vormundschaftliches Zugrecht bean‐ spruchten, waren es auch immer jene der Männer (rund 7 %). Demgegenüber versuchten Verwandte in 20 Fällen (ca. 33 %), ihre männlichen Angehörigen von der begehrten Ehe abzuhalten. Einmal kam es zu einer Allianz zwischen der Familie und der Korporation des ehewilligen Mannes. Diesen Zahlen stehen lediglich fünf Zugrechtsklagen der Gemeinden (ca. 8 % von 58 Fällen) der jeweiligen Frauen entgegen, während 15 Mal (ca. 26 %) die Verwandten gegen ihre weiblichen Angehörigen einschritten. Diese Ziffern und ihre Proportionen zueinander zeigen, dass die Gemeinden und Gesellschaften der Männer ein 123 2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte 310 Das sozialwissenschaftliche Modell findet seine Entsprechung in der patriarchalen Idealvorstellung, dass der Mann als Alleinversorger der Familie fungierte, während die Frau für die in dieser Auffassung weniger wichtigen häuslichen Tätigkeiten zuständig war. Dass die Grundsätze des Modells aber nicht zwangsläufig der frühneuzeitlichen Haushaltspraxis von Ehepaaren entsprachen, haben Mitglieder des Gender and Work Research Project der Universität Uppsala mit einem praxeologischen Ansatz unlängst gezeigt, vgl. Ling/ Hassan Jansson/ Lennersand/ Pihl/ Ågren, Marriage; vgl. außerdem den Aufsatz, der dieselbe Stoßrichtung hat, von Wunder, Arbeit. 311 Vgl. Guzzi-Heeb, Verwandtschaftsgeschichte, 117. 312 Elizabeth S. Cohen, Honor and Gender in the Streets of Early Modern Rome, in: The Journal of Interdisciplinary History 22 (1992), 597-625. größeres ökonomisches Interesse daran hatten, ihre vermeintlich unvermö‐ genden Angehörigen von der Ehe auszuschließen. Dieser Umstand war den patriarchalen Grundsätzen des male-breadwinner/ female-houskeeper-Modells geschuldet, dass die Gemeinde des Mannes für den neu gegründeten Haushalt aufkommen musste, wenn sich dieser nicht selbsttragend aufrechterhalten ließ. 310 Heirateten Männer, die sich ohnehin in schlechten wirtschaftlichen Situationen befanden und Mühe bekundeten, sich selbst zu erhalten, stieg in der Logik der Gemeinden die Gefahr, dass sie neben dem Mann zusätzlich eine Ehefrau und allfällige Kinder versorgen mussten. Dagegen waren die Gemeinden wesentlich bereitwilliger in der Vergabe der Eheerlaubnis, wenn es sich um die Hochzeiten ihrer armen und besitzlosen weiblichen Angehörigen handelte. Diese fielen mit der Heirat nämlich dem Mann, beziehungsweise der Heimatgemeinde des Mannes zur Last, wenn das Paar unterstützungsbedürftig war oder es nach der Hochzeit wurde. Bei der Betrachtung der Einsprachen aus dem sozialen Umfeld der ehewilligen Frauen fällt dagegen auf, dass die Verwandten dreimal mehr Einsprachen erhoben (15) als die Gemeinden (5). Dieses Verhältnis zeigt, dass die Frauen von ihren Familien, wenn sie eine solche hatten, als wertvolle familiale Ressource betrachtet wurden. Über sie galt es in der ständischen Ehrgesellschaft lukrative sozioökonomische Netzwerke zu erschließen oder bestehende zu unterhalten und auszubauen. 311 Dabei stellte der Körper weiblicher Familienmitglieder eine Projektionsfläche für die Ehre des jeweiligen Haushalts und der Familie dar. Diesen Körper galt es vor illegitimer Penetration und unehrenhaften Verbindungen zu bewahren und zur Mehrung der familiären Ehre einzusetzen. Dagegen erschien die männliche Ehre durch heterosexuelle Aktivitäten im zeitgenössischen Verständnis, wenn überhaupt, viel weniger verletzlich. 312 Die erwähnte temporale Auffälligkeit zeigt sich darin, dass es eine deutliche Konzentration der familiären Einsprachen in den Samples zu Beginn des Untersuchungszeitraums gab, während sich die kommunalen und korporativen Oppositionen in den letzten beiden Samples verhältnismäßig 124 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 313 StABE, B III 829, 569-571. häuften. Während die Zugrechtsklagen und angebrachten Ehehindernisse aus den Familien zurückgingen, legten die Gemeinden und Korporationen gegen 1800 häufiger Einsprachen beim Oberchorgericht ein. Aufgrund der Fallzahl ist diese Entwicklung isoliert betrachtet noch gering signifikant. Allerdings ist diese Spur in diachroner Perspektive im Auge zu behalten, wenn es am Ende darum geht, den vormit dem nachhelvetischen Zeitraum zu vergleichen. 02468 10 12 14 16 18 B III 824 (1743-48) B III 826 (1756-67) B III 827 (1767-73) B III 829 (1781-92) B III 830 (1792-97) Einsprachen aus den Familien Einsprachen aus den Gemeinden und Korporationen Diagramm 2: Die Anzahl von verwandtschaftlichen zu korporativen und kommunalen Einsprachen im zeitlichen Verlauf (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830) Aus Sicht eines ehewilligen Mannes gab es vor allem dann einen Grund eine Zugrechtsklage zu statuieren, wenn die männliche Ehre tangiert wurde. Dies geschah dann, wenn es zu einer Konkurrenzsituation kam, weil zwei Eheversprechen von unterschiedlichen Männern an ein und dieselbe Frau existierten. So erklärt sich im Sample die Eheeinsprache von Jakob Heuberger, der 1786 gegen seinen Nebenbuhler Jakob Brak sein Vorzugsrecht auf die bereits verheiratete Barbara Brak, ehemalige Trinkler, geltend machte. Die Verhandlung drehte sich im Kern um eine Eheanspruchsklage. Formal musste allerdings der benachteiligte Mann eine Einsprache formulieren, die den Vorzug des eigenen Eheanspruchs behauptete, weil die Gültigkeit des konkurrierenden Versprechens, außer aufgrund des Zeitpunkts, nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Folglich ging es darum, „das ältere bessere und gegründetere Recht“ auf die Eheschließung zu beanspruchen. 313 Weil es sich bei dieser Konkurrenz im vorliegenden Quellenkorpus um einen Einzelfall handelt, lässt das vermuten, 125 2.2 Opponierende Parteien: Väter und Verwandte 314 Ebd., 272-277. 315 Lüdtke, Einleitung, 11. dass ähnliche Konflikte entweder selten vorkamen oder außerhalb des höchsten Ehegerichts vor dem lokalen Chorgericht oder in der Gemeinschaft geregelt wurden. Ein Indiz für außergerichtliche Konfliktregulierung stellt der Umstand dar, dass sich das bereits verheiratete Ehepaar Brak vor der Verhandlung im Oberchorgericht zur Trauung in den Kanton Basel abgesetzt hatte, weil es sich vor Vergeltungsmaßnahmen aus dem lokalen Umfeld gefürchtet hatte. 314 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände Es hat sich bisher gezeigt, dass für das Ancien Régime keine eindeutige sozioökonomische Charakterisierung der AkteurInnen prekärer Ehebegehren vorgenommen werden kann. Hingegen konnte festgestellt werden, dass die Eheschließungen ständeübergreifend und vor allem aus den Reihen der Familien in Frage gestellt wurden. Dabei kamen die Einsprachen öfter aus dem Umfeld der ehewilligen Männer als aus jenem der Frauen. Im Anschluss soll aufgezeigt werden, wie die eigensinnigen Ehevorhaben konfiguriert waren, gegen die sich die kommunalen, familiären und korporativen Einsprachen richteten, re‐ spektive in welcher Weise die Opponierenden die matrimonialen Aspirationen zu prekarisieren versuchten. Zum anderen sollen Eigensinn, Ressourcen und Taktiken in den Handlungen der ehewilligen Paare lokalisiert werden, um die Ehebegehren durchzusetzen. Dabei hält sich die vorliegende Arbeit bewusst eng an die Sprache der Quelle. Gerade diese offenbart, dass es sich bei den hier angewendeten heuristischen Konzepten nicht um abstrakte Theorien handelt, sondern dass deren Bezugspunkt eindeutig im Denken und Handeln der untersuchten AkteurInnen liegt. 2.3.1 Hartnäckiger Eigensinn In den Rekursurkunden umgibt den untersuchten ehelichen Eigensinn ein ganzes Wortfeld, das die eigensinnigen „Widerborstigkeiten“ der AkteurInnen synonym umschreibt, 315 charakterisiert und dadurch offenlegt. Das Konzept des Eigensinns kann deshalb im Folgenden nicht nur aus dem Handeln der heiratswilligen AkteurInnen abgeleitet, sondern anhand spezifischer Quellen‐ aussagen sprachlich konkretisiert werden. Dadurch gewinnt es zusätzliche heuristische Evidenz. Das semantische Feld, das „die Distanz einzelner nicht 126 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 316 Ebd., 10. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird noch zu zeigen sein, dass sich der hier untersuchte Eigensinn besonders gegen Gleiche behaupten musste und dazu Allianzen mit ‚oben‘ suchte. 317 Ebd., 14. 318 Ebd. 319 Ebd. 320 Ebd., 9-10. 321 StABE, B III 826, 582-590. nur gegen ‚oben‘, sondern auch gegen Gleiche“ - Nachbarn, Familienmitglieder und Zunftgenossen - bezeichnet, 316 wird hier zunächst mit Eigenschaftswörtern und Synonymen aus dem analysierten Quellenmaterial besetzt. Damit soll hervorgehoben werden, dass es sich bei der Zuschreibung von Eigensinn durch die Oberchorrichter nicht nur um „(Be-)Deutung“, sondern um die konkrete „Alltagswirklichkeit“ der Ehebegehrenden handelte. 317 Dieses Vorgehen wird im Sinne des Urhebers des Konzepts, Alf Lüdtke, verstanden, der in seinen Untersuchungen zum Arbeiteralltag am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl auf den expliziten Wortgebrauch als auch die Nut‐ zung verwandter Begrifflichkeiten und Praktiken eingegangen ist. Bei den Wörtern, die sich durch semantische Nähe zum Ursprungsbegriff auszeichnen, handelt es sich nicht um bloße „Text-Metapher[n]“. 318 Somit soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass sie nicht einem alltagsfremden „poetischen Reiz“ des Wissenschaftlers, der um „Sinngebung“ ringt, entspringen. 319 Sie bringen das von Lüdtke beobachtete Sperrige ebenso zum Ausdruck wie jenen Eigensinn, der im 18. Jahrhundert von Schulmeistern und Geistlichen - in der vorliegenden Untersuchung kommen Richter dazu - wörtlich verwendet wurde. Diese hatten damit aus ihrer Sicht die in den subalternen Schichten stattfindenden „Rüpe‐ leien, Grobheiten oder Wunderlichkeiten“ bezeichnet, die ihren Normen und Strategien fremd gegenüberstanden. 320 Ein Fall, der sich besonders gut eignet, um den Eigensinn im Aushandlungs‐ prozess der Eheschließung im Ancien Régime begrifflich zu spezifizieren, ist jener der zwei „Liebhaber“ Charles Isaac Oboussier und Françoise Catt von St. Saphorin, die sich gegenseitig die Ehe versprochen und daraufhin ein außer‐ eheliches Kind gezeugt hatten. 321 In diesem Prozess verwendete das Gericht explizit den Begriff ‚Eigensinn‘. Konkret erhob der Vater Antoine Oboussier, Handelsmann in Lausanne und Angehöriger der lokalen Aristokratie, am 22. März 1764 Einspruch gegen die intendierte Hochzeit seines Sohnes. Als Grund für die Einsprache führte er dessen erwiesene Minderjährigkeit an. Er forderte daher vom Gericht die Anerkennung seines väterlichen Zugrechts. Über die nä‐ heren Gründe für das väterliche Unbehagen an dieser Heirat erfährt man aus der Quelle wenig. Auf den ersten Blick wirkt der Fall für eine prekäre Eheschließung 127 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd. 325 Ebd. 326 Chorgerichtssatzung 1743, 763. nicht ungewöhnlich. Das Urteil über die eigentliche Hochzeitsangelegenheit war aufgrund der relativ kurzen Urteilsbegründung der Rekursurkunde wohl schnell gefunden worden. Die Richter schlugen sich unisono auf die Seite des Vaters. Unter Berufung auf die geltende Chorgerichtssatzung wurde ihm von den Assessoren das eheliche Zugrecht einstimmig zuerkannt. Interessant erscheint im Hinblick auf die Charakterisierung des Eigensinns jedoch die untypische Diskussion im Gericht, die entfachte, um „die übrigen Folgen dieses entstandenen Rechts-Handels“ zu klären. 322 Denn hier waren sich die Richter in der moralischen Beurteilung des Verhaltens des Angeklagten nicht mehr einig. Beide Lager diskutierten den Eigensinn, bewerteten ihn dabei aber moralisch unterschiedlich. Ihre Meinungen divergierten bei den Fragen, welche Partei die Verfahrenskosten tragen und wem das illegitim gezeugte Kind mit welchem Status zugesprochen werden sollte. Die „mehreren Stimmen“ begünstigten die Frau, die sich dieser Meinung nach einvernehmlich „dem Willen ihres Liebhabers überlassen“ hatte. 323 Die Absicht des Minderjährigen sei es gewesen, der Frau ohne väterliches Einverständnis die Ehe zu versprechen und sie zu schwängern. Diese Intention hatte er offensichtlich im Vorfeld der Verhandlung erfolgreich in die Tat umgesetzt. Damit hatten der Eheaspirant und seine Braut den Vater des Mannes vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese Tatsache sollte im Anschluss als taktisches Druckmittel dienen, um die Braut ungehindert vor den Traualtar führen zu können. Auf diesem tatkräftigen ehelichen Willen beharrte der Minderjährige nicht nur vor seinem Vater, wofür er von diesem in der Konsequenz vor Gericht gezogen wurde, sondern insistierte im Gerichtssaal ebenso unnachgiebig auf seinem Begehren. 324 Damit offenbarte der junge Mann seinen gesetzeswidrigen Eigensinn mit Nachdruck und erfuhr dabei sogar positive Anerkennung von der Mehrzahl der Richter. Sie bewerteten „die unerbittlichkeit des Herzens“ des Vaters nämlich als „höchst traurig“, folgten aber in ihrem Urteil bezüglich der Eheschließung dennoch dem emotionslosen patriarchalen Gesetz. 325 Dieses untersagte Minderjährigen ausdrücklich die Heirat ohne elterliches Einverständnis. 326 So wird die Ambiva‐ lenz zwischen dem restriktiven patriarchalen Gesetz und dem zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs greifbar, worin sich ein direktes Verhältnis zwischen Staat und Subjekt anbahnte. Zwar stützte das Gericht in seinem Urteil letztlich die patriarchale Macht des Vaters - beziehungsweise es kapitulierte 128 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 327 StABE, B III 826, 582-590. 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Ebd. davor. Gleichzeitig tadelte es aber dessen fehlende Vaterliebe in mitfühlender Weise. Speziell erscheint, dass das eigentlich illegitim gezeugte Kind trotz fehlender nachfolgender Eheschließung von der Mehrheit der Richter dem Vater als ehelich zuerkannt wurde. Die Minderheit votierte gegen dieses Ausnahmeurteil, gleichwohl bezeugte sie ausdrücklich „ein halsstarriges Eigensin“ der Heirats‐ willigen. Dem Sohn wurde „der noch fortwärende Ungehorsam“ gegen seinen Vater und das Gesetz vorgeworfen. 327 Die Frau wurde der „Verachtung aller Wahrnung“ bezichtigt. 328 Sie wäre „zeit[ig] verwahrnet worden, sich dieses Junglings zu müßigen, zumahl sie denselben mit verwandtschaftlicher Einwil‐ ligung zu ehelichen, sich niemal einiche Hofnung machen sollen“. 329 Dennoch hätte sie sich das Versprechen geben und sich dann schwängern lassen. Der Eigensinn dieses Paares würde nun von der Mehrheit im Gericht belohnt, indem dem Großvater ein „NothErb aufgedrungen“ und seinen „gehorsammen Kindern bevorstehender Erbtheil […] geschmalert werden könne“. 330 Die patri‐ archale Kritik hob die Handlungsmacht des heiratswilligen Sohns ex negativo unmissverständlich hervor. Dem Vater und Teilen des Gerichts wurde durch die eigensinnige Hartnäckigkeit des Paares in Bezug auf den Status des Kindes dessen Handlungslogik aufgezwungen. Nach der Schilderung der Hauptmerkmale dieses Falls können einige Attri‐ bute des zu Tage tretenden Eigensinns festgehalten werden: Das Paar stemmte sich insistent, oder eben ‚halsstarrig‘, gegen herrschendes Eherecht und patri‐ archale Macht, um die Legitimierung der angestrebten ehelichen Verbindung zu erreichen. Gleichzeitig weckte es damit das Mitgefühl einiger Richter, worin sich ein gewandeltes Beziehungsverhältnis der obrigkeitlichen Richter zu ihren Untertanen andeutete. Mit seinem Handeln wich der junge Mann aus der Waadt nicht nur von obrigkeitlichen Normen ab, sondern bezog auch klar Stellung gegen seinen Vater. Am Eigensinn schieden sich im Gericht die Geister. Dieser Umstand offenbarte sich in der mehrstimmigen Beurteilung des eigensinnigen Verhaltens. Eigensinn konnte vom Gericht folglich ambivalent ausgelegt werden und sowohl Komplizenals auch Gegnerschaft evozieren. Im konkreten Fall vermochte der verbal explizierte Eigensinn die paternalistischen Sympathien der Mehrheit der Richter zu gewinnen und eine Ressource im Ringen um den Status des Kindes darzustellen. 129 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 331 Lüdtke, Einleitung, 10. 332 Lanzinger, Liebe, 169. 333 Ebd., 163. 334 Lanzinger, Verwandtschaft, 13. 335 Davon zeugt auch die Studie von Eva Sutter, die schreibt, dass die erfolgreiche Durchsetzung gesetzeswidriger Eheverbindungen in der ‚Strategie‘ von anhaltendem Ungehorsam, der zur „Zermürbung“ des Ehegerichts führte, begründet lag. Sutter, Act, 196-197. Gleichzeitig konnte er aber auch die patriarchale Ablehnung hervorrufen und zum Hindernis für die ehelichen Bestrebungen des Paars werden. Betrachtet man den Anteil der mehrstimmigen Gerichtsentscheide im Verhältnis zur Gesamtzahl der Urteile des Samples zum Ancien Régime, so sieht man, dass 39 Urteile nicht einhellig gefällt wurden. Dies entspricht ungefähr 64 % aller für das Ancien Régime untersuchten Fälle prekärer Eheschließung (61). Nur 22 Fälle (36 %) wurden von den Assessoren ohne interne Widersprüche beschlossen. Beim Überblick über die einstimmig gefällten Urteile fällt zusätzlich auf, dass die geeinte Stimme der Richter - verteilt über die konkreten Fälle - nicht durchgängig für oder gegen die Ehe votierte. 13 Ehevorhaben wurden ein‐ stimmig unterbunden und neun Hochzeiten hießen die Eherichter konsensual gut. Der Eigensinn vermochte zum einen Ressourcen zu mobilisieren, die vor dem Gericht zur Überwindung der Prekarisierung durch das soziale Umfeld beitragen konnten. Zum anderen konnte der Eigensinn gerade aber auch Ur‐ sache für die abschlägige Beurteilung durch die Richter sein. Damit widersprach der historisch konkrete Eigensinn in seiner Aneignung der Gesetze und der folgenden richterlichen Beurteilung der binären Gesetzeslogik von Gehorsam und Widerstand: Der Bruch mit der Eindeutigkeit dieser Logik ist laut Lüdtke konstitutiv für eigensinnige Handlungen. 331 Dieser Eigensinn bleibt fortwäh‐ rend ungehorsam, missachtet vorausgegangene Warnungen wissentlich, aber er erscheint dennoch - je nach Betrachtungsweise und Erfolg - zuversichtlich oder fatalistisch, wo streng juristisch gesehen keine Hoffnung besteht. Insofern motiviert und befähigt Eigensinn zum hartnäckigen Handeln. Die Entwicklung von Eigensinn fördert den beharrlichen Einsatz für persönliche Ziele und kann dadurch den „Möglichkeitsraum“ erweitern und „Handlungsoptionen“ eröffnen. 332 Dieses zum Handeln motivierende und befähigende Moment macht den Eigensinn selbst zur Ressource. 333 Dabei erscheint die Hartnäckigkeit als we‐ sentliches Mittel, um Eigensinn erfolgreich durchzusetzen. 334 So ist erfolgreicher Eigensinn oft in ausgeprägter Weise hartnäckig. 335 Die Gerichtsurkunde im Fall von Charles Isaac Oboussier und Françoise Catt zeugt unmissverständlich vom unbeugsamen Willen der beiden ‚Liebhaber‘, der sich in illegitimer Sexualität Ausdruck verschaffte und in der ehelichen Anerkennung des Kindes zumindest 130 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 336 Lanzinger, Liebe, 169. 337 StABE, B III 824, 92-99. 338 Ebd. 339 Damit zeigte Anna Heller ein ähnliches Verhalten vor Gericht, wie die von Loraine Chappuis untersuchten Mütter illegitim gezeugter Kinder vor dem Genfer Konsistorium im 18. Jahrhundert. In ihrem Artikel hält die Historikerin fest, dass es in der reformierten Stadt einige Frauen gab, die es vorzogen, ein illegitimes Kind aufzuziehen, anstatt eine erzwungene Heirat mit dem angeblichen Kindsvater einzugehen; Loraine Chappuis, teilweise Geltung erlangte. Daraus muss gefolgert werden, dass das Potenzial der eigensinnigen Hartnäckigkeit stets im konkreten Fall mit den spezifischen Umständen geprüft werden muss, weil es nie im Vornhinein feststeht. 336 Der gescheiterte Heiratsversuch des Lausanner Aristokratensohns und der Frau aus St. Saphorin stellt einen Fall dar, an dem exemplarisch aufgezeigt werden kann, was auf der expliziten Begriffsebene unter matrimonialem Eigen‐ sinn in einer ständisch-patriarchal verfassten Gesellschaft verstanden werden konnte und mit welchen Attributen dieser in seiner Zeit versehen wurde. Der Eigensinn fand in vergleichbaren Umschreibungen in zahlreichen weiteren prekären Ehefällen Ausdruck. In den Quellen wurden für den Eigensinn analoge Bezeichnungen und Charakterisierungen verwendet. Der folgende Fall zeigt, dass Frauen und Männer als TrägerInnen des Eigensinns agieren konnten und dieser insofern eine geschlechterübergreifende Ressource darstellte. Im Fall von Anna Heller aus Oberlindach, der sich 1744 ereignete, führte ihr beispielloser „freyer Wille“ zum Widerstand gegen ihre Ehe. 337 Ihr Eigensinn sorgte für Irri‐ tationen und Ambiguität im Gericht und erfuhr aus unterschiedlichen Gründen sowohl Ablehnung als auch Zuspruch von den Assessoren. Die Verhandlung wurde durch die Gerichtssässen des Oberchorgerichts sogar dreistimmig beur‐ teilt. Der weibliche Wille wurde von der Mehrheit abschließend allerdings für „renitent“ befunden und als „unzüchtig“ und undisziplinierbar stigmatisiert. Der Rekursurkunde zufolge handelte die Braut in ihrem Unterfangen in „vorsezli‐ cher weise“: Der autonome Wille der Frau würde „schandlichen Gedanken“ und „unverantwortlichem Vorsaz“ entspringen. 338 Worin der renitente Wille von Anna Heller konkret bestand, zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Umstände dieser prekären Eheschließung: Eine Frau, die in einer Vaterschaftsklage vom geständigen Mann die in der Vorstellung der Zeit sozial, ökonomisch und politisch grundsätzlich wert- und ehrenvolle Ressource des ehelichen Standes angeboten bekam, wies dieses Angebot vor Gericht entschieden zurück. Sie war bereit, auf die Ehe zu verzichten und damit tendenziell ihre weibliche Ehre zu opfern. Trotz drohender Unehre verlangte sie nämlich, dass das Kind allein dem Vater als unehelich zugesprochen und sie ledig bleiben würde. 339 Im Gericht wurde die Frage verhandelt, ob sie unter diesen 131 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände Unwed mothers and their illegitimate children in 18 th -century Geneva, in: The History of the Family 26 (2021), 29-50 Allerdings forderte Heller im Unterschied zu den von Chappuis beschriebenen Fällen sehr selbstbewusst, dass der Vater, trotz der Angebotenen Ehe, für die Versorgung und Erziehung des Kinder aufkommen solle. 340 Das zusammengesetzte deutsche Wort „Wiedergutmachungsehe“ entspricht dem fran‐ zösischen Ausdruck „marriage de réparation“. Ausführlich beschreibt diesen Regelfall bei vorehelichen Sexualbeziehungen vor Gericht Liliane Mottu-Weber, „Paillardises“, „anticipation“ et mariage de réparation à Genève au XVIIIe siècle. Le point de vue du Consistoire, des pères de famille et des juristes, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 (2002), 430-447. 341 Der bernischen Gerichtssatzung zufolge standen bis 1761 Verheiratete und Witwen eigentlich unter ‚Geschlechtsvormundschaft‘. Für volljährige Ledige fehlte in der Eidgenossenschaft aber vielerorts lange Zeit und zum Teil bis ins 19. Jahrhundert eine systematische Rechtslehre. Darauf hat Annamaria Ryter spezifisch für Basel hin‐ gewiesen. Vormundschaft wurde von Akteurinnen immer wieder situationsspezifisch und im Widerspruch zum Gesetzgeber interpretiert. Auch für Bern darf angenommen werden, dass die gesetzlichen Bestimmungen der Vogtsordnungen durch die Frauen konstant herausgefordert wurden. Das tat wohl auch Anna Heller. Annamarie Ryter, Als Weibsbild bevogtet. Zum Alltag von Frauen im 19. Jahrhundert, Geschlechtsvor‐ mundschaft und Ehebeschränkungen im Kanton Basel-Landschaft, Liestal 1994, 50- 51; 1762 änderte sich allerdings das Gesetz. Danach unterstanden auch volljährige Ledige der Geschlechtervormundschaft. Also hätte Anna Heller wenige Jahre später den beanspruchten Spielraum nicht mehr besessen. Sie hätte nicht ohne männlichen Vormund vor dem Oberchorgericht auftreten können. Vgl. Erneuerte Gerichts-Satzung vor Die Stadt Bern, Und Derselben Teutsche Städte und Landschaften. Erster Theil Der Gerichts-Satzung, Bern 1762; vgl. bezüglich weiblichen Handlungsräumen in Fragen der Bevogtung in der Praxis auch David Warren Sabean, Allianzen und Listen. Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Frauen in der Geschichte des Vorzeichen, rechtlich gesehen, überhaupt auf das eheliche Privileg verzichten durfte. Im Falle vorehelicher Schwangerschaft wurden die Frauen im Gericht im Normalfall von einem sogenannten ‚Vogt‘ vertreten, meistens dem Vater oder einem anderen männlichen Verwandten oder Gemeindeverwalter. Dabei versuchte dieser, jeweils im Namen der bevormundeten Frau, die Anerkennung der Vaterschaft durch den Beklagten zu erwirken. Gleichzeitig wurde von der Vormundschaft, im Namen ihres schwangeren Mündels, in der Regel für die Anerkennung eines Eheversprechens durch den angeklagten Mann plädiert. Dadurch sollte die Ehre der Frau und des Kindes, aber vor allem auch die Versor‐ gung der beiden durch eine „Wiedergutmachungsehe“ sichergestellt werden. 340 Anna Heller trat im Unterschied zum gewohnten ehegerichtlichen Prozedere ohne Vogt vor die richterliche Männerrunde. Nur ihre Mutter begleitete sie. Das konnte sie, gesetzlich gesehen, zwar 1744 gerade noch tun, da sie volljährig und ledig war. Allerdings konnte in den hier untersuchten Quellen keine weitere, vergleichbare Konstellation beobachtet werden. 341 Damit handelte es sich bei 132 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Ute Gerhard, Sonderausg., München 1997, 460-479. 342 Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt a. M. 2006, 210-213. Sie verweist explizit darauf, dass es „in der gewohnheitlichen Rechtspraxis verankert“ war, sich als Frau und speziell als Witwe freiwillig einen männlichen Beistand zu nehmen. Das hatte nicht zuletzt darin seinen Grund, dass sich Frauen mit einer männlichen Vertretung bessere Erfolgschancen vor Gericht ausrechneten. Den Männern wurde in der patriarchalen Ordnung gemeinhin mehr Autorität zugebilligt, weil sie für kompetenter und glaubwürdiger gehalten wurden. 343 StABE, B III 824, 92-99. 344 Certeau, Kunst, 15. Hellers Angelegenheit um einen Sonderfall, für den angenommen werden darf, dass zumindest die gewohnheitsrechtlichen Usanzen im Gericht von der Ak‐ teurin arg strapaziert wurden. 342 Vor Gericht verlangte die Tochter die väterliche Anerkennung des unehelichen Kindes, wehrte sich aber selbst vehement, den geständigen und sogar heiratswilligen Mann zu ehelichen. Dadurch sträubte sie sich indirekt auch dagegen, das Kind als ehelich zu legitimieren. Wie aus dem Urteil hervorgeht, erhob zwar die Mutter der Anna Heller mittels Zugrecht Einsprache gegen die Eheschließung zwischen ihrer Tochter und dem Kindsvater Bendicht Beutigkofer. Deswegen und wegen des angeblich vorausge‐ gangen Eheversprechens, das von Heller nicht explizit bestritten wurde, wurde dieser Fall konsequenterweise als prekäre Eheschließung qualifiziert. Doch bei genauer Lektüre des Verhandlungsprotokolls wird deutlich, dass der mütterliche Einspruch von der eigensinnigen Tochter angeregt wurde. Weil die Schwangere bereits seit längerer Zeit ihre Volljährigkeit erreicht hatte, stand der Mutter den Richtern zufolge das Zugrecht gar nicht mehr zu. Aus diesem Grund könne das Gericht die Einwände nicht berücksichtigen, „noch auch ihre Tochter selbige zu einem Grund und Ursach brauchen, warumb Sie den Beutigkofer nicht ehelichen wolle“. 343 Laut den Richtern ‚brauchte‘ die für hartnäckig befundene Tochter also den Einspruch der Mutter als List, um Beutigkofer nicht heiraten zu müssen. In der verbalen Beurteilung des eigensinnigen Handelns von Anna Heller wurde in der Praxis sehr konkret, was de Certeau in Bezug auf Handlungsmacht der HeldInnen des Alltags meint, wenn er beschreibt, wie „die Verbraucher[Innen] […] mit und in der herrschenden Kulturökonomie die zahlreichen und unend‐ lichen Metamorphosen des Gesetzes dieser Ökonomie in die Ökonomie ihrer eigenen Interessen und Regeln ’um[zu]frisieren’“ versuchten. In vergleichbarem Sinne versuchte Heller das Zugrecht ihrer Mutter als äußerstes „Hilfsmittel“ einzusetzen, um nicht heiraten zu müssen. 344 Die Mehrheit der Oberchorrichter war vom Verhalten der Frau, die das ständi‐ sche Privileg der Ehe bewusst ablehnte, dermaßen irritiert, dass sie es für „nicht 133 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 345 StABE, B III 824, 92-99. 346 Coontz, Marriage, 9. 347 StABE, B III 824, 92-99; ein ähnliches Unverständnis der Eherichter hat auch Alexandra Lutz feststellen können, die Ehescheidungen in der Frühen Neuzeit untersucht hat. Der entschiedene Scheidungswille, der einer eigenen Handlungstheorie von Frauen entsprach, konnte beim Gericht Verwunderung und Unverständnis auslösen, weil er den frühneuzeitlichen Ehenormen und zeitgenössischen Ordnungsvorstellungen widersprach. Lutz, Ehepaare, 7-8. 348 StABE, B III 824, 92-99. 349 Latour, Soziologie, 100; nicht nur der französische Soziologe kommt zu diesem Schluss, sondern auch die Historikerin Suzanne Desan und der Historiker Jeffrey Merrick haben in ihren Studien zum frühneuzeitlichen Frankreich Individuen „with complicated agendas and strategies of their own“ vor den Ehegerichten beobachtet. Desan/ Merrick, Introduction, xvi. gläublich“ befanden und als eine Lüge abtaten. 345 Die zeitgenössische Logik der Herstellung des Sozialen, die die Produktion und Verteilung von Gütern und Menschen organisierte, politische und ökonomische Verbindungen stiftete, die Verteilung von Arbeit nach den Kriterien von Geschlecht und Alter koordinierte und die persönlichen Rechte und Pflichten von den Menschen in Bezug auf sexuelle Beziehungen und Vererbungstechniken regulierte, 346 sah ein solches Verhalten von einer Frau nicht vor. Im Rahmen der ehrbasierten patriarchalen Logik der vorherrschenden Heiratsökonomie war Hellers Heiratsunwille für die Eherichter schlicht nicht nachvollziehbar. „Daß eine muter so grausamm an ihrem kind, und gegen sich selbst so schandlichen betragens wäre, daß selbige vorsezlicher weiß demselben seine eheliche gebuhrt, die ihme sein vatter zu geben begehrt ohne deßthalb einichen guten grund zu geben, benemmen und sich selbs in die straff eines hureyhehlers und in die reputation einer unzüchtigen dirnen sezen wurde“, konnte in der herrschenden Logik der Gerichtsmehrheit nicht der Wahrheit entsprechen. 347 Die vom Oberchorgericht hervorgebrachte Quelle zeugt damit vom Eigensinn und der Risikobereitschaft dieser Akteurin, ihrem eigenen Lebensentwurf zu folgen - ohne Rücksicht auf die ehrrührige und sexuell konnotierte Stigmatisation durch das Urteil der Berner Obereherichter. 348 Dabei erhielt sie Unterstützung von ihrer Mutter. Sie untermauern mit ihrem Handeln vor Gericht, dass AkteurInnen in prekären Verhältnissen „in der Lage“ waren, „ihre eigenen Handlungstheorien [oder zumindest -logiken] vorzuschlagen“, weil sie „voll entwickelte reflexive und geschickte Metaphysiker [oder zumin‐ dest AkteurInnen waren]“. 349 Anna Hellers eigenwillige Handlungstheorie wurde zwar von der Mehrheit der Oberchorrichter vehement abgelehnt. Das Gericht entschied, dass sie es dem 134 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 350 Vgl. zur Funktion der Ehegerichte, Männer dem Ideal des rechten Hausvaters zu unterwerfen Heinrich Richard Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit, hrsg. v. Martin Dinges, Göttingen 1998, 213-236. 351 StABE, B III 824, 92-99. 352 Dieses Minderheitenurteil stellt einen absoluten Sonderfall dar. Der Normalfall war, dass eine Frau Schwängerung unter Eheversprechung beweisen sollte. War der Mann geständiger oder überführter Vater des unehelichen Kindes, aber das Eheversprechen konnte von der Frau nicht schlüssig bewiesen werden, wurde der Mann zur Erhaltung und Auferziehung des Kindes gezwungen. Bei Anna Heller sieht man die Inversion dieses Normalfalls; ebd. 353 StABE, B III 827, 159-170. 354 StABE, B III 824, 159-170. Kind schuldig wäre, diesem durch die Heirat den ehelichen Status zukommen zu lassen. Damit lieferten die Richter die Frau im konkreten Fall dem Ehewunsch des Bräutigams aus. Sie folgten dabei der gängigen gerichtlichen Logik, die Frauen aber auch gerade gegen die patriarchale Willkür von Verwandten schützen konnte. 350 Hier wirkte sie dennoch bevormundend. Aber auch Heller vermochte Unstimmigkeiten und Widersprüche unter den Richtern zu wecken. Eine Minderheit war nämlich anderer Meinung, weil „die Heller ohngeacht aller […] an Sie verwendten vermahnungen, dennoch nicht zu bewegen gewesen den Beutigkofer zu ehelichen“. 351 Das Ausmaß ihres Eigensinns veranlasste eine Minderheit dazu, Heller dieselben Rechte zuzuerkennen, die im gleichen Fall einem Mann zugestanden worden wären: Das Eheversprechen hätte laut der Minderheit der Richter zuerst bewiesen werden müssen, obwohl man es in diesem Lager genauso unverständlich fand, dass die Frau die Ehe ausschlug. Ohne diesen Beweis sollte das Kind dem Vater aber trotzdem unehelich zuge‐ sprochen werden. Die Erziehung und Versorgung des Kindes sollte allerdings der Mutter obliegen, was den gemeinhin gefällten Urteilen über Väter uneheli‐ cher Kinder entsprach. 352 In anders konfigurierten Fällen konnte es sein, dass die richterliche Mehrheit durchaus dem „freyen Willen der Braut“ folgte, weil diese „ihren Willen deutl[ich] und offenherzig bezeuget“ hatte. 353 Das offenbart die Rekursurkunde im Fall von Magdalena Koch. Mit ihrem entschlossen artikulierten Ehewillen widersprach sie den patriarchalen erbrechtlichen Interessen ihrer Onkel, die nota bene jeweils den militärischen Grad eines Hauptmannes und eines Leut‐ nants trugen. „So kan man unmöglich begreiffen, warum die J[un]gfr[au] Koch […] zum Cœlibat verurteilt - und ihr die Freyheit genommen seyn solte, über ihre Person zu Gunsten eines Liebhabers zu disponieren.“ 354 Auch in diesem Fall handelte es sich um einen ambivalenten Entscheid. Denn die Gerichtsminderheit 135 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 355 StABE, B III 827, 159-170. 356 StABE, B III 826, 394-400; vgl. zum Begriffspaar, das auch im bernischen chorgerichtli‐ chen Kontext auftrat Ulrike Gleixner, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt a. M. 1994, 9. 357 StABE, B III 826, 1-6. 358 StABE, B III 824, 432-438; ebenso StABE, B III 829, 580-583. In diesem Fall war die Rede davon, dass der Bräutigam „auf Vollziehung des geschlossenen Ehe-Bündnusses samt der Verlobtin beharret“. 359 StABE, B III 667. Chorgerichtsmanual des Oberehegerichts Bern (1751), 20-21. 360 Ebd., 35. 361 In Bezug auf den hier zitierten Fall handelte es sich um die prekäre Eheschließung von Christen Beiner und Maria Sahli, die wiederholt vor Gericht auftraten, weil sie, entgegen verschiedenen gerichtlichen Urteilen, immer wieder versuchten in ehelichen Verhält‐ nissen zusammenzuleben. Der Fall findet sich nicht im systematisch ausgewerteten Hauptquellenkorpus, eignet sich an dieser Stelle aber ausgezeichnet, um den ehelichen Eigensinn in prekarisierten Ehebegehren zu illustrieren; ebd., 20-21; 35; 76; 137. 362 StABE, B III 826, 57-63; StABE, B III 827, 381-385. wollte den freien Willen der Frau zu Gunsten ihrer Onkel unterdrücken. 355 In der Betrachtung der Beispiele wird deutlich, dass vor Gericht eigensinniger Wille von beiden Geschlechtern ausgehen konnte. Sowohl der „Kerl“ als auch „das Mensch“ konnten von Gerichtssässen in prekären Eheschließungsangele‐ genheiten eigensinnig empfunden und ambivalent beurteilt werden. 356 Analog zu den detailliert ausgeführten Fällen wurden eigensinnige Hand‐ lungen, die im Rahmen prekärer Eheschließungen stattfanden und mit ko‐ difizierten patriarchalen Gesetzen, ständischem Gewohnheitsrecht und fami‐ liär-verwandtschaftlichen Vorstellungen kollidierten, von den Opponierenden und dem Gericht über die gesamte Zeit als hartnäckig und intentional vor‐ gestellt. In der zeitgenössischen Sprache „verharrt[en]“ eigensinnige Eheaspi‐ ranten, die im Latour’schen Sinn ihre eigene Metaphysik entwickelten, „auf ihrem AlternatifSchluss“. 357 Eigensinn insistierte in der Regel gegen Opposition „auf volzeuchung der einander versprochenen ehe“. 358 Er offenbarte sich in der „hartnäckigen Auffüehrung“ ehewilliger AkteurInnen, die „der Chorgerichts‐ Satzung zuwider […] heuwrathen“ wollten. 359 Die Ehewilligen ließen dabei trotz Verboten der lokalen Chorgerichte nicht voneinander ab. Es wurde „unter […] protest […] einander zuehelichen insistiert“, obwohl „aber dieser Heuwrath zu keinen Zeiten gestattet werden [konnte]“. 360 In „ihrem beharrlichen Vorsatz einander zu ehelichen“ ließen sie sich auch von Strafandrohungen nicht be‐ irren. 361 Die eigensinnigen AkteurInnen handelten in der Wahrnehmung der Opponierenden schlicht „eigenmächtig“. 362 Damit überschneidet sich diese Beharrlichkeit mit jener ‚Hartnäckigkeit‘, die Margreth Lanzinger in Bezug auf Heiraten zwischen verbotenen Verwandt‐ 136 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 363 Lanzinger, Verwandtschaft, 13. 364 Ebd. 365 Lanzinger, Liebe, 170. 366 Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 49. 367 Lanzinger, Verwandtschaft, 13. 368 Lanzinger, Liebe, 170; zum Wissen rund um Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren in Bezug auf die Dispensansuchen auf lokaler Ebene vgl. ebenso Margareth Lanzinger, „… sie bitten, sie weinen, sie drohen“. Emotionen in katholischen Ehedispensverfahren vom ausgehenden 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: Administory 3 (2018), 48-60, 49. schaftsgraden in katholischen Gebieten als maßgeblichen Faktor für den eheli‐ chen Erfolg herausgestrichen hat. Der Historikerin zufolge hieß Hartnäckigkeit in der Praxis für die AkteurInnen, „wenn sie ihr Heiratsvorhaben nicht aufgaben, sondern weiter verfolgten, selbst wenn Aussichtslosigkeit signalisiert wurde und sich immer wieder neue Hindernisse in den Weg stellten“. 363 Um einen Dis‐ pens zu erwirken, war Hartnäckigkeit „eine […] entscheidende Qualifikation“. 364 Lanzinger hat herausgestrichen, „dass Beharrlichkeit zum Erfolg führen konnte“ und es deshalb, „entscheidend [war], nicht aufzugeben“. 365 Diese Erkenntnis deckt sich mit dem Befund von Erika Flückiger Strebel, die die bernische Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts untersucht hat. Dabei hat sie festgestellt, dass zahlreiche subalterne AkteurInnen hartnäckig Gebrauch von der Möglich‐ keit zu persönlichen Vorsprachen vor der Almosenkammer machten, um mit obrigkeitlicher Unterstützung kommunale Fürsorgeleistungen zu erwirken. 366 Lanzinger hat für den von ihr untersuchten österreichischen Kontext ange‐ nommen, dass die DispensanwärterInnen wussten, dass sich Hartnäckigkeit auszahlen konnte. Anhand des Aktenmaterials hat sie feststellen können, dass Kenntnisse rund um die katholische Dispenspraxis unter den Zeitgenossen als Teil der alltäglichen Kommunikation in den Wirtshäusern zirkulierten. Daraus hat sie geschlossen, dass es zum verbreiteten Alltagswissen der AkteurInnen gehörte, dass Hartnäckigkeit ein Erfolgsfaktor sein konnte. Somit erscheint die Fähigkeit zum Insistieren „als Element einer politischen Kultur“. 367 Ob im Berner Kontext die Hartnäckigkeit von „einschlägigen Informationen“ aus dem sozialen Nahraum veranlasst war, 368 kann mit dem vorliegenden Quellenmaterial nicht verifiziert werden. In Anbetracht von Lanzingers Befund erscheint es allerdings wahrscheinlich. Ansonsten ist der Umstand schwer zu erklären, wieso heirats‐ willige AkteurInnen ihre Fälle überhaupt über den lokalen Kontext hinaus vor das Oberchorgericht und sogar vor den bernischen Rat weiterzogen. Wie weiter oben erwähnt, musste Erfolg im Zusammenhang mit dem ressourcenintensiven Verfahren zumindest möglich erscheinen. 137 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 369 StABE, B III 829, 272-277. 370 Ebd., 378-381. Hartnäckiger Eigensinn allein reichte selbstverständlich nicht aus, um einen Gerichtsfall zu gewinnen, sondern konnte bei zu großer Uneinsichtigkeit in den gegenteiligen Effekt umschlagen. Das bezeugt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1786. In dem bereits oben erwähnten Fall erhob der Nebenbuhler Jakob Heuberger von Bözen Einspruch gegen die bereits vollzogene Eheschließung zwischen Jakob Brak und Barbara Brak, geborene Trinkler. Die Braut hätte ihm angeblich zuerst die Ehe versprochen, indem sie mit ihm öffentlichen Umgang gepflegt und Ehepfänder angenommen hätte. Das Gericht forderte den Nebenbuhler auf, das Eheversprechen mittels Zeugen zu beweisen, was er in einer ersten Gerichtsverhandlung unterlassen hatte. Deshalb wurde er vom Oberchorgericht in seiner Klage abgewiesen. Erneut sprach der Mann gegen die Ehe seiner vermeintlichen Braut mit dem Nebenbuhler ein - nun, indem er das Ehepfand zurückforderte. Wieder verlangte das Gericht von ihm den Beweis seines Eheversprechens, den er abermals nicht erbringen konnte. Erneut wies ihn das Gericht deshalb ab. Der Mann aber blieb hartnäckig und erhob neuerlich Einspruch gegen das Urteil und damit gegen die Gültigkeit der Ehe. Nun hatten die Richter allerdings genug von der unbegründeten Hartnäckigkeit. Obwohl der Fall im Rekursmanual zu stehen kam, weil der Mann eine Urkunde verlangt hatte, wurde ihm der Rekurs vor den Rat vom Gericht explizit verweigert. 369 Dennoch erscheinen Unentschlossenheit und Reue in anderen Fällen als Gegensatz zu halsstarrigem Eigensinn und geben dadurch Aufschluss über den Einfluss des Letzteren in allgemeiner Hinsicht. Zögerlichkeit und Bedauern ver‐ halfen meist nicht zum gewünschten Ergebnis. Das lässt sich an den folgenden Fällen demonstrieren: Im ersten Fall begehrten Onkel, Vogt und Brüder von Ludwig Rognet von St. Livres 1787 anfänglich das Zugrecht. Vor dem Gericht sahen sie allerdings davon wieder ab. Nun weigerte sich allerdings plötzlich der Bräutigam, sein schriftlich gegebenes Eheversprechen einzulösen. Weil man den Status der Frau, die sich unter dem schriftlichen Versprechen der Ehe aus der Sicht des Gerichts berechtigterweise schwängern lassen hatte, und jenen des Kindes nicht vom „Wankelmuht“ des Vaters abhängig machen wollte, hieß man das Eheversprechen gültig. 370 Ähnlich gelagert waren die Verhältnisse im zweiten Fall, in dem Anna Maria Senn von Unterkulm 1782 „ihrer Verspre‐ chung reuig“ wurde, wogegen der Vater der Frau nicht bezweifelte, „es seyen Verbindungen in absicht auf eine künftige Ehe […] obhanden“. So hielt das Gericht die Frau an, ihr Versprechen zu halten, obwohl sie es „reuens worden“ 138 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 371 Ebd., 67-70. 372 Ebd., 580-583. 373 StABE, B III 827, 298-303. 374 StABE, B III 826, 394-400. 375 Ebd. 376 Ebd. 377 Certeau, Kunst, 90. 378 StABE, B III 830, 106-107. war. 371 In Opposition zu Reue und Wankelmut war Eigensinn zielgerichtet und selbstbewusst. Und so fand das Oberchorgericht auch, „wann in so wichtigen Sachen kein zusammenhang noch Ordnung in derselben sich zeiget, die Gedanken varieren, und bald für bald wieder dieselben [Eheverlöbnisse] gestimmt sind, mithin keine feste Entschließung vorhanden, […] dann bald auf die Vollziehung [der] heurath angedrungen, bald wieder davon abgestanden“, 372 dann sollten keine Ehen zustande kommen. Wo ein Eheversprechen seit der Verlobung zwischenzeitlich zu einem „nur einseitige[n] Begehren“ geworden war, obwohl es nach wie vor nicht geleugnet wurde, entschied das Oberchorge‐ richt in der Regel gegen den Vollzug der jeweiligen Eheschließung. 373 Die Gerichtsquellen aus den Jahren 1742 bis 1798 verwendeten für die begriffliche Charakterisierung der eigensinnigen Handlungen und der Hartnä‐ ckigkeit der AkteurInnen über den gesamten Zeitraum neben den bereits an‐ geführten Eigenschaftswörtern Attribute wie „störrisch“ 374 und „stürmisch“ 375 . Gelegentlich wurde das eigensinnige Verhalten der AkteurInnen von Zeugen und Richtern als „bös“ und „frech“ geschildert. 376 Diese Adjektive erinnern stark an jene Frechheit, die de Certeau zufolge die Taktiken der Helden des Alltags charakterisiert: „frech [werden dabei] Elemente miteinander in Verbindung gebracht, die etwas anderes in der Sprache eines Ortes [hier: das Ehegesetz der Berner Regierung] aufblitzen lassen und den Adressaten [hier: das Gericht] verblüffen sollen.“ 377 „Die Frechheit“, hielten die Obereherichter in einem kon‐ kreten Fall empört fest, konnte von AkteurInnen gar „so weit getrieben werden […], eine rechtliche Action von dem Richter zu intentieren, und selbige vor den höcheren Richter ziehen zu dörfen“. 378 Hier offenbart sich, wie politisch der taktisch agierende Eigensinn die Justiz beanspruchte und dadurch den sich ausdifferenzierenden modernen Staat nicht nur zu Interventionen einlud, sondern auch zwang. Eigensinnige AkteurInnen prekärer Eheschließungen wünschten sich in den allermeisten Fällen die Ehe. Dem Schreiber des Berner 139 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 379 Im Ancien Régime wurden in sehr vielen Rekursurkunden, die prekäre Eheaspiration betrafen, das Verb ‚begehren‘, das Adjektiv ‚begehrt‘ oder das Substantiv ‚Begehren‘ in der einen oder anderen Form verwendet. 380 StABE, B III 826, 246. 381 Certeau, Kunst, 89. 382 Ebd., 13. 383 StABE, B III 830, 83-86. Oberchorgerichts zufolge „begehr[t]en“ sie diese geradezu. 379 Sie stellten der Heirat eigensinnig und hartnäckig nach, wodurch die Ehe permanent „der Gefahr ausgesezt [war], der List und der dreistigkeit zum Raub zu werden“. 380 Durch die angeführten Quellenbegriffe aus den Rekursmanualen lassen sich die eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen in Gegenüberstellung mit der Wortwahl von de Certeau noch eindeutiger mit dessen Verständnis der Taktik in Verbindung bringen: Bei ihm bewegt sich die Taktik stets in einer ihr mehr oder weniger fremden hegemonialen Ordnung. „[Darin] wildert [sie] und sorgt für Überraschungen. […] Die Taktik ist die List […].“ 381 Wie beim Eigensinn zeigt sich auch in Bezug auf die Handlungstheorie von de Certeau, dass die gebildeten Kategorien nicht dem poetischen Reiz des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin entsprungen sind, sondern eindeutige Entsprechungen im zeitgenössischen Handeln der historischen AkteurInnen finden und empirisch gesättigt sind. In dieser Lesart verwendeten AkteurInnen prekärer Eheschlie‐ ßungen Taktiken, um sich die eigensinnige Ehe, die ihnen aufgrund des Gesetzes nicht oder höchstens bedingt zustand, „listenreich“ anzueignen. 382 Dreist ver‐ suchten sie die Ehe im Feld der matrimonialen Normen der Obrigkeit zu ‚rauben‘. So schafften es sogar minderjährige Personen, denen „der hohe Gesezgeber gewisse Schranken gesezt [hatte]“, ihren „Willen“ gegen „die Aufsicht und mehrere Erfahrenheit ihrer nächsten Verwandten“ oder ihrer Gemeinden und Gesellschaften durchzusetzen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 383 2.3.2 Alter, Körper, Geist Minderjährig und ‚leichtsinnig‘ Die meisten Eheaspirationen, die zwischen 1742 und 1798 Eingang ins Re‐ kursmanual des Berner Oberchorgerichts fanden, thematisierten das junge oder hohe Alter der Eheaspiranten. Sie wurden durch Einsprachen aus der Verwandtschaft und von Vögten prekarisiert. Dabei waren letztere entweder Vertreter einer Gemeinde oder der Familie oder sprachen vor Gericht im Namen beider. 44 % (27) aller Einsprachen (61) wendeten die Minderjährigkeit zum 140 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 384 StABE, B III 824, 12-19. 385 Ebd., 432-438. 386 StABE, B III 826, 1-6. 387 StABE, B III 830, 106-107. 388 Ebd., 586-592. 389 StABE, B III 827, 29-35. 390 Anne-Lise Head-König, Art. Ehe 2013. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D7975.php? topdf =1 (26.08.2021); Holenstein, Beschleunigung, 314. Holenstein und Head-König veran‐ schlagen das Heiratsalter in Gebirgsregionen für das 17. Jahrhundert in der Eidgenos‐ senschaft für Frauen bei 28 Jahren und für Männer bei 31 Jahren. In Regionen, die Heimindustrie kannten, lag der Durchschnitt bei 25-26 Jahren für Frauen, bei 27-28 Jahren für Männer. Das hatte sich im 18. Jahrhundert nur geringfügig verändert. So geht Pfister für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts von einem mittleren Heiratsalter von 24 (Frauen) und 28 Jahren (Männer) für ländliche Gebiete wie den Kanton Bern aus; Pfister, Strom, FN 15; 369. 391 Josef Ehmer/ Wilko Schröter, Art. Heiratsmuster, europäisches, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, hrsg. v. Friedrich Jaeger, 16 Bde., Stuttgart, Weimar 2005-2012, 354-359. 392 StABE, B III 830, 586-592. Zeitpunkt des Eheversprechens von wenigstens einer der beiden Personen gegen die abschließende Einsegnung der Ehe ein. „[B]lutjunge Persohn[en]“, die zum Zeitpunkt der Verlobung „noch nicht zum Tisch dess Herren admittiert ware[n]“, schlossen „hinterrüks“ Eheversprechungen gegen den Willen der El‐ tern, Verwandten und Vögte ab, so die Gegner dieser Eheschließungen. 384 Waren sie nicht mehr ganz so jung, dass sie noch nicht zum Abendmahl zugelassen waren, so waren sie dennoch erst seit Kurzem dazu befugt, 385 „käumerlich Achtzehenjährige“, „der Kindheit noch kaum entrunnene[] Jünglinge[]“, „under den Jahren“, 386 „bloß neunzehnjährig“, 387 sie hatten „erst das siebenzehende Jahr Ihres Alters zurukgelegt“ 388 oder die Eheversprechen wurden laut den Einsprechern wenigstens „zwischen […] jungen Leuten“ 389 geschlossen. Diese aufgrund ihres jungen Alters prekarisierten Menschen - Frauen oder Männer und unabhängig davon, ob aus Gebirgsregionen oder aus Kantonsgebieten mit fortgeschrittener Heimarbeit - versuchten deutlich früher zu heiraten als der eidgenössische Durchschnitt. 390 Ihr Eheanspruch wich damit deutlich vom sogenannten European Marriage Pattern ab, das zuerst von John Hajnal konstatiert worden ist, seither unterschiedliche Alterationen erfahren und die Forschung in vielerlei Hinsicht nachhaltig geprägt hat. 391 Die hier vorgestellten jungen Menschen handelten entgegen kollektiven patriarchalen Vorstellungen und Machtansprüchen sowie geltendes Gesetz, die das von der Sozialgeschichte konstatierte Heiratsverhalten strukturierten. Die Opponierenden vermuteten „jugendliche[] Unbesonnenheit“ hinter den minderjährigen Ehevorhaben und diskreditierten mit dieser Charakterisierung die Beständigkeit der Motive der Heiratswilligen. 392 Diese Kritik wurde oft 141 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 393 StABE, B III 826, 606. 394 StABE, B III 824, 432-438. 395 StABE, B III 826, 175-184. 396 Ebd., 1-6. 397 Auch Lüdtke macht in Zusammenhang mit dem Arbeiteralltag auf die Zuschreibung von ‚Leichtsinn‘ im Zusammenhang mit eigensinnigen Verhaltensweisen aufmerksam. Allerdings sind diese Aktionen bei ihm nicht sexueller Natur, sondern zeugen eher vom großen Mut und erzeugten Spektakel. Vgl. Alf Lüdtke, Arbeit, Arbeitserfahrungen und Arbeiterpolitik. Zum Perspektivenwandel in der historischen Forschung, in: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, hrsg. v. Alf Lüdtke, Hamburg 1993, 351-440, 378. 398 StABE, B III 826, 1-6. 399 Breit, Leichtfertigkeit, 5. explizit in Zusammenhang mit dem „Liebesverstandniß junger Leuten“ und der jugendlichen Sexualität gebracht. 393 Der Widerstand gegen die Eheaspira‐ tionen assoziierte Jugend über Geschlechtergrenzen hinweg mit Leichtsinn. Dieser zeichnete sich durch fehlgeleitete Leidenschaften und Irrationalität aus und erhielt eine ausgeprägte sexuelle Konnotation: 394 Während „junge leicht‐ sinnige Weibsbilder“ durch die Eherichter „vor […] Nachstellung geschirmet […] werden“ 395 sollten, mussten minderjährige Männer der ehelichen Opposi‐ tion zufolge vor dem „Feuer ihrer Lüsten“ geschützt werden. 396 Die in der frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft wertvolle jungfräuliche Unschuld musste vor der zügellosen sexuellen Leidenschaft der jungen Männer bewahrt werden. Die ehehindernden Akteursgruppen verwendeten Leichtsinn als abwertende Bezeichnung für jugendlichen Eigensinn und verbanden ihn mit altersbedingter Irrationalität, Naivität und Sexualität. 397 Den unerfahrenen Sinnen wurde die rationale Kontrolle über das eigene Handeln abgesprochen und sie wurden der Unbedachtheit zugeschrieben. „Unbesinte junge Leuthe“ heirateten, weil ihnen aufgrund mangelnder Erfahrung die Vorstellung für die Tragweite der ehelichen Institution fehlte, so die Logik der Opponierenden. 398 Ehelicher Leichtsinn kann somit analog zur sexuellen Leichtfertigkeit verstanden werden, die Stefan Breit für Oberbayern untersucht hat. Dort bezeichnete diese den Tatbestand der illegitimen, also vorehelichen Sexualität. Breit geht davon aus, dass das Delikt so bezeichnet wurde, weil diese sexuellen Beziehungen in Anbetracht der nicht gewährleisteten ökonomischen Versorgung der zu erwartenden Kinder im zeit‐ genössischen Verständnis unbedacht eingegangen wurden. Somit schwang bei der sexuellen Komponente immer auch die ökonomische mit. Allerdings musste man sich aus verwandtschaftlicher Perspektive die legitime Sexualität nicht nur finanziell, sondern auch altersbeziehungsweise erfahrungsmäßig leisten können. 399 Unter anderem mit dem patriarchalen Argument des moralischen Schutzes der Jugend galt es für die opponierenden Verwandten und Vögte 142 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 400 StABE, B III 824, 12-19. 401 Chorgerichtssatzung 1743, 763; Ehegerichtssatzung 1787, 795-796. 402 StABE, B III 824, 12-19. 403 Ebd. 404 Vgl. zur Funktion der Wiederholung des Eheversprechens Lischka, Liebe, 205-208. Sie hat gezeigt, dass es durch die Wiederholung der Ehezusage im zeitgenössischen Verständnis zu einer Art Akkumulation der Verlässlichkeit und Sicherheit kam. Dabei hat sie verwiesen auf die Studie von Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe …“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge folglich die Ehevorhaben von Minderjährigen „under den Jahren wegg[zu]zü‐ chen“. 400 Der zweite Artikel des ersten Absatzes der Chorgerichtssatzung vom 3. Juli 1743 legte das Ehefähigkeitsalter auf 25 Jahre fest. Die revidierte Ehegerichts‐ satzung vom 25. Januar 1787 senkte das Ende der Minderjährigkeit geringfügig auf das 24. Lebensjahr, wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt wurde. Diese beiden Gesetze bildeten die juristische Grundlage für die genannten patriarchalen Einsprachen im hier analysierten Zeitraum. 401 Die Untersuchung offenbart allerdings, dass elf weiblichen und 16 männli‐ chen Minderjährigen der eigene Sinn nicht danach stand, sich an das patriar‐ chale Gesetz zu halten. Sie begegneten dabei vor allem dem Widerwillen der Väter. 14 Mal standen diese am Anfang der Zugrechtsklage. Die Minderjährigen handelten aber auch gegen die Interessen anderer Familienangehöriger - Mütter, Großeltern, Brüder, Onkel und Schwager - und ihrer Vögte. Minderjäh‐ rige stellen für das Ancien Régime in dieser Untersuchung die größte Gruppe dar, die von ehelicher Prekarität betroffen war. Doch wie manifestierte sich der minderjährige Eigensinn? Eine ‚blutjunge‘ und unmündige Verlobte namens Anna Maria Fridli weigerte sich zum Beispiel 1742 hartnäckig, angenommene Ehepfänder zurückzugeben, obwohl sie vom Amtmann in ihrer Heimatgemeinde dazu aufgefordert worden war. Die junge Frau aus Herzogenbuchsee antwortete selbstbewusst, „dass Sie [dem Mann], halten wolle, was Sie Ihme versprochen habe“, obwohl Vogt, Mutter und die übrigen Verwandten behaupteten, die minderjährige Frau sei beim Trunk zum Eheversprechen überredet worden. 402 In Abwesenheit des Bräutigams „bekräftiget[e]“ die Braut allerdings - „und ohne bym Wein zu seyn“ - das Eheversprechen vor dem lokalen, erstinstanzlichen Chorgericht erneut. 403 Das ging aus der Zuschrift des subsidiären Chorgerichts hervor, die dem Oberchor‐ gericht vorlag. Mit ihrem persistenten Verhalten demonstrierte die junge Frau ihre Überzeugung und Überlegtheit. Weder Leichtsinn noch Alkohol hätten sie zu dieser Verlobung geführt, sondern ihr reflektierter und beständiger Wille, so die Botschaft ihrer kommunikativen Handlung. 404 Wenigstens für 143 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände vom 12. bis 15. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1985, 224. Schröter hat davon gesprochen, dass es durch die Wiederholung des Eheversprechens jeweils zu einer „kumulativen Verstärkung“ der Zusage kam. 405 StABE, B III 824, 12-19. 406 Ebd. 407 Ebd. 408 Ebd. 409 StABE, B III 826, 175-184. 410 Ebd. 411 Ebd. die Minderheit des Gerichts und einen Vogt der doppelt bevogteten Frau war durch ihr Verhalten „genugsamm gezeiget, daß Sie hierzu von niemanden eingeführt, noch verkupplet, sonderen disere Eheversprechung freywillig von Ihra angenommen und gegeben worden“ war. 405 Obwohl sie vor dem Ober‐ chorgericht „bey weitem nicht eine gleiche Sprache wie dißmahlen [vor dem lokalen Chorgericht] geführt“ hatte, fand die Minderjährige mit ihrer Taktik des Nachdrucks im Gericht Fürsprecher. 406 Einige Assessoren, wenn auch die Minderheit, unterstützen sie, obwohl sie eindeutig gegen gesetztes Recht gehandelt hatte. Während der Verhandlung knickte sie allerdings ein, „weil der [andere] Vogt und die Verwandten darwider seyen“, also der ausgeübte Konformitätsdruck zu groß wurde. 407 Doch die junge Frau fand am Ende der Verhandlung zur alten Hartnäckigkeit zurück. Denn ihr zweiter Vogt strebte in ihrem Namen den Rekurs gegen das Urteil des oberchorgerichtlichen Quorums an. 408 Es kann nur darüber spekuliert werden, ob das Einknicken der Frau der Mehrheit der Eherichter den ausschlaggebenden Grund lieferte, sich gegen die prekäre Eheschließung der jungen Frau auszusprechen. Dass es ausschließlich daran gelegen hat, dass das Eheversprechen unter Alkoholeinfluss im Wirtshaus gegeben worden war, kann aber bezweifelt werden. Auch Barbara Bohren von Grindelwald, die 1760 vor Gericht als ein „junges Weibsbild“ identifiziert wurde, sollte den Angaben des Vogts, ihrem Onkel, zufolge „durch den Trunk“, bei „Wein und Danz“ während des Jahrmarkts im Gasthaus „übernommen“ worden sein. 409 Das Gericht erkannte den eigensin‐ nigen Handschlag der minderjährigen Frau mit Rudolf Amacker von Wilderswil vor zwei ehrbaren Zeugen auf die Formulierung des Mannes hin - „[n]un so wollen Wir beede zusammen einander zur Kirchen führen“ - aber trotzdem als gültiges Eheversprechen an. 410 Denn die Verlobung entsprach den Richtern zufolge ihrer Form nach jenen Gepflogenheiten, „die immer unter gemeinen Land-Leuten gebräuchlich [waren]“. 411 Es zeigt sich damit, dass Ehebegehren von Minderjährigen, obwohl klar im Widerspruch zum Gesetz, aufgrund ihres praktisch an den Tag gelegten hart‐ 144 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 412 Ebd., 614-627. 413 Ebd; vgl. zum Stellenwert gemeinsamer Übernachtungen unter demselben Dach für die Gültigkeit von Verlöbnissen im Rahmen von Eheklagen Lischka, Liebe, 316-325. 414 Vgl. zur Funktion der Öffentlichkeit in Bezug auf die Gültigkeit von Eheschliessungen seit der Reformation Roper, Church. 415 StABE, B III 826, 614-627. 416 Cecilia Cristellon weist darauf hin, dass in ganz Europa Eheschliessungen dokumentiert sind, „die voll gültig, wenn auch im Grund verboten waren“, weil sie im Haus der Braut vor dem Pfarrer ausgesprochen wurden. Dafür konnte der Pfarrer in katholischen Regionen von der Braut sogar unter dem Vorwand des Bedürfnisses nach der Beichte ins eigene Haus gelockt werden. Cristellon, Haus, 317. 417 StABE, B III 826, 614-627. 418 Ebd., 614-627. näckigen Eigensinns nicht zwangsläufig scheitern mussten. Durch die bewusste Wiederholung des anhaltenden Ehewunsches vor Zeugen oder dem Gericht, bekräftigten minderjährige Heiratswillige einerseits die anhaltende Gültigkeit ihrer Eheversprechen. Andererseits unternahmen sie den Versuch, den durch die Opponierenden hervorgebrachten Vorwurf des jugendlichen Leichtsinns zu widerlegen, indem sie sich vor Gericht als selbstbewusste Persönlichkeiten inszenierten. Anna Scheidegger, die 1764 mit einem „Jüngling“ namens Hans Müller verlobt war, gelang es beispielsweise, das Eheversprechen, zu dem zwei‐ fellos „keynerlei Verlokung und Arglist“ notwendig war, gegen den Ehezug des widerwilligen Stiefvaters des Bräutigams durchzusetzen. 412 Der Minderjährige hatte die Ehewillige offenbar oft genug „eine geraume Zeit offentl[ich] bey Tag als bey Nacht mit Vorwissen allseithiger Verwandten besucht, ja sogar bey derselben eine ganze Wochen continue als bey seiner Verlobten zugebracht“. 413 Insofern war der Umgang zwischen den beiden öffentlich, wiederholt und bekannt. 414 Um alle Zweifel an der Gültigkeit dieses Eheversprechens aus dem Weg zu räumen, ging dann der Verlobte Müller auch noch zum lokalen Pfarrer. Vor diesem wiederholte er, dass er der Frau „die Ehe versprochen, und dieselbe heyrahten wolle“. 415 Dass er sich für die Bestätigung seines unnachgiebigen Heiratswillens den Pfarrer als Zeugen ausgesucht hatte, war kein Zufall. 416 Diese bewusste Handlung vollzog er, weil sein Stiefvater gegenüber demselben angeblich verlauten lassen hatte: „wenn […] sein Stiefsohn die Scheideggerin [Name der Frau] absolut heyrathen wolle, so wolle er sich nicht wiedersezen“. 417 Zudem waren Pfarrer Autoritätspersonen, die zumindest bei den Richtern für moralische Integrität und Glaubwürdigkeit standen. Das Ehebegehren des minderjährigen Stiefsohns, das der Pfarrer dann vor Gericht auch bezeugte, war hartnäckig genug. Die Gerichtsmehrheit entschied sich in diesem Fall zu Gunsten der Eheschließung des minderjährigen Hans Müller und der Anna Scheidegger. 418 145 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 419 Lanzinger, Liebe, 171. 420 StABE, B III 824, 432-438. 421 Ebd. 422 Alle Zitate bei Certeau, Kunst, 89. Die Begehren der gesetzlich zum elterlichen Konsens verpflichteten Minder‐ jährigen waren also vor dem Oberchorgericht nicht aussichtslos. Zwölf von 27 Fällen (44 %), in denen das Zugrecht aufgrund der Minderjährigkeit eingefordert wurde, endeten mit einem Gerichtsentscheid, der die begehrte Eheschließung erlaubte. Welche Faktoren - neben der Hartnäckigkeit und der Inszenierung von reflektiertem ‚eigenem Sinn‘ - zum Erfolg von Eheaspirationen minderjähriger AkteurInnen beigetragen hatten, kann nicht abschließend und generell, son‐ dern nur in Kenntnis der je spezifischen Handlungszusammenhänge beurteilt werden. 419 Im besprochenen Fall war die Mitwisserschaft des Stiefvaters ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung des Ehegerichts zu Gunsten der Eheaspiranten. Dagegen wurden andere Väter von der Mehrheit der Eherichter von genau dieser Verantwortung entbunden und in ihrer patriarchalen Macht gestärkt, „[w]eylen […] eine bluthjunge Persohn so erst kürtzlich zum h[eiligen] Abendmahl underwiesen und darzu admittiert worden, […] noch nicht einen genugsahmen Begriff haben kann, was ratione einer zu bezeuchenden Ehe zu ihrem wahren Wohlsein und besten dienet“. 420 Obwohl die „langweirige [sic] und denen Ellteren bekant gewesene Frequentation dieser zweyen Versprochenen“ Madle Burri und Peter Bringold unbestritten war, hätten sie „wegen ihrer Jugend […] hierauß keine sonderliche Achtung geben und nicht prosumieren können, daß der Umbgang unter so jungen Leuthen alsobald eine Eheversprechung unter ihnen operieren sollte“. 421 Die Gegenüberstellung der Beispiele zeigt, inwiefern der taktische Erfolg der AkteurInnen im Einzelfall auch von wechselhaften „‚Gelegenheiten‘“ und gewissen Zufälligkeiten abhängig war. Was in einem Fall zum Erfolg führen konnte, stellte womöglich im nächsten den Hinderungsgrund für das Gericht dar. Die minderjährigen und eigensinnigen Eheaspiranten blieben in beson‐ derem Maße der Gunst und Gnade der Richter ausgesetzt und somit vom „Ort des Anderen“ abhängig. Dieser Umstand deutet erneut darauf hin, dass Eigensinn charakteristischerweise ambivalent beurteilt wurde. Das Gericht war durch „das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“. Die Minderjährigen mussten die „besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer“ - in diesem Fall die Oberchorrichter - geschickt nutzen, um überhaupt eine Heiratschance zu kreieren. Taktiken konnten die Erfolgschancen verbessern. Der Erfolg stellte aber immer noch eine „Überraschung“ dar, obwohl die entsprechende Hoffnung nicht aussichtslos war. 422 Folglich lässt sich der 146 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 423 Bezüglich derselben Beobachtung für Schaffhausen vgl. Roland E. Hofer, „Üppiges, unzüchtiges Lebwesen“. Schaffhauser Ehegerichtsbarkeit von der Reformation bis zum Ende des Ancien Régime (1529-1798), Bern, Berlin 1993, 354. Hofer hat das Verhalten des Ehegrichts als „scheidungsfeindliche Haltung“ interpretiert. Gleichzeitig hat er bemerkt, dass die reuigen Akteure im 18. Jahrhundert leichter zu einer Verlöbnisannul‐ lierung kamen als in den beiden Jahrhunderten davor. Das wiederum hat er als Ausdruck grösserer Freiheit bei der Partnerwahl und als zunehmende Bedeutung der Trauung auf Kosten der Verlobung gedeutet. 424 Jeffrey R. Watt, The Making of Modern Marriage. Matrimonial Control and the Rise of Sentiment in Neuchtâtel, 1550-1800, Ithaca, New York, London 1992, 204; 206; vgl. auch Coontz, Marriage, 147-148. 425 StABE, B III 830, 106-107. 426 StABE, B III 826, 552-557. Erfolg vor allem aufgrund des Verhaltens der Richter im Ancien Régime nicht monokausal mit einer einzigen Taktik minderjähriger AkteurInnen in Verbin‐ dung bringen. Die Realisation einer prekären Ehe war von wechselnden Fak‐ toren wie der personellen Besetzung des Gerichts, den Launen der Richter und den bevölkerungspolitischen Konjunkturen abhängig - aber auch von Zeugen, Ereignissen und Informationen, die nie vollständig und abschließend aus den Rekursurkunden hervorgehen. Eher möglich ist es, einen Faktor zu bestimmen, der in Kombination mit der Minderjährigkeit, konsequent zum Misserfolg prekärer Eheaspirationen führte. Wenn trotz unbestrittenem Eheversprechen, neben die Minderjährigkeit eines Akteurs oder einer Akteurin, zwischenzeit‐ liche Zweifel, aktiv geäußerter Widerwille oder deklarierte Reue einer vormals ehewilligen Partei getreten waren und keine Schwangerschaft vorlag, wurde das Versprechen von den Richtern in allen hier untersuchten Fällen aufgehoben. 423 Damit lassen sich diese Fälle aus Bern in den Entwicklungstrend einreihen, der für Neuenburg für das 18. Jahrhundert festgestellt worden ist: AkteurInnen von einst konsensual geschlossenen, aber später verworfenen Heiratsverträgen und Verlobungen, wurden in diesem Zeitraum in der Regel von ihrem Versprechen befreit, wenn keine Schwangerschaft vorlag. 424 In der Quellensprache hieß das, dass „[w]ann die Angesprochene [minderjährige] eine große Abneigung gegen Ihne bezeuget“, 425 das Gericht die Verlobung auflöste, sofern die Frau nicht schon schwanger war. So wurde zum Beispiel 1763 die „übereilte Versprechung“ von Barbara Maria Dreler, die sich „in ihrer noch sehr zarten Jugend“ befand, vom Gericht einstimmig aufgelöst, weil sie, die Verlobung mit Benjamin Ringier aus Zofingen „höchstens bereuend“, „ihme […] in den deutlichsten Austruken ihre Abneigung gegen ihne überschrieben“ hatte. 426 Auch hier schien der deutlich artikulierte eigene Sinn als Ressource vor Gericht. Wenn eine nicht schwangere minderjährige Frau bezeugte, „wie sehr sie dessen was zwischen ihra und [einem 147 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 427 StABE, B III 827, 29-35. 428 StABE, B III 829, 645-647. 429 StABE, B III 824, 334-338. 430 StABE, B III 830, 483-491. 431 Joris, Familie, 251. 432 Chorgerichtssatzung 1743, 763. 433 StABE, B III 826, 591-598. 434 StABE, B III 829, 595-597. Mann] vorgegangen seyn möchte, reuig sey“, 427 entschied das Ehegericht in den hier untersuchten Fällen für das Ancien Régime stets einstimmig gegen die einst aspirierte Ehe, um „einer künftig ung[l]üklichen Ehe“ vorzubeugen. 428 Dieser Umstand zeigt ex negativo, dass prekäre Eheaspirationen von Minderjährigen besonders stark von deren hartnäckigem Eigensinn abhängig waren, wenn sie von Erfolg gekrönt sein wollten. Zweifelte das Gericht am persistenten Willen der minderjährigen Partei, diese Ehe gegen die vorliegenden Widerstände durchsetzen und aufrechterhalten zu wollen, hob es sie konsequent auf. Hartnä‐ ckigkeit war für minderjährige Ehewillige keine Erfolgsgarantie. Hingegen war das Fehlen oder Nachlassen des unbedingten Willens zur Ehe im Umkehrschluss für das Gericht stets ausschlaggebend, um die Verlobung aufzuheben. Alte, ‚blödsinnige‘ Körper Verwandte und Gemeinden prekarisierten Ehevorhaben vor Gericht nicht nur aufgrund des jungen Alters der Brautleute, sondern auch durch gezielte Ein‐ wände gegen das (zu) hohe Alter dieser. Opponierende erhoben Eheeinsprüche gegen Ehevorhaben, die „wegen Alters oder Leibsschwachheiten sich und ihre Kinder zu ehrnehren nicht vermöchten“, 429 weshalb „aus diese[n] Ehe[n] nichts als Armuth und Elend vorzusehen ist.“ 430 Dadurch wurde das Alter mit jenen zunehmend ökonomisch bedingten Heiratsverboten in Verbindung gebracht, wie sie in der Forschung schon oft erwähnt worden sind. Sie sollten sogenannte ‚Bettelehen‘ verhindern. 431 Das Argument des Körperzustands und des Alters fand seine gesetzliche Grundlage in Artikel 3 der revidierten Chorgerichtssat‐ zung von 1743: Solche, die „wegen leibs-schwachheiten“ außer Stand gesehen wurden, ihre Nachkommen zu versorgen, konnten ungeachtet ihrer Volljährig‐ keit an der Ehe gehindert werden. 432 Vor allem alte Heiratsanwärter wurden der „Imbecillitaet [ihres] Gemühts und [ihrer] elenden Leibsconstitution“ bezichtigt und „als [ihre] Geschäfte zu geriren[,] vollkommen unfähig“ dargestellt. 433 Ihnen wurden vor dem Oberchorgericht Krankheiten, zum Beispiel „Ecrouelles“, also Hauttuberkulose, nachgesagt. 434 Wiederholt wurden „Verstand und Kräfte[] der Sinne“ vom kommunalen und verwandtschaftlichen Widerstand in Zweifel 148 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 435 StABE, B III 826, 57-63. 436 Ebd., 142-145. 437 StABE, B III 829, 595-597. 438 Wiederum läuft diese Beobachtung parallel zu Erkenntnissen von Lüdtke in Bezug auf den Eigensinn im Arbeiteralltag des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhun‐ derts. Er hat festgestellt, dass der Eigensinn oft in Zusammenhang mit den „‚Blöden‘“ und deren „‚Blödigkeit‘“ gebracht wurde. Dabei legte er Nachdruck darauf, dass diese ‚Blödheit‘ vielfach mit dem Körper, dessen Zustand und dessen Leistungsfähigkeit in Zusammenhang gesehen wurde. Lüdtke, Arbeit, 379. 439 StABE, B III 824, 334-338. 440 StABE, B III 829, 595-597. 441 StABE, B III 827, 298-302. gezogen. 435 In den Augen der Opposition waren die Ehewilligen dieser Ehevor‐ haben „alte[] sinnlose[] Weibsbild[er]“ oder verstandesschwache Männer. 436 In Analogie zur mangelnden Rationalität des jugendlichen Leichtsinns, zeugte im Alter oder bei volljährigen Eheaspiranten der „Blödsinn“ von der „Unfähigkeit, einer Haushaltung hinlänglich vorstehen zu können“. 437 So schwang in den entsprechenden Gerichtsverhandlungen auch stets die im Zusammenhang mit der jugendlichen Leichtfertigkeit angesprochene Sorge um die ökonomische Versorgung der Familie mit. Allerdings verband sie sich in Bezug auf den Alterungsprozess nicht mit der Sexualität, sondern mit dem körperlichen und geistigen Zustand. 438 Seitens der Opponierenden wurde bezweifelt, dass die Ehewilligen in ihrem Alter noch fähig waren, ökonomisch das zu leisten, was zur Versorgung einer Familie und Aufrechterhaltung eines Haushalts notwendig gewesen wäre. Ganz in dieser Logik urteilte die kritische Gerichtsminderheit und die einsprechende Gemeinde Biglen gegen das Ehevorhaben von Christen Kneubühler mit seiner Verlobten Catharina Bigler. Weil die Gemeinde teilweise für die Erziehung der Kinder des Manns aus erster Ehe aufkommen musste, könne sie es nun „nicht anders vorsehen […], als daß ihnen [den Gemeindemitgliedern Biglens] durch diesen Heurath und allenfahls erzeugende mehrere Kinder auch mehrere Beschwärd ausfallen werde, in demme gantz natürlich, daß da er bey jungen Jahren und mehreren Kräfften seine Kinder nicht erhalten können, er bey zunemmendem Alter und Schwachheiten es noch minder werde thun können“. 439 „[D]ie Last die seith langer Zeit die Gemeind […] getrukt“, befürchteten die lokalen Potentaten, würde durch das Alter und der damit verbundenen geistigen und körperlichen Degeneration der Eheleute nur noch potenziert. 440 Diesen Eheleuten, so die Gemeinden, „[wird] wegen [ihres] Alters und Infirmiteten je länger je schwärer fallen […] sich selbst Rath und Unterhalt zu verschaffen“. 441 149 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 442 Ebd., 298-302. 443 StABE, B III 829, 580-583. 444 Ebd. 445 Ebd., 450-452. 446 Ebd., 524-526. 447 StABE, B III 827, 29-35. 448 StABE, B III 826, 394-400. 449 StABE, B III 827, 159-170. 450 Ebd. Daher „müßte die Noth in diesen künftigen Zeiten für beide umso viel größer, mithin auch die Last für die Gemeind […] unausweichlich, und um so viel betrechtlicher werden, falls von dieser […] Haushaltung je noch Kinder ent‐ springen sollten.“ 442 Aber auch der Körper- oder Geisteszustand jüngerer Menschen konnte zum Gegenstand der Opposition und vor dem Oberchorgericht zum Heiratshindernis erklärt werden sowie den Ausgang der Ehevorhaben verunsichern. Zum einen wurde im Zusammenhang mit dem Geisteszustand von den Ehegegnern grund‐ sätzlich in Frage gestellt, ob die „contrahierenden Partheyen Ihren Sinnen und Verstandes mächtig“ waren. 443 Das war ihnen zufolge eine notwendige Bedingung für ein rechtmäßiges Eheversprechen. Wen die Opponierenden „als nicht seiner Sinnen und Verstandes mächtig“ ansahen, wurde „für wahnwitzig [ge]halten“, 444 für „blödsinnig“ erklärt 445 oder „als ein einfälltiger Tropf ange‐ geben“, dem „die Fähigkeit der Heuraht“ fehlte. 446 Die ehehindernden Parteien sprachen von „ziemlich einfältige[n]“ Frauen, die „übernohmen“, also in die Ehe eingeführt worden waren. In dieser Argumentationslogik konnte dies geschehen, weil es ein Leichtes war, „blödsinnige Mägdlein zu einer Ehever‐ sprechung zu überreden.“ 447 Volljährigen Männern wurde von den Einsprechern „Tumheit“ und „Blödsinnigkeit“ vorgeworfen, um ihnen „die volkommene Vähigkeit“ abzusprechen, „die zu einem vernünftigen und klugen Haus-Vater erfordert wird“. 448 Zum anderen wurde auch der „betrübte[] Leibes-Zustand“ von Eheaspiranten beklagt, die weder minderjährig waren noch für zu alt gehalten wurden. Wie bei alten Menschen, wurde dann in Zweifel gezogen, dass die körperliche Verfassung dieser Menschen zur Aufrechterhaltung einer Familie und einer Haushaltung ausreichte. 449 „Was für Gutes ist bey dieser Ehe für die Societet und für die Eheleute selbst zu hoffen, wenn ein permanenter leidiger Anlas zu Missvergnügen [sic], die in allen Absichten beschwerliche Krankheit […] unter ihnen haftet“, fragten die Opponierenden im Gericht rhetorisch. 450 Die Heiratsgegner versuchten vor Gericht geltend zu machen, dass „die Last, die den Gemeinden durch dergleichen Heyrathen auffallen müsse, wo […] Natur-Fehler 150 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 451 StABE, B III 829, 265-269. 452 Ebd. 453 StABE, B III 827, 159-170. 454 Burghartz, Art. Unzucht. 455 Hardwick, Business, 2-22. 456 Anne-Lise Head-König, Art. Witwenschaft 2015. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D16589. php (26.08.2021). 457 StABE, B III 829, 83-85. […] mit Gewissheit voraussehen lassen, dass benebst dem Mann, Weib und allfällige Kinder der Gemeine [sic] eine beschwerliche Last zuerkennt werden würde.“ 451 So führte das Gebrechen eines blinden Heiratswilligen zum Einspruch seiner Gemeinde. Aufgrund seiner Sehbehinderung sollte er „mithin nicht im Stand [sein] sich selbsten, vielweniger also ein Weib und allfällige Kinder zu ernähren und durchzubringen“. 452 In einem anderen Fall wurde die Epilepsie der Frau von einer Verwandten gegen deren Heirat angeführt. 453 Hinter den erörterten Oppositionen steckte dieselbe ökonomische Logik, die in Unzuchtverfahren im ausgehenden 18. Jahrhundert dazu führte, zunehmend mit der Belastung der Gemeinderessourcen und Fürsorgeeinrichtungen zu argumentieren. 454 Eheschließungen bedeuteten in dieser Perspektive primär Be‐ sitztransfer und Partizipation an kommunalen Gütern, Rechten und Privilegien. Die Ehe stand somit am Ursprung kollektiver ökonomischer Ordnungsvorstel‐ lungen. 455 Dieser Aspekt kommt besonders deutlich bei Witwen- oder Witwer‐ heiraten zum Vorschein. Heirateten Witwen oder Witwer erneut, konnten Verwandte dadurch um beträchtliche Teile ihrer Erbansprüche gebracht werden. Auch Gemeinden konnten bei der exogamen Heirat einer Witwe wichtige lokale Investitionsgüter und Ressourcen verlieren, sodass sich die Interessen von Ver‐ wandtschaft und lokaler Kommunität in diesem Punkt häufig überschnitten. 456 Unter den 61 prekären Eheaspirationen lassen sich so auch elf Fälle finden, in denen Witwen und Witwer involviert waren. Zum einen kritisierte der ehehindernde Widerstand dabei die Motive der jüngeren Ehepartei. Diese wurde verdächtigt, ausschließlich materielle Interessen zu verfolgen und die Ehe, nota bene die erste Ordnung Gottes, als materialistisches Spekulationsobjekt zu profanieren. Diese Absichten präsentierten die Ehegegner in der Aushandlung der Eheschließung als gefühllos, unmoralisch und dieser göttlichen Institution unwürdig. Oft wurden sie in die Nähe des Betrügerischen gebracht. Zum anderen wurde an den Eheaspirationen alter Menschen, insbesondere von Frauen, „nach dem allgemeinen Lauff der Natur der Zwek der Ehe wegen dem Alter der Verlobten“ in Frage gestellt, weil er „nicht erreicht werden könne“. 457 Die Natur der Ehe entsprach laut reformiertem Verständnis der auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität in der ersten Ordnung Gottes. In 151 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 458 StABE, B III 826, 57-63. 459 Ebd. 460 Ebd., 591-598. 461 Eva Labouvie, Einleitung, in: Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, hrsg. v. Eva Labouvie, München 1997, 7-10; auch das Paar auf dem Bild des Buchumschlags, das dem Trachtenzyklus des Berner Künstlers Joseph Reinhart entstammt, entspricht dem Stereotyp des ‚ungleichen Paars‘. Es zeigt den verhältnis‐ mäßig älteren Hans Mast und die fünfzehnjährige Liesabett Zbinden in Guggisberg. Das Gemälde ist von 1791 und befindet sich im Besitz des Historischen Museums Bern. diesem Punkt überschnitten sich die bevölkerungspolitischen Ausführungen von Benjamin Carrard zu den Witwenheiraten und die kommunale Moralpolitik eindeutig. Im Fall der 86-jährigen Witwe Barbara Wänger, gebürtige Stoll, die im hohen Alter noch einmal zu heiraten wünschte, kam der Einspruch vom Enkel Hans Stöckli. Er war der einzige Erbe seiner Großmutter. Dieser Fall zeigt exemplarisch diese Facette, die bei der Heirat von alten, verwitweten Leuten zum Tragen kommen konnte. Er bat das Gericht untertänig, den für ihn „höchst nachttheilige[n] Ehetag“ abzuwenden. 458 Der Widerstand gegen die Eheschließung seiner Großmutter erhielt zwar nur von der Minderheit der Eherichter Unterstützung, dennoch brachte er den Grund, der dieses eheliche Vorhaben in Frage zu stellen vermochte, beispielhaft zum Ausdruck: „So ist schon die Heyrat eines 86. jährigen Weibsbilds an sich selbsten etwas An‐ stößiges und Lächerliches, das mit dem Zweck dieses gesellschaftlichen Bandes keiner wegen, und in keinerley Sinn übereinstimmt. Handgreiflich hat der Balsiger [der ehewillige und einiges jüngere Mann] keine andere Absicht hierbey, als einen namhaften Theil fremden Guts dem NothErben zu entreißen, und solchen an sich zu ziehen. Ein Absehen, welches der Richter in Republica bené ordinate nimmermehr begönstigen solle.“ 459 Und auch im Fall eines 60-jährigen Mannes argumentierten die Verwandten, „daß die Absicht“ der viel jüngeren Braut „ledigl[ich] dahin gehet, die Mittel des am Alter sie weit übertreffenden“ Bräutigams „zu erhaschen“, weil dieser Mann vor kurzem selbst geerbt habe. 460 Die hier vorgestellten Fälle entsprachen somit dem Stereotyp „ungleicher Paare“, wie er von der Geschichtswissenschaft zum Beispiel im gleichnamigen Sammelband in Bezug auf unterschiedliche Differenzkriterien beschrieben worden ist. 461 In der Gegenüberstellung der häufig vorgebrachten Argumente gegen die Eheschließungen von Minderjährigen und jenen gegen die Eheschließungen alter Menschen kommen elementare Züge zeitgenössischer Normvorstellungen zum Ausdruck: Das Wesen der Eheschließung pendelte zwischen normierten Gefühlserwartungen, materiellen Voraussetzungen, Besitztransfer und sexu‐ 152 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 462 Daran wird der multinormative Charakter des frühneuzeitlichen Aushandlungsproz‐ esses rund um die Eheschließung sichtbar. Das rechtsanthropologisch informierte Konzept der Multinormativität wurde maßgeblich am Max-Planck-Institut für Rechts‐ geschichte und Rechtstheorie am Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ord‐ nungen unter der Leitung von Thomas Duve entwickelt. Dabei ist Multinormativität nicht mit Rechtspluralismus zu verwechseln. Während das rechtshistorische Konzept des Pluralismus von ausdifferenzierten und nebeneinander bestehender Rechtssys‐ temen, die sich überlagern und/ oder konkurrieren, ausgeht, legt der Ansatz der Multi‐ normativität den Akzent auf informelle Normvorstellungen und deren praxeologische „Koexistenz, Kooperation und Kollision“. Zum Konzept siehe die folgende Internetseite des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Multinormativität. ww w.rg.mpg.de/ 1767517/ multinormativitaet (26.08.2021). Duve erklärt die multinormative rechtsgeschichtliche Perspektive in seinem konzeptionellen Aufsatz wie folgt: Sie fasst Normativität in den Blick, die über den Bestand der traditionellen Rechtsquellen hinausweist und schließt „die juridischen Praktiken und die Normen hinter der Praxis“ mit in ihre Analysen ein; Duve, Multinormativität, 91. 463 Vgl. Thompson, Moralische Ökonomie. 464 StABE, B III 830, 483-491. eller Ordnung. Jede dieser Komponenten konnte in der konkreten Ausprägung einer Eheaspiration vom ehehindernden Widerstand aufgegriffen und als Hin‐ derungsgrund für die Eheschließung ausgelegt werden. 462 Waren die Eheleute minderjährig und jung, wurden ihre übermäßige emotionale Leidenschaftlich‐ keit, zügellose sowie unmoralische sexuelle Lust und fehlende ökonomische Rationalität thematisiert. Waren die Eheleute alt, wurden umgekehrt fehlende emotionale und sexuelle Grundlagen ins Zentrum der Ehekritik gerückt. Die Erfüllung des ‚natürlichen‘ Zwecks der Ehe, die Fortpflanzung, wurde ange‐ zweifelt. Die Ehemotive wurden im Rahmen einer moralischen Ökonomie als zügelloser Materialismus präsentiert. 463 Welche Motive - neben den Zuschreibungen falscher Absichten aus dem Um‐ feld - hinter den prekären Ehevorhaben alter, gebrechlicher, des Blödsinns und der Krankheit bezichtigter Menschen stehen konnten, zeigt der Fall des Burg‐ dorfer Burgers Johann Rudolf Äschlimann. Die Eheaspiration dieses Strumpf‐ webers gibt außerdem Aufschluss über zentrale Aspekte der Institution Ehe in der Frühen Neuzeit: Der bereits zweifach verheiratete Mann, der im lokalen Burgerspital einquartiert war, brachte sowohl eheliche als auch uneheliche Kinder mit. Er wünschte nach zwei verflossenen Ehen 1797 zum dritten Mal - jetzt die Witwe Anna Matter - zu heiraten, „um des Willen […], um in seinem zunemmenden Alter und Unvermöglichkeit eine Abwart und Hilfe zu finden“. 464 Im Gegensatz zu den Opponierenden, die ihn bezichtigten, „nicht im Stande gewesen [zu sein], seine väterlichen Pflichten gegen seine Kinder zu erfüllen“, stellte der ehewillige Witwer die Ehe gerade als notwendige Unterstützung 153 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 465 Ebd. 466 StABE, B III 829, 485-487. 467 Die Forschenden aus dem Projekt Gender and Work (GaW) rund um die Historikerin Maria Ågren an der Universität Uppsala sprechen vom Two-Supporter Model. Anhand der negativ konnotierten Verwendung der schwedischen Wörter ensörjare und ensör‐ jande, die männliche und weibliche Bezeichnung für Menschen, die einen Haushalt allein zu versorgen hatten, zeigen sie auf, wie schwierig und unerschwinglich es für Alleinunterhalter in der Frühen Neuzeit war, eine Familie durchzubringen. Familien, so die empirisch erhärtete These, erforderten zwei erwachsene Familienvorsteher. Verheiratete hatten Zugang zu Ressourcen, über die Alleinversorger nicht verfügten, weshalb die meisten frühneuzeitlichen Menschen dieses Modell lebten. Darin erscheint die Frau nicht als untätige Unterstützungsempfängerin männlicher Arbeit, sondern als gleichwertig arbeitende, aber nicht gleichberechtigte Akteurin. Ling/ Hassan Jansson/ Lennersand/ Pihl/ Ågren, Marriage, 80-88; das Modell erinnert stark an das Konzept des Arbeitspaares, das von Heide Wunder in den 1990er Jahren entwickelt wurde. Darin er‐ scheinen die Ehepaare als sich im frühneuzeitlichen Arbeitskontext notwendigerweise ergänzende Partnerschaften. Wunder, Sonn‘, 57-153; vgl. auch Ågren, State, 115-138. 468 Vgl. zur Konzeption des Ehepaars als Arbeitspaar außerdem Wunder, Arbeit, 25. und unabdingbare Hilfestellung bei der Versorgung seiner Familie dar. 465 Die Ehe konnte besonders für alte und gebrechliche Menschen eine Pflege- und Versorgungsinstitution und wichtige Hilfestellung in der Bewältigung des Alltags darstellen. Davon zeugt auch das Beispiel des verwitweten Vaters Christian Summi aus Saanen, der von seiner Gemeinde - angeblich erst nach dem Tod seiner ersten Frau - aufgrund der fehlenden Unterstützung besteuert werden musste. Die finanzielle Unterstützung brauchte er, um seine Kinder verpflegen zu können. 466 Dieser Umstand offenbarte unmissverständlich, als wie unentbehrlich die Frau in frühneuzeitlichen Arbeitsprozessen für das Gelingen des Haushalts erachtet wurde, und wie wichtig es ganz allgemein war, einen Partner oder eine Partnerin zu haben, um das ökonomische, aber eben auch seelische und gesundheitliche Überleben der Familie zu sichern. 467 Gleichzeitig lässt sich daran illustrieren, wie die Ehe die elementare Mög‐ lichkeit repräsentierte, sich für alle Aspekte des Lebens körperliche Hilfe, finanzielle Unterstützung und emotionalen Beistand zu verschaffen. Damit weisen die untersuchten prekären Eheaspirationen über das ökonomisch ak‐ zentuierte Konzept des „Arbeitspaars“ hinaus. 468 Es ging bei weitem nicht nur um Unterstützung bei der Erwerbsarbeit, sondern auch um Pflege und Hilfe in der Bewältigung des Alltags. In dieser Optik konnte das Heiratsunterfangen einen Versuch darstellen, sich Unterstützung zu verschaffen, um von anderen 154 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 469 Maria Ågren hat in Bezug auf die Rolle der Frauen in schwedischen Haushaltungen in der Frühen Neuzeit den englischen Ausdruck „helpmates“ (Gehilfin) verwendet. Der Begriff trifft im hier untersuchten Kontext sehr gut zu, weil er mit der Akzentuierung der Hilfe nicht nur die Arbeit, sondern auch Bereiche der Gesundheit, Pflege, Versor‐ gung und der leiblichen sowie emotionalen Fürsorge miteinschließt. Ågren, State, 115. 470 Für die Inspiration im Umgang mit dem Konzept der Selbsthilfe und den wertvollen Hinweis darauf sei an dieser Stelle Carolina Menker (Uppsala Universitet) herzlich gedankt. Dinges, Armenfürsorge, 9-10; vgl. auch Martin Dinges, Self-Help and Recipro‐ city in Parish Assistance. Bordeaux in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: The Locus of Care. Families, Communities, Institutions, and the Provision of Welfare since Antiquity, hrsg. v. Peregrine Horden/ Richard Smith, London, New York 1998, 111-125; zum Streben alter Menschen nach Unabhängigkeit durch Selbsthilfe außerdem Susannah R. Ottaway, The Decline of Life. Old Age in Eighteenth-Century England, Cambridge 2004, 1; 4; 8-9; 12; 66. Sie alle thematisieren die Heirat als Form der Selbsthilfe von Alten und Gebrechlichen jedoch nicht eingehend. 471 StABE, B III 667, 151-152. Hilfeleistungen unabhängig zu werden und sich aus der Abhängigkeit der Gemeinde zu emanzipieren. 469 Damit treten prekäre Ehevorhaben von alten, gebrechlichen und mental sowie gesundheitlich beeinträchtigten Menschen in die Nähe des Selbst‐ hilfe-Konzepts von Martin Dinges, das ebenfalls „die Widerstandspotentiale der Disziplinierten“ zum Ausdruck bringt, die sich nicht dem disziplinarischen Impetus der obrigkeitlichen Armenfürsorge unterwerfen mochten und daher „Gegenstrategien“ entwickelten, um Handlungsautonomie zu erlangen. 470 Sehr plastisch wird dieser Aspekt am Ehevorhaben von Peter Fridli, einem Angehö‐ rigen der Gemeinde Kirchberg bei Burgdorf. Dieser Fall kam zwar nicht im Rekursmanual zu stehen, das heißt, gegen das Urteil des Oberehegerichts wurde nicht rekurriert. Darum fand er lediglich im ordentlichen Chorgerichtsmanual von Bern Erwähnung. Der Prozess verdient hier aber aufgrund des darin zum Ausdruck Gebrachten trotzdem Erwähnung: „Er [habe] vor etwas Zeits drey Tag lang sehr übel kranck gelegen, und während dieser Zeit weder von seithen der Gemeind noch sonsten er keinen Zahl noch Raht gehabt […], sonderen schier gar habe verreblen müßen, aber dieses dann ihne veranlasset habe, daß er sich verehelichen wollen, damit er in seinem Alter auch einiche Hülf haben könne.“ 471 Obwohl das Oberchorgericht den Einspruch der Gemeinde gegen diese Ehe bestätigte, erhob Fridli keinen Einspruch dagegen. Vielleicht lag das daran, dass die hohen bernischen Richter die Gemeinde tadelten und anhielten, „zu 155 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 472 Ebd. 473 Vgl. Erik Lindberg/ Benny Jacobsson/ Sofia Ling, The Dark Side of the Ubiquity of Work. Vulnerability and Destitution among the Elderly, in: Making a Living, Making a Difference. Gender and Work in Early Modern European Society, hrsg. v. Maria Ågren, New York 2017, 159-177. 474 Dadurch offenbart sich jene „hohe Bedeutung des wirtschaftlichen und sozialen Überlebens“, die der Institution Ehe mit Blick sowohl auf die materielle als auch die emotionale Ebene in historischer Perspektive zukam. Claudia Jarzebowski, Art. Liebe, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, hrsg. v. Friedrich Jaeger, 16 Bde., Stuttgart, Weimar 2005-2012, 896-905; vgl. zudem Hans Medick/ David Warren Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, hrsg. v. Hans Medick/ David Warren Sabean, Göttingen 1984, 27-54. 475 StABE, B III 830, 627-634. veranstalten, dass zu diesem Fridli im Fahl der Noht Sorg getragen, und mit dem Nöhtigen ihme beygesprungen werde.“ 472 Die Ehe war auf verschiedenen Ebenen eine Vorsorge- und Versorgungsins‐ titution. Besonders alte Menschen benötigten das Zusammenleben, um körper‐ liche Gebrechen im Alltag zu kompensieren, seelische Herausforderungen zu bewältigen und um neue finanzielle und materielle Mittel zu erschließen, die das Überleben ermöglichten. 473 Das eheliche Zusammenleben schuf Erleichterung in der täglichen Arbeit. Die eheliche Partnerschaft bildete zudem eine wichtige, ja, in gewissen Fällen unentbehrliche Ressource bei der Versorgung der Familie und der Erziehung des Nachwuchses. 474 Ganz in diesem Sinne versprach der Berner Kleinburger und Müllermeister Jakob Steiger vor dem Oberchorgericht, wenn ihm die Ehe mit seiner zweiten Frau Lisette Willading gewärtigt würde, seine zwei Kinder aus erster Ehe, die aktuell von der Korporation auswärts versorgt wurden, wieder zu sich zu nehmen und eigenhändig zu versorgen. Steiger war bestrebt „durch eine zweyte Ehe seine gesunkenen Glüksumstände zu verbesseren, oder sich wenigstens in eine solche Lage zu sezen, wo Er mit Hülf einer sorgsammen und haushälterischen Gattin, seinen erlernten - einträglichen Beruf als Meister vor die Hand nemmen, und so nach und nach für den Unterhalt seiner bereits vorhandenen Kinder selbst sorgen könnte“. 475 In der Differenzierung der ‚Glücksumstände‘ wird auch evident, dass die Ehe zwar wenigstens die wirtschaftlichen Sorgen lindern sollte, man mit ihr aber ebenso deutlich die Hoffnung verband, durch seelische Unterstützung den ei‐ genen emotionalen Zustand zu verbessern. Emotionen und materielle Interessen 156 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 476 Vgl. Medick/ Sabean, Emotionen, 27-54; ebenso Claudia Jarzebowski, The Meaning of Love. Emotion and Kinship in Sixteenth-Century Incest Discourses, in: Mixed Matches. Transgressive Unions in Germany from the Reformation to the Enlightenment, hrsg. v. David Martin Luebke/ Mary Lindemann, New York 2014, 166-183, 170; Jarzebowski, Art. Liebe. 477 StABE, B III 826, 591-598. 478 Ebd. 479 Ebd. 480 StABE, B III 824, 527-539. standen sich also in den Augen der Ehebegehrenden in keiner Weise im Weg, sondern bedingten sich geradezu gegenseitig. 476 Taktisch gab es für die im Quellenmaterial als alt, gebrechlich und geistig handikapiert bezeichneten Ehewilligen verschiedene Mittel, um das Gericht von der Legitimität ihrer Eheschließungen zu überzeugen. Mindestens eine wurde bereits weiter oben vorgestellt: Die Eheaspiranten stellten dem Gericht und der Opposition in Aussicht, dass sich durch die Realisation der Ehe ihre Lebensumstände und dadurch auch die Situation für die Gemeinden verbessern würden. Sie präsentierten die in Aussicht stehende Verbindung als Win-win-Situation, indem sie den Eigensinn mit dem Gemeinsinn zur Deckung zu bringen versuchten. Was die Opponierenden zum Hindernis erklärten, stellten die körperlich-geistig versehrten Eheaspiranten als Notwendigkeit dar: Sie brauchten die Ehe, um überleben zu können. Auf dieser existenziellen Grundlage forderten sie vom Gericht die Eheerlaubnis. Außerdem stellte auch in Bezug auf die Ehevorhaben dieser Menschen die Hartnäckigkeit der Ehewilligen vielfach das zentrale Mittel des Eigensinns dar. So stößt man in den Quellen auf Zeugnisse von Männern und Frauen, deren Ehen von der Opposition aufgrund ihres körperlichen Zustands in Frage gestellt wurden, die deswegen „zu verschiedenen Mahlen auf die Ehebeziehung angedrungen und sie gesucht“ hatten. 477 Gleichzeitig kritisierten die betagten Eheansprecher ihrerseits die „Erbs begierigen Verwanten“. 478 Damit drehten sie das Argument der materiellen Spekulation und Gier aus der Opposition gegen altersungleiche Ehevorhaben um und richteten es ihrerseits gegen den Widerstand. Die „durftige[n] Erben“ wären lediglich „frustriert“, dass ihnen Teile des Erbes entgingen. 479 Die Hartnäckigkeit des Eigensinns der in die Jahre gekommenen Eheaspi‐ ranten konnte sogar über deren Tod hinausgehen, wie ein Beispiel im Quellen‐ korpus illustriert: Aus „Forcht vor seinen Verwandten“ hatte Henry Warnery von Moorsee die „errichtete Eheversprechung so lange Zeit geheim gehalten und durch den Kirchgang nicht vollzogen“, um „sein zeitliches Interesse“ zu wahren. 480 Doch der findige Mann hatte Vorkehrungen getroffen, damit dieses Eheversprechen posthum legitimiert und der Frau ihr rechtmäßiger Status 157 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 481 Ebd. 482 StABE, B III 826, 394-400. 483 Ebd., 143-144. 484 Ebd., 57-63. zuerkannt wurde: Er hatte vor seinem Tod „verschidene Testamente errichte[n]“ lassen, die nun bezeugten, dass er das mit Louise Curnex von Vullierens gezeugte Kind als sein eheliches anerkannte und die Frau „zu ehelichen auffrichtig und durchauß unveränderlich […] mithin […] das jenige, so er ihra versprochen, auch heiliglich zu seiner Zeit in Effect zu setzen“ bereit war. Mit dieser Finte überlistete der Mann seine Geschwister sogar über seinen Tod hinaus. 481 Die Hartnäckigkeit wurde von ehewilligen AkteurInnen, denen vom Wider‐ stand Blödsinn attestiert wurde, ähnlich eingesetzt wie von Minderjährigen. Mit der Wiederholung des Ehewillens versuchten sie gegenüber dem Gericht zu bezeugen, dass sie vernunftfähig waren und bewusst handelten - „[a]lles solche Umstände“, die vom Gericht dahingehend gelesen werden konnten, dass die Verlobten „weder einichen Zweifel […] noch auch einige Zeichen einer wirklichen Tumheit mit sich führen.“ 482 Bereits der Mut zum physischen Auftreten vor Gericht vermochte eine Gelegenheit für die Aspiranten prekärer Eheschließungen zu eröffnen, wenn sie damit das Gericht von ihrem intakten geistigen Zustand überzeugen konnten. Im Fall der Witwe Anna Hess, die von der Verwandtschaft des Bräutigams und der Gerichtsminderheit als „altes sinnloses Weibsbild“ bezeichnet wurde, befand das Gericht nämlich, dass „die […] Verhör der Antworterin Hess zu Tage gelegt, daß dieselbe wohl bey weitem nicht sinnlos, sondern allen den Verstand besitzet, welcher von einer etlich und 60. jährigen Bäurin in ihren Umständen erwartet werden kann; sie sich auch vor uns freyen Gemüths erkläret, daß sie von dem Huser keineswegs eingeführt worden, sondern demselben erst nach eingezogener Nachricht seiner Umständen die Ehe zugesagt habe, auch ihme diese ihre Zusag unzerbrüchlich halten wolle.“ 483 Und auch die zuvor erwähnte 86-jährige Barbara Wänger, die von ihrem Enkel wegen ihres Eheanspruchs vor dem Oberchorgericht angegriffen wurde, hatte „bei ihrer […] Verantwortung so viel Verstand und Kräften der Sinnen gezeigt, daß sie keineswegs zu der Zahl solcher Schwachsinnigen gehöre, welche sich selbsten, Vermag der Gesetzen nicht regieren noch besorgen können“. 484 158 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 485 Ebd., 74-75. 486 Ebd., 39. 487 Ebd., 74-75. 488 StABE, B III 824, 202-206; StABE, B III 824, 390-391. 2.3.3 Sexualität Wie stark die Opponierenden im Falle von Minderjährigkeit den Eigensinn der Ehewilligen mit dem Vorwurf der leichtfertigen und unkontrollierten Sexualität angegriffen oder im Alter dem Verdacht aussetzten, einen Zweck der Ehe, die Fortpflanzung, zu verfehlen, wurde in den vorangehenden Ausführungen an‐ gesprochen. Doch die einsprechenden Parteien problematisierten die Sexualität nicht nur im Zusammenhang mit dem Lebensalter, indem sie diese als unüber‐ legt und auf sexuelle Lust statt Fortpflanzung fokussiert wahrnahmen und damit zweckentfremdet darstellten. Vor allem die opponierenden Gemeinden und Korporationen verknüpften sie ganz allgemein mit der moralischen Verfassung der Ehewilligen und der Bevölkerung von Bern. Dabei stigmatisierten die Opponierenden die Sexualität der Armen und Besitzlosen als „zügellos“ und stilisierten sie somit zur unkontrollierbaren wirtschaftlichen Bedrohung für das Gemeinwohl. 485 31 von den für das Ancien Régime analysierten 61 Fällen hatten eine in den Rekursurkunden explizierte außereheliche oder aber im Fall von geschiedenen oder verwitweten Personen auch eheliche sexuelle Vorgeschichte. Sei es vorehelicher Beischlaf ohne weitere Konsequenzen, Brautschwanger‐ schaft oder die uneheliche oder eheliche Geburt von Nachkommen vor der begehrten Ehe oder im Ehebruch - in mehr als der Hälfte der Fälle wurde die voreheliche sexuelle Beziehung des Paares oder einer Seite vor dem Gericht thematisiert und mitverhandelt. Besonders für die Gemeinden und Korporationen gingen von der Sexua‐ lität ihrer unbemittelten Angehörigen „die allergefährlichsten Consequenzen“ aus, 486 weil sie im Fall der Verarmung des Paares für die Versorgung der Familie aufkommen mussten. „[D]as ohnehin mit Bastarten angefüllte Land […] [könnte] mit einer Menge […] unglückseligen Früchten belästig[t] werden“ - so die Befürchtung der einsprechenden Parteien, wenn den Besitzlosen das Recht zu heiraten gegeben würde. 487 Diese Entwicklung musste mit Hilfe der Gerichte aufgehalten beziehungsweise eingedämmt werden. Die Sexualität der ehebegehrenden AkteurInnen mit den ökonomischen Sorgen der Gemein‐ schaften verschränkend, wurden die hier untersuchten Paare angeklagt, „in ledigem Stand mit einander Hurey getriben“ zu haben. 488 Dadurch vermengten Gemeinden und Korporationen in ihrer Argumentation ökonomische Bedenken unablässig und unzertrennlich mit sexuellen Ordnungs- und Reinheitsvorstel‐ 159 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 489 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994, 368. 490 Vgl. Ludi, Frauenarmut, 32. 491 Vgl. zum Verhältnis von Ehre und materieller Ökonomie in historischen Ehrgesell‐ schaften Schreiner/ Schwerhoff, Ehre, 10-11. 492 StABE, B III 824, 92-99. 493 Vgl. zur starken Verbindung von weiblicher Ehre und Sexualität in der Frühen Neuzeit Cohen, Honor; vgl. auch Burghartz, Geschlecht; ebenso Lischka, Liebe, 254-272; zu Lebenswandel und Ehewürdigkeit in Bezug auf die katholische Dispenspraxis vgl. Lanzinger, Verwandtschaft, 216-217. 494 StABE, B III 824, 316-321. 495 Ebd. 496 StABE, B III 829, 378-381. lungen. Tendenziell wurde dadurch Unsittlichkeit und Unreinheit nicht nur im Gesetz, sondern auch im Aushandlungsprozess vor Gericht zu einem Phänomen der unteren sozialen Schichten erklärt. Dieses Phänomen ist im Bezugsrahmen einer allgemeinen „‚Moralisierung‘ der armen Klasse“ im Zuge der bereits konstatierten Ökonomisierung zu deuten, die vor dem Ehegericht sehr stark über die Sexualität abgehandelt wurde. 489 Dadurch wurde die Armut von den bernischen Opponierenden am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit zunehmender Deutlichkeit zum Zeichen sittlicher Verdorbenheit geformt. 490 In dieser Tendenz näherten sich ‚Ehrvermögen‘ und materieller Besitz an und gingen in zunehmendem Maß Hand in Hand. 491 Die einsprechenden Gemeinden, Korporationen und Familien insbesondere der verlobten Männer prekarisierten die Eheaspirationen wiederholt, indem sie die involvierten Frauen als „un‐ züchtige Dirnen“ stigmatisierten und sie mit sexuellen „Ausschweifungen“ in Verbindung brachten. 492 Damit griffen sie die sexuelle Integrität dieser Frauen und folglich die zeitgenössische weibliche Ehre an und stellten sie als der Ehe unwürdig dar. 493 Opponierende brachten die Eheversprechen vor Gericht immer wieder mit eindeutig sexuell konnotierten Verlockungen der Frauen in Zusammenhang. In dieser Argumentationslogik war die sexuelle Verführung das Instrument unbemittelter Frauen, um ihre selbstbezogenen materiellen Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl zu befriedigen. Aber auch Männer wurden von den Einsprechern vor dem Oberchorgericht „der Geilheit und Unkeuschheit halber sehr schlechten Leumbdens zu seyn beschriben“. 494 Sie standen ebenso im Verdacht, „dass nicht sie ihne, wohl aber er sie verführt haben müeße“. 495 Während Frauen die Männer in der Logik der Opponierenden mit Sex zum Eheversprechen lockten, verführten die Männer „durch feyerliche Versprechungen die Weibsbilder zu Gestatung der letzten Gunst“. 496 Insofern war die Verführung im Kontext prekärer Eheschließugen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Unterschied zum 19. Jahrhundert noch kein eindeutig 160 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 497 Außerdem hat Marion Lischka zurecht auf den Umstand hingewiesen, „dass im Zentrum der Auseinandersetzungen um sexuelle Aktivitäten stets die weibliche Ehre stand, während männliche Ehre in diesem Zusammenhang nicht im selben Masse und nicht auf dieselbe Art und Weise thematisiert wurde“. Dadurch bestand in Bezug auf den vorehelichen Geschlechtsverkehr stets eine „Asymmetrie“ zwischen den Geschlech‐ tern. In Anlehnung an Rainer Beck kommt Lischka zum Schluss, dass die Frauen mit diesem stets ein ungleich größeres Risiko eingingen. Zum einen mussten sie dem Mann einen Vertrauensvorschuss geben. Sie mussten darauf hoffen, dass sich das männliche Gegenüber auch nach dem Geschlechtsverkehr an das Versprechen halten würde. Zum andern bestand auch im Fall, dass er das wollte, immer noch die Gefahr, dass dagegen Einsprachen aus dem sozialen Nahraum gemacht wurden. Lischka, Liebe, 254-255; vgl. auch Joachim Eibach, Männer vor Gericht - Frauen vor Gericht, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, hrsg. v. Christine Roll, Köln 2010, 559-572, 566. Er erwähnt, dass Frauen in Bezug auf vorehelichen Beischlaf vor allem über ihren Körper, der auf das Engste mit weiblicher Ehre verbunden war, definiert wurden. Dagegen standen bei Männern vor allem materielle Schadensersatzforderungen im Raum, die ihre männliche Ehre weitaus weniger tangierten; vgl. auch Martin Dinges, Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Ehrkonzepte in der frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, hrsg. v. Sibylle Backmann/ Ute Ecker-Offenhäusser, Berlin 1998, 123-147. 498 StABE, B III 826, 1-6. 499 StABE, B III 830, 83-86. weiblich konnotiertes Laster, sondern konnte, je nach Konfiguration des Falls, jeweils beiden Geschlechtern angelastet werden. Für den schlechten sittlichen Zustand der Gesellschaft wurden in den Rekursurkunden des bernischen Ober‐ chorgerichts vor 1800 tendenziell Männer und Frauen verantwortlich gemacht - auch wenn die sexuelle Anziehung stets von der Frau ausging und der Mann mit dem Privileg der Ehe locken konnte. 497 Den Gemeinden, Verwandten und Gesellschaften ging es vor den Richtern vordergründig häufig um die sittlich-sexuelle Disziplinierung ihrer Angehö‐ rigen, die Reinheit der Ehe und deswegen um das Verbot der begehrten Eheverbindungen für die unzüchtigen AkteurInnen. In Fällen mit Beteiligung von jungen Menschen, die das Alter der Ehefähigkeit noch nicht erreicht hatten, wurden die Einsprüche als vormundschaftliches „zu Hülf kommen“ 498 und als „Schuzwehre gegen die Übernemungen und Verführungen“ 499 vorgestellt. Dies geschah auch, wenn die Ehewilligen auf ihrem Eigensinn beharrten und dieser entmündigenden Darstellung widersprachen, ihren Ehewunsch gezielt wieder‐ holten und hartnäckig einforderten. Insofern beharrten die opponierenden Parteien auf der patriarchalen Autorität, der es um die Aufrechterhaltung der Familienökonomie durch die Kontrolle der sozioökonomischen Transaktionen ging. Diese sahen sie von der verfehlten Moral ihrer Angehörigen bedroht. Hierin entsprechen die untersuchten Fälle dem Befund zu Genf im 18. Jahr‐ 161 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 500 Mottu-Weber, Paillardises, 437. 501 Margareth Lanzinger hat den besagten Druck, der durch eine voreheliche Schwan‐ gerschaft ausgelöst werden konnte, in Bezug auf katholische Dispensansuchen bei Ehebegehren in verbotenen Verwandtschaftsgraden und deren Erfolg beobachtet. Auch hier konnten aus der Perspektive vom lokalen Seelsorger nur durch eine Dispens wieder „‚geordnete‘ Verhältnisse“ in der Gemeinde hergestellt werden. Lanzinger, Verwandtschaft, 216. 502 Vgl. Sutter, Act, 196-197; Ling/ Hassan Jansson/ Lennersand/ Pihl/ Ågren, Marriage. hundert von Liliane Mottu-Weber. Sie hat zu den Delikten der Unzucht und des vorehelichen Beischlafs angemerkt, dass die Verteidigung der guten Sitten und der gesellschaftlichen Reinheit in der Folge der nachreformatorischen Entwicklungen ihre ganze Aktualität behalten, jedoch den bloßen Horizont des jenseitigen Heils längst verlassen hatten. Über die Moral wurde nicht mehr primär der Zugang zum Heil, sondern vor allem hausväterliche Autorität, Ehre und die Bewahrung des Familien- und Gemeindeguts verhandelt. 500 Allerdings war die Sexualität im Spannungsfeld zwischen rigidem Ehegesetz und populationistischer Aufbruchsstimmung im ausgehenden 18. Jahrhundert eine arbiträre Ressource. Sie konnte begehrte Eheschließungen nicht nur im Sinne des patriarchalen Gesetzes prekarisieren, sondern auch von den Eheaspi‐ ranten im Geist des Populationismus als taktisches Mittel zur Realisierung einer Eheverbindung eingesetzt werden. Der Beischlaf konnte den Ehebegehren und deren Ernsthaftigkeit geradezu physischen Nachdruck verleihen. Durch den Einsatz des illegitimen Geschlechtsverkehrs konnten die verschiedenen Gemeinschaften von den ehewilligen AkteurInnen vor vollendete voreheliche Tatsachen gestellt werden. Diese Tatsachen galt es in der Folge ohnehin ökonomisch zu bewältigen - ob innerhalb einer Ehe oder durch die kommunale Fürsorge. Mit der Zeugung verbanden sich also Fragen, wie und von wem der bereits geborene oder zu erwartende Nachwuchs versorgt und erzogen werden sollte. Der Unterhalt dieser Kinder musste Alleinversorgenden zwangs‐ läufig schwerer fallen beziehungsweise unmöglich sein. Das war allen an der Verhandlung beteiligten Parteien bewusst, wodurch „ein gewisser Druck“ auf das Gericht entstand. 501 Denn das Risiko, wirtschaftlich zu scheitern, steigerte sich für einen Haushalt drastisch, der von einer alleinversorgenden Person geführt wurde. 502 Dieser Umstand stellte die Richter vor das Dilemma, ob man durch die Bewilligung prekärer Ehen die Chancen für das Bestehen eines Haushalts beziehungsweise für die Versorgung der Kinder erhöhen und Ehen in bevölkerungspolitischer Logik fördern oder im Sinne des patriarchalen Sitten‐ gesetzes Nachahmer in disziplinarischer Weise abschrecken sollte. An dieser Schnittstelle matrimonialer Integration und Exklusion konkurrierten in den Gerichten sozio-ökonomische und sexualmoralische Ordnungsansprüche und 162 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 503 Anne-Lise Head-König, La politique différenciée des villes et des campagnes à l’égard des pauvres. L’influence des facteurs structurels, in: Armut in der Schweiz (17.-20. Jh.). La pauvreté en Suisse (17e-20e s.), hrsg. v. Anne-Lise Head-König/ Brigitte Schnegg, Zürich 1989, 73-78. Die Autorin hat gezeigt, dass zwischen der Ehepolitik der verschiedenen Stände innerhalb der Eidgenossenschaft große Unterschiede bestanden. Während in einigen Kantonen die Vergabe von Ehebewilligungen zum Teil sogar zur Integration armer Menschen in die Gemeinschaft genutzt wurde, agierte Bern in der Beurteilung von Anne-Lise Head-König im Vergleich tendenziell exklusiv. 504 Vgl. Duve, Multinormativität. 505 Vgl. zu Schwangerschaft als Druckmittel in den Dispensgesuchen bei prekären Ehe‐ vorhaben im katholischen Kontext von Österreich Margareth Lanzinger, „Neigung, Liebe, leider Leidenschaft war es …“. Kirchliche Heiratsverbote im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Moral und Inzest - eine Fallgeschichte, in: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, hrsg. v. Ingrid Bauer/ Christa Hämmerle/ Gabriella Hauch, Wien 2005, 257-273, 269. 506 StABE, B III 826, 582-590. 507 Sandro Guzzi-Heeb schreibt im Französischen von „des comportements sexuels non-conformistes“. Sandro Guzzi-Heeb, Passions alpines. Sexualité et pouvoir dans les montagnes suisses (1700-1900), Rennes 2014, 14. 508 StABE, B III 824, 527-539. Erwägungen in subtiler Weise. 503 Daran wird wiederum die Multinormativität des Aushandlungsprozesses im vormodernen Berner Oberehegericht sichtbar. 504 Ein Beispiel, bei dem der Versuch unternommen wurde, die Sexualität als taktisches Druckmittel einzusetzen, um zur gewünschten Eheschließung zu kommen, wurde bereits bei der begrifflichen Erfassung des Eigensinns erwähnt. 505 Es handelt sich um den Fall von Françoise Catt, die auf das Ehever‐ sprechen von Charles Isaac Oboussier hin schwanger wurde, obwohl sich das Paar laut den Opponierenden im Gericht „zu ehelichen […] niemal einiche Hofnung machen sollen“ hätte. 506 Catt und Oboussier gehörten zu einer Gruppe von Nonkonformisten, die mittels vorehelicher Sexualität und Brautschwanger‐ schaften absichtlich gegen das herrschende patriarchale Ehegesetz verstießen, gerade weil sie dieses überwinden wollten. 507 Der Sittenverstoß konnte als alltagspolitisches Instrument herhalten, um ein eigensinniges Ehebegehren zu realisieren, weil es mit der Brautschwangerschaft nicht mehr nur um die Ehe, sondern auch „umb die Legitimation deß […] erzeugten“ Kindes ging. 508 Sandro Guzzi-Heeb hat mit seinen historischen Analysen zur Sexualität in einer Talschaft des Kantons Wallis, im Val de Bagnes, auf das subversive politische Potential der vorehelichen Sexualität hingewiesen. Dabei thematisiert er die Macht der sexuellen Lust von AkteurInnen auf lokaler Ebene. Diese versuchte man zwar seitens der Familien und Gemeinden durch Aufsicht und Kontrolle zu kanalisieren, weil sie stets eine Bedrohung für ihre strategischen Interessen darstellte. Doch die AkteurInnen bahnten sich immer wieder Wege 163 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 509 Guzzi-Heeb, Passions, 14; vgl. auch Sandro Guzzi-Heeb, What Has the ‚First Sexual Revolution‘ to do with Kinship Transition? ‚Kin Marriages‘ and Illicit Sexuality in Nineteenth-Century Alpine Switzerland, in: The History of the Family 23 (2018), 388-407. Hier hat der Lausanner Historiker erneut auf das transformative und somit politische Potenzial der Sexualität hingewiesen. Er hat aufgezeigt, dass im Entremont einige wenige Familien gewissermaßen eine ‚sexuelle Revolution‘ anzettelten, indem sie innerhalb naher Verwandtschaftsgrade zu heiraten begannen und dadurch neue Zusammengehörigkeiten zu bilden begannen. Die Zunahme von Verwandtenehen widerspiegelte in der untersuchten Bergregion im Wallis, so seine These, eine Aus‐ differenzierung sexueller Milieus, die parallel zu politischen Werten, Idealen und Einstellungen verliefen. Vgl. zu dieser These auch Sandro Guzzi-Heeb, Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus. Walliser Gemeinden des 18. Jahrhunderts im Vergleich, in: Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven historischer Verwandtschaftsforschung, hrsg. v. Christine Fertig/ Margareth Lanzinger, Köln 2016, 111-141, insbesondere 126-141. 510 Aline Johner/ Chiara Mascitti, Identité politique et comportements sexuels. Une étude comparative du radicalisme vaudois et valaisan durant la première moitié du XIXe siècle, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 77 (2015), 96-107. 511 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 17. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, 142; 145. 512 Schmidt, Dorf, 210-213; 236-240; Schmidt, Tätigkeit, 296. 513 Edward Shorter, Die Geburt der modernen Familie, Reinbek bei Hamburg 1977, 99-119. der nonkonformistischen Aneignung der Sexualität. Dem Sexualverhalten kam somit, historisch betrachtet, ein entscheidendes transformatorisches Potential zu. Dadurch wurden die Familien, Gemeinden und Körperschaften in ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen unablässig herausgefordert. 509 In dieselbe Richtung argumentieren auch Aline Johner und Chiara Mascitti, die anhand von zwei Gemeinden - eine im Kanton Wallis, eine in der Waadt - den Zusammenhang zwischen politischer Einstellung und sexuellem Verhalten im 18. und 19. Jahrhundert untersucht haben. 510 Die Illegitimität, deren beabsich‐ tigtes Resultat die Brautschwangerschaft sein konnte, rückt in dieser geschichts‐ wissenschaftlichen Perspektive in die Nähe jener „kulturellen Randformen der Sexualität“, deren „Lüste[…] offenbar die ihnen auferlegte Regulierung überschreiten“ konnten, um damit eigensinnige Interessen durchzusetzen. 511 Damit widersetzten sich die entsprechenden AkteurInnen dem traditionalen Sexual-Kodex der nach wie vor agrarisch und patriarchal geprägten Gemein‐ schafts- und Familienstrukturen. Diese AkteurInnen stellten somit den per‐ sonifizierten Ausdruck jener zunehmenden Autoritätseinbuße der Hausväter und Familien in Bezug auf das Sexualverhalten ihrer Angehörigen dar, die in der Entwicklung vom 17. zum 18. Jahrhundert anhand der wachsenden Illegitimenrate festgestellt werden konnte. 512 Sie markierten somit jene „sexuelle Revolution“, die mit einem allgemeinen Wandel in der vorehelichen Moral im 18. Jahrhundert einherging. 513 164 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 514 StABE, B III 826, 394-400. 515 Der Vorname der Frau wurde vom Gerichtsschreiber als „Madle“ notiert. 516 StABE, B III 824, 432-438. 517 Ebd. 518 Schmidt, Tätigkeit, 298. Dass Eheaspiranten illegitim gezeugte Kinder und die öffentliche Bekanntheit von Sexualbeziehungen als politisches Druckmittel einsetzten, um die prekäre Eheaspiration unter Beihilfe der Obereherichter in eine legitime Eheschließung zu überführen, machen einige Quellen sogar sprachlich explizit. So bezeugte Daniel Rötlisperger von Langnau, den sein Vater von der Ehe abzuhalten versuchte, 1762 zuerst vor dem Pfarrer und dann wiederholt vor dem Gericht: „Er habe das Mensch zum öfteren beschlafen, ihre die Ehe aufrecht und redlich versprochen; er erkenne sich Vatter zu seyn deß Kinds, das da solle gebohren werden, und er wolle einmal dieses Mensch absolut haben, wann gleich der Vatter es nicht leiden wurde […].“ 514 Dabei räumten die Obereherichter der Sexualität der ehebegehrenden Akteu‐ rInnen durchaus Handlungsmacht ein. Das war insbesondere der Fall, wenn der sexuelle Kontakt zwischen den Ehewilligen wiederholt und gewissermaßen allgemein bekannt stattfand. Das exemplifiziert das Ehebegehren zwischen Madle Burri und Peter Bringold. 515 Zwar endete die Verhandlung mit einem für das Paar negativen Gerichtsurteil. Dennoch verdeutlichte die in ihrer Mehrstim‐ migkeit ausdifferenzierte Rekursurkunde die Haltung einiger Richter gegenüber vorehelichen Schwangerschaften. Obwohl das Gericht auf der Grundlage der Ehegerichtsordnung Christen Burri das Zugrecht gegen seine minderjährige Tochter zugestand, hatten sie vorher „alles Mögliche“ versucht, um „den Vatter zu persuadieren, seine Einwilligung zu dieser Ehe zu ertheilen“. 516 Und obwohl der Vater in diesem Fall erfolgreich „auff seinen oppositionen darwieder ver‐ harret“ hatte, wurde er am Ende für die Verfahrenskosten belangt, weil ihm die „[Frequentation] bekannt gewesen“ war. 517 Welche Position das aristokratisch besetzte Berner Oberchorgericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen Individuum und gemeinschaft‐ lichen Interessen tendenziell einnahm, wird im nächsten Kapitel zu den herr‐ schenden Gerichtslogiken ausführlich behandelt. Am hier angeführten Exempel wird allerdings bereits offensichtlich, dass familiäre, korporative und lokale Interessen, die wohl noch stark „bäuerlich-kommunalen Normen“ gehorchten und patriarchalen Vorstellungen folgten, 518 von den bevölkerungspolitischen Intentionen und somit von den machtpolitischen Ausrichtungen der Eherichter stark abweichen konnten. Denn das Gericht unterstützte und stärkte diesbe‐ 165 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 519 Ebd. 520 Sutter, Act, 196-197. 521 Ebd., 216-217. 522 StABE, B III 827, 381-385. züglich zum Teil Positionen der prekarisierten Individuen im Widerspruch zum patriarchalen Gesetz. Von den 31 Fällen der gesamthaft 61, in denen die gelebte Sexualität der ehewilligen AkteurInnen von der Opposition negativ thematisiert und zumindest als Teil des Ehehindernisses dargestellt wurde, endeten 17 mit einem Urteil, das die Eheschließung zuließ. In weniger als der Hälfte der Fälle (14) entsprachen die Richter den oppositionellen Parteien. Insofern konnte sich das Oberchorgericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts unter diesem Gesichtspunkt durchaus als Verstärker eines Verfalls bäuerlich-kommunaler Werte zeigen und mit seinen Urteilen den familiären und kommunalen Interessen der ländlichen Kollektivgesellschaft zuwiderlaufen. 519 Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen von Eva Sutter für den Kanton Zürich in den ersten rund 60 Jahren des 19. Jahrhunderts, die dort ebenfalls einen „unterschiedliche[n] Bewertungsstandard von Ehegericht und Gemein‐ devorsteherschaft“ beobachtet hat. 520 Parallel dazu hat sie aufzeigen können, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Eheschließung einen permanenten Konflikt zwischen einer prinzipiellen und konservativen Abwehrhaltung der Gemeinden und der eher toleranten und freiheitlichen Haltung übergeordneter kantonaler Behörden gab. 521 In diesem Spannungsfeld ist auch ein einstimmiger Beschluss des Oberchorgerichts für den Ehevollzug - in einem Fall vorehelicher Schwangerschaft der beiden Geschiedenen Anna Rüesch und Hans Wäber 1772 - zu interpretieren. Dabei sprachen sich alle Ober‐ chorrichter eindeutig gegen die Interessen der Gemeinde aus. Sie tadelten nicht das gesetzeswidrige Sexualverhalten ihrer Untertanen, sondern kritisierten die „Willkühr“ der einsprechenden Gemeinde, die aus deren kommunaler Ressour‐ cenbewirtschaftung resultierte. Diese Willkür würde es „minder bemittelten Unterthanen“ zunehmend schwierig machen, überhaupt noch zu einer Ehe zu kommen. Das hatte in den Augen der Richter „äußerst schädliche Folgen“. Denn diese „Macht“ der Gemeinden „[würde sich] zu gröstem Nachtheil der Copulation empfinden lassen“. 522 Insbesondere der kommunale Machtanspruch schien die bernische Obrigkeit in diesem Fall zu stören, die ihrerseits zunehmend selbstbewusst Macht zu monopolisieren versuchte. Die Einhaltung der göttli‐ chen Reinheitsgebote und der Schutz kommunaler Ressourcen schien unter den Richtern des höchsten Berner Ehegerichts nicht mehr erste Priorität zu besitzen, wenn kritisiert wurde, dass sich deren Engführung negativ auf die Fortpflanzung auswirken würde. So hielt es die Mehrheit im Gericht sogar 166 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 523 StABE, B III 829, 183-185. 524 StABE, B III 826, 97-98. 525 StABE, B III 824, 432-438. 526 Ebd; ebenso StABE, B III 829, 67-70. im Eheschließungsfall von Elsbeth Mutti und Rudolf Schmid für „kein[en] Grund gegen die Vollziehung dieser Ehe […], dass die […] [V]erlobte […] eine ausschweifende Dirne gewesen“ war, obwohl die Gemeinde genau dieses moralische Argument gegen die Verkündigung vorgebracht hatte. 523 In Anbetracht dieser Feststellungen fällt auf, dass in der Vergangenheit viele praxeologische historische Studien die Sexualität auf kommunaler Ebene thematisiert, dagegen aber die Haltung der übergeordneten Zentralgewalt ver‐ nachlässigt haben. Auf ihrer Untersuchungsebene sind sie verständlicherweise zum Ergebnis gekommen, dass die Ehepolitik im 18. Jahrhundert scheiterte. Denn sie haben beinahe ausschließlich die patriarchalen Machtansprüche und ökonomischen Interessen auf kommunaler Ebene in Betracht gezogen. Dabei ließen sie jedoch die bevölkerungspolitischen Machtinteressen, die im ausge‐ henden 18. Jahrhundert nicht nur für die Berner Obrigkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen rückten, außer Acht. Einen deutlichen qualitativen Beleg für diesen Befund erhält man anhand des folgenden Ausspruchs des Oberchorge‐ richts. Die Richter ärgerten sich darüber, dass im Fall von Elsbeth Gerber von Lengnau und Hans Stettler der Vater des Bräutigams - wohlgemerkt Chorweibel von Eggiwil - nach konsensual erfolgter Eheversprechung bloß wegen der vorehelichen Schwangerschaft der Braut, also scheinbar aus Gründen der Ehre und der Moral, das Zugrecht ergriff: „Mithin dieses […], wo der väterliche Zug, rebus sic stantibus [wegen sich ändernden Umständen, hier die Schwangerschaft der Braut], Platz finden sollte, von bösem Exempel und höchst bedenklichen Folgen, sonderlich unter Landleuten, seyn müßte […].“ 524 Um die divergierenden Agenden von korporativen, kommunalen und familiären Opponierenden und übergeordnetem Ehegericht auszunutzen, suggerierten die aus kommunaler Sicht eigenwilligen und sexuell aktiven Eheaspiranten vor Ge‐ richt wiederholt die allgemeine Bekanntheit und die öffentliche sowie elterliche Kenntnis ihrer „langwierige[n]“ und wiederholten sexuellen „Frequentation“. 525 So wollten sie die vom Widerstand als „hinterrücks errichtete Eheverspre‐ chung“ dargestellte Verlobung taktisch in die Öffentlichkeit spedieren und dadurch als rechtmäßig errichtet rechtfertigen. 526 Dadurch hätten Gemeinden, Verwandte und Korporationen „merken und vermuthen müßen, es seye mehr 167 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 527 StABE, B III 829, 36-38. 528 Ebd. 529 Ebd; vgl. Lischka, Liebe, 287-290. 530 StABE, B III 826, 614-627. 531 StABE, B III 829, 124-129. 532 Ebd., 67-70. 533 StABE, B III 824, 527-539. 534 Cristellon, Haus; Roper, Church. als vertraulicher Umgang zwischen“ den Brautleuten. 527 Die wahrscheinliche Mitwisserschaft, so die eigenwilligen AkteurInnen, sollte die widerständige Partei verdächtig machen, „stillschweigend [ihre] Einwilligung“ gegeben zu haben. 528 Susanna Bruni von Amsoldingen gab vor Gericht zum Beispiel an, dass sie der Vater des Bräutigams „noch über drey Monat lang, gleichsam als sein Kind in seiner Wohnung und an seinem Tisch gehabt, und weder Mißfallen an dem vertraulichen Umgang und ihm nicht unbekant seyn könnenden Leiblicher Gemeinschaft zwischen [ihr] der Klägerin und seinem Sohn gezeiget, noch einiche Verfügungen solchen zu unterbrechen vorgekehrt“ hätte. 529 Und auch Männer behaupteten, die jeweils begehrte Frau wiederholt und sowohl zu Tagesals auch Nachtzeiten besucht zu haben. Aus diesen Gründen wäre es nicht verwunderlich, „daß sie die Klägerin ihme als ihrem beglaubt zu könftigen Ehemann die Rechte eines solchen gestattet, und sich von ihme schwangern laßen“ hatte. 530 Vor Gericht wurde erläutert, dass „Muthma‐ ßungen vorhanden seyen, daß das Verlöbniß […] mit der Mutter Einwilligung geschloßen, und verkündet worden seye“. 531 Vätern wurde vorgeworfen, dass ihnen die „eheliche Verbindung […] nicht unbewußt gewesen“ wäre. 532 In Bezug auf die Ehewilligen lassen sich deren Taktiken vor Gericht auch als hartnäckige Sexualität fassen, die zur Erlangung eigensinniger Ehebegehren eingesetzt und vor Gericht redselig inszeniert wurde: Den „mit einander voll‐ zogenen öffteren Beyschlaaff “ führten die Ehewilligen in den Quellen ebenso wiederholt an, wie sie diesen gewissermaßen persistent praktiziert haben wollten. 533 Am Umstand, dass die Ehewilligen die öffentliche Bekanntheit ihrer sexuellen Beziehungen als Ressource in die Gerichtsverhandlungen führten, wird die tragende Rolle deutlich, die die Öffentlichkeit auch noch im Ancien Régime des ausgehenden 18. Jahrhunderts für die Konstitution einer legitimen Hochzeit - zumindest subalterner AkteurInnen - spielte. 534 Wo „gegenseitige Verpflichtungen in Absicht auf eine künftige Ehe, und zwar nicht in Geheim, sondern mit jedermans Wißen obgewaltet“ hatten, brachten die ehewilligen AkteurInnen die ehekonstituierende Öffentlichkeit als Argument an, um die 168 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 535 StABE, B III 829, 67-70. 536 StABE, B III 826, 582-590. 537 Es ist auch davon auszugehen, dass Brautschwangerschaften im ländlichen Kontext nicht zwingend als Schande gesehen wurden. Schmidt formuliert sogar, dass es im agrarischen Kontext von Bern „die Sünde’ vorehelicher Geschlechtsverkehr“ gar nicht gegeben hätte. Schmidt, Dorf, 179. 538 Schmidt hat geschrieben, dass für den Berner Rat das konsensuale Eheversprechen und die Kopulation für die Konstitution der Ehe maßgeblich waren. Zwar wurden Brautschwangerschaften während rund 70 Jahren zwischen 1690 und 1760 inkriminiert, doch dieses Unterfangen wurde dann mangels Erfolg wieder abgebrochen. Schmidt, Tätigkeit, 292; ebenso Schmidt, Dorf, 230. Die hier untersuchten Gerichtsurteile zeigen außerdem, dass Brautschwangerschaften im Fall der Heirat aus der Perspektive des Oberehegerichts im gesamten Untersuchungszeitraum von den Paaren nicht mehr abgebüßt werden mussten. 539 StABE, B III 826, 74-75. auf lokaler oder verwandtschaftlicher Ebene vorgebrachten Ehehindernisse auf übergeordneter Ebene zu delegitimieren und überwinden. 535 Dabei schätzten sie „die Folgen einer unehelichen Geburts-Schmach“, 536 mit der sie wegen des Geständnisses ihrer illegitimen Sexualität vor dem Oberchorgericht ebenfalls rechnen mussten, geringer als die Chancen ein, die sich damit für ihre Eheaspi‐ rationen eröffnen mochten. 537 Das hätten sie kaum getan, wenn sie nicht um die Erfolgsaussichten vor dem Oberchorgericht gewusst und aufgrund illegitimer Sexualität drakonische Strafen zu befürchten gehabt hätten. 538 Dieser Umstand weist ebenfalls auf den von Schmidt auf lokaler Ebene quantitativ nachgewie‐ senen Werteverfall hin. Er findet qualitative Bestätigung in den zeitgenössischen Verhandlungspositionen der Gemeindevertreter, wenn diese vor den Richtern beteuerten, dass die sexuellen Verhältnisse auf dem Land „dahin gekommen, dass die meisten junge[n] ledige[n] Landleute die Züchtigung der gesetzlich bestimmten Abbüßung wenig mehr achten, ja viele darunter öffters darmit ihr Gespött treiben.“ 539 2.3.4 Ökonomie Bisher wurden die lebensalterlichen, körperlich-geistigen und sexuellen Konfi‐ gurationen der ehelichen Prekarität, die stets in Kombination mit moralischen und ökonomischen Bedenken aus dem sozialen Nah-raum erzeugt wurden, vorgestellt. In Zweifel gezogen wurden die materiellen Zukunftsaussichten aufgrund des körperlichen Zustands und des befürchteten zügellos gezeugten Nachwuchses - insbesondere der Unterschichten. Daneben stellte die wirt‐ schaftliche Ausgangslage verschiedener Ehewilligen per se einen neuralgischen Punkt dar. In rund einem Viertel der Fälle (16) wurde von Gemeinden und 169 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 540 Chorgerichtssatzung 1743, 763. 541 Unter Besteuerung wurde in Bern zu dieser Zeit die erhaltene Armenunterstützung verstanden. Vgl. Regula Ludi, Kriminalität in der bernischen Regenerationszeit. Lizenz‐ iatsarbeit, Bern 1992, 121. 542 In der nachfolgenden Ehegerichtssatzung von 1787 kam der entsprechende Passus in der II. Satzung unter § 2 zu stehen. Ehegerichtssatzung 1787, 795. 543 Zur Ehe als Gnadengabe im katholischen österreichischen Kontext vgl. Lanzinger, Verwandtschaft, 13-14; 24; 32; 41; 52-54; 241-243; Lanzinger, Emotionen, 50; vgl. auch Schmugge, Ehen, 11. Korporationen das Zugrecht auf der Grundlage des Ehegesetzes von 1743 in der revidierten Chorgerichtssatzung verlangt. 540 Die Besteuerung von Gemeinde- oder Korporationsgliedern war dadurch, nach der Minderjährigkeit, das unter dem Ancien Régime am häufigsten gegen die hier untersuchten Eheaspirationen eingewendete Ehehindernis. 541 Und auch in Fällen, in denen zwar das Zugrecht nicht explizit auf der Grundlage dieses Artikels eingefordert wurde, stellten die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehewilligen oftmals einen Diskussionspunkt innerhalb der gerichtlichen Verhandlungen dar. Der besagte Gesetzesartikel räumte den Gemeinden und Gesellschaften dasselbe Vetorecht gegen die Ehevorhaben ihrer besteuerten Angehörigen ein wie den Verwandten gegenüber ihren minderjährigen Familienmitgliedern. Wer vor dem 25. Alters‐ jahr Unterstützungsleistungen von einer Gemeinde oder Zunftgesellschaft erhalten hatte, konnte seit 1743, dem dritten Artikel der revidierten Satzung zufolge, bis zur Volljährigkeit von Gemeinde oder Korporation an der Heirat gehindert werden. Wer darüber hinaus Almosen empfing, durfte in Bern eben‐ falls von der Ehe ausgeschlossen werden, bis der entsprechende Steuerbetrag im Umfang der Unterstützungsleistungen zurückbezahlt worden war. 542 Dieses Gesetz verdeutlicht zwei Aspekte der Eheschließung unter dem Berner Ancien Régime: Erstens stellte es im 18. Jahrhundert in keiner Weise ein natürliches Recht dar, eine Ehe eingehen zu dürfen, sondern es war gewissermaßen eine Gabe der von Gottesgnaden herrschenden Patrizier von Bern. Ähnlich wie man in der katholischen Kirche bei Ehen in zu nahen Verwandtschaftsgraden von der Gnade einer Dispens abhängig war, war man als ehewilliges Paar beim Ein‐ spruch gegen die Ehe in Bern im gerichtlichen Aushandlungsprozess tendenziell von der gnädigen Verwaltung der Eheschließung durch die aristokratischen Richter abhängig. 543 In der zeitgenössischen Vorstellung entschied das göttlich bestimmte Schicksal - das sich in der zeitgenössischen Auffassung vor allem im wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Erfolg einer Regierung offenbarte - darüber, mit welcher Wohltätigkeit und Milde Berns Obereherichter als 170 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 544 Vgl. Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 45-53. Die Berner Historikerin hat sich mit dem Selbstverständnis der Berner Obrigkeit in Bezug auf die landesväterliche Wohlfahrt im 18. Jahrhundert auseinandergesetzt. Dazu hat sie die Tätigkeit der bernischen Almosenkammer untersucht. Sie ist zum Ergebnis gekommen, dass die „Fürsorge für die Ärmsten“ nach wie vor in einem christlichen Rahmen stattfand. Darin bestimmte im bernischen Regierungsverständnis „die göttliche Fügung […] allein über Möglichkeiten und Grenzen der staatlichen Wohltätigkeit“. Dabei wurde „Wohlfahrt als Gnade und nicht als Rechtsanspruch verstanden“. 545 Max Weber/ Johannes Winckelmann (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Religionssozio‐ logie, 7. Aufl., Nachdr. der 6. Aufl., Tübingen 1988. 546 Vgl. zur Armut als selbstverschuldete Schande in Bern im 18. Jahrhundert Max Baumann, Armut im Dorf und im Landstädtchen, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahr‐ hundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 191-194, 194; zum Armutsverständnis in der Frühen Neuzeit in der Eidgenossenschaft vgl. Ruedi Epple/ Eva Schär, Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz, 1200-1900, Zürich 2010, 103-129. Stellvertreter die göttliche Gnade ausüben konnten. 544 Zweitens musste diese Gnade auch im reformierten Bern des 18. Jahrhunderts - ganz im Sinne von Max Webers Analyse der auf der Prädestinationslehre fußenden puritanischen Arbeitsethik - permanent durch ökonomische Leistungen versichert werden. 545 Demzufolge war die Gnade der Ehe, über welche das Ehegericht nominell nach wie vor im Auftrag Gottes wachte, nicht allen Bernerinnen und Bernern gegönnt. Man musste sich ihrer nicht nur moralisch würdig erweisen. Sie musste auch ökonomisch verdient sein, zumindest wenn sie einem nicht durch geburtsständisches Schicksal qua geerbtem Vermögen und Besitz, und damit quasi direkt und unvermittelt von Gottesgnaden, gegeben war. Ansonsten durfte die Heimatgemeinde oder die Korporation die Ehe verhindern. Das skizzierte ökonomisierte Gnadenverständnis überlagerte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folglich mit einem sich immer deutlicher abzeich‐ nenden Armutsverständnis, das in zunehmend moralisierender Weise zwischen selbstverschuldeter (‚unwürdiger‘) und unverschuldeter (‚würdiger‘) Armut dif‐ ferenzierte. 546 Dadurch konnte Armut als negatives Zeichen des Gnadenstandes und des schlechten moralischen Zustands interpretiert werden. Evident wird so der im Gesetz implizite moralische Zusammenhang zwischen Ökonomie, Gnade und Ehe. Auf diese Art amalgamierten religiöse Heilsökonomie und kommunale respektive korporative Ressourcenwirtschaft vor Gericht in einer moralischen Ökonomie des Heiratens. Moral und Ökonomie fielen tendenziell zusammen, wenn die Gemeinden und Korporationen vor Gericht zu begründen hatten, wer der Eheschließung unwürdig war. Die enge Liaison von Moral und Ökonomie zeigte sich aber auch darin, dass das Gericht untersagte, aus der Ehe „eine Speculation und [ein] Commercium zumachen […], welches 171 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 547 StABE, B III 829, 376-378. 548 Ebd., 106-109; StABE, B III 827, 298-303; 381-385; StABE, B III 824, 334-338. 549 StABE, B III 827, 298-303; im selben Sinn StABE, B III 827, 381-385. 550 StABE, B III 827, 298-303. 551 StABE, B III 829, 138-139. 552 Ebd., 485-487. 553 StABE, B III 824, 207-217. 554 Ebd. 555 StABE, B III 829, 106-109; ebenso StABE, B III 829, 83-85; StABE, B III 829, 265-269. einen öffentl[ichen] Aergerniß nach sich ziehe und verursache“, wodurch der Heiligkeit des ehelichen Standes als erste Ordnung Gottes Nachdruck verliehen wurde. 547 Die Verquickung zwischen Ökonomie und Gnadeninstitut in Bezug auf die Ehe illustriert deren hybrides Wesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Bern. Dieses war in den hier untersuchten Fällen prekärer Eheschließungen stets Gegenstand der Verhandlungen zwischen ehewilligen AkteurInnen, oppo‐ nierenden Parteien und herrschaftlicher Obrigkeit. Die Opponierenden waren dabei darauf bedacht, ihnen unliebsame Ehen vor dem Oberchorgericht für unverdient zu erklären und aufzuzeigen, dass durch die bevorstehende Ehe‐ schließung ihre Gemeinde oder Korporation noch stärker belastet würde, als sie das ohnehin schon war. 548 Diese steigende Belastung versuchten sie „durch Interposition deß Zugrechtes von sich abzuwenden“. 549 Insbesondere die Hei‐ matgemeinden der Männer argumentierten vor Gericht, dass ihre Angehörigen schon vor der Ehe „fast allein von dem Allmosen [ihrer] Gemeind[en] und andrer mildthätiger Personen leb[ten]“. 550 Sie legten dar, dass sie den Verlobten „ununterbrochen assistiere[n]“ mussten. 551 Sie zeigten auf, dass sie den betref‐ fenden Gemeindeangehörigen seit einer bestimmten Zeit direkt mit „Beysteuer“ oder zumindest dessen Kinder aus vorherigen unehelichen und/ oder ehelichen Beziehungen unterstützten. 552 Vielfach wurde die Bevormundung des Mannes in einem Zug mit der ökonomischen Unselbständigkeit vor Gericht erwähnt. Dadurch wurde dessen wirtschaftliche Abhängigkeit begründet mit der man‐ gelnden „Vechigkeit […], ohne seines h[och]l[öblichen] Vogts“ Entscheidungen zu treffen. 553 Mit diesem Argumentarium wurden das ökonomische Gelingen und die Beständigkeit des vom Ehepaar neu zu gründenden Haushalts aufgrund von mangelnden hausväterlichen und haushälterischen Qualitäten grundlegend in Frage gestellt: Ein Mann, der „sein Leben zu gewinnen außert Standts gesetzt“ 554 war oder sich nur „kümmerlich alleine durchbringen“ 555 konnte, bereits vorehelich auf Unterstützung angewiesen war oder, „wann er nicht wäre bevogtet gewesen, seine wenige mittel längsten darauf gegangen wären, und er 172 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 556 StABE, B III 824, 207-217. 557 StABE, B III 829, 106-109; ebenso StABE, B III 829, 83-85; StABE, B III 829, 265-269. 558 StABE, B III 829, 83-85. 559 Ebd., 183-185. 560 StABE, B III 830, 368-372. 561 Dabei wurde längst darauf hingewiesen, dass „Bettel und Prostitution […] weibliche Überlebensstrategien [waren]“. Diese außererwerblichen Einkommensquellen waren wiederum illegal und „zogen automatisch die Deklassierung der betreffenden Personen nach sich“. Ludi, Frauenarmut, 29. 562 StABE, B III 829, 265-269. 563 StABE, B III 824, 207-217. 564 Zur zeitgenössischen Verbindung von Alkoholismus und Armut in Bern vgl. Baumann, Armut, 194. 565 StABE, B III 829, 434-437. 566 StABE, B III 830, 368-372. würcklich inn der äußersten Armuht sich befinden wurde“ 556 , konnte aus Sicht der von Armenlasten bedrohten Gemeinden und Gesellschaften „nicht im Stand [sein], ein Weib noch weniger allfällige Kinder zu erhalten“. 557 Ergo hatte er sich in der Logik der Opponierenden die Gnade der Ehe eben nicht verdient. In vielen Fällen, in denen die Armut der Ehewilligen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wurde, moralisierten die Opponierenden diese außerdem. Daran lässt sich zeigen, dass sie nicht nur Vertreter von lokalen und familiären moralischen Ökonomien waren, sondern sie selbst in ihren Eheeinsprachen gegenüber ihren Angehörigen die Moral zunehmend ökonomisierten. Mittellose Frauen wurden der „Unzucht und Trunkenheit“ 558 bezichtigt. Ihnen wurde „ausgelassene Aufführung“ 559 nachgesagt. Den Opponierenden zufolge handelte es sich um „übel berüchtigte Weibspersohnen [von zweydeutigem Ruff]“. 560 Mit diesen diskreditierenden Darstellungen wurden die negativen Erwartungen, die von diesen Partnerschaften ausgingen, topisch untermauert. 561 Aber nicht nur die materielle Armut der Frauen dieser angestrebten Eheverbindungen wurden wiederholt mit schlechtem Leumund und Trinkerei in Verbindung gebracht. Auch der mittellose Mann wurde von den Gemeinden und Korpora‐ tionen in den Verhandlungen als „schlechter Kerl und Erz-Säufer“ 562 vorgestellt oder als „ein so liederliches Lebewesen“ 563 präsentiert. 564 Armut, „schlechte Denkungsart“ 565 und moralische Defizite gingen in der Argumentationslogik der Opponierenden vor Gericht unabhängig vom Geschlecht in vielen Fällen Hand in Hand. Die einsprechenden Parteien deuteten die Kombination von Armut und Sittenlosigkeit als „leidige Vorbedeutung des etwenigen Guten, so aus einer solchen Ehe zu verhoffen wäre“. 566 Dagegen wurde das ‚Gute‘ in ebenso unentwirrbarer Verbindung von Ökonomie und Moral erachtet: Die gute Moral drückte sich in ökonomischem Erfolg aus, während die Armut zum Ausdruck 173 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 567 StABE, B III 824, 334-338. 568 StABE, B III 829, 221-223. 569 StABE, B III 830, 483-491. 570 Ebd., 368-372. schlechter Sitten wurde. Aus einer Haltung der moralischen Ökonomie heraus wurde in Anbetracht der zu verhindernden Eheschließungen vor dem Berner Oberchorgericht die Moral ökonomisiert. Dass vor allem die Abgeordneten der Heimatorte und Gesellschaften der Männer Einsprachen gegen ökonomisch prekäre Ehevorhaben erhoben, hatte einen einfachen Grund: Im Fall der Einheirat einer Frau mussten jeweils sie aufgrund des herrschenden Gesetzes mit ihrem Gut auch für diese und allfällige Kinder aufkommen, wenn die Mittel des Ehepaars zur standesgemäßen Haus‐ haltsführung und Versorgung der Familie nicht ausreichten. Deswegen stellten die Ehrbarkeiten vor allem die Armut des Mannes vor Gericht besonders drama‐ tisch dar, zum Beispiel „so groß[,] daß seinem eigenen Geständtnuß nach er nicht einmahl im Stand gewesen, seiner verstorbenen Frauwen einen Todten-Baum machen und selbige ehrlich begraben zu laßen, sonderen die gemeind den dißör‐ thigen costen haben müßen“. 567 In diesem Beispiel von Christen Kneubühler von Biglen kam 1746 der Zusammenhang zwischen Ehe als Gnadeninstitution, die man sich zu verdienen hatte, und ökonomischen Verdiensten sowie materiellem Besitz sehr plastisch zum Ausdruck. In der zeitgenössischen kommunalen Auffassung erschien es unvorstellbar, dass jemand, der seiner verstorbenen ersten Frau selbst kein ordentliches Begräbnis verschaffen konnte - sich also gewissermaßen materiell an ihrem Heil versündigt hatte -, die göttliche Gnade verdient haben sollte, ein zweites Mal heiraten zu dürfen. Im Fall von Jérémie Margot von St. Croix und Jean Marie Martin von Lausanne, die 1775 bereits miteinander im Konkubinat gelebt hatten, war von „äußester Armuth und daher rührender gänzlicher Unvermöglichkeit“ die Rede. Deshalb wurde das Paar vom Gericht sogar „der persöhnlichen Erscheinung dispensirt“, weil die Kosten für die Reise zu hoch gewesen wären. 568 Neben „der großen Armuth“ betonten die Korporationen auch das Ausmaß der „fast gänzlichen Verdienstlosigkeit“, weshalb sich die „Umstände […] nicht im geringsten vebesser[n]“ konnten. 569 Auch das anhaltende oder wiederholte ökonomische Scheitern der ehelich prekarisierten Menschen wurde von den Vertretern der Gemeinden und Ge‐ sellschaften im Aushandlungsprozess thematisiert. So hob zum Beispiel die Gesellschaft der Schuhmacher in Bern hervor, dass ihr Angehöriger Samuel Gruner, der Anna Maria Magdalena Schäublin von Waldenburg im Kanton Basel zu heiraten wünschte, von ihnen „auferzogen, verpflegt und zum Schneider‐ handwerk verdingt worden“ war. 570 Doch dessen gewerbliche Tätigkeit „[wollte] 174 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 571 Ebd. 572 Ebd. 573 Ebd. 574 StABE, B III 824, 207-217. 575 Ebd., 515-520; in derselben Logik: StABE, B III 829, 183-185; StABE, B III 829, 265-269. nicht gut vonstatten gehen“, also erhielt er eine Pfründe in ihrem Spital. 571 Die schlechte Ausübung dieser Stelle führte jedoch dazu, dass er von ihr zusätzlich als „Unterpörtner“ angestellt werden musste. Als auch diese Position seine wirtschaftliche Lage nicht zu verbessern vermochte, trug man ihm laut Aussage der Gesellschaft das Amt als „Bättelvogt“ an. 572 Dieses erlaubte es ihm, ein erstes Mal zu heiraten. Doch das Paar befand sich „in ununterbrochenem Zwist und Uneinigkeit“ und schied sich nach kurzer Zeit. Eine neuerliche Ehe wollte die burgerliche Zunft ihrem Mitglied nicht mehr gestatten. 573 Die wiederholten öko‐ nomischen Schwierigkeiten, die sich in den Augen der Gesellschaft gleichzeitig im Scheitern der ersten Ehe manifestierten, machten die eheliche Unwürdigkeit in ihren Augen offensichtlich. Die Ehewilligen elaborierten unterschiedliche Taktiken, um den Vorwurf, beziehungsweise den Verdacht, der selbstverschuldeten und damit der ‚unwür‐ digen‘ Armut abzuwenden und die begehrte eheliche Verbindung als wirtschaft‐ lich gerechtfertigt darzustellen. Dazu mussten die prekarisierten Eheanwärter den Vorwurf der Mittellosigkeit als unberechtigt, unbegründet oder schlicht falsch entkräften. Das konnte dadurch geschehen, dass sie vor Gericht ihre Besitzverhältnisse nachwiesen und damit den Beweis erbrachten, dass sie nicht unbemittelt waren, 574 „noch vergeltstaget, oder von denen schulden getreiben, sonderen im gegentheil ehrliche mittel im land [besaßen]“ und die entspre‐ chende „Gemeind also ihre Oppositiones allzuweit treibet“. 575 Sie forderten aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation Handlungsautonomie ein, bestätigten aber damit ihrerseits geradezu die ständisch-patriarchale Logik der Ehe als Gnadengabe und Privileg für ausreichende Verdienste. In zahlreichen Fällen wurde darum gestritten, in welcher Form und für wen die von den Gemeinden und Gesellschaften erhaltenen Almosen bezogen wurden. Denn das Gesetz differenzierte zumindest im Ancien Régime zwischen sogenannter ‚direkter‘ und ‚indirekter‘ Besteuerung: Wer Almosen direkt bezog, erhielt diese für seinen eigenen Unterhalt und war damit über die Volljährigkeit hinaus nicht mehr berechtigt, ohne die Zustimmung der Gemeinde oder Ge‐ sellschaft zu heiraten. Wer indirekt Unterstützungsleistungen empfing, bekam diese für seine ehelichen oder unehelichen Kinder. Väter erhielten von der Gemeinschaft Gelder für die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder, weil sie für diese nicht selbst aufkommen konnten. Sie waren bis 1798 juristisch betrachtet 175 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 576 StABE, B III 829, 485-487. 577 StABE, B III 824, 334-338. 578 StABE, B III 830, 483-491. 579 StABE, B III 829, 106-109. 580 StABE, B III 824, 334-338. 581 Ebd. 582 StABE, B III 829, 265-269. durchaus berechtigt zu heiraten. Folglich war es für den Erfolg der ehewilligen Männer entscheidend, ob sie in der Einschätzung der Obereherichter von ihrer Gemeinde Almosen für sich oder ihre Kinder bezogen oder in der Vergan‐ genheit bezogen hatten. Die Gemeindevertreter waren bemüht, die schlechte ökonomische Situation ganz allgemein als ausweglos zu schildern und den Unterschied zwischen direkten und indirekten Besteuerungen zu nivellieren. Sie argumentierten, der Mann „möge solche auch verwenden wo er wolle“ 576 , direkt und indirekt empfangene Almosen seien „eben eins“ 577 . Dagegen wollten die Ehewilligen aufzeigen, dass es sich beim empfangenen Geld in ihrem Fall höchstens um indirekte Almosen oder sogar einen ihnen zustehenden Verdienst für Leistungen gegenüber der Gemeinde handelte. Vor Gericht wurde zwischen Johann Rudolf Aeschlimann und dem Magistrat von Burgdorf zum Beispiel darüber verhandelt, ob die „freye und unentgeltliche Wohnung“ im burgerlichen Spital als Almosen an den Ehewilligen betrachtet werden musste oder als Recht von jedem Angehörigen der Burgergemeinde angesehen werden durfte, das die Ehefähigkeit nicht tangieren konnte. 578 Klaus Leist von Oberbipp, der Barbara Klaus von Walliswil ehelichen wollte, diskutierte mit seiner Gemeinde vor Gericht darüber, ob die Zahlungen der Gemeinde, die sie an einen ihrer Angehörigen für dessen Tätigkeit entrichteten, als Almosen anzusehen waren oder ob sie „eine Besoldung dieses Diensts“ darstellten. 579 In anderen Fällen zeigten die Männer einfach auf, dass die bezogenen Gelder ihre Bestimmung im Unterhalt, in der Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder fanden und keineswegs zu ihrem eigenen Lebensunterhalt dienten 580 oder sie sich aktuell „weder in dem einten noch anderen Casu“ befanden. 581 Gleichzeitig versuchten einige von ihnen, den Oberchorrichtern glaubhaft zu machen, dass sich ihre Ehen nicht nur für sie, sondern auch aus allgemeiner ökonomischer Sicht und ressourcenpolitischen Überlegungen lohnen würden. Durch die Ehefrau, interpretiert als „Gehülfin“ in der Hauswirtschaft, würde sich, so das Argument dieser Subalternen, die ökonomische Lage des Haushalts automatisch verbessern und die Belastung für die Armenkassen abnehmen. 582 In diesem Zusammenhang findet sich auch die Argumentation des Witwers Christian Summi von Saanen, der 1790 erneut zu heiraten wünschte. Er erklärte 176 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 583 Ebd., 485-487. 584 Ebd. 585 Ebd., 627-634. 586 StABE, B III 827, 298-303. den Richtern, dass er „erst seith dem Tod [seiner] ersteren Frauen […] blos eine Zulag zu der Verpflegung seiner Kinder, also kein directes ihme gereichtes Allmosen“ empfing. 583 Damit verfolgte er eine doppelte Taktik: Einerseits argumentierte er, dass die Unterstützung, die er bezogen hatte, gar nicht für ihn, sondern für seine Kinder war. Andererseits plädierte er implizit dafür, dass er gerade zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Situation auf eine Ehefrau und deren Unterstützung angewiesen war. Dadurch wäre er dann wieder in der Lage, seine Kinder selbst und ohne Zuschüsse der Gemeinde zu versorgen. Mit dieser Argumentation stellte er folglich seiner Gemeinde im ehegerichtlichen Aushandlungsprozess in Aussicht, dass sich durch die Eheschließung mit der heimatlosen Ursula George auch ihre wirtschaftliche Situation verbessern würde. 584 Dieselbe Taktik wandte auch der verwitwete Müllermeister Jakob Steiger aus Bern an, der bereits weiter oben Erwähnung fand und im Fall der Ehebewilligung ebenfalls in Aussicht stellte, seine Kinder wieder selbst zu versorgen. Er verpflichtete sich während seines Verhörs deshalb, „nach vollzogener Heyrath, und dadurch erlangten Etablissement, seine Kinder erster Ehe zu sich [zu] nemmen, und der Ehrenden Gesellschaft mit Ihrer ferneren Unterhaltung keineswegs beschwerlich [zu] fallen“. 585 Immer wieder fungierte die Eheschließung in der taktischen Argumentation der ehewilligen AkteurInnen explizit als notwendige Versorgungsinstitution und implizit als Brücke zwischen aktueller wirtschaftlicher Lage und zukünf‐ tigem Glück. Das dokumentiert auch der Fall des verwitweten Schneiders Samuel Dällenbach von Rüderswil, der 1771 vor Gericht auf der angefochtenen Heirat mit seiner Verlobten Anna Fäß von Balm beharrte, weil er mit derselben „sein Glük zu machen hofte, zumahlen dieselbe mit der Wäscherei des Lein‐ wandtes sich abgebe, und darmit einen guten Verdienst habe; als dessen er während der Zeit, da sie die Verlobten miteinander bey der Papiermühle und im Altenberg gewohnt und gemeinsamlich hausgehalten, bestens inne worden“. 586 In diesen Fällen wurde das Gefühl des Glücks explizit und unmissverständlich mit dem wirtschaftlichen Gelingen des Haushalts in Verbindung gebracht und unauflöslich miteinander verwoben, worauf im anschließenden Unterkapitel noch einzugehen sein wird. Positiv besetzte Emotionen waren unentwirrbar mit dem wirtschaftlichen Zustand verbunden. Die Bedeutung der Ehe für die Hauswirtschaft und als ökonomische Res‐ source der Ehewilligen lässt sich an einem abschließenden Fallbeispiel beson‐ 177 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 587 StABE, B III 824, 202-206. 588 In diesem Fall kommen die beiden Konzepte von Martin Dinges zur Selbsthilfe und Justiznutzung sogar in Berührung. Dinges, Armenfürsorge; Dinges, Justiznutzungen. 589 StABE, B III 824, 202-206. ders gut illustrieren. Dieses soll gleichzeitig den nächsten Abschnitt, der sich den Emotionen als Ursprung der Prekarisierung und Ressource ehewilliger AkteurInnen widmen wird, vorbereiten: 1744 traten Hans Mäßerli von Rüeg‐ gisberg und Margreth Stämpfli von Bremgarten in der Absicht zu heiraten vor das Oberchorgericht. Die beiden standen bereits ein Jahr früher vor denselben Richtern, allerdings unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen. Damals forderte sowohl Stämpfli als auch ihre Konkurrentin Maria Kränger von Rüeggisberg die Ehe gegenüber Mäßerli ein. Sie waren beide schwanger von ihm. In diesem Prozess erhielt Kränger den gerichtlichen Vorzug im Ringen um den begehrten Mann. Er musste jedoch auch die Vaterschaft für das unehelich gezeugte Kind mit Stämpfli anerkennen. Kränger war allerdings im ersten Ehejahr unerwartet verstorben. Das veranlasste Mäßerli, eine Supplikation an das Oberchorgericht zu richten. Darin behauptete er nun, dass er Stämpfli die Ehe, wie seiner verstorbenen Ehefrau, versprochen hatte, obwohl er vor einem Jahr vor Gericht genau diesen Verdacht erfolgreich bestritten hatte. Nun führte er an, dass er die Eheversprechung damals lediglich geleugnet hatte, weil er mit der Kränger „eine ällter- und beßere Eheversprechung“ gehabt hatte als mit der Stämpfli. 587 Offensichtlich hatte er für sich den ‚Wert‘ beider Frauen abgewogen und entschied sich im ersten Schritt für die scheinbar bessere Partie. Die Quelle offenbart nicht, was zur jeweiligen Einschätzung der beiden Frauen geführt hatte. Doch der Tod der für ihn bevorzugten Wahl stellte ihn vor das Problem, nun gar keine Gefährtin, aber zwei Kinder zu haben, für deren Versorgung und Erziehung er verantwortlich war. Daneben musste er für seinen eigenen Lebensunterhalt aufkommen. Also wandte er sich ganz im Sinne der Justiznutzung nun selbst eigensinnig an das Gericht. Dadurch wollte er sich selbst Hilfe verschaffen und versuchte, die Ehe mit der zuvor zurückgewiesenen Frau durchzusetzen. 588 Auf der Seite der Frau schien es in diesem konkreten Fall wenig Platz für Sentimentalitäten gegeben zu haben. Stattdessen überwogen auch bei ihr materieller Pragmatismus und ökonomisches Kalkül: Sie trat nun im Einvernehmen mit dem Mann erneut vor das Gericht, um „dißmahlen aber einander zu ehelichen“. 589 Der Schluss liegt nahe, dass aus existenzieller Sicht Frauen in dieser Zeit offenbar es bevorzugen konnten, die zweite Wahl zu sein, anstatt gar keinen Partner und keine Ehe als Versorgungsinstitution zu haben. Diese Annahme lässt sich mit der bereits zitierten Studie aus der schwedischen Forschungsgruppe des Projekts Gender 178 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 590 Ling/ Hassan Jansson/ Lennersand/ Pihl/ Ågren, Marriage. 591 Darauf weisen auch die von Claudia Jarzebowski untersuchten Schwagerehen hin, bei denen Frauen den Bruder ihres in den Krieg gezogenen Mannes heirateten, um die „materiellen Vorteile bzw. den status quo zu sichern“, während sie dabei wissentlich gegen die Sittengesetzgebung verstießen. Claudia Jarzebowski, Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, Köln 2006, 112-141. 592 Wunder, Sonn’, 174; 190. 593 Schlumbohm, Einleitung, 11-12. and Work untermauern: Es war in der Frühen Neuzeit schwierig, unattraktiv oder je nach Lebenssituation schlicht unerschwinglich und existenzbedrohend, AlleinversorgerIn zu sein. Das wiederum hebt den immensen Stellenwert der Ehe im Leben der frühneuzeitlichen AkteurInnen hervor. 590 Daran offenbart sich aber auch, dass bestimmte, wohl vor allem arme, AkteurInnen die Erfül‐ lung der sittlichen Ordnung und die komplette emotionale Übereinstimmung mit dem Partner oder der Partnerin hintanstellen konnten angesichts jener materiellen Aspekte, die das ökonomische Überleben in der Frühen Neuzeit maßgeblich mitbestimmten. 591 In anderen Worten konnten sie es emotional eher verkraften, zweite Wahl zu sein, als sie es sich existenziell leisten konnten, von den wirtschaftlich-materiellen Vorzügen und rechtlichen Vorteilen der Ehe ausgeschlossen zu bleiben. Denn der Ledigenstand konnte eine nicht zu unterschätzende und permanente Bedrohung der Existenz sein. 592 Gerade im 18. Jahrhundert waren insbesondere ledige Frauen - Witwen und Mägde - von Armut und Obdachlosigkeit bedroht und zählten zu den Bettelgruppen, die auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft durchs Land zogen. Und so wirft der „Grenzfall“, wie etwa jener von Mäßerli und Stämpfli, ein klares „Licht auf die Leistung und Bedeutung der Familie“, respektive der Ehe: 593 Familie und Ehe formierten eine substanzielle und essenzielle Stütze bei der Bewältigung des Alltags, die viele unbedingt wollten, weil sie quasi unentbehrlich war. Aufgrund der existenziellen Bedeutung mochten von der Prekarität bedrohte AkteurInnen durchaus bereit sein, beziehungsweise waren gezwungen, indivi‐ duelle emotionale Präferenzen hintanzustellen oder zu ignorieren, um sich vor Gericht dennoch für ihr persönliches Glück, das grundlegend materiell bedingt war, einzusetzen. 2.3.5 Leidenschaften und Gefühle In Anbetracht der eben ausgeführten Beobachtung erscheint die vielbeachtete These von Hans Medick und David Sabean, wonach Gefühle und materielle Interessen keinesfalls getrennte Sphären abbildeten, sondern stets ineinander verwoben seien, für den hier behandelten Untersuchungszeitraum ausgespro‐ 179 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 594 Medick/ Sabean, Emotionen, 31. 595 Jon Mathieu, Bauern und Bären. Eine Geschichte des Unterengadins von 1650 bis 1800, 2. Aufl., Chur 1987, 158. 596 Binz-Wohlhauser, Glanz, 45. Die Autorin hat den Ausdruck in Bezug auf die Eheschlie‐ ßung als Vernetzungsstrategie der Fribourger Aristokratie verwendet. Sie hat damit die optimale Verbindung von ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital innerhalb einer Ehe bezeichnet. Da für die vorliegende Untersuchung ‚Liebe‘ als Ressource und Potenzial untersucht werden soll, eignet sich diese Umschreibung auch hier. 597 Shorter, Geburt, 24; 145; 164; 166; aus praxeologischer Perspektive wurde diese These im deutschsprachigen Raum vor allem von Lischka, Liebe in Frage gestellt. 598 Silke Lesemann, Liebe und Strategie. Adlige Ehen im 18. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 8 (2000), 189-207, 190. 599 Vgl. Goodman, Choice, 28. 600 Vgl. auch Lanzinger, Neigung, 268. 601 StABE, B III 830, 586-592. chen plausibel. 594 Sehr pointiert formuliert auch Jon Mathieu diese These, wenn er darauf verweist, dass Akteur-Innen durchaus in der Lage waren, ihre Gefühle der materiellen Umwelt anzupassen. 595 So konnte die Erfüllung der materiellen Bedürfnisse und die Verbesserung der ökonomischen Situation von den Ehe‐ willigen, wie oben aufgezeigt, problemlos und verständlicherweise als Glück erachtet werden. In ihrer Perspektive standen materielle Existenzsicherung und positive Gefühle in keinem Widerspruch. Im Idealfall ergänzten sie sich in einem „All-inclusive-Paket“. 596 Die Dichotomie zwischen zweckfreien, quasi romanti‐ schen Gefühlen der jungen Menschen und den materiellen Interessen sowie dem heiratspolitischen Kalkül der sozialen Umwelt, deren Rituale vermeintlich keine Gefühle erlaubten, erscheint daher überzeichnet und undifferenziert. 597 Vielmehr strukturierten sie sich wechselseitig. 598 Für Männer und - in gestei‐ gertem Maße - für Frauen waren Glück, sozialer Status, ökonomischer Erfolg und Sicherheit in der Kombination nur durch Heirat zu erreichen. 599 Folglich ließen sich die materiellen und immateriellen Heiratsmotive nie trennscharf unterscheiden. 600 Auch gegen prekäre Heiratsbegehren Opponierende sahen zwischen Glück und Wirtschaftlichem keinen Gegensatz. Im Gegenteil: Sie erwarteten bei allzu großen materiellen Sorgen und emotionalen Spannungen nichts anderes, „als daß sich aus dieser Ehe [nicht] etwas anders als Unglük und Elend vorhersehen ließe“. 601 Das emotionale Ergebnis eines prosperierenden ehelichen Haushalts war Glück. Darin kommt zum Ausdruck, dass wirtschaft‐ licher Erfolg und emotionales Gelingen eines Haushalts für die Zeitgenossen untrennbar miteinander verschränkt waren. Gleichzeitig lässt sich daraus aber auch ableiten, dass das „bürgerliche[] Liebesprojekt“, das Ehe und Liebe wenigstens ideell amalgamierte und dadurch 180 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 602 Lanzinger, Liebe, 158. 603 Arno Haldemann, Charivari or the Historicising of a Question. The Irrelevance of Romantic Love for the Audio-Visual Performance of Marriage in Bern in the 18th and 19th Century, in: Journal for Religion, Film and Media ( JRFM) 4 (2018), 55-66. 604 Damit wird auch deutlich, dass dieser Arbeit kein universalitisches Emotionsver‐ ständnis zugrundeliegt, sondern Gefühle als kulturell und historisch geformte Wahr‐ nehmungs- und Ausdrucksweise von Empfindungen interpretiert werden. Für einen Überblick über die kulturgeschichtlichen Zugänge zur Emotionsforschung vgl. Rüdiger Schnell, Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions, Teil 1, 2 Teile, Göttingen 2015; ebenso Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012; Nicole Eustace/ Eugenia Lean/ Julie Livingston/ Jan Plamper/ William M. Reddy/ Barbara H. Rosenwein, AHR Conversation. The Historical Study of Emotions, in: The American Historical Review 117 (2012), 1487-1531. 605 Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Rebekka Habermas, Spielerische Liebe oder von der Ohnmacht der Fiktion. Heinrich Eibert Merkel und Regina Dannreuther (1783-1785), in: Ungleiche Paare. Zur Kulturge‐ schichte menschlicher Beziehungen, hrsg. v. Eva Labouvie, München 1997, 152-174; Anne-Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Manfred Hettling/ Stefan-Ludwig Hoff‐ mann, Göttingen 2000, 23-55; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), 2. Aufl., Göttingen 2002, 266-314; zum Umstand, „die Liebe jeden ‚Ökonomieverdachts‘ enthob“, sich in den prekären Eheschlie‐ ßungen vor dem Berner Oberchorgericht des Ancien Régimes auch nicht andeutungsweise umgesetzt fand. 602 Im Berner Oberchorgericht hatte die Liebe im Ancien Régime sehr viel mit den ökonomischen Voraussetzungen der Partner und deshalb wenig mit prekären Eheschließungen zu tun, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 603 Wo materielle Bedingungen nicht erfüllt waren, konnte in den Augen der Opponierenden kein Glück gedeihen, weshalb die Liebe als Ehevoraussetzung längstens nicht ausreichte. Wo hingegen bestimmte positive Gefühle gänzlich fehlten oder negative Gefühle zwischen den Eheaspiranten dominierten, wurde vom Gericht wiederum wirtschaftliches und gesellschaftli‐ ches Scheitern antizipiert. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welches in der zeitgenössischen Wahrnehmung die ‚richtigen‘ emotionalen Voraussetzungen für eine legitime Eheschließung waren. Welche materiellen und sozialen Kon‐ ditionen wurden für bestimmte Gefühle verantwortlich gemacht? 604 Liebe In Zusammenhang mit der Eheschließung haben sich viele Historiker*innen vor allem an den Gefühlen der Liebe und Zuneigung abgearbeitet. Sie werden in der Forschung nach wie vor vielfach für eine bürgerliche Erfindung gehalten. 605 181 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände dass es kein Zufall ist, dass sich das bürgerlich dominierte Feld der Akademie mit der Thematik der Liebe auseinandersetzt vgl. Haldemann, Charivari. 606 Jarzebowski, Inzest, 142-143; in eine ähnliche Richtung weist Goodman, Choice. 607 Helmut Bräuer weist zurecht auf den Umstand hin, dass „Sympathie, Zuneigung, Liebe oder andere emotionale Momente“ als Ehemotive den Subalternen nicht einfach fehlen. Er macht dafür vielmehr Ursachen in der Quellenüberlieferung verantwortlich und „nicht das Fehlen von Emotionalität“. Gleichzeitig weist er auf die Gefahr hin „gegenwärtige Vorstellungen zum Maß der Dinge zu machen.“ Helmut Bräuer, Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1500 bis 1800. Essays, Leipzig 2008, 73-74; Goodman, Choice, 26-27. 608 Jarzebowski, Inzest, 142. 609 Shorter, Geburt. 610 Medick/ Sabean, Emotionen, 31. 611 William M. Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, 124. 612 Lanzinger, Liebe, 163. 613 Ebd., 157-176. Darauf verweist auch Claudia Jarzebowski in ihrer Studie zu inkriminierten Verwandtenbeziehungen. Sie kritisiert dabei jedoch die deutsche Bürgertums‐ forschung, die die Liebe als bürgerliche Konstruktion auslegt, dabei zum Teil aber Konzept und Praxis unberechtigter Weise gleichsetzen würde. 606 Dieser Umstand dürfte damit zusammenhängen, dass Liebe und Zuneigung in der romantischen Literatur des Bürgertums, in Briefen und Tagebüchern als Idee einfacher zugänglich sind als in Gerichtsakten, die Eheschließungsbegehren umkreisen, deren Prekarität oft mit wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun hatte. Daher erhalten sie gegenüber anderen Gefühlen Vorrang von Forschern, die bezeichnenderweise vorwiegend aus dem bürgerlichen Milieu stammen, bezie‐ hungsweise sich durch ihre akademische Tätigkeit per Definition in dasselbe einschreiben (müssen). 607 Dadurch entsteht tendenziell das Bild einer „lieblosen Vormoderne“ im Kontrast zu einer empfindsamen und gefühlvollen bürgerli‐ chen Moderne. 608 Edward Shorters vielbeachtete Beschreibung der Genese der modernen Familie steht stellvertretend hierfür. 609 Sabean und Medick haben jedoch bereits 1984 darauf hingewiesen, dass emotionale Erfahrungen und Ausdrucksweisen, sie sprechen von „codes“, sich in starker Abhängigkeit vom sozialen Milieu, zu Besitzverhältnissen und somit zu Herrschaftsbeziehungen entwickeln. 610 Gefühle sind also stets tiefgreifenden kulturellen Einflüssen aus‐ gesetzt und deswegen von höchster politischer Brisanz. 611 Margreth Lanzinger zufolge konnten Emotionen, verstanden als immaterielle Ressource, je nach kulturellen Umständen mehr oder weniger effektiv „aktiviert und eingesetzt werden“. 612 Dadurch erhalten Gefühle den Charakter zeitlich und sozial be‐ dingter Mittel. 613 Insofern gilt es besonders an dieser Stelle, den herrschaftlichen 182 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 614 Ebd., 159. 615 Zur Unterscheidung von venünftiger und leidenschaftlicher Liebe vgl. Denise Wittwer Hesse, Die Familie von Fellenberg und die Schulen von Hofwyl. Erziehungsideale, „häusliches Glück“ und Unternehmertum einer bernischen Patrizierfamilie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bern 2002, 31. 616 Bräuer, Mentalität, 73-74. 617 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2012, 18-33. Entstehungskontext der untersuchten Quelle mit zu berücksichtigen, der den - hier einzigen - Zugang zu den Gefühlen erschwert, aber nicht unmöglich macht. Denn die Rekursurkunden in den Manualen wurden im Auftrag der Re‐ gierung und deren richterlichen Instanz, dem Oberchorgericht, vom kooptierten Ehegerichtsschreiber verfasst. Über die Gefühle der hier untersuchten Ehebe‐ gehrenden schrieben folglich immer Drittpersonen, die als Verwalter einer bestimmten Herrschaft fungierten. Dadurch wurden emotionale Ausdrücke „gefiltert und in institutionelle Logiken eingepasst“. 614 Deswegen geht es an dieser Stelle darum, die spezifische Wertigkeit von Gefühlsäußerungen vor Gericht zu analysieren und dadurch deren Ressourcencharakter und Potential für die Ehewilligen auszuloten. In den Quellen zeigt sich, dass das Gefühl der Liebe im Gericht des Ancien Régimes fast ausschließlich in negativ konnotierter Weise Aufnahme fand. Die in den Quellen präsentierte Liebe war eine unkontrollierbare leidenschaftliche - und keine vernünftige - Emotion. 615 Sie war ein Argument der Opponierenden und keine explizite Ressource ehewilliger AkteurInnen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die empfundene Liebe der Ehewilligen eine Trieb‐ feder des Eigensinns und des hartnäckigen Einsatzes für die Ehe vor Gericht war. Gerade „die Abwesenheit von ökonomischen oder materiellen Triebkräften“ und „materielle Nachteile“, die „die ‚wählenden‘ Partner erkennen“, und im Fall von standesungleichen Heiraten in Kauf nehmen konnten, könnten ein Indiz für immaterielle und somit emotionale Motive sein. 616 Die Gefühle können dennoch höchstens im Zusammenhang mit den beschriebenen Handlungen vermutet werden. Es würde also der Erfahrung von ehewilligen Paaren vor dem Berner Oberchorgericht am Ausgang des 18. Jahrhunderts in keiner Art und Weise gerecht werden, bezogen auf die Gerichtsakten von der Liebe mit Niklas Luhmann als einem „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium“ zu sprechen. 617 Vielmehr war das Liebesgefühl in den untersuchten Akten ein prekari‐ sierendes Kommunikationsmedium. Den Gegnern der behandelten Eheschlie‐ ßungen gelang es nämlich im Gegenzug sehr wohl, Liebe in rhetorischer Weise mit „Leichtsinn“ und „wankelmütigen Leidenschaften“ zu verbinden, sich in 183 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 618 StABE, B III 830, 83-86. Vgl. zur Liebe als bedrohliche Leidenschaft, mit der die Sünde beginnt, im Kontext katholischer Ehedispensen bei Lanzinger, Neigung, insbesondere 257 und 268-269. Im hiesigen Kontext interessant am Beispiel, das Lanzinger in diesem Aufsatz thematisiert, ist der Umstand, dass das Paar die Leidenschaft dem Konsistorium gegenüber erfolgreich als Drohung einsetzt, um die Ehedispens im verbotenen Ver‐ wandtschaftsgrad zu erhalten. Vgl. ferner zur Bestimmung leidenschaftlicher Liebe in Abgrenzung zu romantischer Liebe Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik, Frankfurt a. M. 1993, 48-52. Giddens konstatiert: „Leidenschaftliche Liebe ist gefährlich, wenn es um die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und die Einhaltung von Pflichten geht. Es überrascht kaum, dass leidenschaftliche Liebe niemals als nötige oder auch nur ausreichende Basis für eine Ehe angesehen wurde […].“ 619 StABE, B III 830, 83-86. 620 StABE, B III 829, 645-647. 621 Vgl. StABE, B III 826, 74-75. 622 Vgl. zu „deviant emotions“, der politischen Bedeutung von Emotionen und deren Regierung Reddy, Navigation, 125. den Akten damit Gehör zu verschaffen und sie als unkontrollierbare Gefahr zu diskreditieren. 618 Die „Übernemungen und Verführungen der Liebe und anderer Leidenschafften“ galt es in ihren Augen anzuzeigen und die Gesellschaft davor zu warnen, um „die gute Ordnung bey[zu]behalten“. 619 Die angesprochene Ordnung war in der Auffassung der Ehegegner die stets gefährdete kommu‐ nale Struktur, die auf ökonomischen Rationalitäten und verwandtschaftlichen Zusammenhängen aufbaute, gleichzeitig aber auch göttlicher Natur war. Dem‐ gegenüber stellte das Gefühl der individualistischen, ‚eigennützigen‘ Liebe in den Quellen eine fundamentale Bedrohung dar. Sie mündete in „Sidtenlosigkeit und Verführung“, indem sie selbstgenügsamen, aber nicht folgenfreien Sex verursachte. 620 In der Argumentationslogik der Opponierenden stand die Liebe daher geradezu am Ausgang jenes Übels, das dazu führte, dass in Bern die außerehelichen Geburten zunahmen und die knappen Ressourcen der Korpora‐ tionen und Gemeinden stark strapaziert wurden. 621 Damit widersprach die Liebe mit ihrem genuin eigensinnigen Potential der kollektiven Ressourcenlogik stän‐ disch-korporativer Gemeinschaften in der Frühen Neuzeit. Sie stellte insofern in der Auffassung ihrer Gegner immer eine Risiko dar, dessen gesellschaftliches Sprengpotential es durch die Regulierung der Gefühle einzudämmen galt. Starke Zuneigung und Liebe repräsentierten für die Opponierenden prekärer Heiratsbegehren folglich eine deviante Emotion, die es zu unterdrücken galt. 622 Das von der Liebe ausgelöste und als sittenlos und verführerisch stigmatisierte Verhalten stand stets in unmittelbarer Nähe zu egoistischer und ungezügelter Lust und dadurch auch zu religiös konnotierter Unreinheit, weil es primär weder auf die Fortpflanzung noch auf die Aufrechterhaltung der sozioökonomischen Ordnung ausgerichtet war. Die Liebe und die damit verbundene Sexualität 184 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 623 StABE, B III 830, 83-86. 624 Ebd. 625 Ebd. 626 Ebd. 627 Ebd. 628 StABE, B III 826, 606. 629 Ebd., 606-611. 630 Stephanie Coontz bringt das Geschriebene sehr konzis auf den Punkt, wenn sie formu‐ liert, dass in vielen Kulturen Liebe zwar ein wünschenswertes Ergebnis der Heirat war, aber nicht als guter Grund für die Eheschließung betrachtet wurde. Dementsprechend gingen die meisten Menschen im frühneuzeitlichen Europa davon aus, dass sich Liebe höchstens in der Ehe entwickeln würde: „[L]ove in marriage was seen as bonus, not as necessity.“ Coontz, Marriage, 18-19; vgl. zu den ökonomischen Voraussetzungen der Liebe auch Borscheid, Geld. 631 StABE, B III 826, 39. waren in den Augen der Einsprechenden eigensinniger Selbstzweck und daher sowohl für die göttliche als auch die sozioökonomische Ordnung bedrohlich. Gleichzeitig resultierte Liebe in den vorliegenden Quellen aus „Unerfahren‐ heit“ und war somit wie der sexuelle Leichtsinn primär mit der Jugend assozi‐ iert. 623 Dadurch trat die leidenschaftliche Liebe - wohlgemerkt als Argument der Opponierenden - vor allem im Zusammenhang mit Klagen gegen Eheschlie‐ ßungen von Minderjährigen auf. Die in den entsprechenden Gerichtsakten beschriebenen Gefühle führten ausschließlich zu in „unbedachter Weise einge‐ gangenen Handlungen“. 624 Die jungen, naiven Menschen mussten vor falschen emotionalen Vorstellungen, vor „Verführungen der Liebe“ bewahrt werden. 625 Das Ehegesetz wurde von den Ehegegnern dabei als „Schuzwehr“ gegen die jugendlichen Leidenschaften betrachtet. 626 Dieses Bollwerk galt es aufrechtzu‐ erhalten, um die erste Ordnung Gottes auf Erden zu bewahren. 627 So „(seye) Überhaupt die Beziehung der Ehe eine[] wichtige und feyerliche Handlung, daß bey derselben aller Leichtsinn und Mutwillen bey beyseidts gesezt werden solle […]“. 628 Ansonsten „[lief] das Geschäft in ein lediges Liebesverstandniß junger Leuten aus“. 629 Mit allen hier angeführten Zitaten wurde implizit, aber unmiss‐ verständlich, Kritik an romantisierenden Ehevorstellungen geäußert. Die ange‐ führten Quellenaussagen deuten an, dass Gefühle der Liebe und Zuneigung ganz offensichtlich nur dort unproblematisch erscheinen mochten, wo die ökonomi‐ schen und sozialen Voraussetzungen erfüllt waren, denen die Emotionen dann folgen mochten - sie durften diesen aber nicht vorausgehen. 630 Dort mochte die Liebe vernünftig erscheinen. Ansonsten verleitete die Liebe zu „Mißtritte[n]“, die in ihrer Summe „Irrwege“ produzierten. 631 Insofern war diese Liebe für die Opponierenden kein beständiges Gefühl, das dem Wesen der Heirat gerecht werden konnte, sondern ein trügerischer und desorientierender menschlicher 185 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 632 StABE, B III 824, 550-555. 633 StABE, B III 830, 83-86. 634 StABE, B III 829, 187-191. 635 Ebd., 376-378. 636 Ebd., 474-476. 637 Ebd., 522-524. Affekt. In der Folge der Kritik an der Vergänglichkeit dieser Affekte wurde auch die emotionale Authentizität von „Liebe und Inclination“ wiederholt in Frage gestellt und deswegen als Fundament einer Ehebeziehung kritisiert. 632 Den Eheeinsprechenden zufolge wurden amouröse Emotionen immer auch lediglich vorgegeben und instrumentalisiert, um „Speculationen der Gewinnsucht gegen die Jugend“ 633 zu kaschieren und „ausgesponnen Liebeshandel“ 634 zu tarnen. Dadurch rückte das Gefühl der Liebe zusätzlich in die Nähe von Lug und Trug. Die Ehe erschien dann als Deckmantel ökonomischer Begehrlichkeiten, die mittels unauthentischer Gefühle realisiert werden sollten. Die gegen die Heiratsbegehren Opponierenden tendierten also dazu, die Liebe entweder als Verblendung oder Täuschung der Gefühle einer Ehepartei zu entlarven. Wenn die Liebe als Täuschung auftrat, dann sollte sie die unlauteren sozio-öko‐ nomischen Ehemotive ehewilliger Akteur-Innen verschleiern. 635 Aus solchen Verbindungen konnte in den Augen der opponierenden Familien, Gemeinden und Gesellschaften „nichts als eine unglückliche und bedaurungswürdige Ehe“ hervorgehen. 636 Liebe war für die Gegner der prekären Eheaspirationen eine menschliche Sinnestäuschung, die gerade deswegen zwischen standes- und altersungleichen Partnern Platz finden konnte - bei den listigen Verführern, die „aus bloßen Speculations-Absichten das zeitliche Interesse betrefend“ ver‐ meintliche Gefühle vorgaukelten, 637 und den Verführten, die leichtsinnig und naiv handelten. Für die Opponierenden basierte diese Liebe dann auf einer emotionalen Ungleichheit der Ehepartner, die der göttlichen Ordnung unwürdig war und ihren Ursprung im Altersunterschied und der Standesungleichheit haben konnte. Trotz der pointierten negativen Bewertung der Liebe in den Gerichtsakten belegt das untersuchte Quellenmaterial aber auch, dass die Gefühle von Liebe, Zuneigung und Leidenschaftlichkeit Teil der ehegerichtlichen Aushandlungs‐ prozesse waren und einen Komplex bildeten, der von den Parteien im Gericht kontrovers diskutiert wurde. Obwohl das Vorhandensein von Liebe im hier the‐ matisierten Zeitraum die begehrten Eheschließungen vulnerabel machte, schien es in Anbetracht des zuvor Ausgeführten auch nicht gänzlich ohne Gefühle gegangen zu sein. Deutlich tritt die Liebe als doppelt negativ besetzter Einwand - Naivität und als deren Kehrseite die Täuschung - gegen die begehrten 186 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 638 Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, 41- 42. 639 Es mag sein, dass „die auf Liebe gegründete Ehe“ für die „aufgeklärten Bürger die unabdingbare Voraussetzung […] für die sogenannte ‚häusliche Glückseligkeit‘“ war. Für die hier untersuchten prekarisierten Eheschließungen war die Liebe im Gericht gerade kein zureichender Grund für deren Realisation. Trepp, Emotion, 33. 640 StABE, B III 826, 39. Ehevorhaben hervor. Sie offenbarte sich somit im Ancien Régime als Ursache matrimonialer Prekarisierung. Die da und dort in den Gerichtsakten ex negativo aufblitzenden Liebesgefühle waren dann vielleicht Teil dessen, was Philipp Sarasin in Anlehnung an Foucault als das „‚halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses‘, der zwischen den Zeilen spricht“, bezeichnet hat. Folgen wir der diskursgeschichtlichen Argumentation des Historikers, dann wäre es möglich, dass genau diese Zwischentöne eine leise Ankündigung dessen waren, was danach kam. 638 Mit dieser Annahme stellte die Liebe zwar vor Gericht keine Verhandlungsressource der ehewilligen AkteurInnen im Ringen um die begehrten Ehen dar, wenn diese aufgrund ihrer materiellen, körperlichen und sexuellen Konfigurationen prekär wurden, aber die Opponierenden themati‐ sierten sie. Sie fühlten sich von ihr bedroht und nannten sie beim Namen. Wenn die Liebe den Einsprechern als Imitation und Deckmantel für ökonomische Spekulationen erschien und die Ehe deswegen zur bloßen materialistischen Übereinkunft zu verkommen drohte, wurde gerade die Absenz von liebesähn‐ lichen Gefühlsregungen beklagt. Folglich gehörte die Liebe zum Sagbaren. Sie war allerdings nicht mit jenen positiven romantischen Attributen besetzt, die wir beispielsweise in der zeitgenössischen Romanliteratur vorfinden. Glück Das emotionale Bindeglied zwischen sozioökonomischer Ordnung und mensch‐ lichem Gefühlshaushalt und somit die valable emotionale Ressource der Ehewil‐ ligen vor dem Berner Oberchorgericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren folglich nicht die Liebe oder die Zuneigung noch deren Fehlen. Ihr Einsatz war, wie im vorausgehenden Kapitel angedeutet, die realistisch präsentierte Aussicht auf häusliches Glück. Die Unbeständigkeit der Liebe oder das Fehlen von Zuneigung gefährdeten, so die Gerichtsakten, soziale Zusammenhänge in der lokalen Gemeinschaft und beeinträchtigten ökonomische Beziehungs‐ netze. 639 Liebe war in der Darstellung der Ehegegner fatalistisch und machte zwangsläufig „unglücklich“. 640 Damit gefährdete sie in der Argumentationslogik der Opponierenden das utilitaristisch gedachte gesellschaftliche Gesamtwohl, aber auch das Glück des Ehepaars selbst, das aus einer prekären Eheschließung 187 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 641 Damit wird mitnichten behauptet, dass das in jedem anderen Kontext so war. Liebe konnte in dieser Zeit an anderen Orten und zwischen anderen Partnern bestimmt statthaben. Liebe wurde sicherlich nicht in jedem Kontext so kritisch gesehen. In der Romanliteratur wurde sie zweifellos vielfältig und positiv diskutiert. Und auch in bürgerlichen Tagebüchern und brieflich verfassten Selbstreflexionen fand sie ihren konstitutiven Niederschlag, wie zahlreiche Studien belegen. Aber bei Eheschließungen, die aufgrund körperlicher, sexueller und ökonomischer Parameter vom sozialen Umfeld im Gericht in Frage gestellt wurden, zeichneten die Gerichtsschreiber diese Emotion lediglich negativ konnotiert auf. 642 StABE, B III 830, 83-86. 643 StABE, B III 827, 298-303. 644 Ebd. 645 StABE, B III 826, 591-598. 646 StABE, B III 829, 600-602. hervorging und am Ursprung der ökonomischen Einheit des Haushalts stand. 641 Das Glück war hingegen jenes Gefühl, das aus der richtigen sozialen, ökonomi‐ schen und sexuellen Konfiguration einer Beziehung resultieren würde: „[D]as außerliche Ansehen beydseitiger Partheyen mit denen guten Leumden der Rechtschaffenheit des Characters und der sittlichen Aufführung des Klägers laßen mit Grund eine glückliche und vergnügte Ehe voraussehen […].“ 642 Glück war folglich sozioökonomisch voraussetzungsvoll, ließ sich aber durch Arbeit generieren, die durchaus auch im substanziellen und gewerblichen Sinn verstanden wurde. Es sei hier an den im vorausgehenden Kapitel bereits zitierten Fall von Samuel Dällenbach erinnert, der mit Anna Fäß „sein Glük zu machen hofte“, weil sie mit ihrer Arbeit als Wäscherin für zusätzliche Einkünfte für den Almosenbezüger sorgte und dadurch „seine elende[n] Haus- und Vermö‐ gens-Umstände“ verbesserte. 643 Offensichtlich trug sie zur Verbesserung seiner ökonomischen Verhältnisse bei und erweckte daher berechtigte Hoffnung auf Glück. Das gemeinsame Wohnen und Haushalten, bei dem sie „bestens inne worden“, gab zusätzlichen Anlass zum Optimismus. 644 Aber auch emotional war Glück, wenn auch nicht an die Liebe, an Bedin‐ gungen gekoppelt. Wo an die Stelle des konsensualen Eheversprechens - darauf wurde bereits in Bezug auf die Reue hingewiesen - „Abneigung“ trat und nicht bereits uneheliche Kinder existierten, war „wegen besorgender unglücklicher Ehe“ kein häusliches Glück zu erwarten. 645 „Abneigung und Wiederwillen [sic]“ bedurften „Zwang zur Heurath“ und daraus war „nichts anders als eine höchst unglückliche Ehe“ zu erwarten. 646 Besonders gut illustriert diesen Umstand das folgende Beispiel von Ullrich Brönnimann von Oberbalm und Magdalena Hügi, gebürtige Jenner, wenn die Gegner dieser Ehe 1762 folgende Argumentation entwickelten: 188 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 647 StABE, B III 826, 384-386. 648 Vgl. zur Steigerung von Zuneigung über Liebe zu Leidenschaft, die in der zeitgenössi‐ schen Logik im schlimmsten Fall eben Leiden schaffte, Lanzinger, Neigung, insbeson‐ dere 257; 268-269. 649 StABE, B III 826, 582-590. 650 Ebd., 143-144. 651 Ebd. „Obgleich unlaugbar, daß der Brönnimann die Ehe versprochen, auch mit derselben Beyschlaf gehalten, so zeige sich dennoch zum voraus, daß diese Heyraht in alle Weg höchst unglükhaftig seyn müßte, der unübersteigliche Wiederwillen den der Antworter seith der Eheversprechung und darauf erfolgter Contraditation gegen die Hügi bezeuget, scheint aus allen Umständen keines wegs simuliert, sondern seinem Grund entweder in einem zwar richtigen, aber unerweislichen Umstand, oder aber in einer Zerrüdtung seines Gemühts zu liegen. Beydes aber ist gleich traurig, gleich gefährlich, und prognosticiert den gleichen Jammer. Bey der heutigen Verhör selbsten hat sich überzeugend gezeigt, wie fast der Kummer seines könftigen Schiksaals diesen alten Mann angreife. Benebens ist Antworter an seinen 60. Jahren, da hingegen die Klägerin noch jung und nicht mehr als 28. Jahr alt ist. Eine Disportion, die gleichfalls nicht viel gutes andeutet. Wann nun aus all diesen der Zwek deß Ehestands auch nicht in einem einicher seiner Theilen erreicht werden kann: mithin dergleichen Heyraht nach allen Regeln der Sittenlehr und einer gesunden Politic in alle wege eher zu behindern als zu begünstigen.“ 647 Folglich hatten Gefühle in Bezug auf die prekären Ehen einen paradoxen Stand: Sie durften nicht zu leidenschaftlich und intensiv sein, wie etwa im Zustand der Liebe. 648 Die Abwesenheit von diffus umrissener und begrifflich nicht explizit bezeichneter Zuneigung und seelischer Übereinstimmung war hingegen ihrerseits schlecht für das von einer solchen Ehe zu erwartende Glück. Ehen ließen sich also über die Emotionen doppelt und dabei in entgegengesetzte Richtungen prekarisieren. Das nicht benannte Gefühl im emotionalen Raum zwischen Liebe und Glück war ein vernünftiges, das sich vor allem zwischen standes- und altersgleichen Eheparteien einstellte, also auf zeitgenössischen Gleichheitsvorstellungen aufbaute. „Glüksumstände“ waren beispielsweise dort erfüllt wo „zwischen […] jungen Leuthen wenige Ungleichheit“ herrschte. 649 Frauen sollten einen ihnen „angemessenen Ehegatten auswählen“. 650 Das war „præcisé der Casus“ wenn „er […] nicht nur Alters halb derselben gleich, sondern auch seine übrige Umstände mit den ihrigen übereinzukommen - mithin eins des andern wohl wehrt zu seyn scheinen; und hier nicht das wenigste apparirt, welches wider die Anständigkeit und gute Sitte streiten könnten.“ 651 Was die übrigen Umstände der Gleichheit waren, die eine im zeitgenössischen Ver‐ 189 2.3 Ressourcen, Taktiken und Einwände 652 Ebd., 73-80. 653 Vgl. zum Mann als „leitungsbedürftiges Triebwesen“, zu dessen Domestizierung im Protestantismus die Ehe diente Schmidt, Hausväter, 216-217. 654 StABE, B III 826, 73-80. 655 Ebd., 74-75. ständnis glückliche Ehe erwarten ließen, kommt in der Verhandlung zwischen Barbara Wernli und Jakob Bader zum Ausdruck, in der es um die kombinierte Vaterschafts- und Eheklage der Frau ging. Es handelte sich also nicht um eine prekäre Eheschließung im engeren Sinne, verdient hier aber aufgrund des darin Geäußerten trotzdem Erwähnung. Denn der Fall, der sich 1757 vor dem Berner Oberchorgericht zutrug, gibt Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Ehe, Glück, ökonomischem Gelingen und vorehelicher Sexualität. In der Ge‐ richtsverhandlung waren der Gemeindevertreter von Brittnau und der Vogt von Bader, der erwiesenermaßen der Vater des unehelichen Kindes der Klägerin war, der Meinung, dass „dessen Ruin käummerlich anders als durch eine Heyrat werde vorzubiegen seyn“. 652 Der „rohe ausschweifende Jüngling“, der, wie aus der Gerichtsurkunde zu erfahren ist, bürgerlicher Herkunft war, sollte in diesem Fall durch die Ehe zu seinem Glück, dessen Gegenteil der sittliche und wirt‐ schaftliche Untergang war, gezwungen werden. Die Ehe erschien dabei sowohl als Erziehungsanstalt, die Verschwendung und Liederlichkeit zu domestizieren half und dadurch den ökonomischen Ruin abwenden konnte. 653 Gleichzeitig fungierte sie als Pflanzstätte für zukünftiges Glück. Zwang wurde hier im Un‐ terschied zu reuig gewordenen konsensualen Eheversprechen ohne uneheliche Kinder wohl angewendet, weil bereits ein uneheliches Kind existierte, dessen Versorgung es sicherzustellen galt. Die Abwendbarkeit des Ruins und das damit implizit abgeleitete Glück war in diesem Fall allerdings lediglich erwartbar, weil „beyde Theile gleichen Stands und gleichen Herkommens sind, und keines sich des andern zu verschämen hat“. 654 Das Gericht sprach dabei von einer „längstens wohl radicierte[n] Übung“, die „in höchster Instanz wiederholter Malen erkennt worden ist, daß in dergleichen Fällen Personen von Rang oder bürgerlichem angesehenem Herkommen einander ehelichen sollen, oblgeich keinerley gesetzmäßige Eheversprechung erwiesen werden könne“. 655 Folglich war Glück in der Meinung des Oberchorgerichts weniger von Freiheit als von Standesgleichheit und den richtigen materiellen Voraussetzungen abhängig. 190 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberchorgericht, 1742-1798 656 Zur Spannung zwischen versprochener Gleichheit einer vorurteilslosen Justiz und der praktisch verhandelten Ungleichheit vor Gericht: Eibach, Gleichheit; zur Allegorie mit der Göttin, die eine Augenbinde trägt, um vorurteilslos zu richten vgl. Eibach, Iustitia, 185. 657 Schlumbohm, Gesetze. 658 Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 32. 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen im ausgehenden Ancien Régime Nach den Ausführungen zu den ehegesetzlichen Normen und den bevölkerungs‐ politischen Debatten sowie den Taktiken von Ehewilligen und Opponierenden geht es an dieser Stelle um die Gerichtsurteile, also um die normierende Praxis der Assessoren und des Präsidenten des Oberchorgerichts in Bern im ausge‐ henden Ancien Régime. Die folgenden Erläuterungen sollen den ersten Teil im Sinne einer Synthese zwischen Norm und Praxis abschließen und zeigen, dass auch die gerichtliche Normierung der prekären Eheschließungen eine Urteils‐ praxis darstellte, die sich zwischen Gesetzen, öffentlicher Debatte und Eigensinn der AkteurInnen bewegte. Es steht die Frage im Zentrum, wie sich die Richter im Einflussbereich zwischen dem ständisch-patriarchal strukturierten und nach wie vor reformiert formulierten Ehegesetz und den halböffentlichen bevölke‐ rungspolitischen Debatten positionierten. Zudem soll geklärt werden, wie sie sich im Spannungsfeld zwischen eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen und den gewohnheitsrechtlichen Vorstellungen der opponierenden Umwelt verhielten. Zwischen dem Gesetz und dessen richterlicher Exekution befand sich in der gerichtlichen Praxis ein weiter Interpretationsspielraum. Berns Eherichter waren bevölkerungspolitische Meinungsträger und keine neutralen Vollstrecker der blinden Justitia, die die Ehe-ordnung telle quelle umsetzten. 656 Sie reagierten auf die Performanz und subversiven Taktiken der Kläger und Angeklagten, agierten ihrerseits als politische AkteurInnen und hatten bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze ebenso ihre soziokulturell geprägten Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und wie diese herzustellen sei. 657 Sie waren selbst „in ein komplexes Geflecht sozialer Ordnungsprozesse und Billigkeitsvorstellungen eingefügt“. 658 Dadurch kommt es hier zugleich zu einer allgemeinen Beurteilung des Erfolgs von eigensinnigen Ehebegehren und Einsprüchen opponierender Parteien. Folgten die Richter tendenziell dem Eigensinn ehewilliger Individuen oder unterstützten sie die patriarchalen Interessen von Gemeinden und Familien? Die 191 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 659 Alexandra Lutz hat darauf hingewiesen, dass in ihrem Untersuchungsmaterial, das sich über den Zeitraum von ca. 1650 bis 1770 erstreckt, nur in rund der Hälfte der Fälle überhaupt ein Urteil vermerkt wurde. Vielfach sei ausschließlich die Klage aufge‐ zeichnet worden. Konsequent seien die Urteile erst seit 1728 in den Akten vermerkt worden. Lutz, Ehepaare, 128. 660 Hardwick, Business, 17. Antwort auf diese Frage lässt implizit und explizit Aussagen über die Urteilslogik der richterlichen Instanz zu. Außerdem vermag sie Aufschluss darüber zu geben, in welches gouvernementale Verhältnis die Richter zum ehewilligen Subjekt traten. Dadurch wird sichtbar, ob die Sittenrichter das traditionelle Hausväter‐ regime stützten oder die Regierung des Subjekts intensivierten. Aufgrund der Samples wird sowohl qualitativ als auch quantitativ zu klären sein, ob die Richter in ihren Urteilen bevölkerungspolitischen Trends von Populationismus oder Übervölkerungsangst folgten und prekäre Ehen begünstigten oder die exklu‐ siven reformierten Ehegesetze, die eine moralisch reine Gesellschaft anvisierten, sittenstreng zur Anwendung brachten und dadurch patriarchale Strukturen stützten. 3.1 Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade In vielen historischen Darstellungen, die sich mit Gerichtsakten befassen, geht ein zentraler Aspekt des innergerichtlichen Aushandlungsprozesses verloren: Vielfach präsentieren sich die aufgezeichneten Gerichtsurteile auf Grund der Quellenlage als die geeinte Stimme der Obrigkeit, wenn sie überhaupt aufge‐ zeichnet wurden. 659 Diese Form des zusammenfassenden Protokolls widerspie‐ gelt aber tendenziell, was Julie Hardwick in Bezug auf die sich ausdifferenzie‐ rende Staatlichkeit im 18. Jahrhundert „the state’s vision of itself “ genannt hat. 660 Ein solches staatliches Selbstverständnis begann sich auch in der refor‐ mabsolutistischen Berner Obrigkeit des 18. Jahrhunderts auszudifferenzieren und abzuzeichnen. Es präsentierte sich zunehmend kategorisch und expansiv und führte tendenziell zur Einebnung von Partikularitäten und expliziter Multi‐ normativität. Die Urkunden in den Rekursmanualen verweisen in ihrer ausdif‐ ferenzierenden Form, die verschiedene Meinungen unter den Richtern sichtbar werden lässt, allerdings auf einen ganz wichtigen Umstand: Eherichterliche Entscheidungen, die bei der Lektüre der erstinstanzlichen Ehegerichtsprotokolle konsensual erscheinen, werden in den Berner Rekursmanualen sowohl in ihrer Ambivalenz und Uneindeutigkeit als auch in ihrer Konfliktträchtigkeit zwischen ständischer Privilegienordnung, kommunaler Ökonomie, patriarchaler Ehrge‐ 192 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen sellschaft, Eigensinn und bevölkerungspolitischer Staatsräson aufgeschlüsselt und in ihrer Differenziertheit rehabilitiert. Die Darstellungsweise der Urkunden, die Mehrheits- und Minderheitenmeinungen deklarierte, markierte mit aller Deutlichkeit, dass es sich beim Oberchorgericht um ein judikatives Regierungs‐ gremium handelte - es gab noch keine effektive Gewaltenteilung. In Bezug auf den Sinn und Zweck der Ehe im 18. Jahrhundert versammelte es verschiedene politische Vorstellungen und vermittelte zwischen diesen. Die präsentierte Kontextualisierung der Urkunden verdeutlicht, dass Ehen nicht nur zwischen ehewilligen AkteurInnen, opponierenden Intermediären und dem Gericht ausgehandelt wurden, sondern dass auch die Assessoren des Oberchorgerichts miteinander um moralische Werte, eherechtliche Positionen und die anzuwendende Bevölkerungspolitik rangen. In einem fortwährenden und intensiven Prozess mussten sie ihren eigenen kollektiven Standpunkt zweimal wöchentlich aushandeln. Der Gerichtsschreiber musste diesen Aus‐ handlungsprozess mehr oder weniger summarisch dokumentieren und damit legitimieren. Die Richter waren sich, wie bereits weiter oben erwähnt, in 64 % der untersuchten Fälle (39) zwischen 1742 und 1798 in ihren Urteilsansichten nicht einig. Der Umstand, dass die meisten Fälle vom Berner Oberchorgericht mehr‐ stimmig beurteilt wurden, deutet bereits darauf hin, dass es innerhalb des richterlichen Kollegiums Vertreter unterschiedlicher bevölkerungspolitischer, respektive moralischer Weltsichten und sozialer Ordnungsvorstellungen gab. Man war sich über die zu verfolgende Ehepolitik und deren bevölkerungs‐ politische Stoßrichtung im ausgehenden Ancien Régime nicht nur in den öffentlichen Debatten und zwischen Eigensinn und patriarchal-kommunalen Interessen selten einig, sondern auch im Gericht. Die Spannungen zwischen patriarchalem Ehegesetz, das dem Schutz knapper Ressourcen diente, und der in der Öffentlichkeit geführten bevölkerungspolitischen Debatte wurden auch im Ehegericht in Bezug auf die prekären Eheschließungen abgebildet, wie noch zu zeigen sein wird. Sollte man die Ehe ganz grundsätzlich als bevölkerungs‐ politische Maßnahme fördern und zu diesem Zweck demokratisieren, wie es die Waadtländer Geistlichen in ihren Abhandlungen vorschlugen, oder war sie aus ständischen und moralischen Gründen zu verhindern, damit ständische Privilegien und lokale Ressourcen nicht gefährdet, sondern angehäuft oder zumindest sparsam verwaltet werden konnten? Insofern erfuhren die vorgeladenen Untertanen das Oberchorgericht in den Verhandlungen im Ausgang des Ancien Régimes als ein relativ heterogenes 193 3.1 Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade 661 Vgl. dazu auch Julie Hardwicks Ausführungen zum frühneuzeitlichen Frankreich ebd., 17; 56. Auf Seite 17 schreibt sie zum Verhältnis zwischen werdendem Staat und Unter‐ tanen sehr zutreffend: „If the state’s vision of itself, as represented in familial rhetoric and marital legislation, was monolithic and expansive, working families‘ experience of, and perception of, authority and power suggested that a heterogeneous state fitted their reality“; zur Ergebnisoffenheit von gerichtlichen Verfahren in konzeptioneller Hinsicht vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, 40-41. 662 Zu den verschiedenen Prozeduren der Ausschließung Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2012, 11-17. 663 Ebd. 664 Sarasin, Geschichtswissenschaft, 41-42. und kontextbezogenes staatliches Instrument mit ergebnisoffenem Verfahren. 661 Es mochte im Gericht in Abhängigkeit von der Zeit zwar dominierende ehe‐ politische Positionen geben. Neben der herrschenden Ehepolitik blieben aber offensichtlich auch Randpositionen artikulier- und verhandelbar. Summarische Protokolle, die lediglich zusammengefasste Urteile wiedergaben, verschleierten diesen Umstand. Sie verstärkten den herrschenden Diskurs durch das fehlende „verbotene Wort“, das nicht in der Urkunde auftauchen konnte. 662 Das sub‐ versive Murmeln musste dabei durch „Prozeduren der Ausschließung“ im Hintergrund oder gänzlich stumm bleiben. 663 Diese Verfahren sind somit Aus‐ druck und Teil mächtiger Herrschaftsstrategien. Die Rekursmanuale des Berner Oberchorgerichts sind bezüglich des Murmelns daher eine aufschlussreiche Quelle, weil sie Positionen und Argumente in Erscheinung treten ließen, die womöglich jene feinen Risse anzeigten, die spätere größere Brüche und Trans‐ formationen verursachten. 664 Sie offenbaren damit die Heterogenität der Praxis einer Herrschaft, die gemeinhin monoton und monolithisch dargestellt und wahrgenommen wurde. Insofern ist es interessant, dass die Rekursmanuale just um die Jahrhundertmitte eingeführt wurden, gleichzeitig mit dem Aufkommen des bevölkerungspolitischen Diskurses. Innerhalb des Gerichts konkurrierten am Ende des Ancien Régimes zum Teil sehr unterschiedliche, gewissermaßen ‚vormoderne‘ und ‚moderne‘ Rationalitäten mit- und nebeneinander um die Mehrheit der richterlichen Stimmen. In jenen 61 Fällen in der Zeit zwischen 1742 und 1798 lässt sich ein ganzes Spektrum von Urteilslogiken erkennen, das weiter unten erörtert wird. Neben dieser konfliktträchtigen Mehrstimmigkeit zeigt sich auch deutlich, dass die Ehe am Ende der Frühen Neuzeit nicht nur in der katholischen Kirche eine Institution war, die von der kirchlichen Erteilung göttlicher Gnade abhängig war. Auch im reformierten Bern war sie nach wie vor vom arbit‐ rären „Gnadenakt“ der ständisch-aristokratischen Eherichter und Regierung 194 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 665 Zum Terminus „Gnadenakt“ Lanzinger, Verwandtschaft, 243. 666 Karl Härter schreibt in Bezug auf frühneuzeitliche Strafprozesse Folgendes: „Nicht Durchsetzung, sondern die differenzierte Anwendung von Straf- und Policeygesetzen, die Strafen keineswegs immer absolut, sondern häufig arbiträr und in Form von außerordentlichen Sanktionen androhten, in Verbindung mit dem gelehrten Recht, das zahlreiche Interpretationen- und Auslegensmöglichkeiten entwickelte, eröffnete Ermessensspielräume, um Devianz und Kriminalität auf einer normativen Grundlage flexibel zu sanktionieren.“ Härter, Kriminalitätsgeschichte, 158-159. Diese Beschrei‐ bung trifft auch auf die Praxis des Berner Oberchorgerichts zu. 667 Joachim Eibach hat betont, dass insbesondere „aus der Sicht der Herrschaft […] ein weiter Spielraum des Ermessens für die Richter […] relevant [war]“ um sich „mal als exemplarisch hart, mal als gnädig erweisen“ zu können. Die richterliche Milde ist von ihm ebenfalls als „Gnade“ interpretiert worden. Eibach, Iustitia, 184; auch André Holenstein hat geltend gemacht, „dass die Gesetze nicht einfach nur aus Mangel an staatlichem Durchsetzungsvermögen nicht durchgesetzt wurden, sondern unter gewissen Umständen bewusst auf deren Anwendung verzichtet wurde“. André Holenstein, Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hrsg. v. Karl Härter, Frankfurt am Main 2000, 1-46, 34-35. 668 Vgl. zum Sanktionsverzicht Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herr‐ schaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 167; Eibach, Ver‐ höre, 377; Eibach, Gleichheit, 510; Karl Härter hat in der kriminalitätshistorischen Dis‐ kussion rund um den Sanktionsverzicht unlängst angeregt, dass die „Differenz zwischen normativ (vermeintlich absolut) angedrohten Strafen und milderer Strafpraxis durchaus bereits in den Normen selbst angelegt“ war. Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, Bd. 1, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2005, 484; nichtsdestotrotz mussten sich die Richter aber zur Milde entscheiden und hätten rein theoretisch die Möglichkeit zu härteren Strafen gehabt. Insofern waren die Gerichtsurteile gleichwohl weniger durch materielles Strafrecht als durch den Aushandlungsprozess vor Gericht determiniert. So hat Gerd Schwerhoff die Anregung von Härter aufgenommen, aber seinerseits auf die „Flexibilität der verkündeten Normen“ verwiesen. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 97; 107. abhängig. 665 Diese Handlung der ‚gnädigen Herren‘ im Oberchorgericht im Namen Gottes folgte nicht der peinlichen und prinzipientreuen Befolgung juris‐ tischer Grundsätze mit universellem Anspruch, sondern gehorchte maßgeblich dem Ermessen der aristokratischen Eherichter und der Logik der Aushandlungs‐ prozesse. 666 Somit war sie Teil einer Herrschaftsstrategie. 667 Der Gnadenakt ließ jenes Moment richterlicher Milde zu, das in Bezug auf die Strafgerichts‐ barkeit von der kriminalitätsgeschichtlichen Forschung verschiedentlich als ‚Sanktionsverzicht‘ bezeichnet worden ist. Es ermöglichte Richtern im Rahmen des gerichtlichen Aushandlungsprozesses im Umgang mit dem Gesetz eine flexible Urteilspraxis. 668 Die Richter saßen in ihrem Selbstverständnis auch zu diesem Zeitpunkt noch von Gottes Gnaden in ihren Ämtern. Genau diese Gnade 195 3.1 Mehrstimmigkeit und der Ermessenspielraum der Gnade 669 Rudolf Dellsperger, Kirche und Staat, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 242-246, 242. 670 Zur Gnadenpraxis, die im 18. Jahrhundert von Gerichten gezielt eingesetzt werden konnte, um „die überholten Rechtsnormen in der Praxis auszuhebeln“, also Sanktions‐ verzicht zu üben, Harriet Rudolph, „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium; das Hochstift Osnabrück (1716-1803). Zugl.: Trier, Univ., Diss., 1999, Konstanz 2001, 325. Zum variablen Einsatz richterlicher Gnade in der Frühen Neuzeit außerdem Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 94-95. Zum Verhältnis von richterlichem Ermessenspielraum beziehungsweise gerichtlicher Willkür und Gesetzestreue sowie zunehmender Urteilsmilde im ausgehenden Ancien Régime in Bezug auf das Strafrecht unter aufklärerischen Einflüssen in der Stadtrepublik Genf vgl. die Studie von Michel Porret, Le crime et ses circonstances. De l’esprit de l’arbitraire au siècle des Lumières selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève, Genève 1995. 671 Zur paternalistischen Herrschaftspraxis in Bern im 18. Jahrhundert vgl. André Holen‐ stein, Epilog. „Landesväterlichkeit“ und „mildes Regiment“ im Selbst- und Fremdver‐ ständnis des patrizischen Staats, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 508-511; zum Paternalismus als verwalteten sie im Oberchorgericht von Bern als „‚Statthalterin Gottes auf Erden‘“ in Bezug auf das Privileg der Ehe. 669 Allerdings verwalteten sie diese unter zum Teil neuen bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten, die nicht mehr zwangsläufig sittlich-moralischen oder ständisch-patriarchalen Logiken folgen mussten, sondern neue, ehepolitische Argumente ins Feld führten, wie im Fol‐ genden zu zeigen sein wird. Folglich kann an dieser Stelle vorerst eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konstatiert werden, wenn gerade das alte Gnadenverständnis in Bezug auf die prekären Eheschließungen prinzipiell eine milde Urteilspraxis im Sinne einer reformorientierten Ehepolitik zuließ. 670 Inter‐ essant erscheint dabei, dass genau dieses den aristokratiekritischen Aufklärern reaktionär erscheinende Verständnis ständischer Gnade es den ‚hochlöblichen‘ Eherichtern möglich machte, ein anderes ständisch-patriarchales Privileg zu‐ rückzudrängen. Obwohl das Vorrecht des Ehezugs der Verwandten erst gerade noch in den Gesetzesrevisionen von 1743 auf die Gemeinden und Korporationen ausgeweitet wurde, konnte das Zugrecht von den Richtern verwehrt und die prekäre Eheschließung bewilligt werden. Kollektive intermediäre Interessen konnten auf diese Weise entgegen dem Ehegesetz zu Gunsten von individuellen Eheinteressen benachteiligt werden. Auch wenn in der Rechtspraxis des Ancien Régimes gewisse Urteile unwahrscheinlich blieben, ermöglichte die Gnade als letztes Entscheidungsprinzip den obrigkeitlichen Richtern hypothetisch also jedes noch so reformorientierte Urteil. Die aus Gottes Gnaden amtierenden Richter konnten sich somit potenziell in ihren Urteilen in paternalistischer Weise über die strenge Anwendung des kodifizierten Eherechts hinwegsetzen. 671 196 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen Herrschaftsstrategie im Allgemeinen vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Art. Paternalismus 2011. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 016087/ 2011-03-17/ (26.08.2021). 672 Vgl. Eibach, Iustitia, 185. 673 Auf ähnliche Tendenzen in der Urteilspraxis stößt Erika Flückiger Strebel in Bezug auf die landesväterliche Praxis der Almosenkammer: „Die Kammer zielte mit ihrem Einsatz für die Anliegen der Bedürftigen […] oft auf die Disziplinierung der Gemeinden […]. […] Sah sich die Almosenkammer allerdings mit Bedürftigen konfrontiert, die sich nicht mit einer einmaligen kleinen Auszahlung und einer Empfehlung an den Landvogt, ihre Unterstützungswürdigkeit zu prüfen, begnügten, konnte sie allerdings auch eine härtere Gangart anschlagen […].“ Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 49-50. 674 Holenstein, Umstände, 35. Das konnte gegen patriarchale Ansprüche und für eine wachsende Bevölkerung erfolgen. Die Richter konnten durch ihre Gnade ehelichen Eigensinn gewähren und dadurch in ein unmittelbares Verhältnis zu diesen Heiratswilligen treten, was ein universeller Rechtsanspruch, wie ihn die Aufklärer vertraten, tenden‐ ziell ausschloss. 672 Durch diese direkte Beziehung zu den Paaren konnten sie als Teil eines sich entwickelnden Staats intermediäre Mächte - Gemeinden und ihre Vögte, Familien und ihre Verwandtschaftsmitglieder - isolieren und die eigene Machtfülle vergrößern. Genauso gut konnten sie sich aber auch auf die Seite der Opponierenden schlagen und ihrerseits auf deren patriarchale Normen verweisen, um den Eigensinn der Ehewilligen einzuschränken, wo er ihnen zu weit ging. 673 Der Umstand des großen richterlichen Ermessens ließ also eine juristische Beweglichkeit zu, „anderen, […] nicht minder dringlichen Erwartungen und leitenden Gesichtspunkten“ - zum Beispiel populationisti‐ scher Bevölkerungspolitik - „gerecht zu werden“. 674 Damit verweisen auch die richterlichen Urteile im ausgehenden Ancien Régime auf die Multinormativität der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis in Bern. 3.2 Quantitative Tendenzen Die unterschiedlichen Gerichtsbesetzungen machen es in Bezug auf die ver‐ schiedenen Taktiken und Ressourcen des Eigensinns, wie sie vorhin besprochen wurden, sehr schwierig, verallgemeinernde Aussagen zu ihrem spezifischen Er‐ folg vor Gericht zu machen. Ähnlich gelagerte Fälle prekärer Eheschließungen, die aufgrund der überlieferten Informationen durch den Gerichtsschreiber keine grundlegenden Differenzen in ihrer Konfiguration aufwiesen, konnten vom Gericht zum Teil sogar verhältnismäßig zeitnah unterschiedlich bewertet werden. Der „Wert“ der im Gericht vorgebrachten Taktiken und Ressourcen hing 197 3.2 Quantitative Tendenzen 675 Lanzinger, Liebe, 163. stets „von der jeweils situativen Logik“ ab. 675 Dieser Umstand wurde dadurch verstärkt, dass, wie bereits erwähnt, dem Eigensinn in der Außenwahrnehmung selbst eine gewisse Ambiguität inhärent war, die von Fall zu Fall zu unterschied‐ lichen Bewertungen desselben führen konnte. In vielen Fällen war außerdem nicht trennscharf ersichtlich, welche spezifischen Taktiken und Ressourcen zum Erfolg, beziehungsweise zum Misserfolg geführt hatten, weil sie sich im Ringen um die Eheschließungen zum Teil überlagerten und ergänzten. Da also die eigensinnigen Eheaspiranten verschiedene Ressourcen kreativ miteinander kombinierten, lag eine komplexe Gemengelage vor, die generalisierte Aussagen zum Erfolg isolierter Taktiken problematisch macht. Insofern ist die Arbeit in Bezug auf die Urteile der Obereherichter auf quantitative Tendenzen angewiesen. In der Gegenüberstellung der Zahlen heiratsbewilligender und heiratsverhindernder Urteile zeigt sich, dass 36, also 59 %, von den total 61 prekären Eheschließungen durch das Oberchorgericht begünstigt wurden. Nur 25 Mal entschieden sich die Eherichter gegen eine eheliche Verbindung und erlaubten den Opponierenden das Zugrecht oder den Eheeinspruch. In rund zwei Dritteln der untersuchten Fälle erhielt das eigensinnige Ehebegehren also den Vorzug vor den intermediären Interessen von gemeindlichen oder familialen Opponierenden. Dabei gibt es in der Vertei‐ lung über die Samples keine signifikanten Unterschiede. Es wurden in jedem untersuchten Sample mehr oder mindestens so viele Eheerlaubnisse erteilt, wie Eheverbote ausgesprochen wurden. Die untersuchten Samples aus den Rekur‐ surkunden präsentieren das Oberchorgericht am Ausgang des Ancien Régimes gegenüber den intermediären Gemeinden, Familien und Verwandten zahlen‐ mäßig tendenziell somit als eheförderndes bevölkerungspolitisches Organ und nicht als eine Institution, die Eheschließungen kategorisch verunmöglichte. Offensichtlich wurde der eheliche Eigensinn der ehewilligen AkteurInnen in der Mehrheit der Fälle honoriert, indem das patriarchale, kommunale oder korporative Zugrecht verhindert und zurückgedrängt wurde. Eigensinnige, die Justiz nutzende Akteur-Innen können daher im Untersuchungszeitraum durchaus als wichtige Agenten des werdenden Verwaltungsstaates erachtet werden. Vertreter des sich ausdifferenzierenden Staates avant la lettre hatten ein Interesse daran, direkt auf das Individuum zuzugreifen und intermediäre Parteien zurückzudrängen, um das eigene Gewaltmonopol auszubauen. Die eigensinnigen Ehewilligen luden ihn somit quasi zur Intensivierung seiner Tätigkeiten und Beziehungen ein. Gleichzeitig ermutigte das Gericht durch 198 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 676 Vgl. Hardwick, Business, 8. seine tendenziell milde Urteilspraxis seinerseits die ehewilligen AkteurInnen, sich in die Praxis des Staats einzugliedern. 676 Dabei spielte es für das Oberchorgericht keine Rolle, ob es sich bei den be‐ gehrten Eheschließungen um räumlich - nicht verwandtschaftlich - endogame oder exogame Beziehungen handelte. Von den 58 Ehebegehren, die in Bezug auf die Herkunft als endogame oder exogame Verbindungen klassifiziert werden können, wurden sieben Eheschließungen verhindert, die innerhalb der gleichen Gemeinde erfolgt wären. Ebenso viele lokal endogame Ehebegehren wurden vom Gericht aber auch abgelehnt. Von den Eheschließungen, die über Gemein‐ degrenzen erfolgen sollten, gegen die oft die Gemeinden der Männer Einwände vorbrachten, wurden sogar 26 bewilligt und nur 18 abgelehnt. Während das Verhältnis von legitimierten zu abgelehnten endogamen Eheschließungen also ein paritätisches war, wurden fast eineinhalb so viele exogame Heiraten bewil‐ ligt wie abgelehnt. 05 10 15 20 25 30 endogame Ehebegehren (14) exogame Ehebegehren (44) Legitimiert Verboten Diagramm 3: Gerichtsurteile in Bezug auf das Verhältnis zwischen räumlich endogamen und exogamen Heiratsbegehren von 1742 bis 1798 (Quellen: StABE B III 824; 826; 827; 829; 830) Vermutlich besaßen die Faktoren der kommunalen Endogamie und Exogamie für die Obereherichter nicht zuletzt deswegen eine untergeordnete Bedeutung, weil sie die finanziellen Ressourcen der Berner Aristokratie nicht direkt be‐ rührten, es sei denn, dass es sich um exogame Verbindungen unter Beteiligung von BernburgerInnen handelte. Einen aufgrund der Fallzahl zugegebenermaßen vagen Anhaltspunkt für diese Annahme, die durchaus weiterführende Nachfor‐ schungen verdienen würde, erhält man, wenn man die Urteile in den Fällen betrachtet, in denen BernburgerInnen involviert waren. Zwei vom Umfeld 199 3.2 Quantitative Tendenzen 677 StABE, B III 824, 12-19; 207-217. 678 StABE, B III 826, 552-557; StABE, B III 829, 376-378; StABE, B III 830, 368-372. In einem sechsten Fall wurde die Heirat zwischen einem Bernburger und einer Bernburgerin verboten, weil sie in einem zu nahen Verwandtschaftsgrad stattfinden sollte. StABE, B III 826, 412-414. Diese prekäre Eheschließung betraf insofern einen Gegenstand, der scheinbar keinen richterlichen Ermessenspielraum zuließ. Er lässt sich deswegen mit den anderen fünf Fällen nicht vergleichen. 679 In 12 Fällen stehen im Urteil keine Ausführungen zur Verteilung der Kosten. prekarisierte endogame Heiraten von einer Bernburgerin mit einem Bernburger wurden vom Gericht erlaubt, 677 während drei Einheiraten von auswärtigen Frauen in das Burgerrecht des jeweiligen Berner Mannes verhindert wurden. 678 Wo der Besitz der Aristokratie also bewahrt blieb, beziehungsweise nicht von außen zusätzlich belastet werden konnte, erlaubte das Oberchorgericht den Ehevollzug. Wo Einheiraten auswärtiger Frauen drohten, die Ressourcen der burgerlichen Gesellschaften anzugreifen, wurden diese verhindert. Wo die Besitztümer der Aristokraten von den Eheschließungen nicht betroffen waren, weil sie die Gemeinden betrafen, wurden die prekarisierten Eheschließungen vom Oberchorgericht tendenziell eher bewilligt als verhindert. Dieser rein zahlenmäßige Befund lässt sich auch mit jenen 51 Fällen ab‐ stützen, beziehungsweise noch deutlicher illustrieren, in denen Informationen zur Bezahlung der Gerichts- und Verfahrenskosten durch die auftretenden Parteien vorliegen. 679 In Anbetracht der prekären Eheschließungen schien im Oberchorgericht ein regelrechtes kostenpolitisches Subventionsprogramm ehewilliger Parteien zu bestehen, das ebenfalls einiges über die Ehepolitik des Gerichts aussagte. Nur genau in einem Fall musste die ehewillige Partei die Kosten des Verfahrens selbst tragen, obwohl ihr die gewünschte Ehe zugebilligt wurde. Viermal mussten Ehewillige die angefallenen Kosten bezahlen, weil sie den Prozess verloren hatten. Das heißt, in etwas weniger als 10 % (5) der 51 Fälle mussten die Ehewilligen die unmittelbaren finanziellen Konsequenzen ihres Eigensinns selbst tragen. Die entsprechenden fünf Urteile stammen außerdem aus den beiden zeitlich früheren Samples. Danach wurden die in den hier vorlie‐ genden Samples analysierten Ehewilligen in Zugrechtsklagen von den Richtern nie mehr zur Bezahlung der Kosten angehalten. In jenen 16 Fällen, in denen „die dieses Auftritts halb ergangenen Unkösten […] zwischen den Parteyen wettgeschlagen“, also die Verfahrenskosten sowohl Ehebegehrenden als auch Opponierenden durch das Gericht erlassen wurden, geschah das außerdem in neun Fällen „in favorem matremonii“, also explizit, um die Eheschließung zu begünstigen. Das Gericht und sein Sekretariat (Chorweibel und Chorschreiber) verzichteten auf die Einnahmen der entstandenen Verfahrenskosten, um die mit 200 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 680 StABE, B III 826, 57-63; StABE, B III 826, 142-145; StABE, B III 826, 175-184; StABE, B III 826, 447-451; StABE, B III 826, 591-598; StABE, B III 829, 183-185; StABE, B III 830, 83-86; StABE, B III 830, 492-507; StABE, B III 830, 586-592. 681 StABE, B III 829, 67-70. 682 StABE, B III 827, 298-303. 683 StABE, B III 829, 83-85. 684 Ebd., 114-117. dem Urteil verbundene Eheschließung zu fördern. 680 Daraus geht hervor, dass in den 30 restlichen Fällen immer die Züger die entstandenen Kosten bezahlten, ungeachtet dessen, ob ihnen das Zugrecht verwehrt oder zugestanden wurde. Waren diejenigen, die das Zugrecht forderten, die „untenliegende“ Partei, mussten sie die Verfahrens- und Gerichtskosten, außer in einem Fall, immer übernehmen. Dieses Urteil zur Kostenfolge wurde in 20 Fällen gesprochen. Aber auch wenn eine Ehe im Sinne der Züger erfolgreich abgelehnt wurde, mussten diese, wenn die Kosten vom Gericht nicht erlassen wurden, die „des Streitgeschäfts halb ergangene[n] Unkösten auf Moderation hin“ 681 , d. h. die „bezahlung […] [der] Cammergebühren, so viel nämlich solche […] [das] Secretarium und Officialen ansehen“, begleichen. 682 Dieses obergerichtliche Gewohnheitsrecht kam im Verlauf des Untersuchungszeitraums immer ausge‐ prägter zum Ausdruck. Es fand explizite Erwähnung im folgenden Quellenzitat aus einem Urteil, in dem der Stadt Thun zwar „das Zugrecht zugesprochen, selbige aber als Zügere nach dem aus weisen Absichten eingeführten Gebrauch um die dieses Matrimonial-Geschäfts halb ergangene Unkösten auf Moderation verfällt seyn [solle]“. 683 Diese Praxis kann dahingehend interpretiert werden, dass das Gericht Korporationen, Familien und Verwandten finanzielle Hemm‐ nisse entgegensetzte, um sie tendenziell davon abzuhalten, Eheschließungen zu prekarisieren. Dem Ehehindernis des Zugrechts wurde seinerseits vom Gericht eine finanzielle Hürde aufgestellt. Damit wollte man die Ehegegner - in der Regel die finanzstärkere Partei im Verfahren - zumindest nicht begünstigen, die „arme Gegnerin [oder den armen Gegner] durch Weitläufigkeiten und große Unkosten zu ermüden und [von der Ehe] abzuhalten“. 684 Insofern folgten die Obereherichter in den letzten rund 50 Jahren des Ancien Régimes im Umgang mit den Gerichtskosten tendenziell einer ehefördernden bevölkerungspoliti‐ schen Einstellung. 201 3.2 Quantitative Tendenzen 685 Braun, Ancien Régime, 55. 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken Bereits bei der Darstellung des Eigensinns konnte festgestellt werden, dass dieser Ambivalenzen zu erzeugen vermochte. Doch worin bestand diese Mehr‐ deutigkeit eigensinniger und daher prekarisierter Eheschließungen im Gericht? In den folgenden Erläuterungen wird es darum gehen, die zwei dominanten po‐ litischen Logiken hinter dem Verhalten des Gerichts herauszuschälen. Dadurch soll die von Rudolf Braun angedeutete „bevölkerungspolitische Ambivalenz des ausgehenden Ancien Régime[s]“ in der Praxis des Oberchorgerichts von Bern konkretisiert werden. 685 Dabei werden beide Positionen verdichtet und zugespitzt dargestellt und als Idealtypen präsentiert. Gerade bei einstimmigen Urteilen konnte es allerdings durchaus vorkommen, dass sich die Haltungen nicht diametral gegenüberstanden, wie es hier vielleicht den Eindruck erwecken mag. Dennoch werden im Folgenden die im Gericht existierenden Pole aufge‐ zeigt. So treten die Spannungen innerhalb dieses mächtigen Gremiums zwischen Bevölkerungspolitik und patriarchalem Herrschaftsverständnis, also zwischen unterschiedlichen gouvernementalen Verständnissen, markant hervor. 3.3.1 Das reformorientierte ehepolitische Lager Die eben erwähnte Kostenpolitik des Gerichts, die Ehewillige quasi in doppelter Weise ‚einlud‘ - finanziell und weil es die Legitimation der Eheschließung belohnte - und die größere Zahl bewilligter (im Vergleich zu den verhinderten) Eheschließungen deuteten bereits eine Tendenz in der ehepolitischen Stoßrich‐ tung des ehegerichtlichen Gremiums an. Einsprüche wurden durch dieses eher gehemmt, eigensinnige Eheschließungen durch das Abwälzen der Kosten auf die Opponierenden unterschwellig subventioniert, zumindest wurden durch die beschriebene Kostenpraxis des Gerichts einer Eheschließung keine zusätzlichen finanziellen Hindernisse in den Weg gestellt. Diese vorerst quantitativ beob‐ achtete Benachteiligung des Zugrechts durch das Oberchorgericht findet ihre narrative Bestätigung in den Quellen. Es konnte vorkommen, dass die Mehrheit der Richter das Gesetz, das den Eltern das eheliche Vetorecht gegenüber ihren minderjährigen Kindern einräumte, scharf kritisierte. Ihnen war das den Eltern „gegonte zugrecht viel zu positiv“, weil „keine exception darin enthalten, daß, fahls eine denen ellteren bekante frequentation unterloffen, oder alles aber die ellteren keine gründ geben wollen, sich einer solche 202 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 686 StABE, B III 824, 432-438. Darin gleichen die im Berner Oberehegericht angebrachten Unmutsäußerungen an der strikten Auslegung des herrschenden Ehegesetzes der Kritik der reformorientierten Genfer Staatsanwälte in Kriminalprozessen am geltenden Strafrecht in den rund zwei letzten Dritteln des 18. Jahrhunderts, die Michel Porret beobachtet hat. Porret, Crime. 687 Regula Ludi, Die Wiedergeburt des Criminalwesens im 19. Jahrhundert. Moderne Kriminalpolitik zwischen helvetischer Gründungseuphorie und Kulturpessimismus der Jahrhundertmitte, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 60 (1998), 176-196, 176. 688 Vgl. hierzu auch Porret, Crime. 689 StABE, B III 829, 580-583. 690 StABE, B III 824, 12-19. ehe zu opponieren, sonderen lediglich sich diß orts an dem buchstaben deß gesatzes halten“. 686 So sahen gewisse Richter durchaus Gründe, wieso Eltern und Vögte ihren Anspruch auf das Zugrecht verlieren sollten, obwohl dieser Verlust dem Ge‐ setzestext zufolge nicht vorgesehen war. Die anpassungsfähige Praxis dieser Obereherichter weckt Assoziationen mit jenem Befund aus der historischen Kriminalitätsforschung, der insbesondere für den hier relevanten Untersu‐ chungszeitraum auf „ein ausbalanciertes System von Recht und Gnade, von Normdivergenz und Sanktionsverzicht“ hinweist. 687 Laut Regula Ludi vollzog sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung hin zu einer milderen Strafpraxis der Gerichte, die von ihr als Entgegnung auf die aufklärerische Rechtssprechungskritik interpretiert worden ist. In den hier untersuchten Ehe‐ gerichtsfällen kam es in eben diesem Sinn wiederholt vor, dass sich die Mehrheit der Gerichtsbeisitzer in ihrem Urteil einer engen, wortgetreuen und somit streng formal-juristischen Auslegung des patriarchalen Ehegesetzes widersetzten. 688 Dagegen folgten sie anderen rechtlich-moralischen oder auch bevölkerungs‐ politischen Überzeugungen, die den ehelichen Eigensinn der prekarisierten Paare begünstigten. Ihre Haltung öffnete damit Spielräume für die Ehewilligen. Gelegentlich konnte das sinngemäß im Protokoll explizit geäußert werden, wenn das finale Urteil im Widerspruch zum geltenden Gesetzt stand. Dann notierte der Gerichtsschreiber zum Beispiel: „Moralische Betrachtungen haben zu dieser […] Meinung geleitet.“ 689 Der gesetzliche Anspruch eines Vogtes auf das Zugrecht über seinen Zögling konnte von Teilen des Gerichts als „schnödes Recht“ verschrien werden, dem ökonomische oder moralische Überzeugungen entgegengesetzt wurden. 690 Eltern, Vögte und Gemeinden, die vom Umgang ihrer Kinder wussten, um dann vor Gericht doch das Zugrecht gegen den Ehevollzug einzulegen, wurden bezichtigt, das Gesetz durch ihre wortwörtliche Auslegung zu missbrauchen und dadurch die vorausgehende soziale Verant‐ 203 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken 691 StABE, B III 826, 74-75. 692 An dieser Stelle wird deutlich, dass es den Richtern gerade nicht an „Durchsetzungs‐ vermögen“ fehlte, sondern sie sehr bewusst auf die Anwendung der Gesetze verzich‐ teten, um ein reformorientiertes ehepolitisches Programm zu realisieren. Holenstein, Umstände, 35. 693 StABE, B III 824, 20-51. 694 Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, [Nachdr.], Stuttgart 2006, 203. wortung gegenüber ihren Angehörigen außer Acht zu lassen. 691 So erschienen die Eheeinsprechenden, die sich wortgetreu auf den ständisch-patriarchalen Gesetzestext bezogen, tendenziell rückwärtsgewandt. Dagegen trat ein Teil des Oberchorgerichts geradezu gesetzeskritisch und in der Auslegung der Fälle ehefördernd auf. Sie nutzten ihren richterlichen Ermessensspielraum teilweise zugunsten von Ideen, die auch von den zuvor vorgestellten Populationisten vertreten wurden. 692 Dort erschien das patriarchale Ehegesetz unaufgeklärt, wenn die Eherichter „jeh nach Beschaffenheit […] [der begehrten Ehe] sich nicht an den dürren Buchstaben des Gesazes zu halten, sonderen demselben ein vernünftige und der Natur der Sach selbsten angemessene Erläuterung zu geben“ verpflichtet fühlten. 693 Die Oberchorrichter wiesen hier unverhohlen darauf hin, dass sie selbst die Ehegesetze unter gewissen Umständen für unzeitgemäß und korrekturbedürftig hielten. Dieses Argument der Oberchorrichter, die mittels gnädiger Urteile eine reformorientierte Ehepolitik verfolgten, verdeut‐ licht die Aussage von Barbara Stollberg-Rilinger, dass die Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert vielen Obrigkeiten dazu diente, die „Rechte der ständischen Zwischengewalten“ sukzessive abzubauen und den Handlungsspielraum zu‐ gunsten rational begründeter staatlicher Zielvorstellungen, z. B. eben der Bevölkerungsvermehrung, auszudehnen. 694 Damit agierte diese Fraktion der Assessoren eindeutig gegen patriarchale Interessen intermediärer Gruppen. Sie waren mit ihrem gnädigen, will heißen flexiblen, Umgang mit dem Gesetz offenbar gewillt, die kommunalen und familienpolitischen Partikularinteressen, die sich auf ein geltendes patriarchales Privileg bezogen, nämlich das eheliche Vorzugsrecht, zugunsten einer neuen Politik zurückzuweisen. Der Wille, die Anwendung und die ehehindernden Effekte des Zugrechts der Familien so weit wie möglich einzudämmen, offenbarte sich auch darin, dass man es zunehmend einer möglichst kleinen Gruppe von Angehörigen zubilligen wollte. In einem Fall, der sich 1760 zutrug, wollte der Gemeindevogt laut Gericht eine „bemittelte Gemeinds-Angehörige“ vom Heiraten abhalten, 204 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 695 StABE, B III 826, 178-179. 696 Ebd. 697 Ebd. 698 Ebd. 699 Ebd., 97-98. um deren Besitz in den eigenen Reihen zu behalten. 695 Er tat dies, obwohl die angehende Braut die Zustimmung der Mutter hatte. Das Gericht ließ verlauten, dass die Abstufung, wem unter welchen Umständen das Zugrecht zukomme, in der Chorgerichtssatzung ganz genau definiert wäre - „und niemanden wird etwann zu Sinn steigen, daß die Einwilligung der daselbst vernamseten Personen zu einer gültigen Ehe cumulativé erfordert werden“. 696 Während zuvor also das Gesetz im Namen übergeordneter ehepolitischer Interessen in Frage gestellt worden war, wurde es hier wiederum angewendet, um dieselben Interessen durchzusetzen. Die Begründung: Die Eheschließungen sollten nicht von den ökonomischen Interessen der Gemeinden und den Befindlichkeiten ihrer Vertreter abhängen, „sonderen auf das […], was das Recht vermag“. 697 Wenn der Vater sein Einverständnis zur Heirat gäbe, wäre kein Konsens mit der Mutter, noch mit den Verwandten erforderlich. Ebenso wäre die Einwilligung der Verwandten oder des Vogts unnötig, wenn die Mutter mit der Eheschließung ihres Kindes einverstanden wäre. Den Grund für diese Abstufung formulierten die Eherichter wie folgt: „Wie wenige Ehen würden zu Stand gebracht werden können, wann so viele interessierte spem sumessionis habende Collateralen um ihren Consens gefragt werden müßten.“ 698 Unter den ehebegünstigenden Obereherichtern wurde gerade in der aus‐ gedehnten Verwendung des Zugrechts der Verwandten und Gemeinden die Ursache für die vielen unehelichen Geburten verortet, „weil dieses väterliche Recht bey denen Unterthanen eine Zeit daher dergestalten misbraucht wird, daß die geringste Disparität nicht nur von Mittlen, sondren auch prætendirten Stands, wirklich eine der stärksten Quellen von der bald unerträglichen Anzahl der Bastarten ist; dieses beneficium juris dann unmöglich von dem hohen Gesatz-Geber in solcher Absicht ertheilt werden seyn kann; und seiner Natur nach […] allezeit eher restringirt als extendirt werden solle.“ 699 Die ehefördernde bevölkerungspolitische Ausrichtung, wie man sie schon in den Abhandlungen der Oekonomischen Gesellschaft vernehmen konnte, zeichnete sich also nicht nur quantitativ in den Urteilen ab, sondern auch eindeutig und sprachlich explizit in den Urteilsbegründungen. Das Recht auf die Eheschließung wurde in der Gerichtspraxis vom reformorientierten Lager der Oberchorrichter demokratisiert und tendenziell in ein Naturrecht überführt, das 205 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken 700 Ebd., 394-400. 701 Ebd., 74-75. 702 Ebd. jedem Menschen zustehen sollte. Vereinzelt wurde sogar gefordert, dass Ehen über Standesgrenzen und ökonomische Ungleichheiten hinaus zu akzeptieren wären, wie es auch die Populationisten forderten. Dem ständischen Argument der „Disparitæt beydseitigen Vermögens“ wurde von diesen Richtern dadurch der Nährboden entzogen, zumindest wenn sie selbst davon nicht betroffen waren. 700 In dieser säkularen Haltung war ein Hang hin zu einer zentralstaat‐ lichen Verwaltung zu erkennen, die den Zugriff von intermediären Gruppen auf die Subjekte zurückdrängte und dadurch den eigenen ausbaute, ein in zunehmendem Maß naturrechtlich akzentuiertes Eheverständnis kultivierte und in der Urteilspraxis auch Grenzen der Ständegesellschaft zu überschreiten begann. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Fall zu erwähnen, der Kritik am patriarchalen Vorrecht des Ehezugs offensichtlich macht. Ein Teil der Richter beschwerte sich über den Umgang mit vorehelichen Schwangerschaften auf dem Land und bemängelte die ehehemmende Funktion des Zugrechts. Während „in dergleichen Fällen Personen von Rang oder bürgerlichem herkommen“ zu Wiedergutmachungsehen angehalten würden, Eheschließungen also gefördert würden, sei „nicht wohl zu begreifen, warum das Landvolk einzig sich mit dem dürren Buchstaben der Satzung zu schirmen befügt seyn, und, gleichsam unter deren Schirm, das ohnehin mit Bastarten angefüllte Land zügellos mit einer Menge dergleichen unglückseligen Früchten belästigen könnte“. 701 Durch das Zugrecht wurde der Landbevölkerung in dieser Perspektive die Möglichkeit geboten, der Ehe und somit dem obrigkeitlichen Zugriff auf ihr Sexualverhalten auszuweichen. Gerade das patriarchale Zugrecht ermöglichte jungen Landbe‐ wohnerInnen die ungehinderte voreheliche Sexualität, „zumalen es leyder! dahin gekommen, daß die meisten junge ledige Landleute die Züchtigung der gesetzlich bestimmten Abbüßung wenig mehr achten, ja viele darunter öffters darmit ihr Gespött treiben.“ 702 Das patriarchale Zugrecht verursachte und verstärkte in dieser Denkweise exakt jenes Phänomen, das es eigentlich zu verhindern galt: die starke Vermehrung unehelicher Bevölkerungsteile, deren Versorgung ein großes Problem für die Gemeinden darstellte. Die voreheliche Sexualität wurde vom Gericht problematisiert und der Abbau von Ehehinder‐ nissen gleichzeitig als Lösung präsentiert. Dadurch konnte die voreheliche Sexualität zu einem taktischen Instrument ehewilliger AkteurInnen avancieren, weil man in dem hier vorgestellten reformorientierten richterlichen Lager geneigt war, diese durch die Eheschließung nachträglich zu legitimieren. Denn, 206 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 703 Ebd., 352. 704 Ebd., 356. 705 Wyss, Reformprogramm, 29. 706 StABE, B III 824, 207-217. so das Gericht, „[dem öffentlichen Interesse (Interesse publicum)] ist mächtig daran gelegen, und es kan auch anderst nicht als der Wille des Landes-Fürsten seyn, daß das Land nicht je mehr und mehr, mit Bastarden ausgefüllt, und beschwärt werde.“ 703 So thematisierte das Gericht in seinen konkreten Urteilen wiederum unmiss‐ verständlich, dass die Sittengesetze ihre Wirkung in großen Teilen der Bevöl‐ kerung eingebüßt hatten. Im reformorientierten Lager war man bereit, diesen Umstand durch die flexible Gerichtspraxis zu korrigieren. Hier kritisierten ei‐ nige Obereherichter den inkorrekten Einsatz des Zugrechts und seine negativen Konsequenzen für die öffentlichen Interessen, die im Sinne der Staatsräson mit den Absichten der Regierung zur Deckung gebracht werden sollten. Noch expliziter wurde das in der folgenden Gesetzeskritik: „Allein, da diesem an sich recht Patriotischen Systema, […] noch immer die Strenge der Gesäzen vor dem Licht stehet, und so wohl der Modus probandi in matrimoni‐ alibus, als das Zug-Recht der Vögten, Verwandten usw. deutlich und mit dörren Buchstaben, vorgeschrieben, so kann mann dermalen, so gerne man auch wollte, von dieser Richtschnur nicht abgehen, und muß solche als die einzige Norman decidendi erkennen.“ 704 Damit kam zum Ausdruck, dass es diesen Richtern nicht mehr um die quasi fürst‐ liche Regierung und Disziplinierung ihrer Untertanen ging. Ihre patriotischen Gedanken kreisten um das öffentliche Interesse, um das Gesamtwohl einer Bevölkerung, um die patriotisch interpretierte Staatsräson. Nicht die Erfüllung der veralteten Gesetze war in diesem reformorientierten Lager primäres Regie‐ rungsziel, sondern, wie Regula Wyss in Anlehnung an Foucault formuliert, „der Prozess des Regierens selbst“. 705 Dadurch wurde möglich, dass in Ehebelangen „auch die adeliche Famille inn ihren darwider gemachten oppositionen nicht begründt befunden“ und mit ihren Zugrechtsklagen abgewiesen wurde, der Ge‐ burtsstand als symbolisches Kapital also tendenziell an Bedeutung einbüßte. 706 Die Motive hinter den ehebegünstigenden Forderungen dieses Gerichtsteils lassen sich nicht nur implizit erkennen, sondern auch explizit in der Quellen‐ sprache nachweisen: Das patriarchale Zugrecht intermediärer Parteien sollte so stark wie möglich eingeschränkt werden, weil von diesem Lager im Ehegericht „die Beförderung der Heurath als dem Wohl des Staats angemessen“ betrachtet 207 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken 707 StABE, B III 829, 595-597. 708 StABE, B III 827, 381-385. 709 Diese These erfährt Bestätigung durch die Forschung zu Zürich von Eva Sutter. Sie hat in Bezug auf die Stimmung unter den Zürcher Eherichtern von einer ‚liberalen‘ Tendenz gesprochen. Die vorliegende Studie hält zwar die begriffliche Charakterisierung in diesem Zusammenhang für etwas undifferenziert. Das ändert aber nichts an ihrem Befund, dass in Zürich in einem reformorientierten ehegerichtlichen Lager ebenfalls die Meinung vertreten wurde, dass die zahlreichen restriktiven Heiratsbeschränkungen zu Effekten führten, die dem Gegenteil der herrschenden bevölkerungspolitischen Intentionen entsprachen. In Zürich appellierten diese Eherichter an den Zürcher Rat und kritisierten ebenfalls die „‚Hintertreibung armer Ehen‘“ durch die Gemeinden. Ihnen erschien es falsch „Heuraten der Armen zu verbieten, oder Inmissrathen, dem ersten der Menscheheit gegebenen, allen Menschennaturen gleich ein gepflanzten Gesetze entgegenzuarbeiten.“ Dabei klammerten sie die kritische Frage zwischen Populationisten und deren Gegnern wortwörtlich aus, wenn sie bewusst in Klammern schrieben, dass zwar zu klären wäre, „ob die Bevölkerung für unser Vaterland [im Allgemeinen] nachtheilig oder vortheilhaft sey“. Gewiss war ihrer Meinung nach allerdings, dass die restriktiven Ehegesetze „fruchtlos, und gleichsam Berechtigung zu unordentlichem Zusammenleben“ waren und deswegen nur zur Vermehrung der „nachtheiligen Bevölkerung“ beitrugen. Die Appellation des Zürcher Ehegerichts zitiert nach Sutter, Act, 188. 710 StABE, B III 826, 385-386. 711 StABE, B III 829, 83-85. 712 StABE, B III 826, 57-63. wurde. 707 Die reformorientiert gesinnten Teile im Ehegericht bezichtigten die Gemeinden, dass ihre Angst vor dem wirtschaftlichen Scheitern von Ehen „fürs künftige alle heyrath der minder bemitelten Unterthanen lediglich von dem guten Willen ihrer Gemeinden abhängig machte; eine Willkühr deren äußerst schädliche Folgen sich in kurzem mit Macht, und zu gröstem Nachtheil der Copulation würden empfinden lassen“. 708 Anhand dieser Aussagen lässt sich der Populationismus, der grundsätzlich die soziale Ausweitung des Ehestands forderte, unzweifelhaft auch im Oberchorgericht verorten. 709 Bezeichnenderweise waren nur diejenigen Eheschliessungen von der grund‐ sätzlichen Förderung ausgeschlossen, die „einer gesunden Politic“ entgegen‐ standen: 710 Die Eheschliessungen von alten und kranken Menschen. „[…] nach dem allgemeinen Lauff der Natur [könne] der Zwek der Ehe wegen dem Alter [oder eben dem Gesundheitszustand] der Verlobten nicht erreicht werden.“ 711 So waren auch jene Stimmen im Oberchorgericht, die die Eheschließungen fördern wollten, der Meinung, dass „Heiraten von alten und gebrechlichen Menschen mit dem Zweck dieses gesellschaftlichen Bandes keiner wegen, und in keinerley Sinn übereinstimmt[e]“. 712 Sie gehorchten nicht der Natur, der eine gute Regierung zu folgen und zum Durchbruch zu verhelfen hatte. Auch diese Argumentation fand sich bereits bei den Populationisten wieder, die ehepolitisch 208 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 713 StABE, B III 827, 159-170. 714 Ebd., 159-170. 715 Wyss, Reformprogramm, 139-158; ebenso Stuber, Gesellschaft. 716 Hermann Wahlen, Johann Rudolf Tschiffeli, 1716-1780. Ein Patriot und Menschen‐ freund, Bern 1940, 26. Wahlen hat weiter über Tschiffeli geschrieben, dass die Berner Chorgerichtssatzung „nach seiner Beurteilung gewisse Mängel aufwies“. „Im Laufe der Jahre kamen in seiner Tätigkeit als Chorgerichtsschreiber Fälle vor, die nach den bestehenden Satzungen oft unzweckmäßig, gegen seine juristischen Kenntnisse und gegen sein Gewissen erledigt werden mußten.“ Ebd. 717 Hermann Wahlen, Meister und Schüler. Pestalozzis landwirtschaftliche Lehrzeit bei Tschiffeli in Kirchberg, in: Burgdorfer Jahrbuch 24 (1957), 172-186, 174; Martin auf Bevölkerungsvermehrung und nicht auf Altersvorsorge abzielten. Der bio‐ politische Impetus dieses ehegerichtlichen Flügels zeigte sich in der Forderung nach einer Ehepolitik, die nur die ‚gesunde‘ und auf Fortpflanzung gerichtete Sexualität förderte. Diese Forderung konnte allerdings auch bedeuten, dass die Eheschließung den „Arzneygelehrten“ zufolge in den Gerichtsakten als ein „dienliches Heilungsmittel“ gegen die „hysterischen üblen“, jener „Krankheit des Weibes“, erscheinen konnte. 713 Dieses war der Fall von Magdalena Koch, die 1770 Johann Rudolf Müller zu heiraten begehrte, von ihren Verwandten aber der „Nervenkrankeit“ bezichtigt wurde. So existierten durchaus auch innerhalb der biopolitischen Argumentation unter den Richtern Spannungen, wenn die Frage im Raum stand „[w]as für gutes […] bey dieser Ehe für die Societet und für die Eheleut selbst zu hoffen“ war. 714 Wie genau diese bevölkerungspolitisch motivierten Positionen Eingang in das Gericht fanden, ist schwierig zu eruieren und kann hier nicht erschöpfend behandelt werden. Eine sehr plausible Möglichkeit, das zeigt Wyss für Bern in eindrücklicher Weise auf, 715 waren personelle Querverbindungen zwischen Sozietäten und Regierungsorganen. Eine solche Verquickung zwischen der Oekonomischen Gesellschaft und dem Oberchorgericht sticht hervor und kon‐ kretisiert sich in der Person von Johann Rudolf Tschiffeli. Dieser war von 1755 bis zu seinem Tod 1780 Sekretär des Berner Oberchorgerichts, hatte großen Einfluss auf die revidierten bernischen Chorgerichtssatzungen und war gleichzeitig eine bedeutungsvolle Figur in der Bewegung der ökonomischen Patrioten. In der Literatur ist dieser als „milder Menschenfreund“ beschrieben worden, der angeblich „durch seinen Einfluss und durch seine Verwendung […] das traurige Los vieler Menschen gemildert“ habe, was zu der ehepolitischen Stoßrichtung der hier vorgestellten Oberchorrichter passen würde. 716 1759 gründete er die Oekonomische Gesellschaft von Bern. Er zeichnete sich neben seinen vorwiegend landwirtschaftlichen Schriften dadurch aus, dass er sich für bessere Verhältnisse der Heimatlosen im Kanton Bern einsetzte. 717 Dazu passt 209 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken Stuber, Art. Johann Rudolf Tschiffeli 2011. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D26251.php (26.08.2021). 718 StABE, B III 830, 627-634. die Tendenz im Oberchorgericht, die Ehe breiteren Schichten zugänglich zu machen. Die bevölkerungspolitischen Absichten dieses richterlichen Lagers, das in Tschiffeli für fast die Hälfte des Untersuchungszeitraums über einen einflussreichen Verbündeten verfügte, standen in großem Widerspruch zur kommunalen und patriarchalen Logik und bevorzugten aufgrund ihrer Politik die eigensinnigen Eheabsichten prekarisierter AkteurInnen. Man war also in diesem tendenziell ehefördernden bevölkerungspolitischen Lager des Oberchor‐ gerichts in reformabsolutistischer Manier gewillt, die Macht der Intermediären zu Gunsten eines zentralisierten Gewaltmonopols und eines direkteren Zugriffs auf die Untertanen einzuschränken. Dazu war man auf den Eigensinn und die Justiznutzung der AkteurInnen gewissermaßen angewiesen. Sie eröffneten dem sich entwickelnden Staat einen direkten Zugriff auf einen gerade dadurch zunehmend intim werdenden Bereich des Lebens, der zuvor vom sozialen Nahraum mehr oder weniger sichtbar und kollektiv überwacht und reguliert wurde. 3.3.2 Das ständisch-patriarchale Lager Wie bereits erwähnt, war das Oberchorgericht allerdings kein einstimmiges Organ, sondern vereinte - im Großen und Ganzen - zwei oppositionelle ehepoli‐ tische Meinungslager in seinen Reihen. Das jetzt vorgestellte Lager wird als ‚pat‐ riarchales‘ charakterisiert, das noch stark einer geburtsständischen Sittenlogik verhaftet war. So fand sich im Gericht auch dieses tendenziell traditionellen Werten verpflichtete Lager wieder, das konsequent am ständisch-patriarchal verfassten Ehegesetz festhielt und disziplinarische Funktionen akzentuierte. Dieses Lager beabsichtigte, dem patriarchalen „Willen und [der gesetzlichen] Vorschrift des Hohen Gesäzgebers, der dem oberen Ehegericht in seinem Eyd ausdruklich anbefiehlt‘ alle Ihre Urtheile und Erkanndtnußen nach dem buchstäblichen Innhalt gegenwärtiger Sazungen auszufällen’“. 718 Es verfolgte einen weniger gnädigen und daher auch weniger flexiblen Umgang mit dem Gesetz, wenn es darum ging, den eigensinnigen Ehebegehren zu begegnen. Wie anhand des Verhältnisses zwischen bewilligten und abgelehnten pre‐ kären Eheschließungen aufgezeigt werden konnte, begegneten sich die Ver‐ treter der entgegengesetzten Positionen im Oberchorgericht in den Urteilen ungefähr in einem Verhältnis von 3: 2 (bewilligt zu abgelehnt). Somit bildete sich auch in der konkreten gerichtlichen Praxis das ambivalente diskursive 210 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen 719 StABE, B III 829, 645-647. 720 StABE, B III 826, 143-144. 721 StABE, B III 829, 362-363. 722 StABE, B III 824, 20-51. Verhältnis zwischen Vertretern der patriarchalen Ehegesetze, die tendenziell einer hausväterlichen Ökonomik folgten und in physiokratischer Sichtweise die Überbelastung der natürlichen Ressourcen durch eine Übervölkerung be‐ fürchteten, und Vertretern einer reformorientierten populationistischen Bevöl‐ kerungspolitik ab. Den Spannungsbogen zwischen den beiden Lagern benannte das Oberchorgericht im Fall einer Vaterschaftsklage in Bezug auf das Ehegesetz gleich selbst: Die „[…] Ehegerichts Ordnung manifestiert deutlich die Absicht und den Zwek deß weisen Gesezgebers, die Sidtenlosigkeit und Verführung ein‐ zuschränken, soviel möglich Heurathen zu bewürken, mithin eheliche Kinder anstatt unehelicher zu erzielen […]“. 719 Jene Richter, die die patriarchale Gewalt zu stützen versuchten, erblickten in prekären Eheschließungen tendenziell eher Sittenlosigkeit und Verführung und bekämpften damit gewissermaßen das Projekt der Populationisten, so viele Heiraten wie möglich zu bewilligen, um uneheliche Geburten zu vermeiden und dadurch die Gesundheit und das Bevölkerungswachstum zu befördern. Aus diesen Gründen betonten die Vertreter einer patriarchal akzentuierten Ehepolitik in ihrer kritischen Haltung gegenüber Heiraten auch moralische Bedenken und die Gefahren für eine ständisch organisierte Gesellschaft. Diesem Lager war es wichtig, dass das Brautpaar „nicht nur Alters halb […] gleich, sondern auch [die] übrige Umstände […] übereinzukommen - mithin eins des andern wohl wehrt zu seyn“ hatte. Eheverbindungen, die diesem Anspruch nicht genügten, verstießen „wider die Anständigkeit und gute Sitte“. 720 Folglich legten die ständisch-patriarchal ausgerichteten Oberchorrichter den Fokus auf „gleichheit des Stands, Herkommens, Vermögens[,] Alters beydseitiger Partheyen“ und deren „guten Leumden“. 721 In der Frage der Altersentsprechung bildete sich tendenziell eine Schnitt‐ menge zwischen geburtenförderndem populationistischem Lager und der stän‐ disch-patriarchalen Gerichtspartei. Gerade dieser Umstand konnte zu einstim‐ migen Gerichtsentscheiden führen. Das Argument der Standesgleichheit stellte auch nicht zwangsläufig einen fundamentalen Meinungsunterschied zwischen den Parteien dar, wurde aber doch mit deutlich unterschiedlichen Vorzeichen versehen. Die Brautleute sollten „von gleicher Condition und Mittlen“ sein, weil die ständisch-patriarchale Moral dies verlangte. 722 Dieser Moral ging es primär darum, „[d]ie Ehre der Bürger und Unterthanen […][,] das kostbarste Kleinod, das dem Landesfürsten zur Aufrechterhaltung und Beschützung […] 211 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken 723 StABE, B III 827, 366. 724 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, 27. 725 Vgl. Cottier, Gewalt, 33; Schreiner/ Schwerhoff, Ehre. 726 StABE, B III 826, 385-386. 727 Ebd. 728 Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), 215-251, 223. 729 StABE, B III 826, 394-400. 730 StABE, B III 829, 265-269. Auf den Umstand, dass Ehrkonflikte häufig auch materielle Konflikte sein konnten, hat insbesondere Rainer Walz hingewiesen. Er hat formuliert, anvertraut seyn kann“, zu bewahren. 723 Damit verteidigten diese Richter ein Ehrkonzept, das durch ungleiche Heiraten bedroht war, beziehungsweise ‚ver‐ letzt‘ wurde. Dementsprechend galt es diese Verbindungen abzuwehren, weil dadurch auch das eigene ständische „Ehrgefühl“ bedroht war. 724 Dagegen sollten standesgleiche Eheschließungen gefördert werden, um die ständische Ordnung zu stabilisieren. Damit bekannten sich diese Richter eindeutig zu einer Kultur der Ehre, in der diese als soziales Kapital verstandene Ressource in ihrer gesell‐ schaftlichen Bedeutung zu erhalten war. 725 „Dis-portion“, ob des Alters oder des Standes wegen, konnte deswegen „nicht viel gutes andeute[n]“, beziehungs‐ weise der patriarchal interpretierte „Zwek des Ehestands […] nicht in einem einicher seiner Theilen erreicht werden“. 726 Ungleichheit widersprach für dieses hausväterlich geprägte Lager „allen Regeln der Sittenlehre“. 727 Während der Ehezweck im bevölkerungspolitisch reformorientierten Lager ein ‚natürlicher‘ war, dem es gegen ständische Argumente zum Durchbruch zu verhelfen galt, akzentuierten die Vertreter einer patriarchalen Urteilslogik also vor allem den sittlich-moralischen Zweck der Eheschließungen: die Aufrechterhaltung einer ständischen Ordnung, die immer auch mit Ausgrenzung zusammenhing. 728 Denn die Aufrechterhaltung dieser Ordnung war auf das Engste mit der Moral der Gesellschaft und ihrem Glauben daran verknüpft. Die Standesgrenzen und ständische Privilegien zu bewahren, war deswegen das oberste Ziel dieser Richter. Darum bestritten sie auch „die volkommene Vähigkeit“ der prekarisierten ehewilligen Akteure, „die zu einem vernünftigen und klugen Haus-Vater erforderet [wurde]“ 729 . Das stellte wiederum sowohl eine moralische als auch ökonomische Bedrohung für die ständisch verfasste Gesellschaft dar, „[…] wo gänzl[iche] Armuth, Natur-Fehler [hier vermeintliche Blindheit], und schlechte Aufführung verbunden“ waren. So vermutete dieser restriktive Teil des Oberchorgerichts wesentlich früher als der ehebegünstigende Teil, „dass benebst dem Mann, Weib und allfällige Kinder der Gemeinde eine beschwer‐ liche Last“ verursacht würde. 730 Und so griffen die das patriarchale Zugrecht 212 3 Strategien: Die praktische Normierung prekärer Eheschließungen dass die „Verteidigung des eigenen Besitzes, der eigenen Ansprüche, […] zur Erhaltung der Ehre [gehörte]“. Walz, Kommunikation, 224. 731 StABE, B III 824, 12-19. unterstützenden Ehegegner unter den Richtern tendenziell die Argumente der opponierenden Gemeinden, Gesellschaften und Familien auf und stellten den Leumund der Ehewilligen in Frage. Diese Fraktion unterstützte im Gericht jenes Gnadenverständnis, das der von Max Weber exemplarisch dargestellten doppelten Prädestination nahekam und weiter oben referiert wurde: Reichtum war ein äußeres Zeichen für göttliches Wohlgefallen sowie ein frommes Leben und widerspiegelte auch die jeweilige Ehre der Menschen. Im Gegenzug waren Armut und ein schlechter Leumund in dieser Auffassung mindestens Indizien für mangelnde eheliche Würde. Wie bereits ausgeführt, stellte die Ehe im 18. Jahrhundert in Bern nach wie vor eine Gnadengabe dar, die nur den Ehewürdigen zuteilwerden sollte, also jenen, die sich in dieser patriarchalen Vorstellungswelt im wortwörtlichen Sinn um diese Institution im Vorfeld verdient gemacht hatten. Mit der Ehe war „es umb mehr als zeitliches Guth zu thun“ 731 , aber gerade deswegen mussten für dieses ehepolitische Lager äußere Anzeichen und Indizien gegeben sein. Denn unter anderem daran konnte die Ehewürdigkeit der Ehebegehrenden festgemacht werden. 213 3.3 Widerstreitende Urteilslogiken 1 André Holenstein, Der Weg in die Helvetische Revolution, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 514-517, 514. 2 Richard Feller, Geschichte Berns, Bd. 3. Glaubenskämpfe und Aufklärung 1653 bis 1790, 2. Aufl., 4 Bde., Bern, Frankfurt a. M. 1974, 447-463. C Die Helvetik (1798-1803) Ereignisse Helvetik wird in der Schweizer Geschichte jenes ungefähr fünfjährige Inter‐ mezzo französischer Besatzung und zentralistischer republikanischer Regierung nach der sogenannten ‚Helvetischen Revolution‘ von 1798 genannt. Bevor zu einer historischen Beurteilung der Eheschließungsthematik unter den ver‐ änderten politischen Umständen der Helvetischen Republik geschritten wird, müssen für ein allgemeines Verständnis zunächst in groben Zügen die äußeren Bedingungen und Veränderungen beschrieben werden, die diese Phase aus‐ lösten und mit sich brachten. Die Helvetische Revolution und die aus ihr hervorgehende zentralistische Republik können nicht unabhängig von den europäischen Entwicklungen unter dem Eindruck der Französischen Revolu‐ tion und Napoleons Expansionsunterfangen betrachtet werden. Diese Entwick‐ lungen und ihre spezifischen Folgen für Bern werden hier in einem Parforceritt erörtert. Als 1789 in Frankreich die Revolution ausbrach, überraschte sie nicht nur den französischen König. Auch ihre Folgen für die Eidgenossenschaft vermochte zu diesem Zeitpunkt niemand abzuschätzen. Zwar thematisierten und problematisierten die Herrschaftseliten und geistigen Kapazitäten in den verschiedenen eidgenössischen Ständen bereits seit der Mitte des 18. Jahrhun‐ derts die zunehmende soziale Verengung der Herrschaft durchaus. In Bezug auf die zunehmende Machtfülle in den Händen einiger weniger Geschlechter diskutierten die Patrizier allerdings nicht die Gleichberechtigung der Landschaft mit der Stadt. Sie setzten sich viel mehr mit der Frage auseinander, wie sie die soziale Einbettung ihrer Herrschaft auf Dauer sicherstellen konnten, wenn sich die Zahl der regierenden Geschlechter und damit die soziale Akzeptanz nicht etwa ausweitete, sondern immer stärker und schneller verringerte. 1 Ein wach‐ sender Teil der Burgerschaft fühlte sich standesintern in zunehmendem Maß von der Herrschaft ausgeschlossen und wirtschaftlich benachteiligt. 2 Parallel dazu fand die patrizische Machtkonzentration nach wie vor Ausdruck in den Heiratsstrategien und -praktiken des Patriziats. In Bern gerieten zum Beispiel 3 Denise Wittwer Hesse, Die Bedeutung der Verwandtschaft im bernischen Patriziat, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 149-153, 149; Wittwer Hesse, Familie, 33-34; ebenso die Fussnote 173. Der Name leitet sich ab vom schwarzen Samthut, genannt ‚Barett‘, den die Mitglieder des Großen Rats von Bern trugen und von ihrem Wahlherrn, also demjenigen erhalten hatten, der sie vorgeschlagen hatte. 4 Feller, Glaubenskämpfe, 465. 5 Holenstein, Weg, 514. sogenannte ‚Barettlitöchter‘ stets vor den Erneuerungswahlen in den Großen Rat in den Fokus des matrimonialen Begehrens unverheirateter Patrizier. Diese ledigen Töchter von Ratsherren wurden umworben, weil ihren Vätern das Recht zur Nomination von Kandidaten für die Wahl in den Rat zustand. 3 Das Berner Ancien Régime versuchte 1790, die Akzeptanz der Herrschaft mit einer Festschreibung des zeitgenössischen status quo zu stabilisieren: Die Zahl der regimentsfähigen Geschlechter durfte nicht unter die aktuelle Zahl von 236 fallen. Im Großen Rat musste davon stets etwas weniger als ein Drittel der Geschlechter (76) vertreten sein. 4 Dabei ging es ganz offensichtlich nicht um die Integration der Untertanen, sondern um die Abstützung der Macht im eigenen Stand. Während sich das Berner Patriziat also lange Zeit prioritär mit den stan‐ desinternen Machtverhältnissen auseinandersetzte, schufen die Französische Revolution und der Sieg der jungen Französischen Republik über Preußen und Österreich im ersten Koalitionskrieg neue äußere Bedingungen. Zwar blieb die Eidgenossenschaft von den direkten Kriegshandlungen vorerst verschont, weil allen involvierten Parteien die Neutralität der Eidgenossenschaft schutz- und versorgungstechnisch Vorteile bescherte. Dennoch kam Bern - in seiner Funktion als Schutzmacht von Genf sowie der südlichen Teile des Fürstbistums Basel und durch seine exponierte Lage gegen Westen - im eidgenössischen Vergleich verhältnismäßig früh in Berührung mit der expansiven Politik der Französischen Republik. Im Verlauf des ersten Koalitionskriegs besetzten fran‐ zösische Soldaten den nördlichen Teil des Fürstbistums, annektierten Savoyen und machten dadurch 1792 die politische Umwälzung in Genf möglich. Erst die Friedensschlüsse mit Preußen (1795) und Österreich (1797) eröffneten der siegreichen Französischen Republik neue Handlungsräume im mittleren Alpen‐ raum. Nun konnte sie beginnen, ihre expansiven Interessen und politischen Ideen auch in diesem Gebiet umzusetzen. Dabei war der Eidgenossenschaft vom französischen Direktorium die Rolle einer Schwesterrepublik zugedacht worden. 5 Seit Beginn des Jahres 1798 wurde das Gebiet der heutigen Schweiz auf Grund der neuen Situation Frankreichs von den Folgen der Französischen Revolution 216 C Die Helvetik (1798-1803) 6 Holger Böning, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798-1803), Zürich 1998, 65-67. 7 Ebd., 106-112. 8 Holenstein, Weg, 514-517; Böning, Traum, 153-159. unmittelbar erfasst. Nachdem 1791 die Unabhängigkeit der Waadt scheiterte, beziehungsweise von der patrizischen Regierung Berns mit militärischer Ge‐ walt noch niedergeschlagen werden konnte, 6 gelang es den revolutionären Bürgern der Waadtländer Seegemeinden angesichts der gesamteidgenössischen Entwicklungen und der Protektion Frankreichs, die Unabhängigkeit auszurufen. Die Berner Regierung ließ es vorerst zu keiner militärischen Eskalation mit der französischen Armee kommen und zog sich aus der Waadt zurück. 7 Gleichzeitig versuchten die Regenten das politisch aufgeheizte Klima in der verbleibenden Bevölkerung in letzter Sekunde abzukühlen, indem sie Konzessionen eingingen: Die Kooptation von 52 neuen Regierungsmitgliedern aus Landstädten und Landschaften sollte deren politische Partizipation verstärken und dadurch zurückgesetzte Gemüter beruhigen. Gleichzeitig wollte die alte Regierung mit dieser Maßnahme die politische Legitimation der eigenen Regierungsweise breiter abstützen. Die derart erweiterte Versammlung erließ bei ihrem ersten Zusammenkommen eine konstitutionelle Ordnung, die es theoretisch allen Bürgern des Territoriums erlaubt hätte, politische Ämter in der Verwaltung oder Regierung zu besetzen. Doch zwischenzeitlich hatten sich die militärischen Verhältnisse Berns gegenüber Frankreich zunehmend verschlechtert. Die Frage, wie man auf die äußere französische Bedrohung reagieren sollte, löste wach‐ senden Zwist zwischen militärischer und politischer Führung aus und förderte Auflösungserscheinungen im eigenen Heer. Unter diesen Umständen kam es am 4. März 1798 zur Abdankung der alten Herrschaft, der eine provisorische Regierung folgte. Diese bestand aus Repräsentanten von Stadt und Land, konnte den Angriff der Franzosen aber auch nicht mehr abwenden. Am 5. März überreichte Berns provisorische Regierung dem französischen Direktorium die Kapitulationsakte, woraufhin französische Soldaten die Stadt Bern besetzten. 8 Historiographische Beurteilung Die Helvetische Revolution wird sowohl in liberaler als auch konservativer poli‐ tischer Tradition gemeinhin als abruptes Ende des Ancien Régimes beschrieben. Dabei unterscheidet sich die Bewertung des Vor- und Nachher mehr oder weniger ausgeprägt. Für das eine Lager ist die Helvetische Republik der politi‐ sche Bezugspunkt eines lang ersehnten demokratischen Konstitutionalismus. Er scheidet in dieser Auffassung gewissermaßen die politisch unaufgeklärte Frühe Neuzeit von der progressiven Moderne. Dadurch wird die Helvetik 217 C Die Helvetik (1798-1803) 9 Daniel Schläppi (Hrsg.), Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, Basel 2009, 10; Holenstein, Helvetik, 83-85; Andreas Würgler, Grenzen des Zumutbaren? Revolution und Okkupation als Erfahrung und Erinnerung, in: Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798-1803), hrsg. v. Andreas Würgler, Basel 2011, 9-27, 9-10. 10 Der von Daniel Schläppi herausgegebene Sammelband und sein Aufsatz Daniel Schläppi, Die Helvetik (1798-1803). Neue Ansätze zum Verhältnis von Wandel und Kon‐ tinuität anhand von Sondierbohrungen an einer paradigmatischen Epochenschwelle, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. v. Daniel Schläppi, Basel 2009, 9-24; darin setzen sich eingehend mit Kontinuitäten und Transformationen im Rahmen der Helvetik auseinander. Im Sinne einer dialektischen Rückstossbewegung werden hier reformabsolutistische Linien aus dem Ancien Régime aufgegriffen und in die Helvetik weitergesponnen. Dadurch fällt die Gewichtung der Aufsätze eher auf die fortgeführten Praktiken aus dem Ancien Régime, denn auf die klaren Brüche; André Holenstein charakterisiert das politische System der Helvetik beispielsweise im Titel seines Aufsatzes weniger als Zäsur, sondern tendenziell als reformabsolutistische Republik. Holenstein, Helvetik. 11 Daniel Schläppi verweist auf die Pfarrstochter Marianne Müslin, deren antirevolutio‐ nären und moralisierenden Vater wir bereits im ersten Teil vernommen haben. Sie berichtet diesem in einem Brief ihre negativen Einschätzungen der anarchischen Zustände aus der Ferne nach Bern. Zurück in der Stadt, kommt sie durch die Einquartie‐ rung eines französischen Offiziers in direkte Berührung mit den unmittelbaren Folgen der Revolution, die sie aufgrund der einquartierten Person, die sich sehr angenehm aufzuführen scheint, gar nicht mehr so kritisch wahrnimmt. Schläppi, Helvetik, 9-11; vgl. Würgler, Grenzen, 9-10. 12 Würgler, Grenzen, 17. zur undurchlässigen zeitlich-ideologischen Grenze zwischen absolutistischem Unrechtsregime und idealisiertem demokratisch-liberalem Nationalstaat. Für das andere Lager stellt sie das Ende einer gottgefälligen und - nationalistisch interpretiert - selbstbestimmten, föderalistischen Ordnung dar, worauf Unruhe, Zerstörung, Armut, vor allem aber Abhängigkeit von der französischen Groß‐ macht und Unfreiheit unter Napoleon folgten. 9 Zwischen diesen beiden politischen Polen existiert inzwischen ein breites Spektrum von historischen Interpretationen, die die revolutionsähnlichen Ent‐ wicklungen im ungefähren Gebiet der heutigen Schweiz sehr viel differenzierter betrachten. 10 Die Helvetische Revolution war demnach kein ahistorisches Offen‐ barungsereignis ohne Vorgeschichte. Sie kannte zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Gewinner und Verlierer. Sie erfuhr daher voneinander ab‐ weichende Wahrnehmungen und Interpretationen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und verschiedene Facetten der Revolution betreffend sogar in einer Person zusammenfallen konnten. 11 Nichtsdestotrotz bleibt es eine Tatsache, dass vor allem die französische Besatzung, insbesondere in Bern, 12 für breite Bevöl‐ kerungsschichten massive materielle Einschränkungen und Entbehrungen mit 218 C Die Helvetik (1798-1803) 13 Vergleiche die Aufsätze im Sammelband von Andreas Würgler (Hrsg.), Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798-1803), Basel 2011; besonders im Hinblick auf die körperliche Gewalter‐ fahrung der Berner Bevölkerung vgl. Philippe Oggier, Übergriffe. Körperliche Gewalt französischer Besatzungstruppen gegen Berner Zivilpersonen 1798-1803, in: Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798-1803), hrsg. v. Andreas Würgler, Basel 2011, 67-83. 14 Sandro Guzzi-Heeb, Marignano, Mythen, fremde Richter. Gastkommentar 2015. www. nzz.ch/ meinung/ marignano-mythen-fremde-richter-1.18522873 (26.08.2021). 15 Ebd. 16 Andreas Fankhauser, Art. Helvetische Republik 2011. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D9 797.php (26.08.2021). 17 Andreas Würgler, Existenzielle Not oder Menschenrecht? Argumente in Bittschriften während der Helvetischen Republik, in: Menschenrechte und moderne Verfassung. Die Schweiz im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Akten des Kolloquiums an der Universität Freiburg, Schweiz, 18-20 November 2010, hrsg. v. Silvia Arlettaz/ René Pahud de Mortanges/ Daniel Tröhler/ Andreas Würgler/ Simone Zurbuchen, Genf 2012, 297. sich brachte. Jüngst wurden auch die Gewalterfahrungen und die erschütternde Wahrnehmung der militärischen Präsenz unter französischer Okkupation von der Geschichtswissenschaft stärker thematisiert. 13 Gleichwohl dürfte der Lausanner Historiker Sandro Guzzi-Heeb in seiner Einordnung der historischen Realität zwischen den Polen richtig liegen, wenn er in Bezug auf die grundlegenden politischen Entwicklungen schreibt, dass nicht die „Landbevölkerung die ‚gnädigen Herren‘ des Ancien Régime“ im Alleingang gestürzt hätte, sondern dass dies mithilfe der Interventionen des französischen Direktoriums und des militärischen Drucks Napoleons geschehen sei. 14 Ange‐ sichts dieser Ambiguität - so empfiehlt der Historiker seiner Zunft - sollten wir den Franzosen weder „Altäre errichten“, noch „so tun, wie wenn sie für ‚die Schweiz‘ das absolute Übel gewesen wären“. 15 In dieser Linie argumentiert auch Andreas Fankhauser, wenn er zu dem Schluss kommt, dass die Franzosen die Helvetische Revolution „gezielt“ gefördert, „ausgelöst“ und „abgesichert“ hätten. 16 Zusammengefasst ist die historische Beurteilung der Helvetischen Republik nach wie vor ein kontroverses Unterfangen. Die Republik war nicht zuletzt aufgrund der materiellen Interessen der Besatzer und der daraus resul‐ tierenden Reparationszahlungen permanent unterfinanziert. Außerdem reichte die kurze Zeit des Bestehens nicht aus, um das politische System grundlegend zu verändern. Viele der ideellen und revolutionären Ansätze scheiterten deshalb in der praktischen Umsetzung. 17 219 C Die Helvetik (1798-1803) 18 Dieses Phänomen dürfte für den sehr kurzen Zeitraum auch in anderen Kantonen in ähnlicher Weise nachzuweisen sein. 19 Pfister, Strom, 108-109; Christian Pfister, Der „Baby Peak“ der Helvetik. Fragen und Ergebnisse zur Bevölkerungsgeschichte der Periode 1760-1850, in: Sozioökonomische Strukturen - Frauengeschichte/ Geschlechtergeschichte. Structures sociales et écono‐ miques - histoire des femmes, hrsg. v. Christian Simon, Basel 1997, 59-66. 20 Hans-Rudolf Burri, Die Bevölkerung Luzerns im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Demographie und Schichtung einer Schweizer Stadt im Ancien Régime, Luzern 1975, 56. Eheschließung und Sexualität Im Bereich der Eheschließung und der gelebten Sexualität können Histo‐ riker*innen wohlbegründet annehmen, dass die Helvetik zumindest während ihrer Anfangsphase eine grundlegend neue Erfahrung für viele der AkteurInnen darstellte, deren eigensinnige Ehebegehren wir im vorausgegangenen Teil kennengelernt haben. Diese Annahme lässt sich sowohl auf Basis mitgeteilter Erfahrungen als auch auf Grundlage kurzfristiger demographischer Trends erhärten. Für den helvetischen Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert lässt sich jedenfalls für Bern ein demographisch präzedenzloses Phänomen quantifiziert nachweisen. 18 Denn im Jahr unmittelbar nach der Ausrufung der Helvetischen Republik wurden über 1000 Taufen mehr verzeichnet als im Jahr zuvor und danach. Dieser Wert entspricht einer Steigerung von beinahe 12 %. Der bereits viel zitierte Berner Sozialhistoriker Christian Pfister spricht in Bezug auf diese Erscheinung vom „‚Baby Peak‘ der Helvetik“. Die Zahl der Taufen kann nach Ansicht namhafter Sozialhistoriker eindeutig als Indikator für eine gesteigerte Fertilität gewertet werden, weil aufgrund der herrschenden religiösen Überzeu‐ gungen zu dieser Zeit praktisch alle neugeborenen Kinder getauft wurden. Die Zahl der ungetauften Ausnahmen dürfte verschwindend gering gewesen sein. Die Höchstzahl der Geburten wurde im Jahr 1799 erreicht, also direkt im ersten Jahr nach der Installation der Republik. Kurz: Die Menschen hatten mehr Sex während der Anfangsphase der Helvetischen Republik oder waren in dieser Zeit zumindest fruchtbarer. 19 Dieselbe Entwicklung hat Hans-Rudolf Burri für die Stadt Luzern in noch drastischerem Ausmaß ausgewiesen - die Zunahme der Taufen betrug dort 40 %. Er konnte zudem aufzeigen, dass 1799 und 1800 23 % mehr Ehen geschlossen wurden als im vorausgehenden Jahr. 20 Während sich im Kanton Bern zwischen 1765 und 1796 die Zahl der Eheschließungen, außer in Teuerungsjahren, kaum verändert hatte, stieg sie auch hier zu Beginn der Helvetik sprunghaft an und korrelierte mit dem rasanten Anstieg und Abfall von Geburten in dieser Zeit. Stiegen die Preise für Lebensmittel und andere Güter, wurden geplante Eheschließungen aufgeschoben, bis günstigere Zeiten folgten. Nach 220 C Die Helvetik (1798-1803) 21 Pfister, Strom, 91-93; 103-106. 22 Ebd., 109. 23 Ebd. 24 Verheiratete Männer konnten nicht für den Kriegsdienst eingezogen werden; Burri, Bevölkerung, 56. 25 Pfister, „Baby Peak“, 65. 26 Thompson, Moralische Ökonomie, 67-69. 27 Sutter, Act, 188-189. 1800 nahm in Bern die Zahl der Eheschließungen pro 1000 Einwohner bis zur Jahrhundertmitte sogar beträchtlich ab. 21 Die heftigen demographischen Ausschläge während der ausgesprochen kurzen Phase der Helvetik sind folglich erklärungsbedürftig. Was bewirkte, dass die Leute zu Beginn der revolutionären Phase mehr Geschlechtsverkehr hatten, respektive fruchtbarer wurden und öfters heirateten? Pfister ist der Meinung, dass psychologische Variablen zur Erklärung dieser Phänomene herangezogen werden müssen. Für ihn lässt sich dieses Phänomen der Helvetik mit den demographischen Mustern nach Pestepidemien verglei‐ chen. Er interpretiert es deshalb auf kultureller Ebene in Anlehnung an Heinrich Richard Schmidts These für das ausgehende 18. Jahrhundert als „vorübergehende Lockerung der Sitten“. 22 Die weitere Erklärung Pfisters ist dann aber quasi materialistischer Natur: Die vielen Allmendteilungen sollen die materiellen Voraussetzungen für die Gründung eines eigenen Haushalts der unteren Schichten zum Teil massiv verbessert haben, wodurch sich deren „zurückgestaute Sinneslust“ Bahn brechen konnte. 23 Der spekulative Charakter dieser psychologistischen Erklärungen des Sozialhistorikers offenbart sich, wenn Burri diesen Ausschlag der Eheschließungsrate ebenfalls psychologisch, aber als „Scheu vor Kriegsdiensten“ interpretiert. 24 Und so warnt Pfister selbst vor vorschnellen generalisierenden Schlüssen und möchte seine Erklärung lediglich als Hypothese verstanden wissen. 25 Sicherlich sollte die Interpretation des Phänomens des plötzlichen Gebur‐ tenanstiegs bei den handelnden Subjekten ansetzen. Allerdings geraten die vorgestellten psychologistischen Erklärungsversuche in die Nähe jener histo‐ rischen Darstellungen, denen Edward Palmer Thompson vorwirft, das Han‐ deln Subalterner vorschnell als „spasmodische“ Reflexe von instinktiv reagie‐ renden AkteurInnen ohne Affektkontrolle zu bewerten. 26 Daneben machte die zwischenzeitliche Abschaffung der Einzugsgelder für auswärtige Bräute, die weiter unten noch thematisiert wird, das Heiraten in vielen Fällen schlicht erschwinglicher - was sowohl bei Pfister als auch Burri als Erklärungsansatz für den Anstieg vergessen geht. 27 Daran zeigt sich, dass die Erklärung des demographischen Ausschlags ein höheres Maß an Differenziertheit erfordert, 221 C Die Helvetik (1798-1803) damit der dahinterliegende Eigensinn, die moralische Ökonomie und die Deu‐ tungsmuster der AkteurInnen adäquat eingefangen werden können. Daher beleuchtet das erste Kapitel, wie die revolutionären Ereignisse den normativen Rahmen beeinflussten, der den Bereich der Eheschließung und der Sexualität im Ancien Régime reguliert hatte. Im zweiten Kapitel gilt die Aufmerksamkeit dann wieder den Motiven, Taktiken und Deutungsmustern der ehewilligen AkteurInnen unter veränderten Vorzeichen. Abschließend wird auch in diesem Teil die praktische Normierung beziehungsweise Deregulierung durch die verantwortlichen Instanzen thematisiert. 222 C Die Helvetik (1798-1803) 28 Böning, Traum, 158. 29 Würgler, Not, 297. 30 Holenstein, Beschleunigung, 355. 31 Peter F. Kopp, Art. Peter Ochs 2009. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D11674.php (26.08.2021). 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 1.1 Helvetische Verfassung Als die Franzosen kampf- und widerstandslos in der Waadt einmarschierten und später die Stadt Bern, das alte Machtzentrum des Territoriums, besetzten, bedeutete das auch gleichzeitig das Ende der alten, dreizehnörtigen Eidgenos‐ senschaft. 28 Weniger als einen Monat nach der Abdankung der Berner Regierung kam es am 12. April zur Ausrufung der ‚einen und unteilbaren‘ Helvetischen Republik. Diese war mit einer einheitlichen Konstitution ausgestattet, die in großen Teilen der heutigen Schweiz formell zum ersten Mal die Grundsätze moderner Menschenrechte, der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung garantierten sollte. 29 Die helvetische Verfassung organisierte die Republik als nationalen Einheits‐ staat mit einer Legislative, die nach einem spezifischen Repräsentationssystem in einem patriarchalen Wahlsystem besetzt wurde. Gleichzeitig sollte die zen‐ trale Staatsgewalt durch die neue Verfassung erheblich gestärkt werden und einen effizienten, das heißt direkten Zugriff auf die Bürger erlauben und legiti‐ mieren. Zu diesem Zweck stattete die Verfassung den unteilbaren Einheitsstaat mit einer Exekutive aus, die eine sehr große Machtfülle besaß und der gegenüber die parlamentarischen Gestaltungsspielräume in vielerlei Hinsicht begrenzt waren. 30 Die Konstitution wurde von Peter Ochs, einem reformorientierten Basler Aufklärer, entworfen. Sein Entwurf fußte auf dem Vorbild der franzö‐ sischen Direktorialverfassung von 1795 und erfuhr durch das französische Direktorium dennoch maßgebliche Anpassungen. 31 Die Grenzen des alten Kantons Bern wurden deutlich enger gezogen. Das vorher größte Territorium in der Eidgenossenschaft wurde durch die Neugründungen der helvetischen Kantone Léman (entspricht ungefähr dem heutigen Kanton Waadt), Aargau und Oberland (das mit der Mediationsakte von 1803 wieder mit Bern vereint wurde) 223 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 32 Christian Pfister, Territoriale Entwicklung 1796-1995, in: Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern, 1750-1995. Umwelt, Bevölkerung, Wirtschaft, Politik, hrsg. v. Christian Pfister/ Hans-Rudolf Egli, Bern 1998, 34-35, 34; es darf hier die Terminologie des Raubs verwendet werden, weil es die Absicht des französischen Direktoriums war, den ehemals patrizischen und so mächtigen Stand Bern gezielt zu schwächen und zu „demütigen“. In Zeiten der aufkommenden Bevölkerungspolitik entsprach dieser von Frankreich bestimmte Bevölkerungsverlust durchaus einer Art Raub. Vgl. Hans-Peter Höhener, Zentralistische oder föderalistische Schweiz? Die Gebietseinteilung in der Helvetik 1798 bis 1803 und ihre Darstellung in Karten, in: Cartographica Helvetica. Fachzeitschrift für Kartengeschichte 18 (1998), 21-31, 23. 33 André Schluchter, Die Bevölkerung der Schweiz um 1800. Eine Auswertung der Helve‐ tischen Volkszählung von 1798 und anderer zeitnaher Erhebungen, mit Einbezug der Bevölkerungsentwicklung bis 1980, Bern 1988, 18. 34 Höhener, Schweiz, 21; Beat Junker, Art. Bern (Kanton). Der Staat im 19. und 20. Jahr‐ hundert 2016. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D7383.php (26.08.2021); Beat Junker, Ge‐ schichte des Kantons Bern seit 1798, Bd. 1. Helvetik, Mediation, Restauration, 1798- 1830, 4 Bde., Bern 1982, 17-18. 35 Andreas Fankhauser, Neue politische Strukturen, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahr‐ hundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 531-534, 534. 36 Höhener, Schweiz, 24. um fast zwei Drittel der historisch gewachsenen Fläche verkleinert. Der Kanton wurde um 58 % seiner Bevölkerung, jener in Teilen des bevölkerungspolitischen Diskurses so wertvollen Ressource, reduziert, beziehungsweise ‚beraubt‘. 32 Bern zählte um 1800 in seinem Kantonsgebiet zwar immer noch 181‘055 Einwohner und war damit auch nach der Gebietsverkleinerung der bevölkerungsreichste Kanton. 33 Dennoch wurde der ehemals standesbewusste Kanton mit der neuen Gebietseinteilung und den damit verbundenen Gebietsabtrennungen verhält‐ nismäßig am härtesten bestraft. 34 Wie Andreas Fankhauser schreibt, wurde das alte Patriziat Berns in den Augen von Patrioten und der französischen Besatzungsmacht vielfach als der Hauptgegner der helvetischen Ideen gesehen. Dieser negativen Haltung gegenüber dem vormals mächtigen Bern wurde in der helvetischen Gebietseinteilung entschieden Ausdruck verliehen. Durch die neue Gebietsaufteilung ließ sich in der Vorstellung der Kritiker der ehemalige Stadtstaat und dessen ständische Führungsschicht effektiv schwächen. 35 Bern wurde in 15 Distrikte eingeteilt. 36 Darin wählten nun auf der Gemeinde‐ ebene Aktivbürger, alle einheimischen Männer ab einem Alter von 20 Jahren, die seit mindestens fünf Jahren in einer Gemeinde wohnhaft waren, die kantonalen Wahlmänner, was im internationalen Vergleich außerordentlich demokratisch anmutet. Diese wiederum bestimmten pro Kanton die vier Abgeordneten für den Senat und die acht Mitglieder für den Großen Rat, die beiden Kammern des Parlaments. Um diese Ämter bekleiden zu können musste man männlich, min‐ 224 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 37 Die erste helvetische Verfassung zitiert nach: Karl Hilty, Oeffentliche Vorlesungen über die Helvetik, Bern 1878, 47. 38 Brigitte Schnegg und Christian Simon resümieren in ihrem Aufsatz, dass die Entwick‐ lungen in der Helvetik sehr oft geradezu nachteilige Auswirkungen für die Rechte der Frauen gehabt und diese sprachlos gemacht haben. Brigitte Schnegg/ Christian Simon, Frauen in der Helvetik. Die Helvetik in frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Überlegungen zu einem brachliegenden Forschungsgebiet, in: Sozioöko‐ nomische Strukturen - Frauengeschichte/ Geschlechtergeschichte. Structures sociales et économiques - histoire des femmes, hrsg. v. Christian Simon, Basel 1997, 131-149, 134-135, 137, 148. 39 Fankhauser, Art. Helvetische Republik. destens 30 Jahre alt und verheiratet oder verwitwet sein, 37 was die proklamierte Gleichheit sogleich in patriarchaler Weise entscheidend einschränkte. 38 Die Wahlmänner entsandten außerdem pro Kanton einen Richter an den Obersten Gerichtshof. Neben den beiden Legislativkammern und dem Gericht existierte das fünfköpfige, sogenannte ‚Vollziehungsdirektorium‘, das vom Parlament gewählt wurde. Das Direktorium wurde mit verheirateten oder verwitweten Männern ab dem 40. Altersjahr besetzt. Es war mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattet, auch mit gesetzgeberischen, was einer konsequenten Gewalten‐ trennung widersprach. Es bestimmte anfänglich die vier, später die sechs, Minister der Zentralverwaltung, die ihm unterstellt waren. Mit den ihnen verpflichteten Regierungsstatthaltern in den Kantonen, den Distriktstatthaltern und den Agenten in den Gemeinden übten sie theoretisch die Kontrolle über das ganze Land aus. Dadurch wurden die Kantone zu Verwaltungseinheiten ohne eigene Legislative herabgesetzt. Die Kantons- und Distriktgerichte verfügten außerdem nur über verhältnismäßig beschränkte Kompetenzen, ganz besonders in Bezug auf die vormals prekären Eheschließungen, wie noch zu zeigen sein wird. 39 Die ideologische Stoßrichtung der Verfassung wird schon im ersten ‚Haupt‐ grundsatz‘ ersichtlich: Dieser wendet sich gegen den Partikularismus von „kleinlichen Lokalitäten und einheimischen Vorurtheilen“, der „auf ’s Gera‐ thewohl leitete“, also keinen universellen, aufgeklärt-rationalen Grundsätzen folgte, sondern ständischen Interessen gehorchte. Dieser Grundsatz erscheint in Verbindung mit dem achten Grundsatz - „[e]s gibt keine erbliche Gewalt, Rang, noch Ehrentitel“ - für die untersuchte Thematik besonders interessant. Freiheit und Gleichheit waren in der Konzeption der Verfassung Naturrechte. „Die natür‐ liche Freiheit des Menschen [war jetzt] unveräußerlich“ und folglich zwischen allen Menschen gleich. Es wurde ideell ein „System der Einheit und der Gleich‐ heit“ entworfen - wohlgemerkt ein nach wie vor sehr androzentristisches, denn Frauen waren in der politischen Arena nicht vorgesehen. Dieses System richtete 225 1.1 Helvetische Verfassung 40 Alle Zitate aus der ersten helvetischen Verfassung zitiert nach: Hilty, Vorlesungen, 731-741. 41 Holenstein, Helvetik, 85-87. 42 Andreas Fankhauser, Die „Staats-Machine“ der Helvetischen Republik. Institutionelle und personelle Kontinuität innerhalb eines revolutionären Verwaltungsapparats, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. v. Daniel Schläppi, Basel 2009, 65-82; Holenstein, Beschleunigung, 357. 43 Vgl. den Beitrag von Markus Mattmüller in: Schluchter, Bevölkerung, 12. sich gegen anscheinend irrationale Vorurteile und geburtsständisch-religiös legitimierte Vorrechte und lehnte die daraus resultierende Herrschaft ab. Wie die Populationisten der bernischen Oekonomischen Gesellschaft zuvor, stellte diese Verfassung den „allgemeinen Nutzen“ und das „Glück der Nation“ in den Mittelpunkt. Die Bürger dienten fortan keiner aristokratischen Obrigkeit gnädiger Herren mehr, also einem spezifischen Stand, der von Gottes Gnaden regierte, sondern dem von Männern zentralistisch regierten Staat, verstanden als „Vaterland“. Auf dasselbe sollten sie mit zwanzig Jahren den Bürgereid leisten, um ihre Treue zu bezeugen. Im 25. Artikel kommt außerdem die militärische Bedeutung der Bevölkerung zum Ausdruck, die wir im Rahmen der bevölkerungspolitischen Debatten im Ancien Régime kennengelernt haben: „Jeder Bürger ist ein geborner [sic] des Vaterlandes“, der „im Namen des Vaterlandes [bewaffnet]“ wurde. Die Bevölkerung stellte folglich nicht nur eine ökonomische Ressource dar, sondern repräsentierte auch das Potential militärischer Stärke. 40 Den Geist der helvetischen Verfassung resümierend, schreibt André Holenstein, dass die dafür verantwortlichen reformorientierten Köpfe maßgeblich „vom Reformdiskurs in den spätaufklärerischen Sozietäten“ beeinflusst waren. 41 1.2 Volkszählung Die Republik sollte nicht länger auf das willkürliche Geratewohl hin, sondern basierend auf rechnerischer Genauigkeit und Effizienz regiert werden. 42 Dazu waren im fortschrittsgläubigen und zukunftsorientierten Geist der führenden helvetischen Köpfe exakte Bevölkerungszahlen notwendig. Früh richteten sich Privatpersonen - unter anderen Johann Caspar Hirzel, bezeichnenderweise Zürcher Stadtarzt, 43 also ein Gebildeter, der sich von Berufs wegen mit der Gesundheit der Bevölkerung befasste -, das Parlament, kantonale Verwaltungs‐ kammern und das Direktorium mit Forderungen nach akkuraten Bevölkerungs‐ zahlen an den ersten helvetischen Innenminister Albrecht Rengger. Dieser 226 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 44 Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der helvetischen Republik (ASHR) (1798- 1803), hrsg. v. Johannes Strickler, 16 Bde., Bern 1886-1966, Bd. 11, Nr. 372, 105. 45 Fankhauser, Art. Helvetische Republik; Werner Haug, Art. Volkszählung 2013. www. hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D7984.php (26.08.2021); vgl. zu ähnlichen Tendenzen in den süddeutschen Reformstaaten unter napoleonischer Vorherrschaft das Beispiel Baden in Eibach, Staat, Kapitel IV.1. Erfassung von Land und Leuten durch Ortsbereisungen und Statistik, 139-145. 46 ASHR, Bd. 11, Nr. 371, 104; die helvetische Regierung betrachtete die „Sorge um die Gesundheit von Mensch und Tier“, also die Biopolitik, eindeutig als öffentliche Aufgabe, auch wenn es aufgrund finanzieller Engpässe unter französischer Besatzung in der Praxis lediglich zur Erfassung der bestehenden Hilfsquellen und zur mehr oder weniger umfassenden Aufsicht über die bereits existierenden wohltätigen Institutionen reichte. Siehe dazu Guido Hunziker/ Andreas Fankhauser/ Niklaus Bartlome, Einleitung, in: Das Zentralarchiv der Helvetischen Republik, Bd. 1, hrsg. v. Guido Hunziker/ Andreas Fankhauser/ Niklaus Bartlome, 2 Bde., Bern 1990-1992, 13-29, 15. 47 Markus Mattmüller mit seinem Beitrag in: Schluchter, Bevölkerung, 12-13. vermerkte die Aufforderung in einem Schreiben an das Direktorium mit den folgenden Worten: „Ensuite d’un message du Grand Conseil vous m’avez chargé de rassembler des tableaux exacts de la population tant des Cantons que des districts et des communes, avec les tabelles de régions, les cartes et les dessins topographiques qui se trouvent dans les divers Cantons.“ 44 Man wünschte sich die Zahlen aller Verwaltungsebenen offensichtlich als ra‐ tionale rechnerische Grundlage für die verschiedenen repräsentativen Wahlge‐ schäfte, militärischen Zwecke, fiskalischen Belange, territorialen Aufteilungen und wirtschaftlichen Reformen. 45 Aber auch aus biopolitischen Gründen, also um „von Jahr zu Jahr über den Gesundheits- oder Krankheitszustand […] Aufschluss“ zu erhalten, waren demographische Kennzahlen nun notwendig. 46 Die Bevölkerungszahlen wurden zudem benötigt, um die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat, also gewissermaßen den Patriotismus, messbar zu ma‐ chen. Am 12. Juli 1798 wurde von den Räten beschlossen, dass jeder Bürger mit einem Eid seine Loyalität gegenüber der Republik bezeugen sollte. Nur wenn man verlässliche Bevölkerungszahlen hatte, konnte die Regierung allerdings herausfinden, wie viele Bürger den Eid auf die Helvetik tatsächlich schworen und wie viele ihn verweigerten. 47 Der helvetische Innenminister Albrecht Rengger ordnete 1798 die Volkszäh‐ lung an, die zum ersten Mal die gesamte damalige schweizerische, respektive eben helvetische Bevölkerung erfasste. Sie demonstrierte, nach welchen Prinzi‐ pien die neue Verwaltung nun Politik betrieb: Auf der Grundlage existierender statistischer Methoden erhob das Direktorium mit der Hilfe der Agenten und 227 1.2 Volkszählung 48 Holenstein, Beschleunigung, 312; zur Durchführung der Zählung im Konkreten: Schluchter, Bevölkerung, 15. 49 Hunziker/ Fankhauser/ Bartlome, Einleitung, 15. 50 Holenstein, Helvetik, 103. 51 Haug, Art. Volkszählung. 52 Hunziker/ Fankhauser/ Bartlome, Einleitung, 13. 53 Holenstein, Beschleunigung, 357. der Geistlichen vor Ort mittels einer Enquête für damalige Verhältnisse detail‐ lierte Bevölkerungsdaten, auf deren Basis eine planvolle, rational an Fakten orientierte Verwaltung aufgebaut werden sollte. 48 Das statistische Wissen wollte die Regierung nutzen, um die volkswirtschaftliche Leistung zu steigern. Sie beabsichtigte über den dadurch generierten Wohlstand die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. 49 Man knüpfte in der helvetischen Verwaltung bevölkerungspolitisch da an, woran die statistisch operierenden Waadtländer Pfarrer bereits in den 1760er Jahren gearbeitet hatten und was von Foucault als zentraler Übergang in der Verwaltung der Bevölkerung markiert und als Beginn der Biopolitik benannt wurde. Sowohl unter der alten als auch unter der neuen Herrschaft war die aufklärerische Vernunft zumindest ideell zum höchsten Prinzip sämtlicher Reformen gemacht worden. Denn auch im Ancien Régime war es bereits zur „Anwendung methodischer und wissenschaftlich-statistischer Verfahren in der Planung und Realisierung staatlicher Politik“ gekommen. 50 Was zuvor von der Oekonomischen Gesellschaft angeregt und von Berns Regie‐ rung als Zählung durchgeführt, in der machtpolitischen Konsequenz allerdings wegen der möglichen Auswirkungen ohne praktische Bezugnahme wieder ins Geheime zurückgedrängt worden war - es sei hier an den Fall Muret erinnert -, wurde nun flächendeckend für ein vielfach größeres Gebiet durchgeführt. Für zahlreiche Regionen existierten zuvor überhaupt keine verlässlichen Zahlen. 51 Die Berner Volkszählung von 1764 und andere statistische Erhebungen in wei‐ teren eidgenössischen Kantonen zu unterschiedlichen Zeitpunkten waren das direkte Ergebnis der gezielten Einflussnahme verschiedener Sozietäten auf die Regierungen gewesen. Sie waren insofern gewissermaßen von außen angeregt. Während der Helvetik ging ihre fortschrittsoptimistische und wachstumsorien‐ tierte Gesinnung über die reformorientierte Verwaltungselite in die Mitte der helvetischen Regierung ein, die auch in diesem Punkt aufklärerische Theorien in die Praxis umzusetzen versuchte. 52 Und so erscheint die Helvetische Republik im Bereich der Bevölkerungspolitik „als Vollenderin und Umsetzerin von Ideen und Anregungen aus den Reformdiskursen des späten Ancien Régime“. 53 Die Reformbewegung stand dabei nun nicht mehr außerhalb der Regierung oder bildete lediglich einen Teil an deren Rand, der gegen interne Widerstände 228 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 54 Simon, Hintergründe, 204-205. 55 Die Distriktschreiberei Aeschi, quasi das Sekretariat des dortigen Distriktgerichts, gab die formalen Veränderungen, die das mit sich zog, in einem ihrer Gerichtsprotokolle zusammenfassend sehr verständlich wieder: „Unter der vormaligen Verfassung waren in Chorgerichtlichen Fällen drey Instanzen, die untern Chorgerichte auf dem Land, und das Obere Chorgericht in Bern, von dessen Aussprüchen mann in gewissen fällen an den täglichen Rath rekurieren konnte; die Constitution aber erkennt nur 2 Civilinstanzen, die Distriktsgerichte und das Cantongericht.“ StABE, B III 840. Ehegerichts-Protokoll der Distriktsgerichtschreiberei Aeschi (1798-1803), 15. 56 Siffert, Verlobung, 62. 57 Hafner, Mischehe, 5; Hans Staehelin, Die Civilgesetzgebung der Helvetik, Bern 1931, 179-202. einer aus Gottes Gnaden regierenden Herrschaft ankämpfen musste. 54 Sie wurde in der Helvetik mittelfristig zum ideell bestimmenden Zentrum einer im Selbstverständnis reformorientierten Regierung. Das statistische Wissen diente nicht mehr dem Zweck der Erhaltung von geburtsständischen Privilegien und war folglich von der Gunst göttlich legitimierter, gnädiger Herren unabhängig. 1.3 Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte Mit der Einführung der Verfassung wurden auch sämtliche lokalen Chorgerichte abgeschafft und mit ihnen das Berner Oberchorgericht aufgelöst. Während unter dem Ancien Régime drei Gerichtsinstanzen, also die Chorgerichte in den Gemeinden, das Oberchorgericht und als oberste Appellationsinstanz die Räte, existiert hatten, anerkannte die neue Verfassung nur zwei Zivilinstanzen: die Distriktgerichte und das Kantonsgericht. 55 Außerdem wurden damit die Ehe‐ angelegenheiten einer ausschließlich weltlichen Gerichtsbarkeit übertragen. 56 Diese Entwicklung folgte eindeutig der Logik des sechsten Paragraphen der neuen Verfassung, der formell die Religionsfreiheit garantierte und den konfes‐ sionslosen Staat begründete. Zur förmlichen Erklärung der Ehe als bürgerlichem Vertrag, wie in Artikel 7 der französischen Konstitution, kam es nie. In der Helvetischen Republik wurden die Ehen weiterhin von Pfarrern eingesegnet und registriert. Dennoch lässt sich an den Erlassen im Gebiet des Eherechts eine Entwicklung ablesen, die unverkennbar zu einer Säkularisierung des Ehebegriffs tendierte. 57 Die praktischen Probleme, die sich daraus für die vormals mächtigen ‚Dorf‐ aristokraten‘ der Gemeinden ergaben, fassten der Distriktstatthalter und die Distriktrichter von Steffisburg in einer Bittschrift um die Wiedereinsetzung der 229 1.3 Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte 58 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 547-548. 59 Aeberhardt, Mitteilungen, 117. 60 Hubler, Art. Sittengerichte. 61 Dadurch kam es graduell auch zu einer Abnahme des Prinzips „‚Vergesellschaftung unter Anwesenden‘“ und zu einer Zunahme von „medienvermittelter Kommunikation“. Schlögl, Anwesende, 13. 62 Die erste helvetische Verfassung zitiert nach Hilty, Vorlesungen, 735. Chorgerichte zusammen. Darin baten sie schon 1798 darum, Ehesachen wieder auf der lokalen Ebene der Munizipalität behandeln zu dürfen: „Die ConsistorialSachen, so vormahls den UnterChorgerichten, seit der Revolution aber den Munizipalitäten obgelegen, werden nur untersucht, und das Befindende dem Distrikt Gericht oder dem Cantongericht in Bern einberichtet, keines wegs wird von selbigem über Ehe und paternitäts Sachen geurtheilt. Diese Informationen tragen nichts ein, und sollten aus folgenden Gründen den Munizipalitäten noch ferners obliegen. Sind die Distrikten groß, und die wenigsten Gemeinden mit einem Gerichtsbeamteten versehen, also daß eine schwangere Person ihre Leibesfrucht verbergen gebären oder gar verderben könnte, wenn niemand in ihrer Gemeind sich befände, deren Pflicht es erforderte über dergleichen Sachen zu wachen. Hingegen sind die Munizipalbeamteten verhältnissmäßig in den Gemeinden vertheilt auf solches genaue Acht zu halten. 2. Wenn das Gericht sich mit allen Ehestreitigkeiten und Paternitätshändlen seines weitläufigen Bezirks abgeben müßte, so würde anstatt in jeder Woche ein Tag wohl 2 Tage zu dessen Versammlung erfordert, und die Besoldung der Gerichtsbeamteten müßte das Einkommen der Casse über steigen. 3. Wenn die Votgssachen, und die Informationen der Consistorial Händeln den Munizipalitäten abgenommen und den Gerichten auferlegt würde, so hätten erstere nichts zu thun und ihre Eixstenz wäre unnöthig.“ 58 Die lokale Ebene hatte die zuvor besprochene „Aufpasserei“ und „Verdächti‐ gung“ in sittlichen Belangen im sozialen Nahraum in der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft erst möglich gemacht. 59 Es waren auch diese Fak‐ toren gewesen, die die Sittengerichte in der Bevölkerung oftmals unbeliebt gemacht hatten. 60 Diese auf Denunziation angelegte Ebene wurde durch die erste helvetische Verfassung also kurzerhand abgeschafft. 61 An die Stelle der Gerichte, die unter dem Ancien Régime sowohl von Pfarrern als auch Juristen und Notabeln besetzt gewesen und die als Bewahrer der Institution Ehe als erste Ordnung Gottes und Gnade aufgetreten waren, war mittelfristig pro Distrikt eine zivile richterliche Instanz getreten. Darin durften entsprechend dem 26. Artikel der neuen Verfassung die in der Helvetik bezeichnenderweise Religionsdiener genannten Kirchenvertreter kein Amt mehr bekleiden. 62 Damit 230 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 63 Ludi, Wiedergeburt, 185. 64 Eva Sutter zeigt auf, wie der Genisteid während der Helvetik mit der Folter verglichen wurde und aus Gründen aufklärerischer Humanität verboten wurde. Man bekämpfte die Methode zur Klärung der Vaterschaft in der Folge, indem man die Unterlassung von Geburtshilfe durch Hebammen unter Strafe stellte. Sutter, Act, 95. 65 BAR B0#1000/ 1483#226*, Petitionen 1799/ IV, 321-325. 66 Böning, Traum, 219. 67 Ludi, Wiedergeburt, 185. verschwand zwischenzeitlich jene auf institutioneller Ebene fassbare, im All‐ tagsleben allgegenwärtige Kontrolle durch den sozialen Nahraum, die den gesamten lebensweltlichen Bereich umfassend durchdrang, den man heute gemeinhin der Privatsphäre zurechnet. 63 Dadurch wurde in der kurzen Zeit der Helvetischen Republik für breitere Schichten ein ungekanntes Maß an Intimität möglich: Illegitime Schwangerschaften wurden oft nicht mehr zur Anzeige gebracht, weil eine damit betraute Instanz fehlte oder die Zuständigkeiten zwischen Instanzen nicht geklärt waren. So zeigte der Präsident des Distriktge‐ richts Burgdorf zum Beispiel am 4. Dezember 1799 den Gesetzgebern an, dass sich Vertreter der Munizipalitäten weigerten, schwangere Ledige anzuzeigen, beziehungsweise sie ohne Bezahlung zur Klärung der Vaterschaftsfrage zu verhören. Gleichzeitig hätte der Justizminister dem Distriktgericht durch den Statthalter die Weisung zukommen lassen, die Verhöre selbst durchzuführen. Dies könne man allerdings aufgrund der Größe des Distrikts aus praktischen und zeitlichen Gründen niemals gewährleisten. Die sogenannten ‚genistlichen Verhöre‘ beziehungsweise der ‚Genisteid‘ - also die Klärung der Vaterschafts‐ frage unter den Geburtsschmerzen, nötigenfalls bei Verweigerung jeglicher Hilfe durch die Hebamme, die kurze Zeit zuvor eigentlich ohnehin abgeschafft worden war 64 - sollte in der Auffassung des Burgdorfer Gerichtspräsidenten aus Gründen der Praktikabilität wieder von ‚ehrbaren‘ Männern in der unmit‐ telbaren Nachbarschaft übernommen werden. 65 Und auch der Erziehungs- und Kirchenrat des Kantons Bern bat schon im Dezember 1799 die Gesetzgeber um die Wiedereinführung der lokalen Sittengerichte, um im Kantonsgebiet Ordnung und sittliche Zustände garantieren zu können. 66 Die Sittengerichte blieben während der gesamten helvetischen Phase eine intensiv diskutierte Institution. Sogar bei den männlichen Befürwortern der Revolution behielten sie oftmals eine gewisse Attraktivität, zum Beispiel bei reformorientierten Kriminalpolitikern der Zeit. 67 Gerade die alten Dorfaristokraten, ob sie für oder gegen die Revolution waren, verloren nämlich durch die ersatzlose Abschaffung der Gerichte auf gemeindlicher Ebene ihre Funktion als Richter und damit einen erheblichen Teil ihrer Macht und Kontrolle über ihre Dorfgemeinschaft. Petitionen von Distrikten, Gemeinden und Geistlichen, die die Restituierung 231 1.3 Zwischenzeitliche Aufhebung der Ehegerichte 68 Böning, Traum, 219-220. 69 Certeau, Kunst, 23-24. 70 Vgl. Sutter, Act, 95-98. 71 Die Begriffe beziehen sich auf die Handlungstheorie von Michel de Certeau. Certeau, Kunst, zuerst 95; dann 88. 72 Anne-Lise Head-König, Mariage et citoyenneté des femmes. L’influence de l’Helvétique et de la Révolution sur la conception et les effets du mariage en Suisse, in: Sozioöko‐ nomische Strukturen - Frauengeschichte/ Geschlechtergeschichte. Structures sociales et économiques - histoire des femmes, hrsg. v. Christian Simon, Basel 1997, 151-166, 154-155. der lokalen Chorgerichte immer nachdrücklicher forderten, häuften sich und schlugen sich auf der zentralstaatlichen Ebene der Republik nieder. Ganz im Sinne der Petitionäre forderte der Vollzugsausschuss im März 1800 vom Parlament mittels Gutachten zur Tätigkeit von Sittengerichten deren Wieder‐ einführung. Der Vorschlag wurde von den gesetzgebenden Räten am 16. Mai 1800 zwar abgelehnt, erhielt aber dennoch manche Stimme. 68 Für die „Helden des Alltags“, die illegitime sexuelle Beziehungen unterhielten oder gegen den Willen ihrer Gemeinden, Familien und Gesellschaften heiraten wollten, und deren Taktiken deswegen „andauernd mit den Ereignissen spielen“ mussten, handelte es sich in den Worten von Michel de Certeau um „günstige Gelegenheiten“, die sich während der Anfangsphase der Helvetik für ihre pre‐ kären Eheschließungsbegehren ergaben 69 - auch wenn die Idee der Restitution der Sittengerichte ab 1800 in den führenden Kreisen allmählich an Popula‐ rität gewann. 70 Das verhältnismäßig „engmaschig[e]“ konsistoriale System der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft, das der „Beherrschung der Orte durch das Sehen“ gehorchte, wich kurzfristig einem matrimonialen System, das kommunale und familiäre Interessen im Vergleich zu den vorherigen Zuständen verhältnismäßig stärker zurückdrängte. 71 Eine Bestätigung dafür, dass die Verwendung von de Certeaus Metatheorie an dieser Stelle berechtigt ist, und die helvetischen Verhältnisse anfänglich einen günstigen Kontext für Eheschließungen darstellten, erhalten wir aus der Sekundärliteratur. Anne-Lise Head König vermerkt zum Beispiel, dass die neue Verfassung zwischenzeitlich zu einer universellen Gesetzgebung im Bereich der Eheschließung geführt hätte. Diese eröffnete den AkteurInnen große Handlungsspielräume, indem sie mittelfristig zahlreiche gesetzliche und praktische Ehehindernisse aufhob oder in der Praxis einfach überging. 72 Auch der zu Beginn des Kapitels erwähnte demographische Befund von Christian Pfister über die anfängliche Steigerung von Taufen und Eheschließungen weist klar in diese Richtung. Die Annahme gewinnt darüber hinaus in den Petitionsschriften während der ersten drei Jahre der Helvetik Evidenz, wenn beispielsweise ein in Bern wohnhafter Wiener 232 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 73 BAR B0#1000/ 1483#229*, Petitionen 1801, 29. 74 Würgler, Not, 298; Andreas Würgler, Kontinuität und Diskontinuität zwischen Ancien Régime und Helvetischer Republik am Beispiel der Bittschriften, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. v. Daniel Schläppi, Basel 2009, 49-64, 51; 60. in seiner Bitte um Heirats- und Aufenthaltsbewilligung an die helvetische Legislative anführt, dass ihm dazu „die schweizerische Revolution günstig schien“. 73 1.4 Petitionsrecht Die Wahrnehmung des helvetischen Umbruchs von Seiten der AkteurInnen als günstiges Umfeld für ihre prekären Ehebegehren hing nicht zuletzt mit dem politischen Mittel der Petition und den durch sie gesammelten Erfahrungen zusammen. Die Ausrufung der ersten helvetischen Verfassung führte in der Konsequenz des Artikels 96 auf dem Gebiet der zentralistisch organisierten Republik und ganz besonders im Kanton Bern zu einer regen Petitionstätigkeit, also zur gesteigerten Nutzung eines sehr spezifischen juristischen Mittels. Die Petitionstätigkeit, so zeigen die Quellen, erfasste alle sozialen Schichten. Denn die von der französischen Direktorialverfassung inspirierte helvetische Konstitution sah erstmals ein zwar implizites, aber dennoch offizielles, das heißt schriftlich verbrieftes Petitionsrecht für die Bürger der Helvetischen Republik vor. Im besagten Artikel wurden die Regierungsstatthalter dazu angehalten, Bittschriften an die Zentralregierung weiterzuleiten. 74 Beschwerden (Gravamina) waren allerdings auch schon im Ancien Régime ein vielfältig verwendetes Instrument gewesen, um den Autoritäten politische Missstände anzuzeigen, Klagen, Nöte und Befürchtungen zu artikulieren und sich ad hoc für Hilfe oder Unterstützung anzuempfehlen. In Bittgesuchen (Peti‐ tionen/ Suppliken) wurden Bedürfnisse, Erwartungen und Willensbekundungen vorgetragen und Erlaubnisse sowie Ausnahmebewilligungen für spezifische Handlungen verlangt. Gleichzeitig dienten sie dazu, neue Rechte auszuhandeln, alte Privilegien bestätigen zu lassen oder Anerkennung einer Vereinbarung zu erlangen. Der Übergang zwischen Gravamina und Bittgesuchen verlief seit jeher fließend und kann daher nicht trennscharf gezogen werden. Oft gingen Beschwerde und Bitte ineinander über, meistens war das eine Beweggrund für das andere. Sie waren zwischen Hoffnung, Forderung, Widerstand und Aufbegehren angesiedelt und konnten im politisch-legislativen Alltag erfolgen oder aber bei Revolten und Erhebungen Bedeutung erlangen. Petitionen wurden 233 1.4 Petitionsrecht 75 Cecilia Nubola/ Andreas Würgler, Einführung, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), hrsg. v. Cecilia Nubola/ Andreas Würgler, Berlin 2005, 7-16, 7; Härter, Kriminalitätsgeschichte, 122. 76 Nubola/ Würgler, Einführung, 9. 77 Würgler, Kontinuität, 49; Richard Feller berichtet darüber, wie im Vorfeld der Henzi-Ver‐ schwörung 1744 eine in „geziemenden Worten“ verfasste Denkschrift, die „sich [wohl] im Rahmen des Gesetzes“ hielt, von der Obrigkeit als verschwörerische Schmähschrift verurteilt wurde. Feller, Glaubenskämpfe, 448. 78 Gerold Steinmann, Art. Petitionsrecht 2010. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D10370.php (26.08.2021); Andreas Würgler, Bitten und aufbegehren. Protest wider die Obrigkeit, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 441-444. Würgler thematisiert die rigide Praxis der Berner Obrigkeit, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts mit zunehmender Härte gegen Beschwerdeführer vorging. von Einzelpersonen sowie von Korporationen und Gemeinschaften eingereicht und waren an die politischen Autoritäten gerichtet. Nicht zuletzt stellten sie ein zentrales politisches Kommunikationsmittel zwischen Beherrschten und Herrschenden, Regierten und Regierenden dar, dessen Bedeutung stets vom herrschaftspolitischen Kontext abhing. 75 Die alten eidgenössischen Regierungen hatten diese Form der zum Teil im‐ pliziten und quasi individuellen Kritik und der sublimen Willensbekundungen - zwischen den stark schematisierten Notariatsformeln in juristisch-bürokra‐ tischer Sprache offenbarten sich immer auch deutlich kreative Willensbekun‐ dungen der AkteurInnen 76 - im ausgehenden 18. Jahrhundert aber immer weniger gern gesehen. Auch wenn die Beschwerden auf dem amtlichen Weg eingereicht, die ungleiche Machtbeziehung zwischen Herrschenden und Be‐ herrschten eingehalten, die Distanz zu den Mächtigen anerkannt und im de‐ mutsvollen Duktus der Bitte verfasst worden waren, hatten sie eine potentielle Infragestellung herrschender Machtstrukturen dargestellt. 77 Vielfach waren sie deswegen im patrizischen Herrschaftsanspruch und theologisch legitimierten absoluten Herrschaftsverständnis der Berner Regierung im 18. Jahrhundert zurückgewiesen oder gar sanktioniert worden, weil sie als Bedrohung und Auflehnung gegen die Herrschaft empfunden worden waren. 78 Ein gutes Beispiel für den zunehmend gnadenlosen Umgang mit Herrschafts‐ kritik in Bern stellen die drakonischen Strafen in Zusammenhang mit der sogenannten ’Henzi-Verschwörung‘ dar. Diese Verschwörung, die nach ihrem bekanntesten Protagonisten, dem Unterbibliothekar Samuel Henzi, benannt wurde, stellte den Gipfel einer Entwicklung rund um die Berner Regiments‐ besetzungen dar. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wagte es noch die Handel treibende Burgerschaft von Bern, sich mit ihrer Kritik und ihren Reformvor‐ schlägen auf dem amtlichen Weg an den Rat zu wenden. Die Magistrate reagierten aber zunehmend empfindlich, zum Teil sogar mit Verhaftungen 234 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 79 Würgler, Protest, 444; Feller, Glaubenskämpfe, 460. 80 Anne-Marie Dubler, Art. Henzi-Verschwörung 2006. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D17 206.php (26.08.2021). 81 Richard Feller schreibt in Zusammenhang mit einer Denkschrift, die jener von Henzi vorausging: „Die Obrigkeit liess sich von einem Zusammentreffen der Umstände verleiten. Sie verleugnete das Recht, Bittschriften einzureichen, das allen Bernern zu Stadt und Land offen stand.“ Feller, Glaubenskämpfe, 449. 82 Feller verweist darauf, dass die Berner Obrigkeit Gratulationen von anderen eidgenös‐ sischen Regierungen und auswärtigen Mächten erhielt; ebd., 461. und Verbannungen. In der Folge wurden Beschwerden nur noch anonym und in Form von Schmähschriften formuliert und heimlich verbreitet. Dieser sich zuspitzende Konflikt zwischen Regierenden und zurückgesetzten Burgern eskalierte im Sommer 1749 in der besagten Verschwörung. In einem Ende Juni geheim verfassten Memorial kritisierten vom Regiment ausgeschlossene Burger und wirtschaftlich benachteiligte Gruppen erneut die exklusive Patri‐ zierherrschaft. Diese bekannte Kritik verknüpften sie allerdings mit neuen Forderungen. Sie griffen die Geistlichen als Komplizen des Patriziats an und forderten eine Besserstellung der Landschaft gegenüber der Stadt, in der Hoff‐ nung, damit die Bauern für ihre Anliegen zu gewinnen. Damit sollte auch die Organisation der Regierung reformiert werden. In der Schrift wurde die Ersetzung des Kooptationsverfahrens durch eine Volkswahl des Rats gefordert. Die Gemeindeautonomie sollte über die Souveränität des Rats gestellt werden. Ratsmitglieder sollten zudem einer Amtszeitbeschränkung unterstellt werden. Die Verschwörer verlangten die jährliche Offenlegung der Staatsrechnung und Zugänglichkeit zu den Archiven. Doch dieser heimliche Zusammenschluss von insgesamt 134 Personen wurde verraten. Am 4. Juli wurden sie verhaftet. Innert kurzer Zeit fanden die Verhöre unter der Anwendung von Folter statt. Es kam zu öffentlichen Hinrichtungen der verantwortlich gemachten ‚Verschwörer‘, andere wurden mit Hausarrest belegt oder durch Verbannungen aus dem Gebiet des Kantons oder gar der Eidgenossenschaft verwiesen. 79 Dadurch wurden in Bern die Gegner des Patriziats verunsichert und bis zum Ausbruch der Helvetischen Revolution im Wesentlichen zum Schweigen gebracht. 80 Diesen restriktiven Umgang mit petitionsähnlichen Eingaben interpretierte selbst der konservative Berner Historiker Richard Feller als in gewisser Weise inkorrektes Verhalten des Berner Patriziats. In seiner Auffassung verwehrte es damit seinen Untertanen ein traditionelles Recht, das eigentlich allen freistehen sollte. 81 Die Berner Regierung entsprach mit ihrer Machtfülle und dem damit verbundenen Vorgehen im 18. Jahrhundert allerdings eher dem Stereotyp als der Ausnahme. 82 Die Eidgenössischen Nachrichten, eine Berner Wochenzeitung, die nach der Umwälzung der politischen Verhältnisse im April 1798 (nach konservativer 235 1.4 Petitionsrecht 83 Ernst Bollinger, Art. Eidgenössische Nachrichten 2002. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D 48000.php (26.08.2021). 84 Eidgenössische Nachrichten (Bern: Typographische Gesellschaft) vom 14. April 1798, Nr. XIII, S. 87, zitiert nach: Würgler, Kontinuität, 51. 85 ASHR, Bd. 2, Nr. 321, 1217. 86 Danièle Tosato-Rigo, La continuité par la révolution? L’exemple du canton du Léman, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. v. Daniel Schläppi, Basel 2009, 25-47, 32. 87 Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Funktion der sogenannten Cahiers de Doléances zu Beginn der Französischen Revolution, die den Wahlmännern die Gelegenheit gaben, Forderungen an die Generalstände zu formulieren. Sie zeugen ebenso von dieser neuen Staatsauffassung. Vgl. Gilbert Shapiro/ John Markoff, Officially Solicited Petitions. The „Cahiers de Doléances“ as a Historical Source, in: International Review of Social History 46 (2001), 79-106. Vergangenheit) als Stimme der neuen helvetischen Führung galt und bald darauf den Namen änderte, 83 bewarb dagegen geradezu das nun konstitutionell garantierte Petitionsrecht. Die regierungsnahe Redaktion druckte nur zwei Tage nach dem Verfassungserlass folgende Aufforderung in ihrem Presseorgan ab: „In Zeiten der Revolution muss man mit raschem Schritt mit fortgehen, gar nicht stille stehen, gar nicht zurückbleiben; helfen retten soll man das Vaterland durch Selbstmitwirken, durch Rath und That. […] Also frisch ans Werk! Wer wirken kann, der wirke; jeder brave Schweizer ist jetzt aufgefordert, mitzuwirken.“ 84 Die Bürger der Republik wurden durch das Regierungsmedium anfänglich dazu eingeladen und animiert, am neugegründeten Staat mittels Petitionen gestalterisch mitzuwirken. Das Vollziehungsdirektorium wünschte sogar, „sich mit den Bürgern in immer mehrere Verbindung zu setzen und ihnen die Mittel zu erleichtern, ihme ihre Petitionen überreichen zu können“. 85 Und so lässt sich die Supplik deutlich von der Petition unterscheiden: Während erstere einer herkömmlichen politischen Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschenden gefolgt war, waren die Petitionen in ihren Forderungen nach in‐ dividuellen Freiheitsrechten in vielen Fällen von der Französischen Revolution inspiriert. 86 In Kombination mit der konstitutionell garantierten Gewissens- und Meinungsfreiheit eröffneten die Petitionen während der Helvetik eindeutig neue Möglichkeiten der politischen Artikulation. Der revolutionäre Umgang mit den Petitionen entsprach zumindest am Anfang der Republik ideell einem gänzlich neuen Staatsverständnis und setzte eine vollkommen neue Beziehung zwischen Staat und Bürger, Regierenden und Regierten voraus. 87 Gleichzeitig zwang die aussichtsreiche helvetische Gelegenheit die AkteurInnen prekärer Eheschließungen, über die Petitionen in eine enge und intime Beziehung mit 236 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 88 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 74-75. Die Formulierung ‚Bürger Gesetzgeber‘, die zum Teil in leicht abgeänderter Schreibweise oder etwa auch als ‚Bürger gesetzgebende Räte‘ auftreten konnte, verwendete die Mehrheit der Petitionen. 89 Ebd. 90 Würgler, Not, 299-304. 91 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 8. den Vertretern des Zentralstaats, den „Bürger[n] Gesetzgebern“, zu treten. 88 Sie mussten sich quasi deren staatlicher „Vaterhülf “ anempfehlen, wollten sie sich gegen lokalen Widerstand verheiraten. 89 Diese These gilt es weiter unten noch präziser zu erläutern. Die Bürger der Helvetischen Republik leisteten der Aufforderung der neuen Regierung offensichtlich Folge und richteten zahlreiche schriftliche Petitionen an die Munizipalitäten, die gesetzgebenden Räte und das Vollziehungsdirekto‐ rium. Der größte Teil (40 %) der an die gemeindliche Behörde der Stadt Bern, die unterste helvetische Verwaltungsinstanz, adressierten Bittschriften betraf die Thematik der Einquartierung französischer Soldaten und Offiziere. Sie mussten in Ermangelung einer Militärkaserne bei der Berner Bevölkerung untergebracht werden. Die meisten dieser PetitionärInnen forderten mit unterschiedlichen Argumenten eine geringere Zahl von Unterbringungen oder gar einen gänzli‐ chen Verzicht auf solche Einquartierungen. 90 Eine Durchsicht der Regesten zum Bestand „Akten Helvetik“ im Stadtarchiv Bern (SAB) ergibt allerdings, dass sich die Ehewilligen mit ihren Heiratsbegehren nicht an die munizipale Instanz wandten beziehungsweise ihre Begehren von dieser Instanz nicht behandelt und entsprechend der Verfassung lediglich an die Zentralbehörden weitergeleitet wurden. Die Bittgesuche aus der Zeit der Helvetik, die sich an die helvetischen Zentralbehörden richteten, befinden sich im Bundesarchiv in der Abteilung ‚Zentralarchiv der Helvetischen Republik‘. Sie wurden sowohl von ganzen Land‐ gemeinden, sogenannten ‚gemeinnützigen Gesellschaften‘, Hintersassen und Landsassen, „Minderbemittelten und Armen und Bedürftigen“ 91 unterzeichnet. Hier wird schnell ersichtlich, worin der große heuristische Wert dieser Quel‐ lengattung, trotz zum Teil starker Kodifizierung und Formalisierung, besteht: Als Bittsteller traten Handwerker, Pfarrer, ehemalige Burger, Hintersassen, Landsassen, Fremde, Frauen, Arme, Wohlhabende, Städter und Landbewohner auf. Sie überschritten Standes-, Schicht-, Geschlechter-, Berufs-, Konfessions- und Alterssowie regionale Grenzen. Während Tagebücher, Autobiographien und andere sogenannte ’Ego-Dokumente‘ in der Masse fast immer an ein sehr spezifisches soziales Stratifikat gekoppelt waren, wurden Bittgesuche von 237 1.4 Petitionsrecht 92 Würgler, Kontinuität, 51. 93 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 5-8. 94 Ebd., 303-310; BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 135-146; 353-354; 363-368; BAR B0#1000/ 1483#227*, Petitionen 1800/ I, 21-24; 73-74, 101-102. Die hier angezeigten Motive sind eine Reihe von Beispielen, die bei den Recherchen zu dieser Arbeit im Schweizerischen Bundesarchiv in den Petitionen aufgefallen sind und eine gewisse Häufigkeit besitzen. Diese und weitere Motive für Bittschriften nennt auch Würgler, Kontinuität, 54-57. 95 Würgler, Kontinuität, 64. 96 In der Einleitung zum Inventar des helvetischen Zentralarchivs werden die ver‐ schiedenen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Bestand geschildert: Hunziker/ Fank‐ hauser/ Bartlome, Einleitung, 29. AkteurInnen aus praktisch allen Schichten produziert. 92 Dabei betrafen sie unterschiedlichste Gegenstände: Häufig ging es um die Einforderung alter, verbriefter Nutzungsrechte, die die alte Berner Regierung im Laufe der Zeit missachtet haben soll. Gemeinden baten darum, aufgrund geographischer oder historischer Kriterien anderen Gerichtsbezirken unterstellt zu werden oder zum Hauptort eines solchen gemacht zu werden. Hintersassen beantragten in corpore den Ortsbürgern gleichgestellt zu werden, da sie wirtschaftlich denselben Beitrag zum Gemeinwesen und Unterhalt des Gemeindeguts leisten würden. 93 Landbewohner forderten die konsequente Durchsetzung der Aufhe‐ bung der Feudallasten. Uneheliche Nachkommen selbst, deren Eltern oder Vögte beantragten die Legitimation und die damit verbundene Gleichstellung mit den ehelich Geborenen. 94 Die unterschiedlichen Empfängerinstanzen in der Regierung zeigen dabei an, dass die Petitionen nicht systematisch und während der gesamten helvetischen Phase an eine Stelle gerichtet wurden. Aus diesem Grund teilt die vorliegende Arbeit die Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Erforschung von Petitionen ergeben, mit zahlreichen anderen historischen Studien auf diesem Gebiet. Dies gilt trotz der Feststellung, dass der Aufwand, die Sorgfalt und die Systematik bei der Archivierung der Petitionen in der Helvetischen Republik rapide zunahmen. 95 Die Bittgesuche sind heute aufgrund von Archivreorgani‐ sationen - es ist vom „wechselvollen Schicksal des Bestandes“ des helvetischen Zentralarchivs die Rede -, verwaltungstechnischen Unklarheiten und Verän‐ derungen sowie mangelnder Vertrautheit der AkteurInnen im Umgang mit dem politischen Mittel und den bürokratischen Zuständen über verschiedene Archivabteilungen und Signaturen verteilt. 96 Der größte Teil der Petitionen aus der gesamten Republik an die Zentralbehörden ist in 54 Aktenbänden abgelegt. Diese sind nach Kantonen geordnet. Für Bern existieren acht solcher Bände, die explizit nur Petitionen beinhalten. In Bezug auf diesen Bestand heißt das, dass 238 1 Normen und Debatten: Säkularisierung und Demokratisierung der Ehe 97 Während der gesamten helvetischen Phase wurde das Gebiet einige Male neu geglie‐ dert. Im Durchschnitt bestand die Republik aus 19 Kantonen; vgl. Höhener, Schweiz, 22. mehr als ein Siebtel der Bände Bittschriften aus dem Kantonsgebiet von Bern betreffen. Wenn man davon ausgeht, dass die Helvetische Republik während ihres gesamten Bestehens aus durchschnittlich 19 Kantonen zusammengesetzt war, 97 dann handelt es sich hier zweifellos um einen beachtlichen Teil der gesamten Korrespondenz an die helvetische Legislative, der aus Bern stammte. Diese intensive Petitionstätigkeit aus dem verkleinerten Berner Kantonsgebiet lässt sich nicht ausschließlich mit der Größe und der Bevölkerung des Kantons erklären. Eine mögliche Erklärung könnte in der Art und Weise der Regierung unter der alten, machtbewussten patrizischen Herrschaft in Bern zu finden sein, die Agitationen und politischer Partizipation ‚von unten‘ im Vergleich zu an‐ deren eidgenössischen Ständen noch weniger Raum geboten, beziehungsweise zum Teil gleich im Keim erstickt hatte. 239 1.4 Petitionsrecht 98 Würgler, Not, 298; vgl. auch: Véronique Borgeat-Pignat, Les droits politiques des femmes durant l’Helvétique. Le parti d’en rire, in: Sozioökonomische Strukturen - Frauenge‐ schichte/ Geschlechtergeschichte. Structures sociales et économiques - histoire des femmes, hrsg. v. Christian Simon, Basel 1997, 199-209, 199. Sie schreibt: „Après des années de censure drastique, la proclamation de la liberté d’expression va provoquer une véritable fureur d’écrire […].“ 99 Martin Dinges spricht in Zusammenhang mit dem Konzept ‚Justiznutzung‘ auch von „Inanspruchnahme“ des Rechts. Dinges, Justiznutzungen, 504. 100 Am 24. September 1799 entschied das helvetische Parlament, die bereits eingeführte Stempelgebühr auch auf die Bittschriften anzuwenden. ASHR, Bd. 4, Nr. 491, 1520-1521; vgl. Würgler, Kontinuität, 60-61. 101 Würgler, Kontinuität, 53. 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren In der Masse der helvetischen Bittschriften - die Forschung spricht von einer „ungeheure[n] ‚Flut‘ von Eingaben, Gesuchen, Petitionen, Suppliken und For‐ derungen“ 98 - lassen sich auch 160 Zuschriften von Einzelpersonen aus dem reduzierten Kantonsgebiet von Bern finden, die das Petitionsrecht in Bezug auf die Eheschließung in Anspruch nahmen. 99 Diese Petitionen, mit denen ver‐ sucht wurde, prekäre Ehebegehren durchzusetzen, indem die Zentralbehörden um Unterstützung gebeten wurden, waren meistens durch Notare, Anwälte beziehungsweise Vertreter in der dritten Person Singular verfasst. Sie waren anfänglich auf ungestempeltem Papier, bald jedoch auf kostenpflichtigem Stem‐ pelpapier geschrieben, dessen Preis im Verlauf der Helvetik angehoben wurde. 100 Dabei kamen das Wissen um die Möglichkeit des Petitionierens sowie der ausschlaggebende Impuls für das schriftliche Ansuchen und die zum Teil sehr individuellen und eigensinnigen Geschichten neben allen Topoi und dem Pathos in den Petitionen von den ehewilligen Frauen, Männern und Paaren. Sie mussten die Gelder für die Kosten von Papier und Schreiber aufbringen. Die Büros der Schreiber befanden sich oft in der jeweiligen kantonalen Hauptstadt, 101 weshalb die Petent-Innen teilweise weite Wege auf sich nehmen mussten. Besonders für eine breite Schicht von subalternen AkteurInnen auf dem Land war daher ein hohes Maß an Überzeugung und Entschlossenheit erforderlich, um sich petitionierend an die Regierung zu wenden. Ganz in diesem Sinne verwendeten viele Bittschriften so auch Wendungen wie „[d]er ehrerbietige 240 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 102 Konkret zum Beispiel BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 427. Aber auch in vielen anderen Petitionen findet sich diese Ausdrucksweise. 103 Ebd., 269-273; BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 439-441; BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation; BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 373-376; BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 101-104. 104 Dinges, Justiznutzungen; Andreas Würgler bringt das Konzept der ‚Justiznutzung‘ explizit in Zusammenhang mit der Quellengattung der Bittschriften: Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeit‐ forschung, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), hrsg. v. Cecilia Nubola/ Andreas Würgler, Berlin 2005, 17-52, 26. 105 Würgler, Not, 302. 106 Farge/ Foucault, Konflikte, 20. 107 Würgler, Kontinuität, 50; zum selben Ergebnis kommt Christine Fauré für das revo‐ lutionäre Frankreich. Sie schreibt, dass sich im Übergang vom Ancien Régime zur Republik eine Evolution im kodierten Ausdruck weiblicher Bittstellerinnen hin zu einem pathetischen Stil feststellen lässt. Christine Fauré, Doléances, déclarations et pétitions. Trois formes de la parole publique des femmes sous la Révolution, in: Annales historiques de la Révolution française (2006), 5-25. Bittsteller ist entschlossen sich […] zu verehelichen“. 102 Der einzelne Petent „wagt[e] es“ - eine wiederholt verwendete Formulierung in den Quellen 103 - das neuartige zivilrechtliche System bezüglich der begehrten Ehe auf eigenes finanzielles Risiko und in ungewohnter Weise zu seinen Gunsten zu nutzen. 104 Es war besonders zu Beginn der Helvetik auch einiger Mut notwendig, um dieses Risiko und den Weg auf sich zu nehmen, weil man sich des erfolgreichen Ausgangs nicht sicher sein konnte. Die Petitionierenden mussten sich ‚die Freiheit nehmen‘ - dies eine in den Petitionen ebenfalls oft gebrauchte Wendung -, 105 auch wenn die Petitionstätigkeit staatlich gefördert wurde und die Republik unter der Bekundung zur Freiheit stand. Analog kommentieren Arlette Farge und Michel Foucault in Bezug auf die bekannten französischen Lettres de cachet, denen Bittschriften an den Polizeileutnant oder die königliche Kanzlei vorausgingen, dass das Petitionieren wegen des damit verbundenen Aufwands und der inhärenten Unwegsamkeiten „ein Abenteuer im wahrsten Sinne des Wortes, vor allem wenn man den unteren Schichten angehörte“, darstellte. 106 Wie bereits angedeutet, waren Petitionen auch schon unter dem Ancien Ré‐ gime ein politisches Mittel gewesen, um der Obrigkeit Missstände anzuzeigen. Allerdings veränderte sich neben der Anzahl der Petitionen auch der Tonfall in ihnen nun zum Teil drastisch. Während in den Suppliken an die Patrizier Unterwürfigkeit zelebriert worden war, adressierten zahlreiche Petitionäre den neuen Staat nun offensichtlich selbstbewusst. Es lassen sich diesbezüglich zwei unterschiedliche Sprachstile charakterisieren: ein alter „devot-servile[r]“ und ein neuer „selbstbewusst-pathetische[r]“. 107 Würgler hat in Anlehnung an Rudolf Braun darauf hingewiesen, dass der Übergang von der unterwür‐ 241 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 108 Würgler, Kontinuität, 50-51. 109 Nubola/ Würgler, Einführung, 10. 110 Michel Foucault, Über sich selbst schreiben, in: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hrsg. v. Daniel Defert/ Martin Saar, Frankfurt a. M. 2007, 137-154, 148. 111 Latour, Soziologie, 27. figen zur selbstbewussten Tonalität von der Aristokratie durchaus deutlich wahrgenommen wurde. Angehörige der unter der Helvetik zurückgesetzten Aristokratie empfanden das selbstbewusste Auftreten der AkteurInnen als vor‐ laut und unanständig. Insofern zeugen die Bittschriften von einem zielstrebigen matrimonialen Eigensinn der AkteurInnen und fördern dadurch zum Teil sehr eigenwillige Geschichten zu Tage, selbst wenn ihre Form und der Sprachstil nicht frei von Normierungen waren. Sie weisen jenes verhältnismäßig hohe Maß freiwilliger Informationen auf, das Würgler veranlasst hat, Petitionen ge‐ genüber Verhörprotokollen dezidiert als Ego-Dokumente zu charakterisieren. 108 Die BittstellerInnen äußerten sowohl in pathetisch kodierter als auch in sehr individueller Weise ihren ehelichen Willen, erzählten teilweise einzigartige Geschichten, berichteten von ihren damit verbundenen Interessen und auch von Problemen, die für sie aus all dem in ihrer ganz spezifischen sozialen Umwelt entstehen konnten. So offenbaren diese Quellen neben dem Versuch, formalen Anforderungen zu entsprechen, und schemenhaften Formulierungen, von denen man sich Erfolg versprach, „sehr wohl Wahrheit und Unmittelbar‐ keit, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass man ihnen die Umstände, die Geschehnisse dergestalt entnehmen kann, wie sie geschehen sind“. 109 Sie beinhalten taktisch eingesetzte Narrative und Argumente, die darauf abzielten, prekäre Ehebegehren durch die Hilfe der Zentralbehörden zu realisieren. So liegt die Authentizität nicht unbedingt in der getreuen Beschreibung der äu‐ ßeren Umstände, sondern in der Erzählweise sowie der Selbstdarstellung und -beschreibung der petitionierenden AkteurInnen, die „sich zeigen, sich [vor den zentralstaatlichen Behörden] sehen lassen“ und dabei verschiedene Ressourcen in spezifischer Weise einsetzen. 110 Dazu konnte selbstverständlich auch das Wissen um die entsprechenden Formeln zählen oder die Kenntnis eines Berner Notars, der diese beherrschte und dadurch Erfolg in Aussicht stellte. In ihren Erzählungen entwickelten die AkteurInnen vor allem in den frühen Petitionen vielfach „ihre eigenen Theorien […] woraus das Soziale besteh[en]“ sollte. 111 Mit diesen wollten sie die Zentralbehörden von ihren ganz persönlichen Ehe‐ begehren überzeugen. Gleichzeitig versuchten sie mittels spezifischer Rhetorik und wiederkehrenden Stereotypen eine Logik zu adaptieren, um sich der Hilfe der Zentralbehörden anzuempfehlen und die unsicheren Umstände zu ihren 242 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 112 Clyde Plumauzille, L’appel à la justice des femmes enfermées pour prostitution sous la „Terreur“. Entre „vie fragile“ et puissance d’agir, in: Orages 12 (2013), 111-131, 113; Didier Fassin, La supplique. Stratégies rhétoriques et constructions identitaires dans les demandes d’aide d’urgence, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 55 (2000), 953-981, 955-960. 113 Fassin, Supplique, 956. 114 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Ungekürzte Taschenbuchausg., 9. Aufl., München 2011, 22. 115 Michel de Certeau schreibt ganz in diesem Sinn: „Das Vorhandensein und die Verbrei‐ tung einer Vorstellung […] gibt keinerlei Aufschluss darüber, was diejenigen [hier: die PetentInnen, AH], die sie gebrauchen, davon halten“, oder eben daraus machen. Certeau, Kunst, 14. 116 Fassin, Supplique, 955-960; das Zitat findet sich auf Seite 959. Gunsten zu überwinden. 112 Was Didier Fassin über moderne Anträge auf akute Sozialhilfe beim französischen Staat („aide d’urgence“) - er nennt sie „supplique“ - schreibt, gilt für die vorliegende Untersuchung gleichermaßen: Das Medium bleibt nicht ohne Effekt auf die Selbstdarstellung. Deswegen müssen die Bitt‐ schriften als Texte gelesen werden, in denen sich Personen inszenieren, die sich in einer ganz bestimmten, prekären Situation um staatlichen Beistand bemühen. Ähnlich wie die von Fassin untersuchten AntragstellerInnen mussten auch die prekarisierten Eheleute in ihren Bitten an das helvetische Direktorium oder die Legislative ihre Ehebegehren nicht nur rechtfertigen, sondern auch ihren ‚hehren Willen‘ und die damit verbundenen ‚guten Absichten‘ darlegen. Nur so konnten sie begründen, wieso ihnen, trotz der Widerstände in ihrem Umfeld, ihre Eheschließung erlaubt werden sollte oder Kanzeldispensen erteilt werden mussten. Fassin charakterisiert dieses Verhältnis im Sinne einer do-ut-des-Rela‐ tion („relation de don et de contre don“). 113 Die Bittstellenden waren an „einer bestimmten Beurteilung [ihrer] selbst“ interessiert, weil sie sich verheiraten wollten. 114 Doch sie kannten die moralischen Beurteilungskriterien der zustän‐ digen staatlichen Akteure nicht mit Sicherheit. Diesen enigmatischen Kriterien wollten sie zwar zwecks Aneignung entsprechen, aber sie waren nicht ihre eigenen. 115 Folglich waren die PetentInnen gezwungen, Selbstinszenierungen zu entfalten, die auf selbst entwickelten Vorstellungen von moralischen Werten anderer („moral présumé des agents de l’État“) basierten. 116 Dieser Akt besaß eine genuin kreative Komponente. Die Brautleute schalteten die helvetischen Behörden der zentralistischen Republik also gezielt und in spezifischer Weise ein, wenn auf lokaler, fa‐ miliärer oder kirchlicher Ebene Ehehindernisse zu befürchten waren, die die Verehelichung prekär werden ließen, oder sich solche im Vorfeld oder während des bereits erfolgten Vollzugs der Eheschließung manifestiert hatten. In den Petitionen kam deshalb zum Ausdruck, wie im Sinne der Definition pre‐ 243 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 117 Certeau, Kunst, 91. 118 Andreas Fankhauser, Die Nutzung der helvetischen Freiheitsrechte durch die Länd‐ liche Gesellschaft am Beispiel der solothurnischen Gemeinde Biberist, in: Menschen‐ rechte und moderne Verfassung. Die Schweiz im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhun‐ dert. Akten des Kolloquiums an der Universität Freiburg, Schweiz, 18.-20. November 2010, hrsg. v. Silvia Arlettaz/ René Pahud de Mortanges/ Daniel Tröhler/ Andreas Würgler/ Simone Zurbuchen, Genf 2012, 353-371, 371. 119 Vgl. Ulrike Ludwig, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herr‐ schaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548-1648, Konstanz 2008, 173; vgl. zu den Effekten gerichtlicher Zentralisierungsprozesse auch Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 79-80. 120 Gerd Schwerhoff schreibt in seiner Einführung in die historische Kriminalitätsfor‐ schung von „Monopolisierungs- und Umbauprozesse[n]“ in der Justiz, die Effekte auf die konkrete Gerichtspraxis hatten. Der durch die Helvetische Revolution ausge‐ löste Zentralisierungsprozess ist analog zu betrachten. Schwerhoff, Kriminalitätsfor‐ schung, 80. 121 Fankhauser, Nutzung, 371. kärer Ehebegehren versucht wurde, sich heikle, bestrittene und widerrufliche, aber partnerschaftlich begehrte Eheschließungen durch Bitten anzueignen. Die Ehen mussten gegen opponierende Parteien aus dem sozialen Nahraum erstritten und durchgesetzt werden, denn sie standen den lokalen Gewohn‐ heiten und sozialen „Regeln fremd gegenüber“. 117 Dies war in auffälligem Maß bei Zweitheiraten der Fall: In 47 Petitionen waren Witwen und/ oder Witwer involviert. In acht Fällen lag ein vorgängiger Ehebruch vor. Außerdem begehrten in 13 Fällen die Ehewilligen eine Eheschließung in vormals verbo‐ tenen Verwandtschaftsgraden. In der historischen Forschung zur Helvetik ist die Frage gestellt worden, wie intensiv die neuen helvetischen Freiheitsrechte in der Praxis von der breiten Bevölkerung überhaupt genutzt wurden. 118 Von der internationalen historischen Kriminalitätsforschung konnte aufgezeigt werden, dass in An‐ betracht landesherrlicher Monopolisierungsprozesse der Justiz der Einfluss sozialer Netzwerke auf die Urteile zu Gnadengesuchen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts abnahm. 119 Dagegen dürfte in Bern unter anderem die durch den eherechtlichen Zentralisierungsvorgang evozierte Einflussminderung sozialer Netzwerke während der Helvetik zur breiten und flutartigen Petitionstätigkeit in Fällen prekärer Eheschließungen beigetragen haben. 120 Durch die Bitten an die Zentralgewalt konnte der Einfluss des lokalen sozialen Netzwerks geradezu ausgeschaltet werden. Also kann im Zusammenhang mit den prekären Eheschließungen festgehalten werden, dass die Helvetik eine katalytische Funktion auf das Petitionieren ausübte. 121 Die PetentInnen wandten sich in den konkreten Fällen vereinzelt an den lokalen 244 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 122 Aufgrund der oben angesprochenen Probleme der Archivsystematik kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich an anderen Stellen als an den für diese Studie untersuchten weitere Petitionen finden lassen, die matrimoniale Angelegenheiten betreffen. 123 BAR B0#1000/ 1483#226*, Petitionen 1799/ IV, 73. 124 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 333. 125 Würgler, Kontinuität, 61. 126 Holger Bönning schreibt, dass die Helvetische Republik nach dem ersten Staats‐ streich zu einem „Provisorium“ wurde. Böning, Traum, 278. Statthalter oder das Kantonsgericht. Diese Instanzen waren allerding nicht befugt, derartige Bittschriften zu behandeln, und leiteten sie dem 96. Verfas‐ sungsartikel entsprechend an die Zentralbehörden weiter. In den allermeisten Fällen adressierten die PetentInnen aber direkt die gesetzgebenden Räte, also den Senat und/ oder den Großen Rat, das fünfköpfige Direktorium oder den Vollziehungsausschuss - der ersteres mit dem ersten Staatsstreich vom 7. Ja‐ nuar 1800 ablöste -, oder die Ministerien der Helvetischen Republik. 122 Gleich‐ wohl zeigt der Umstand, dass unterschiedliche Empfänger angeschrieben wurden, dass die Menschen mit den neuen politischen und bürokratischen Verhältnissen noch nicht richtig vertraut waren, beziehungsweise viele Ab‐ läufe in der jungen und kurzlebigen Republik nicht, provisorisch, wechselhaft oder unzureichend definiert waren. Die PetentInnen wussten deshalb nicht immer, an welche Behörde sie sich in diesen oder anderen Angelegenheiten offiziell richten sollten oder welche formalen Erfordernisse ihre Petitionen erfüllen mussten. Neue Bestimmungen und Verfahrensänderungen sickerten zum Teil nur langsam zu den unteren Verwaltungseinheiten durch. Dies kritisierte sehr konkret zum Beispiel der Statthalter des Distrikts Wangen im Oktober 1799 in einem Schreiben an die gesetzgebenden Räte in Bezug auf eine eheliche Petition. Er bemängelte, dass er zu spät über die obligatorische Verwendung des Stempelpapiers informiert worden sei. Aus diesem Grund hätte er ungestempelte Petitionen an das Parlament weitergeleitet. 123 In einem anderen Fall meldete sich der Minister des öffentlichen Unterrichts bei einem Petenten, der vom Vollziehungsrat eine Kanzeldispens forderte, dass seine Petition nicht den formalen Ansprüchen des Gesetzes genüge, weil ihr das Visum des Regierungsstatthalters fehle. 124 Dies war eine einschränkende Bedingung für die Petitionstätigkeit, die, wie die Stempelgebühr, erst mit der Zeit eingeführt wurde, um Petitionen zu limitieren und kanalisieren. 125 Sie war aber nicht allen AkteurInnen bekannt. Derartige Unsicherheiten bezüglich der Behördenzuständigkeit, des Verfahrens und der formalen Erfordernisse betrafen letztlich die PetentInnen und nahmen wohl in Folge der drei weiteren Staatsstreiche zwischen 1800 und 1802 sogar noch zu. 126 245 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 127 Fankhauser, Art. Helvetische Republik. 128 Ludi, Wiedergeburt. 129 Fankhauser, Art. Helvetische Republik; auch Holger Böning spricht davon, dass seit dem ersten Staatsstreich die Lage der Republik immer labiler wurde und auch unter den Befürwortern der Helvetischen Republik eine gewisse Ratlosigkeit einkehrte. Böning, Traum, 275-276. Trotz dieser Unsicherheiten setzten die zahlreichen PetentInnen zumindest anfänglich große Hoffnungen in die neuen politischen Verhältnisse unter der Helvetischen Republik und versuchten über eine Bittschrift zur begehrten Ehe zu gelangen. In 53 der gesamthaft 160 Fälle, also in rund einem Drittel der Bittschriften aus der Zeit der Helvetik, versuchten die PetitionärInnen ihre prekären Eheschließungen durch eine Ehebewilligung direkt und somit quasi auf zivile Verordnung hin, also ohne das Zutun der Kirche, zu legitimieren. Die überwiegende Zahl dieser Fälle (35) stammt aus dem Zeitraum zwischen April 1798 und Januar 1800, der von der Forschung als „Modernisierungsphase“ gekennzeichnet worden ist. 127 Die vergleichsweise hohe Zahl lässt sich mit dem Stichwort „Gründungseuphorie“ recht gut erklären, mit dem Regula Ludi die anfängliche Stimmung in der Republik beschrieben hat. 128 Von diesen 35 Petitionen fallen zehn in das erste Jahr der Republik. 1799 kam es dann zu einem massiven Anstieg: 24 der Petitionen um Ehebewilligung wurden im zweiten Jahr der Helvetik abgefasst und eingereicht. Dazu kam eine Petition, in der eine Witwe bei den gesetzgebenden Räten um Schutz und Hilfe bat, um ihr Ehebegehren ungehindert realisieren zu können. Dies kam der Bitte um eine vollständige Eheerlaubnis inhaltlich gleich. Ob der Anstieg mit der Verbreitung von praktischem Wissen über dieses ehefördernde poli‐ tische Instrument zusammenhing, kann aus den hier untersuchten Quellen nicht bestätigt werden, erscheint allerdings plausibel. Der in bestimmten Gesellschaftssegmenten euphorisch wahrgenommenen Episode folgte nach dem ersten Staatsstreich vom 7. Januar 1800 eine Phase zunehmender Stagna‐ tion. 129 Dieser Übergang, in dessen Verlauf konservative politische Elemente tendenziell rehabilitiert wurden und viele reformorientierte Verheißungen in der Praxis unerfüllt blieben und zurückgenommen wurden - ein Beispiel dafür liefert der zunehmend einschränkende Umgang mit den Petitionen -, brachte eine wachsende Destabilisierung der Republik mit sich. Dass solche Veränderungen von den AkteurInnen trotz Staatsstreich zum Teil verzögert wahrgenommen oder vorläufig ignoriert wurden, äußerte sich darin, dass von den restlichen 18 Ansuchen um Heiratsbewilligung bei den Zentralbehörden zehn unmittelbar im Jahr nach dem ersten Staatsstreich eingereicht wurden. Von den restlichen acht Bittschriften um die direkte Eheerlaubnis stammen 246 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren sechs aus dem Jahr 1801 und je eine aus den Jahren 1802 und 1803. Graphisch lässt sich das in einer bis 1799 steil ansteigenden Kurve darstellen, die danach zuerst ebenso steil und dann mehr oder weniger konstant abfällt (vgl. blaue Kurve im Diagramm 4). Ein plausibler Erklärungsansatz für diesen Kurvenverlauf dürfte die anfängliche Hoffnung ehewilliger AkteurInnen in der allgemeinen anfänglichen Aufbruchstimmung sein, die durch die weiteren politischen Entwicklungen und die damit verbundenen individuellen und kollektiven Erfahrungen aber allmählich getrübt wurde. Doch nicht nur diese aus Sicht der AkteurInnen bei prekären Eheschließungen negativen Erfahrungen und abnehmenden Hoffnungen begründeten die Abnahme der Petitionen um Eheerlaubnis. Wie im anschließenden Unterkapitel zu zeigen sein wird, führten die Ansprüche dieser ehelichen Prekarier auch zu Verände‐ rungen im Gesetz. Konkret nahmen die offiziellen Ehehindernisse im Verlauf der ersten beiden Jahre ab. Dadurch waren weniger Ehekonstellationen auf Ausnahmebewilligungen angewiesen. Ehebewilligungen Kanzeldispensen Ehepetitionen 1798 10 2 12 1799 25 5 30 1800 10 23 33 1801 6 44 50 1802 1 21 22 1803 1 12 13 Total 53 107 160 0 20 40 60 1798 1799 1800 1801 1802 1803 Ehebewilligung Kanzeldispens Ehepetitionen pro Jahr Diagramm 4 inkl. Tabelle: Petitionen in punkto prekäre Ehebegehren (Quellen: BAR B0#1000/ 1483#222*-229*; 489*; 490*; 604*; 605*) In 107 von den gesamthaft 160 Fällen baten die PetentInnen um die Dispen‐ sation von einer oder mehreren Kanzelverkündigungen. Da die dreimalige Kanzelverkündigung einer begehrten Eheschließung offiziell auch unter der helvetischen Regierung ein notwendiges Requisit für die Heirat blieb, kam das Ansuchen um deren Dispensation inhaltlich einer Bitte um eine Eheerlaubnis oft sehr nahe. Bevor nämlich eine Ehe durch den lokalen Pfarrer eingesegnet werden durfte, musste sie der alten Ehegerichtssatzung zufolge, die unter der Helvetischen Republik formal Gültigkeit behielt, drei Mal von der Kanzel der Kirche im Heimat- und Wohnort sowohl von Braut als auch Bräutigam verkündet worden sein. Kamen also die Brautleute aus unterschiedlichen Ge‐ meinden und wollten an einem dritten Ort heiraten, was dem Regelfall in 247 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 130 Erich Wenneker, Die Stellung der reformierten Pfarrer zur Helvetik, in: Helvetik - neue Ansätze. Referate des Helvetik-Kolloquiums vom 4. April 1992 in Basel, hrsg. v. André Schluchter/ Christian Simon, Basel 1993, 62-67, 63. 131 In Bern konnten beispielsweise Pfarrer qua Amt von der Verkündigung dispensiert werden. Vgl. Ehegerichtssatzung 1787, 799-801. 132 Eheverkündigung der Hintersässen, Landsassen, Handwerksleute und Dienstboten (11. Februar 1790), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 826; zu Ehedispensen bei verbotenen Verwandtschaftsgraden als Privileg des Adels und dem Anstieg von Ehen in verbotenen Verwandtschaftgraden vor allem im Bürgertum seit Ende des 18. Jahrhunderts: Lanzinger, Emotionen, 50. 133 Vgl. Dinges, Justiznutzungen, 504; als Quellenbeispiel kann hier der Fall von Franz Bürki und Elisabeth Thurni angeführt werden. Bürki war von seiner Heimatgemeinde bei der ersten Verkündigung aufgrund seiner angeblichen Armut an der Heirat gehindert worden. Daraufhin wandte er sich an das Bezirksgericht Bern, das seine Kompetenzen durch eine allfällige Entscheidung überstiegen sah und ihn an das Direktorium verwies, das er sodann anrief, um seine Eheschließung einzufordern; BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 459-466. den Petitionen entsprach, mussten drei verschiedene Pfarrpersonen deren Ehe an je drei verschiedenen Wochenenden von der Kanzel verkünden. Insgesamt wurde so eine Ehe also bei neun sonntäglichen Gottesdiensten verlesen. Dem einsegnenden Pfarrer, der in der Helvetik nicht nur zum „Religionsdiener“, sondern auch zu einem „Diener des Staates“ erklärt wurde, 130 mussten nach wie vor die Verkündigungsscheine oder eine Eheerlaubnis ausgehändigt werden, damit er zum legalen Vollzug der Ehe schreiten durfte. In Ausnahmefällen, die im Ancien Régime von geburtsständischen Privilegien oder an Ämter und Positionen gekoppelte Benefizien abhängig waren, konnten Dispensationen erteilt werden. 131 Diese Vorrechte wurden 1790, also ein Jahr nach der Franzö‐ sischen Revolution, durch Schultheißen und Räte als exklusives Privileg der Bernburger sogar noch einmal bestätigt, während sämtliche Untertanen explizit davon ausgeschlossen wurden. 132 In der Helvetischen Republik wurden dann aus allen Schichten und aus unterschiedlichen Gründen durch Bittschriften solche Dispensen verlangt, nicht zuletzt um zum Teil handfeste Konflikte auf lokaler Ebene zu umgehen, respektive zu den eigenen Gunsten aufzulösen. 133 Durch den geschickt gewählten Zeitpunkt der Kanzelverkündigung konnten die Brautleute nämlich durchaus einen gewissen Einfluss darauf ausüben, wer von der begehrten Eheschließung erfahren würde. Bei einem für die einmalige Verkündigung klug gewählten, das heißt besucherarmen, Gottesdienst hatte die Verkündung wohl pro-forma-Charakter. Einsprüche, Ehehindernisse und Rügerituale gegen die begehrte Eheschließung konnten also vermutlich durch die Trauung ‚gleich nach der ersten Eheverkündigung‘, so lautet der entspre‐ chende Passus in den Bewilligungen durch die Vollziehungsräte, weitgehend 248 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren umgangen werden. Deshalb stellte die Dispensation eine beträchtliche Heirats‐ erleichterung dar, die viel Zeit, Mühe und Ungemach ersparte. Sie verringerte in einer Anwesenheitsgesellschaft, die sich gerade erst zu wandeln begann, drastisch die Wahrscheinlichkeit von Einsprüchen und Agitationen gegen eine Eheschließung. In Bezug auf die Petitionen um die Dispensation von der Kanzelverkündigung präsentiert sich der Kurvenverlauf im Verhältnis zu jenem zu den Ansuchen um Ehebewilligung etwas verschoben, aber vergleichbar. Während es 1798 noch kaum zu Petitionen um die Dispensation von Kanzelverkündigungen kam (2), nahmen sie 1799 allmählich zu (5). Sie stiegen 1800, im Jahr des ersten Staatstreichs (23), erstmals stark an, just in dem Moment als die Petitionen um Ehebewilligung rapide zurückzugehen begannen. Die Zahl der Petitionen um Kanzeldispens gipfelte dann mit 44 im Jahr 1801. Ein Erklärungsversuch für den exponentiellen Anstieg könnte sein, dass die Kanzeldispensen von den AkteurInnen in der Stagnationsphase nach 1800, als auf helvetischer Ebene die Wiedereinführung der lokalen Chorgerichte diskutiert und die vorbehalts‐ lose Eheerlaubnis zunehmend zögerlich erteilt wurde, als niederschwelliges Substitut für die direkte Eheerlaubnis eingesetzt wurden. Zu diesem Punkt wird allerdings im Kapitel, das sich mit der praktischen Normierung durch die Regierung beschäftigt, auch noch zu berücksichtigen sein, in welcher Weise sich der Umgang der Zentralbehörden mit den matrimonialen Petitionen veränderte. Nach 1801 kam es dann auch in Bezug auf Anfragen um Kanzeldispensen nach dem steilen Anstieg zu einem ebenso markanten Abfall der Petitionen, der im Kurvenverlauf als Knick sichtbar wird. Danach läuft die Kurve bis 1803 auf höherem Niveau als die Kurve der Petitionen um Ehebewilligungen abfallend aus. In Bezug auf die Entwicklung der Gesamtzahlen der Petitionen um Ehebewil‐ ligung und Kanzeldispens lässt sich eine dreijährige Zunahme (1798-1800) und eine dreijährige Abnahme (1801-1803) verzeichnen. Diese Gesamtentwicklung der Petitionstätigkeit der AkteurInnen deckt sich mit dem Befund, dass die Helvetik in zwei Phasen verlief: einer zukunftsorientierten Modernisierungs‐ phase politischer Neuerungen und einer tendenziell reaktionären Stagnations‐ phase, die in zunehmendem Maß konservative Elemente rehabilitierte. Die allgemeine politische Tendenz fand auch konkreten Niederschlag im staatlichen Umgang mit den Petitionen: Die anfänglich fördernde Politik, die Bürger zum Petitionieren und zur politischen Partizipation ermunterte, wich allmählich einer Politik, die bemüht war, die Menge der Petitionen zu verringern und zu kanalisieren. Ausdruck davon waren zum Beispiel die steigenden Preise für das sogenannte ‚Stempelpapier‘. Außerdem wurde durch das obligatorische Visum 249 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 134 Würgler, Kontinuität, 60-61; Würgler, Not, 298. 135 Siffert, Verlobung, 61-65. 136 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 3-4. des Distriktstatthalters eine Instanz zwischengeschaltet, die den Behördenweg der Petitionen verlängerte und bereits einen Filter darstellte. 134 Auch schlagen sich in der Entwicklung der Kurve wohl die wachsenden Unklarheiten in den Verfahrenswegen und bürokratischen Abläufen nieder, die zu Unsicherheit und Frustration führen konnten. 2.1 Heiratswillige PetentInnen In Analogie zu den Ausführungen im Kapitel zum Ancien Régime soll nach diesem allgemeinen Überblick zu den helvetischen Petitionen in punkto prekäre Eheschließungen in den anschließenden Unterkapiteln aufgezeigt werden, wer die Petitionierenden waren, welche narrativen Taktiken sie unter den helvetischen Verhältnissen entwickelten und welche Veränderungen dieser Taktiken im Unterschied zum Ancien Régime erfolgten. Welche Argumente verwendeten sie nun, um sich die Ehe unter den neuen republikanischen Vorzeichen anzueignen und in den Genuss der damit verbundenen rechtlichen und materiellen Vorzüge zu kommen? Welcher Topoi bedienten sie sich? 2.1.1 Gesetzeswirksamer Eigensinn Formal behielten die alten Ehegesetze ihre Gültigkeit, die bereits in der Alten Eidgenossenschaft bestanden hatten. Der Entwurf des Helvetischen Civilcodex kam nicht zur Vollendung. Da dieses im Entwurf begriffene Zivilgesetzbuch nie angewendet wurde, blieb es auf dem Gebiet des Familien- und Eherechts offiziell bei punktuellen Entscheiden durch die Legislative und die Exekutive. 135 Allerdings nahm sich schon am 4. Mai 1798 ein erster Ehewilliger die Freiheit zu petitionieren: Wenige Wochen nach der Proklamation der ersten helvetischen Konstitution wandte sich Jakob Schneider aus der Ortschaft Mett bei Biel, nota bene ein Berner Kantonsbürger, an die gesetzgebenden Räte der Republik und nutzte somit das konstitutionell verbriefte Recht. Er wünschte laut seiner Bittschrift Barbara Schneider, seine Cousine ersten Grades, zu heiraten. 136 Damit forderte er eine eheliche Verbindung, die im alten Bern für Untertanen strikt verboten gewesen war. Die Ehegerichtsordnung von 1743, die bezüglich der ver‐ botenen Verwandtschaftsgrade auf biblischer Grundlage fußte, hatte Cousinen‐ heiraten zweiten Grades noch rigoros verboten. Nach diesen Regelungen waren 250 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 137 Chorgerichtssatzung 1743, 765. 138 Es dürfte kein Zufall sein, dass dieses Gesetz in jener zeitlichen Periode, die David Sabean ‚kinship hot‘ genannt hat, schriftlichen Niederschlag in der Ehegerichtsordnung fand. Sabean, Background, 116. 139 Ehegerichtssatzung 1787, 797. 140 Sie sind in den Archives Cantonales Vaudoise im Dossier mit der Signatur Bg 13/ 4 unter dem Titel Mariages entre cousins germains, ou autres semblables, question de validité, punitions encourues, remises de peines abgelegt. Für den Hinweis darauf danke ich Lucas Rappo. 141 Zum Begriff ‚strategische Verwandtschaftsbeziehungen‘ und der Bedeutung von Ver‐ wandtschaftsbeziehungen siehe Sandro Guzzi-Heeb, Generalisierbare Fallbeispiele? Mikrohistorische Perspektiven in der Familien- und Verwandtschaftsgeschichte, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 13 (2006), 93-107; spezifisch zu Bern vgl. Wittwer Hesse, Bedeutung, 149; ebenso Wittwer Hesse, Familie. die aus diesen Verwandtenehen resultierenden strafrechtlichen Folgen für die meisten Menschen schlicht untragbar. Wer nämlich außerhalb des Territoriums von Bern dennoch eine Ehe in verbotenen Verwandtschaftsgraden einging, verlor seine Rechte, durfte das Gebiet nicht mehr betreten und wurde mit der Konfiskation von sämtlichem Hab und Gut durch die Obrigkeit bestraft. 137 In der revidierten Ehegerichtsordnung von 1787 öffnete sich allerdings mit dem dritten Paragraphen der fünften Satzung für eine sehr vermögende Schicht im Gesetz ein Schlupfloch: 138 Sich heiratende Geschwisterkinder verloren zwar nach wie vor unmittelbar ihre Bürgerrechte und mussten das Kantonsgebiet verlassen. Doch die Strafe war befristet, wenn auch auf mindestens vier Jahre. Das stellte eine harte Strafe dar, die man sich sozial, finanziell, materiell oder emotional erst noch leisten können musste. Zudem behielt sich die Berner Obrigkeit ein Recht auf Leibes- und Ehrstrafen sowie güterrechtliche Sanktionen vor. Nach Ablauf dieser Dauer konnten diese Paare allerdings ein Gesuch um Begnadigung einreichen und dadurch ihre Bürgerrechte wiedererlangen und ins Kantonsgebiet zurückkehren. 139 Von dieser Möglichkeit wurde von einzelnen AkteurInnen erfolgreich Gebrauch gemacht. Davon zeugen zum Beispiel die dem lokalen Amtmann von Lausanne mitgeteilten Bewilligungen der Gnaden‐ gesuche durch Schultheiß und Räte im Staatsarchiv des Kantons Waadt aus der Zeit unter Berner Herrschaft. 140 Aber auch für vermögende Familien waren solche Verwandtschaftsverbindungen, die in Bern oft strategischen Zielen, also nicht zuletzt dem familienpolitischen Kalkül von Besitzstandswahrung und -vermehrung sowie herrschaftlichen Partizipationschancen folgten, bei allen Vorteilen mindestens zwischenzeitlich mit erheblichen Nachteilen und Schwierigkeiten verbunden. 141 Sie waren prekär, da die Eheleute die vier vorge‐ 251 2.1 Heiratswillige PetentInnen 142 Dass diese vier Jahre durchgesetzt wurden, davon zeugt das zurückgewiesene Gnaden‐ gesuch von Jean Louis Maria Anne Tondu aus Pully vom 7. April 1796. Das Paar bewarben sich zu früh um Access zur Rückkehr und wurden deswegen abgewiesen: Archives cantonales vaudoises (ACV), Bg 13/ 4. Mariages entre cousins germains, ou autres semblables, question de validité, punitions encourues, remises de peines (1538- 1890). 143 Lanzinger, Verwandtschaft, 26-27. 144 Dies wurde quantitativ festgestellt: Anne-Lise Head-König, Art. Ehehindernisse 2015. w ww.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D16109.php (26.08.2021) Sie hat für die Eidgenossenschaft spezifiziert, dass Cousinenheiraten in den reformierten Territorien in der Regel annul‐ liert wurden, während in den katholischen Gebieten von der Kirche Dispensen erteilt wurden. 145 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 3. schriebenen Jahre fern ihrer Heimat zubringen mussten. 142 Margareth Lanzinger stellt in ihrer Forschung darüber hinaus fest, dass die in den protestantischen Territorien tendenziell weniger zahlreichen Ehehindernisse und -verbote von den Obrigkeiten dafür umso kompromissloser und prinzipieller gegen ‚unten‘ durchgesetzt wurden als in den katholischen Gebieten. Sie sahen vielfach keine oder sozial weniger zugängliche Möglichkeiten für eine allfällige Dispensierung vor, weil das Erwerben von göttlicher Gnade, von Segen und Heil auf funda‐ mentale reformatorische Kritik stieß. 143 So waren vermutlich die Hemmungen gegenüber Eheschließungen in nahen Verwandtschaftsgraden im Gebiet von Bern erheblich größer, weil die Hürden höher waren und die Chancen der Realisation schlechter standen. Daher waren sie seltener als in den benachbarten katholischen Gebieten der Eidgenossenschaft. 144 Jakob Schneider aus Mett war sich dieser beschriebenen rechtlichen Rah‐ menbedingungen als Zeitgenosse durchaus bewusst, wenn in der von ihm unterzeichneten Petition überzeugt und in Bezug auf die alte Dispenspraxis in seiner sozialen Position vielleicht etwas euphemistisch formuliert wurde, dass „eine solche Ehe […] nach dem ehemaligen Landes Gesäzen verboten [ware], es seye dann Sach, dass man hierzu von dem Landesherre eine Dispensation in Handen hatte, welche aber, wie häuffige Beyspiele zeugen, nicht so gar schwer zu erhalten ware.“ 145 Und genau so eine Dispensation, beziehungsweise den Schein mit der Ehebewilligung, forderte Jakob Schneider nun für die kirchliche Einsegnung seiner Eheschließung. Der Bitte wurde im Großen Rat sogleich entsprochen. Allerdings überwiesen seine Mitglieder das alte Berner Ehegesetz an eine Kommission, die ad hoc vom Ratspräsidenten gebildet wurde. Sie sollte die Dispensation überprüfen und eine Einschätzung des alten Ehegesetzes vornehmen. Obwohl auch der Senat, die kleinere Parlamentskammer, der Petition stattgab, löste Schneiders Bittschrift hier größere Spannungen aus. So 252 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 146 Thomas Baumann, Das helvetische Parlament. Parlamentarismus im Lichte des Gegen‐ satzes zwischen aufgeklärter Bildungselite und revolutionären Patrioten, Genf 2013, 199. 147 ASHR, Bd. 1, Nr. 96, 954. 148 Vgl. Kopp, Art. Peter Ochs; ebenso Laurenz Zellweger, Peter Ochs als Eherichter, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 95 (1995), 107-156, 108-109. 149 ASHR, Bd. 1, Nr. 96, 954. 150 Ebd., Bd. 3, Nr. 19, 103. 151 Andreas Hepp hat sich aus einer ganz anderen Perspektive den Taktiken und Strategien zugewendet. Dennoch verdienen seine wertvollen theoretischen Überlegungen zur meinte zumindest der Jurist Jules Muret aus dem Kanton Léman, 146 dass die aktuelle Verfassung die Befolgung der alten Gesetze mangels neuer Gesetze zwar verlange, Dispensen allerdings Privilegien darstellten und deswegen dem obersten Gebot der Gleichheit widersprechen würden. 147 Der Basler Peter Ochs, geistiger Vater der Verfassung und zu diesem Zeitpunkt noch Präsident des Senats, der nach der Helvetik Präsident des Basler Ehegerichts wurde, vertrat bezüglich des Umgangs mit den alten Gesetzen eine andere Auffassung. 148 Laut des alten Berner Ehegesetzes, das während der Helvetik nie vollständig außer Kraft gesetzt und nur durch punktuelle Erlasse ‚übertüncht‘ oder ergänzt wurde, waren Dispensationen möglich und wurden erteilt. Insofern sollten sie dem Rechtsverständnis von Ochs zufolge nun nicht aufgehoben werden. Statt‐ dessen sollten sie allen Bürgern, unabhängig von ihrem ehemaligen Stand oder ihren Vermögensverhältnissen, mittels Bittschriften als Möglichkeit zugänglich gemacht werden. 149 Die naturrechtliche Auslegeart des Ehegesetzes von Ochs gewann nicht nur in der einmaligen parlamentarischen Auseinandersetzung, sondern auch in der generellen Praxis: Nach Jakob Schneider petitionierten Menschen aus allen Schichten und Kantonen in vergleichbaren Situationen und verlangten Ehebewilligungen oder Kanzeldispensen, die sie oftmals auch erhielten. Am Fall von Jakob Schneider wird pointiert deutlich, wie von einem kon‐ kreten Akteur aus einer ländlichen Gemeinde die ‚günstige Gelegenheit‘ der Helvetischen Republik zu eigenen Gunsten taktisch erfolgreich ausgenutzt wurde. Sein Handeln hatte in der konkreten historischen Konstellation ehe‐ rechtliche Folgen. Seine Aktion veranlasste das Parlament zu ersten grund‐ legenden Reflexionen über das herrschende Eherecht. Die parlamentarische Debatte bewirkte vorerst die Transformation eines ständischen Privilegs in ein allen Schichten und Klassen zustehendes Recht. Am 17. Oktober 1798 wurde das alte Hindernis für die Ehen von Geschwisterkindern sogar gänz‐ lich aufgehoben. 150 In dieser Entwicklung kommt der „produktive Charakter“ der Taktiken, 151 der während der Helvetik sehr ausgeprägt zu sein schien, 253 2.1 Heiratswillige PetentInnen Handlungstheorie von de Certeau hier Beachtung. Andreas Hepp, Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus der Perspektive der Cultural Studies, Op‐ laden, Wiesbaden 1998, 37. 152 Zu dieser Einschätzung kommen für England im 19. Jahrhundert auch Richard Huzzey und Henry Miller. Sie grenzen sich damit dezidiert gegen ältere Positionen wie z. B. denen von E. P. Thompson und Eric Hobsbawm ab. Letztere sahen auf ihrer Suche nach Belegen für „class-consciousness“ in den demütig formulierten Bittschriften wenig versprechende Quellen („unpromising sources“) und erachteten das Petitionieren als eine wirkungslose politische Agitation („a pointless form of political action“). Richard Huzzey/ Henry Miller, Petitions, Parliament and Political Culture. Petitioning the House of Commons, 1780-1918, in: Past and Present 248 (2020), 123-164, 126-127. 153 Andreas Hepp macht darauf aufmerksam, dass Michel de Certeau mit seiner Konzeption von Taktik und Strategie „zwei Idealtypen menschlichen Handelns“ entwirft, die als Schablonen, die im übertragenen Sinn auf die Realität gelegt werden können, zu betrachten sind. So ist jeder Stratege mindestens außerhalb seiner Herrschaftsfunktion immer auch Taktiker; Hepp, Fernsehaneignung, 35. 154 Dinges, Justiznutzungen, 504. 155 Latour, Soziologie, 22. exemplarisch zum Ausdruck: Die taktierenden AkteurInnen veranlassten die Strategen zu Anpassungen der alten Gesetze. Auf diese Weise evozierten sie in dieser Zeit grundlegende Veränderungen. 152 Dabei fanden sie in der historisch vorteilhaften Situation neben Gegnern zweifellos auch verbündete Strategen, 153 die das Handeln der TaktikerInnen ihrerseits als Ansatzpunkte betrachteten, um die herrschenden Verhältnisse zu verändern und eine neue Bevölkerungspolitik einzuführen. Es entwickelte sich also eine Allianz zwischen Heiratswilligen und reformorientierten Politikern, die durch die Aktionen der Heiratswilligen ihrerseits Anlass geboten bekamen, Neuerungen einzuführen. Seitens der Ak‐ teurInnen prekärer Eheschließungen war nun verhältnismäßig weniger Hart‐ näckigkeit erforderlich, um zum matrimonialen Erfolg zu gelangen. Während der Helvetik entstand zwischen eigensinnigen Taktiken und republikanischen Strategien in besonderem Maße eine wechselseitige Beziehung. Man kann sich die Frage stellen, ob es während der Helvetik im Feld der Eheschließung zu einer zwischenzeitlichen Reduktion des Machtgefälles, beziehungsweise zur Annäherung zwischen TaktikerInnen und Strategen, kam. Aber auch in diesem Fall brachte erst die historische „Inanspruchnahme“ durch die AkteurInnen die Strategen im Parlament zum Sprechen, indem die TaktikerInnen „den eigenen Standpunkt nachdrücklich klarmach[t]en“ und dadurch Reaktionen erzwangen. 154 Ganz in diesem Sinne meint Bruno Latour: „Sichtbar ist das Soziale […] nur in den Spuren, die es hinterlässt“ 155 und formuliert damit das grund‐ legendste Quellenprinzip von Historiker*innen. Hätten sich die historischen AkteurInnen nicht schriftlich petitionierend an die gesetzgebenden Räte oder das helvetische Direktorium gewandt, wären sie nicht zuletzt auch für die 254 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 156 Certeau, Kunst, 80. 157 Ebd. 158 Ebd., 92. 159 Anne-Lise Head-König schreibt wörtlich: „Le droit au mariage de l’Helvétique a eu pour objectif la suppression des obstacles qui visaient à limiter la reproduction sociale de couples jugés indésirables tant sur le plan confessionnel […] que sur le plan économique […].“ Head-König, Mariage, 154. 160 Die hier untersuchten Akteure prekärer Eheschließungen werden im Sinne von Bruno Latour als Mittler verstanden. „Mittler übersetzen, entstellen, modifizieren und trans‐ formieren die Bedeutung oder die Elemente, die sie übermitteln sollen.“ Latour, Sozio‐ Historiker*innen stumm geblieben, weil sie keine Quellen produziert hätten. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen mussten „ihre Aktivitäten“ also auch während der für sie günstigen Helvetik zuerst „einschreiben“, damit sie für die Mächtigen wahrnehmbar wurden. 156 Mit ihren prekären Ehebegehren „bekrit‐ zelt[en]“ sie die Kodizes der helvetischen Verwaltung in Form von Petitionen, und hinterließen damit ein „Zeichen [ihrer] Existenz als Autor[en]“. 157 Dem Beispiel des Bürgers aus Mett folgten zahlreiche andere AkteurInnen, die ebenfalls um eine Ehebewilligung baten, auch aus anderen Gründen als einer Cousinenheirat. Sie und ihre ehelichen Vorstellungen werden Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Die taktischen „Spiele“, die die AkteurInnen mit ihren prekären Eheschließungen bereits während des Ancien Régimes „in die Grundlage der Macht“ eingebracht hatten, 158 trafen während der Helvetik auf ideale politische Umstände. Denn die lokale Macht der Hausväter wurde durch die Zentralbehörden und deren Streben nach einem zentralistischen Gewaltmonopol unterwandert. Die AkteurInnen hatten es anfänglich mit einer zentralistischen Verwaltung zu tun, die sich dem konstitutionellen Anspruch nach der Gleichheit und Freiheit aller Bürger - die Frauen wurden nach wie vor nicht als rechtsgleiche Subjekte wahrgenommen - und der Sorge um das Volk verschrieb und dabei unmittelbar auf das Individuum zuzugreifen wünschte. Die praktische bevölkerungspolitische Umsetzung sollte rationalen Prinzipien gehorchen und auf der statistischen Grundlage der helvetischen Volkszählung basieren. So zielte die helvetische Ehegesetzgebung, die punktuell reagierte, zumindest anfänglich eindeutig auf die Reduktion und Abschaffung von Hin‐ dernissen ab, die der gesellschaftlichen Reproduktion entgegenstanden. 159 Der eigensinnige Aneignungs- und Übersetzungsvorgang des alten Berner Gesetzes durch den spezifischen „Mittler“ Jakob Schneider aus Mett markierte innerhalb dieses politischen Rahmens die Initialzündung für einen Prozess, infolgedessen zumindest für die Dauer der Helvetik noch andere patriarchale und religiöse Ehehindernisse aufgrund der Praxis der AkteurInnen im Zusammenspiel mit einer aufklärerischen Staatsideologie wegerodierten, 160 jedoch nie in Vergessen‐ 255 2.1 Heiratswillige PetentInnen logie, 70; vgl. zu Chancen der Adaption der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour in der Geschichtswissenschaft Margareth Lanzinger, Das Lokale neu positionieren im actor-network-Raum. Globalgeschichtliche Herausforderungen und illyrische Steuer‐ politiken 2012. www.hsozkult.de/ debate/ id/ diskussionen-1810 (26.08.2021). 161 ASHR, Bd. 2, Nr. 163, 760. 162 BAR B0#1000/ 1483#605*, Dispensation, 5. 163 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 329. 164 Ebd., 327. heit gerieten, wie die Diskussion um die Wiedereinführung der lokalen Ehege‐ richte zeigte. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen brachten auf diese Weise mittelfristig eine alte ständische Macht ins Wanken, beziehungsweise trugen mit ihrem konkreten ehelichen Handeln zu deren Überwindung bei. Im weiteren Verlauf der reformorientierten Anfangsphase der helvetischen Ära wurden nicht nur die verbotenen Verwandtschaftsgrade bis zum zweiten Grad aufgehoben. Auch das Verbot für gemischtkonfessionelle Ehen, das nicht nur von der Berner Obrigkeit zuvor gegenüber ihren Angehörigen und Untertanen in absoluter Konsequenz sowie unter Androhung und der effektiven Verhän‐ gung drakonischer Strafen umgesetzt worden war, verlor in Anbetracht des tatkräftigen Eigensinns und der Rechtspraxis einer vorerst fortschrittsoptimisti‐ schen Behörde am 2. August 1798 seine Wirkung. 161 Davon zeugt beispielsweise die bewilligte Petition um Kanzeldispens von Jean Barbet: Der katholische Freiburger schwängerte die protestantische Elisabeth Vacheron und wünschte nun diese zu ehelichen. In seiner Bittschrift ließ der unterzeichnende Verlobte verlauten, dass die Eheschließung aufgrund der Konfessionsunterschiede in Schwierigkeiten geraten würde. Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Verbindung vernichten wollten. 162 Am 28. Oktober 1798 bat der Berner Ulrich Gerber, seine Magd Anna Gerber ehelichen zu dürfen. Er war trotz des gleichen Namens laut eigenen Angaben nicht mit ihr verwandt, hatte sie aber im Ehebruch geschwän‐ gert. „Will das alte Bernische Gesez, auf den Fahl hie die Kuppolattion [sic] verbiettet“, stand in der eigensinnigen Petition des ehewilligen Ulrich Gerber unumwunden die sehr direkte Frage formuliert: „[S]oll dieses Gesez wägfallen oder nicht? “ 163 Tatsächlich wurde im konkreten Fall das alte Gesetz suspendiert. Die Ehebegehren von Ehebrechern und Ehebrecherinnen unter dem Ancien Régime hatten in Bern nämlich keine Chance auf matrimonialen Erfolg. Das zeigen die Rekursmanuale sowie der konkrete Fall, obwohl „der Gerber alle fügliche[n] mittel und masregel[n] zur Hand nam“. 164 Dagegen wurde nun vom Direktorium ein weiterer Präzedenzfall geschaffen, der im Widerspruch zum Berner Ehegesetz stand. In Bezug auf die unteren Bevölkerungsschichten hatte wohl das Wegfallen der alten Einzugsgelder für Bräute aus anderen Gemeinden die stärksten ehefördernden Auswirkungen. Der entsprechende 256 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 165 ASHR, Bd. 2, Nr. 209, 873. 166 Head-König, Mariage, 154. 167 Siffert, Verlobung, 65. 168 Vgl. Head-König, Mariage, 155. 169 Würgler, Not, 298. Beschluss wurde am 18. August 1798 vom Senat verabschiedet, nachdem sich der Große Rat bereits zuvor dafür entschieden hatte. 165 Dadurch wurde das Heiraten nicht nur rechtlich und damit sozial einfacher, sondern auch finanziell erschwinglicher. 166 Insofern stellte die Helvetik wortwörtlich eine günstige, das heißt preiswerte Gelegenheit dar zu heiraten, weil ein Teil der Kosten schlicht wegfiel. 167 Von dieser vorteilhaften Situation versuchten in der Folge zahlreiche PetitionärInnen zu profitieren. Viele von ihnen nutzten die neue Rechtsprechung, um unter dem Ancien Régime prekäre Beziehungsverhältnisse nun ehelich zu legitimieren. 168 2.1.2 Soziale Profile der PetentInnen Im vorausgehenden Unterkapitel konnte gezeigt werden, dass der eheliche Eigensinn unter den vorteilhaften politischen Verhältnissen besonders im refor‐ merischen Klima zu Beginn der Republik gedeihen konnte - dies nicht zuletzt, weil er rechtliche Effekte zeitigte. Nun geht es analog zu den Ausführungen im Kapitel zum Ancien Régime darum, sich den PetentInnen anzunähern. Wer waren die petitionierenden AkteurInnen, die sich eigenhändig in die Akten der Republik einschrieben oder sich mit ihren Ehegeschichten über einen Notar in die Bestände des helvetischen Archivs drängten? Wiederum wird es in der Mehrheit der Fälle weder möglich sein, eine konzise und durchgehende Bestimmung der Schichtzugehörigkeit der PetentInnen vorzunehmen, noch ein präzises Bild des idealtypischen Petenten oder der idealtypischen Petentin zu entwerfen. Dafür fehlen allzu oft Angaben oder sie sind nicht immer gleich ausführlich. Selten werden dieselben sozialen Parameter angeführt, was die systematische Auswertung erschwert. Dennoch lassen sich einige Tendenzen im Quellenmaterial feststellen. Damit ist bereits ein maßgebliches Charakteristikum des Quellenbestands und eine Gemeinsamkeit mit dem Ancien Régime benannt: Für die prekären Eheschlie‐ ßungen ist während der Helvetik eine große Bandbreite von unterschiedlichen Menschen in den Bittschriften zu erkennen. Dies ist einerseits eine Feststellung, die nicht nur auf die Ansuchen um Kanzeldispensen oder Heiratsbewilligungen zutrifft, sondern in der Forschung auch schon ganz allgemein für die helvetischen Petitionen hervorgehoben wurde. 169 Andererseits untermauert die soziale Diver‐ 257 2.1 Heiratswillige PetentInnen 170 Vgl. van Dülmen (Hrsg.), Kultur, 134. 171 Zur landwirtschaftlichen Nutzung des Berner Mittelands vgl. François Jeanneret, Gliede‐ rung des Naturraumes, in: Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern, 1750-1995. sität der Ehebegehrenden die These im Hinblick auf die Frühe Neuzeit auch für den helvetischen Übergang zur vermeintlichen Moderne, auf die bereits im Teil zum Ancien Régime verwiesen worden ist: Die Verehelichung wurde schichtun‐ abhängig von fast allen Menschen angestrebt. 170 Die eheliche Unsicherheit, die von AkteurInnen im sozialen Nahraum jederzeit ausgelöst werden konnte, vermochte Angehörige jeder gesellschaftlichen Schicht zu erfassen. So waren von den etwas weniger als 50 % der Petenten, deren Beschäftigung wir aus den Quellen erfahren (76), die meisten in einem Handwerk tätig (22). Die zweitgrößte Berufsgruppe bildeten die Beamten in der helvetischen Verwaltung (17). Auch Militärs von unterschiedlichem Rang wünschten via Bittschrift die erleichterte Verehelichung (9). In je gleicher Zahl (jeweils 7) baten Religionsdiener, Unternehmer und Han‐ delsleute, solche, die freie Berufe ausübten, und Gesindeleute um eine möglichst hindernisfreie Heirat. Beamte/ Verwaltung 17 Freie Berufe 7 Religionsdiener 7 Gesinde 7 Handwerker 22 Militär 9 Unternehmer 7 o.A. 84 Beamte/ Verwaltung Freie Berufe Religionsdiener Gesinde Handwerker Militär Unternehmer o.A. Diagramm 5 inkl. Tabelle: Petenten nach Beschäftigungen (Quellen: BAR B0#1000/ 1483#223*-229*; 489*; 490*; 604*; 605*) Die überwiegende Zahl der Petenten, die ihre ehelichen Bitten aus dem Kanton Bern an die helvetischen Zentralbehörden richteten und ihre Herkunft nannten, waren Einheimische. Allerdings lebten die meisten von ihnen nicht mehr in derjenigen Gemeinde, die in der Petition als Herkunfts- oder Heimatort genannt wurde. Die Mehrheit von ihnen stammte aus den durch Getreidewirtschaft und Ackerbau agrarisch intensiv genutzten Gebieten des Berner Mittellands. 171 258 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren Umwelt, Bevölkerung, Wirtschaft, Politik, hrsg. v. Christian Pfister/ Hans-Rudolf Egli, Bern 1998, 26-27, 26; Pfister, Strom, 30. 172 Ludi, Frauenarmut, 20. 173 Lorey (Hrsg.), Regierung, 13. 174 Ludi, Frauenarmut, 20-21. 175 Mathieu, Bauern, 157. 176 Pfister, Strom, 144-148. Aufgrund dieser Feststellung kann wie in der Analyse zum Ancien Régime davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil, der seine berufliche Tätigkeit in der Petition nicht nannte, einer Beschäftigung im landwirtschaftlichen Bereich nachging oder pluriaktiv war. Dazu kamen einige Fremde aus dem europäischen Raum (12) und Angehörige anderer Kantone (15), die sich vor allem in der Stadt Bern niedergelassen hatten. Das beschriebene Phänomen der Disparität von Herkunfts- und Wohnort, wobei ersterer meistens auf einen agrarischen Lebenskontext verwies, darf als Indikator für eine ausgeprägte regionale Mobilität an der Schwelle vom ausgehenden 18. zum beginnenden 19. Jahrhundert interpretiert werden. Die hohe räumliche Beweglichkeit der Menschen zu dieser Zeit ist für Bern mit dem Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zur Erwerbsgesellschaft in Verbindung zu bringen: Die räum‐ liche Mobilität war verursacht von „Verdienstmangel, Arbeitslosigkeit und […] allgemeine[r] Verknappung der Ressourcen“. 172 Diese Faktoren potenzierten sich während der Zeit französischer Besatzung, politischer Umwälzungen und Kriege. Die Bedingungen formierten einen während der Helvetik gesteigerten Zwang zur beruflichen und räumlichen Flexibilität. Sie ergaben für die betrof‐ fenen Menschen ganz im Sinne des Konzepts von Prekarität „ein Leben mit dem Unvorhersehbaren“. 173 Der wachsende Überschuss an Arbeitskräften erschwerte sowohl ein Auskommen in der traditionellen agrarischen Subsistenzwirtschaft als auch in der sonstigen Erwerbswirtschaft. 174 Damit liegt die Vermutung nahe, dass einige der Männer, die keine berufliche Tätigkeit angaben (84), keine stabile Arbeit hatten und somit auch keine benennen konnten. Sie besaßen deshalb in aller Regel auch wenige Güter, weshalb sie materiell nicht an die Heimat gebunden waren. 175 Für diese These spricht auch der Umstand, dass lediglich 21 PetentInnen die Stadt Bern als ihren Herkunftsort nannten, 51 hin‐ gegen die Hauptstadt als Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Petition auswiesen. Die Hauptstadt übte bei der Suche nach Existenzsicherung eine besonders starke Anziehungskraft auf die Landbevölkerung aus, weil sie verschiedene Berufsfelder und Arbeitsgelegenheiten auf engem Raum vereinte. Dadurch stiegen dort die Verdienstchancen und die Aussicht auf ein Auskommen erhöhte sich. 176 Viele der PetentInnen waren wohl Angehörige jener subalternen Gruppe, 259 2.1 Heiratswillige PetentInnen 177 BAR B0#1000/ 1483#229*, Petitionen 1801, 31. 178 Ebd. 179 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 27-32. 180 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 67-68. 181 BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 299. 182 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 65-66. 183 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 291-294. 184 BAR B0#1000/ 1483#229*, Petitionen 1801, 29-31. 185 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 237-241. 186 Eva Sutter formuliert sehr explizit: „Mit Rücksicht auf ihre verglichen mit den Männern der gleichen Sozialschicht schlechteren Verdienstmöglichkeiten und den generell stärker eingeschränkten sozialen und ökonomischen Handlungsspielraum ist es einsichtig, dass arme Frauen ihre Subsistenzerwartungen in besonderem Maß auf die Ehe ausrichteten.“ Sutter, Illegitimität, 46. die sich auf der ständigen Suche nach Unterkunft und Erwerbsmöglichkeiten befand und mit der Ehe nicht zuletzt beabsichtigte, ihre Lebenssituation durch die Etablierung eines Haushalts grundlegend zu verbessern. Einige versuchten auch, die prekären Arbeitsverhältnisse durch die Stabilisierung der häuslichen Verhältnisse und die örtliche Niederlassung abzusichern. Diese Hoffnung brachte ein Fremder als „mittellose[r] Manne und häusliche[r] Anfänger“, der sich in Bern dauerhaft niederzulassen gedachte, in seiner Bittschrift um die Eheerlaubnis exemplarisch zum Ausdruck. 177 Als Alternative zur Eheschließung stellte er zwei Szenarien in Aussicht: „seine Familie entweder am [sic] Stich zu lassen, oder mit ihr im Unglük und Elend herum zu ziehen“. 178 Dieser Fremde war aber bei weitem nicht der Einzige, der eine prekäre Existenz aufwies. Neben ihm begehrten auch andere „Schwachbemittelte“ 179 oder „ganz unbemittelte Männer“ 180 die ungehinderte Eheschließung. Einige waren verwitwet, gewisse davon deswegen alleinerziehende Väter. 181 Sie bezeichneten sich als Söhne von mittellosen Bauern oder wurden als solche bezeichnet. 182 Sie wurden in den Petitionen „Landmänner“ und „niedere Hüttenbewohner“ genannt. 183 Einer war ein ausländischer Deserteur. 184 Ein weiterer befand sich zum Zeitpunkt der Petition sogar in Haft und gab von dort aus die Petition in Auftrag. 185 Bei den Frauen, die in den Petitionen genannt wurden, offenbaren sich ähnliche Tendenzen: Wo Herkunfts- und Aufenthaltsort angegeben waren, unterschieden sich die beiden Angaben meistens. Das erstaunt nicht, waren doch die Frauen von der zwischenzeitlichen Verschlechterung des Arbeitsangebots durch den allmählichen Übergang von einer agrarisch geprägten Wirtschaft hin zu einer Erwerbsgesellschaft besonders eklatant betroffen. Folglich waren sie außerordent‐ lich verletzlich und zu einer besonders flexiblen Lebensweise genötigt. Insofern musste die Eheschließung als verheißungsvoller Ausstieg aus dieser unsteten Lebensweise für die Frauen ungleich attraktiver erscheinen. 186 Denn was von 260 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 187 Ludi, Frauenarmut, 21. der Forschung für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehalten worden ist, trifft für die wirtschaftlich angespannte Zeit der Helvetik in ungleich höherem Maß zu: Den subalternen Frauen stand in dieser Phase ein wesentlich schmäleres Berufsspektrum offen als den Männern. Ihre Erwerbsmöglichkeiten waren noch knapper, weshalb sie in gesteigertem Maß zu räumlicher Mobilität gezwungen waren. 187 Allerdings wurden nicht nur die Angaben zur Herkunft in den Petitionen in Bezug auf das weibliche Geschlecht weniger häufig genannt als bei ihren Verlobten. Auch in Zusammenhang mit dem Lebenserwerb erfahren wir nur in neun Fällen die Beschäftigung der jeweiligen Frau. Acht von ihnen standen in häuslichen Dienstverhältnissen. Sie wurden als Haushälterinnen, Dienstmägde und Nebenmägde bezeichnet. Eine Ehewillige wies sich außerdem als Schneiderin aus. Das waren alles Berufe und Beschäftigungen, die von finanzieller Unsicher‐ heit und Abhängigkeiten vom Dienstherrn gekennzeichnet waren. Es erstaunt in Anbetracht der grundsätzlich prekären Stellung der hier thematisierten Frauen nicht, dass die Information, die wir über sie in den Quellen am häufigsten erhalten, entweder der Name des Vaters oder, im Fall von Witwen, jener des verstorbenen Mannes war. Wie in den analysierten Zugrechtsklagen unter dem Ancien Régime wurde der Status der Frau also auch in den Bittschriften maßgeblich über männ‐ liche Bezugspersonen definiert. So erschienen die Frauen in den Petitionen zum Teil als nachgeordnete männliche Attribute, deren unverzichtbarer wirtschaftli‐ cher und emotionaler Beitrag zum Gelingen von Haus und Familie unsichtbar oder marginalisiert blieb. In Zusammenhang mit der patriarchalen Gesellschaftsordnung und den Rechten der Frauen kann so etwas wie ein helvetischer Neuanfang nicht festgestellt werden. Als Individuen in den Bittschriften traten die Männer und nicht die Frauen auf. Neben der deutlichen Diskrepanz zwischen der Menge an Informationen zu Mann oder Frau zeichnet sich die konsistenteste quantitative Tendenz im untersuchten Quellenmaterial auch in Bezug auf das Geschlecht der petitionierenden Personen ab. In den untersuchten 160 Berner Petitionen finden sich lediglich vier Bittschriften, die explizit auf das Ansuchen einer Frau hin verfasst wurden. Nur sie waren nicht aus der direkten oder indirekten Er‐ zählperspektive des potenziellen Ehemannes geschrieben, sondern schilderten die weiblichen Bedürfnisse nach einer Ehebeziehung und die damit verbun‐ denen Vorteile. Bezeichnenderweise handelte es sich bei allen vier Frauen um Witwen. Die Petition, die von der stärksten weiblichen Handlungsautonomie zeugte, wurde in der ersten Person Singular geschrieben. Darin adressierte die geschiedene Haushälterin Maria Ägerter, geborene Habegger, die helvetischen 261 2.1 Heiratswillige PetentInnen 188 BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen 1799/ II, 225-256. 189 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 113-122. 190 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 101-102; BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 99-100. 191 Gesa Ingendahl hat in ihrer Studie zu Witwen in Ravensburg in der Frühen Neuzeit resümiert, dass diese auf ihrer Eigenständigkeit beharrten, gleichwohl aber geschickt Beistand suchten, wenn es für sie sinnvoll und gewinnbringend sein konnte, sie „unterliefen aber erfolgreich jede ständige Überwachung“. Ingendahl, Witwen, 223. 192 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 101-102. 193 Regula Ludi formuliert es in Bezug auf Frauen der Unterschicht und das gesamte 19. Jahrhundert sehr drastisch, wenn sie schreibt, dass für diese „ein selbstständiges Leben kaum in Betracht“ kam. „[I]hre Existenz war nur in wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeit garantiert.“ Ludi, Frauenarmut, 20. Gesetzgeber. Sie richtete sich selbstbewusst gegen ihren „lüderlichen“ und zwischenzeitlich verstorbenen Ex-Mann und unterschrieb das Dokument allein und eigenhändig. 188 Eine weitere Frau unterzeichnete die Petition neben dem als Ehepartner begehrten Mann eigenhändig. 189 Zwei Petitionen wurden im Namen der Frauen lediglich durch einen Schreiber unterzeichnet. 190 Die Witwenschaft war während des gesamten Untersuchungszeitraums ein ambivalenter Stand. Zum einen konnte er ohne einen Ehemann an der Seite eine stärkere Selbstbestimmung im Alltag bedeuten. Zum anderen war man in offi‐ ziellen Angelegenheiten immer auf einen Vogt angewiesen. 191 So ist gerade diese Spannung zwischen alltäglicher Eigenständigkeit und der Gängelung durch den Vogt in finanziellen und rechtlichen Belangen eine mögliche Erklärung dafür, dass alle mehr oder weniger selbstständig petitionierenden Frauen Witwen waren. Dennoch verlangten mit Ausnahme der selbstbewussten Maria Ägerter auch die verwitweten Frauen ganz in der zeitgenössischen Geschlechtslogik und, abgesehen von der formalisierten Anrede- und Grußformel, mit wenig revolutionärem Pathos immer nach „männliche[r] Hilfe“ für ihr Hauswesen und/ oder zur Aufrechterhaltung des Betriebs des verstorbenen Ehemanns. 192 Insofern lässt sich an der rechtlichen Selbstbestimmung dieser Witwen gleich‐ zeitig die Kehrseite erkennen: die materielle Verletzlichkeit und Abhängigkeit im zweifellos fortbestehenden patriarchalen System. 193 Die verschwindend geringe Zahl eigenständiger weiblicher Petentinnen in matrimonialen Belangen, gepaart mit der Prekarität und dem damit ver‐ bundenen Ruf nach männlicher Unterstützung, machen es notwendig, den Befund von Suzanne Desan in Bezug auf die Französische Revolution für die Helvetik genau zu überprüfen. Die Historikerin hält nämlich fest, dass die Revolution in Frankreich für Frauen Lücken und Möglichkeiten eröffnete, die 262 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 194 Suzanne Desan, Pétitions de femmes en faveur d’une réforme révolutionnaire de la famille, in: Annales historiques de la Révolution française (2006), 27-46. 195 Borgeat-Pignat, Droits, 209. 196 Vgl. Sabean, Allianzen. 197 Zur Konzentration der neuen Rechte auf den Mann in der Französischen Revolution: Claudia Opitz-Belakhal, Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterord‐ nung. Studien zur Politik- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster 2002, 147-157; zu den Widersprüchen der Aufklärung in Bezug auf die Gleichheit von Frauen und Männern in der Ehe Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft. Widersprüche der Aufklärung, in: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Ute Gerhard, Sonderausg., München 1997, 265-292. herkömmlichen patriarchalen Strukturen in Frage zu stellen. 194 Und so ist im Zusammenhang mit den helvetischen Verhältnissen von der Forschung auch schon beschrieben worden, dass die Desillusion unter den Revolutionärinnen schlussendlich überwog, nicht zuletzt, weil sie von den Männern marginalisiert wurden. 195 In dieses Bild passt, dass 72 Petitionen, also der größte Teil, von den männlichen Verlobten im Namen des Paars allein unterschrieben wurden. Lediglich zehn Petitionen waren von beiden Teilen paritätisch signiert, ohne dass der Frau ein männlicher Vormund beigestellt war. In 15 Fällen unterschrieb der Mann für sich, während der Unterschrift der Frau noch jene ihrer elterlichen oder gemeindlichen Vormundschaft beigefügt war. Und auch die restlichen Fälle, in denen die Unterschrift nicht gänzlich fehlte, wurde allermeist mit dem Namen eines männlichen Stellvertreters des Mannes unterzeichnet. 196 Die Bevormundung des weiblichen Geschlechts in Rechtssachen war in der hier untersuchten Quellengattung also keineswegs beendet. Sie gab in den durch Frauen exklusiv oder paritätisch unterzeichneten Petitionen höchstens feine Haarrisse zu erkennen. Im Allgemeinen blieben Gleichheit und Freiheit aber brüderliche Rechte. 197 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung Die alten Chorgerichte und das Oberchorgericht wurden früh aufgehoben. Die alten gesetzlichen Ehehindernisse wurden durch die Praxis des Petitionierens suk‐ zessive abgebaut. Doch obwohl die BittstellerInnen die ständischen Prinzipien der Berner Ehegerichtsordnung allmählich strukturell aushebelten und das anfänglich geförderte Petitionieren im weiteren Verlauf der Helvetik allmählich wieder er‐ schwert wurde, kam es, wie anhand der Kurven in den Grafiken zu sehen gewesen 263 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 198 Wienfort, Verliebt, 9. ist, bis ans Ende der Helvetik zu Petitionen in ehelichen Angelegenheiten. In den folgenden Unterkapiteln wird es deshalb darum gehen, zu ergründen, was die Ehe‐ schließungen, die in den Gesuchen um Eheerlaubnis oder Kanzeldispens vorgestellt wurden, nach wie vor unsicher machte. Neben den Heiratsmotiven und den Be‐ ziehungen der AkteurInnen zum Staat, die in den Petitionen deutlich hervortreten, wird in diesem Kapitel erläutert, wie sich im lokalen Kontext Opponierende trotz abgebauten gesetzlichen Ehehindernissen weiterhin gegen die Eheschließungen sträubten. Aus den Petitionen erhält man zum Teil Informationen darüber, wie die Ehebegehren konkret prekarisiert wurden und was die außergerichtlichen Begleiterscheinungen sein konnten. Neben den Gründen für die Prekarität, die in Hinblick auf die Opponierenden in vielerlei Hinsicht dieselben blieben wie früher, treten in den Petitionen neue Argumentationslogiken für die Eheschließungen auf. Sie deuten auf eine Erweiterung der matrimonialen „Handlungsspielräume“ von AkteurInnen prekärer Eheschließungen hin, 198 verweisen aber gleichzeitig auch auf neue Zwänge, die nun auch zuvor privilegierte Schichten trafen. Diese gilt es im Folgenden zu erläutern und in einen Zusammenhang mit der neuen Regierungsform zu bringen. 2.2.1 Die Rügerituale der unaufgeklärten Opponenten als vernünftiges Argument In der vorausgehenden Betrachtung des Ancien Régimes wurden die Opponie‐ renden der untersuchten Eheschließungsbegehren als relevante und in ihrer sozialen Zusammensetzung differenzierte Akteursgruppe erfasst. Sie prekari‐ sierten die Ehebegehren mit ihren Einsprachen auf lokaler Ebene. In der Folge traten sie mit den Zugrechtsklagen persönlich, mit juristischer Unterstützung oder unter fürsprecherischer Vertretung vor dem Oberchorgericht auf. In den Rekursurkunden des Oberchorgerichts besaßen sie in den Eherichtern, die ihnen unliebsame Eheverbindungen bekämpften, eine entscheidende Stimme. Unter anderem diese Stimme wurde über den Gerichtsschreiber transportiert. In den Petitionen waren die vormals einsprechenden Parteien und Gegner der Ehe‐ schließungen hingegen zur Passivität gezwungen. Sie waren in diesem Medium den Fremddarstellungen der eigensinnigen PetentInnen und aufklärerischen Notare schonungslos ausgesetzt. Durch den direkten Weg der Bittschriften zwischen Ehewilligen und Zentralbehörden wurden ihre Argumente schlicht übergangen, weil sie nicht angehört wurden. Das hieß aber nicht, dass sie in den Petitionen nicht erwähnt wurden. Ganz im Gegenteil: Das Verhalten 264 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 199 Lischka, Liebe, 135. 200 BAR B0#1000/ 1483#1409*, Kirchenwesen; Waldstätten; Pfarreien A-C (1798-1802), 191. der Opponierenden, ihre im Rahmen von Rügeritualen physisch-performativ vorgebrachten Einwände und ihre außergerichtlichen Sanktionsmaßnahmen auf lokaler Ebene wurden von den Bittstellenden der hier untersuchten Ehe‐ schließungen oft als eigentliche Ursache für das Petitionieren angeführt. Die AkteurInnen prekärer Eheschließungen teilten dabei in den Bittschriften In‐ formationen über ihre opponierenden Parteien und deren prekarisierenden Maßnahmen rund um die Eheschließungen aus einer Perspektive mit, die zuvor in den Rekursurkunden des Oberchorgerichts keinen Platz gefunden hatte. Obwohl die in den Bittschriften geschilderten Praktiken und Details auf horizontaler Ebene zuvor in den Gerichtsurkunden keine Erwähnung gefunden hatten, trugen sie selbstverständlich nicht erst seit der Helvetik zur Prekari‐ sierung und Verhinderung von Eheschließungsbegehren bei. Angesichts der ehelichen Konfigurationen in den zuvor untersuchten Akten wäre es somit sehr wahrscheinlich, dass genau den Verhandlungen dieser Eheschließungen zum Teil kommunale Strafaktionen vorausgingen oder folgten. Entweder spielten diese außergerichtlichen Geschehnisse aber im Oberchorgericht schlicht keine urteilsrelevante Rolle, oder sie wurden von den Richtern konsequent ignoriert, beziehungsweise vom Gerichtsschreiber im Rahmen gerichtlicher Normierung herausgefiltert. Die beiden angestellten Mutmaßungen widersprechen sich dabei nicht, sondern ergänzen sich viel eher. Eine weitere Begründung dafür, wieso diese kollektiven Strafaktionen im lokalen Nahraum keine Erwähnung in den Rekursmanualen des Ancien Régimes fanden, könnte sein, dass es Ehe‐ schließungen, die Opfer dieser Praktiken wurden, gar nicht in den Ehegerichts‐ saal schafften. Aus historisch-anthropologischer Perspektive ist die Meinung vertreten worden, dass die Sanktionsmaßnahmen der Dorfgemeinschaft oft effektiver waren als jene der vielfach weit entfernten und der Gemeinde äußer‐ lichen eherichterlichen Instanz. 199 Wo diese Maßnahmen aus dem Ruder liefen, landeten sie vor dem Kriminalgericht, vor dem nicht über die eherechtlichen Aspekte der Eheschließung diskutiert wurde. Wie groß die Furcht der Zeitgenossen vor diesen lokalen Sanktionsmaß‐ nahmen zeitweise war, lässt sich von einem Priester aus dem helvetischen Kanton Waldstätten erfahren, der in einer Petition um „ein öffentliches Verbot dergleichen Unfuges und Ausschweiffungen“ bat. 200 Es wird auch klar, dass es sich dabei ganz und gar nicht um bloßes Brauchtum und Folklore han‐ delte, wie dies später in Beobachtungsberichten von Volkskundlern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert teilweise suggeriert wurde. Als katholischer 265 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 201 Ebd. 202 Im Wortlaut der Petition des katholischen Geistlichen klingt das wie folgt: „Das Gesetz wegen Verkündigung der Ehen ist mir sehr willkomm [sic] und erwünschlich […].“ Ebd., 191-192. 203 Vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 32-33; 280-309; Schwerhoff, Kriminalitätsfor‐ schung, 81-82. 204 Hoffmann-Krayer, Knabenschaften, 167. 205 Haldemann, Haus, 445. 206 Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 33. Geistlicher befand sich der Priester unter dem Ancien Régime noch in einem Dilemma. Er fand sich wieder zwischen weltlicher Obrigkeit, die grundsätzlich die dreimalige Kanzelverkündigung forderte, und seinen katholischen Glau‐ bensüberzeugungen sowie den Anweisungen seines Bischofs, der in gewissen Fällen aus kanonischen Gründen Dispensationen anordnete. Im Rahmen dieses Spannungsverhältnisses musste der Geistliche die Brautleute jeweils befragen, wieso sie die Befreiung von den Verkündigungen wünschten. Diese, so der Kirchenmann im März 1800, antworteten ihm: „[I]hre Ehe wurde durch verleumdungen, und böse streiche feindseliger menschen leicht hindertrieben, wenn sie verkündiget wurde; es geschah ja gewöhnlich den brautleuten bey bekannter einsegnung die ärgerlichsten, öffentlichen beschimp‐ fungen und Possenspiele, daß das Sakrament schändlichst entunehret, und sie nicht einmal mit der behörigen Ruhe und Geistesversammlung eingesegnet werden konnten. ich war augenzeug, daß einige beym Altar deswegen vor zorne gezittert haben.“ 201 Folglich begrüßte der Priester die allgemeine gesetzliche Möglichkeit einer Verkündigungsdispens unter helvetischer Regierung. 202 Durch weitere Informationen in den Petitionen der Ehewilligen ist zu er‐ fahren, welche Beziehungskonstellationen im familiären und kommunalen Umfeld der Verlobten besonders großen Protest evozierten. Es ist in ihnen auch zu vernehmen, welche konkreten lokalen Strafaktionen sie bereits im Vorfeld der Petitionen ertragen mussten oder in Folge der Verkündigungen noch zu befürchten hatten. Das Gericht war im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert keineswegs das einzige Forum, in dem Konflikte ausgetragen wurden. Soziale Ordnung wurde auch außergerichtlich und auf horizontaler Ebene reguliert, verhandelt und hergestellt. 203 Die Wiederherstellung dieser Ordnung folgte im Konfliktfall einer „Stufenleiter von Gerichtsformen“. 204 Strei‐ tigkeiten, bei denen das obrigkeitliche Gericht miteinbezogen wurde, hatten häufig bereits eine hohe Eskalationsstufe erreicht. 205 Die obrigkeitliche Justiz befand sich zweifellos am oberen Ende dieser Skala. 206 So kann zum Beispiel 266 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 207 Thompson, Moralische Ökonomie, 154; vgl. in Bezug auf die moralisch-ökonomischen Ursachen von Rügeritualen auch: Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule. Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France, in: Past and Present 50 (1971), 41-75, 51-54; van Dülmen, Gesellschaft, 202, 215-216, 223, 227; Hoffmann-Krayer, Kna‐ benschaften, 83, 87, 165-166; Norbert Schindler, Die Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit, in: Geschichte der Jugend, Bd. 1, hrsg. v. Giovanni Levi/ Jean-Claude Schmitt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1996, 319-382, 329; Ingram, Charivari, 290; Ernst Hinrichs, „Charivari“ und Rügebrauchtum in Deutschland. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Brauchforschung, hrsg. v. Martin Scharfe, Darmstadt 1991, 430-463, 447; Christiane Klapisch-Zuber, Women, Family, and Ritual in Renaissance Italy, Chicago 1987, 262. 208 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 423-425. 209 Mathieu, Bauern, 157. durch die gemeinsame Petition von Daniel Moser, einem Brautvater, und Bendicht Junker, seinem Schwiegersohn in spe, erhellt werden, dass exogames Heiraten auf der Berner Landschaft trotz oder gerade wegen des steigenden Drucks zu räumlicher Mobilität erhebliche Schwierigkeiten für die ehewilligen Paare und ihr Umfeld evozieren konnte. Durch die Bittschrift erfährt man, wie die Konsequenzen aus einer solchen Heirat auf lokaler Ebene gestaltet sein konnten: 207 „[E]in ländlicher unsinniger Gebrauch [bringt] mit sich […], daß in der Hochzeitnacht einer Weibsperson die sich nicht mit einem Ortsbürger verehlichet, ein Charivarii gegeben oder welches das nemlich bedeütet - das Troßel geführt wird, woraus öfters Unglück entsteht […].“ 208 Dabei handelte es sich um eine Beziehungskonstellation, die von den Urkunden des Oberchorgerichts explizit nie angesprochen wurde, weil sie juristisch nicht entscheidend war. Allerdings hat sich bei der Analyse der Herkunftsorte von Braut und Bräutigam auch in den Rekursurkunden gezeigt, dass diese auffällig oft voneinander abwichen. Die dort untersuchten prekarisierten Eheleute hei‐ rateten also relativ häufig einen Partner oder eine Partnerin außerhalb ihrer Heimatgemeinde. Das stellte zwar kein Problem für die gnädigen Herren von Bern dar, für die lokale Gemeinschaft der Brautleute hingegen sehr wohl. Für die ‚moralische Ökonomie‘ (E. P. Thompson) einer Gemeinschaft mit knappen Res‐ sourcen konnte die Exogamie von sehr negativer Bedeutung sein. Die wenigen Menschen, die exogam heirateten, waren in den allermeisten Fällen entweder „überdurchschnittlich reich oder arm“. 209 Folglich führte deren Heiratsverhalten dazu, dass entweder wertvolle Ressourcen an einen anderen Ort abflossen oder arme Leute aus anderen Gemeinden zu einer höheren Beanspruchung des Heimatortes beitrugen. Zudem verkleinerte jede Ausheirat den Pool ehefähiger Personen in der eigenen Gemeinde. Somit trug sie neben allen rechtlichen und 267 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 210 Thompson, Moralische Ökonomie, 154; vgl. in Bezug auf die moralisch-ökonomischen Ursachen von Rügeritualen auch: Davis, Reasons, 51-54; van Dülmen, Gesellschaft, 202, 215-216, 223, 227; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften, 83, 87, 165-166; Schindler, Hüter, 329; Ingram, Charivari, 290; Hinrichs, Charivari, 447; Klapisch-Zuber, Women, 262. 211 Es ist hier von mindestens 98 Fällen die Rede, weil in 34 Fällen entweder der Heimatort des Mannes oder derjenige der Frau nicht aus der Bittschrift hervorgeht. In drei Fällen davon weiß man weder den Heimatort der Frau noch des Mannes. In 28 Fällen wurde eindeutig endogam geheiratet. 212 Rosmarie Zeller, Art. Johann Rudolf Wyss 2013. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D12418.p hp (26.08.2021). 213 Johann Rudolf Wyss, Reise in das Berner Oberland. Mit Kupfern, Bd. 2, 2 Bde., Bern 1817, 335. 214 Ebd. familiären Be-stimmungen zu einer zusätzlichen Minderung der Heiratschancen der ledigen Gemeinschaftsglieder bei. Diese nachteiligen Folgen für die lokale Ressourcenwirtschaft konnten sich während der Helvetik verstärken, da die Einzugsgelder für die Gemeinden der Einheirat neuerdings wegfielen. Folglich bedrohten exogam heiratende Paare den von der lokalen moralischen Ökonomie geprägten „Sexualkodex einer Gemeinschaft“ in gesteigertem Masse. 210 Mindes‐ tens 98 (61 %) der hier untersuchten 160 prekären Eheschließungen in den Petitionen waren exogamer Natur. Mann und Frau stammten also nicht aus der‐ selben Heimatgemeinde und sorgten dafür, dass Besitz oder Vermögenslosigkeit von einer Gemeinde zu einer anderen transferiert wurde. 211 Eine Ahnung davon, was ‚Trossel führen‘ und ‚Charivari‘ zu dieser Zeit in Bern bedeuten konnte, erhalten wir aus einem zeitgenössischen Reisebericht von Johann Rudolf Wyss, einem bekannten Berner Dichter und Philosophiepro‐ fessor, der das Berner Oberland erkundete. 212 Der Bericht entstand in den Jahren 1816/ 17 und beschreibt das sogenannte ‚Trossel führen‘ als „drollichte Zügel‐ fuhr“ in einem Gebiet, das vor der Helvetik noch zum Berner Herrschaftsgebiet gehörte und somit in der Umgebung lag. 213 Dabei handelte es sich um „das Zuführen des sogenannten Troßel’s, des Heyrathsgutes oder der Mitgift“ (von franz. trousseau, Aussteuer) unter karnevalesken Vorzeichen und „bey Nacht“, das in den ländlichen Regionen Berns veranstaltet wurde, „wenn ein Mädchen in ein anderes Dorf heyrathet[e]“. 214 Das von Wyss beschriebene Szenario ent‐ spricht mehr oder weniger den Umständen der exogamen Heirat von Elisabeth Moser und Bendicht Junker in der zuvor zitierten Petition. In diesem konkreten Fall trat außerdem der erschwerende Umstand hinzu, dass der Brautvater Daniel Moser seine Tochter zuvor noch einem anderen, lokalen Mann versprochen hatte, weshalb er „in seinem eigenen Haus auf das grausamste thätlich mishan‐ 268 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 215 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 423-425; zu außergerichtlichen Sanktionen beim Bruch eines Eheverlöbnisses van Dülmen, Gesellschaft, 215-216. 216 Lischka, Liebe, 133-134. 217 Eibach, Haus, 647. 218 Cohen, Honor, 604; Heidrich, Grenzübergänge, 27-28; Hinrichs, Charivari, 453-455; Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 5-7; 282-288; Haldemann, Haus, 445-446. 219 Wyss, Reise, 335. delt [ward]“. 215 Die physische Misshandlung des Brautvaters im eigenen Haus durch die jungen Männer des Dorfes verweist auf den Schweregrad seines Vergehens im Rahmen der moralischen Ökonomie dieser Zeit. Gleichzeitig wird deutlich, wie weit die Interessen der dörflichen ’Peer-Group‘ der Brautleute und der Eltern - vor allem der Väter - und deren erweitertem sozialen Umfeld divergieren konnten. 216 Die Verletzung des Hausfriedens, der die Zugänglichkeit zum Hausinnern normativ begrenzte, 217 durch das Eindringen ins Hausinnere, war relativ selten. Der Bruch mit der hausväterlichen Unversehrtheit im eigenen Haus stellte die höchste Eskalationsstufe der ritualisierten Rüge dar. 218 Die Übertretung der Türschwelle konnte sogar ein Anzeichen dafür sein, dass die Rügeaktion ihre ritualisierten Bahnen zu verlassen drohte. Aufgrund der ausgeführten Umstände der konkreten Verlobung von Bendicht Junker und Elisabeth Moser wurden von ihnen - trotz nuancierter regionaler Unterschiede in der praktischen Ausführung und zum Teil unterschiedlichen Benennungen der Rügerituale - verständlichermaßen Konsequenzen befürchtet, vergleichbar denen, die Wyss in seinem Bericht aus einer nahen Region mit ähnlichen kulturellen Vorzeichen beschrieb. Seinem Bericht zufolge zog in solchen Fällen ein „ganzer Schwarm junger Burschen“ aus dem Heimatdorf der Braut „mit Peitschen, Kuhglocken, Pfeifen, Hörnern, Kesseln und allem, was zu gräßlichem Gelärme taugen mag, vor des neuen Ehepaares Haus.“ 219 „Die Spötter haben ihre Kleider über den Kopf geworfen, oder sich sonst vermummt, um nicht erkannt zu werden. Einige tragen außerdem berußte Lumpen und Lappen an Stangen, und zeichnen mit kräftigem Schlag alle diejenigen, welche sich neugierig unter Thür und Fenster wagen. Am Ort der Bestimmung wird ein Kreis gebildet; die rasende Musik nimmt ein Ende; und aus dem Stegreife halten ein paar muthwillige Lecker spaßhafte Reden, deren [schmächlichen und anrüchigen] Inhalt sich errathen lässt. Man steckt eine stroherne Puppe an einer Stange auf, oder bringt sie in einer Wiege daher, wiegt sie und singt dazu. Ein verfrühtes Kindbett der Hochzeiterin wird ein wenig gar zu deutlich mit dieser Wiege in Anregung gebracht. Ist eines der Geheiratheten arm, oder sind sie es beyde, so handeln die launischen Gäste mit verstelltem Ernst um Vieh oder Käs, melken mit nachahmendem Geräusch die Kühe, oder machen den Hochzeitleuten zum Schein recht große Geschenke zur Aussteuer. 269 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 220 Ebd., 336-335. 221 Für einen Forschungsüberblick und relevante Literatur vgl. Haldemann, Haus 222 Schmidt-Voges, Mikropolitiken, 8-9. 223 Martin Scharfe, Zum Rügebrauch, in: Hessische Blätter für Volkskunde 61 (1970), 45-68, 195; Hinrichs, Charivari, 446; Thompson, Moralische Ökonomie, 150. 224 Haldemann, Charivari, 59-63. Endlich zieht die ganze Schaar mit unbändigem Lachen und Lärmen wieder fröhlich nach Haus.” 220 Der beschriebene Brauch fügt sich in die Reihe jener Rügerituale ein, die bereits von vielen Kulturhistoriker*innen und historisch arbeitenden Anthro‐ polog*innen beschrieben und in ihrer sozialen Logik untersucht wurden. 221 Sie stellten ein Instrument lokaler Gemeinschaften dar, um die ‚moralische Ökonomie‘ im Gleichgewicht zu halten, indem sie sich ihrer sozialen Normen versicherten und diese durchsetzten. 222 Dabei wurde abstrakten Normen ein physisch-performativer Ausdruck verliehen, um vor allem sexuelle und eheliche Missstände, die die lokale Ordnung gefährdeten, im öffentlichen Raum anzu‐ zeigen. 223 Folglich treffen wir nicht nur in der Petition, die die exogame Heirat von Bendicht Junker und Elisabeth Moser betraf, auf das Phänomen dieser gewohn‐ heitsrechtlichen Konsensrituale. Auch in zahlreichen anderen Petitionen, vor allem wenn es sich um Witwer- oder Witwenheiraten handelte, erfahren wir von ähnlichen Bräuchen. Wiederheiratende Witwen und Witwer brachen ebenfalls mit den kommunalen Vorstellungen moralischer Ökonomien, weil die erneute Heirat eine breitere Umverteilung von Besitz durch die Akkummulation von neuerlicher Mitgift verunmöglichte und die Heiratschancen der noch nicht verheirateten, meistens jungen Menschen, erschwerte. Der Besitztransfer an jüngere Generationen wurde teilweise verzögert oder verhindert. Junge Men‐ schen wurden in der wirtschaftlichen und rechtlichen Partizipation an der Gemeinschaft behindert. So waren an etwas mehr als einem Viertel (47) der prekären Ehebegehren in den Petitionen aus der Zeit der Helvetik Witwen und/ oder Witwer beteiligt. Um Öffentlichkeit zu vermeiden und dadurch die Bekanntwerdung des Bruchs mit der gewohnheitsrechtlichen Ordnung sowie die damit verbundenen rituellen Sanktionen zu verhindern, baten die Witwen und Witwer, beziehungsweise jene, die diese zu heiraten wünschten, die hel‐ vetischen Behörden mit dem Medium der Petition quasi politisch-öffentlich um Privatheit und Intimität ihrer Hochzeit. 224 Christen Rohrer, der die Witwe Barbara Rupp mit nur einer Kanzelverkündigung zu heiraten wünschte, bat um die zweifache Dispens, „weil in seinem Dorfe noch wie in der umliegenden Gegend der Schlendrian herrscht, daß man einem jungen Mann der eine Wittwe 270 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 225 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 323-325. 226 BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 493. 227 Ebd., 501-502. Zur Bedeutung von Gerüchten im Rahmen frühneuzeitlicher Justiz: Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 82-83; Ulinka Rublack, The Crimes of Women in Early Modern Germany, Oxford 1999, 16-42. 228 BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen 1799/ II, 225-226. 229 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 25 ff. 230 Ebd., 181-183. 231 Ebd., 367-369. 232 BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 111. 233 Ebd., 267. 234 Zur uneindeutigen Stellung des Klerus zwischen Obrigkeit und Untertanen: Eibach, Gleichheit, 495. heyrathet, allerley Karrikaturen und Poßen spielt“. 225 Der Witwer Abraham Puenzieux forderte für seine zweite Heirat mit Susanna Marie Vielland die Dispensation mit ähnlichen Gründen: „[I]l craint un charivari, fetes nocturnes qui sont ordinairement accompagniees dans la Paraoisse […] et de Carocatires envers les personnes qui renouvellent leur mariage.“ 226 Von zwei betagten Ehewilligen, die sich beide seit längerer Zeit in verwitwetem Zustand befunden hatten, wurde „zu Vermeidung des ärgerlichen Publikums-Geschwäzes bey dergleichen Anläßen“ um Kanzeldispens gebeten. 227 Die Witwe Ägerter, die wir bereits kennengelernt haben, fürchtete sich ebenfalls vor den ehrrührigen „verleumderische[n] Reden und Lügen“ nach der Kanzelverkündigung und versuchte diesen mit einer Dispens zu entkommen. 228 Auch Bernhard Seiler und Salome Bühler, beide verwitwet, beanspruchten die Kanzelsdispens, „um nicht der Gegenstand eines allgemeinen verdrießlichen Gereds und Klatschereyen zu seyn“. 229 Wieder andere scheuten „den Spott ihrer Bekannten und Verwandten“, weil sie „schon ziemlich bejahrt und in einem Alter[,] da sie schon Großeltern seyn könnten“, waren. 230 Louis F. Sagan und Henriette Moutach wünschten die Befreiung von mehreren Kanzelverkündigungen, weil familiäre Gründe, die nicht weiter erörtert wurden, nicht das geringste Aufsehen duldeten - „des circonstance de famille ne permettant pas le moindre Eclat à cet occasion“. 231 Reformierte Religionsdiener, die in der Gemeinde oft eine besondere Stellung zwischen Regierung und lokaler Bevölkerung besaßen und deswegen bereits unter dem Ancien Régime auf Ansuchen häufig von der Kanzelverkündigung dispensiert wurden, petitionierten ebenfalls, „um Aufsehen zu vermeiden“ 232 und Lärm und Skandal zu verhindern - „d’eviter par là bruit & l’éclat qui accom‐ pagnent ordinairement cette espèce [sacrée] de cérémonies“, 233 um den Erlass von mindestens zwei Verkündigungen. 234 In einer ähnlichen Situation befand sich Albrecht Salchli, der Mitglied der lokalen Gemeindekammer von Aarberg war und daher ebenfalls eine herausfordernde gesellschaftliche Position inne‐ 271 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 235 Zum konfliktträchtigen Verhältnis zwischen lokalen Verwaltern und Untertanen: Eibach, Staat, 64-73. 236 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 163-165. 237 BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz, 141. 238 Zur Gegenüberstellung von Vernunft und Exzess im republikanischen Ideal in Peti‐ tionen: Jean-Luc Chappey/ Antoine Lilti, L’écrivain face à l’État. Les demandes de pensions et de secours des hommes de lettres et savants (1780-1820), in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 57 (2010), 156-184, 172; zur stereotypen bürgerlichen Wahrnehmung ländlicher Gesellschaften außerdem Stollberg-Rilinger, Europa, 75. 239 Die erste helvetische Verfassung zitiert nach: Hilty, Vorlesungen, 731. 240 Ebd., 732. 241 Ebd., 731. hatte. 235 Deswegen wünschte auch er gemeinsam mit seiner Verlobten „die priesterliche ein-segnung ihrer sich verheißenen ehe zu erlangen, ohne gepräng [Prunk, hier wohl im Sinne von übermäßiger Aufmerksamkeit gemeint], ohne mit Charivari begleitet, noch mit feur-geschoss angekündet zu werden, daraus wir nach neulicher beispielen, an seinem geburtsordt sich wirklich ohn-glük zu trugen“. 236 Wo „wegen Rachsucht und Missgunst, Stoff zu großen Unfugen“ vor‐ handen war, im hier zitierten Fall von Jakob und Anna Bill wegen der Exogamie, wurden also „zu Verhütung dergleichen Unannehmlichkeiten“ Bittschriften an die Zentralbehörden verfasst. 237 Insofern zeigt sich hier, dass Rügepraktiken am Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert keines Falls verschwunden waren, sondern nach wie vor ein weit verbreitetes Phänomen darstellten. Die Stoßrichtung und der argumentative Rückgriff dieser Bittschriften ent‐ sprach durchaus einem aufklärerisch-republikanischen Topos. Dieser setzte dem Stereotyp des irrationalen, ‚primitiven‘, lauten und effekthascherischen lokalen ‚Exzesses‘ den aufgeklärten republikanischen Wunsch nach vernünf‐ tiger Ruhe und Stille entgegen. 238 Diese grundlegende Dichotomie war in der Verfassung angelegt. In dieser stand, dass das aufgeklärte Gesetz „alle Art von Ausgelassenheit“ verbot. Denn die obersten Gebote „des öffentlichen Wohls [waren] die Sicherheit und die Aufklärung“. 239 „Eintracht und Ruhe“ waren konstitutionelle Grund-sätze, denen die lauten und irrationalen Bräuche der unteren Bevölkerungsschichten, die es zu erziehen galt, widersprachen. 240 Stille und Gemeinsinn benötigte die nüchterne und rationale Aufklärung zur tugend‐ haften Veredlung der BürgerInnen, nicht „fremdartige, ungleiche, in keinem Verhältnisse stehende, kleinliche Lokalitäten und einheimische Vorurtheile“. 241 Die Aufklärung kannte in ihrer Selbstwahrnehmung keinen ‚Schlendrian‘, kein ‚Geschwätz‘, keine ‚Klatschereien‘, keinen Lärm, sondern ausschließlich wohl überlegte Rationalität und universelle Rechte, mit denen sie erstere bekämpfte. Den lokalen ‚Karikaturen und Possen‘ stand hier grundsätzliche aufklärerische 272 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 242 Vgl. Stollberg-Rilinger, Europa, 85-86. 243 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 439-441. 244 Ebd., 423-425. 245 Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 84. 246 Stollberg-Rilinger, Europa, 75. 247 Eibach, Gleichheit, 533. Ernsthaftigkeit und Effizienz gegenüber. 242 Die „misbeliebigen Gebräuche (in den ärmeren u[nd] bettelnden VolksClassn) […] denen sich jeder (besonders der nicht Einheimische) nach der Ankündigung […] zu unterziehen hat“, wie es der petitionierende Munizipalsekretär von Bern, Ludwig Knecht, in seiner Bittschrift um Kanzeldispens zum Ausdruck brachte, 243 wurden geradezu zum aufklärerischen Argument für die direkte Ehebewilligung oder wenigstens die Dispensation von öffentlichen Kanzelverkündigungen verwendet. Die Akteu‐ rInnen prekärer Eheschließungen wünschten sich in den konkreten Petitionen in Analogie zu den Verfassungsgrundsätzen, „dass diese Ehe[n] in möglicher Stille eingesegnet würde[n]“. 244 Damit antizipierten sie in gewisser Weise zu‐ gleich die Interessen der Adressaten. So kamen die lokalen Ehegegner in den Bittschriften wiederholt als unaufgeklärter, gewalttätiger, ‚spasmodischer Mob‘ daher, gegen den man sich mit der Staatsgewalt zu solidarisieren wünschte. Wenn also Gerd Schwerhoff formuliert, dass die Mechanismen der informellen Sozialkontrolle während der Frühen Neuzeit von der Obrigkeit nur schwer zu kanalisieren waren, dann versuchten die hier vorgestellten AkteurInnen genau das mit Hilfe der republikanischen Zentralbehörden zu tun. 245 Durch die Denunziation ihres sozialen Umfelds, das sie als unaufgeklärten Pöbel stigmatisierten - eine gängige aufklärerische Kritik an der ländlichen Bevölke‐ rung -, 246 versuchten sie in Kooperation mit dem aufgeklärten helvetischen Verwaltungsapparat informelle lokale Rechtsvorstellungen auszuschalten. Mit ihren Bittschriften trugen sie somit auf horizontaler, lebensweltlicher Ebene aktiv ebenso zu einer „Entritualisierung“ bei, wie sie im Verlauf der Frühen Neuzeit für die allgemeine juristische Verfahrenspraxis beobachtet werden kann und die im hier untersuchten Zeitpunkt gipfelte. 247 2.2.2 Schicksalshafte Gefühle, natürliche Sexualität, empfindsamer Staat Ein Staat, der bestrebt war, seinen wirtschaftlichen Fortschritt durch eine auf Peuplierung angelegte Bevölkerungspolitik zu fördern und ein legales Gewaltmonopol auf- und auszubauen, vertrug sich schlecht mit kommu‐ naler Selbstjustiz, die Ehen zu verhindern suchte. Ebenfalls widersprachen 273 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 248 Holenstein, Beschleunigung, 355. 249 Hull, Sexuality, 1. 250 Nicole Eustace im aufgezeichneten Gespräch mit anderen Emotionshistoriker*innen: Eustace/ Lean/ Livingston/ Plamper/ Reddy/ Rosenwein, Conversation, 1490. 251 Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? , in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), 183-208, 198. hausväterliche Partikularinteressen dem auf Fortschritt ausgerichteten Zentral‐ isierungsstreben der helvetischen Verwaltung, die bestrebt war, „viel effizienter auf ihre Staatsbürger zugreifen und weit mehr fiskalische und militärische Ressourcen in der Gesellschaft mobilisieren zu können“ als dies unter den aristokratischen Ständeregierungen noch möglich war. 248 Diese standen dem direkten und rationalen Zugriff der Behörden auf das Individuum, das es zu hegen und zu pflegen, aber auch zu binden und kontrollieren galt, im Weg. Aus Sicht der Staatsräson stellten aristokratische Ständeregierungen und hausväterliche Partikularinteressen ein potenzielles Hindernis auf dem Weg des gesellschaftlichen Fortschritts und wirtschaftlichen Wachstums dar. Insofern hatten die Vertreter der Republik ein starkes Verlangen nach der Loyalität und Liebe ihrer Bürger. Die Individualisierung und Säkularisierung der Ehe‐ schließung ging Hand in Hand mit der Intimisierung der Beziehung zwischen Bürgern und Staat. Der Übergang von der absolutistischen zur republikani‐ schen Sexualordnung stellte einen konstitutiven Aspekt der Transformation der Öffentlichkeit dar. 249 Während Liebe unter der alten Herrschaft noch eine Hypothek für die erfolgreiche Durchsetzung prekärer Ehevorhaben darstellte und aus obrigkeitlichlicher Perspektive höchstens ein Privileg vermögender Schichten sein konnte, wurden die Emotionen während der Helvetik zu einem Eckpfeiler in der Kommunikation mit der neuen Regierung. Intimität wurde politisiert und dadurch zu einem wichtigen Vehikel des umfassenden staatlichen Machtanspruchs im Zugriff auf seine Bürger. 250 Es entstand gewissermaßen ein öffentliches Recht auf Privatheit, das der Staat zu garantieren hatte. In der Durchsetzung dieses Rechts wurde der Staat zum Komplizen des Individuums im Kampf gegen die kommunale Kontrolle eines hausväterlichen Regimes. In Anlehnung an allgemeinere gefühlshistorische Überlegungen kann gesagt werden, dass heiratswillige AkteurInnen und helvetische Zentralbehörden in der Interaktion des Petitionierens ein „Gefühlssystem“ mit einer „enorme[n] Bindungsmacht“ entwickelten. 251 Die romantische Liebe, die in ihrer diskursiven Ausformung bereits im Untergrund des manifesten Diskurses vereinzelt in den Rekursurkunden aufgeblitzt war, drang nun mit den staatlich geförderten Petitionen also an die Oberfläche und wurde taktisch als Ressource in verschie‐ denen Ehebittschriften genutzt. So verlangten die gewählten Repräsentanten 274 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 252 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 291-294. 253 Ebd. 254 Ebd. 255 Ebd. der Helvetischen Republik von ihren BürgerInnen Patriotismus. Mit der Vergabe von Kanzeldispensen und Eheerlaubnissen konnte die Republik eine reziproke und enge Solidaritätsbeziehung mit ihren BürgerInnen eingehen: Der Staat gab gewissermaßen Liebe und Zutrauen, um im Gegenzug vertraulich geliebt zu werden - do ut des. Dieser Zusammenhang zwischen Patriotismus, staatlicher Gegenliebe und ehelicher Gefühlswelt wird im Folgenden anhand der Quellen zu entwickeln sein. Unter dem Ancien Régime war die Liebe von Obereherichtern in Fällen pre‐ kärer Eheschließungen als unvernünftige Leidenschaft, als ein unbeständiges und trügerisches Gefühl, das Leiden und nicht Glück generierte, behandelt und unterdrückt worden. Dagegen konnte die Liebe nun in den Bittschriften um Kanzeldispens und Ehebewilligung aus allen Schichten „tiefe Wurzeln [schlagen]“ und „die Frucht der Liebe“ konnte gedeihen. 252 So trat Hans Jakob Born, „[e]in unglücklicher […] Landmann“ aus Thunstetten, am 16. Juli 1798 mit seiner Petition um die Ehe in vormals verbotenen Verwandtschaftsgraden geradezu gefühlsschwanger vor den Gesetzgebern auf. In seiner Bitte um die Erlaubnis für die Heirat mit Anna Maria Müller ließ er verlauten: „Der Exponent liebte die Tochter seiner Stiefschwester, seine Liebe hatte bei ihrer ersten Entstehung allzu tiefe Wurzeln geschlagen, als daß er dieselbe unterdrücken konnte; Sie liebte auch ihn. Die Bekanntwerdung des Verbots, wodurch sie aufhören sollten einander zu lieben, kettete die Liebenden nur desto stärker aneinander; kurz die Anna Maria Müller wurde schwanger.“ 253 Die schicksalshafte, zuvor aber unterdrückte Liebe führte in der Argumentati‐ onslogik der Petition zu ihrer unweigerlichen natürlichen Folge, dem Sex und der Zeugung eines Kindes, und avancierte zum primären Heiratsmotiv. Born und Müller wollten das Kind bereits unter dem Ancien Régime durch die Heirat legitimieren. Ihre Liebe wurde von den aristokratischen Eherichtern, die in der Petition als AkteurInnen eines anderen Diskurses auftraten, aber bezeich‐ nenderweise „nicht gehört“, was dem vorausgehenden Befund zur Liebe in den Rekursmanualen des Oberchorgerichts aus dem Ancien Régime entspricht. Deswegen musste das Paar in der Logik der Petition fortan ungerechterweise, da wider die Natur, getrennt leben. 254 Doch dadurch wuchs „ihre Zuneigung, ihr Wunsch, sich auf ewig mit einander zu verbinden“ in fatalistischer Weise nur noch mehr. 255 In ihrer Selbstdarstellung war die Liebe ganz und gar nichts 275 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 256 Wie die genannten Gefühle von den entsprechenden Akteuren empfunden wurden, spielt in dieser Analyse keine Rolle. Damit soll nicht gesagt werden, dass hier Gefühle lediglich als politisches Instrument gebraucht wurden. Nur lässt sich die subjektive Seite der Empfindung unmöglich objektivieren. Was wir allerdings feststellen können, ist, dass der Liebe von den Oberchorrichtern im Ancien Régime misstraut und diese negativ konnotiert wurde, während sie sich vor der helvetischen Regierung plötzlich unverhohlen äußerte. Insofern werden auch hier Gefühle nicht in erster Linie als „Mo‐ tive, sondern Ressourcen, Werkzeuge und Objekte politischen Handelns“ betrachtet. Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? , Göttingen 2012, 16. 257 Margreth Lanzinger schreibt in Bezug auf die von ihr untersuchten Ehedispensver‐ fahren in der Diözese Brixen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, dass „mit Emotionen gearbeitet“ wurde. Das Verb ‚arbeiten‘ zeigt sehr gewinnbringend an, wie mit Emotionen in Bittgesuchen umgegangen wurde: Sie wurden als Arbeitswerkzeuge, vielleicht sogar als Brechstangen, eingesetzt, um Ehehindernisse aus dem Weg zu schaffen. Lanzinger, Emotionen, 48. 258 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 345-349. 259 Ebd., 345. Unbeständiges mehr, sondern ein unwiderstehliches Gefühl, das gleichwohl auf dauerhafte Loyalität angelegt war. Gerade deshalb war das auf Bestän‐ digkeit angelegte Gefühl für die eher instabile helvetische Regierung wohl interessant, da es sich auch auf den Staat projizieren ließ. In dieser diskursiven Akzentuierung erschien die Liebe geradezu als die zentrale Ressource bei der Durchsetzung der vorgestellten prekären Eheschließungen. Mit der Bittschrift eines ‚unglücklichen Landmanns‘ wurde ganz im Sinne Ute Freverts Definition von ‚Gefühlspolitik‘ „Politik mit Gefühlen und um Gefühle“ betrieben, allerdings nicht nur von ‚oben‘ nach ‚unten‘, sondern auch von ‚unten‘ nach ‚oben‘. 256 Die Petition von Born und Müller war bei weitem nicht die einzige, in der die Liebe taktisch eingesetzt wurde, um zur begehrten prekären Eheschließung zu gelangen. Auch Samuel Wahli und Anna Barbara Röthlisberger, die bereits ein gemeinsames uneheliches Kind hatten und die Geburt eines zweiten erwarteten, setzten ihre Liebesgefühle politisch ein und ‚arbeiteten‘ so mit Emotionen am Erwerb der Eheerlaubnis. 257 Dabei brachte die Petitionsschrift dieses Paares den kausalen Zusammenhang zwischen Liebe und Sexualität wie folgt zum Ausdruck: „Die Liebe zwischen diesen jungen Leuten brachte es […] so weit, daß die Röthlisberger sich nun zum 2.ten male schwanger befindet […].“ 258 Mit der Bittschrift versuchten sie mittels der natürlich-schicksalshaften Verbindung von Liebe und Sexualität den Widerstand des Vaters der noch minderjährigen Braut zu überwinden: „[B]eyde wünschen sehr und sind entschlossen“ ihre Liebe mittels Petition ehelich durchzusetzen, so die hartnäckigen PetentInnen. 259 Dieselbe Beständigkeit der Gefühle zeigte sich auch im Fall von Hans Stämpfli und Maria Bürgi, die „Ehrfurcht und Liebe“ für einander empfanden, in der 276 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 260 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 374. 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Ebd., 325-326. 264 Zur aufklärerischen Kultur- und Zivilisationskritik: Stollberg-Rilinger, Europa, 256-257. Absicht zu heiraten allerdings vom unsensiblen Brautvater gehindert wurden. 260 Doch auch in diesem Fall wurde gerade durch den patriarchalen und unbarm‐ herzigen Widerstand „dieses Band“, das auf schicksalshaften Liebesgefühlen basierte, „fester als jemahls geknüpft“. 261 Stämpfli und Bürgi insistierten folglich beim opponierenden Vater der minderjährigen Braut auf der Durchsetzung der Eheschließung. Dieser ließ aber der Petition zufolge „diese Sache […] eine Sache des Kaufs und des Handels“ werden. Der Brautvater verlangte nämlich unterdessen vom Verlobten 8‘000 bis 10‘000 Pfund, die dieser von seinem Patenonkel erheischen sollte. Andernfalls würde er sich ungeachtet der gegenseitigen Gefühle der Vorlobten der Heirat bis zur Volljährigkeit seiner Tochter „nach der ihm zukommenden gesezlichen Gewalt“ widersetzen. Die schicksalshafte Beständigkeit der Liebe taktisch betonend, fragte der Verfasser der Bittschrift die Gesetzgeber in rhetorischer Weise: „Was würde also der Vater mit aller seiner gesezlichen Gewalt endlich ausrichten, als die Vollziehung eines gegenseitigen Versprechens auf eine kurze Zeit zu behindern, das alles Wiederstrebens ungeacht dennoch geschehen wird[? ]“ 262 Liebe und Glück waren in diesem Diskurs keine Gegensätze mehr. Vielmehr entsprach hier die schicksalshafte Liebe dem Fundament allen ehelichen Glücks und wurde geradezu als Garantie für die Beständigkeit einer Ehe präsentiert. Wo hingegen „ohne ehliche Liebe“ und „von den Ehlteren [sic] durch allerhand Drohungen bezwungen“, im Umkehrschluss also gewissermaßen widernatür‐ lich geheiratet werden musste, wie das laut der Petition von Ulrich Gerber in seiner ersten und kinderlosen Ehe der Fall war, ist „vermuetlich keine Stiftung Gottes“ vorhanden gewesen. 263 Mit der mittels patriarchaler Macht erzwungenen und somit ‚unnatürlichen‘ ersten Ehe versuchte der Mann in seiner Petition die Eheschließung mit der zweiten Frau zu legitimieren, mit der er in gegenseitiger Liebe ein außereheliches Kind im Ehebruch gezeugt hatte. Die Kulturkritik, verstanden als Zivilisationskritik, war in diesen Petitionen, die auf die natürliche Liebe rekurrierten, angedeutet. Die patriarchalen Gesetze des Ancien Régimes hatten in dieser Logik quasi zur Entfremdung des Menschen von seiner wesenhaften Natur und seinen natürlichen Gefühlen geführt. 264 In den hier vorgestellten Petitionen wurde der Zusammenhang zwischen Liebe, Sexualität und Natur als vollkommen logische und ergo schicksalshafte 277 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 265 Dieser Befund entspricht der These von Anne-Charlott Trepp zum Aufstieg der Liebe als wichtigster Grund der Eheschließung um 1800, die sie allerdings an Entwicklungen im Bürgertum festmacht. Hier zeigt sich, dass die Liebe zumindest in den Petitionen ebenso Eingang in das Leben ländlicher Schichten fand (oder sogar daraus abgeleitet wurde). Trepp, Emotion. 266 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 73-82 267 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 291-294; in ähnlicher Weise petitionierte Jakob Äschbacher. Aus seiner unehelichen Beziehung, die er zu legitimieren wünschte, resultierte „ein armes Kind als unschuldiges Opfer“. BAR B0#1000/ 1483#227*, Petitionen 1800/ I, 61-64. 268 Staehelin, Civilgesetzgebung, 90-110. Beziehung geknüpft. 265 Das ist in den angeführten Quellenbeispielen nicht zu überlesen. Der Knecht Rudolf Meyer hatte mit seiner Nebenmagd Elisabeth Thomet vor etlichen Jahren Ehebruch begangen und zwei uneheliche Kinder gezeugt. Unter dem Ancien Régime hatten aber keine Aussichten auf die eheliche Institutionalisierung dieser Beziehung bestanden. Seine wohl mit Hilfe eines Schreibers formulierte Petition brachte in unnachahmlicher Klarheit zum Ausdruck: „[…] die Liebe und aufrichtige Freundschaft […] stiftete einen vertrauten Umgang zwischen ihnen beyden, wovon 2. noch lebende Kinder die natürliche Folge waren.“ 266 Durch solche Formulierungen erhielt die Sexualität generell einen säkularen Anstrich und verlor mit diesem zumindest in den Pe‐ titionen ihren ‚leichtsinnigen‘ und sündhaften Charakter. Illegitime Sexualität zeigte sich in den Zuschriften an die Regierung nicht mehr ‚unzüchtig‘ und ‚unrein‘, sondern war quasi ein natürliches Resultat, das von der ständisch-pa‐ triarchalen Ehepolitik zu Unrecht stigmatisiert worden war. Die außerehelich gezeugten Kinder waren folglich „unschuldige Geschöpf[e]“, ja „unschuldige Schlachtopfer“ dieser ehemaligen geburtsständischen Politik. 267 Sie galt es nun unter den helvetischen Verhältnissen durch Eheschließungen nachträglich zu legitimieren. Illegitimität figurierte in den Bittschriften, die die voreheliche Sexualität thematisierten, nicht mehr als Sittenfehler der AkteurInnen, sondern als die natürliche Folge ihrer schicksalhaften Gefühle. Die Menschen unterlagen in Fällen vorehelicher Sexualität nicht mehr ihren moralischen Schwächen, sondern gehorchten ihrer menschlichen Natur. Ganz in diesem Verständnis der Sexualität war die helvetische Regierung allgemein darum bemüht, den Status illegitim Geborener nachträglich aufzuheben. Ihnen galt es dieselben Grundrechte anzugedeihen wie ehelich Geborenen. 268 Das konnte von Erwach‐ senen durch einen offiziellen Antrag auf Änderung des Status erwirkt oder bei Kindern mit der nachträglichen Heirat der Eltern realisiert werden, wenn 278 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 269 Anne-Lise Head-König schreibt diesbezüglich: „[I]l s’est trouvé de nobreux pétiti‐ onnaires à vouloir bénéficier des clauses nouvelles, souvent pour régulariser une situation.“ Head-König, Mariage, 155. 270 Foucault, Sicherheit, 114. Foucault hat in diesem Zusammenhang mit den bevölke‐ rungspolitischen Maximen des 18. Jahrhunderts geschrieben, dass diese von einer Bevölkerung ausgingen, „deren Natur so beschaffen ist, dass der Souverän im Inneren dieser Natur, mit Hilfe dieser Natur, wegen dieser Natur durchdachte Regierungspro‐ zeduren aufbieten muss. Wir haben, mit anderen Worten, bei der Bevölkerung eine ganz andere Sache vor uns als eine Menge von Rechtssubjekten, die nach ihrem Status, ihrer räumlichen Zuordnung, ihren Vermögenswerten, ihren Belastungen, ihren Ämtern differenziert sind […].“ 271 Samuel Pufendorf zitiert nach: Vogel, Gleichheit, 271. diese unter der alten Regierung nicht möglich gewesen war. 269 Der Status der Illegitimität, interpretiert als Ausdruck eines ungerechten ständisch-patri‐ archalen Systems, konnte somit von den Petitionären zum Argument für die Eheschließung gemacht werden. In den Petitionen während der Helvetik kamen die natürliche beziehungsweise göttliche und die soziale Ordnung durch diese Entwicklungen in einer Weise zur Deckung, wie es die Populationisten mit ihren bevölkerungspolitischen Idealen zum Ausdruck brachten und forderten. Es bleibt anzumerken, dass im Verhältnis zu den im vorausgehenden Teil B analysierten Rekursurkunden wesentlich weniger PetentInnen die voreheliche Sexualität zum Thema ihrer Bittschrift machten. In den Quellen tauchen le‐ diglich 18 illegitim gezeugte Kinder und 16 voreheliche Schwangerschaften auf. Dazu kamen elf Kinder, die in vorausgehenden Ehen geboren wurden. Während mehr als die Hälfte (51 %) der Gerichtsurkunden die Sexualität, die der konkreten Eheschließung vorausging, thematisierte (31 von 61 Fällen), erwähnten diese nur gerade 28 % (45 von 160) der Petitionen. Eine mögliche Interpretation könnte lauten, dass die sexuelle Vorgeschichte unter dem Ancien Régime von den Ehegegnern in die Gerichtsverhandlung eingeführt werden konnte, während in den Petitionen kein Zwang zu solcher Selbstoffenbarung bestand. Deswegen dürfte diese Thematik in den Bittschriften in gewissen Fällen bewusst ausgespart worden sein. Liebe schlug, wie wir in der Petition des ‚Landmanns‘ Hans Jakob Born erfahren haben, in Analogie zu einem Baum, der allegorisch für die Natur stand, tiefe Wurzeln, wuchs und trug Früchte. Was den liebenden Paaren widerfuhr, folgte wie das Wachstum einer Pflanze einer vollkommen ‚natürlichen‘ und daher unschuldigen Gesetzmäßigkeit, der der neue Staat zum Durchbruch zu verhelfen hatte. 270 Schließlich war die Ehe durch die Naturrechtslehre der Auf‐ klärung zum „Pflanzgarten des gemeinen Wesens“ geworden. 271 Während die Aristokraten in den Rekursmanualen emotional gehörlos geblieben waren und 279 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 272 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 291-294. 273 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 317-320 274 Ebd. dadurch in irrationaler Weise den natürlichen Lauf der Dinge behindert hatten, waren die Hoffnungen der PetentInnen in die einfühlsame und vernünftige Regierung der Helvetischen Republik schier grenzenlos. So auch im Fall des Hans Jakob Born: „Was soll er sich nicht von Euch Bürger Gesezgeber! versprechen, deren tägliches Bestreben den leidenden Unglüklichen zu trösten das Glük Euerer Mitbürger und Brüder zu befürdern, dem niedersten Hüttenbewohner unsers freyen und - wills Gott! glüklichen Helvetiens kund worden ist! Mit Vertrauen tritt dieser Unglükliche in Euern Hörsaal; Möchte er Eueren Aufmerksamkeit und - was ihne unaussprechlich glücklich machen würde - Euerer Hilfe würdig befunden werden! […] Möge Bürger, Vätter, Freunde und Brüder! die traurige Lage dieses treuen und intressanten Paars und ihres unschuldigen Kindes Euch tief zu Herze gehen damit Ihr Gesezgeber! die Heyrath zwischen den Verlobten und die Ehlichmachung des Kindes für gültig erkennen würdet! “ 272 Born war längst nicht der Einzige, der sich zuvor in der Rhetorik der Bitt‐ schriften der gefühlslosen Autorität der Aristokraten beugen musste und sich nun hoffnungsvoll an die aufgeklärte Regierung wandte. Auch der seit 1796 geschiedene Hans Binggeli aus Guggisberg, der nach der Scheidung vor Ablauf der gesetzlichen einjährigen Wartezeit bis zur Wiederheirat eine Frau schwän‐ gerte, appellierte an die Gefühle der neuen Regierung, um sein eigensinniges Ehebegehren durchzusetzen. Er sprach in Bezug auf das sexuelle Vergehen, das im Ancien Régime unter Androhung gesetzlicher Sanktionen stand, ebenso wenig von einer Schuld, sondern von einem durch die damals herrschenden Gesetze verursachten „Unglück“, dem in natürlicher Konsequenz ein Kind folgte. 273 Ihm und seiner Verlobten wurde vom aristokratischen Richter das Einverständnis zum prekären matrimonialen Begehren ebenfalls verwehrt, das nun als Menschenrecht präsentiert wurde: „Es war ein harter Schlag für die Eltern wieder ihren Willen ein uneheliches Kind erzeugt zu haben. Sie mußten sich solches aber gefallen lassen, und sich dem Druck der Oligarchen unterziehen. - Aber jetz da Menschenrechte und Menschengefühle wieder unter uns herrschen, da Helvetiens Gesetzgeber nicht nach Vorurtheilen sondern nach Billigkeit und Gerechtigkeit zu Werke gehen, so hoffet und bittet der Unterschriebene von Denselben, sowohl die Einwilligung zu dieser Heurath, als die Legitimation des Kindes zu erhalten.“ 274 280 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 275 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 65-66. 276 In diesem Sinn weist Claudia Opitz für Frankreich auf die konstitutive Opposition zwischen „altüberkommenen Vorurteilen und fürstlicher Willkürherrschaft“, Natur und Vernunft für die Legitimation der revolutionären Neuordnung hin. Opitz-Belakhal, Aufklärung, 147. 277 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 74-75. 278 Ebd., 329. 279 Opitz-Belakhal, Aufklärung, 27. In ihren prekären Ehebegehren, die von despotischen Oligarchen und unauf‐ geklärten, gewalttätigen Gemeinschaften unterdrückt wurden, suchten die PetentInnen nun „Zuflucht zu [den] Vätern des Landes“, wie es der Sohn eines mittellosen Bauern in der von ihm unterzeichneten Petition umschreiben ließ. 275 In den Bittschriften mutierte der Staat quasi zum vernünftigen und vertraulichen ‚partner in crime‘ oder eben ‚in love‘ gegen traditionalen hausvä‐ terlichen und geburtsständischen Machtmissbrauch, der das Naturrecht der Ehe missachtete und dadurch gesellschaftlichen Fortschritt bremste. 276 So brachte der bereits zuvor zitierte Knecht Rudolf Meyer von Villigen seine Beziehung zur Republik und ihrer Regierung mit Hilfe eines Notars wie folgt zum Ausdruck: „Dieses [sein prekäres Ehebegehren] bewegt nun den Exponent, der sich, als ein freier Bürger, von seinem natürlichen Rechten nicht verschalten zu seyn glaubt, zutrauensvoll vor Euch, Bürger Gesetzgeber! zu treten, und sich Eurer Vaterhilfe dahin bestens zu empfehlen, daß Ihr doch gütigst belieben möchtet, ihn mit der gleichen günstigen Aufnahme und Unterstützung zu beschenken, mit deren Ihr bereits mehrere Bürger in der nämlichen Verlegenheit beschenktet: Er bittet demnach inständigst um die Bewilligung, sich mit der gedachten [Frau] verehelichen zu können […].“ 277 Die Mitglieder des Parlaments wurden als mitfühlende und fürsorgliche Väter angeredet, die den Naturgesetzen und Menschenrechten zum Durchbruch ver‐ halfen. Sie wurden von den PetentInnen im Kampf gegen „die Schlingen des […] eingeschlagente alte Gesez“ in die Pflicht genommen; „um so mehr, da durch […] der ganz helvetischen Stimmenmehrheit, sie […] zu Neuen Gesezgäberen erwelt und verordnet [worden] sind, Land und Leuthe zu beglüken.“ 278 Die PetentInnen übertrugen gewissermaßen in aktiver Weise Autoritäts- und Machtfunktionen über sich an den Vater Staat, um der patriarchalen Gewalt des Hausväterregimes zu entkommen. Insofern stellte die Helvetische Republik nicht das revolutionäre Ende eines seit der Frühen Neuzeit anhaltenden „Aufstieg[s] des Vaters“ dar. 279 Vielmehr veränderte sich das Vaterbild drastisch: Neben den Hausvater, der zunehmend über seine ‚privaten‘ Eigenschaften definiert wurde und zum Famili‐ envater mutierte, trat ein abstraktes väterliches Ideal, das auf den Staat projiziert 281 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 280 Ebd., 21-38. 281 ASHR, Bd. 2, Nr. 321, 1217. 282 Desan, Family, 49-50. 283 Vgl. Guzzi-Heeb, Sexe. 284 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 391-392. 285 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 341; 343; in einer anderen Petition steht dieselbe Formulierung im Konjunktiv. BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 407-409. 286 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 330. wurde und stark herrschaftsstabilisierend wirkte. Dabei wurden Fürsorge und Schutz zum Kern der neuen Rolle des Vaters. 280 Mit ihrem Verhalten entsprachen die PetentInnen dem bereits weiter oben angesprochenen expliziten Begehren der helvetischen Regierung, „sich mit den Bürgern in immer mehrere Verbindung zu setzen“, das diese mit dem geförderten Mittel der Petitionen gezielt einforderten. 281 Heiraten war einerseits zu einem Akt individueller Freiheit geworden. Andererseits banden dieser Akt und die damit verbundenen Verfahren das Individuum aber auch auf neuartige und intensive Weise an den republikanischen Staat und die Nation und definierten den zivilrechtlichen Status des Subjekts in spezifischer Weise. 282 Die Bitten um die Erlaubnis prekärer Eheschließungen waren nicht nur Nachweise intimer Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch Zeugnisse enger Bindungen und Abhängigkeiten zwischen den Paaren und dem aufgeklärten und väterlich auftretenden Staat. 283 Diese Beziehungen wurden als bemerkens‐ wert vertraut dargestellt, wenn PetentInnen „so dringend als Kinder ihren gütigen Vatter bitten [konnten]“ und die Regierung um eine Eheerlaubnis oder Kanzeldispens ansuchten. 284 Durch die eheliche Institutionalisierung der partnerschaftlichen Liebe sicherte sich der Staat von seinen Bürgern eine Portion patriotische Liebe. Während die alten Obereherichter göttliche Gnade verwaltet hatten, bewirtschafteten das helvetische Vollziehungsdirektorium und die Gesetzgeber die Vaterlandsliebe. Umgekehrt versprachen die Petition‐ näre den Regierenden bezüglich des allfälligen Erhalts der Ehebewilligung oder Kanzeldispens ihre Treue: „Sie werden mich dadurch besonders verpflichten.“ 285 Ein „ausgezeichnet guetter Patriot“ versicherte der Regierung seine Treue, erwartete von den Direktoren des Vollziehungsausschusses aber im selben Atemzug, dass sie „beträngten Lüt […] die Hälfs-Hand reichen werden“. 286 Die PetentInnen appellierten an das Mitgefühl der Regierenden und stellten in taktischer Weise jene patriotische Loyalität als Belohnung für den Erhalt einer Kanzeldispens oder einer Ehebewilligung in Aussicht, die die republikanische Regierung von ihren Bürgern forderte. So legitimierten erteilte Kanzeldispensen und Ehebewilligungen nicht nur eine vormals prekäre Eheschließung, sondern knüpften auch einen engen gegenseitigen Bund zwischen den liebenden Bür‐ 282 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 287 So schreibt Ute Frevert sehr richtig, dass Emotionen nicht nur das vermeintliche Innenleben der Akteure historisch prägen, sondern auch die Interaktionen im gesamt‐ gesellschaftlichen Kontext stark beeinflussen und gestalten. Frevert, Gefühle, 191-192. 288 Vgl. Holenstein, Landesväterlichkeit. 289 Zur Gegenüberstellung der Figuren von ’Vater-Fürst‘ und tendenziell bürgerlich akzen‐ tuiertem Familienvater Opitz-Belakhal, Aufklärung, zuerst 27, dann 38. 290 Desan, Family, 15. 291 Lanzinger, Liebe, 159. gern und dem liebevollen Staat. 287 Es wird hier nicht ausgeblendet, dass sich auch das Ancien Régime in Bern in seinem republikanischen Selbstverständnis lan‐ desväterlich und mild inszeniert hatte. 288 Doch war nun eine andere Vaterfigur das Vorbild. Während dem Ancien Régime der gütige Hausvater vorschwebte, der für das materielle Wohl und die Versorgung der im Haus Lebenden zu sorgen hatte und durchaus noch gewalttätig züchtigen und strafen konnte, also eine Art „Vater-Fürst“ war, entwickelte sich in der aufklärerisch akzentuierten Helvetik daraus tendenziell die persönlichere, weniger distanzierte und einfühlsame Figur des Familienvaters, die den Bitten und Gefühlen seiner Landeskinder Gehör schenkte. 289 Sicherlich gab es auch Kontinuitäten zwischen den Vater‐ typen und es handelte sich nicht um einen absoluten Bruch. Dennoch waren die Unterschiede in der helvetischen Neuordnung deutlich zu vernehmen. Die rasante Transformation der Beziehung zwischen Regierten und Regie‐ renden lässt sich nicht nur für die Helvetische Republik beobachten, sondern ist von der Forschung auch schon für das revolutionäre Frankreich beobachtet worden. Die Revolutionäre wollten den ständischen Despotismus überwinden und eine neue, auf Gleichheit basierende Gesellschaftsordnung errichten. Da‐ durch musste die Eheschließung, die zuvor ein ständisches Privileg und tenden‐ ziell eine willkürliche obrigkeitliche Gnadengabe repräsentierte, unweigerlich zu einem zentralen Thema ihres Projekts werden. Zahlreiche Bürger verbanden deswegen öffentliche Politik auf das Engste mit einer intimen Politik. Wenn jetzt das Fundament des Staates in einem Gesellschaftsvertrag lag, der von den Bürgern vermeintlich freiwillig eingegangen wurde, dann sollte auch die Heirat ideell auf der freien Partnerwahl und einem zivilen Vertrag zwischen Individuen basieren. 290 Damit soll nicht suggeriert werden, dass sich plötzlich die ‚echten‘ oder ‚wahren‘ Gefühle der Menschen ‚frei‘ äußern konnten. Diese Optik war - wenn schon - Teil der Petitionsrhetorik. Lanzinger verweist vollkommen zurecht darauf, wie heikel und zum Teil unwegsam der Zugang zu den Gefühlen über Quellen ist, die von Behörden oder Dritten im Kontext der Verwaltung pro‐ duziert wurden. 291 Wie stark die in den Petitionen beschriebene Liebe mit dem ‚realen‘ Empfinden der AkteurInnen zu tun hatte, lässt sich historisch-empirisch nicht sagen. Auch die neuerdings zum Ausdruck gebrachten Gefühle unterlagen 283 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 292 Zum taktischen Einsatz von Gefühlen: Lesemann, Liebe. 293 Eustace/ Lean/ Livingston/ Plamper/ Reddy/ Rosenwein, Conversation, 1490. 294 Michel Foucault, „Foucault“, in: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hrsg. v. Daniel Defert/ Martin Saar, Frankfurt a. M. 2007, 220-225. 295 Frevert, Gefühle, 191. 296 Foucault, Sicherheit, 369-413; zum Begriff der milden Landesväterlichkeit: Holenstein, Landesväterlichkeit. selbstverständlich Machtbeziehungen. Ihr taktischer Einsatz bewegte sich nach wie vor im Feld mächtiger Strukturen. 292 Von der historischen Emotionsfor‐ schung ist darauf hingewiesen worden, dass Verschiebungen im Muster, wer zu welchem Zeitpunkt welche Emotionen ausdrücken darf und kann, immer auch Transformationen in den herrschenden Machtstrukturen anzeigen. 293 Dadurch ist der Umgang mit Gefühlen immer politisch, also nicht einfach authentischer oder freier. Allerdings wandelte sich der Stil eindeutig, in dem sich Gefühle während der Helvetik äußerten und äußern konnten. In Anlehnung an Foucault treffen wir hier auf einen neuartigen Subjektivierungsmodus. 294 Dieser Art von Sub‐ jektivierung waren intime Gefühle inhärent. Die schicksalhaften Emotionen wurden unter der neuen Regierung, die sich in persönlicher Weise um die Anliegen ihrer Bürger kümmern wollte, zum schlechthin Authentischen und Natürlichen. Damit wurde jedoch gleichzeitig tendenziell ein latenter Zwang zum Fühlen vermittelt, der von den Bürgern Introspektion und Selbstprüfung erforderte. Wenn also Frevert schreibt, dass die Reflexion und Artikulation die Gefühle „aus dem arkanen Innenleben einer Person“ befreien, entspricht das höchstens der halben Wahrheit. 295 Liebe war in der Argumentationslogik der AkteurInnen keine Wahl, sondern wurde als Schicksal vorgestellt. Ihre Artiku‐ lation gegenüber der Regierung entsprach einem Vertrauensbeweis an den Staat. Sie wurde durch dessen Verwaltung gefördert, woraus ein unmittelbarer und daher intensivierter Zugriff auf das Individuum resultierte. Für Bern lässt sich in diesem Bruch die Umsetzung dessen erkennen, was Fou‐ cault das Prinzip der Biopolitik nannte: Zu regieren bedeutete nun, sich um die Menschen zu kümmern, ja, sie zu lieben, zu umsorgen und sie in ihren innersten Empfindungen zu leiten. Dazu genügte es nicht mehr, das Territorium und seine Untertanen von ‚oben‘ herab in „landesväterlicher Milde“ zu regieren. 296 Die Beziehungen zwischen Regierten und Regierenden veränderten sich dadurch fundamental: Der Souverän sorgte sich jetzt um die intimsten Gefühle seiner Bürger und kultivierte diese. Während sich die Richter des Oberchorgerichts in den Protokollen gehorsamgebietend mit ihrem burgerlichen Titel - ’woh‐ ledelgebohrene, gnädige Herren‘ - bezeichnen ließen, adressierten nun die 284 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 297 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 391-392. 298 Holenstein, Landesväterlichkeit, 508. 299 Das im Unterschied zur Obrigkeit, die „als guter Vater dargestellt wurde, der seine Kinder kennt und vorausschauend für deren Bedürfnisse sorgt, wobei diese selbstver‐ ständlich keinen Anspruch auf Beteiligung am Regiment erheben konnten.“ Guzzi-Heeb, Art. Paternalismus. 300 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 391-392. 301 Zu den unterschiedlichen Ausprägungen von Gefühlsregimen: Reddy, Navigation, 129; Plamper, Gefühl, 305. 302 François de Capitani, Rituale der „Religion civile“. Zur Selbstdarstellung der Helveti‐ schen Republik, in: Itinera 15 (1993), 25-29. 303 Böning, Traum, 201-213. 304 Der 24. Absatz der ersten helvetischen Verfassung zitiert nach: Hilty, Vorlesungen, 735. Petitionäre und Petitionärinnen vertrauensvoll die ‚Bürger Gesetzgeber‘. Diese wurden zum Teil gar als ‚Mitbürger‘ und „Vätter unseres gemeinschaftlichen Vatterlandes“ 297 angesprochen. Auch die reformabsolutistischen Herren von Bern hatten sich gerne als mildtätige ‚Landesväter‘ inszeniert, 298 die aber, wie zum Beispiel die Henzi-Verschwörung zeigte, durchaus mit sehr strenger Hand zu regieren wussten. Während der Helvetik wurde die Vaterfigur tendenziell horizontaler und reziproker akzentuiert, auch wenn deren Vorbild eindeutig im Reformabsolutismus lag. Die Mitglieder der helvetischen Zentralbehörden wurden als einfühlsame und liebevolle Väter vorgestellt, die ihren Kindern mit den Petitionen eine Stimme gaben. Die Väter des Landes gaben nicht mehr vor, die Bedürfnisse ihrer Kinder a priori zu kennen und sich vorausschauend darum zu kümmern, sondern luden sie zum Mitwirken ein. 299 Sie wurden von den PetentInnen in einer Weise gebeten, „als Kinder ihren gütigen Vatter bitten können“, 300 ihnen die jeweils prekäre Eheschließung zu gewähren. Während die Untertanen der aristokratischen Herrschaft dienten und von deren Gnade abhängig waren, sorgten sich nun die Staatsdiener in der Logik der Petitionen um ihre MitbürgerInnen beziehungsweise Vater Staat um seine Kinder. Der Staat wurde zum sensiblen väterlichen Partner erklärt, zu dem man Zuflucht nahm, weil er bei der Realisation von prekarisierten Eheschließungen half. So war die neue Bevölkerungspolitik der Republik mindestens zu Beginn auf ein Regime der Gefühle abgestützt, 301 das die Emotionalität nicht nur tolerierte, sondern zwecks Patriotismus mit unterschiedlichen Mitteln stimulierte. 302 Diese Anreizung der Gefühle zur Förderung der Liebe zum Vaterland zeigte sich in der prohelvetischen Propaganda, in intendierten Volksfesten, der Aufrichtung von sogenannten ‚Freiheitsbäumen‘ und im Kokardenobligatorium, 303 vor allem aber in der verfassungsmäßig geforderten Ablegung des Bürgereids, mit dem sich der junge volljährige Mann im Beisein seiner Eltern gegenüber der Helvetischen Republik verpflichtete, „ein guter und getreuer Bürger“ zu sein. 304 Die Eltern 285 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 305 Heinrich Zschokke zitiert nach: Böning, Traum, 201. 306 In dieser Einschätzung schließt sich die Studie Margreth Lanzinger und Edith Saurer an: „Die Liebesgeschichten sind jedoch vorzüglich auch Bestandteile politischer und religiöser Vergemeinschaftungen, von Arbeitsbeziehungen, von Familien- und Ver‐ wandtschaftsordnungen, ‚Effekte‘ von Rechtsverhältnissen, Verboten, Einsprüchen und Zusprüchen und den damit verbundenen Erfahrungen. Sie finden einen Rahmen vor, der nicht nur die Handlungsmöglichkeiten bestimmt, sondern mit ihnen auch in das Gefühlsleben eingreift.“ Edith Saurer/ Margareth Lanzinger, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2014, 22. 307 Jüngst hat Andreas Reckwitz auf die große Bedeutung der Kunst auf die Formierung des Sozialen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert hingewiesen. Er bewertet die Kunst „als ein exemplarisches Format für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung“, deren Beginn er im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verortet. Reckwitz, Erfindung, 54-59; Monika Wienfort beginnt das Kapitel zur Liebesehe mit dem Satz: „Das Ideal der Liebesehe ist untrennbar mit der literarischen Epoche der Romantik zu Beginn sollten dabei zusehen, wenn sich das volljährige männliche Individuum aus der elterlichen Obhut begab und sich in patriotischer Weise dem Vater Staat anvertraute und verpflichtete. So wurden gleichzeitig neue Abhängigkeiten und Zwänge geschaffen, die das Individuum stärker an die staatliche Zentralmacht banden. Heinrich Zschokke, einer der prägenden Köpfe der Helvetischen Repu‐ blik, der unter anderem Leiter des Büros für Nationalkultur war, schrieb laut seinen eigenen Erinnerungen an den berühmten Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, dass das Volk, dem Kinde gleich, „der Macht der Einbildungskraft und der Gefühle mehr, als dem Gesetz des Verstandes untergeben“ sei. 305 Auch daraus geht noch einmal hervor, welchen Einfluss Teile der helvetischen Führungselite den Gefühlen beimaßen. Das hier besprochene öffentliche Auftreten der Emotionen entstand nicht plötzlich in einer spontanen und vollkommen freien Autogenese. Die spezifisch romantische Ausformung der Liebesbeziehungen, die wir in den Petitionen mitgeteilt erhalten, spiegelt eine konkrete Form der Vergemeinschaftung, die an verschiedene spezifische Umstände gekoppelt war. 306 Es existierten bereits latente diskursive Anknüpfungspunkte für die Liebe. Das zeigte indirekt die ten‐ denziell abwehrende Haltung der früheren Obereherichter gegenüber diesem Gefühl. Unter den bevölkerungspolitisch günstigen Vorzeichen der Helvetik änderte sich die Wertigkeit der Liebesgefühle aber komplett. Wie die Gefühlswelt, zu der eben eine spezifische Rhetorik gehörte, in die Petitionen kam, lässt sich nicht eindeutig klären. Zu wenig explizit wurden die Zusammenhänge zwischen individueller Gefühlswelt und externen Vorbildern von den AkteurInnen und ihren Notaren gemacht. Auf die bedeutende Rolle der Kunst, insbesondere der Literatur, wird in der Forschung in anderen Kontexten seit längerer Zeit immer wieder entschieden verwiesen. 307 Im kon‐ 286 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren des 19. Jahrhunderts verbunden.“ Dabei setzt sie die kulturgeschichtliche Epoche zwar etwas spät an. Sie lässt aber keinen Zweifel daran, dass romantische Liebe und Literatur zusammen gedacht werden müssen. Wienfort, Verliebt, 20; Heidi Rosenbaum geht so weit zu sagen, dass im Zug der Aufklärung „ein literarischer Feldzug“ stattfand, der sich gegen die „uneingeschränkte Dominanz sachlicher Überlegungen“ wandte und in der individuellen Liebe „die Leiter zur Freiheit“ erachtete. Heidi Rosenbaum, Formen der Fa‐ milie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1982, 264; Peter Gay, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987; Habermas, Liebe; Trepp, Emotion. Im Zusammenhang mit veränderten Erklärungsnarrativen von interpersoneller Gewalt vor Gericht im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Maurice Cottier auf die Bedeutung der Kunst hingewiesen, Cottier, Gewalt, 163-167. 308 Habermas, Frauen, 269-278; Habermas, Liebe. kreten Einzelfall ist diese Relation schwer zu exemplifizieren. Anhand von bürgerlichen Selbstzeugnissen, die zum Teil eindeutig literarischen Skripten folgten, konnte Rebekka Habermas diesen Zusammenhang von romantischer Literatur und Gefühlen mit literarischen Vorbildern allerdings sehr überzeugend aufzeigen. 308 Da die Bittschriften während der Helvetik in großer Zahl von Notaren verfasst wurden, wäre ein ähnlicher Zusammenhang auch für die hier untersuchten Quellen durchaus plausibel. Die Schreiber der Petitionen waren vielfach Bildungsbürger und somit potenzielle Leser romantischer Literatur. In Albrecht von Hallers Alpengedichten lag sogar ein lokaler Idealtypus romantischer Liebesrhetorik vor, der den Ursprung der Liebe in poetisch-pathe‐ tischer Weise auf die Alpenbevölkerung projizierte. Haller schrieb 1729 über die Bewohner der Alpen, die in diesem literarischen Zusammenhang sicher mit der agrarischen Bevölkerung im Kanton Bern gleichgesetzt werden dürfen, und ihre Liebe: „Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, Umschließt kein harter Zwang der Liebe holdes Reich. Was liebenswürdig ist, wird ohne Scheu geliebet, Verdienst mach alles werth, und Liebe macht es gleich. Die Anmuth wird hier auch in Armen schön gefunden, Man wiegt die Gunst hier nicht für schwere Kisten hin, Die Ehrsucht theilet nie, was Wehrt und Huld verbunden, Die Staatssucht macht sich nicht zur Unglücks-Kupplerin: Die Liebe brennt hier frei und scheut kein Donnerwetter, Man liebet für sich selbst und nicht für seine Väter. […] Die Sehnsucht wird hier nicht mit eitler Pracht belästigt! 287 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 309 Albrecht von Haller, Versuch schweizerischer Gedichte, Nachdr. der 11. Aufl. von 1777, Zürich 2006, 30-32. 310 Für den Hinweis auf diesen Zusammenhang zwischen Literatur und Liebesrhetorik sowie die Projektion der Gefühle auf die ländlichen Bevölkerungsschichten, insbeson‐ dere bei Albrecht von Haller, danke ich Sandro Guzzi-Heeb. Vgl. Guzzi-Heeb, Sexe, Kapitel VII.4 Les nouvelles représentations: amour, désir, intimité et compagnonnage. 311 Certeau, Kunst, 23. 312 Ebd., 23-24. 313 Ebd., 24. Er liebet sie, sie ihn, dies macht den Heirat-Schluß. Die Eh wird oft durch nichts als beider Treu befestigt, Für Schwüre dient ein Ja, das Siegel ist ein Kuß.“ 309 Die Parallelen zur Thematisierung der Liebe in den Petitionen sind nicht zu übersehen: Die Liebe figurierte als ein schicksalhaftes, individuelles Gefühl, das auf beständiger Treue fußte. Es war frei von Konvenienz und folgte nicht materiellen Interessen oder dem familienpolitischen Kalkül. Wie Haller schrieben auch die Notare rund 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses positive, ‚natürliche‘ Gefühl den ‚niederen Hüttenbewohnern‘ und ‚mittellosen Landmännern‘ zu. Diese erschienen darin als vollkommen reine und sünden‐ freie Gesellschaftsglieder, die lediglich ihrem natürlichen Schicksal folgten. 310 Festzuhalten bleibt trotz der notariellen Verfasserschaft, dass es vor allem die ehelich prekarisierten Teile der Landbevölkerung waren, die durch ihr taktisch geschicktes Spiel „mit den Ereignissen“ und ihren Geschichten die Ehevorhaben durchzusetzen begehrten. 311 Denn sie unterschrieben die Petitionen. Mit den Worten von Michel de Certeau lässt sich deswegen sehr wohl resümieren: Indem die ehebegehrenden AkteurInnen „heterogene Elemente kombiniert[en]“ - Inanspruchnahme der schreiberischen Fähigkeiten der No‐ tare, Nutzung des politischen Mittels der Petition, „günstige [bevölkerungspo‐ litische] Gelegenheit“ und eigene Lebens- und Liebesgeschichten -, versuchten sie während der Helvetik die Erfüllung ihres ehelichen Willens zu erreichen. 312 Ihre „intellektuelle Synthese [hatte] nicht die Form eines Diskurses, sondern sie [lag] in der Entscheidung selber, das heißt, im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ’ergriffen [wurde]‘.“ 313 2.2.3 Gleichheitsforderungen aus Routine und Tradition Durch die Liebesrhetorik in den Petitionen zeichnete sich in Bezug auf die sexuelle Ordnung bereits die implizite Forderung nach bürgerlicher Gleichheit und Überwindung geburtsständischer Unterschiede ab. Wenn die Liebe natür‐ 288 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 314 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 317-320. 315 Ebd. 316 ASHR, Bd. 2, Nr. 321, 153; vgl. Würgler, Not, 302. 317 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 387-396; BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 659-664; BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen 1799/ II, 327- 330; BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen 1799/ II, 633-635; BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 157-159; BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 143-144; BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 337-338; BAR B0#1000/ 1483#225*, Peti‐ lich war, stellte sie ein allgemeines Menschenrecht dar. Und wenn aus ihr die Sexualität folgte, konnte es in dieser Argumentationslogik eigentlich keine Illegitimität mehr geben, die arme, unterständische Schichten mangels Besitz sexuell diskriminierte, indem sie sie von der privilegierten ehelichen Ordnung ausschloss. Auch die alten Ehehindernisse - verbotene Verwandtschaftsgrade, Konfessionsverschiedenheit und Ehebruch - waren durch die schicksalhafte und säkulare Liebe in ihrer religiösen Rechtfertigung problematisch geworden. Das brachte die zuvor zitierte Petition von Hans Binggeli aus Guggisberg ganz eindeutig zum Ausdruck, der sich nach der Scheidung nicht an die einjährige Wartezeit halten wollte, weil er vorher ein uneheliches Kind gezeugt hatte. 314 Zur Erinnerung: In seiner matrimonialen Bitte bezog er sich explizit auf die Men‐ schenrechte. Er beziehungsweise sein Schreiber verlangte in aufklärerischer Manier, dass nicht auf der Grundlage von ständischer Willkür, sondern nach universellen Rechten geurteilt werde. 315 Die quasi natürliche Liaison zwischen der Liebe und der Sexualität stellte in den Petitionen auch einen frontalen Angriff auf ständische Privilegien und patriarchale Zwänge zur Konvenienz dar. Der Lauf der Natur konnte in dieser Vorstellung durch kein kommunales oder väterliches Zugrecht mehr verhindert werden. Als Menschenrechte verstandene eheliche Freiheit und Gleichheit wurden in vielen Bittschriften nicht nur auf dem schicksalhaften Weg der Liebe eingefor‐ dert. Auf formaler Ebene waren ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ als Präliminarien im Sinne offizieller helvetischer Parolen allen untersuchten Bittschriften vorange‐ stellt. Sie rahmten alle darin gestellten Forderungen dadurch per se in einer formellen Art und Weise. Seit dem 25. September 1798 stellte die Artikulation der helvetischen Parole sogar eine verbindliche Anforderung der Regierung dar und erhob sie damit für die PetentInnen zu einem formalen Zwang. Die helvetischen Zentralbehörden verlangten von den Bürgern, dass sie ihre Bittschriften mit dem doppelten Motto eröffneten, sie als „Bürger Directoren“ anredeten und sich mit republikanischem Gruß von ihnen verabschiedeten. 316 Wie bereits erwähnt, ‚nahmen‘ sich auch nicht wenige ehewillige AkteurInnen mit einer Petition wortwörtlich ‚die Freiheit‘, vollumfängliche Eheerlaubnis oder wenigstens Kanzeldispensen zu beantragen. 317 Auch wenn es sich dabei 289 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung tionen 1799/ III, 251-253; BAR B0#1000/ 1483#227*, Petitionen 1800/ I, 165-167; BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz, 115-118; BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz, 141; BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz, 523; BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespon‐ denz, 613; BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 557; BAR B0#1000/ 1483#490*, Kor‐ respondenz, 655-657. 318 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 271. vordergründig um eine rhetorische Figur zu handeln scheint, wird der Frei‐ heitsformulierung eine Charakterisierung als bloße Redewendung und Floskel nicht vollumfänglich gerecht. Denn die Petitionäre taten, was sie sagten: Sie machten mit ihren Petitionsschriften von einer Freiheit Gebrauch, die am Ende des Ancien Régimes zumindest in Bern deutlich eingeschränkt und nicht nur theoretisch, sondern auch erfahrungsgemäß von drastischen obrigkeitlichen Sanktionen bedroht worden war, neuerdings aber konstitutionell verbrieft und anfänglich behördlich sogar gefördert wurde. Die Gerechtigkeit in Form von Freiheit und Gleichheit konnte in den Peti‐ tionen auch gezielter und weniger formell eingefordert werden. Vielfach ging mit der genommenen Freiheit nämlich auch die explizite inhaltliche Forderung nach Gleichheit einher. Diese Forderung, die Gerechtigkeit verlangte, konnte in den konkreten Petitionen allerdings sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Gleichheit konnte mit äußerst unterschiedlichen Argumenten und mehr oder weniger ausführlich eingefordert werden. Die schärfste Form der Forderung war diejenige, die sich mit aufklärerischer Kritik an den Zuständen unter dem Ancien Régime verband. So forderte zum Beispiel der angehende Tavernenwirt Daniel Großi für die Eheschließung mit Magdalena Briod am 13. März 1801 zwei Kanzeldispensen, unter anderem mit dem folgenden Argument: „Gerecht und weise ist gewiß die Abschaffung jenes Stände-Brauchs: wo deren Landbürgere die dreymalige Canzelproklamation ihre Eheverlöbnisse und ihnen ohne Nachlaß vorgeschrieben war, während fürgegen dem akkretierten Städter - für Geld - nach der Willkür der ehemaligen alten Consistorialräthe, gänzliche Dispensation ertheilt wurden. Jetzt aber ist niemand von der Verkündlichkeit, sich verkünden zu lassen frey, und obschon zwar die daherige Verordnung die Proklamationen auf drey aufeinanderfolgende Sontage ausdehnt, so ist es doch an Ihnen, Bürger Vollziehungsräthe, je nach den Umständen allfällig die dritte und auch die zweite Verkündung nachzulassen, wofern nemmlich, dem Zweck derselben gemäß, die erste wenigstens statt hat.“ 318 Großi kritisierte mit seiner Petition zum einen den Stadt-Land-Gegensatz, der im Gebiet der heutigen Schweiz bis ins 19. Jahrhundert eine zentrale Achse 290 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 319 Martin Illi/ Alfred Zangger, Art. Stadt-Land-Beziehungen 2015. https: / / hls-dhs-dss.ch/ d e/ articles/ 007881/ 2015-04-22/ #HFrFCheNeuzeit (26.08.2021); vgl. zu den historischen Differenzen zwischen Stadt und Land in der Eidgenossenschaft allgemein den Sammel‐ band von Ulrich Pfister/ Bettina Witthöft (Hrsg.), Stadt und Land in der Schweizer Ge‐ schichte. Abhängigkeiten, Spannungen, Komplementaritäten, Basel 1998. Darin macht Bruno Fritzsche in seinem Aufsatz darauf aufmerksam, dass die Sätdte erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Landschaft verfassungsmäßig gleichgestellt wurden und dadurch ihre Privilegien verloren. Erst dadurch wird der Stadt-Land-Gegensatz als historische Kategorie allmählich unscharf. Bruno Fritzsche, Stadt und Land im 19. und 20. Jahrhundert, in: Stadt und Land in der Schweizer Geschichte. Abhängigkeiten, Spannungen, Komplementaritäten, dies., Basel 1998, 89-109, 89. 320 Eheverkündigung, 826. 321 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 271. 322 Vgl. zum Gleichheitsverständnis im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Protestbe‐ wegungen und der Gefahr, dieses in anachronistischer Weise mit einem modernen Gleichheitsbegriff zu verwechseln Eibach, Gleichheit, 506. der Ungleichheit und des politischen Machtungleichgewichts darstellte, 319 und zum anderen die alte geburtsständische Privilegienpraxis, die 1790 gesetzlich noch einmal verfestigt wurde und mit diesem Gegensatz zusammenhing, 320 un‐ missverständlich. Die aristokratischen Oberchorrichter, die er ‚Konsistorialräte‘ nannte, hatten inhaltlich nach willkürlichen, also objektiv nicht nachvollzieh‐ baren Gründen, gegen Geld gänzliche Kanzeldispensen unter der städtischen Aristokratie verteilt und damit Eheeinsprüche verhindert. Gleichzeitig hatte dasselbe Recht der ländlichen Bevölkerung unter den alten Eherichtern nicht zugestanden. Das wiederum führte zu einer allgemeinen Prekarisierung der Eheschließungen in den unteren Ständen, was in der Petition als eklatante Ungerechtigkeit dargestellt wurde. Insofern lobte der angehende Wirt die Abschaffung des aristokratischen Vorrechts der Verkündigungsdispens und die Verbreiterung des Obligatoriums auf alle gesellschaftlichen Schichten. Der Wirt gab in seiner Petition aber darüber hinaus an, dass in seinem kon‐ kreten Fall geradezu objektive wirtschaftliche Gründe für eine Kanzeldispens vorlagen. Die langwierige dreifache Verkündigung würde aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit, also aufgrund rational nachvollziehbarer Kriterien, „zu seinem œkonomischen Nachtheil“ gereichen und dadurch wirtschaftlichen Fortschritt verhindern. 321 Somit kann der Petition von Großi hier durchaus ohne „Anachronismus-Gefahr“ ein Gleichheitsverständnis unterstellt werden, das mit seiner Kritik an ständischer Willkür und Ungleichheit aufklärerisch anmutete. 322 In diesem Verständnis nahm der Petent die helvetische Regierung mit der Gleichheitsforderung taktisch in die Pflicht, ihm zur Vermeidung von Willkür und auf Basis wirtschaftlich nachvollziehbarer Gründe die Kanzeldispens an zwei Sonntagsgottesdiensten zu erlassen. 291 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 323 Zur Entwicklung von Natur- und Vernunftsrecht: Stollberg-Rilinger, Europa, 199. 324 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 3-4. 325 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 100; 102. 326 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 74. 327 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 120. 328 Eibach, Gleichheit, 490-509. 329 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 443-444. Nicht alle Petitionäre legitimierten die ehelichen Dispens- oder Bewilligungs‐ forderungen mit impliziter Bezugnahme auf modern wirkende Gleichheits‐ vorstellungen wie Großi und die zuvor vorgestellten Liebenden oder auch jene, die sich im Zeichen der Vernunft gegen den lokalen Widerstand ständi‐ scher Zwischengewalten wehrten. 323 Dennoch verwiesen sehr viele ehewillige Bittsteller als Argument für ihre Ehebegehren auf „häuffige Beyspiele“ 324 in der Dispenspraxis des helvetischen Vollziehungsdirektoriums „in ähnlichen Fällen“ 325 unter der expliziten Bezugnahme auf die erwartete Gleichbehandlung. In dieser Weise bat beispielsweise auch der bereits erwähnte Knecht Rudolf Meyer, der mit seiner Nebenmagd Elisabeth Thomet Ehebruch begangen und ein uneheliches Kind gezeugt hatte, die Gesetzgeber, sie „mit der gleichen günstigen Aufnahme und Unterstüzung zu beschenken, mit deren [sie, die Gesetzgeber] bereits mehrere Bürger in der nemlichen Verlegenheit beschenktet“. 326 Und auch Anna Kähr und der Landarzt Johann Jacob Kunz meinten, sie „dürfen also mit gleichem, und auch mehrerem Recht, um dasjenige bitten, was andere vor ihnen begehrt, und erlanget haben.“ 327 Das Verlangen nach Gleichbehandlung war an und für sich kein neuer juristischer Topos. Auch in der Frühen Neuzeit wurde in Suppliken und Gravamina im Kontext der Justizpraxis aus allen Ständen Gerechtigkeit im Zeichen der Gleichheit eingefordert. 328 Während aber das Wort ‚Gleichheit‘ als Argument der Ehewilligen keinen Eingang in die hier untersuchten Rekursurkunden des Berner Oberchorgerichts gefunden hat, verwendeten zahlreiche Petitionäre um 1800 ihre eigene Kenntnis von ‚gleichen‘ Fällen, oder die Kenntnis des Notars taktisch, um eine Ehebewilligung oder Kanzeldispens zu erwirken. Bendicht Bill verlangte zum Beispiel 1801 in seiner Petition „die Willfahr seiner Bitte um so eher von dem Vollziehungs-Rath […], als er weiß, daß solche Dispensations-Begehren schon mehrer mahl gestattet worden sind“. 329 Diese Forderung nach Gleichbehandlung implizierte, dass die PetentInnen beziehungsweise die sie beratenden Notare informiert waren und wussten, dass es Präzedenzfälle gab, die im Zeichen der Gleichheit mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolg in Aussicht stellten. Dieses Wissen wurde in Bezug auf die Gleichheitsforderung in vielen Petitionen explizit und selbstbewusst als Mittel des Nachdrucks eingesetzt. Vor den patrizischen Obereherichtern 292 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 330 Ebd., 127. 331 Ebd., 363-365. 332 Ebd., 331. 333 Ebd., 449-450. 334 BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 493. 335 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 367-369; 379-381. war den prekarisierten Ehewilligen nur die zum Teil zwar hartnäckig und ei‐ gensinnig vorgetragene Hoffnung auf einen Gnadenakt geblieben, der dennoch zumindest eine gewisse rhetorische Demut und Unterwürfigkeit erforderte. Gleichheitsforderungen hatten sich in den Rekursmanualen kein Gehör ver‐ schaffen können beziehungsweise waren vom Gerichtsschreiber nicht explizit erwähnt worden. In den helvetischen Petitionsschriften zeigten die ehewilligen AkteurInnen nun in durchaus fordernder Tonalität die Erwartung an, dass ihre „Bitte[n], gleich andern Bürger[n], werde gewähret werden“. 330 Sie verlangten zielstrebig und direkt, dass ihnen „gleich wie mehrere[n] […] Mitbürgern“ die Dispens oder Ehebewilligung erteilt wurde. 331 Indem „da schon Beyspiele dieser gänzl[ichen] Dispensation vorhande [waren]“, 332 berief man sich nun aus allen Schichten taktisch geschickt auf den Erfolg anderer Eheschließungen, die früher prekär erschienen wären. „Da die gleiche Gunst anderen [war] erwiesen worden“, 333 reklamierten nun auch ländliche Bevölkerungsteile und subalterne AkteurInnen in ihren Bittschriften dieselbe von den helvetischen Vollziehungsräten mit der Unterstützung von Notaren unverhohlen für die eigene Eheschließung und erklärten sich dadurch zu Gleichen unter Gleichen. Allerdings bleibt in Bezug auf die Petitionen gleichzeitig zu erwähnen, dass - ähnlich wie in den Rekursurkunden des alten Oberchorgerichts, die vormals re‐ formorientierte bevölkerungspolitische und traditionelle ständisch-patriarchale Urteilslogiken vereint hatten - von den Ehewilligen zum Teil auf sehr verschie‐ dene Gleichheitsvorstellungen rekurriert wurde. Denn es gab auch einige Peten‐ tInnen, die sich auf ein traditionelles Gewohnheitsrecht bezogen, das ihnen oder ihrem Stand bereits früher zustand. So verwies etwa Abraham Jean Puenzieux, der 1803 eine vollständige Kanzeldispens verlangte, darauf, dass er bereits bei seiner ersten Heirat vom Oberchorgericht die Erlaubnis erhalten hatte, seine erste Ehe ohne Verkündigungen einsegnen zu lassen. Gleichzeitig bezog er sich auf seine Ehre, die er sich in verschiedenen Ämtern erworben hatte. 334 Und auch Jean Rodolf de Luternau und Louis Frederic Sagan rekurrierten 1801 in ihren jeweiligen Petitionen ausschließlich auf das Argument des alten Rechts - „l’ancien usage que rendait de telles concessions facilles“. 335 So hatten nicht nur im alten Oberchorgericht unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die zu verfolgende Ehepolitik bestanden. Auch unter den AkteurInnen existierten 293 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 336 Ebd., 335. während der Helvetik unterschiedliche Argumentationslogiken, die auf wider‐ sprüchliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen referierten und damit zeigten, dass die Inhalte der Petition nicht ausschließlich von aufklärerischen Formeln und Topoi geprägt waren. Dadurch wird aber auch ersichtlich, dass durch die neue zentralistische Verwaltung Menschen in Zusammenhang mit der Eheschließung dem staatlichen Gewaltmonopol unterworfen wurden, die zuvor relativ selbstverständlich auf weitläufige Privilegien vertrauen konnten. Neben den Unterschieden in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Petitio‐ näre, die sowohl auf neue universelle Rechtsgleichheit als auch alte Gewohn‐ heitsrechte hinwiesen, zeigte sich in Bezug auf die Gleichheit eine weitere Tendenz: Die Begründungen und Argumentationen wurden immer dünner. So bat beispielsweise Franz Gruber am 26. Mai 1801 ohne weitere argumentative Bemühungen und in gewissermaßen abgeklärter Weise, „daß ihme die nach anhin gewohnten Gebrauch zweymahlige Verkündigung möchte nachgelaßen und geschenkt werden.“ 336 Schaut man sich die Petitionen um Kanzeldispensen im zeitlichen Verlauf der Helvetik an, stellt man allgemein fest, dass die Begrün‐ dungen und Rechtfertigungen für die Bitten zumindest tendenziell standardi‐ sierter wurden. Man stößt in zunehmender Häufigkeit auf Gesuche, in denen die PetentInnen beziehungsweise die Notare lediglich die Bitte ohne legitimierende Begründungen formulierten. Das weist daraufhin, dass sich im Vollziehungsdi‐ rektorium bezüglich der untersuchten Petitionen eine Routine etabliert hatte, die alle PetentInnen unabhängig von der taktischen Geschicklichkeit ihrer Begründung in ihrem Anspruch auf Kanzeldispens gleichbehandelte. Es scheint, als wäre die Eheschließung zunehmend als Menschenrecht verwaltet worden. Dieses wurde offenbar kategorisch und ungeachtet der Motive der Ehebegehr‐ enden gewährt. Zugleich wurde der Anspruch auf Kanzeldispens und Intimität der PetentInnen, so der Eindruck, zunehmend als eine Art Gewohnheitsrecht erachtet und als Erwartung formuliert. Es schien kaum noch Gründe zu geben, die eine Heirat ohne öffentliche Verkündigung verhindern sollten, wodurch, etwas anachronistisch formuliert, das zuvor ständische Vorrecht auf ‚Privatheit‘ nun in Absprache mit dem Staat auf alle Schichten ausgeweitet wurde. 2.2.4 Haushaltsökonomie, wirtschaftliches Glück und ‚fortschreitende‘ Zeit Die bisher vorgestellten taktischen Argumente für die angestrebten prekären Eheschließungen in den Petitionen haben eine auffällige Gemeinsamkeit. Sie 294 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 337 Zur grundsätzlichen Kritik der Aufklärung an der Ständerordnung: Stollberg-Rilinger, Europa, 68-93. 338 Die Paradoxie zwischen Vernunft- und Zivilisationskritik im Projekt der Aufklärung, das sich gegen ‚unten‘ und ‚oben‘ abgrenzen musste, ist an dieser Stelle nicht zu über‐ sehen: Richtete sich die Kritik gegen ‚oben‘, wurde zivilisationskritisch argumentiert. Richtete sich das Argument gegen ‚unten‘, wurde Kritik an der Unvernunft geübt. enthalten in einem aufgeklärten Kontext oft mehr oder weniger direkte Kritik an den alten Zuständen unter dem Ancien Régime. 337 Die ständisch-patriarchale Sexualmoral von Kirche und Obrigkeit wurde mit dem Hinweis auf Natürlich‐ keit der Sexualität konterkariert. Das vormalige geburtsständische Verständnis der Ehe als göttliche Gnadengabe und rechtliches Privileg verwandelte sich in den Petitionen in eine tendenzielle Forderung nach quasi naturrechtlich hergeleiteten Menschenrechten. Der vormalige Zwang zur öffentlichen Verkün‐ digung wurde abgelöst vom aufgeklärten Bedürfnis nach Ruhe, Intimität und Privatheit. Entweder wurde also die unaufgeklärte moralische Ökonomie und das letztlich irrationale Gewohnheitsrecht der lokalen Gemeinschaften beklagt oder das ständisch-patriarchale Ehegesetz und seine aristokratischen Vertreter wurden in zivilisationskritischer Manier als Hinderungsgrund der natürlich interpretierten Liebe und Fortpflanzung kritisiert. 338 Mit diesen Argumenten verband sich die allgemeine Forderung nach Gerechtigkeit unter den Auspi‐ zien von Freiheit, Gleichheit und Diskretion. Dadurch entstand eine binäre Argumentationsstruktur: Auf der einen Seite stand die rückständige und unver‐ nünftige Vergangenheit unter der Willkürherrschaft unaufgeklärter Hausväter und despotischer Vollstrecker aristokratischer Gesetze. Auf der anderen Seite zeigte sich die verheißungsvolle Zukunft unter den demokratisch gewählten und aufgeklärten Mitgliedern der helvetischen Zentralbehörden. Dabei waren die Argumente, die wir bis hierher aus den Petitionen der AkteurInnen für eine Eheschließung kennengelernt haben, in der Gegenüberstellung mit den Taktiken, die in den Rekursurkunden des Oberchorgerichts präsentiert wurden, in vielerlei Weise vollkommen neu. Während sich die AkteurInnen dort vor Gericht in einem Rechtfertigungsdruck gegenüber den Argumenten der oppo‐ nierenden Intermediären befunden hatten, stellten hier die AkteurInnen in den Petitionen mit Hilfe von Notaren selbstbewusste Forderungen auf und artiku‐ lierten matrimoniale Erwartungen und Hoffnungen in einem selbstsicheren Duktus. Wesentlich weniger kontrastreich im Vergleich der Zeiten und Quellengat‐ tungen als die eben aufgezeigten Argumente für eine Eheschließung erschien das haushaltsökonomische Motiv in den Petitionen. Dieses hatte bereits unter dem Ancien Régime die Eheschließung als Ausgangspunkt für die Verbesserung 295 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 339 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 113-122. 340 Würgler, Grenzen, 16-17; Böning, Traum, 265-268; Andreas Fankhauser, Probleme der Praxis, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 534-540. 341 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 99; 101. 342 An diesem Argument zeigt sich, worauf Sofia Ling und ihre Co-Autor*innen in ihrem Aufsatz hinweisen: Ehepartner arbeiteten ökonomisch gesehen an denselben Zielen. Von ihnen konnte in Bezug auf die Haushaltsführung und die anfallende Arbeit Loyalität und Unterstützung erwartet werden. Außerdem war der eheliche Stand an sich ehrenhaft und öffnete den Zugang zu neuen Verwandtschaftsnetzwerken. Ling/ Hassan Jansson/ Lennersand/ Pihl/ Ågren, Marriage, 91-92. 343 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 113-122. der aktuellen wirtschaftlichen Lage und die ökonomische Eigenständigkeit in der Zukunft präsentiert. Wie schon vor dem Oberchorgericht des Ancien Régimes machten auch zahlreiche PetentInnen vor den helvetischen Gesetz‐ gebern und dem Vollziehungsdirektorium geltend, dass sie auf die Eheschlie‐ ßung aus haushaltsökonomischen Gründen in existenzieller Weise angewiesen waren. „[B]esonders [die] in gegenwärtiger Zeit drukenden Umstände[]“ 339 - gemeint waren die wirtschaftlich allgemein schwierigen Verhältnisse unter französischer Besatzung und die Einquartierungen der Soldaten - machten den Bittschriften zufolge das Haushalten und Auskommen als Alleinversorgende zum Teil während der Helvetik noch beschwerlicher als zuvor. 340 „Ein beträcht‐ liches Heimwesen war ohne vertraute männliche Hilfe, unmöglich länger zu besorgen“, meinten die haushaltsökonomisch argumentierenden verwitweten PetentInnen Anna Trachsel und Maria Dähler. 341 Und für die 23-jährige Anna Kähr, die Witwe des Land- und Wundarztes Johann Jacob Kunz aus dem ländlichen Rüderswil waren zum Beispiel die ca. 20 Jucharten Land ohne die Unterstützung eines Ehemanns nur mit der Hilfe von fremden Tagelöhnern zu bewirtschaften. Letztere waren ihrer Meinung nach aber zu teuer und bestellten die landwirtschaftliche Fläche ineffizient, wohingegen ein Ehemann aus wirt‐ schaftlichen Erwägungen die attraktivere, da loyalere Alternative darstellte. Während Tagelöhner, so scheint es in der Petition, lediglich an ihrem Lohn interessiert waren, hatten Ehepartner geteilte wirtschaftliche Ziele. 342 Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb würde auch die vom verstorbenen Mann geerbte und zu dessen Lebzeiten angeblich florierende Apotheke „unwieder‐ bringlichen Schaden“ nehmen, wenn nicht zeitnah geheiratet werden könnte. In anderen Worten konnte der stark ökonomisch akzentuierten Argumentati‐ onslogik dieser Petition zufolge nur eine baldige neuerliche Eheschließung die Frau „dem androhenden Ruin ihres Vermögens entziehen“. 343 Sie verlangte deswegen die sofortige Erlaubnis für die Eheschließung mit Johann Ulrich Lüthi 296 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 344 Die alten Bernischen Ehegerichtsordnungen sahen eine Wartezeit von zwölf Monaten im Fall der Wiederheirat von Verwitweten und Geschiedenen vor. 345 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 387-396. 346 Ebd., 387-388. 347 Ebd., 73-74. von Lauperswil, der wohl nicht zufällig ebenfalls Land- und Wundarzt war, unter Abschlag der gesetzlichen Wartezeit von zwölf Monaten bei Witwen- und Witwerheiraten. 344 Kähr war nicht die einzige Protagonistin, die laut ihrer Petition einzig aus ökonomischen Überlegungen zu heiraten gedachte. Auch Johannes Wallacher von Ersigen, der in der Bittschrift als „ein Jüngling von 25. Jahren“ beschrieben wurde, wünschte die Witwe eines angeblich entfernten Verwandten ausschließ‐ lich aus wirtschaftlichen Erwägungen und möglichst bald zu heiraten. 345 Sein Vater besaß zwei Höfe, wovon der eine von einem Lehensmann bewirtschaftet wurde. Weil aber ständig französische Truppen auf dem Durchmarsch waren und auf diesem Lehensgut einquartiert wurden, forderte der Lehensmann so weitreichende Konzessionen von seinem Gutsherrn, „dass dem Hinleiher vom Lehenzins wenig zu gut bleibt“. Aufgrund mangelnder Rentabilität sollte nun der Sohn diesen Hof so schnell wie möglich übernehmen. „Um […] das Hauswesen zu übernemmen, muß sich der Supplikant nach einer Gehülfin umsehen“, so das in der Petition vorgestellte Heiratsmotiv. 346 Die Hofübernahme war demnach der Grund für die Heirat. Dessen landwirtschaftlicher Betrieb konnte nur mit einer Frau an der Seite aufrechterhalten werden. Insofern waren Männer und Frauen in den Bittschriften gleichermaßen aufeinander angewiesen. Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass unter den helvetischen Ver‐ hältnissen ökonomische und funktionale Erwägungen nach wie vor einen ganz wesentlichen Beweggrund für eine Eheschließung darstellten. So hatte Anna Kähr direkt den unternehmerisch passenden Mann zur Stelle, weil er die Apotheke des verstorbenen Manns weiterführen konnte. Viele PetentInnen versuchten weniger exklusiv ökonomisch gelagert als in den eben geschilderten Beispielen ihren Ehewunsch zu legitimieren. So intendierten einige, zwar ihre „häuslichen Umstände zu verbessern“, damit verbunden aber auch explizit ihr „Glück zu machen“, 347 wie es bereits in den Ehegerichtsfällen unter dem Ancien Régime geschehen war. Wie in den zuvor untersuchten Rekursurkunden zeigt sich auch in den Petitionen wiederholt, dass Wirtschaftlichkeit und das Gefühl des Glücks verständlicherweise keine sich ausschließenden Größen waren, sondern sich bedingende Parameter einer Eheschließung bilden konnten. Ganz deutlich kam die Verbindung zwischen den materiellen Verhältnissen und dem zu erwartenden Glück in der Bittschrift 297 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 348 BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen 1800/ II, 5-6. 349 BAR B0#1000/ 1483#602*, Eheangelegenheiten. Gesetz über die Zulässigkeit konfessio‐ nell gemischter Ehen vom 2. August 1798 [Petitionen von Privatpersonen](1)\Ge‐ setzliche Zulassung von Ehen zwischen Geschwisterkindern am 17. Oktober 1798 [Petitionen von Privatpersonen](2)\Beurteilung von eherechtlichen Angelegenheiten wie nicht eingehaltenen Eheversprechen, Fällen von Ehebruch, Vaterschaftsklagen und dergleichen durch die helvetischen Behörden [Petitionen und Beschwerden von Privatpersonen aus verschiedenen Kantonen] (1798-1801), 44. 350 BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen 1798/ II; 1799/ I, 83-84. des Witwers Bendicht Weingartner aus Zollikofen zum Ausdruck. Er wünschte Anna Balmer, nota bene die uneheliche Tochter des Schwagers, zu heiraten. Weingartner, „der zum Behilf seines Hauswesens eine Gattin bedarf “, formuliert darin seine Bitte um Eheerlaubnis, „das er nicht thun würde, wenn sein wirthschaftliches Glük nicht von seinem Vorhaben abhangen würde“. 348 Die Verquickung von prosperierendem Hauswesen und wirtschaftlichem Erfolg kam auch in der Bittschrift des Ehebrechers Ulrich Gerber und seiner Magd Anna Gerber zur Geltung, erhielt aber emotional eine etwas andere Konnota‐ tion. Darin wurde argumentativ nicht nur auf das zukünftige Glück verwiesen, sondern eine sehr explizite Relation zwischen Haushaltsökonomie und Liebe hergestellt. Seit der Scheidung von seiner ersten, ungeliebten Frau, „führte ihm die eben gedachte Anna Gerber […] bisher seine Haushaltung, wodurch sie sein ganzes Zutrauen und seine Liebe erworben“ hatte. 349 Nicht minder ausdrücklich stellte Peter Bauer diese Beziehung zwischen Liebe und Haushalt her, der ebenfalls petitionierend begehrte, jene Frau zu heiraten, mit der er zuvor Ehebruch begonnen hatte. Da sich seine erste Frau entsprechend seiner Darstellung auch nach der Heirat mehrheitlich bei ihren Eltern aufgehalten und ihn in der Haushaltsführung im Stich gelassen hatte, stellte der Petent eine Magd ein, „ein Mädchen, welches sowohl in der Häuslichkeit als in Verstand und Sitte sein Eheweib weit übertraf, und eben deswegen eine leidenschaftliche Liebe und Vertraulichkeit, ihre Schwängerung - und darauf die Scheidung von seinem Weib zur Folge hatte“. 350 In beiden hier vorgestellten Fällen führten die haushälterischen Fähigkeiten der Mägde zur Liebe und zum ehelichen Begehren. Geliebt wurde laut diesen Petitionen das ökonomisch Nützliche, weil es Glück in Form von materiellem Erfolg in Aussicht stellte. Haushälterische Fähigkeiten machten in dieser Logik attraktiv und brachten im zweiten Fall sogar die männlichen Leidenschaften in Wallung. Gleichzeitig wurde in einigen Ansuchen das individuell Nützliche für die einzelne Hauswirtschaft nicht nur geliebt, sondern in utilitaristischer Manier auch als allgemein Nützliches vorgestellt. Im Fall von Anna Kähr und Johann Ulrich Lüthi bewahrte die Eheschließung zum Beispiel nicht nur die Witwe vor 298 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 351 BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen 1799/ III, 113-122. 352 BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen 1799/ II, 477-478. 353 BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz, 299. 354 BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation, 427. 355 Ebd., 439-441. 356 Ebd. dem wirtschaftlichen Scheitern, sondern konnte „auch dem dortigen Publicum diejenigen Dienste ersezen […], welche durch den Tod des Kunz verlohren gegangen [waren]“. 351 Dadurch wurde auch in den Bittschriften das haushaltsö‐ konomische Argument für die Eheschließung mit dem allgemeinen gesellschaft‐ lichen Wohl in Verbindung gesetzt, wie es zum Teil vor dem Oberchorgericht passiert war. Das Direktorium wurde von einer prospektiven Verbesserung der hauswirtschaftlichen Lage für das Ehepaar und die Gemeinde überzeugt, weil dadurch knappe kollektive Ressourcen geschont werden konnten. In manchen helvetischen Bittschriften kam allerdings ein argumentativer Akzent hinzu, der mit der Eheschließung allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt verband. Dadurch wurde den helvetischen Zentralbehörden durch die Bittsteller mit der Heirat eine Art profitabler Anstieg wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Effizienz in Aussicht gestellt, wie sie auch die bereits erwähnten populati‐ onistischen Bevölkerungspolitiker im Zusammenhang mit der Eheschließung skizzierten. Der Haushalt avancierte nicht nur zum Relais gesellschaftlicher Organisation, sondern auch zur Grundeinheit wirtschaftlicher Progression. „[D]as Hauswesen“ machte es in zahlreichen Fällen „erforderlich, dass die Copu‐ lation befürderlich vor sich gehe“, 352 also auf die Kanzelverkündigungen in den Heimat- und Wohngemeinden verzichtet werden konnte, um den ehelichen Pro‐ zess zu beschleunigen und den wirtschaftlichen Fortschritt nicht aufzuhalten. Denn „durch […] Verzögerung [würde] dem häuslichen Wesen […] Nachtheil erwachsen“. 353 Es traten Bittsteller auf, denen ihr „neues Etablissement die beschläunigung der heyrath sehr nothwendig und über alles wünschenswerth machte[]“. 354 „Beruf und Privat-Geschäfte“ machten es erforderlich, dass keine „kostbare Zeit misbraucht“ wurde. 355 „Geschäfte […] befehlen […] sich schleunig möglich zu verbinden“, so Ludwig Knecht, der helvetische Munizipalsekretär, der bereits in der Verurteilung der Bräuche der sogenannten „ärmeren u[nd] bet‐ telnden VolksClassen“ als flammender Fortschrittsoptimist aufgetreten war. 356 Die PetentInnen argumentierten zum Teil in unternehmerischem Eifer, der aus Gründen der Effizienz und Beschleunigung nach sofortiger Eheerlaubnis oder Kanzeldispens verlangte. In diesem Sinne baten zum Beispiel Friedrich Brunet aus Wimmis und Verena Zimmerli von Zofingen über den Bruder der Braut um die Dispensation der Kanzelverkündigungen. Da beide nicht 299 2.2 Alte Gründe der Prekarität und neue Taktiken der Aufklärung 357 Ebd., 81ff. 358 Eidgenössische Nachrichten (Bern: Typographische Gesellschaft) vom 14. April 1798, Nr. XIII, S. 87, zitiert nach: Würgler, Kontinuität. 359 Würgler, Grenzen, 24. 360 Zum abstrakten Gedanken, dass der Fortschritt die Zukunft nicht erwarten kann, sondern sie beschleunigt herbeiführen will: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 10. Auflage, Frankfurt a. M. 2017, 33-35. 361 Koselleck, Einleitung, XV. 362 Ebd. mehr in der Heimatgemeinde zuhause waren und in zwei unterschiedlichen Gemeinden - Bern und Muri - lebten, hätten sie ihre Heirat in vier Gemeinden an jeweils drei aufeinander folgenden Sonntagsgottesdiensten von der Kanzel verkünden lassen müssen. „Die Entfernung dieser Orte würde eine solche Zeit erfordern“, die durch bevorstehende Feiertage zusätzlich verlängert würde, dass nicht nur dem Brautpaar daraus wirtschaftlicher Schaden entstehen musste, sondern auch dem stellvertretend petitionierenden Bruder. Denn durch die allfällige Verzögerung konnte er nicht in „Association mit den Manufacturis Sincon & Zimmerli“ treten, wozu die Heirat scheinbar ein Erfordernis war. 357 Eheschließungen sollten in vielen Fällen aus wirtschaftlichen Gründen ohne Zeitverlust etabliert werden. Es scheint, als hätten jene PetentInnen, die sich in ihren Bittschriften um ihre Eheschließungen bemühten, der aufklärerischen Aufforderung der Regierung, man solle „mit raschem Schritt mit fortgehen, gar nicht stille stehen, gar nicht zurückbleiben“, 358 Folge geleistet. Die Eheschließung wurde während des helvetischen Intermezzos in den Petitionen tendenziell zu einem zentralen Argument für individuellen und allgemeinen sozioökonomischen Fortschritt. Dadurch reihten sich die unter‐ suchten matrimonialen Bittschriften in einen sozialen Wahrnehmungsrahmen ein, der die Zeitgenossen die Helvetische Revolution als Phase des Umbruchs und der Akzeleration erfahren ließ. 359 Die schnell voranschreitende Zeit duldete keine ehelichen ‚Wartezeiten‘ mehr. 360 So bildete die hier vorgestellte Taktik, die die Ehebeziehung auf der einen Seite als unabdingbare haushaltsökono‐ mische Größe vorstellte und auf der anderen Seite neuerdings mit einem wirtschaftlichen Effizienzgedanken paarte, durchaus jenen „manchmal plötzlich vorangetriebenen Erfahrungswandel“ ab, den Reinhard Koselleck veranschlagt, wenn er über die sogenannte ‚Sattelzeit‘ schreibt. 361 Mit seinen Worten lässt sich in Bezug auf das ökonomische Argument getrost sagen, dass „alte Begriffe“, be‐ ziehungsweise hier genauer eben alte Taktiken, „sich in ihrem Bedeutungsgehalt den sich verändernden Bedingungen der modernen Welt angepasst“ hatten. 362 300 2 Taktiken: Petitionen in punkto prekäre Heiratsbegehren 363 Lukas Künzler, Politischer Wandel und personeller Wechsel in Zeiten des Umbruchs, 1795-1852, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 79 (2017), 61-76, 65. 364 Die Angehörigen der politischen Elite der Helvetischen Republik waren laut André Holenstein Kinder der 1740er bis 1760er Jahre. Folglich wurden sie mit dem bevölke‐ rungspolitischen Diskurs sozialisiert, den die vorgestellten Pfarrer in der Oekonomi‐ schen Gesellschaft entwickelten. Holenstein, Helvetik, 86. 365 Obwohl ein ausgesprochen nützliches Inventar des Zentralarchivs vorliegt, ist damit unmöglich von der einzelnen Petition ausgehend die dazugehörige parlamentarische 3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften Nachdem die ehewilligen AkteurInnen und ihre Heiratstaktiken vorgestellt worden sind, wird abschließend analysiert, welcher zahlenmäßige Erfolg ihnen vor den helvetischen Zentralbehörden beschieden war. Bereits weiter oben ist vom gesetzeswirksamen Erfolg der helvetischen PetentInnen die Rede gewesen, was es in Bezug auf die Eheschließung problematisch macht, zu sagen, dass „Reformen allesamt von oben initiiert“ waren. 363 Hier führten ehelicher Eigensinn und Hartnäckigkeit von ‚unten‘ beziehungsweise aus der Mitte der Gesellschaft im Zusammenspiel mit reformfreundlichen, reformorientierten Kräften durchaus dazu, dass verschiedene Ehehindernisse - Konfessionsver‐ schiedenheit, der Verwandtschaftsgrad der Geschwisterkinder, Armut, Einzugs‐ gelder - sukzessive abgeschafft oder in der Vollzugspraxis der Regierung igno‐ riert beziehungsweise sogenannte ‚Verkündigungsdispensen‘ erteilt wurden. In Anbetracht der herrschenden Ehepolitik in der Helvetik kann daher in Relation zum Ancien Régime von einer Praxis gesprochen werden, die gesetzlich festgeschriebene Normen verminderte und Hindernisse aufhob und damit die Eheschließungen vereinfachte. Parallel dazu ist vom euphorischen Anfangsgeist der Helvetik zu erfahren gewesen, der die reformerische Bevölkerungspolitik vom Rand des Ancien Régimes in die Mitte des politischen Reformdiskurses der Helvetischen Republik spedierte. Die grundlegende ehepolitische Stoßrich‐ tung der helvetischen Führungselite, ob im Parlament oder der mächtigen Exekutive, war also trotz zahlreichen anderen ideologischen Machtkämpfen zumindest zu Beginn der Republik verhältnismäßig eindeutig und reformorien‐ tiert. 364 Deswegen und weil die Recherche sämtlicher parlamentarischer und vollziehungsrätlicher Diskussionen, die die hier vorgestellten Ehebittschriften erzeugten, aufgrund der dürftigen Findmittel zum helvetischen Zentralarchiv den Rahmen dieser Dissertation gesprengt hätte, 365 begnügt sich die Arbeit an 301 3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften oder direktoriale Urteilsdiskussion zu finden. Die Register, die die zeitgenössische helvetische Archivverwaltung produziert hat, sind in Bezug auf eine systematische Analyse der Urteilsdiskussionen zu den einzelnen Petitionen „bedingt“ oder „nicht verwendbar“ - Ausdrücke des besagten Inventars. Es hat sich deshalb bei Stichproben als außerordentlich zeitintensives Unterfangen entpuppt, konkrete parlamentarische Diskussionen aufzuspüren. Diese verliefen nach den aufgezeigten anfänglichen Grund‐ satzentscheiden ohnehin nach relativ homogenen Mustern ab. Aus diesen Gründen wird hier auf eine detaillierte Analyse verzichtet und auf Tendenzen verwiesen. Guido Hunziker/ Andreas Fankhauser/ Niklaus Bartlome (Hrsg.), Das Zentralarchiv der Helvetischen Republik, 2 Bde., Bern 1990-1992. 366 Holenstein, Helvetik, 91. diesem Punkt mit der Darstellung einiger quantitativer Tendenzen. Dies ist möglich, weil die Beschlüsse der urteilenden Instanz - Großer Rat, Senat, Direk‐ torium beziehungsweise Vollziehungsausschuss - in den meisten Fällen direkt auf die Bittschriften um Ehebewilligung oder Kanzeldispens notiert wurden. Bei den Gesuchen um Kanzeldispensen wurde zudem in den allermeisten Fällen eine Kopie des Schreibens an die PetentInnen mit der Bittschrift archiviert, das zusätzlich über den Wortlaut des Urteils informiert. Wo bei den ersuchten Kanzeldispensen und Ehebewilligungen die Informa‐ tionen über das Urteil zu erhalten sind (108 Fälle), ist eine eindeutige Tendenz zu verzeichnen. In den allermeisten Fällen entschied hier das Direktorium, beziehungsweise nach dem ersten Staatsstreich der Vollziehungsausschuss oder das Parlament, in rund 90 % der Fälle (97 von 108) zu Gunsten der PetentInnen. Lediglich 10 % der Bitten um Ehebewilligung oder Kanzeldispens (11) wurden abgewiesen. Dadurch begünstigten Exekutive und Legislative Diskretion und Ruhe. Das helvetische Vollziehungsgremium verhinderte Aufsehen systema‐ tisch und förderte damit Privatheit und individuelle Intimität. Indem es in der Mehrheit ihrer Entscheidungen der Argumentationslogik der Petitionen folgte, betrieb es eine Politik, die öffentlichen Widerstand und patriarchale Ehe‐ hindernisse behinderte und persönliche Interaktionen zwischen BürgerIn und Staat begünstigte. Die ehewilligen AkteurInnen trafen auf einen Staat, dessen Führungskräfte, die zum größten Teil aus den reformabsolutistischen Kreisen des Ancien Régimes stammten, gewillt waren, den „zeitgenössischen staatsthe‐ oretischen und -wissenschaftlichen Kriterien von Rationalität, Effizienz, Macht und Souveränität“ zum Durchbruch zu verhelfen. 366 Diese stimulierten die direkte Beziehung zwischen BürgerIn und Verwaltung, um die Staatsgewalt auf Kosten intermediärer Faktoren auszubauen. Dadurch wurden andererseits auf‐ grund von Vorstellungen einer moralischen Ökonomie lokaler Gemeinschaften prekarisierte Eheschließungen wie Witwenheiraten, Eheschließungen in nahen Verwandtschaftsgraden, exogame Heiraten und gemischtkonfessionelle Ehen 302 3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften 367 Sutter, Act, 188. zweifellos begünstigt. Matrimoniale Unsicherheiten wurden reduziert und das Recht auf Eheschließung eindeutig demokratisiert. Insofern kann man in Bezug auf die Gelegenheiten zu Heiraten auch für Bern vom „Freiheitsatem der Helvetik“ sprechen, wie das für Zürich getan worden ist. 367 Da durchgängig so wenige Ehebegehren abgewiesen wurden, lässt sich diesbezüglich nicht eine Modernisierungsphase von einer Stagnationsphase unterscheiden, wie von Historiker*innen für die politische Entwicklung der Helvetischen Republik im Allgemeinen konstatiert wird. Allerdings lässt sich wie gezeigt eine klare Tendenz von den direkten Ehebewilligungen hin zu Kanzeldispensen erkennen. Diese Tatsache dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass gesetzliche Ehehin‐ dernisse zwar wegfielen, die vormals verbotenen Heiraten aber auf lokaler Ebene aufgrund moralisch-ökonomischer Vorstellungen nach wie vor zum Teil heftigen Widerstand evozierten. Eheschließungen, denen aus dem sozialen Nahraum die Prekarisierung drohte, brauchten zwar keine grundsätzliche Bewilligung mehr, aber Schutz und Verborgenheit vor dem ‚Dorfauge‘. 303 3 Strategien: Der Umgang der helvetischen Regierung mit den Ehebittschriften 1 Irène Herrmann spricht in Bezug auf die Schweizer Geschichte von „drei Wellen“. Die verfassungsgeschichtlichen Phasen Mediation und Restauration behandelt sie wie die vorliegende Arbeit als „konservative Antwort auf die Revolution“. Irène Herrmann, Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848), in: Die Geschichte der Schweiz, hrsg. v. Georg Kreis, Basel 2014, 371-421, 371; André Holenstein hat Bern in Bezug auf die Restauration als „Speerspitze der konservativen Reaktion“ bezeichnet. André Holenstein, Nach Napoleon. Die Grossmächte retten die Schweiz, in: Nach Napoleon. Die Restauration, der Wiener Kongress und die Zukunft der Schweiz 1813-1815, hrsg. v. Tobias Kaestli, Baden 2016, 6-44, 20. D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) Die Zeit vom Ende der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung wird in der Schweizer Geschichtsschreibung traditionell in drei Etappen eingeteilt: Media‐ tion (1803-1813/ 15), Restauration (1813/ 15-1830/ 31) und Regeneration (1830/ 31- 1848). Während für Bern Mediation und Restauration von einer verfassungs- und ereignisgeschichtlichen Erzählweise traditionell in der allgemeinen Tendenz als rückwärtsgewandt charakterisiert werden, wird die Regeneration in den groben Entwicklungslinien als reformorientierter Aufbruch in eine liberale Ära gedeutet, die in den 1840er Jahren in die Gründung des Bundesstaates mündete. 1 Hier stellt sich die Frage, wie sich diese allgemeinen Entwicklungen der Politikgeschichte auf den Umgang mit der Eheschließung ausgewirkt haben. Der Titel dieses letzten Hauptteils deutet bereits an, dass der Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetik und dem Bundesstaat in seiner Tendenz in Bezug auf die Eheschließungsthematik als eine Einheit behandelt wird. Zunächst sollen die politischen Ereignisse und die allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Dynamiken holzschnittartig nachge‐ zeichnet werden. Im nachfolgenden Kapitel wird diese Abstraktion dann mit den Entwicklungen in der zeitgenössischen Ehegesetzgebung und den bevölkerungs‐ politischen Debatten der Zeit in Beziehung gesetzt. Danach wendet sich die Arbeit analog der Gliederung der vorausgehenden Teile den entsprechenden Taktiken von ehewilligen und opponierenden Parteien zu, um abschließend die Strategien des Gerichts und die Erfolgschancen der Heiratswilligen während dieser letzten rund 45 Jahre von Bern als mehr oder weniger souveräne Stadtrepublik zu thematisieren. Durch das gewählte Vorgehen soll die Differenziertheit des bevöl‐ kerungspolitischen Alltags eingefangen werden, der allzu oft etwas vorschnell 2 Daniel Flückiger, Die letzte Blüte der alten Zeit. Restauration 1815-1831, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 22-24, 22. 3 Für ein differenziertes Bild der Ursachen: Böning, Traum, 295-303. 4 Altorfer-Ong, Staatsbildung, 10-112. als eine bürgerlich-liberale Erfolgsgeschichte gedeutet worden ist. 2 Wie verhielt sich der Umgang mit prekären Eheschließungen zu restaurativen und liberalen Entwicklungen in Bern? Das Ende der Helvetik (1802/ 03) In den vorausgehenden Ausführungen zur Helvetischen Republik wurde erläu‐ tert, was für ein ausgesprochen instabiles politisches Gebilde sie war und welche matrimonialen Erfolgschancen sie eröffnete. Ihr Bestehen hing maßgeblich von der Gunst des französischen Direktoriums und von Napoleons Politik ab. Die Ursachen für das Scheitern des helvetischen Projekts waren vielfältig. 3 Es sollen hier lediglich einige Faktoren erwähnt werden. Sicherlich spielten bei der Umsetzung der Reformprogramme finanzielle Aspekte eine zentrale Rolle: Der notorisch unterfinanzierten Verwaltung fehlten die Mittel zur Umsetzung der ambitionierten Reformideen. Viele Versprechen wurden nicht eingelöst, weil praktische Probleme in der Verwaltung die Umsetzung verhinderten. Die von Frankreich arg strapazierte Staatskasse - die Staatsschätze der städtischen Aris‐ tokratien wurden nach Paris abtransportiert und angeblich für Napoleons Ägyp‐ tenfeldzug verwendet - musste nicht nur den Aufbau und den Unterhalt eines modernen und effizienten Verwaltungsapparates finanzieren. Aus ihr mussten vorrangig Kontributionen und Requisitionen an Frankreich bezahlt werden. 1799 wurde dann das Gebiet der heutigen Schweiz auch noch zu einem zentralen Schauplatz im Krieg zwischen Frankreich und den koalierenden Mächten Großbritannien, Russland, Österreich und einigen weiteren. Die Ereignisse des zweiten Koalitionskriegs und ihre kollateralen Folgen führten zum endgültigen ökonomischen und finanziellen Erliegen der ‚einen und unteilbaren‘ Republik. Aufgehobene Feudalsteuern wurden wieder eingeführt, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Das wiederum erschütterte den Rückhalt in jenen agrarischen Bevölkerungsteilen, die die Helvetische Republik bis anhin ge‐ stützt hatten, weil ihre Regierung sie von Feudalabgaben befreit hatte. Ferner führten direkte Steuern, die im Ancien Régime in der Eidgenossenschaft und insbesondere in Bern weitgehend unbekannt waren, 4 Rekrutierungen für den eingeführten obligatorischen Militärdienst, Kirchen- und Religionsfeindlichkeit sowie der Verlust der Gemeindeautonomie zunehmend zu breit abgestütztem Widerstand gegen den Zentralstaat. Unter den führenden Helvetikern, die nach 306 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 5 Fankhauser, Probleme, 534-540; Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2015, 167-172. wie vor mehrheitlich aus Familien von Magistraten, Offizieren, Kaufleuten und Freiberuflern stammten, obwohl sie anfänglich durchaus auch neue soziale Elemente repräsentiert hatten, kam es bald zu Verfassungskämpfen zwischen verschiedenen politischen Lagern. Es folgten Intrigen und insgesamt vier Staatsstreiche. Dabei standen sich unterschiedliche weltanschauliche Parteien gegenüber. Die Grenzen verliefen entlang politischer Ideologien und trennten gemäßigte Republikaner und radikaldemokratische Patrioten. Innenpolitisch wurde die Verfassungsfrage bezüglich der Organisation des Staates zur Gret‐ chenfrage. Es kam zum offenen Konflikt zwischen unitarischen Verfechtern des Zentralstaats und föderalistischen Befürwortern einer bundesstaatlichen Orga‐ nisationsform. Die dadurch evozierten Staatsstreiche führten zu schnell wech‐ selnden Regierungen; ein Symptom wie auch ein verstärkendes Element der politischen Instabilität. Die neuerlichen Regierungsbildungsprozesse schlossen in zunehmendem Masse wieder konservative Agitatoren ein, was sich auch in der Diskussion um die Wiedereinführung der Chorgerichte zeigte. In der Folge handelten die neu gebildeten Regierungen tendenziell abwartend. Durch die inneren Umwälzungen kam es auch zu zwei weiteren kurzlebigen Verfassungen, die von Napoleons Einverständnis abhängig waren. Als dieser Ende Juli 1802 den Abzug der französischen Besatzungstruppen anordnete, markierte spätestens dies den Anfang vom Ende der Helvetischen Republik. Bereits im September 1802 erhoben sich überall in der Republik Föderalisten gegen Unitarier und ein Bürgerkrieg brach aus. Die sogenannten ‚Stecklikrieger‘, behelfsmäßig bewaff‐ nete Föderalisten, zogen gegen die Stadt Bern, die seit 1799 die Hauptstadt der Helvetischen Republik war. Am 18. September floh die helvetische Regierung nach Lausanne, worauf sich in Bern eine mehrheitlich patrizisch besetzte Standeskommission bildete, die als provisorische Regierung amtierte. 5 Die Mediationsakte und Bern (1803-1813/ 15) Von den siegreichen Föderalisten wurden in der Folge im ganzen Gebiet der ehemaligen Eidgenossenschaft wieder Regierungen in ihrem Geiste eingesetzt, die sich 1802 in Schwyz zur eidgenössischen Tagsatzung zusammenschlossen. Napoleon wollte die Kontrolle über die weiteren Entwicklungen behalten, besetzte die Eidgenossenschaft erneut und berief Ende 1802 eine Consulta in Paris ein. Für diese vermeintliche Verfassungsberatung reisten rund 70 Abgesandte aus dem Gebiet der damaligen Schweiz nach Frankreich und verhandelten dabei die politische Neugestaltung. Daraus resultierte eine weitere 307 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 6 Thomas Maissen schreibt, Napoleon hätte den Zentralismus nicht „der schweizeri‐ schen Landesnatur“ entsprechend gefunden. Das Wort ‚Natur‘ erscheint in Anlehnung an Maissen in diesem Zusammenhang äußerst sinnvoll, weil es in dieser Zeit im gouvernementalen Diskurs darum ging, eben dieser zu folgen. Die Regierungsform musste folglich der Natur entsprechen, um Fortschritt erzeugen zu können. Maissen, Geschichte, 172. 7 Emil Erne, Mediation (1803-1813/ 15), in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 540-548, 540-542; Maissen, Geschichte, 172-174. Machtdemonstration des ersten französischen Konsuls, der sich gegen außen aber als Vermittler inszenierte. Napoleon war zum Schluss gekommen, dass der Zentralismus der Natur des Landes widersprechen würde. 6 So diktierte er der Versammlung die sogenannte ‚Mediationsakte‘. Sie stellte eine Kompro‐ misslösung zwischen Unitariern und Föderalisten dar. Sie schuf einerseits 19 gleichberechtigte Kantone und behielt die Überwindung vorausgegangener Untertanenverhältnisse bei. Bürgerliche Rechts-, Niederlassungs-, Handels und Gewerbefreiheit blieben ebenfalls unangetastet. Das zuvor abgetrennte Ober‐ land wurde wieder den Kantonsgrenzen von Bern eingegliedert. Die Waadt und der Aargau blieben zum Leidwesen des Berner Patriziats eigenständige Kantone. Andererseits restituierte die Akte die ehemalige Souveränität der Kantone. Die Stände waren nun politisch wieder über das einmal jährlich tagende Organ der eidgenössischen Tagsatzung in einem verhältnismäßig losen Staatenbund miteinander verbunden. 7 Bern gab sich in der Folge eine knappe Konstitution mit lediglich 22 Artikeln, deren Revision nicht vorgesehen war. Sie wird von der Forschung im Vergleich zu den anderen eidgenössischen Verfassungen als eine städtisch-aristokratische cha‐ rakterisiert. Das darin verbriefte Wahlverfahren zur Besetzung der Regierung und Ämter bevorzugte wiederum die reichen Bewohner der Hauptstadt gegenüber der restlichen Bevölkerung. Obwohl die Verfassung vermeintlich auf gleichen politischen Rechten für alle basierte, schrieb sie ein Zensuswahlrecht fest, das den allergrößten Teil der Bevölkerung von der politischen Partizipation ausschloss. Das aktive Wahlrecht kam nur männlichen Bürgern von bernischen Gemeinden zu. Diese mussten finanziell unabhängig, militärdiensttauglich und mindestens seit einem Jahr ortsansässig sein. Als verheirateter Mann konnte man das aktive Wahlrecht ab 20 Jahren in Anspruch nehmen, wenn man über Grundstücke oder Schuldbriefe von einem bestimmten Wert verfügte. War man unverheiratet, verfügte man frühestens ab dem 31. Lebensjahr über das aktive Wahlrecht. Für das passive Wahlrecht lag der Wahlzensus wesentlich höher. In der Folge kam es bei den Wahlen im April 1803 zu einem Ergebnis, das vor allem den Aristokraten gefiel. Von 195 Mitgliedern des Großen Rats waren 121 Bernburger. 308 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 8 Erne, Zeit, 544-547. 9 Lukas Künzler nennt das Ende der Helvetik „die Stunde von Reaktionären“. Künzler, Wandel, 67. 10 Andreas Fankhauser, Art. Mediation 2009. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 009798/ 2009 -10-29/ (26.08.2021). 11 André Holenstein hat darauf aufmerksam gemacht, in welcher Weise die „Verstrickung der Schweiz mit der europäischen Mächteordnung [existenziell]“ war. Holenstein, Napoleon, 11; siehe dazu auch André Holenstein, Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte, 2. Auflage, Baden 2015. Rund drei Viertel von ihnen (80) gehörten schon vor 1798 Berns Obrigkeit an. Die 74 restlichen Großratssitze wurden von Landbewohnern und Bürgern der Munizipalstädte besetzt, die sich mehrheitlich ebenfalls die vorhelvetischen Zustände herbeisehnten. Im 27 Mann umfassenden Kleinen Rat, der von den Großräten gewählt wurde, saßen dann 21 Patrizier. Deren politische Karrieren hatten ebenfalls schon vor 1798 begonnen und konnten sich nun fortsetzen. Die Stadt Bern, die seit der Mediation ein eigenständiges Gemeinwesen war und einen separaten Haushalt zu führen begann, wurde ebenfalls von einem konservativen Kleinen und Großen Stadtrat regiert. Auch auf der lokalen Verwaltungsebene und in den Bezirken besetzten fast ausschließlich Patrizier die Stellen, die sehr lukrativ sein konnten. 8 So zeigen prosopographische Untersuchungen einen eindeutig rückwärtsgewandten Reflex auf das Ende der Helvetischen Republik, der jene, die sich in der helvetischen Politik und Verwaltung reformerisch betätigt hatten, tendenziell sogar benachteiligte. 9 In der Konsequenz kann in Anlehnung an die Historiker Ulrich Im Hof und Andreas Fankhauser zumindest für Bern aus der Retrospektive eine verfassungsgeschichtliche Entwicklung beschrieben werden, die viele gesellschaftspolitische Tendenzen der sogenannte ‚Restauration‘, die auf den Wiener Kongress folgten, andeutete oder sogar vorwegnahm. 10 Die Restauration in Bern (1813/ 15-1830) Als ab 1813 Napoleons Macht mit sich häufenden militärischen Misserfolgen zu schwinden begann, erstarkte im Berner Rat jenes Lager, das sich von einem Sieg der Alliierten die umfassende Restauration der Verhältnisse von 1798 erhoffte. Als am 23. Dezember österreichische Truppen Bern erreichten, hob der Große Rat die von Napoleon vermittelte Konstitution auf. 11 Der österreichische Einmarsch wurde zum Anlass genommen, jene Patrizier, die 1798 aufgrund der revolutionären Ereignisse aus ihren Ämtern entfernt worden waren, zu‐ mindest provisorisch wieder in diese einzusetzen. Bern agierte damit in der Eidgenossenschaft als restaurative Vorreiterin. Die neue alte Obrigkeit von Bern war in der Folge daran interessiert, neben dem Oberland die Waadt und den Aargau zurückzuerhalten. Dadurch versuchte sie die alte Ordnung und 309 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 12 Emil Erne, Von der Mediation zur Restauration (1813-1815), in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 548-551. 13 Junker, Helvetik, 231-236. 14 Flückiger, Blüte, 23. die überwundenen Untertanenverhältnisse vollumfänglich wiederherzustellen. Allerdings war Bern mit diesem Bestreben weder an der eidgenössischen Tagsatzung noch am Wiener Kongress erfolgreich. Als schwache Entschädigung für die verlorengegangenen Kantonsteile erhielten sie lediglich die größten Teile des ehemaligen Fürstbistums Basel. Dieses Gebiet bildete fortan den Berner Jura. Auf Standesebene gelang den restaurativen Berner Kräften nach dem Wiener Kongress mit einiger Verzögerung allerdings weitgehend das, was ihnen in der Eidgenossenschaft und auf der europäischen Bühne versagt blieb: Sie kehrten 1815 zu einer patriarchalen Ordnung zurück, die im Vergleich zu den anderen aristokratisch regierten Städteorten der Eidgenossenschaft restaurative Grund‐ sätze am stärksten akzentuierte. 12 Sogar der Epochenbegriff erhielt eine Berner Prägung: Für die Bezeichnung stand die Veröffentlichung des Berner Patriziers Carl Ludwig Haller von 1816 unter dem Titel Restauration der Staatswissenschaft Pate. 200 Sitze des 299 Mitglieder umfassenden Großen Rats waren wieder mit Hauptstädtern besetzt. Die Repräsentation der Hauptstadt war, gemessen am Bevölkerungsanteil, gegenüber der Landschaft immens. 13 So übernahmen 1815 die Patrizier, denen zu diesem Zeitpunkt noch ungefähr 60 Familien angehörten, noch einmal das politische Ruder. Ihr Staatsverständnis lässt sich wie folgt umschreiben: Sie betrachteten den Staat, seine Einkünfte und Erträge als ihr kol‐ lektives Eigentum und wollten nun ihren Besitz nach den verlustreichen Jahren der Helvetik wieder konsolidieren. Sie trugen Sorge um das Staatswesen, waren also wirtschaftlich und verwaltungstechnisch nicht rückwärtsgewandt. Doch ihre Vorstellungen zu politischen Partizipationsrechten blieben demokratischen Leitideen der Moderne gegenüber weitgehend verschlossen. 14 Dieses Selbstver‐ ständnis beeinflusste auch die Ehegesetzgebung und die Gerichtspraxis, wie weiter unten zu sehen sein wird. Berns Regeneration (1830-1848) In der Geschichte von Bern, wie auch in der allgemeinen Schweizer Geschichte, wird dieser verfassungsrechtlich reaktiven Zeit von der napoleonischen Me‐ diation bis zum Ende der patrizischen Restauration die folgende sogenannte ‚liberale Regeneration‘ entgegengesetzt. Im Vorfeld und in der Folge der fran‐ zösischen Julirevolution in Frankreich kam es in verschiedenen Kantonen der damaligen Schweiz zu Bewegungen, die die Revision der bestehenden Verfassungen verlangten. In Bern forderten vor allem ländliche und munizipals‐ 310 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 15 Ebd., 24-27. 16 Ebd., 27. 17 Ebd., 28-29. tädtische Eliten immer lauter stärkere politische Mitspracherechte. Sie trugen wirtschaftlich und kulturell entscheidend zum Gemeinwohl von Bern bei, waren allerdings von politischer Partizipation und vielen Ämtern weitgehend ausgeschlossen. Die Berner Regierung, die durch die Entwicklungen in anderen Kantonen vorgewarnt gewesen war und deswegen antizipativ handelte, forderte am 9. Dezember 1830 ihre Untertanen auf, Vorschläge und Wünsche zur politischen Neugestaltung des Kantons zu artikulieren. Sie erhoffte sich dadurch Zuspruch der unteren Schichten gegen die lokalen Eliten, scheiterte damit aber. Fast 600 Petitionen gingen ein, von denen die Mehrheit liberale Forderungen formulierte. In der Folge kam es zu Versammlungen der entstehenden liberalen Bewegung, die die Wahl eines Verfassungsrats zu fordern begann. Dieser sollte die alte Konstitution revidieren. Der Große Rat folgte der Forderung. Mitte Januar 1831 war er bereit, einem vom Volk gewählten Verfassungsrat zu weichen. Im Sommer 1831 segneten die partizipationsberechtigten Bürger die erste demokratische Verfassung ab. Diese Entwicklungen werden vielfach als eine politische Zeitwende in der Geschichte des Kantons wie auch der Schweiz insgesamt gedeutet. Das alte politische, wirtschaftliche und soziale System, in dem die Partizipationschancen wesentlich vom ständischen Herkommen abhängig waren, hatte während der Restauration noch einmal gedeihen können, erlosch nun aber endgültig. Es folgte ein indirekt demokratisches System, das zwar Gleichheit in der Repräsentation zwischen Stadt und Land schuf, politische Partizipation aber weiterhin maßgeblich an Besitz, Bildung und Geschlecht koppelte. Unter dem Druck eines erstarkenden Besitz- und Bildungsbürgertums wurde die Ständegesellschaft zersetzt und durch die Klassengesellschaft abge‐ löst. 15 Sowohl die geeinte liberale Bewegung wie auch die später in Liberale und Radikale gespaltene Regierung „vertraten […] die Interessen der Wohlhabenden und zeichneten für einen beispiellosen Kahlschlag in der Armenfürsorge“. 16 Erst als die politische Lage aufgrund von Ernteausfällen sehr angespannt war und die Radikalen auf eine erneute Verfassungsrevision drängten, rangen sich die Stimmberechtigten dazu durch, das Stimmrecht vom Vermögen unabhängig zu machen. Fortan wurde der Große Rat im Zuge einer Volkswahl besetzt. Neu konnten auch Volksabstimmungen durch Unterschriftensammlungen erwirkt werden. Bern offenbarte sich auf der Ebene der Eidgenossenschaft während der gesamten Regenerationszeit als entscheidender Motor für die bundesstaatliche Einigung. 17 311 D Die nachhelvetische Zeit bis zur Bundesstaatsgründung (1803-1848) 18 Certeau, Kunst, 85. 19 StABE, B III 438, 35-40. 1 Normen und Debatten: Status quo ante? Nachdem die allgemeinen politischen Entwicklungen in groben Zügen nachge‐ zeichnet wurden, stellt sich die Frage, welche Entwicklungen sich auf der Ebene der Normierung der Eheschließung und im Rahmen zeitgenössischer bevölke‐ rungspolitischer Debatten feststellen lassen. Bestätigen diese Entwicklungen das allgemeine Narrativ einer stark ausgeprägten Restauration nach der Hel‐ vetik, gefolgt von einer stark liberal akzentuierten Regeneration? Diese Frage gilt es im vorliegenden Kapitel zu klären. Damit wird der „vorfabrizierte Raum“ abgesteckt, in dem sich die Berner AkteurInnen prekärer Eheschließungen mit ihren Taktiken unter den veränderten Verhältnissen zu Beginn des 19. Jahrhun‐ derts bewegen mussten. 18 Die Zeit nach 1800 kann grob in zwei eherechtliche Phasen aufgeteilt werden. In der ersten Phase, ab 1803, galt formell wieder die alte und religiös begründete Ehegerichtsordnung von 1787. Diese wurde Ende 1824 von der Ehegesetzgebung des Civilgesetzbuchs abgelöst. Diese zunächst rein formale Einteilung wirft allerdings die Frage auf, inwiefern sich die Ge‐ setze in Bezug auf die Möglichkeiten zur Prekarisierung von Eheschließungen tatsächlich unterschieden, beziehungsweise welche Handlungsräume sie den Ehewilligen faktisch eröffneten. Diesen Fragen widmen sich die folgenden Ausführungen. 1.1 Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung Die ‚Unordnung‘ der helvetischen Ehegesetzgebung In Bern wurden zur Aufrechterhaltung der Sitten und zur „Befestigung des Hausfriedens sowie der ehelichen Verbindungen“ das „ordentliche Gericht […] und überhaupt die alte bewährte Einrichtung Unserer Chorgerichte und Ehr‐ barkeiten“ nach dem Ende der Helvetischen Republik sofort wieder eingesetzt. 19 Es war eine der ersten Verordnungen, die unter der neuen alten Regierung erlassen wurde. Die letzte revidierte Ehegerichtsordnung unter alter Herrschaft von 1787 wurde am 8. Juli 1803 vom neuen Berner Rat tel quel restituiert: „Dem Oberen Ehegericht kommen alle die Rechte und Befugnisse zu, welche die 312 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 20 Ebd., 35-40; 42-44. 21 Dass., A II 3047. Regierungsakten; Verwaltungsabteilungen (Kollegien); Oberehegericht (1803-1830), 1. 22 Ebd., 3. 23 Ebd., 1. 24 Eheverkündigung, 826. Ehegerichts-Satzung vom Jahre 1787. dem ObernEhegericht ertheilt.“ 20 Damit war die anfängliche ehepolitische Stoßrichtung in eindeutiger Weise geklärt. Sie entsprach vollkommen der allgemeinen politischen Ausrichtung: Berns Ob‐ rigkeit wollte im Bereich des Eherechts unmittelbar zurück zu vorhelvetischen Zuständen, als Eheschließungen gesetzlich im Sinne eines Privilegs verknappt und damit prekarisiert wurden. In Anbetracht der Praxis der Verkündigungsdispensen waren die wiederein‐ gesetzten Eherichter - die, wie in den Ausführungen zum Ancien Régime zu sehen gewesen ist, ihre Urteile oftmals mehrstimmig fällten - am 10. August 1803 „über den Nachtheil der häufigen Enthebungen von jener gesetzlichen Vorschrift der öffentlichen Verkündigungen ganz einmütig“. 21 „[D]ie schon vor der Revolution, besonders aber seither, sich eingeschlichenen Missbräuche“ im Zusammenhang mit den prekären Ehen sollten aus der Sicht der neuen alten Machteliten sofort wieder unterbunden werden. 22 „[D]iese Nachlaßung [war] zufolge der Ehegerichtssatzung […] nur in Nothfällen, oder für geistl[iche] und weltliche Beamten erlaubt, hat aber bey den ausgedehnten schwer zu beobachtenden Schranken öftere Unordnungen veranlaßt. Dermal nun scheinen die ordentlichen Verkündigungen immer nöthiger zu werden, theils über‐ haupt wegen der zunehmenden Sittenlosigkeit, theils auch wegen der vielen Fremden, und theils endlich wegen der übrigen Abschaffung hiesiger bürgerlichen Vorrechte.“ 23 Das burgerliche Privileg der Diskretion im Vorfeld der kirchlichen Einsegnung, 24 das im Zuge der helvetischen Revolution durch die Petitionen der AkteurInnen und deren Verwaltung demokratisiert worden war, schien der neuen alten Herr‐ schaft von Bern und ihren obersten Eherichtern zu Beginn der neuen Ära ein Dorn im Auge zu sein. Das Unbehagen war so groß, dass es das wiedererstarkte Patriziat dazu veranlasste, zu Gunsten der gesellschaftlichen Ordnung auf eigene ehemalige Vorrechte zu verzichten. Durch die ausnahmslose Anwendung der rechtlichen Pflicht der Eheverkündigung auf alle gesellschaftlichen Gruppen wurden also ständische Privilegien in der Tendenz gleichwohl unterhöhlt. Zwar mussten die Burger ihre Eheschließungen nur im Berner Münster verkünden, bevor sie sich trauen lassen durften. Doch war im neuen Dekret vom 12. November 1804 auch in Ausnahmefällen davon keine Enthebung mehr vorge‐ 313 1.1 Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung 25 StABE, K Bern 9. Eherodel Nr. VIII (1805-1829), 1-3. 26 Wie die Paradoxie zwischen „institutional reinforcement“ und „institutional weakness“ der Obrigkeit möglich machte, ihre Macht durch persönliche Beziehungen aufrechtzu‐ erhalten, zeigt Sandro Guzzi-Heeb an einem Fallbeispiel aus dem Wallis auf. Sandro Guzzi-Heeb, Joseph-Samuel Farinet and the ‚Modern‘ State. Banditry, Patronage and Resistance in Nineteenth-Century Valais, in: Empowering Interactions. Political Cul‐ tures and the Emergence of the State in Europe, 1300-1900, hrsg. v. Willem Pieter Blockmans/ André Holenstein/ Jon Mathieu, Hants, Burlington 2009, 187-201, 199. 27 Certeau, Kunst, 88. 28 Diese Argumentation der Obereherichter, die dem gedruckten Gesetz mehr Bedeutung beimisst als einem handschriftlichen Beschluss, weist auf Bürokratisierung und ein zunehmend technokratisches Justizverständnis hin. Auf diesen Umstand wird in Bezug auf die Urteilspraxis noch weiter unten eingegangen. 29 StABE, A II 3047, 9. sehen. 25 Dennoch versuchten heiratende Burger und Eherichter in der Folge wiederholt, ihre durch die Helvetik erschütterten ehelichen Privilegien in An‐ betracht der ausgesetzten Verkündigungsdispensen wiederholt zu restituieren. 26 Der angestrengte Versuch der eherechtlichen Restauration, der, wie de Certeau sagen würde, die „Beherrschung der Zeit durch die Gründung eines autonomen Ortes“ wiederherzustellen und „aus den errungenen Vorteilen Gewinn zu schlagen“ beabsichtigte, 27 zeigte sich zum Beispiel in einer Diskussion zwischen Rat und Oberehegericht 1808. Nach der aufgezeigten vorläufigen Einmütigkeit bezüglich der Aufhebung von Eheverkündigungsdispensen zu Beginn der Me‐ diation musste nun das Oberehegericht selbst von der Regierung getadelt werden. Es gewährte nämlich dem Sachmagazinverwalter Wild „[auf] das Ansu‐ chen eines [seiner] Mitglieder“ die Befreiung von der dritten Verkündigung. Die Obereherichter bezogen sich in der Rechtfertigung der gerügten Dispensierung darauf, dass mit der Einsetzung der Mediationsakte 1803 die Ehegerichtssatzung von 1787 wieder in Kraft getreten sei. Mit dieser seien ihnen wieder sämtliche alten Befugnisse zugesprochen worden. Dabei war das oben erwähnte Schreiben an den Kleinen Rat von 1803 nicht etwa vergessen gegangen. Vielmehr hätte die darin vertretene Position nie Eingang in die Ehegerichtsordnung gefunden, so die Obereherichter. Es läge lediglich ein handschriftlicher Beschluss des Schult‐ heißen und Kleinen Rates vor. Weil aber die Mitglieder bei ihrer Amtseinsetzung jeweils auf die gedruckte Ehegerichtsordnung schwören würden, könne man sich seitens des Kleinen Rats nicht auf den ungedruckten Beschluss berufen. 28 Damit gab das Oberehegericht in derselben Stellungnahme zu erkennen, dass man es 1808 - als die neue alte Regierung wieder seit fünf Jahren etabliert war - für „unzwekmäßig“ hielt, „etwas an der Ehegerichts-Sazung zu ändern“. 29 So zeichnete sich hier in Bezug auf die ständischen Privilegien innerhalb des obersten Berner Ehegerichts eine eindeutig restaurative Tendenz ab, auch 314 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 30 Ebd., 3. 31 StABE, B III 438, 252. 32 Damit reiht sich die Ehethematik in die allgemeine Bernische Rezeptionsgeschichte der Helvetik ein. André Holenstein, „Untergang“ und Helvetische Revolution im kollektiven Gedächtnis Berns, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 526-531, 526. 33 StABE, B III 831, 225-230. wenn es dabei blieb, dass die Verkündigungsdispensen auch in Zukunft für die Aristokratie nicht mehr vorgesehen waren. Aber nicht nur die alten Ehegerichte, die vormaligen Ehegesetze und das Verbot der Verkündigungsdispensen wurden mit der Mediationsverfassung rehabilitiert. Auch im Umgang mit den unehelich Geborenen kehrte man zu alten Gepflogenheiten zurück und führte die Einzugsgelder für auswärtige Frauen und Fremde wieder ein. Während sich unehelich Geborene in der Helvetischen Republik den ehelichen Status nachträglich erwerben konnten, wurden die Pfarrer von Bern am 18. November 1803 angehalten, „kein Kind in den Taufrodel als ehelich ein[zu]tragen, es sey denn der eheliche Stand des Vaters und der Mutter aus dem Eherodel oder Heyrathsschein zu ersehen“. 30 Der Geburtsstand hatte offensichtlich seine alte Bedeutung wiedererlangt. Einige Jahre später, am 27. September 1815, wurden die Eherichter von der Regierung nach der Ursache der Sittenverderbnis gefragt. Sie antworteten unumwunden und ganz im oben präsentierten politischen Geist der Zeit: „Die durch die politischen Ereigniße unsrer Zeiten erzeugten, durch die zahllose Menge von Neuerern und sogenannten Aufklärern genährte und großgezogene, schiefe Richtung, vorzüglich der jugendlichen Gemüther, wo durch jegliches Band der bürgerlichen Ordnung zerrissen, und sowohl die positiven Religionslehren, als auch die gesellschaftlichen Verhältniße, welche den Strom gefährlicher Leidenschaften aller Art eindämmen, […] darniedergetreten werden.“ 31 Es fällt in der Zeit nach der Helvetik für Bern auf, dass die Helvetische Republik von den wieder an die Macht gelangten alten Eliten in Anbetracht der Ehe‐ schließung eindeutig als Zeit der Unordnung und Erschütterung interpretiert respektive zurückgewiesen wurde. 32 Was durch die aufklärerischen Behörden der Helvetischen Republik zerstört worden war - „indem der Rath damals nicht mehr existierte“ und die gesetzestreuen Menschen „nicht einmal gewußt, bey welcher Behörde [sie] sich […] zu melden hätte[n]“ 33 - musste jetzt wieder restauriert werden. Aufklärer erschienen nun als Blender, die Chaos stifteten. Der ausufernde, unkontrollierte Strom gefährlicher Leidenschaften, der mit den Petitionen um Verkündigungsdispens alle Dämme gesellschaftlicher Ordnung 315 1.1 Die Restitution der alten Ehegerichtsordnung 34 StABE, A II 3047, 3. 35 Ebd., 7. 36 Auch Eva Sutter weist darauf hin, dass es „immer wieder Pfarrer [gab], die Ehen trotz bestehender formeller Hindernisse kirchlich einsegneten“. Sutter, Act, 197. 37 Dieser Spur kann in der vorliegenden Arbeit nicht weiter gefolgt werden. Doch die nähere Untersuchung der (bevölkerungs)politischen Rolle der Pfarrer als gebildete Elite in Bern und ihre Stellung als naturrechtlich-demokratische Vorhut von zum Teil Zurückgesetzten würde sich sehr lohnen. Forschung, die der Spur der politischen Rolle von Geistlichen in der Zeit zwischen 1830 bis 1850 nachgeht, findet in einem SNF-Teilprojekt von Andreas Oefner an der Universität Bern statt. Seine Forschung ist Teil des Doppelprojekts Der neue Bürger und die neue Politik. Mediale Konstruktionen in Predigt und Presse in der deutschsprachigen Schweiz (1830-1850), das unter der Leitung von Prof. Dr. Joachim Eibach steht. Vgl. die Forschungsdatenbank P 3 des Schwei‐ zerischen Nationalfonds: http: / / p3.snf.ch/ project-163009 (12.05.2019). Vorarbeiten zu diesem Projekt in: Arno Haldemann, „Und in solchen Zeiten der Unruhe und des Jammers sollte die Kirche kein Wort zu sagen haben den Bürgern des Vaterlandes? “. Predigten als konfessionsübergreifendes Medium der politischen Kommunikation in der Regenerationszeit. Masterarbeit, eingereicht bei Prof. Dr. Joachim Eibach, Bern 2013. niedergerissen hatte, musste schleunigst wieder in gesetzlichen Schranken kanalisiert werden, um nicht noch mehr Unheil anrichten zu können. Das mat‐ rimoniale Menschenrecht aus helvetischer Zeit musste wieder dem ehelichen Privileg weichen. Interessanterweise wurden in der Zeit zwischen Mediation und Bundesstaats‐ gründung die Pfarrer wiederholt von der Obrigkeit oder den Eherichtern für ihre Einsegnungspraxis getadelt. Bereits im November 1803 wurde die Unge‐ nauigkeit der Pfarrer bei der Führung der Taufrodel als Grundlage zur Klärung des Geburtsstandes kritisiert. 34 Am 6. Dezember 1805 wurde ebenfalls „mehr Sorgfalt der Pfarrer“ gefordert, um betrügerische Ehen effektiver verhindern zu können. 35 Die Liste der Beispiele könnte problemlos weitergeführt werden. So traten Pfarrer nicht nur unter dem Ancien Régime in der Oekonomischen Gesellschaft als reformorientierte Bevölkerungspolitiker auf, die zum Teil als Komplizen der AkteurInnen prekärer Eheschließungen in Erscheinung treten konnten. 36 Sie schienen auch unter der restaurativen Regierung nach der Helvetik ein eheförderndes gesellschaftliches Element gewesen zu sein, das jetzt der vermeintlichen aufklärerischen Unordnung Vorschub leistete und in den Augen der Obrigkeit diszipliniert werden musste. 37 316 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 38 Absatz 6 und 7 des Beschlusses vom 1. Februar 1804 hielten fest, dass sowohl katholische Ehen als auch interkonfessionelle Ehen von katholischen Männern vom Priester in Bern eingesegnet werden durften. Allerdings durften sie nur in der Hauptstadt und in der dazu bestimmten Kirche eingesegnet werden. Beschluss. Katholischer Gottesdienst in Bern (4. Februar 1804), in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 326-330, 328-329. 39 Ebd., 326; vgl. Guggisberg, Kirchengeschichte, 575. 40 Dekret. Heyrath mit katholischen Glaubensgenossen (23. Mai 1804), in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 381-382. 1.2 Wachsende religiös-konfessionelle Toleranz Gemischtkonfessionelle Eheschließungen Mit dem Ende der Helvetischen Republik wurde in Bern also vorerst die alte Ehegerichtsordnung wiederhergestellt. Verkündigungsdispensen wurden zwischenzeitlich ständeübergreifend ausgesetzt und der Status der erbberech‐ tigten Ehelichen sollte wieder in aller Deutlichkeit vom Stand der Unehelichen unterschieden werden. Dennoch gab es Ehehindernisse, mit denen das Oberehe‐ gericht im weiteren Verlauf der nachhelvetischen Episode bald wieder weniger restriktiv verfuhr beziehungsweise die durch Dekrete überholt wurden. So duldete die Obrigkeit von Bern katholische Eheschließungen und interkonfes‐ sionelle Ehen zwischen reformierten Bernerinnen und fremden Katholiken in Bern nicht zuletzt aufgrund eidgenössischer Entwicklungen und politischem Pragmatismus über das Bestehen der Helvetischen Republik hinaus. 38 Während der Helvetik hatten sich aufgrund der religionstoleranten Gesetzgebung erste Katholiken im reformierten Kantonsgebiet niederlassen können. Dies geschah in der Folge immer häufiger. Zunehmend wurde das konfessionelle Staatskir‐ chentum durch steigende Mobilität, Niederlassungs- und Handelsfreiheit unter‐ wandert. Der Umstand der „zahlreichen in Bern sich aufhaltenden Katholiken“ führte so zu ehegesetzlichen Neuerungen. 39 Mittels Dekret hoben Schultheiß und Räte von Bern den neunten Paragraphen der alten Ehegerichtssatzung mit dem Zusatz, dass die Kinder von Bernern mit katholischen Frauen in der Religion des Vaters erzogen werden mussten, auf. Bestimmungen zum umgekehrten Fall blieben vorerst aus. 40 Immer öfters musste sich die eidgenössische Tagsatzung in der nachhelvetischen Zeit mit kantonsübergreifenden interkonfessionellen Ehen beschäftigen. In der Folge kam es auch zu einer Reihe von Konkordaten, die zwischen unterschiedlichen Kantonen geschlossen wurden und rechtliche 317 1.2 Wachsende religiös-konfessionelle Toleranz 41 Hafner, Mischehe, 9-11. 42 StABE, B XIII 580. Eherodel über die Heiraten mit Katholischen (1804-1831); gemischte Ehen mussten laut den Be-stimmungen jeweils vom Geistlichen der Konfession des Mannes eingesegnet werden. Guggisberg, Kirchengeschichte, 575-576. 43 Guggisberg, Kirchengeschichte, 577-578; Hafner, Mischehe, 13. Implikationen für konfessionsübergreifende Ehen mit sich brachten. 41 Auf diese Weise etablierten sich gewisse Werte der Aufklärung, die sich während der Helvetik Raum verschafft hatten, allmählich auch in Bern. Das Eherodel im Berner Staatsarchiv, das seit 1804 vom Geistlichen der katholischen Kirche in Bern geführt wurde und in dem er im Auftrag der Regierung die interkonfes‐ sionellen Eheschließungen katholischer Männer mit reformierten Frauen bis 1831 verzeichnete, dokumentiert diese Entwicklung. 42 0 2 4 6 8 10 12 14 16 1804 1806 1808 1810 1812 1814 1816 1818 1820 1822 1824 1826 1828 1830 Gemischtkonfessionelle Eheschließungen pro Jahr Median Diagramm 6: Eheschließungen zwischen katholischen Männern und reformierten Frauen in Bern zwischen 1804 und 1831 (Quelle: StABE B XIII 580, Eherodel über die Heiraten mit Katholischen) Die Grafik zeigt, dass die Zahl der gemischtkonfessionellen Eheschließungen im Mittel über die Jahre stetig zunahm und Konfessionalismus in der Eheschlie‐ ßungspraxis an Bedeutung verlor. Die ausbleibenden gemischtkonfessionellen Eheeinsegnungen in den Jahren zwischen 1817 bis 1824 lagen nicht etwa in einer neuerlichen Repression solcher Verbindungen durch die bernische Obrigkeit begründet, sondern im Verhalten des katholischen Lehramts. Dieses gewann seit der Restauration auf gesamteuropäischer Ebene wieder an Macht und trat in der Folge erneut selbstbewusst auf. 43 So schrieb der amtierende katholische Priester A. Dolder am 26. März 1816 in das besagte Rodel, dass ihm sein Kirchenoberer, der Bischof von Freiburg, entgegen seinem persönlichen Streben, 318 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 44 StABE, B III 580, 15. 45 Kreisschreiben des Kleinen Raths an die fünf Lebergerbischen Herren Oberamtmänner (23. März 1821). Verkündigung und Einsegnung gemischter Ehen, in: Neue Sammlung der Gesetze und Dekrete des Großen und kleinen Raths der Stadt und Republik Bern, Bd. 3, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde. 1818-1831, 8-9. 46 StABE, A II 3047, 6. 47 Ebd. 48 Ebd. mündlich und schriftlich verboten hätte, weitere Ehen zwischen Katholiken und Andersgläubigen einzusegnen. 44 Dass ab 1825 der Priester wieder gemischte Ehen einsegnete, hing unter anderem mit der Politik des Kleinen Rats von Bern zusammen. In Anbetracht „der Würde und dem Ansehen einer souverainen Regierung“ befand dieser mehr denn je, dass sowohl die katholischen als auch die reformierten Geistlichen „ihre […] Obliegenheiten gegen den Staat zu erfüllen“ hatten. 45 Ansonsten war die Regierung gewillt, repressiv gegen die Geistlichen vorzugehen. Verwandtenehen Mit dem unter dem Ancien Régime religiös begründeten Ehehindernis der zu nahen Verwandtschaft verhielt es sich ähnlich wie mit dem konfessionellen Hinderungsgrund. Am 27. Januar 1806 traten die Repräsentanten des Oberehe‐ gerichts deswegen vor den Räten auf. Sie seien bereits des Öfteren gefragt worden, wie mit den Eheverkündungen und Eheschließungen zwischen Ge‐ schwisterkindern und anderen Graden der Verwandtschaft umzugehen sei. Auch hier befand sich das Oberehegericht im Widerstreit mit den alten Gesetzen der restaurierten Ehegerichtsordnung und den Neuerungen, die mit der Helve‐ tischen Republik eingeführt wurden. Dabei verhielten sich die Vertreter des höchsten Berner Ehegerichts laut eigener Aussage tendenziell reformorientiert, wenn sie den Räten Eheschließungen zwischen Geschwisterkindern, „und jene, um einen ganzen oder halben Grad weiter stehenden Heirathen von Neffen, oder Niecen par alliance zu empfehlen pflegten, indem es [ihnen] wiedersprechend schien, das aufgehobene Verbott, gegen weitere Grade beyzubehalten“. 46 Die Richter hielten dagegen den Widerspruch fest, dass einige der empfohlenen Verwandtenehen dennoch abgewiesen wurden, obwohl der Große Rat in den Verhandlungen vom 18. und 23. Mai 1804 „in wiederholter Bestätigung des helvetischen Gesetzes, diese ehen ohne weitere Dispensationen zu gestatten [schien]“. 47 Aufgrund dieses Widerspruchs in der Haltung der Räte verlangte das Oberehegericht eine eindeutige Weisung, „damit es sich in künftigen Fällen […] zu verhalten wisse“. 48 Den Widerspruch löste das Oberehegericht am 20. März 1809 auf kantonaler Ebene in einem Kreisschreiben an sämtliche lokalen 319 1.2 Wachsende religiös-konfessionelle Toleranz 49 Kreisschreiben des obern Ehegerichts an alle Chorgerichte. Weisung über das Verfahren in Matrimonial- und Vaterschafts-Angelegenheiten (20. Merz 1809), in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 3, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 273-279, 274. 50 Damit verhielt sich Bern im Trend der reformierten eidgenössischen Orte. Mathieu, Kin, 213-216. 51 Stefan Jäggi, Art. Pauperismus 2009. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D16091.php (26.08.2021); Erich Gruner, Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Soziale Lage, Organisation Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat, Bern 1968, 40-41; Regula Chorgerichte gleich selbst auf. Aufgrund des Ausbleibens einer „entworfenen neuen Ehegerichtssatzung“, die bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs nicht zum Einsatz kam, erklärte das Oberehegericht im vierten Absatz des Kreiss‐ chreibens die Eheverbindungen zwischen Geschwisterkindern für „einstweilen“ erlaubt. 49 Diese Weisung wurde in Bern bis zur Gründung des schweizerischen Bundesstaates nicht mehr rückgängig gemacht, wodurch die oben erwähnten Anfragen bei den Räten oder von lokaler Seite beim Oberehegericht obsolet wurden. 50 Nach einer anfänglich dezidiert restaurativen Tendenz, die aus Sicht des Patriziats darauf abgezielt hatte, nach dem helvetischen Schock den status quo ante wiederherzustellen, ließen sich also im Bereich der religiösen Ehehinder‐ nisse unter der neuen alten Regierung und ihrem Ehegericht zwei nachhaltige Veränderungen beobachten, die in der Kontinuität zur Helvetischen Republik standen. Im Kern dieser Liberalisierung ging es um die Säkularisierung zweier Ehehindernisse, wovon das eine konfessionalistisch motiviert und das andere religiös begründet gewesen war. 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik Die zunehmende weltanschauliche Toleranz in Bezug auf interkonfessionelle Ehen und der gelockerte Umgang mit den Eheschließungen zwischen Geschwis‐ terkindern (Cousinenheiraten) in der Folge der Helvetischen Republik dürfen al‐ lerdings nicht über die generell repressive Ehepolitik hinwegtäuschen, die vom Berner Rat zur Armutsbekämpfung in der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts betrieben wurde. Sie diskriminierte einen großen Teil der Berner Bevölkerung massiv. Durch die Koalitionskriege, die Hungersnot in den Jahren 1816/ 17, das rasant ansteigende Bevölkerungswachstum aufgrund sinkender Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit und die Folgen der Industrialisierung kam es auch in Bern zu Massenarmut. Armut gab es zwar schon zuvor, sie war im jetzigen Ausmaß allerdings präzedenzlos und schien nicht abzureißen. 51 320 1 Normen und Debatten: Status quo ante? Ludi/ Sonja Matter/ Tanja Rietmann, Menschen auf der Schattenseite des Lebens, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 192-204, 194. 52 Zur Überlastung der traditionellen Armenfürsorge vgl. Ludi/ Matter/ Rietmann, Men‐ schen, 193-194; vgl. zur traditionellen Armenfürsorge im Allgemeinen Flückiger Strebel, Wohlfahrt. 53 Pfister, Strom, 341. 54 Vgl. Fuhrmann, Volksvermehrung, 224; Matz, Pauperismus. 55 Ursula Gaillard, Art. Malthusianismus 2011. www.hls-dhs-dss.ch/ textes/ d/ D17430.php (26.08.2021). 56 Umgekehrt lässt sich nachweisen, dass Malthus von Jean-Louis Murets statistischer Studie zur Waadt beeinflusst und sogar angetan war. Vgl. Behar, Pasteur; vgl. auch Pfister, Pfarrer, 97; zur Rezeption von Malthus in der Eidgenossenschaft, die zu Beginn in der Romandie ausgeprägter zu sein schien, vgl. Gaillard, Art. Malthusianismus. 57 Pfister, Strom, 105-106. 58 Schnegg, Illegitimität, 62-63; Pfister, Strom, 110. Sie brachte das traditionelle System der Armenunterstützung an seine Kapazi‐ tätsgrenzen. 52 Berns agrarisch und gewerblich dominierte Wirtschaft konnte mit dem Bevölkerungswachstum nicht mehr Schritt halten und schuf nicht hinreichend Arbeitsplätze. 53 Die allgegenwärtige Befürchtung war, dass die exis‐ tenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung die Bodenerträge im landwirtschaftlich dominierten Bern übersteigen würden. Doch die Bekämpfung der Massenarmut diktierte nicht nur die Berner Bevölkerungs- und somit die Ehepolitik in den Jahren zwischen dem Ende der Helvetik und der Bundesstaatsgründung, son‐ dern wurde auch zu einem intensiv diskutierten Thema der gesamteuropäischen Öffentlichkeit. 54 In Bezug auf die Wahrnehmung, Bewertung und Bekämpfung des Pauperismus spielte auf europäischer Ebene der von Thomas Robert Malthus 1798 erstmals publizierte Essay on the Principle of Population spätestens nach seiner zweiten Auflage 1803 eine bedeutende Rolle. 55 Für Bern ist dessen direkte Rezeption allerdings schwer nachzuweisen, obwohl die vertretenen Ansichten zum Teil stark jenen des bekannten Demographen und Pfarrers glichen. 56 In Bern nahm der Anteil verheirateter Personen an der Gesamtbevölkerung nach der Helvetik - in einer durch gesteigerte Bodenerträge und das sogenannte ‚agrarische Bevölkerungswachstum‘ geprägten Zeit - bis 1856 ab. Die Zahl der Unverheirateten stieg relational dazu an. 57 Gleichzeitig nahm die Illegitimi‐ tätsrate, also der Anteil der unehelich geborenen Kinder an der Gesamtzahl der Geburten, in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts drastisch zu. Sie erreichte um die Jahrhundertmitte einen Höchstwert von 7,2 %. Damit lag der Kanton im eidgenössischen Vergleich hinter den Kantonen Luzern und Genf an dritter Stelle. 58 Bern war jedoch keine Ausnahmeerscheinung. Ähnliche Entwicklungen können für diesen Zeitraum in zahlreichen anderen Kantonen 321 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik 59 Sutter, Act, 37-55. 60 Pfister, Strom, 103-106; 109-110. Christian Pfister kommt auf Seite 105 zum Schluss, dass die Berner Regierung mit ihren rigiden politischen Eingriffen das Wachstum der Bevölkerung zwischen 1818 und dem Krisenjahrzehnt 1846-1856 realiter einzudämmen vermochte; mit Gruners Preisschrift in den 1790er Jahren hat man in den Ausführungen zum Ancien Régime bereits eine bevölkerungspolitische Position kennengelernt, die diese Entwicklung andeutete. Gruner, Versuch. Für Österreich, insbesondere Tirol und Vorarlberg, hat sich Elisabeth Mantl eingehend mit der restriktiven Ehepolitik der Obrigkeit im 19. Jahrhundert und deren Folgen auseinandergesetzt; Mantl, Heirat. Vgl. für die süddeutschen Staaten im 19. Jahrhundert Matz, Pauperismus. Für die Schweiz im Allgemeinen vgl. Head-König, Marriages. 61 Hier wird die passive Satzkonstruktion gewählt, weil unverheiratete und daher bevor‐ mundete Frauen sich rechtlich nicht selbst in das Bürgerrecht des Mannes einkaufen konnten. 62 Gesetz über die Einzugsgelder für die Heirathen mit äußeren Weibspersonen (20. Dezember 1816), in: Neue Sammlung der Gesetze und Dekrete des Großen und kleinen Raths der Stadt und Republik Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde. 1818-1831, 226-230, 227. und zum Teil in noch stärkeren Ausprägungen in mitteleuropäischen Regionen und Ländern festgestellt werden. 59 Diese Entwicklungen waren das unmittelbare Resultat einer Politik, die das Bevölkerungswachstum in Anbetracht des Pau‐ perismus rigoros zu drosseln versuchte und dies in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch erfolgreich tat. 60 Der restriktive ehepolitische Umgang mit Armen lässt sich nicht nur an den präsentierten abstrakten Zahlen ablesen. Er dokumentiert sich auch in der Gesetzgebung und in den öffentlichen Debatten, die über die Bevölkerungs‐ politik geführt wurden. Mit der Wiedereinsetzung der alten Ehegerichtsord‐ nung wurden bereits die alten Zugrechte der Gemeinden und Korporationen gegen ihre besteuerten Mitglieder wieder eingeführt. Während Armut unter dem naturrechtlichen Eheverständnis führender Helvetiker kein prinzipielles Argument mehr gegen Eheverbindungen sein konnte, wurde sie nun offiziell wieder zum vollkommen anerkannten Hinderungsgrund. Am 20. Dezember 1816 wurden wieder die alten Einzugsgelder im gesamten Kantonsgebiet resti‐ tuiert, die vielen Paaren die Eheschließung finanziell erneut verunmöglichten oder zumindest erschwerten. Auswärtige Frauen mussten fortan wieder ins Bürgerrecht ihres Ehemanns eingekauft werden, was mit dem Gesetz der Helvetischen Republik vom 18. August 1798 weggefallen war. 61 Die Gebühren waren in den Augen der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt „vorzüglich dazu geeignet […], den Gemeinden für die Aeufnung ihrer durch die Zeitumstände und durch die Last der Armenverpflegung sehr geschwächten Armengüter eine neue ergiebige Hülfsquelle zu eröffen“. 62 Diese rückwärtsgewandten Maß‐ nahmen im Bereich des Ehegesetzes dokumentieren, wie zur Eindämmung 322 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 63 Ludi/ Matter/ Rietmann, Menschen, 194; Martin Fuhrmann schreibt für den deutschen Kontext: „Die paternalistisch-polizeistaatliche Tradition in der deutschen Staats- und Gesellschaftslehre bekam auch auf dem Sektor der Bevölkerung angesichts der Paupe‐ rismuskrise wieder Rückenwind. Fuhrmann, Volksvermehrung, 224. 64 StABE, B III 438, 252 ff. Der sogenannte ‚Geltstag‘ war das bernische Schuldbetrei‐ bungs- und Nachlassverfahren, aus dem die vergeltstagten Personen als Konkursiten hervorgehen konnten. Im Rahmen des Sinergia-Projekts ‚Doing House and Family‘ hat Eric Häusler eine Studie dazu durchgeführt, die sich der praktischen Umsetzung dieses Verfahrens widmet und damit verbunden nach sozialen Gründen für die lange Kontinuität dieser Institution sucht. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Sascha Muldoon, Hogarth’s ‚Gin Lane‘ and ‚Beer Street‘, in: International Journal of Surgery (London, England) 3 (2005), 159-162. 69 Christian Pfister, Eheschliessung und Ehescheidung, in: Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern, 1750-1995. Umwelt, Bevölkerung, Wirtschaft, Politik, hrsg. v. Chris‐ tian Pfister/ Hans-Rudolf Egli, Bern 1998, 50-51; Ute Tellmann arbeitet die Bedeutung dieser Verbindung für die Bevölkerungspolitik von Malthus exemplarisch heraus, wobei sie zum Schluss kommt, dass die implizite Differenz zwischen unzivilisiertem („savage life“) und zivilisiertem Leben („civilized life“) eine koloniale ist: „Scarcity does not simply denote a situation in which there are more needs than resources. Instead, scarcity appears in this discourse as a regulatory device to generate a sense of futurity over and against the immediacy of ‚savage life‘.“ Ute Tellmann, Catastrophic Populations and the Fear of the Future. Malthus and the Genealogy of Liberal Economy, in: Theory, Culture & Society 30 (2013), 135-155, 137. eines in seinen Ursachen neuartigen Phänomens an alten Deutungsmustern der Armut festgehalten wurde und deswegen alte Lösungsansätze als probate Mittel vorgestellt wurden. 63 Just im selben Jahr als eine große Hungersnot herrschte, berichtete das Berner Oberehegericht an den Rat über den „ehelose[n] Stand so vieler männlicher Bewohner“, beklagte die große Zahl arbeitsloser Stadt- und Kantonsfremder in der Hauptstadt, „die entweder in ihrer Heimath vergeldstaget, oder sonst um Ehre und Ansehen gekommen [waren]“ und deshalb auf der Suche nach einem Auskommen in die Stadt strömen würden. 64 In der Stadt würden sie dann in den „unteren und obern Stokwerken und Hintertheilen der Wohnungen“ leben. 65 „In solche Winkel flüchtet sich das Laster der Unzucht“, so das Urteil der Eherichter. 66 Zudem würden „Trinkanstalten“, die von zwielichtigen Frauen ge‐ führt würden, „Trinker“ anlocken. 67 Das von den Bernern entworfene Sittenbild erinnerte an die 1751 gedruckten Stiche Beer Street und Gin Lane des berühmten englischen Künstlers William Hogarth. 68 Das derart wahrgenommene Bevölke‐ rungswachstum wurde vor allem in der Verbindung von wachsender Sittenlo‐ sigkeit und Zunahme der besitzlosen Schichten interpretiert. 69 Bern litt unter 323 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik 70 StABE, B III 438, 252 ff. 71 Ebd., 566-579. einem moralischen Verfall, der „vor den Augen von ganz Europa zur Schande gereicht[e]“. 70 Dass die steigende Zahl illegitimer Geburten und die Zunahme des Anteils eheloser Menschen an der Gesamtbevölkerung - Phänomene, die von Zeitgenossen als Sittenlosigkeit interpretiert wurden - auch hausgemacht waren, erkennen retrospektiv nicht nur Sozialhistoriker*innen, sondern fiel auch den zeitgenössischen Eherichtern auf. In einem Lagebericht an den Rat hielten die Obereherichter Ende 1821 durchaus selbstkritisch fest: „Die Quellen des Sittenverderbnißes sind […] an mehr als einem Orte zu suchen. Sie liegen unter andern sowohl in dem Aufenthalte so vieler Fremden im Lande, als in dessen eigener starken Bevölkerung, woraus immer wachsende Schwierigkeit des Erwerbes in der Heimath, aus dieser eine wandernde Lebensart für beide Ge‐ schlechter und zunehmender Mangel an Unterkommen und Arbeit; dann wieder Luxus und freiwilliger Müßiggang, und mit allen diesen auffallende Verminderung der Ehen aus Wahl oder Noth, oder auch vermöge der immer wachsenden Strenge der Armengeseze, horvorgehen; vieler anderer Anläße zu regelloser Lebensweise hier zu geschweigen.“ 71 Tatsächlich wurden die Armengesetze im Nachgang der Helvetik, während der die Berner Staatskasse stark geblutet hatte, allgemein, aber auch spezifisch in Bezug auf die Eheschließungen am 22. Dezember 1807 entscheidend verschärft. Danach konnten Gemeinden und Gesellschaften nicht mehr nur jene ihrer Mitglieder durch das Zugrecht hindern, die für sich im volljährigen Alter Unter‐ stützungsleistungen bezogen hatten und diese nicht zurückbezahlen konnten. Auch wer in Armut aufgewachsen war und auf Kosten der Gemeinde- oder Gesellschaftskasse erzogen, ausgebildet und versorgt werden musste, weil die Eltern dazu nicht im Stande waren, konnte laut dem angepassten Armenregle‐ ment über die Minderjährigkeit hinaus an der Eheschließung gehindert werden, bis der entsprechende Betrag zurückbezahlt war. Außerdem galt mit dem neuen Armengesetz auch die Besteuerung von Kindern als Hinderungsgrund für deren Väter. „Ohne die Einwilligung der Gemeinde soll kein Besteuerter sich verehelichen dürfen, es sey dann, daß er ihr dasjenige erstattet habe, was er an Steuern genossen hat“, war der strikte Grundsatz des neuen Reglements, 324 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 72 Verordnung über die Besorgung der Armen vom 22. Christmonat 1807, in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 3, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 101-109, 104-105, § 12; dieser Widerspruch erzeugte in der Gerichtspraxis durchaus Spannungen zwischen einem die Ehen för‐ dernden und einem sie restringierenden Lager. Vgl. StABE, B III 831, 638-641. 73 Auf die Zunahme moralischer Argumente im Armutsdiskurs des 19. Jahrhunderts hat Gerrendina Gerber-Visser in ihrer Studie zu den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern hingewiesen: Gerrendina Gerber-Visser, Die Ressourcen des Landes. Der ökonomisch-patriotische Blick in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1759-1855), Baden 2012, 277- 278; was Olivia Hochstrasser für die geschlechterspezifische Zuspitzung der morali‐ sierenden aufklärerischen Sozialpolitik, die ihre „Maßnahmen immer außchließlicher auf die Frauen der Unterschichten konzentrierte“, für Karlsruhe im ausgehenden 18. Jahrhundert beobachtet hat, akzentuierte sich für Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar. Olivia Hochstrasser, Armut und Liederlichkeit. Aufklärerische Sozialpolitik als Disziplinierung des weiblichen Geschlechts - das Beispiel Karlsruhe, in: Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Ulrike Weckel/ Claudia Opitz/ Brigitte Tolkemitt/ Olivia Hochstrasser, Göttingen 1998, 323-343, 323. 74 Hochstrasser, Armut, 343. 75 StABE, B III 438, 252 ff. 76 Ebd. 77 Jeremias Gotthelf, Die Armennot (1825), in: Sämtliche Werke, Bd. 15, hrsg. v. Rudolf Hunziker/ Hans Bloesch/ Kurt Guggisberg/ Kurt Junker, 24 Bde., Erlenbach, Zürich 1911- 1977, 83-286, 115. das damit im Widerspruch zur Ehegesetzgebung stand und vermutlich auch deswegen von den Eherichtern kritisiert wurde. 72 In den Zeugnissen des Oberehegerichts und den Instruktionen des Rats fällt ferner auf, dass es im sozio-ökonomischen Rahmen wachsender Armut bezüglich der sittlichen Zustände zu einer zunehmenden Moralisierung des Phä‐ nomens und damit einhergehend zur Akzentuierung der Schuldzuweisung an weibliche Unterschichten kam. 73 „Untugend und Liederlichkeit“ wurden „immer eindeutiger als weiblich konnotiert“. 74 Es war von einer zunehmenden „Schaar berufloser Weibsbilder“ in Bern die Rede, die in grenzenloser Ausschweifung lebten und Männer verführten. 75 Unter den Assessoren des Oberehegerichts wurde von der „Unverschämtheit der niedrigen weiblichen Klasse“ gesprochen. Diese würden bei der gerichtlichen Klärung der Vaterschaft „keine Scheu, kein erröthen mehr“ zeigen und die Konsistorialgesetzgebung aufgrund der milden Strafen kaum mehr achten. 76 Auch der bereits zu Lebzeiten berühmte Berner Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf nahm dieses stereotype Frauenbild in seine 1840 erschienene Darstellung der Armennot auf. „[G]anz besonders sieht man die Weiber sich entfremden allem Heiligen […].“ 77 Dabei glichen 325 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik 78 Malthus schrieb: „Wenn ein allgemeiner Sittenverfall bei den Frauen aller Klassen der Gesellschaft durchdringt, so werden dessen notwendige Folgen sein, dass die Quellen des häuslichen Glückes vergiftet, die eheliche und elterliche Liebe geschwächt, und die vereinten Anstrengungen und der Eifer der Eltern in der Pflege und Erziehung ihrer Kinder vermindert werden, - Folgen, die nicht um sich greifen können ohne eine ent‐ schiedene Abnahme der allgemeinen Wohlfahrt und der Tugend der Gesellschaft, zumal da die Notwendigkeit allerhand Liebeshändel kunstvoll einzuleiten und durchzuführen und ihre Folgen zu verheimlichen, unbedingt zu vielen andern Lastern führt.“ Malthus, Bevölkerungsgesetz, 24-25. 79 Gotthelf, Armennot, 113. 80 Ebd., 113-114. 81 Ebd., 114. 82 Ebd. 83 Ebd., 115. Gotthelfs Ansichten jenen von Malthus stark. 78 Nachzuweisen, inwiefern Gott‐ helf tatsächlich von der malthusianischen Theorie beeinflusst war, ist nicht der Anspruch der vorliegenden Arbeit. Aber es lässt sich damit illustrieren, dass der bevölkerungspolitische Diskurs in Bern Teil einer europäischen Erscheinung war. Weiter behauptete Gotthelf, vor allem „Mädchen […], die zu Huren wurden freiwillig, um Mutter zu werden“, würden sich „am häufigsten, am frühesten“ beim Pfarrer für die Eheerlaubnis und Einsegnung melden. 79 „So stürchelten sie durchs Leben in die Ehe hinein ohne heiligen Sinn, ohne verstän‐ digen Sinn, ohne Geld und sehr oft ohne Kleider, mit Schulden und Untugenden ärger beladen als Kamele in der Wüste mit kostbaren Kaufmannswaren.“ 80 Die armen Frauen waren bei ihm auch zum verantwortlichen Ausgangspunkt des gesamtgesellschaftlichen Sittenzerfalls geworden, den er vor allem in den Armenehen gespiegelt sah: Sie würden junge Männer, „oft kaum den Kinder‐ schuhen, der Rute entwachsen“, mit Alkohol verführen. 81 Die Burschen würden „sehr oft halb und ganz betrunken, sehr oft aus der Mädchen Geld“ vor dem Pfarrer erscheinen, „weil sie die Ehe nicht angegeben hätten in nüchternem Zustande“. 82 Die daraus resultierenden ehelichen Verbindungen nannte er „Ehe‐ kloaken“. Sie begriff er als „den Kessel, in welchem die Armut gebraut wird, aus dem heraus in immer größern Strömen Menschen fluten, verkümmert an Leib und Seele, Gott ein Ärgernis, den Menschen eine Last“. 83 „Hier liegt das Ansteckende, Krebsartige dieses furchtbaren Zeitübels. Die sich absamende Armut, wo aus zwei Armen halbe oder ganze Dutzend entstehen, schwellt das Übel so an, dass es fast in geometrischen Proportionen zu wachsen scheint, dass in zwanzig Jahren, wenn alle die gegenwärtigen armen Kinder in die Fußstapfen ihrer 326 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 84 Ebd., 116; zur Krankheitsmetapher in Bezug auf die Armut Ludi/ Matter/ Rietmann, Menschen, 194. 85 Gerber-Visser, Ressourcen, 254. 86 Ludi/ Matter/ Rietmann, Menschen, 194-195; Sutter, Act, 199-200. 87 Ludi/ Matter/ Rietmann, Menschen, 193; Ludi, Frauenarmut; vgl. zur Geschlechtsspezifi‐ zität der Armut und der Verbindung von weiblicher Armut mit sexuellen Ausschwei‐ fungen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert außerdem Claudia Opitz, „Ueber Armuth, Betteley und Wohltätigkeit“. Armut und Armutsbekämpfung im Zeitalter von Aufklärung, Helvetik und Restauration, in: Armut und Fürsorge in Basel. Armutspolitik vom 13. Jahrhundert bis heute, hrsg. v. Josef Mooser/ Simon Wenger, Basel 2011, 73-100, 94. 88 StABE, B III 438, 518-523. Eltern werden getreten sein, ganze halbe Länder von der Armut werden aufgezehrt sein wie Korn und Gras von den Käfern […].“ 84 Während im Ancien Régime noch zwischen ‚würdiger‘, also nicht selbstver‐ schuldeter, und ‚unwürdiger‘ Armut unterschieden worden war, 85 entwickelte sich die Armut im Diskurs des 19. Jahrhunderts zu einer Krankheit, die gewis‐ sermaßen ansteckend, respektive erblich bedingt war. In dieser Vorstellung pflanzte sich Armut fort und machte durch diese Pathologisierung alle Armen gleichermaßen moralisch verdächtig. Gepaart mit der Vorstellung, dass die Ehe nach wie vor der einzig legitime Ort der Sexualität sei, mussten sogenannte ‚Bettelehen‘ aus der Sicht der Obrigkeit mit aller Vehemenz bekämpft werden. 86 Infolge der zunehmenden Schuldzuschreibung an die Frauen, die dadurch zu den Hauptverantwortlichen für die Bettelehen und die steigende Illegitimi‐ tätsrate in Bern gemacht wurden, kam es zu einem grundsätzlichen Wechsel in der Paternitätsgesetzgebung von Bern. Das neue Vaterschaftsgesetz ver‐ schlechterte die ohnehin prekäre Position der Frauen zusätzlich und machte sie für die weitere Verarmung besonders anfällig. 87 Unter dem Ancien Régime waren Vaterschaftsklagen in den allermeisten Fällen in Verbindung mit einem weiblichen Eheanspruch verhandelt worden. Dabei hatten die Chancen auf die Eheschließung bei der Erhärtung der Vaterschaft relativ gut gestanden. Dagegen ging es vor dem Oberehegericht seit der Einführung des neuen Paternitätsgesetzes im April 1820 ausschließlich um die Klärung der Vaterschaft. Während vorher die Kinder im Fall der bewiesenen Vaterschaft nach der Stillzeit der väterlichen Obhut übergeben wurden (Paternitätsprinzip), beziehungsweise der Vater die Versorgung und Erziehung der unehelichen Kinder übernehmen musste, hatte die Mutter neuerdings lediglich noch Anspruch auf Alimente. Doch die Betreuung, Erziehung und Versorgung der Kinder musste nun die Frau übernehmen. Die Höhe der Alimente variierte je nachdem, ob die außereheliche Sexualität mit einem verheirateten oder ledigen Mann stattgefunden hatte. 88 Die 327 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik 89 Ludi, Frauenarmut. 90 StABE, A II 4474. Bittschriften des Landes (1830), No. 28; 29; 31; 34; 36; 37; 40; 44; 49. 91 StABE, B III 438, 566-579. 92 Ebd., 578. Verdienstmöglichkeiten der Frauen, die in der Regel wesentlich eingeschränkter waren als jene der Männer, schwanden durch die aufwändige Verantwortung für das Kind zusätzlich. 89 In der Tendenz war dieses patriarchale Gesetz also zum Vorteil der (verheirateten) Männer und der besitzenden Bewohner der Hauptstadt, wo viele Frauen vom Land als Dienstbotinnen in städtischen Haushaltungen fernab vom Schutz ihres sozialen Umfelds lebten, sofern sie überhaupt eines hatten. Wurden diese Frauen schwanger, schickte sie die Obrigkeit zurück in ihre Heimatgemeinden, wo sie diesen zur Last fielen. Auf diese Weise wurden die Kassen des städtischen Patriziats geschont. So kam es gerade im Rahmen der liberalen Verfassungsbewegung von 1830/ 31 in Bern zu massiver Kritik von ländlichen Gemeinden an diesem Gesetz, das die Landschaft gegenüber der Stadt einmal mehr benachteiligte. Sie forderten in ihren Petitionen die Aufhebung des Maternitätsgrundsatzes, weil ihnen durch dieses Rechtsprinzip noch mehr uneheliche Kinder zur Versorgung anheimfielen als zuvor. 90 Vom Oberehegericht wurde der „moralische Einfluss des Gesezes“ in einer Einschätzung an die Gesetzgeber bereits 1821 als „nur eine halbe Maaßnahme“ kritisiert, weil sich nach einem Jahr keine Reduktion der Illegitimität feststellen ließ. 91 Solange die Verlobung ein Zwangsrecht begründe, würden Frauen versuchen, durch Schwangerschaften die Eheschließungen zu erzwingen. Erst der „Grundsaz von der Unwirksamkeit der Eheversprechen“ konnte in den Augen der Eherichter die Unehelichenrate verringern. 92 Die Haltung des Berner Rats und des von ihm besetzten Oberehegerichts - das, wie gezeigt, wiederholt in moralisierendem Duktus beredtes Zeugnis über den sittlichen Zustand der Bevölkerung ablegte und in spezifischer Weise in Zusammenhang mit wachsender Armut brachte - fügte sich widerspruchsfrei in die allgemeinen zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Debatten. Diese wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Bern wesentlich weniger kontrovers geführt als noch im Ancien Régime, als Vertreter eines tendenziell merkan‐ tilistisch gefärbten Populationismus mit Verfechtern physiokratisch akzentu‐ ierter Ideen von begrenzten landwirtschaftlichen Ressourcen über die richtige Ehepolitik debattierten und der Ausgang der Debatte nahezu unentschieden blieb. Während vor 1800 „[d]ie Staatsräson und der Glaube an die rationale Per‐ fektibilität der menschlichen Gesellschaft“ bevölkerungspolitische Positionen hervorbrachte, die das Bevölkerungswachstum propagierten, überwog nun das moralische Misstrauen gegenüber den besitzlosen und armen Schichten in 328 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 93 Matz, Pauperismus, 30. 94 Gerber-Visser, Ressourcen, 244. 95 Gruner, Arbeiter, 41. 96 Gerrendina Gerber-Visser definiert die sogenannten ‚Topographischen Beschrei‐ bungen‘ als ökonomische Landesbeschreibungen mit einem Schwerpunkt auf der Landwirtschaft. Die Gelehrtengesellschaft wollte sich damit ein Bild vom Zustand der Berner Landwirtschaft machen. Die Beschreibungen wurden seit der Gründung bis weit in das 19. Jahrhundert angefertigt. Gerber-Visser, Ressourcen, 13. 97 Sutter, Act, 199. 98 Gruner, Arbeiter, 41. 99 Lukas Künzler, Die Armennoth. Eine sozialpolitische Streitschrift, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 76 (2014), 95-105, hier 97. 100 Vgl. Register der Veröffentlichungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1810-1893, hrsg. v. der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), Zürich 1894. 101 Beatrice Schumacher, Art. Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 2011. https: / / hls -dhs-dss.ch/ de/ articles/ 016451/ 2011-10-27/ (26.08.2021). 102 Sutter, Act, 199. der Gesellschaft. 93 Die bevölkerungspolitischen Diskussionen wurden eindeutig vom Pauperismus dominiert. 94 Auf kantonaler Ebene wurde die Armutsdiskus‐ sion durch Preisfragen der Regierung angeregt, die sich darum drehten, wie den wachsenden Problemen im Armenwesen beizukommen sei. 95 Außerdem wurde die Thematik in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft von Bern verhandelt, deren Bedeutung im 19. Jahrhundert jedoch abnahm. 96 Daneben verlagerte sich die öffentliche Diskussion rund um die ‚richtige‘ Bevölkerungspolitik in zunehmendem Maße auf die gesamteidgenös‐ sische Ebene in der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.  97 Auch daran beteiligten sich namhafte Berner. 98 An ihren Versammlungen nahm auch der oben erwähnte Gotthelf teil. 99 Die Gesellschaft wurde 1810 gegründet. Ihre Mitglieder, die aus der zeitgenössischen bürgerlichen Elite bestanden, sahen die Sozietät damals in der Tradition der Helvetischen Gesellschaft und verfolgten aufklärerisch-patriotische Ziele. Die Armutsbekämpfung genoss unter ihren liberalen Mitgliedern neben Bildungsfragen höchste Priorität und blieb mindes‐ tens bis 1860 virulent. 100 Dabei bewiesen ihre Protagonisten, dass sie zwischen Liberalismus und restriktiver Ehepolitik keinen unüberwindbaren Widerspruch entdeckten. 101 Vielmehr erachteten viele einflussreiche Mitglieder in Anbetracht der prekären zeitgenössischen Verhältnisse in dieser Politik eine quasi zivilisa‐ torische Antwort auf die sogenannte ‚soziale Frage‘, wenn sie höhere Ehehürden als probates Instrument zur Bekämpfung der Armut propagierten. 102 329 1.3 Der Versuch der Armutsbekämpfung durch Ehepolitik 103 Junker, Helvetik, 268; Sibylle Hofer, Zivilrecht und Zivilprozessrecht, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 100-102. 104 Junker, Helvetik, 268. 105 Es wurde bereits andernorts darauf verwiesen, dass die häufig geteilte These, die Zivil‐ gesetzgebung sei der Anfang des Untergangs des Patriziats gewesen, aus juristischer Perspektive nicht haltbar ist. Hofer, Zivilrecht, 101. 1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? Zivilgesetzbuch (1824/ 26) und Verfassungsrevision (1830/ 31) Die aufgezeigten Entwicklungen im bevölkerungspolitischen Diskurs, die auf der einen Seite weltanschauliche Toleranz und auf der anderen Seite eine restrik‐ tive ehepolitische Einstellung gegenüber den Armen mit sich brachten, liefen teilweise parallel zu formalen rechtlichen Neuerungen. Aus der Verbindung von Bern mit dem Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Basel, das vor dem Wiener Kongress zu Frankreich gehörte und daher bereits unter napoleonischem Zivil‐ gesetz gestanden hatte, entstand das Bedürfnis, die erneuerte Gerichtssatzung von 1761 und damit einhergehend die Ehegerichtssatzung zu überdenken. Bevor sie im neuen Kantonsteil eingeführt werden sollte, wollte sie die Regierung revidieren. Dazu setzte der Große Rat 1817 eine Gesetzgebungskommission ein mit dem anfänglichen Auftrag, die alten Gesetze zu ergänzen. Das Resultat am Ende des Revisionsprozesses war das Civilgesetzbuch für den Kanton Bern. Es umfasste zwei Teile, wobei hier der erste Teil von Interesse ist. Dieser beinhaltete das Eherecht. Verabschiedet wurde dieser Teil von den Räten 1824. Er trat zwei Jahre später in Kraft. 103 Der Berner Historiker Beat Junker, Autor einer zweibändigen Geschichte des Kantons in der Zeit zwischen Helvetik und Bundesstaatsgründung, weist diesem Ereignis eine fundamentale Bedeutung in der Geschichte des Berner Patriziats bei. Er nennt es den „Spatenstich zum Grabe [von dessen] politische[r] Herrschaft“, weil die Patrizier damit den Anstoß dazu gaben, Statuarrechte von Städten und Landschaften aufzuheben, indem sie durch das neue Gesetz vereinheitlich werden sollten. 104 Folglich stellt sich in dieser Untersuchung die Frage, wie erschütternd das Civilgesetzbuch für den Kanton Bern im Bereich der Eheschließung für die im ständisch-patriarchalen System Mächtigen war. 105 Welche Veränderungen brachte dieses Gesetzbuch in Bezug auf die Prekarisierung von Eheschließungen im Verhältnis zur nach der Helvetik wieder eingesetzten und punktuell angepassten ständisch-patriar‐ chalen Ehegerichtsordnung? Die grundlegendste Veränderung im Bereich der Ehegesetzgebung betraf das Verhältnis zwischen Verlobung und Einsegnung. Bereits das oben erwähnte 1821 neu eingeführte Paternitätsgesetz hatte dazu geführt, dass Verlobungen 330 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 106 Civil-Gesetz für die Stadt und Republik Bern, 1. Theil. Personen-Recht. Mit Anmer‐ kungen von Dr. Samuel Ludwig Schnell, Bern 1825, 60. 107 Hofer, Zivilrecht, 101. 108 Personen-Recht, 48. Satzung, 62-64. 109 Ebd., 60; diese gesetzliche Bedeutungsverschiebung im Bereich der Eheschließung, weg von der Verlobung hin zu der Trauung stellte ganz und gar keine Berner Eigenheit dar. Sie war eine allgemeine Tendenz in den reformierten Gebieten der Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert. Vgl. Siffert, Verlobung, 69. Gleichzeitig kann diese Tendenz als eine Fortsetzung der Entwicklung aus der Frühen Neuzeit interpretiert werden, für die van Dülmen bereits eine Gewichtsverlagerung von der Verlobung hin zu der kirchlichen Trauung behauptet hat, vgl. van Dülmen, Gesellschaft, 235. 110 Personen-Recht, 60. 111 Ebd., 61-62. 112 Ebd., 61. von schwangeren Frauen nur noch unabhängig von der Vaterschaftsfrage eingefordert werden konnten. Das erhöhte den Aufwand für Frauen und machte das Verfahren umständlicher. Mit dem Zivilgesetzbuch stellte das Eheverlöbnis überhaupt kein „Zwangsrecht“ mehr dar. 106 Laut Gesetz hatten Verlobungen den Status vertraglich bindender Übereinkunft verloren. Ihre Erfüllung konnte folglich nicht mehr gerichtlich erzwungen werden. 107 Wenn sie vor einem Notar geschlossen wurden, konnten höchstens Entschädigungen erwirkt werden. 108 Dadurch gewann die Trauung deutlich an Relevanz, während die Verlobung zu einer Sache „der Sittlichkeit und der Ehre“ herabgesetzt wurde. 109 Dem Gesetzeskommentar zu der entsprechenden Satzung zufolge wurde damit in der Logik des Gesetzes auf die „nachtheiligen Folgen“ reagiert, die entstanden, wenn „eine Weibsperson einem Manne, der ihr auf den Fall einer Schwangerschaft die Ehe versprochen, die ehelichen Rechte vorläufig gestattet[e]“. 110 Wie mit dem Paternitätsgesetz wurde auch hier primär auf das vermeintliche Fehlverhalten der Frauen reagiert. Denn sie gewährten den Männern den Geschlechtsverkehr angeblich im Gegenzug für Verlobungen: „Sobald es einmal gesetzlich ausgesprochen ist, daß ein einfaches Eheverlöbniß keine rechtliche Verbindlichkeit begründe, wird keine Weibsperson mehr durch das Gesetz verleitet dem Verlöbnisse dadurch größere Kraft zu geben, daß sie ihrem Verlobten einen dermal noch unerlaubten Umgang gestattet.“ 111 Das Gesetz musste in seiner internen Logik die Männer vor „Uebereilung und Betrug schützen“, weil sie „durch die Eingehung einer Ehe über ihre wichtigsten sittlichen und ökonomischen Interessen verfügt[en]“. 112 Diese Veränderung betraf nicht den Kern prekärer Eheschließungen, wo zwei Menschen, die sich konsensual die Ehe versprachen, an der Trauung gehindert wurden. Sie deutete aber an, dass voreheliche Schwangerschaften auch in diesem Fall möglicher‐ 331 1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? 113 Ebd., 29. Satzung, 46. 114 Ebd., 36. Satzung, 51-53. 115 In der Einleitung wird auf den naturrechlichten Charakter der Ehe hingewiesen, wäh‐ rend in der 36. Satzung das alte Zugrecht der Gemeinden gegen besteuerte Mitglieder bestätigt wurde; ebd., Einleitung zum Ehegesetz, 44; 36. Satzung, 51; vgl. zum Ausschluss von der legalen Sexualität Pfister, Strom, 158-159. Am Gesetzestext zeigt sich, wie die Berner Gesetzgeber versuchten in ihrer Regierungstätigkeit einer Natur zu folgen, die laut Foucault „der Gouvernementalität, ihren Gegenständen und Handlungen eignet“, wobei „die Regierungspraxis nur dann das tun können wird, was sie zu tun hat, wenn sie diese Natur berücksichtigt“. Um erfolgreich regieren zu können, musste die Berner Regierung in dieser Auffassung „jene Natürlichkeit“ der Ehe Genüge leisten, Foucault, Biopolitik, 34. 116 Personen-Recht, 165. Satzung, 149-150. 117 Ebd., 31. Satzung, 48. 118 Ebd., 51. Satzung, 65. weise vor Gericht nicht mehr dasselbe Druckmittel zur Durchsetzung prekärer Eheschließungen gegenüber Eltern und Gemeinden darstellten wie bis anhin. Alles, was zuvor die einvernehmlichen Eheschließungen prekarisieren konnte, blieb auch im Zivilgesetz mehr oder weniger unverändert bestehen oder wurde verschärft: Das Ehemündigkeitsalter wurde für beide Geschlechter um zwei Jahre erhöht: Frauen mussten 16, Männer 18 Jahre alt sein, um eine gültige Ehe eingehen zu können. 113 Allerdings bedurften sie bis zur Volljährigkeit der Zustimmung der Vormundschaft. Im Fall von unehelich Geborenen und Besteu‐ erten mussten die betroffenen Gemeinden oder Korporationen nach wie vor ihr Einverständnis erklären. Somit stand diesen gegenüber Minderjährigen, Bevor‐ mundeten und Besteuerten de facto das Zugrecht zu, auch wenn es im Gesetz nicht mehr so bezeichnet wurde. 114 Obwohl die Ehe im Zivilgesetzbuch „nicht durch das bürgerliche Gesetz, sondern durch die weit höhere Gesetzgebung der Natur eingeführt [war]“, stellte sie nach wie vor ein Privileg besitzender Klassen dar. 115 Menschen in Ermangelung ausreichenden Vermögens konnten davon abgehalten und von der legitimen Sexualität ausgeschlossen werden. Die Volljährigkeit war nach dem Zivilgesetzbuch mit Vollendung des 23. Lebens‐ jahres erreicht. Dies entsprach der Bestimmung der Ehegerichtssatzung von 1787. 116 Die körperlichen und geistigen Hinderungsgründe blieben bestehen. 117 Die Eheschließungen mussten nach wie vor im öffentlichen Gottesdienst an drei Sonntagen im Heimat- und im Wohnort der Brautleute vom jeweiligen Pfarrer verkündet werden. Die Verkündigungen hatten den expliziten Zweck „Ehehindernisse […] in Erfahrung zu bringen“. 118 Als solche galten: eine bereits bestehende andere Ehe, vorgängig begangener Ehebruch durch das heiratswil‐ lige Paar, sowie die verschiedenen Verwandtschaftsgrade, die bereits zuvor verboten waren. Ehen zwischen Geschwisterkindern waren ebenso wie konfes‐ 332 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 119 Ebd., 62. Satzung, 70. 120 Ebd., 41.-46. Satzung, 55-59. 121 Ebd., 55. Satzung, 67. 122 Zu den Aufgaben und Pflichten des Pfarrers: ebd., 52.-63. Satzung, 66-70. 123 Hafner, Mischehe, 24. 124 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Kontinuitäten und Wandel, der dazu führt, dass durch oberflächliche Anpassungen Machtverhältnisse strukturell beständig bleiben, Burghartz, Wandel. 125 Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden der ersten Instanz (3. Dezember 1831), in: Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 40 Bde., Burgdorf, Bern 1833-1940, 151-162. 126 So kommt der Schweizer Rechtshistoriker René Pahud de Mortanges bezüglich der Berner Zivilgesetzgebung im Allgemeinen zu folgendem Fazit: „Neben den naturrecht‐ lichen, liberalen Elementen enthielt es [das Gesetz] u. a. noch Eheverbote und diskrim‐ nierende Bestimmungen für Uneheliche […].“ Damit blieb sie nach wie vor hinter den „Errungenschaften der Helvetik“ zurück. René Pahud de Mortanges, Schweizerische Rechtsgeschichte. Ein Grundriss, 2. Aufl., Zürich 2017, 244. sionsübergreifende Verbindungen weiterhin zulässig. 119 Witwen sollten sich nicht vor Auslauf des Trauerjahrs wiederverheiraten. Geschiedene hatten wie zuvor eine Wartezeit von einem Jahr einzuhalten. Grund dafür waren mögliche vom Mann herrührende Schwangerschaften. 120 Auch die juristischen Zustän‐ digkeiten bei Eheeinsprüchen, die dem Pfarrer angezeigt werden sollten, blieben beim Oberehegericht, das nach wie vor durch die beiden Münsterpfarrer mit zwei kirchlichen Vertretern besetzt war. 121 Außerdem repräsentierten die Pfarrer nach wie vor eine Art Standesbeamte im Dienste der Regierung. Sie mussten die Trauungen öffentlich in der Kirche vollziehen und die Zivilstandsregister führen. 122 Die vollständige Säkularisierung der Eheschließung war also mit dem Zivilgesetzbuch noch nicht abgeschlossen. 123 Alles in allem stellte es im Bereich des Eherechts keine effektiven Neuerungen dar, sondern festigte den status quo. Indem die Ehegesetzgebung ambivalent zwischen Naturrecht und besitzständi‐ schem Privileg in die allgemeine Zivilgesetzgebung eingepflegt wurde, vollzog die Berner Regierung, was man die Rekonstruktion der Machtverhältnisse unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen nennen könnte. 124 Am ambivalenten Charakter der Ehegesetzgebung veränderte sich auch mit der Verfassungsre‐ vision im Vorfeld der Regenerationszeit nichts. Die Überarbeitung führte zu einer ziemlich grundlegenden Umwandlung der Gerichtsorganisation. 125 Die Zivilgesetzgebung wandelte sich aber im Hinblick auf die hier analysierten pre‐ kären Eheschließungen bis ans Ende des Untersuchungszeitraums nicht mehr grundlegend. 126 Erst die revidierte Bundesverfassung und das entsprechende einheitliche Eherecht von 1874, gegen das das Referendum ergriffen und 1875 vom Stimmvolk angenommen wurde, führte die Ehe in ein persönliches Frei‐ 333 1.4 Neue Gesetze ohne Folgen? 127 Siffert, Verlobung, 138; Birgit Stalder, Kindheit, Ehe und Familie, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 154-160, 156-157; Pius Hafner weist darauf hin, dass die Mehrheit der Kantone erst mit der revidierten Verfassung zur zivilen Trauung schritt. Hafner, Mischehe, 20. heitsrecht über und verunmöglichte dadurch die besitzständischen Hinderungs‐ gründe in Bern. Zudem konnten die Eltern ihr Veto gegen eine ihnen unliebsame Eheverbindung nur noch bis zum 20. Lebensjahr ihrer Kinder geltend machen. Auch die Beurkundung des Zivilstands erfolgte in Bern erst jetzt durch die bürgerlichen Behörden und machte die zivile Trauung vor der kirchlichen notwendig. 127 Deswegen kann der nachhelvetische Zeitraum in Bern in Bezug auf seine ehegesetzlichen Normen und bevölkerungspolitischen Debatten bis zur Bundesstaatsgründung zweifellos als Einheit untersucht werden. Diesen Befund bezüglich des normativen Rahmens gilt es mit Blick auf die Taktiken der Ehewilligen und Opponierenden sowie die praktischen Strategien der Richter im Folgenden zu prüfen. 334 1 Normen und Debatten: Status quo ante? 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht und dem Amtsgericht, 1803-1848 Es konnte festgestellt werden, dass die Ehegesetzgebung und der bevölkerungs‐ politische Diskurs nach der Helvetik maßgeblich von drei Faktoren geprägt waren: Erstens bestand die Antwort des Patriziats auf den Schock der Helvetik in einer Restitution des ehegesetzlichen Zustands des Ancien Régimes. Diese Reaktion führte weg von einer aufklärerisch-grundrechtlichen Eheauffassung hin zu einem besitzständischen Privilegienverständnis. Zweitens blieb trotzdem ein gewisser Grad an religiös-konfessioneller Toleranz bestehen, die Cousinen‐ heiraten und konfessionsübergreifende Ehen in zunehmendem Maße möglich machte. Drittens war der bevölkerungs- und damit der ehepolitische Diskurs maßgeblich vom Phänomen des Pauperismus geprägt. Dieser Diskurs machte zunehmend die Frauen für den wahrgenommenen Sittenzerfall verantwortlich. Im Folgenden soll für den nachhelvetischen Zeitraum untersucht werden, wer die eigensinnigen AkteurInnen und ihre Kontrahenten vor Gericht waren. Zudem soll geklärt werden, in welcher Weise sich ihre Taktiken in Anbe‐ tracht der sich ausdifferenzierenden und professionalisierenden Verwaltung im Kanton Bern entwickelten. 2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell Für die nachhelvetische Zeit zeigt sich in Bezug auf die soziale Verteilung der prekarisierten Eheschließungen in vielerlei Hinsicht ein ähnlich vielfältiges Bild wie für das Ancien Régime und die Helvetik: Zum einen liefern die Quellen auch jetzt keine durchgängigen Informationen zu Rechtstiteln, Berufen und an‐ deren Parametern, die eine umfassende soziale Klassifikation aller Ehewilligen zulassen würden. Zum anderen erlauben die vorhandenen Angaben dennoch die Aussage, dass die Eheschließung nach wie vor aus allen Schichten und Ständen begehrt wurde, aber im Gegenzug auch prekarisiert werden konnte. Auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhieß sie für Frauen und Männer aller sozialen Stratifikate und aus allen Regionen eine grundlegende Verbesserung der Lebensumstände. Trotz der Lücken in der Überlieferung zu den Profilen der Eheleute ist zudem zu vermerken, dass ab 1803 aus den Quellen einige zusätzliche Angaben zu den AkteurInnen zu erfahren sind. 335 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 128 StABE, Bez Bern B 2755, 174-180. 129 StABE, B III 831, 361-363. 130 Ebd., 246-248. 131 Ebd., 539-542. 132 StABE, B III 835, 82-86. 133 StABE, B III 833, 481-484. Sie sind zum Teil auch in ihrer Qualität neu und zeichnen die Konturen der sozialen Profile der Ehewilligen schärfer als zur Zeit der reformabsolutistischen Herrschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert. Neue Akzente zeigen an, auf welche sozial klassifizierenden Parameter die Richter unter den veränderten gesellschaftspolitischen Verhältnissen nach der Helvetik achteten. Während aus dem vom Gericht produzierten Quellenmaterial für das Ancien Régime lediglich in elf von 61 Fällen (ca. 18 %) die genaue Berufsbezeichnung des involvierten Mannes in Erfahrung gebracht werden konnte, erhält man aus den Rekurs- und Konsistorialmanualen doppelt so viele entsprechende Angaben (23) auf 73 Fälle (ca. 32 %). Daraus gehen allerdings bezüglich des Berufsstandes der ehewilligen Männer keine neuen Erkenntnisse hervor. Die Angaben weisen in dieselbe Richtung: Mehr als die Hälfte der beruflich identifizierten Männer gingen Handwerksberufen nach (13), wenn auch solchen mit sehr unterschied‐ lichem gesellschaftlichem Ansehen. Der ehemalige Bäcker mit Burgerrechten in Bern 128 begehrte die Eheschließung ebenso wie der im Armenhaus wohn‐ hafte, verdingte Schleifer aus Burgdorf 129 oder der verwitwete Dachdecker aus Eggiwil. 130 Zudem war in den Quellen von drei agrarwirtschaftlich tätigen Männern die Rede, einer davon ein Lehensbauer. 131 Der zweite pachtete sein Grundstück. 132 Der dritte wurde lediglich als Landwirt bezeichnet. 133 Die unter‐ schiedlichen Bezeichnungen der Landwirte weisen auf eine soziale Streuung innerhalb desselben Berufsfeldes hin. Erneut waren die expliziten Angaben zu agrarischen Berufen massiv unterrepräsentiert, wenn man bedenkt, dass in Bern der Übergang von einer Agrarzu einer Industriegesellschaft zu diesem Zeitpunkt keinesfalls abgeschlossen war und immer noch der größte Teil der Bevölkerung von der Arbeit im landwirtschaftlichen Sektor lebte. Da aber wiederum eine deutliche Mehrheit der Ehewilligen eine ländliche Herkunft aufwies, im Rekurs- und im Konsistorialmanual vom Schreiber je‐ doch keine Berufsbezeichnungen aufgeführt wurden, kann darauf geschlossen werden, dass ein beträchtlicher Teil dieser Menschen ihr Auskommen in Ab‐ hängigkeit von der regionalen Landwirtschaft verdienen musste. Besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten diese jedoch oft in instabilen Arbeits- und Wohnverhältnissen. Sie versuchten sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft zu verdingen oder mussten zwischenzeitlich gewerblichen und 336 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 134 Regula Ludi weist darauf hin, dass besonders Frauen von fluktuierenden Arbeitsverhält‐ nissen, wirtschaftlichem Zwang zu räumlicher Mobilität und hohen Entlassungsrisiken betroffen waren. In abgeschwächter Form traf das in diesen wirtschaftlichen Umbruchs‐ zeiten aber auch auf die Männer zu. Ludi, Frauenarmut, 24; die Folgen des Zwangs zur beruflichen Flexibilität beschreibt für Bern Anne-Marie Dubler. Sie kommt zum Schluss, dass für viele Menschen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ein „nomadisierendes Leben zeitweise oder dauernd Realität“ war. Anne-Marie Dubler, Landstreicherei und Heimatlosigkeit. Die Last der nicht sesshaften Armut, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 179-183, 179; Walter Frey zeigt das berufliche Spektrum auf, in dem sich die bäuerlichen Unterschichten bewegten: Walter Frey, Bernische Landgemeinden im 18. Jahrhundert, oder: von Bauern und Taunern, in: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. André Holenstein, Bern 2008, 174-179, 179. 135 Ludi, Frauenarmut, 20. 136 StABE, B III 831, 239-243; Joachim Eibach, der aus kriminalitätsgeschichtlicher Per‐ spektive auf die Frühe Neuzeit blickt, hat das 18. Jahrhundert als „Jahrhundert der Kriminalität“ ausgewiesen. Die massive Zunahme der Bevölkerung hatte zu einer wachsenden Zahl „entwurzelter mobiler Unterschichten“ und einer Krise des kom‐ munal-paternalistischen Ordnungssystems geführt. Die Effekte der „Überbelastung der traditionalen Ökonomie in Stadt und Land“, die der Berner Historiker aufgrund des zeitlichen Fokus für das 18. Jahrhundert festgehalten hat, sind in Bern auch für das 19. Jahrhundert zu sehen. Eibach, Gleichheit, 527-528. 137 StABE, B III 831, 333-335; exakt diese „‚Flexibilität‘“ist ein Signum jener allgegen‐ wärtigen Prekarität, die von Pierre Bourdieu für das ausgehende 20. Jahrhundert beschrieben worden ist. Insofern erfährt die Anwendung dieses Konzepts hier erneut ihre Legitimität. Bourdieu, Prekarität, 99. heimindustriellen Tätigkeiten nachgehen. 134 Die hier beschriebene Zeit war, wie bereits zu erfahren gewesen ist, für große Teile der ländlichen Bevölke‐ rung in Bern von Arbeits- und Ressourcenmangel geprägt. 135 Wem es nicht gelang, ein hinreichendes Auskommen zu finden, der/ die musste „dem Bettel nachziehe[n]“ und hoffen, dass er dabei nicht erwischt wurde. 136 Konkrete Berufsbezeichnungen konnten also auch gerade „wegen Mangels an einem Beruf “ und des Zwangs zu räumlicher und beruflicher Flexibilität fehlen. 137 Dass diese Menschen, denen gewissermaßen ein fester Beruf fehlte, dennoch zu heiraten versuchten, verweist auf die existenziellen Hoffnungen, die viele Zeitgenossen mit einer Eheschließung verbinden mussten. Die materielle und emotionale Gemeinschaft mit einer Ehepartnerin oder einem Ehepartner ver‐ sprach eine gewisse Stabilität und eine Erleichterung angesichts der prekären Lebensumstände. Die restlichen verlobten Männer, deren Beschäftigungen in den Urkunden ausgewiesen wurden, gingen tendenziell bürgerlichen Berufen in der Verwaltung und im Militär nach (7). Auch in Bezug auf diese soziale Gruppe stellt sich die Frage, inwiefern diese Akteure das gleiche soziale Schicksal 337 2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell 138 StABE, Bez Bern B 2755, 623-624. 139 StABE, B III 833, 300-302. 140 Ebd., 220-223. 141 Zur Genese und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft in der Schweiz, die zunehmend auf Leistung und Wissen, also Beruf und Bildung fokussierte, vgl. Tanner, Bürgertum. Dadurch wurden geburtsständische Prinzipien tendenziell zurückgedrängt. 142 StABE, B III 831, 375-379; 470-473; StABE, B III 833, 300-302; 302-305; 481-484; StABE, B III 835, 92-98; StABE, Bez Bern B 2755, 13-14; 17-20; 174-180; 191-196; 244-246; 273-275; 436-437; 623-624; 645-647. 143 StABE, B III 831, 225-230. 144 StABE, B III 833, 448-452; StABE, B III 835, 161-163. 145 StABE, B III 833, 305-309. 146 Ebd., 368-372. 147 StABE, B III 831, 185-189. 148 StABE, B III 833, 220-223; 460-462; StABE, Bez Bern B 2755, 436-437; 623-624. teilten, wenn der eine Söldner in neapolitanischen Diensten war, 138 der andere Buchhalter in Bern 139 und der dritte Landjäger in Oberhofen. 140 Weitere Nachfor‐ schungen wären notwendig, um zu klären, inwiefern die Zunahme der Angaben zur Profession mit einer Verschiebung von einer geburtsständischen hin zu einer stärker bürgerlich geprägten Gesellschaft interpretiert werden kann. 141 Von einer abnehmenden Bedeutung von Herkunft und Rechtstiteln ist angesichts der angeführten Bezeichnungen in den ehegerichtlichen Akten jedoch nicht auszugehen. Aus ihnen erfährt man von 15 prekarisierten Akteuren, die zur Burgerschaft von Bern gehörten. 142 In einem weiteren hier untersuchten Fall handelte es sich um einen mit Landesverweis belegten Mann, der dadurch seine Landes- und Burgerrechte verloren hatte. 143 Zwei besaßen Burgerrechte in Munizipalstädten. 144 Nur in drei Fällen protokollierte der Gerichtsschreiber, dass der Mann ein Hintersasse, 145 ein Heimatloser 146 oder ein Landesfremder 147 war. Wiederum ist es also so, dass vermutlich vor allem dann Angaben zu Stand und Beruf gemacht wurden, wenn die Betroffenen der Aristokratie angehörten oder einem handwerklichen Beruf nachgingen. In Bezug auf die Akteurinnen prekarisierter Ehebegehren zeigen sich ähn‐ liche Tendenzen wie bei den Männern. Wiederum erhält man im Vergleich allerdings deutlich weniger Informationen zu den involvierten Frauen als zu ihren männlichen Pendants. Dennoch existieren mehr Angaben zu Beruf und Geburtsstand als unter dem Ancien Régime. Während die Rekursmanuale bis 1798 für drei Frauen Berufsbezeichnungen ausgewiesen hatten, sind im Unter‐ suchungszeitraum seit 1803 die Beschäftigungen von neun Frauen bekannt. Vier von ihnen waren Mägde oder Dienstbotinnen. 148 Weitere vier gingen Handarbeiten im Bereich der protoindustriellen textilen Heimarbeit nach - was andeutet, welche neuen Tätigkeitsfelder sich für Frauen zu Beginn des 338 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 149 StABE, B III 831, 239-243; 428-431; StABE, B III 833, 74-77; StABE, B III 835, 55-63. 150 StABE, B III 831, 264-267. 151 Ebd., 185-189; StABE, B III 835, 20-30; StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 46-49. 152 StABE, B III 831, 352-355. 153 Ebd., 246-248; StABE, Bez Bern B 2755, 17-20. 154 StABE, B III 831, 375-379; 409-414; StABE, B III 833, 481-484; StABE, B III 835, 92-98. 155 StABE, B III 831, 185-189; 239-243; 246-248; 264-267; 276-279; 333-335; 361-363; 421-428; 457-475; 539-542; 558-561; 587-589; 638-641; 697-703; StABE, B III 833, 47-50; 70-74; 74-77; 287-291; 300-302; 302-305; 305-309; 323-325; 356-358; 368-372; 423-426; 473-478; 549-552; StABE, B III 835, 22-30; 55-63; 98-102; 161-163; 318-321; StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 046-049; StABE, Bez Bern B 2755, 191-196. 156 StABE, B III 831, 276-279; 333-335; 352-355; 361-363; 457-460; 473-475; 558-561; 638-641; StABE, B III 833, 47-50; 70-74; 302-305; 368-372; 473-478; 549-552; StABE, B III 835, 55-63; 318-321. 157 Im Quellensample zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren 44 der gesamthaft 61 begehrten Eheschließungen (rund 72 %) exogamer Art. 19. Jahrhunderts auch im industriell relativ rückständigen Bern zunehmend eröffneten. 149 Eine Frau wurde explizit als Bettlerin bezeichnet. 150 Daneben erfährt man auch zu einigen Frauen von ihrem geburtsständischen Status, wobei diese Informationen ebenfalls auf große soziale Unterschiede zwischen den Ehewilligen hindeuten. Sowohl Landsassinnen (3), 151 Hintersassinnen (2), 152 landesfremde Frauen (3) 153 als auch Bernburgerinnen (4) 154 erstrebten Eheschlie‐ ßungen, gegen die Einspruch erhoben wurde. 36 Fälle erlauben im Zeitraum nach der Helvetik Rückschlüsse zur sexuellen Vorgeschichte prekärer Ehebegehren. 155 In mindestens 17 Fällen lag beim Zeit‐ punkt der Gerichtsverhandlung eine Brautschwangerschaft vor. 156 Zahlreiche Paare hatten bereits im Vorfeld der Verhandlung ein uneheliches Kind oder nicht selten auch schon mehrere uneheliche Kinder miteinander gezeugt. In einigen Fällen brachte der Mann oder die Frau bereits unehelichen Nachwuchs aus vorausgegangenen sexuellen Kontakten in die begehrte Ehe ein. Alle diese Kinder drohten die kommunalen Ressourcen und das Armengut der Heimatgemeinde des Mannes zu belasten. Die Illegitimität eines Teils des Paares oder der Verlobten miteinander kennzeichnete also auch nach 1803 zahlreiche prekäre Ehebegehren. Darüber hinaus stieg der Anteil exogamer Ehebegehren an der Summe der prekären Eheaspirationen nach dem helveti‐ schen Intermezzo von 72 % (44) auf 88 % (64). 157 Ehebegehren mit illegitimer sexueller Vorgeschichte und exogamer Konfiguration stellten für die Gemeinden der Männer offensichtlich ein erhöhtes Risiko für eine allfällige Belastung der kommunalen Ressourcen dar und wurden in der Folge verhältnismäßig häufig durch Einsprachen prekarisiert. Außerdem nahm in Bern die räumliche Mobi‐ 339 2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell 158 StABE, B III 831, 539-542. lität mit der Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, aber auch der wachsenden Armut zu. Das begünstigte die exogamen Verbindungen zunehmend. Eheschließungsbegehren, die auch im Zeitraum nach der Helvetik verhält‐ nismäßig oft prekarisiert wurden, weil sie nach wie vor nicht der moralischen Ökonomie der Gemeinden und Korporationen entsprachen, waren jene von Witwen und Witwern. Der Anteil von Fällen, in denen mindestens eine Seite verwitwet war, stieg im Vergleich zum Ancien Régime sogar an. Vor dem Oberchorgericht waren in rund 18 % (11 von 61) der prekären Eheschließungen verwitwete Personen involviert gewesen. Nun stieg der Anteil auf ca. 26 % (19 von 73) an. Während in den bisher angestellten Beobachtungen die Parallelen zum An‐ cien Régime überwiegen - eine große soziale Streuung bei ähnlichen sexuellen und exogamen Konfigurationen und einem relativ hohen Anteil verwitweter Personen - existieren auch Unterschiede zwischen den beiden Zeitperioden. Erstens erhält man seit 1803 wesentlich öfter Informationen zum prekären Besitzstand der Eheleute als zuvor. Darin kommt jenes ökonomisch-materielle Element zum Vorschein, das vor allem die ehewilligen Männer prekärer Ehe‐ schließungen im Zeitraum nach der Helvetik am stärksten miteinander verband. Unabhängig davon, aus welchem Stand oder Beruf die Betroffenen kamen, erschienen sie in der Mehrheit der Fälle arm, mittel- oder vermögenslos und erhielten daher Unterstützungsleistungen ihrer Gemeinde oder Korporation, waren also besteuert, oder drohten zumindest durch die Eheschließung end‐ gültig armengenössig zu werden. Dieser Umstand zeigt in Kombination mit der großen sozialen Vielfalt der Akteure, dass man in der ersten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts aufgrund der wirtschaftlichen Strukturveränderungen in Bern sowohl als Burger als auch als einfacher Handwerker oder Landwirt in die Armut geraten konnte oder in Abhängigkeit vom Stand für arm befunden wurde. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Geburtsstand als soziales Kapital gegenüber dem Besitzstand, also dem gewissermaßen monetären oder monetarisierbaren Kapital, in Anbetracht einer allgemeinen Ökonomisierung allmählich an Bedeu‐ tung verlor. Zweitens fällt auf, dass der Gerichtsschreiber ab 1803 parallel zu den vermehrt prekären materiellen Umständen der Ehewilligen verhältnismäßig oft eine kri‐ minelle Vorgeschichte von Ehewilligen protokollierte. In einer Rekursurkunde ist von einem Mann zu lesen, der zuvor in vierzehntägiger Haft gesessen hatte. 158 Andere hatten vorgängig fünfjährige Kettenstrafen absitzen müssen oder be‐ 340 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 159 StABE, B III 833, 287-291; 423-426. 160 Ebd., 356-358; StABE, B III 835, 22-30. 161 StABE, B III 831, 158-161. 162 Ebd., 539-542. 163 StABE, B III 835, 55-63. 164 StABE, B III 833, 305-309; 549-552; StABE, B III 835, 22-30. 165 StABE, B III 833, 423-426; die aufgeführten Strafen waren alles mehr oder weniger milde Strafen im Bezugsrahmen der Armuts- und Sittendelinquenz. Pahud de Mortanges, Rechtsgeschichte, 147-148. 166 StABE, B III 831, 473-475. 167 In Anbetracht dieser Beobachtung ist eine Bemerkung aus Regula Ludis Lizenziatsarbeit sehr aufschlussreich. In Bezug auf die Kriminalisierung von Frauen aus der Unterschicht kommt sie zum Schluss, dass diesen die Ehrlosigkeit a priori anhaftete, weswegen sie diese „gar nicht erst unter Beweis stellen [mussten]“. Ludi, Kriminalität, 121-122. reits eine Schellenwerkstrafe verbüßt. 159 Einige waren schon im Zuchthaus oder in anderweitiger Gefangenschaft gewesen. 160 Es ist aus den Quellen auch von ehewilligen Frauen zu erfahren, die Schellenwerk hatten verrichten müssen, 161 vierzehntägige Haftstrafen abgesessen hatten 162 oder anderweitig inhaftiert gewesen waren. 163 Gewisse von ihnen waren ein oder sogar mehrere Male in Zuchthäuser gesteckt worden 164 - eine wegen des Verdachts auf Infantizid. 165 Zum Teil war die Kriminalisierung der Ehewilligen in der sprachlichen Logik der Quelle unmittelbar mit ihren prekären Vermögensverhältnissen verschränkt, wenn zum Beispiel „der mittellose Trachsel, und noch mehr aber die Theiler [die aufgrund ihres vierten unehelichen Kindes ins Arbeitshaus musste, AH], sich schlecht aufgeführt haben“ sollen. 166 Aufgrund der Verschränkung von Armut und Kriminalität beziehungsweise Sittendelinquenz in der Logik der Opponierenden zeigt sich, dass moralische Kriterien zu Beginn des 19. Jahrhun‐ derts in verstärktem Ausmaß in Zusammenhang mit Armut gebracht wurden. 167 Diese Beobachtung ist auffällig analog zum Befund bezüglich der normativen Stoßrichtung der Ehegesetzgebung und der bevölkerungspolitisch dominanten Position in den öffentlichen Debatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie gilt es nachfolgend in ein Verhältnis zu setzen zu den Taktiken der Opponie‐ renden und den Strategien des urteilenden Gerichts. Zuvor sollen im nächsten Abschnitt allerdings diejenigen identifiziert werden, die die Eheschließungen prekär werden ließen. 341 2.1 Anhaltend vielfältig und exogam, zunehmend mittellos und kriminell 2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte In den Samples zum Ancien Régime wurde der größte Teil der Eheeinsprachen und Zugrechtsklagen aus den Reihen der Familien hervorgebracht. Dabei fiel auf, dass die Zahl der Einsprachen aus den Gemeinden gegen Ende des Jahrhunderts zugenommen hatte, während die aus den Reihen der Familien vorgebrachten Ehehindernisse in der Menge zurückgetreten waren. Weiter haben die Quellen sichtbar gemacht, dass die Mehrheit der Fälle aus dem Umfeld des ehewilligen Mannes prekarisiert worden waren. In Anbetracht der weiblichen Verlobten hat sich abgezeichnet, dass die Gemeinden wesentlich weniger bemüht waren, diese von der Eheschließung abzuhalten als deren Familien. Welche Entwicklungslinien ergeben sich für den nachhelvetischen Zeitraum und wie stehen diese zu den rekapitulierten Mustern, die für das Ancien Régime herausgearbeitet werden konnten? Der markanteste Unterschied zu den Befunden zum Ancien Régime betrifft das Verhältnis zwischen den Gemeindeeinsprüchen und den Einwänden aus den Familien der Ehewilligen. Die Tendenz der allmählichen Zunahme kommunaler Einsprachen bei gleichzeitiger Abnahme der verwandtschaftlichen Einwände wurde nach 1803 stark akzentuiert: Im Verlauf des Untersuchungszeitraums zwischen 1803 und 1847 kamen 47 vor Gericht eingelegte Eheeinsprachen aus den Reihen der Gemeinden und ihren Stellvertretern. Das sind beinahe zwei Drittel der gesamthaft 73 analysierten Fälle. Neun Interventionen waren zudem von burgerlichen Korporationen initiiert. Sie nahmen gegenüber ihren Angehörigen wie die Gemeinden eine Unterstützungsfunktion ein. Wenn diese bedürftig waren oder wurden, mussten sie unterstützend einspringen. Aufgrund der Einsprachen aus den burgerlichen Korporationen aus der Stadt Bern lässt sich zudem wiederum zeigen, dass Burgerrechte trotz den damit verbundenen Privilegien nicht per se eine Besitzstandsgarantie darstellten und deswegen vor Armut schützten. Was als Wohlstand empfunden wurde, war in Bern auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem von den Erwartungen an eine stan‐ desgemäße Lebensführung abhängig. Deswegen konnte der auf Unterstützung angewiesene Burger in ständischen Relationen durchaus arm sein, auch wenn seine Lebensverhältnisse nach wie vor wenige Gemeinsamkeiten mit denen eines umherziehenden Bettlers hatten. 342 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 33; 3; 4% 99; 9; 12% 47 47; 47; 65% 55; 5; 7% 77; 7; 10% 11; 1; 1% 11; 1; 1% Allianz ♂ Gesellschaft ♂ Gemeinde ♂ Verwandtschaft ♂ Verwandtschaft ♀ Konkurrent Gericht Diagramm 7: Opponierende (73) gegen prekäre Eheschließungen, 1803-1847 (Quellen: StABE B III 831; 833; 835; Bez Bern B 2755; 2748) In Bezug auf die Kategorie ‚Geschlecht‘ sticht ins Auge, dass die thematisierten kommunalen und korporativen nachhelvetischen Einsprachen immer aus dem Herkunftsmilieu des involvierten Mannes artikuliert wurden. In drei weiteren Fällen kam es außerdem zu Allianzen zwischen der Heimatgemeinde oder der Gesellschaft und Familienangehörigen des ehewilligen Mannes. Im oben dargestellten Kreisdiagramm sind die Einsprachen aus dem Umfeld der Männer in unterschiedlichen Blautönen eingefärbt. Das Diagramm illustriert, dass die primäre Motivation von rund 81 % (59) der untersuchten nachhelvetischen Einsprachen im geteilten Streben begründet lag, die begrenzten kollektiven Ressourcen zu schonen. In Anbetracht der bedrohlichen Massenarmut ver‐ suchten Gemeinden und Korporationen in Bern nämlich mindestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt, ihre mittel- und vermögenslosen männlichen Angehörigen auszuschließen. Direkt zeigt sich das im Anstieg der explizit aufgrund der Besteuerung des Mannes gemachten Einsprachen von 16 (26 %) im Ancien Régime auf 44 (60 %) im nachhelvetischen Zeitraum. Die schwindenden Armengüter, die im 19. Jahrhundert durch die wirtschaftlichen 343 2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte 168 StABE, B III 438, 566-579. 169 Ebd; vgl. auch Marion Lischka, die die Hypothese aufgestellt hat, dass in Detmold Frauen im 18. Jahrhundert zum Teil „möglicherweise gar nicht (mehr) unbedingt damit [rechneten], eine Eheschließung einklagen zu können“, sondern das Konsistorium als hilfreiche Institution bei der Durchsetzung finanzieller Interessen wahrnahmen. Hier zeigt sich ein ähnliches Bild: Schwangere Frauen befanden sich zwar in einer äußerst prekären Situation, besaßen aber offenbar auch ein gewisses Druckmittel gegenüber der Gemeinde des Mannes, mit dem sie finanzielle Leistungen erwirken konnten. Lischka, Liebe, 77. 170 StABE, B III 438, 566-579. 171 Vgl. zum Beispiel StABE, B III 831, 697-703; StABE, B III 833, 47-50; 287-291. Entwicklungen noch stärker belastet waren als im ausgehenden 18. Jahrhundert, sollten nicht zusätzlich durch Bettelehen mit auswärtigen Frauen belastet werden. Gleichzeitig ist aus dem Quellenmaterial der nachhelvetischen Zeit zu erfahren, dass Gemeinden im Umkehrschluss geradezu rege darum bemüht waren, mittellose weibliche Angehörige unter Einsatz finanzieller Mittel aus der Gemeindekasse loszuwerden. Die Obereherichter berichteten 1821, dass es in der Vergangenheit zu sogenannten „Männerkäufe[n]“ gekommen war. 168 Es wurde von den Richtern darauf verwiesen, dass Gemeinden, denen die Versorgung unehelicher Kinder lediger gemeindeangehöriger Frauen drohte, insbesondere auswärtige Männer für deren Vaterschaftsgeständnis und das Eheversprechen bezahlten. Außerdem wurden Gemeindevorsteher und lokale Chorgerichte bezichtigt, „Bestechung“ als Mittel einzusetzen, um auswärtige Frauen „zu Versäumnissen der Klagfristen und zu falschen Angaben“ zu Gunsten von Gemeindeangehörigen zu verleiten. 169 Mit dieser illegalen Praxis wurden zum einen Eheschließungen von einheimischen Männern behindert und zum anderen deren Vaterschaften verheimlicht. Damit versuchten die Gemeinden der allgemeinen Ressourcenverknappung entgegenzuwirken. In dem besagten Bericht kam zudem zur Sprache, dass die Gemeinden ihre ledigen schwangeren Mitglieder „eifrig unterstützen“, damit diese in andere Gemeinden einheiraten konnten. „An Steuer-Ersäze, Einzuggelder und Aussteuern wurden mitunter verschwenderisch die Erpsarnisse der Gemeinde verwandt. Man gerieth in Erbitterung, und nicht selten prozedierten zwey Verlobte bloß als Verfechter der erhizten Gemeindräthe. Wiederholte Vorstellungen, da ß einer Gemeinde Morgen wieder vergolten werde, was sie heute einer andern angethan […].“ 170 Tatsächlich trifft man in den Rekursmanualen auf Verhandlungen prekarisierter Eheschließungen, die vor Gericht sogar ausschließlich zwischen Vertretern der Gemeinden ausgetragen wurden. 171 Vergleichbare Fälle, die die Ehewilligen 344 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 172 Erika Flückiger Strebel hat anhand der Unterstützungspolitik der bernischen Almosen‐ kammer für das 18. Jahrhundert „das zunehmende wohltätige Engagement des Staates“ zeigen können, das allerdings schon damals in Widerspruch zur Praxis der Gemeinden stand. Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 309. 173 StABE, B III 831, 322-324; 375-379; 409-414; 421-428; 457-460; 470-473; StABE, B III 833, 74-77; 265-271; 300-302; 460-462; StABE, B III 835, 168-171; StABE, Bez Bern B 2755, 703-705. derart zu beinahe ausschließlich ökonomischen Objekten degradierten, konnten im entsprechenden Quellensample zum Ancien Régime nicht aufgefunden werden. Bestimmt existierten entsprechende Praktiken der Gemeinden schon damals. Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Ausmaß sie betrieben wurden. Die Gemeinden verfolgten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts also eine doppelte Taktik: Sie förderten zum einen die Eheschließungen ihrer vermögenslosen, kriminalisierten und darum in ihrer Perspektive moralisch verdächtigen Frauen durch illegale Investitionen, um diese los zu werden. Parallel dazu bemühten sie sich zum anderen, ihre mittellosen männlichen Ge‐ meindeangehörigen mit rechtlichen Instrumenten von der Ehe auszuschließen, um nicht zusätzlich zu dem unterstützungsbedürftigen oder wirtschaftlich aussichtslosen Mann eine Frau versorgen zu müssen. Dieses Verhalten fügte sich widerspruchsfrei in den aufgezeigten bevölkerungspolitischen Diskurs, der in Bern schon in den 1790er Jahren ansatzweise aufkam und mit den Erfah‐ rungen der Massenarmut gipfelte. Dadurch fällt auf, dass die Opponierenden die Ehewilligen in zunehmendem Maße zu Spielbällen ihrer ökonomischen Kalkulationen machten, die sie im Rahmen wachsender Armut und Ressourcen‐ verknappung anstellten. In den Gemeinden wurde „[d]er Konflikt zwischen den Ansprüchen von Wohlfahrt und [Gemeinde]ökonomie“ eindeutig zu Gunsten wirtschaftlicher Überlegungen entschieden. 172 In der Summe deuten diese Ent‐ wicklungen auf eine Verengung des Handlungsspielraums für die eigensinnigen Taktiken der ehewilligen AkteurInnen hin. Dabei wird die ausgesprochen pre‐ käre Situation der mittellosen Frauen unschwer erkennbar: Sie wurden von den Gemeinden offenbar vorrangig als ökonomische Bedrohung und Belastung für das Allgemeingut wahrgenommen, die es so schnell wie möglich loszuwerden galt. Im Gegensatz zu den vielen Einsprachen aus den Gemeinden und den Gesellschaften versuchten Familienmitglieder nur noch zwölf Mal (ca. 16 %) die Ehebegehren ihrer Angehörigen zu prekarisieren. 173 Hier finden sich auch sieben Eheeinsprachen aus dem familiären Umfeld der jeweiligen Frauen. Während vor der Helvetischen Revolution noch etwas mehr als ein Drittel der Ehebegehren vor dem Oberehegericht aus dem sozialen Umfeld der Frauen 345 2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte 174 Diese Entwicklung begann bereits im 18. Jahrhundert. Flückiger Strebel, Wohlfahrt, 309; Ludi, Frauenarmut. Sie wurde allerdings in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark akzentuiert. 175 Der Rückgang der Einsprachen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld der Ehewilligen sollte hier keinesfalls als schwindende Bedeutung der Verwandtschaftsnetzwerke interpretiert werden. Eher trug deren zunehmende Bedeutung dazu bei, dass Akteure in intakten Netzwerken verwandtschaftskonform heirateten. Vgl. Lanzinger, Verwandt‐ schaft, 21; David Sabean hat vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Verwandtschaft in Zeiten der Industrialisierung zunahm. Sabean, Background, 116; Jon Mathieu hat anhand des Rückgangs gesetzlicher Ehehindernisse in Bezug auf Ver‐ wandtschaftsgrade in protestantischen Territorien aufgezeigt, dass Verwandtenehen prekarisiert wurden, waren es zwischen Mediation und Bundesstaatsgründung nur noch knapp 10 % (7). Die zwei restlichen Einsprachen, die weder dem männlichen noch weiblichen Milieu zuzuordnen sind, kamen einmal von einem Ehekonkurrenten, der für sein Eheversprechen den Vorzug verlangte und des‐ wegen Einsprache gegen die andere Eheschließung erhob. Und einmal schaltete sich das Oberehegericht selbst ein, weil es sich um eine begehrte Ehe zwischen einem Paar handelte, das zuvor miteinander Ehebruch begangen hatte, was dem Gericht bekannt war. Diese beiden Fälle sind in Anbetracht der strukturellen Entwicklungen von untergeordneter Bedeutung. Während die Furcht vor der Überbevölkerung und die Sorge um die kol‐ lektiven Ressourcen den relativen Anstieg kommunaler und korporativer Ein‐ sprachen zu erklären vermögen, kann der Rückgang familiärer Einsprachen nicht abschließend erklärt werden. Festgehalten werden kann, dass die Zahl der mittellosen, in prekären wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen lebenden Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunahm. 174 Gerade diese von Armut betroffenen und zum Teil inkriminierten Menschen, die im Sample nach 1800 wie gezeigt stärker repräsentiert sind als davor, konnten zwecks Unterstützung in den meisten Fällen gerade nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen. Sie sahen, so die These, in der Gründung einer Familie durch die Eheschließung unter anderem gerade deswegen eine Ressource. Wo ein verwandtschaftlicher Hintergrund fehlte oder zerrüttet war, musste mit allen Mitteln versucht werden, wenigstens innereheliche Unterstützung zu etablieren. Als heimatlose Frau kam hinzu, dass man sich mit der Heirat in die Heimatrechte des Mannes einkaufte und dadurch im Falle der Verarmung Anspruch auf kommunale Unterstützungsleistungen hatte. Als Mittelloser oder Vermögensschwacher konnte man mit einem prekären Ehebegehren also wenig verlieren, aber im Erfolgsfall sehr viel Erleichterung im alltäglichen Leben dazugewinnen. Wo allerdings intakte Familienstrukturen vorhanden waren, konnten diese in wirtschaftlich schwierigen Zeiten beansprucht werden. 175 Wer 346 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht in der Heiratspraxis im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert Relevanz gewannen. Mathieu, Kin, 224. 176 Lanzinger, Verwandtschaft, 21; David Sabean beobachtet in diesem Zusammenhang sehr pointiert: „Love and sentiment and emotional response or their expected develop‐ ment were built into the very nature of familial circuitry. They were the software necessary to direct the course of all the hard-wired connectors. […] [L]ove always determined the flow of capital, access to office, the course of a career.“ David Warren Sabean, Kinship and Class Dynamics in Nineteenth Century Europe, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Developments (1300-1900), hrsg. v. David Warren Sabean/ Simon Teuscher/ Jon Mathieu, New York 2007, 301-313; Albert Tanner, Arbeit‐ same Patrioten, wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830-1914, Zürich 1995, 170-202. 177 Lanzinger, Ehe, 11; für die Schweiz hat Rudolf Braun darauf hingewiesen, dass bereits die Protoindustrialisierung und Agrarmodernisierung am Ausgang des 18. Jahrhunderts allmählich neue Erwerbszweige generiert hatte, die die Menschen unabhängiger von den haushaltsökonomischen Kapazitäten der Eheschließung machten. Auf diese Weise veränderte sich auch das Sexualverhalten der Menschen, so die These. Braun, Ancien Régime, 47-54. 178 Shorter, Geburt, 99-119; für Bern Schmidt, Dorf. 179 Regula Ludi hat für Bern gezeigt, dass Konkubinatsbeziehungen vom sozialen Nahraum durchaus geduldet werden konnten und im 19. Jahrhundert vor allem für die „Vertreter der liberalen bürgerlichen Elite“ ein Problem darstellten. Ludi, Kriminalität, 122; Zuspruch für ihre These erhält sie indirekt von Ginger Frost. Sie hat 221 Fällen der Bigamie zwischen 1830 und 1900 in England untersucht. Daran hat sie zeigen können, durch eine prekäre Eheschließung - gegen die Heiratspolitik der Verwandt‐ schaft - diesen sozioökonomischen Rückhalt riskierte, setzte damit womöglich seine Existenzgrundlagen aufs Spiel. Das musste man sich entweder leisten können, oder man verzichtete darauf, indem man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen familien- und verwandtschaftskonform heira‐ tete. Hinzu traten außerdem vor allem im bürgerlichen Milieu neue Liebes- und Eheideale, die auf Nähe und Vertrautheit basierten und dadurch Heiraten innerhalb derselben Schicht sowie Verwandtenehen begünstigten, die nach 1800 ja gesetzlich toleriert wurden. 176 Zu diesen thesenhaften Erklärungsansätzen für den Rückgang verwandtschaftlicher Eheeinsprachen kommt hinzu, dass die Ehe im 19. Jahrhundert allmählich „den postulierten Monopolcharakter als einzig legitimer Ort für Sexualität und biologische Reproduktion“ zu verlieren begann. 177 Diese These gewinnt mit Blick auf die steigende Illegitimitätsrate, die schon verschiedentlich als Symptom des Verfalls traditionaler Werte ge‐ deutet worden ist, auch für Bern Plausibilität. 178 Aufgrund der erwähnten Entwicklungen lebten Menschen aus zum Teil unterschiedlichen Gründen auch vermehrt in unehelichen und Konkubinatsverhältnissen, falls sie auf die Ehe als Institution der ökonomischen Wertschöpfung und Besitzstandswahrung verzichten konnten oder mussten. 179 Gegen diese alternativen Lebensformen, 347 2.2 Opponierende Parteien: Gemeinden und Korporationen statt Väter und Verwandte dass das nächste Umfeld das bigamische Zusammenleben eines Paares duldete, wenn jener Teil, der sich doppelt verheiratete, gute Gründe hatte, den ersten Ehepartner oder die erste Ehepartnerin zu verlassen. Diese Form des Zusammenlebens unterschied sich nicht grundlegend vom Konkubinat. Ginger Frost, Bigamy and Cohabitation in Victorian England, in: Journal of Family History 22 (1997), 286-306. 180 Ludi, Kriminalität, 121-122. die als ‚wilde Ehen‘ kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt wurden, 180 konnten die Familien - sofern solche überhaupt existierten respektive davon wussten - zumindest ehegerichtlich nicht Einsprache erheben. 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 2.3.1 Hartnäckig eigensinnig In den Ausführungen zum Ancien Régime ist festgehalten worden, dass Ei‐ gensinn nicht nur ein abstraktes heuristisches Konzept der Geschichtswissen‐ schaft darstellt, sondern sich begrifflich konkret in die Quellen eingeschrieben hatte, beziehungsweise sich aus diesen ableiten lässt. Gleichzeitig lässt sich der Eigensinn aus dem in den Rekursmanualen beschriebenen Handeln der ehebegehrenden AkteurInnen herausarbeiten. Hartnäckigkeit war oftmals ein notwendiges Erfordernis gewesen, um die prekarisierten, eigensinnigen Ehe‐ begehren gegen die Opponierenden aus der Verwandtschaft, den Gemeinden und korporativen Gesellschaften durchzusetzen. Im Oberehegericht hatte es zwar ein ehepolitisch reformorientiertes Lager gegeben, das in 59 % der Fälle die eigensinnigen Begehren entgegen den Einsprachen gefördert hatte. Den‐ noch lassen sich in den Rekursurkunden aufgrund der Aufzeichnung der mehrstimmigen Urteilsfindung auch jene Stimmen finden, die nach wie vor die ständisch-patriarchale Logik der Opponierenden geteilt und die Ehe in moralpolitischem Sinne als geburtsständisches Privileg verwaltet hatten. Ferner hat man sehen können, dass der beharrliche eheliche Eigensinn, der sich unter anderem in der Justiznutzung der AkteurInnen bemerkbar gemacht hatte, während der Helvetik auf politisch außerordentlich günstige Gelegenheiten gestoßen war. Einerseits hatte das Mittel der Petition geholfen, Opposition aus dem sozialen Nahraum zu umgehen. Andererseits hatten die reformorientierten Zentralbehörden ihrerseits die eigensinnigen Ehebegehren der Paare auf Kosten intermediärer Gruppen genutzt. Sie hatten danach getrachtet, die obrigkeitliche Machtfülle auszubauen. Während der Helvetik ist der Eigensinn zwischenzeit‐ 348 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 181 Zur zeitgenössischen Zuschreibung von Eigensinn seit dem 18. Jahrhundert: Lüdtke, Einleitung, 9. 182 Pfister, „Baby Peak“, 64. 183 StABE, B III 835, 161-163. 184 Ebd., 55-63. 185 StABE, B III 831, 185-189. 186 Ebd., 246-248. 187 StABE, B III 833, 550. lich in den Quellen als solcher begrifflich konkret verständlicherweise nicht mehr einzufangen gewesen, da es sich bei diesem Terminus zeitgenössisch um eine pejorative Fremdzuschreibung gehandelt hatte. 181 Den Petitionären war es gerade nicht darum gegangen, sich als deviante Untertanen zu beschreiben, die um Gnade baten. Dagegen hatten sie sich als aufgeklärte und gleichberechtigte Bürger der Nation inszeniert, die den Gesetzen der Natur und des Fortschritts gefolgt waren und damit den aufklärerischen und bevölkerungspolitischen Maximen der Republik entsprochen hatten. Dabei hatten sie meistens erfolg‐ reich die Unterstützung der reformorientierten und väterlich-emphatischen Verwaltung bei der Umsetzung ihrer Eheschließungen gesucht. Nach der Helvetik, die zumindest zu Beginn auf der Ebene der Eheschließung auch für die unteren Schichten so etwas wie eine „Verbesserung der Lebens‐ chancen“ verhieß, 182 stellt sich hier die Frage, welchen Ausdruck der Eigensinn der AkteurInnen in den Rekursmanualen (1803-1830) und den Konsistorialma‐ nualen (1830-1847) finden konnte und welcher Ressourcen und taktischen Mittel diese sich zu bedienen vermochten. In welcher Weise wurden die Taktiken in die Manuale eingeschrieben in einer Zeit, in der sie von den gegen sie Opponierenden in zunehmenden Maße ökonomisch und moralisch stigmatisiert wurden und die bevölkerungspolitische Debatte sowie die Ehegesetzgebung tendenziell von besitzständischer Restauration geprägt waren? Kaum waren die alten Chorgerichte und das Oberehegericht in Bern wieder eingeführt, stößt man in den Quellen erneut auf Bezeichnungen, die ein Wort‐ feld des Eigensinns der „Heirathslüstigen“, vergleichbar der Zeit des Ancien Régimes, entfalten. 183 Es ist „von verstekten Machenschaften hinder dem Rüken des Richters“ zu lesen. 184 In den Manualen war wieder vom „beharrlichen Vorsaze des [mittellosen] Jakob Gysin […], die hiesige Landsassin Anna Barbara Akermann zu ehelichen“ die Rede. 185 Die Rekursurkunden zeugten neuerlich vom „beharrlichen Begehren des [verwitweten Dachdeckers Ulrich] Schenk, zur Heyrath der [auswärtigen Anna Elisabeth] Merz“. 186 Und Jakob Tritten wurde bezichtigt, sich „aus schnödem Eigennuz“ als „Dekmantel zur Heyrath“ der schwangeren Catharina Pfund auszugeben, obwohl er nicht der Vater des ungeborenen Kindes sei. 187 Nach der liberalen Verfassungsrevision von 349 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 188 StABE, B III 831, 174-180. 189 StABE, Bez Bern B 2755, 174-180. 190 Ebd., 223-224; 573-575; 611-613. 191 StABE, B III 831, 333-335. 192 Michel de Certeau verwendet das Adjektiv in Zusammenhang mit dem Ausbau der modernen Verwaltung, die ein immer homogenisierendes und engmaschigeres System entwickle. Während in „traditionellen Gemeinschaften“ die Taktiken „zwischen den Maschen des Systems“ auftauchten, führt „die Expansion der technokratischen Ratio‐ nalität“ einerseits zwangsläufig zu einer Zunahme des taktischen Handelns, aber auch zu einer Abnahme dessen Erfolgschancen. Certeau, Kunst, 94-95. 1830/ 31 schrieb sich der verwitwete Burger und ehemalige Bäcker aus Bern mit „nochmaliger Wiederholung des Versuchs, diese Ehe [mit Regina Fischer von Dennwyl] zu schließen“ in das Konsistorialmanual des Berner Amtsgerichts ein. 188 Sein taktisches Vorgehen wurde von den Opponierenden aus der Ge‐ sellschaft zu Mittellöwen - jener ständischen Korporation, der er angehörte - als „Manöver“ bezeichnet. 189 Und Johannes Grunder aus Vechigen gewann den Prozess vor dem Amtsgericht gegen seine Heimatgemeinde, weil er auch nach dem zweiten Misserfolg hartnäckig blieb und einen dritten, erfolgreichen Anlauf nahm. 190 Es ist aus den Quellen aber nicht nur von sich hartnäckig haltendem Eigensinn von Männern zu vernehmen. Auch die „schwangere Braut beharrte auf ihrer Ansprache“ und zwang dadurch die opponierende Gemeinde des Mannes „nochmals“ vor das Gericht. 191 Die Reihe von Quellenbeispielen, die die Kategorien ‚Eigensinn‘ und ‚Taktik‘ im Rahmen ehelicher Aneignungs‐ prozesse begrifflich und praxeologisch miteinander in Berührung bringen, könnte ohne Weiteres fortgeführt werden. Die angeführten Beispiele deuten auf zwei Umstände hin: Einerseits wurde die Normierung der Eheschließung nach der Helvetik wieder „engmaschig[er]“ und den AkteurInnen blieb weniger Spielraum zur Verwirklichung ihrer Ehevorstellungen. 192 Andererseits mussten sie genau deswegen taktisch geschickter agieren, weshalb sie in den Augen der gegen sie Opponierenden wiederum als eigensinnig und deviant erschienen. Dabei kommt zum Ausdruck, dass die AkteurInnen über das Ancien Régime und die Helvetik hinweg kontinuierlich, also hartnäckig eigensinnig blieben und vor den neuerlichen Verschlechterungen ihrer Ehechancen nicht kapitulierten. 2.3.2 Die Zurückdrängung der Taktiken durch Formalisierung des Rechtsanspruchs An dieser Stelle muss vorweggenommen werden, dass die prekarisierenden Einsprüche gegen die untersuchten Eheschließungen in den gerichtlich produ‐ zierten Quellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts narrativ wesentlich 350 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 193 Die Formalisierung des Rechtsanspruchs kann daher als tendenzielle Fortsetzung der frühneuzeitlichen Verrechtlichung verstanden werden. Das Konzept der Verrecht‐ lichung ist maßgeblich von Wilfried Schulze als prozesshafte Folge des deutschen Bauernkriegs geprägt worden. Schulze selbst ist der Meinung, dass Verrechtlichung „über diesen Zeitraum hinaus eine grundlegende Tendenz [ist], die keineswegs nur für die deutsche Entwicklung prägend geworden ist“. „Wir brauchen freilich die Beobach‐ tung von Verrechtlichungstendenzen nicht auf die Frühe Neuzeit zu beschränken […]. Wir stellen vergleichbare Prozesse im 19. Jahrhundert fest […]. Gerade in jüngster Zeit ist der Begriff der Verrechtlichung zunehmend auch auf die Folgewirkungen angewandt worden, die sich aus der Verbindung des Rechts- und des Sozialstaatlichkeitsgebots des Grundgesetzes ergeben.“ Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, 5., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2010, zuerst 80, dann 82; vgl. auch Claudia Opitz, Art. Verrechtlichung 2013. https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 025615/ 201 3-02-25/ (26.08.2021); auf praktische Aspekte der Verrechtlichung in der Beziehung zwischen Männern und Frauen hat Heinrich Richard Schmidt hingewiesen. Schmidt, Dorf, 281-283; 286. eintöniger waren als noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor der Helvetik. Sie präsentierten sich standardisierter und weniger verhandelbar. Auch die Taktiken der ehewilligen AkteurInnen schienen dementsprechend weniger vielfältig, dafür regelhafter wiedergegeben. Dass sich die Gerichts‐ protokolle der Historikerin und dem Historiker auch weniger erzählerisch präsentieren als die helvetischen Petitionen, ist aufgrund der Quellenproduktion leicht nachvollziehbar: Während eine Petition und ihr jeweiliges Narrativ meistens von einem Schreiber in der Absicht verfasst wurden, das urteilende Gegenüber vom Anliegen des Bittstellers zu überzeugen, sollte das Protokoll die Verhandlung und die Argumente von KlägerIn und AntworterIn so zusam‐ menfassen, dass dadurch das richterliche Urteil abgestützt wurde. Während die Bittschrift in Eigenregie mit Notar abgefasst wurde, wurde das Protokoll durch den Gerichtsschreiber erstellt. Wieso unterschieden sich diesbezüglich aber die Rekursurkunden vor und nach 1800? Diese Frage gilt es in den folgenden Ausführungen zu erörtern. Dabei treten die Taktiken der heiratsbegehrenden AkteurInnen in der historischen Betrachtung im Verhältnis zu den Analysen der beiden vorausgegangenen Zeiträume zwangsläufig zurück. Dieser Umstand ist allerdings nicht dem Vorgehen geschuldet, sondern dem Gegenstand selbst, und lässt sich am besten als eine verfahrensrechtliche Formalisierung des Rechtsanspruchs vor Gericht bezeichnen. Diese Formalisierung ist als ein Prozess zu verstehen, der den Rechtsanspruch der AkteurInnen vor Gericht in immer umfassenderer Weise einer zunehmend ausdifferenzierten und auch professionalisierten Justiz und deren immer stärker gesetzlich geregelten Ver‐ fahren unterwirft und darin stark dem frühneuzeithistorisch geprägten Konzept der Verrechtlichung gleicht. 193 Diese als Praxis begriffene Entwicklung gilt es 351 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 194 Den Zusammenhang zwischen Ehre und Anwesenheit in der vormodernen Gesellschaft hat Maurice Cottier in seiner Dissertationsschrift exemplarisch aufgearbeitet und darin an Äußerungen von Pierre Bourdieu und Rudolf Schlögel angeschlossen. Cottier, Gewalt, 33-34; Bourdieu, Entwurf, 27-28; Schlögl, Anwesende. 195 StABE, B III 831, 473-475. im Folgenden in ihren historisch spezifischen Auswirkungen in Bezug auf das konkrete Handeln der Ehewilligen und der Opponierenden auszuführen. Im Ancien Régime hatten ökonomische Bedenken der Gemeinden einen Ehe‐ hinderungsgrund unter anderen dargestellt. Wie zuvor gesehen, war lediglich rund ein Viertel (16 von 61, entspricht rund 26 % der Fälle) der Ehehindernisse explizit mit Rekurs auf die Besteuerung und somit explizit auf Grundlage der ökonomischen Verhältnisse der Ehewilligen eingelegt worden. Der geringe Anteil dieser Einsprachen unter dem Ancien Régime hatte mit der kleinen Zahl der aus Gemeinden und Korporationen vorgebrachten Ehehindernisse im Verhältnis zum geltend gemachten Zugrecht aus den Familien korreliert. Dieser Anteil hatte jedoch bereits gegen Ende des Jahrhunderts unter dem Einfluss der sich wandelnden Bevölkerungspolitik allmählich zugenommen. Im nachhelvetischen Zeitraum zielten die Opponierenden - wie zuvor gesehen in 56 der 73 ausgewerteten Fälle (77 %) Vertreter der Heimatgemeinde oder der Korporation des Mannes - in den allermeisten Gerichtsverhandlungen direkt auf die prekäre ökonomische Situation des ehewilligen Mannes ab. So wurde die Einsprache 44 Mal (60 %) aufgrund der Grundlage der Besteuerung des ehewilligen Mannes gemacht. Insofern lässt sich über den gesamten Un‐ tersuchungszeitraum eine Tendenz von ständisch-patriarchalen Einsprachen gegen minderjährige Familienangehörige hin zu wirtschaftlich motivierten Einsprachen gegen arme Gemeinde- und Korporationsangehörige beobachten. In Anbetracht dieser Entwicklung lässt sich folgende These aufstellen: In der Tendenz zeichnet sich dadurch im Berner Oberehegericht der Übergang von der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft, in deren Kontext patriarchale Ehrvorstellungen und Geburtsstand eine wichtige Rolle spielten, 194 hin zu einer Gesellschaft ab, in der sich die Stellung der Subjekte vor allem an voraussetzungsvollen ökonomischen oder eben besitzständischen Qualitäten ausrichtete. Während im Quellensample vor 1800 an erster Stelle Väter ihre minderjährigen Zöglinge an der Eheschließung zu hindern versuchten, waren es nun in einem ungleich höheren Maße die Gemeinden, die „wegen Zunahme ihrer Armen auf dem Zugrecht [bestanden]“. 195 Sie fürchteten den Verlust der kommunalen Ressourcen und trauten einem beachtlichen Teil ihrer Angehö‐ rigen die Haushaltsfinanzierung und das eigenständige ökonomische Überleben nicht zu. Zugrechtsklagen aus Gründen der patriarchalen Verwandtschafts- und 352 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 196 Dieser Befund deckt sich mit der kriminalhistorischen Feststellung von Joachim Eibach, der zeigt, dass sich „das alte kommunal-paternalistische Ordnungssystem“ aufgrund wachsender Armut bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer Krise befand, weswegen „sich bei dörflichen Eliten die Neigung verstärkte, die Obrigkeit um Unterstützung anzurufen“. Eibach, Gleichheit, 528. 197 StABE, B III 831, 264-267. 198 Diese Beobachtung lässt sich in eine allgemeine rechtliche Entwicklung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einordnen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die früh‐ neuzeitliche Normenvielfalt tendenziell zu Gunsten von abstrakten Rechtsgrundlagen aufgelöst. Härter, Kriminalitätsgeschichte, 40; Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 75- 76. 199 So zum Beispiel im Fall der begehrten Eheschließung der Verlobten Rudolf Ganzi von Zweisimmen und Susanna Escher aus Oberwil. Hier verlangte das Oberehegericht vom Chorgericht Oberwil „zu mehrerer Erläuterung der Gemeinde Zweysimmen ihre Weigerungsgründe, und eine bestimmte Rechnung mit Belegen, über die Besteurung […], und Uns dann samt der Antwort des Ganz und mehrern Bericht einzusenden“. StABE, B III 833, 48. Ehrpolitik wichen in den hier untersuchten Quellen tendenziell ökonomisch motivierten Eheeinsprachen der Gemeinden. 196 Im Zuge dieses Wandels wurden nach 1803 Beweismittel das zentrale for‐ male Moment im Vorgehen der Gemeinden und Korporationen gegen Ehe‐ schließungen von besteuerten Angehörigen. Das zeigen die Quellen eindeutig. Während Beweismaterial in den Rekursmanualen vor 1800 kaum Erwähnung gefunden und der Fokus der Protokolle auf dem Aushandlungsprozess gelegen hatte, wurden nun von den rechtlichen Vertretern der Gemeinden und Kor‐ porationen immer wieder „Belege“, „Beweisschriften [sic]“, „Zeugniße“ und „Rapport[e]“ vorgelegt und vom Gerichtsschreiber protokolliert. 197 Zugespitzt formuliert, verloren die multinormativen Argumente der Gemeinden und Kor‐ porationen gegenüber den mit Dokumenten bewiesenen und daher vermeintlich objektiven Fakten in den Verhandlungen deutlich an Gewicht. 198 Wo solche fehlten, wurden sie vom Gericht zum Teil gefordert und daher von den Oppo‐ nierenden, wenn immer möglich, nachgereicht. 199 Die einsprechenden Parteien legten diese vermeintlich selbstevidenten Dokumente vor, um die Besteuerung, das fehlende Vermögen oder die in ihren Augen ungenügenden Einkünfte aus der Erwerbsarbeit vor den Richtern zu objektivieren. Dabei fällt auf, dass die vorgelegten Auszüge aus den Armenbüchern meistens genaue Zahlen zu ausstehenden Steuerschulden der ehewilligen Männer enthalten mussten. Wäh‐ rend im Oberehegericht vor der Helvetischen Revolution in den allermeisten Gerichtsurkunden unspezifisch und sehr allgemein von Besteuerung die Rede gewesen war, nannten die Quellen nun häufig und letztlich mehrheitlich die exakten und zum Teil sehr unterschiedlichen Summen der Besteuerung, zum 353 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 200 StABE, B III 831, 158-161. 201 StABE, B III 835, 22-30. 202 Ebd., 248-251. 203 StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 46-49. 204 Diese Veränderung, die sich hier in den Quellen abzeichnete, ist im größeren Rahmen der Ausdifferenzierung des souveränen Staats und dessen Gewaltmonopol zu deuten, auf die Karl Härter hinweist. Die „Kodifizierung bzw. Verrechtlichung“, die der Kriminalitätshistoriker für das Strafrecht Deutschlands nach dem Ende des Reichs beobachtet, lässt sich auf die ehegerichtlichen Verhältnisse in Bern übertragen. Härter, Kriminalitätsgeschichte, zuerst 40, dann 33. 205 Obwohl das bürgerliche Zivilgesetzbuch in der Helvetischen Republik nie zur Vollen‐ dung kam, wurden im helvetischen Parlament aufklärerische Debatten über Rechtsre‐ formen geführt, wie man sie auch andernorts vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhun‐ derts in Europa vorfindet. Bei den Reformen sollte es in Bezug auf das Zivilgesetz vor allem darum gehen, richterliche Willkür zwecks Rechtsgleichheit und -sicherheit zu überwinden. Vlg. Böning, Traum, 221-222. In Bezug auf die Strafrechtsreformen unter der Helvetik spricht Ludi von einem „technizistische[n] Verständnis der Justiz“, das die Rechtssprechung „dem Einfluss von Verdauungsproblemen des Richters“ entziehen sollte. Ludi, Wiedergeburt, 180. Teil bis auf die Kommastelle: Die Gemeinde Wynigen verlangte 1804 zum Beispiel zwei Kronen und fünf Batzen vom verlobten Tobias Schrag. 200 Die ausstehenden Schulden von Jakob Schwiz wurden 1827 auf 400 Franken Steuern und Einzugsgeld für die Braut beziffert. 201 David Sunier wurde 1830 aufgefordert, zuerst 120 Franken für empfangene Unterstützungsgelder und Getreide sowie 18.80 Franken für erhaltene Hauszinsen an die Gemeinde Nodz zurückzuer‐ statten, bevor er Verena Haldi, geborene Kisling heiraten durfte. 202 1832 forderte die Gemeinde Walkringen 206.20 Livre von Christen Althaus, sollte dieser Anna Bauer heiraten wollen. 203 Die Reihe könnte problemlos erweitert werden. Die erwähnten Beispiele sind willkürlich aus dem Quellensample ausgewählt. Sie sollen lediglich demonstrieren, dass über den gesamten untersuchten nachhel‐ vetischen Zeitraum die genauen Steuerbeträge in den Urkunden festgehalten wurden. Da die untersuchten Quellen von einem obrigkeitlich besetzten beziehungs‐ weise ab 1831 vom Rat gewählten Gericht produziert wurden, deuten die angezeigten Entwicklungen im Quellenmaterial an, dass die Richter im Sinne einer Formalisierung des Rechtsanspruchs gewillt waren, die prekarisierten Ehebegehren zunehmend nach kategorisch angewandten abstrakten juristi‐ schen Grundsätzen und Verfahrensregeln zu beurteilen. 204 Durch die verän‐ derten Rechtssprechungsprinzipien, die eindeutig in Kontinuität zu juristischen Reformdebatten während der Helvetik standen, 205 begannen sich die zuvor kasuistischen Spielräume der zunehmend exklusiv auf ökonomischer Grundlage 354 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 206 In der Kriminalitätsgeschichte wurde schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass der frühneuzeitliche „Normenpluralismus“ bei den betroffenen Akteuren zwar „Unsicherheiten produzieren, ihnen aber auch Handlungsspielräume eröffnen konnte“. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 76. Hier kann man den umgekehrten Schluss anstellen: Die Abnahme der besagten rechtlichen Vielfalt führt für die Ehewilligen zu einer Einschränkung ihrer taktischen Möglichkeiten. Verhältnismäßig dazu verringerte sich auch die Multinormativität im Gericht unter gleichzeitiger tendenzieller Zunahme der Formalisierung der Urteile. Das heißt, der vormals „flexible [frühneuzeitliche, AH] Umgang mit Devianz“, wobei das Recht „als eine variable, diskursive Ressource [fun‐ gierte], die unterschiedliche Akteure für unterschiedliche Interessen und Funktionen nutzen konnten“, nahm ab. Härter, Kriminalitätsgeschichte, 42. Milos Vec ist zum Schluss gekommen, dass „das 19. Jahrhundert […] den vormodernen Sinn für diese Normativität [verlor]“, weil „die europäische Allianz von Absolutismus, Aufklärung und Naturrecht zerbrach“. Vec, Multinormativität, 161. 207 Darin entsprachen die Berner Eherichter „der modernen juristischen Perspektive“, die „‚Gerechtigkeit‘ […] mit einer umfassenden und systematischen Ausformulierung des Rechts sowie der grundsätzlichen Reform der Verfahrensweisen um 1800 [gleichsetzt]“, also unter Gerechtigkeit primär „Verfahrensgerechtigkeit“ versteht. Eibach, Iustitia, 177. Auf Aspekte der Standardisierung und Objektivität in verwalterischen Verfahrenszu‐ sammenhängen im werdenden technokratischen Staat hat für Großbritannien Patrick Joyce hingewiesen. Patrick Joyce, The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, New York 2013, 33-35. 208 In diesem Prozess lässt sich die Verfestigung der „Idee einer von den Machthabern unabhängigen, ihnen entgegengehaltenen Wahrheit und Gerechtigkeit“ erkennen, wie sie Niklas Luhmann beschrieben hat. Luhmann, Legitimation, 19-20. prekarisierten Taktiker im Feld der Eheschließung prinzipiell zu verengen. 206 Die Richter wendeten im Nachgang der Helvetik das kodifizierte Gesetz zu‐ nehmend kompromisslos, unterschiedslos und technokratisch an. 207 Damit sank der richterliche Ermessensspielraum, den das ständische Gnadenprinzip den paternalistischen Richtern unter dem Ancien Régime gewährt und der landesväterliche Güte zugelassen hatte. Wenn das Gericht auf der Grundlage von Beweismitteln urteilte, fällte es seine Entscheidungen auf vermeintlich objektiven verfahrensrechtlichen Grundlagen. Die Richter konnten aufgrund der angewendeten Rechtsgrundsätze immer weniger Gnade walten lassen, bis sie schließlich nach 1831 auch keine ‚gnädigen Herren von Bern‘ mehr waren, sondern gewählte Amtsrichter in den Diensten des werdenden bürgerlichen ‚Staats‘. 208 Darin manifestiert sich jene säkulare Entwicklung, im Zuge derer sich aufgeklärt-bürgerliches Recht in Abgrenzung zu geburtsständischer Gnade zu definieren begann. Während das Gnadenprinzip ein konstitutives Element der frühneuzeitlichen Rechtsprechung der Ständegesellschaft gewesen war, mit dem auch die Ehe verwaltet wurde, wurde es in der entstehenden bürgerli‐ 355 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 209 Zur Funktion der Gnade in frühneuzeitlichen Strafverfahren und dem modernen Wahrnehmungswandel davon vgl. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 93-94; Eibach, Iustitia, 185-187. 210 Zum Übergang von ständischen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit zu universalen Gleichheitsforderungen des emanzipierten Bürgertums vgl. die Überle‐ gungen von Eibach, Gleichheit, 488-490. 211 Daniel Schläppi spricht in Bezug auf die Genese frühneuzeitlicher Staatlichkeit „nach Muster der alten Eidgenossenschaft“ in Anlehnung an Gunnar Folke Schuppert von einer Koproduktion. Er charakterisiert damit den frühneuzeitlichen „Staat als Mixtur von kommunalen, korporativen und zentralen Institutionen unter aristokratischer Ägide“. Im hier untersuchten Zeitraum, so die These, verlagerten sich die Mischungs‐ verhältnisse eindeutig zu Gunsten bürokratischer, zentralstaatlicher Normen. Schläppi, Management, 50-51. 212 StABE, B III 831, 264-267. 213 Ebd. chen Moderne zunehmend als „anachronistisches Willkürelement“ betrachtet. 209 Damit verbunden zeichnete sich auch ein ständeübergreifender Gleichheitsbe‐ griff im Oberehegericht und noch stärker akzentuiert im Amtsgericht ab, der die Helvetische Republik und ihre juristischen Reformdebatten anscheinend überdauerte. Denn der ‚Fakt‘ der Besteuerung, fortan das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung prekärer Ehebegehren, machte zumindest im Grundsatz keinen Unterschied zwischen dem burgerlichen Angehörigen einer städtischen Korporation und dem unehelichen landlosen Tagelöhner auf der Berner Landschaft. 210 Zugleich gingen damit die Offenheit und Gemeinschaft‐ lichkeit des Aushandlungsprozesses um die Eheschließung zwischen Ehewil‐ ligen, Gemeinden und Korporationen sowie zentralen Institutionen zurück und wichen einem stärker bürokratisierten Vorgang. Die vormals multinormative „Koproduktion“ der Eheschließung nahm tendenziell auf Kosten einer obrig‐ keitlich, quasi staatlich monopolisierten Bestimmung ab. 211 Ein prekäres Ehebegehren, das sich bereits 1805, also früh im hier unter‐ suchten Zeitraum, ereignete und die eben beschriebenen Zusammenhänge zwi‐ schen ökonomischer Fokussierung, Beweismaterial und Handlungsspielräumen von AkteurInnen, Gemeinden und Gericht exemplarisch umreißt, war jenes des Witwers Joseph Frauchiger aus Eriswil und seiner Verlobten Barbara Sparr. Der Gemeindevertreter prekarisierte die Eheschließung mit dem gesamten Repertoire an bekannten Argumenten. Er attackierte den Ehewilligen „vorzüg‐ lich“ aufgrund seines hohen Alters, seines Körperzustands, seiner illegitimen sexuellen Vergangenheit und seines Besitzstands. 212 Und auch die Vermögens‐ verhältnisse und den „Ruf der Braut“, der maßgeblich auf der Grundlage ihres Sexualverhaltens angekratzt schien, zog er in Zweifel: 213 356 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd. „Frauchiger [sey] 70. Jahr alt, mit einem Leibschaden behaftet, mit einem unehelichen Kinde beladen, und wegen Unvermöglichkeit, sowohl unmittelbar (durch Hauszinse) als mittelbar, unterstüzt worden, und 2. auch die Sparr eben so übelmögend […].“ 214 Hier wurden vom Opponenten die Motive, Sinn und Zweck, die ökonomischen Grundlagen und die moralische Integrität der begehrten Eheschließung funda‐ mental und in traditioneller Weise in Frage gestellt. Wirtschaftliche Zweifel, die beim körperlichen Zustand und Besitz des Mannes ansetzten, traten in der Argumentation des Gemeindevertreters neben moralische Bedenken, die sich wiederum aus dem Alter und der sexuellen Vorgeschichte des Ehewilligen ergaben. Dieses vielfältige, aber wenig spezifische Argumentarium versuchte den Ehewilligen in seiner ganzen Existenz zu prekarisieren und zeugte so gewissermaßen von der Kontinuität der frühneuzeitlichen Multinormativität in den Gemeinden. Doch die Brautleute vermochten an ihrem prekarisierten Ehevorhaben vorerst festzuhalten. Das gelang ihnen nicht etwa, weil sie haus‐ haltsökonomisch argumentierend „behaupteten: daß eben das gegenseitige Be‐ dürfniß und Hilfleistung sie schon mehrern Jahren zusammengebracht, und ihr Fortkommen gesichert habe“ und dadurch die Ehe als notwendige Versorgungs‐ institution darstellen konnten. 215 Sie waren nur deswegen zwischenzeitlich erfolgreich, weil sie die Besteuerung schlicht leugneten und der Gemeindever‐ treter beim Gerichtstermin die nötigen Unterlagen zu deren Beweis - Auszüge aus der Armenrechnung der Gemeinde - nicht vorlegen konnte. Doch nachdem die Gemeinde die vom Gericht geforderten Unterlagen innerhalb der vierzehn‐ tägigen Frist nachgereicht hatte, gestattete dieses den Ehezug ohne zusätzlichen Gerichtstermin und weitere Diskussionen „einmüthig“ und gnadenlos. 216 Die Gemeinden waren nach dem kurzen aber nachhaltig wirksamen hel‐ vetischen Intermezzo an die ihnen scheinbar unbekannte universalistische Rechtsprechung und Systematik des Ehegerichts selbst noch nicht gewohnt und von der Beweislast zum Teil wohl überfordert oder überrumpelt. Dies lässt sich nicht nur am eben ausgeführten Beispiel aufzeigen. Der Fall der Witwe Barbara Zuber, geborene Schneider, von Affoltern im Emmental und des Johannes Zweyacher von Jegenstorf aus dem Jahr 1806 dokumentiert ebenfalls, dass sich die einsetzbaren Ressourcen, verwendbaren Kapitalsorten und die Möglichkeiten der multinormativen Taktik in Anbetracht der systematischen Rechtsanwendung nicht nur für Ehewillige drastisch verengten. Auch die op‐ ponierenden Parteien waren zum Nachweis ihrer Vorwürfe gezwungen, wenn 357 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 217 Diese Entwicklung ist als Ausdruck „der Vereinheitlichungstendenz strafrechtlicher Normen“ zu interpretieren, die Gerd Schwerhoff beschreibt, und allmählich jenen „Normenpluralismus“, der in den Verhandlungen des Ancien Régimes zu vernehmen gewesen ist und den verschiedenen Akteuren „Handlungsspielräume eröffnen konnte“, ablöste. Daraus folgte auch eine tendenziell universalistische Rechtsanwendung, die den großen Spielraum der obrigkeitlichen Gnade drastisch reduzierte und den Rechts‐ anspruch der Gesetze massiv vergrößerte. Schwerhoff, Kriminalitätsforschung, 76; vgl. auch Härter, Kriminalitätsgeschichte, 40. 218 StABE, B III 831, 333-335. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd., 352-355. 222 Ebd., 333-335. sie vor Gericht erfolgreich sein wollten. Damit erhielten auch ihre vielfältigen Taktiken weniger Verhandlungsspielraum gegenüber dem Oberehegericht, das auf diese Weise in zunehmenden Maße Macht monopolisierte. 217 Im konkreten Fall musste ein Vertreter der Gemeinde Jegenstorf auf das hartnäckige Ansuchen der Witwe Zuber hin „nochmals [vor Gericht] erscheinen“. 218 Offenbar hatte es im Vorfeld dieses Gerichtstermins bereits Verhandlungen vor dem Oberehe‐ gericht gegeben, die zunächst zu Ungunsten der Brautleute ausgefallen waren. Der Gemeindevertreter konnte in der neuerlichen Verhandlung der Eheangele‐ genheit jedoch kein rechtsgültiges Beweismaterial vorlegen. Er besaß lediglich ein schriftliches Bekenntnis des bei der Verhandlung abwesenden Verlobten über die Besteuerung seines Vaters und seiner Geschwister. Der Abgeordnete der Gemeinde „blieb über dieß bey der Behauptung, daß er [der Verlobte, AH] Mangels an einem Beruf, unfähig sey, sich selbst durch zu bringen.“ 219 Den Richtern reichte weder das vermeintliche Bekenntnis noch die Behauptung aus, um dem Begehren der Gemeinde folgen zu können. Sie entschieden daher ebenso „einmüthig“ und gnadenlos wie im zuvor beschriebenen Fall, diesmal jedoch gegen die Gemeinde und zu Gunsten der Ehebegehrenden. 220 Die Quellen zeigen aber auch, dass die Gemeinden und Korporationen schnell dazulernten. Sie „legten“ immer konsequenter „Zeugniße ins Recht“. 221 In der Folge drehten sich die allermeisten Verhandlungen im Oberehegericht ausschließlich um die Frage: Wieviel und wofür hatte der jeweilige Mann Unterstützungsleistungen von der Gemeinde oder der Korporation erhalten? Waren die erhaltenen Leistungen als Armensteuern zu bewerten und daher urteilsrelevant oder waren die Unterstützungen anders zu charakterisieren und daher irrelevant für die Eheschließung? Waren sie ausreichend bewiesen? Oder war vom Gericht „die zum Ehezug erforderliche Besteurung [sic] keineswegs hinreichend und bewiesen gefunden“? 222 Fehlten also Beweismittel oder war die „Beweisart […] unzuläßig“, weil Zeugen, Unterschriften und Vollmachten 358 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 223 Ebd., 322-324. 224 Ebd., 239-243; Ludi, Kriminalität, 122. Dieser Befund schließt sich an die Beobachtungen von Regula Ludi an, wobei „Unterschichtsfrauen“ in Bern im 19. Jahrhundert „die ihnen anhaftende Ehrlosigkeit gar nicht erst unter Beweise stellen [mussten]“, sondern die Gerichtsbehörden „den Mangel an weiblichem Ehrgefühl voraus[setzten]“. 225 StABE, B III 831, 239-243. 226 StABE, B III 835, 248-251. 227 Ebd., 92-98. fehlten? 223 In welchem Umfang waren die Steuern bewiesenermaßen bereits zurückbezahlt worden? Zwar erhielten die Gemeinden den Rekursmanualen zufolge in den Verhandlungen bis 1831 nach wie vor die Plattform, um mora‐ lisierend zu argumentierten - was sie auch taten. Dabei war die ehewillige Frau in den Augen der Gemeinde des Mannes dem Armutsdiskurs entsprechend idealtypisch „eine schlechte Person“ von „schlechten Rufs und Mittellosigkeit“ mit einem oder mehreren unehelichen Kindern. 224 Der Mann erschien dement‐ sprechend „besteuert“, hatte seine „Mittel aufgezehrt“ und musste daher „dem Bettel nachziehen“ oder ähnlich. 225 Die Gemeinden zeugten damit von einer beständigen lokalen moralischen Ökonomie, die sich im 19. Jahrhundert zwar mit den Kategorien des Armutsdiskurses der Obereherichter überschnitt, sich jedoch in wachsender Diskrepanz zur nüchternen Gesetzestreue der ehegericht‐ lichen Instanz befand. Somit büßten diese moralisierenden und multinormativen Argumente ihre Relevanz für den Verhandlungsausgang vor dem zuständigen Ehegericht zunehmend ein, beziehungsweise reichte es aus, die Armut mit Belegen beweisen zu können, um die prekären Eheschließungen zu verhindern. Und so sprach zum Beispiel die Gemeinde Nodz 1830 „nicht nur wegen Alters, Gebrechlichkeit und Trägheit des Sunier, und weil die verwitwete Haldi schon ein uneheliches Kind habe“ gegen die Ehe des besagten ein, „sondern vorzüglich wegen Besteurung des Sunier“. 226 Die in der kommunalen Ressourcenlogik prekären Umstände, die den Körper, den Geist und die Sexualität der Ehebegehr‐ enden betrafen, wurden von den Gemeindevertretern nach wie vor ausgeführt. Der Fokus im Oberehegericht lag aber jetzt ‚vorzüglich‘ auf der bewiesenen Besteuerung und somit eindeutig auf den ökonomischen Verhältnissen des Mannes. Die Richter konnten aufgrund der neuen juristischen Grundsätze selbst nicht in jedem Urteil ihren persönlichen Moralvorstellungen und Über‐ zeugungen folgen, wie sie es eigentlich wollten: „Obgleich in manchen Fällen […] den Heirathen von besteuerten wohlthätig enge‐ gengewirkt werde, so seyen doch die Gemeinden gegen Mehrjärige eigenen Rechtens einzig zum Steuereinspruche gesezlich befugt und nur so lange als kein Ersaz geleistet sey.“ 227 359 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 228 Ebd., 25. 229 In diesem Fall waren die moralischen Bedenken der Heimatgemeinde des Mannes besonders groß. Dem Paar wurde von der Gemeinde Ehebruch nachgesagt. Es war die Rede von „wiederholter Unzucht“ zwischen den beiden und daraus resultierenden Zuchthausstrafen; ebd., 22-30. 230 StABE, B III 833, 483. 231 Ebd. 232 Ebd. Die Richter standen also zum Teil durchaus in moralischer Spannung zu den von ihnen strikt angewandten verfahrensrechtlichen Grundsätzen, die die „proze‐ dürliche Bescheinigung“ der effektiven Besteuerung verlangte. 228 Doch „[f]erner können beiderseitige üble Leumden und Bestrafungen hier nicht berücksichtiget werden“, so die Richter zum Beispiel im Fall zwischen der Gemeinde Rüdligen und den verlobten Jakob Schwiz und Anna Maria Rudolf, geborene Hulliger. 229 An der Beweislast änderte sich auch nichts, wenn die Einsprechenden die ‚edllen‘ Gesellschaftsmitglieder zu Mittellöwen in Allianz mit der burgerlichen Familie waren. So fanden auch die Obereherichter selbst ihre Ehebewilligung für Gabriel Rudolf May und Lisabeth Kummer aus moralischen Erwägungen „aller‐ dings bedauernswerth“. 230 Wie die Korporation und die Familienangehörigen des Mannes waren auch sie der Überzeugung, dass die Eheschließung „nicht zu seinem Vortheil ausfalle[n]“ werde. 231 Doch weder der von der Gesellschaft gewährte „Vorschuß“, noch die von der Familie „gereichte Unterstüzung“ fielen „unter die Kathegorie der vom Gesez erwähnten Gemeindsbesteurungen“, sondern hatten „die Natur eines eigentlichen Darlehns“. 232 Wenn man in Erwägung zieht, wie sich die Eherichter 1821 in ihrem Bericht über das neue Paternitätsgesetz an die Räte zu Armut, Illegitimität und Eheschließung äußerten, könnte man zu behaupten wagen, dass sie den moralischen Einschätzungen der Gemeinden, Korporationen und Familien der prekarisierten Ehepaare in den meisten Fällen durchaus und nach wie vor folgten. Wenn allerdings trotz schlechter wirtschaftlicher Aussichten und Zukunftsperspektiven keine Besteuerung des Ehewilligen vorlag oder bewiesen werden konnte, urteilten die Richter trotzdem nicht mehr in geburtsständischer Eigenmacht und den Opponierenden gegenüber gnädig, sondern gesetzestreu. Dadurch verschwand auch die Diskussion bezüglich der Sexualmoral nach 1800 immer stärker aus den Verhandlungen des Oberehegerichts. Sie verlagerte sich allmählich von der Ehegerichtsbarkeit in die Strafjustiz. So nahm die Zahl der registrierten Sexualdelikte besonders während der Regenerationszeit (1830/ 31-1848) zu, weil „die Behörden die Kontrolle des sexuellen Verhaltens der Unterschicht“ intensivierten „und vermehrt all jene Formen der Sexualität, 360 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 233 Ludi, Kriminalität, 121. 234 Ebd. 235 Zur „Erosion der ständischen Ehrvorstellungen“ vgl. Martin Dinges, Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik am Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), 409-440, 409-411. 236 StABE, B III 831, 352-355. 237 Ebd. 238 Ebd. die nicht der bürgerlichen Moral entsprachen[,] [kriminalisierten]“. 233 Das heißt, der „frühe bürgerliche Staat benutzte [primär, AH] die Polizei und die Strafjustiz, um die volkstümlichen sexuellen Normen zu bekämpfen und zu unterdrücken“ und weniger die ehegerichtliche Instanz, die mit den besagten Normen unter dem Ancien Régime durchaus gnädig und daher vielfältiger umgehen konnte. 234 Der Relevanzverlust moralischer Kategorien vor der verantwortlichen ehe‐ gerichtlichen Institution lässt sich am prekarisierten Ehebegehren des verwit‐ weten Schuhmachers Johannes Niggler und der Witwe Anna Elisabeth Scheurer, geborene Beutigkofer, verdeutlichen. Ansatzweise deutet er auf einen gesell‐ schaftlichen Übergang hin - weg von einer Ehrgesellschaft, in der moralisches Kapital eine große Rolle spielte, hin zu einer ökonomisierten Gesellschaft, in der Geld und materieller Besitz andere Kapitalsorten allmählich verdrängten und obsolet machten. 235 Am 16. Februar 1807 beklagten zwei Abgeordnete der Ge‐ meinde Dozigen vor Gericht die hausväterlichen Fähigkeiten des verwitweten Schumachers Johannes Niggler in moralisierender Weise. Sie griffen dabei die Ehre des Schumachers frontal an. Sie warfen ihm vor, seine Kinder aus erster Ehe „schlecht erzogen, dadurch ihr Unglük veranlaßt […] [zu] haben“. 236 In der Argumentation der Gemeindevertreter hatte die schlechte Kindererziehung außerdem dazu geführt, dass die Tochter der Gemeinde ihrerseits mit einem unehelichen Kind zur Last gefallen war. Darin manifestierten sich Vorstellungen von erblicher Armut und Sittenlosigkeit. Daneben konnten die Abgeordneten der Gemeinde bezeugen, dass der Angeklagte in der Vergangenheit „einige Steuren, besonders für Hauszins und seine verstorbene Frau“ und auch schon Spenden erhalten hatte. 237 Niggler entpuppte sich allerdings als ausgesprochen cleverer Taktiker. Der Gerichtsschreiber notierte in der Urteilsurkunde: „Gegen dieses aber vertheidigte sich der Niggeler, daß er sich an dem bestehenden Geseze halte, welches den Ehezug nur gegen diejenigen gestatte, die das Allmosen wirklich und zwar von ihrer Gemeinde empfangen; daß die ehemalige Spend oder Stiftung […] nicht als soche anzusehen sey; daß seine kleinen Steuern nur bis 1801. wärend der Krankheit seiner Frau gedauert, und endlich daß er von niemanden die Bezahlung seines lezten Hauszinses verlangt habe.“ 238 361 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 239 Ebd. 240 Hofer, Zivilrecht, 103. Der Schuhmacher war fähig, die noch jungen juristischen Grundsätze des Ge‐ richts in seiner Argumentation zu adaptieren und zu seinen Gunsten zu nutzen. Es gelang ihm mit quasi juristischer Spitzfindigkeit die Mehrheit der Richter zu überzeugen, dass die erhaltenen Unterstützungen nicht den gesetzlichen Bestimmungen der direkten Besteuerung entsprachen. Damit hielt er sich mit seiner eigensinnigen Eheschließung an geschriebenes Gesetz, während ihm die Gemeinde wortwörtlich ein schlechtes Zeugnis als Hausvater ausstellte. Dieses Zeugnis von schlechter Moral und Ehrverlust war aber bei der Beurteilung dieses Falls nur noch für die Minderheit der Richter von Bedeutung. Die Gerichtsmehrheit begnügte sich aus Gesetzestreue damit, dass zumindest die urteilsrelevante „Nichtbesteuerung des Niggeler“ bewiesen war, auch wenn dieser offenbar indirekte Steuern für seine Kinder erhalten hatte. 239 Das Paar hatte mit dem Zeitpunkt der Verhandlung allerdings großes Glück. Denn im selben Jahr wurde am 22. Dezember die bereits oben erwähnte Armengesetz‐ gebung verschärft. Diese hatte maßgebliche Auswirkungen auf das Recht der Eheschließung und schloss potenziell noch größere Teile der Bevölkerung davon aus. Durch die Gesetzesänderung wurde das Zugrecht der Gemeinden ausgeweitet und konnte nun auch angewendet werden, falls die Heiratswilligen indirekt Steuern, also Unterstützung für ihre noch minderjährigen Kinder erhielten oder erhalten hatten. Erst wenn diese Steuern zurückbezahlt waren, durften die Betroffenen ohne Einwilligung ihrer Gemeinde oder Korporation heiraten. Die Verengung des Handlungsspielraums der Prekarier zeigte sich nach der Einführung des Amtsgerichts in intensiviertem Maße. Das hing unter anderem mit der allgemein zunehmenden Professionalisierung des Berner Justizwesens zusammen. Mit der Einführung des Grundsatzes der Gewaltenteilung durch die Verfassung von 1831 hielt auch ein Gerichtspräsident in das Berner Amtsgericht Einzug, dessen Wählbarkeit an den Nachweis der Rechtskunde gebunden war. 240 Diese Entwicklung lässt sich wiederum an der Quelle ablesen. So treten in den Urkunden im Konsistorialmanual seit 1831 noch seltener sexuell entehrende oder moralisierende Formulierungen auf. Sie wirken noch stärker auf das zeitgenössisch Wesentliche zentriert. Die gesetzlich bewiesene Armut allein reichte aus, um die ehewilligen AkteurInnen vom meritokratischen Institut der Ehe auszuschließen. Damit nahmen nicht nur die erzählerischen Qualitäten der Urkunden im Vergleich zu der Zeit vor 1831 noch einmal ab, die Quelle wurde auch formal anders gestaltet. In den Rekursurkunden des Oberehegerichts war 362 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 241 StABE, B III 833, 462; allgemein war die Berner Regierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht, langwierige Rechtsverfahren zu vereinfachen und die Prozesse zu verkürzen. Sibylle Hofer, Zivilgerichtsbarkeit, in: Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, hrsg. v. Peter Martig, Bern 2011, 102-103, 103. 242 StABE, B III 831, 421-428. 243 StABE, B III 835, 92-98. nach der Vorstellung der anwesenden Parteien eine vergleichsweise ausführ‐ liche Erläuterung der Rechtsfrage gefolgt. Dann wurden vom Gerichtsschreiber die summarisch protokollierten Aussagen und Argumente der KlägerInnen und AntworterInnen wiedergegeben. In die Verhandlung eingebrachte Beweismittel waren von ihm in den Fließtext des Protokolls eingebettet worden. Schon im Oberehegericht versuchten die Verantwortlichen „Weitläufigkeiten“ in den Verhandlungen und im Verfahren zu vermeiden und somit Spielräume zu reduzieren. 241 Während vor 1800 selten explizit Bezug auf ein konkretes Gesetz genommen worden war, zitierten die Urkunden im nachhelvetischen Zeitraum immer durchgängiger den urteilsrelevanten Gesetzesartikel. In den Konsis‐ torialmanualen wurde dann noch stärker versucht, verfahrenstechnisch Aus‐ schweifungen einzudämmen. Vorgelegte Beweismittel, Belege und Urkunden wurden nun in einer durchnummerierten Auflistung präsentiert. Diese auf das Beweismaterial fokussierenden nüchternen Aufzählungen zeigten in aller Deutlichkeit, was Gegenstand der ehegerichtlichen Verhandlungen war: die als Fakten anerkannten, rechtsgültigen Beweis- und Belegmittel, die das Ausmaß der Besteuerung bezifferten. Zudem kam es auch schon im Oberehegericht vor, dass gar nicht über den eigentlichen Gegenstand, die Eheschließung, verhandelt wurde, sondern über die Verfahrensmäßigkeit der Verhandlung an sich. Richter, Kläger und Verteidiger achteten jetzt darauf, ob „auch die Prozedur […] behörig eingerichtet“ war. 242 Wenn dem Vogt eines Ehewilligen, dem Abgeordneten einer Gesellschaft oder einer Gemeinde die notariell beglaubigte Vollmacht zum Einspruch fehlte, wurde zu Gunsten der Ehewilligen entschieden: „Der Beleg zum Einspruche sey heudte bey der Hand um […] geprüft und anerkannt oder bestritten zu werden […] und auf Weiteres könne also keine Rüksicht genommen werden, da unter diesen Umständen das Gesez Uns ungesäumte Beurtheilung des Einspruchs am heutigen Tage selbst vorschreibe,“ so die Obereherichter 1828 in einem Gerichtsurteil gegen die Gesellschaft zu Mittellöwen. 243 Die Korporation befand sich in einem noch nicht abgeschlos‐ senen Bevogtungsverfahren mit ihrem Mitglied Emanuel Rudolf von Jenner, der sich mit Elisabeth Müller verlobt hatte. Aufgrund des noch hängigen Bevogtungsverfahrens waren die entsprechenden Dokumente, mit denen die 363 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 244 StABE, Bez Bern B 2755, 703. 245 Ebd., 704. 246 Ebd. 247 Ebd., 704-705. Eheschließung eventuell hätte aufgehalten werden können, nicht vorhanden. In Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens spielte es nicht einmal eine Rolle, wie gravierend die vorgebrachten Bedenken der Opponierenden gegen die prekäre Eheschließung waren. So konnte der Vogt Niklaus Jucker seinem gleichnamigen Mündel zwar in der Verhandlung am 6. August 1847 vorwerfen, dieser sei „einem solchen übermäßigen Trunke ergebe[n], daß er wüthe“. 244 Er würde deswegen „z.B. Schießen im Zimmer, und ganze Nächte hindurch Brüllen, was auf Verlangen bewiesen werden könne“. 245 Dagegen brachten „die Brautleute“ - und nicht etwa ein Rechtsvertreter - an, „Niklaus Jucker sei schuldig, sich durch eine Authorisation der Vormundschaftsbehörde auf heute zu legitimieren“. 246 Weil „aber eine solche Ermächtigung nicht vorliegt“, so die Richter, wurde der eigenmächtige Vogt mit seinem Einspruch unter Kostenfolge abgewiesen. 247 Niklaus und Anna Jucker wurde hingegen die Heiratserlaubnis erteilt. Trotz der zunehmenden Formalisierung und ökonomistischen Zuspitzung der Prozesse auf die bewiesene Armut, die arme Ehewillige ohne Unterstützung und juristisches Wissen in zunehmendem Maße benachteiligte, forderten diese ihre Eheschließungen weiterhin beharrlich und, wie schon gesehen, zum Teil erfolgreich ein. Dabei verwendeten sie sowohl altbekannte Taktiken, die bereits aus den Ausführungen zum Ancien Régime bekannt sind, als auch neue Res‐ sourcen. Ein Akteur, der alte und neue Ressourcen kombinierte, mit seinem Ehebegehren zunächst zweimal gescheitert war, letztendlich aber zu seiner mit Anna Schneider von Schlosswyl begehrten Eheschließung kam, war der unehelich geborene Johannes Grunder von Vechigen, der in der benachbarten Gemeinde Krauchthal wohnte. An diesem Fall soll exemplarisch besprochen werden, welcher taktische Ressourceneinsatz im hier untersuchten Zeitraum erfolglos blieb und mit welcher Taktik die AkteurInnen reüssieren konnten. Dieser Fall deckt die zentralen Taktiken, die von den Ehewilligen zur Aneignung der Eheschließung verwendet wurden, in drei Etappen auf. Grunder und Schneider wurden im Oktober 1845 zum ersten Mal wegen des Einspruchs der Gemeinde Vechigen gegen ihre Eheschließung von dem Berner Amtsgericht vorgeladen. Auf der Seite der Opponierenden traten der Gemeindepräsident höchstpersönlich und ein von der Gemeindeversammlung Bevollmächtigter auf. „[A]uf Anfrage, was die Partheien desfalls noch anzubringen haben,“ fingen die beiden nicht etwa an zu argumentieren, sondern es „wurde für die […] Gemeinde 364 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 248 Ebd., 223. 249 Ebd., 224. 250 Ebd. 251 Ebd. 252 Ebd., 574. […] dem Gerichte vorgelegt: 1. Auszug aus den Armen-Rechnungen […].“ 248 Der vorgelegten Rechnung zufolge schuldete der Verlobte seiner Heimatgemeinde 157 Kronen 24 Batzen und 24 Kreuzer. Diese Schulden hatten sich zwischen 1792 und 1833 angehäuft. Wofür die Schulden gemacht worden waren, wurde im Konsistorialmanual nicht erörtert und schien auch in keiner Weise relevant. Klar war, dass die Gemeinde die geschuldete Summe Steuergeld „nach Satz[ung] 36. des Personenrechts“ zurückforderte, bevor sie die Zustimmung zur Eheschlie‐ ßung erteilen würde. 249 Schemenhaft wurden Steuersumme und Gesetzesartikel als selbstsprechende Argumente gegen die Eheschließung aufgeführt. Dagegen trat Grunder mit einer Argumentation auf, die in vielen der untersuchten Verhandlungen im nachhelvetischen Zeitraum anzutreffen und bereits aus dem Ancien Régime bekannt ist. Er gab zwar zu, von der Gemeinde seit seinem 18. Lebensjahr besteuert worden zu sein. Dagegen bestritt er aber, „daß er ganz außer Stande sei, eine Familie zu erhalten, […] indem er gesund, und daher auch arbeitsfähig, somit im Stande sei, eine Familie zu ernähren“. 250 Während körper‐ liche Gesundheit und Arbeitsfähigkeit in der gerichtlichen Multinormativität des Ancien Régimes noch potenzielle Ressourcen dargestellt hatten, urteilte das Amtsgericht rein gesetzlich und folgte dem kommunalen Beweismaterial. Der Einspruch war „begründet“, so die lapidare Formulierung des Gerichts‐ schreibers, womit ‚gesetzlich abgestützt‘ gemeint war. 251 Johannes Grunder und Anna Schneider ließen sich aber weder von der Gemeinde noch vom Gericht derart abspeisen und blieben hartnäckig. Am 22. Januar 1847, also rund 14 Monate später, traten die beiden Ehewilligen erneut vor dem Amtsgericht in Bern auf. Bezeichnenderweise taten sie das nun mit einem Rechtsagenten, also einer juristisch ausgebildeten Person. Eine Vertretung von Vechigen erschien, trotz Vorladung des Gerichts, nicht. Grunder gab erneut zu, von seiner Bur‐ gergemeinde besteuert worden zu sein. Zugleich brachte er aber vor, dass er vergeblich versucht hätte, der Gemeinde jene Summe zurückzubezahlen, die er seit seiner Volljährigkeit erhalten hatte. Seine Gemeinde hätte die Annahme des Geldes verweigert. Deswegen hatte er, wie viele andere AkteurInnen auch, den in seinen Augen schuldigen Betrag von 25.40 Livre „hinter den Richter gelegt, und dadurch seine Verpflichtung vollständig erfüllt“. 252 Der hinterlegte Betrag entsprach umgerechnet 9.76 Kronen und somit lediglich rund 6 % der mehr als 157 Kronen, die die Gemeinde dem Gericht beim ersten Termin als Besteuerung 365 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 253 Ebd., 575. 254 Ebd. 255 Ebd., 611-613. 256 StABE, Bez Bern B 2748 Band 1, 198-199. angegeben hatte. Das verfahrenstreue Gericht sah das allerdings wiederum anders. Zwar hätte Grunder „die Deposition der L[ivre] 25.40 bewiesen“. 253 Weil er aber „über sein Alter keinerlei Bescheinigung vorgelegt hat[te]“, wurde die Hinterlegung des Geldbetrags als „Schutzbehauptung“, also Vorwand beurteilt, um möglichst rasch und günstig heiraten zu können. 254 Das Paar war deswegen genötigt, im März 1847 ein drittes Mal vor den Amtsrichtern von Bern aufzu‐ treten, um zu seiner Eheschließung zu kommen. Die Gemeinde Vechigen blieb bei ihren Gründen und Zweifeln: Einerseits hätte Grunder die von der Gemeinde erhaltene Steuersumme noch nicht ersetzt, andererseits wäre er nach wie vor nicht in der Lage, eine Familie zu erhalten. Doch nun war Johannes Grunder mit einer Taufurkunde der Kirchgemeinde Vechigen ausgestattet. Damit belegte er sein Alter und konnte deswegen beweisen, dass lediglich 25.40 Livre der Steuerschulden nach Vollendung seines 17. Lebensjahres angefallen waren. Jetzt besannen sich die Richter auf die 148. Satzung des Zivilgesetzbuchs. Der zufolge waren die Eltern bis zum 18. Lebensjahr ihrer Kinder für deren Unterhalt und Erziehungskosten verantwortlich. Die Unterstützungsleistungen der Gemeinde, die Grunder vor seinem 18. Geburtstag erhalten hatte, wurden in den Augen der Richter nicht an ihn, sondern an seine Eltern geleistet. Der von Grunder hinterlegte Betrag war deswegen bewiesenermaßen ausreichend. Somit erschien der Eheeinspruch der Gemeinde jetzt „unbegründet“ und die Verlobten erhielten die Heiratserlaubnis. 255 Am Fall von Johannes Grunder und Anna Schneider lassen sich die wesent‐ lichen Faktoren prekärer Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum be‐ nennen: Es ging nicht mehr um die Verhandlung ehelicher Moralvorstellungen, sondern um die strikte Befolgung ökonomischer Vorgaben. Es spielte keine Rolle mehr, inwiefern das gehinderte Paar das Gericht von seiner Fähigkeit der Haushaltsführung überzeugen konnte. Es machte aber in den hier untersuchten Verhandlungen auch keinen Unterschied mehr, wie sehr die Gemeinden und Korporationen die moralische Integrität der involvierten Männer und Frauen in Frage stellten. Wer besteuert war, egal wie hoch, konnte von den Gemeinden und Korporationen von der Ehe ausgeschlossen werden. Wer es nicht (mehr) war, durfte im Umkehrschluss ungeachtet kommunaler und korporativer mo‐ ralischer Bedenken heiraten. In den nachhelvetischen Gerichtsverhandlungen ging es „nicht um das wie viel“ der geschuldeten Steuersumme, so die Formu‐ lierung des Gerichtsschreibers. 256 Die einzige Frage, die die Eherichter noch 366 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 257 Vgl. Regula Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750-1850. Dissertation an der Universität Bern 1997, Tübingen 1999, 555. Sie spricht in Bezug auf die Entwicklung der Kriminalpolitik zwischen 1750 und 1850, also demselben Untersuchungszeitraum, von einer „moralischen Neutralisierung“ der gerichtlichen Praxis. Sie beobachtet damit dasselbe Phänomen, das hier festgestellt werden konnte: „Die Vergegenständlichung, die gepriesene Versachlichung“ immuni‐ siert das Gericht gegen den „Einfluss kontingenter menschlicher Leidenschaften“. „Die technische Auffassung von Recht, Justiz und Strafe erhebt sie [die Gerechtigkeit, AH] scheinbar über die kontingente Sphäre der menschlichen Unberechenbarkeit und schafft eine technische Transzendenz, die sich gegenüber ethischen Bedenken weitgehend zu immunisieren vermag.“ interessierte, war, ob der ehewillige Mann der Gemeinde oder Korporation noch Geld schuldete oder nicht. Diese Frage wurde vom Gericht ausschließlich und nüchtern anhand vorhandener Beweismittel geklärt. Daran lassen sich die Taktiken gegenüber der zunehmend autonomen und immunisierten ökono‐ mistischen Fokussierung auf monetarisierten Besitz und die formaljuristische Verengung der Verhandlung auf Beweismittel aufzeigen, die in praktisch allen aus diesem Zeitraum untersuchten Fällen festzustellen ist. 257 2.3.3 Emotionslose Urkunden In Anbetracht der Abnahme der Spielräume für die Taktiken der nach wie vor eigensinnigen AkteurInnen konnte beobachtet werden, dass die Gemeinden und Korporationen nach der Helvetik nach wie vor mit moralisierendem Impetus auftraten. Ihre Darstellungen der mittellosen Männer und sittlich-sexuell ver‐ wahrlosten Frauen, um das stereotypisierte Bild der Quelle im Rahmen der Massenarmut selbst zu verwenden, widersprachen dabei den Einschätzungen der Richter nicht unbedingt. Dies hat sich anhand der von den Obereherichtern gezeichneten Sittenbilder in ihren Berichten an die Räte gezeigt. Deswegen fanden die moralisierenden Äußerungen der Gemeinden und Korporationen Aufnahme in die Quellen. Dennoch agierten die Richter in den konkreten Verhandlungen aber zunehmend nach gesetzlich-bürokratischen Grundsätzen, die lediglich ökonomische Beweismittel als Verhandlungsressourcen erlaubten. Aus der mehr oder weniger fluiden moralischen Ökonomie war eine starre ökonomische Moral geworden. Das verknappte den taktischen Spielraum der Gemeinden und Korporationen, vor allem aber der prekarisierten Paare im Ringen um die Eheschließung. Ökonomische Werte waren mess- und bis auf die Kommastelle bezifferbar und daher taktisch schwer zu umgehen. Was geschah in diesem Kontext mit den Gefühlen der AkteurInnen und den Einschätzungen ihrer Opponenten in den Gerichtsurkunden? Zwar lassen Beispiele wie das von 367 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 258 StABE, Bez Bern B 2755, 195. 259 Ebd; „Die Abwesenheit von ökonomischen oder materiellen Triebkräften“ führt Helmut Bräuer im Rahmen seiner historischen Forschung zur Eheschließung als Indiz für emotionale Heiratsmotive an. Bräuer, Mentalität, 74. 260 BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen 1798/ I, 291-294. 261 Peter Collin/ Robert Garot/ Timon De Groot, Bureaucracy and Emotions. Perspectives Across Disciplines, in: Administory 3 (2018), 5-19, 6. Das Autorenkollektiv schreibt: „[D]ispite an invariance of basic psychological dispositions, the linguistic preparation and communication about emotions change […].“ Johannes Grunder und Anna Schneider aufgrund ihrer Beharrlichkeit auf abs‐ trakter Ebene durchaus vermuten, dass diese Verlobten mit ihrer Verehelichung nach wie vor intensive emotionale Hoffnungen und Erwartungen verbanden. Auch das von der Gesellschaft zum Distelzwang prekarisierte Ehebegehren des besteuerten unehelichen, aber vom Vater in die Gesellschaft eingekauften, Ludwig Victor von Goumoëns und der standesungleichen Catharina Junker lässt bei sorgfältiger Lektüre der Urteilsurkunde zwischen den Zeilen starke emotionale Verbundenheit unter den Brautleuten erkennen. Die Verlobten, die sich bereits seit vier Jahren kannten und auch schon gemeinsam Eltern waren, brachten vor, dass „[m]aterielle Güter […] schön und als Mittel zu höhern Zweken auch sehr wünschbar [wären]“. 258 „Da diese aber fehl[t]en“, lobte der Bräutigam jedoch unter anderem auch den „sanften und guten Charakter“ der Braut. 259 Als Historiker*in ist man versucht, diese Beispiele in die Nähe von Liebesvor‐ stellungen zu bringen. Doch „tiefe Wurzel[n]“, wie in den Petitionen, konnte die Liebe im hier untersuchten Quellenmaterial nicht mehr schlagen. 260 Sprachlich explizit greifbar verschwanden Gefühle von Glück, Liebe und Zuneigung nämlich beinahe gänzlich aus dem hier untersuchten Quellenmaterial. Aus ver‐ waltungshistorischer Perspektive wurde jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass sich trotz der Beständigkeit grundlegender psychologischer Dispositionen der Menschen der sprachliche Umgang mit Gefühlen und ihre Mitteilbarkeit in administrativen Kontexten laufend veränderten. 261 Ein möglicher Ausdruck solcher Veränderungen konnte auch das sprachliche Verschwinden oder die Unterdrückung von Gefühlen sein. Somit lässt die sprachliche Abwesenheit der Gefühle in den gerichtlich produzierten Quellen darauf schließen, dass sie im hier untersuchten hierarchisch-administrativen Zusammenhang als Ressourcen und Mittel sowohl zur Durchsetzung als auch zur Behinderung prekärer Ehe‐ schließungen vollkommen irrelevant (gemacht) wurden. Im Ancien Régime hatten Emotionen von Liebe und Zuneigung in den Rekursmanualen immerhin negative Erwähnung gefunden. Sie wurden vom Gericht wahrgenommen und beurkundet, auch wenn sie als unbeständige Leidenschaften, die die gesell‐ 368 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 262 Lanzinger, Liebe, 159; vgl. auch Bräuer, Mentalität, 73-74. Auch er macht darauf aufmerksam, dass emotionale Heiratsmotive in der Vergangenheit nicht einfach fehlten, sondern lediglich von den Quellen oftmals nicht überliefert wurden. 263 Diese Feststellung reiht sich in die Beobachtungen von William Reddy zur Rolle der Emotionen im Denken der Liberalen im 19. Jahrhundert ein. Reddy, Navigation, 216- 217. 264 StABE, B III 831, 428-431. schaftliche Stabilität gefährdeten, akzentuiert worden waren und die Urteile negativ beeinflusst hatten. Das verdeutlicht, dass Gefühle in den Verhandlungen ein Thema waren und von den Opponierenden bekämpft wurden. Im nachhel‐ vetischen Zeitraum filterte offensichtlich der Gerichtsschreiber die Gefühle beinahe vollständig aus den Urkunden - wenn davon ausgegangen wird, dass die generelle Fähigkeit zu fühlen eine anthropologische Konstante darstellt. 262 Die nachhelvetischen Urkunden stehen somit in schroffem Gegensatz zu den zum Teil gefühlsschwangeren Petitionen ehewilliger AkteurInnen in der Helvetik und zeigen, wie Gefühle unter dem neuen alten Gericht verwaltet wurden. 263 Der Grund für diese Art der Verwaltung der Gefühle lässt sich in einem Fall finden, der aufgrund der expliziten sprachlichen Erwähnung von Gefühlen einen Zugang zu der Frage erlaubt. Es handelte sich dabei um die Gerichtsverhandlung zwischen den Verlobten Daniel Wüthrich und Christina Fuchser mit der Gemeinde Eggiwyl am 7. September 1807. In einem vorausgegangenen Gerichtstermin hatten die Obereherichter der Gemeinde den Einspruch wegen Besteuerung des Mannes bereits am 31. August 1807 gewährt. Damals hatte sich Wüthrich allerdings nicht verteidigen können. Er war nämlich, wie er mit medizinischem Attest bescheinigen konnte, krank gewesen. Darum beschwerte sich der Ehewillige nachträglich gegen das gefällte Urteil. Er formulierte „seinen dringenden Wunsch“, Fuchser heiraten zu dürfen, indem er beteuerte, dass er nicht besteuert wäre. Sie beide würden „sich mit Handarbeit […] ernähren[,] ohne der Gemeinde im geringsten zur Last zu fallen“. 264 Bezeichnenderweise erfährt man anhand der dokumentierten Argu‐ mente der Ehewilligen nichts über ihr gegenseitiges Gefühlsleben. Lediglich der gerichtliche Umgang damit in der Begründung des einstimmig abschlägigen Urteils der Richter ist diesbezüglich aufschlussreich: „Wenn Wir nach unsern Empfindungen und nicht in der Stellung als Richter über diese Frage abzusprechen hätten, so würden Wir die Ehe zwischen diesen Leuten, die eine große Zuneigung zu einander haben, […] sehr gerne zugeben. […] Allein da der buchstäbliche Innhalt der Geseze unsere Vorschrift ist, welche Wir uns jederzeit und mithin auch bey Ausfällung unsrer mehr angezogenen Erkanntnis zur Richtschnur haben dienen laßen, dieselbe dann so viel an Uns, längstens in Kraft erwachsen ist; 369 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 265 Ebd. 266 Reddy, Navigation, 216-217. Damit entsprachen die Richter exakt jenem Bild, das William Reddy für das frühe 19. Jahrhundert zeichnet: „In the early nineteenth century, […] importance was attached to personal qualities such as commitment to principle, […] and, above all, a proper understanding of justice and right“; Regula Ludi sieht als Folge dieser Prinzipientreue im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert „tendenziell eine ethische Gleichgültigkeit der mit einer Akte befassten Beamten gegenüber den Empfindungen und dem Leiden des Menschen“. Ludi, Wiedergeburt, 255. 267 Auch dieser Befund schließt sich Regula Ludis Erkenntnis an, die aufgezeigt hat, dass den menschlichen Leidenschaften in der Entwicklungslogik der Kriminalpolitik vom 18. zum 19. Jahrhundert ihr Einfluss auf die Beurteilung von Kriminalfällen entzogen werden sollte. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entmenschlichung des Falls“. Ludi, Fabrikation, 555. 268 Zur Entwicklung von Emotionen in Abhängigkeit unterschiedlicher Verwaltungszu‐ sammenhänge vgl. die konzeptionellen Überlegungen von Collin/ Garot/ Groot, Bureauc‐ racy, 5. 269 Tanner, Bürgertum. so haben Wir zu Recht gesprochen und erkennt: Es könne diese Urtheil von Uns nicht mehr aufgehoben und abgeändert werden, mithin solle es bey derselben sein Verbleiben haben.“ 265 Offensichtlich konnten die Verlobten die Richter durchaus davon überzeugen, dass zwischen ihnen starke Gefühle der liebevollen Zuneigung vorhanden waren. Emotionen gehörten jedoch in der Urteilslogik der Richter eindeutig in den privaten Bereich. Obwohl die Richter mit der zitierten Aussage ihre Empa‐ thie für das Liebespaar als Privatpersonen zum Ausdruck brachten, machten sie gleichzeitig deutlich, dass die vom Brautpaar empfundene emotionale Zuneigung keinen Einfluss auf die Beurteilung des Falls haben konnte. Die Gesetze konnten keine Rücksicht auf die Liebe nehmen. Mit dieser expliziten Gegenüberstellung von nachempfundener Zuneigung und formaljuristisch nüchternem Urteilsspruch wiesen sich die Richter nur noch deutlicher als rationale, gesetztestreue und emotional abstinente Verwalter der Ehe aus. 266 Die ständische Gnade der Landesväter sowie die intime väterlich-gerechte Fürsorge waren aus den Gerichtsurkunden gewichen. Sie zeugen damit von der Genese einer Eheverwaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die emotionale Äußerungen in Zusammenhang mit prekären Eheschließungen bei‐ nahe komplett ausblendete und somit im krassen Widerspruch zum Liebeskult in der romantischen Literatur zur gleichen Zeit stand. 267 Die Gerichtsschreiber machten kaum noch Notiz von den Gefühlen, weil diese für die juristische Beurteilung keine Bedeutung mehr besaßen. 268 Das Berner Oberehegericht, dem potenziell Mitglieder jener für das 19. Jahr‐ hundert viel beschworenen stilbildenden bürgerlichen Schicht vorstanden, 269 370 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 270 Reckwitz, Erfindung, 315. 271 Zum Zusammenhang zwischen Liebe und Literatur in bürgerlichen Tagebüchern vgl. Habermas, Liebe, 171. 272 Andreas Reckwitz beschreibt das bürgerliche Subjekt wie folgt: „Idealtypisch übt sich das bürgerliche Selbst in Reflexivität und Selbstdisziplinierung; es konkretisiert sich in den Figuren des pflichtbewussten Asketen und des self made man gleichermaßen.“ Reckwitz, Erfindung, 315. 273 Collin/ Garot/ Groot, Bureaucracy, 6-7. Die Autoren schreiben: „[T]he public servant is emotionally conceptualized in a specific way, namely, as a rationally acting and emontionally abstinent person.“ war gegenüber den in steigender Zahl mittellosen AkteurInnen in zuneh‐ mendem Maße - je nach Standpunkt - ein gnadenloser beziehungsweise will‐ kürfreier Ort bürokratischer Gesetzestreue und emotionsloser ökonomischer Rationalität geworden. Damit waren die hier analysierten Gerichte Institu‐ tionen, die zu jener Schmälerung der „Bandbreite und Intensität gesellschaftlich legitimer Affekte“ beitrugen, die stilbildend für die bürgerliche Moderne war. 270 Es machte für die Prekarier ganz offensichtlich keinen Unterschied, ob und wie die Berner Richter ihre eigenen Frauen zuhause lieben und Gefühle nach litera‐ rischen Vorbildern in Tagebüchern reflektieren und verarbeiten mochten. 271 Als Privatpersonen mochten letztere gegenüber den prekarisierten Paaren vielleicht deshalb ab und an Sympathien empfinden. In den Verhandlungen und Gerichts‐ protokollen zeigten sie sich gegenüber den Ehewilligen in ihrer Funktion als Richter jedoch bewusst als emotionslose Vollstrecker der festgeschriebenen Ehegesetze, die ökonomischen Beweismitteln folgten. Dadurch fungierten sie in idealtypischer Weise als bürgerliche Subjekte. 272 Die Richter hatten in der Selbstwahrnehmung ihrer Funktion keinen Sinn für Emotionen, sondern ausschließlich für sachliche Belege materieller Verhältnisse. Aufgrund des Ausgeführten wird in der Verwaltungsforschung zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen der juristisch-bürokratischen Regulation der Gefühle und den Emotionen der Verwalter selbst gemacht werden muss. Gleichzeitig zeigt sich am ausgeführten Beispiel, dass die Regierung der Gefühle der ehewilligen AkteurInnen Hand in Hand ging mit der emotionalen Selbstre‐ gulierung der Richter. Um im zeitgenössischen Verständnis gute Bürokraten sein und die Ehe juristisch korrekt verwalten zu können, mussten die Richter ihre eigenen Gefühlsregungen der Selbstdisziplin und Affektkontrolle unterwerfen. Damit entsprachen sie dem Idealtypus des modernen Beamten. 273 Die legitime romantische Liebe rückte dadurch im zuständigen Ehegericht in Bern im Zeitraum nach der Helvetik wieder weg von einem allgemeinen Menschenrecht in die Nähe eines privaten Privilegs mit Zugangsbeschränkungen. Ihr ehelicher Zensus waren die Nichtbesteuerung des ehewilligen Manns und die Einzugs‐ 371 2.3 Verengte rechtliche Handlungsspielräume und Abnahme der Taktiken 274 StABE, B III 833, 304. 275 Luhmann, Liebe, 23. 276 Ebd., 189. gelder für die Braut. Folglich urteilte das Gericht in Bezug auf die Liebe ganz nach dem Grundsatz, dass sich „bei […] Mittellosigkeit weder eine glükliche noch dauernde Ehe hoffen lasse“. 274 Die Behauptung, die Liebe hätte sich in Bern in der ersten Hälfte des sogenannten ’bürgerlichen 19. Jahrhunderts‘ als universeller, also schichtübergreifender „Kommunikationscode“ etabliert, „nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken“ sollte beziehungsweise musste, ist in Anbetracht der hier untersuchten Ehebegehren vor Gericht nicht zulässig. 275 In Bern verhinderte gerade das Oberehegericht beziehungsweise das Amtsge‐ richt das Zusammenfallen von Liebe und Eheschließung in der von Luhmann besagten Einheit von Form und Materie aktiv. Mit ihrer ökonomistischen Zentrierung und der bürokratischen Gesetzes- und Verfahrenstreue machten die Richter die Emotionen in den untersuchten Fällen prekärer Eheschließungen als Ressource irrelevant. Die Liebe wurde in keiner Art und Weise zur universellen Grundlage der Ehe, sondern zu einem besitzständischen Vorrecht. 276 372 2 Taktiken: Prekäre Heiratsbegehren vor dem Berner Oberehegericht 277 StABE, B III 438, 35-40. 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter im Umgang mit prekären Eheschließungen im nachhelvetischen Zeitraum Zur Erklärung der Verengung des taktischen Spielraums der AkteurInnen mussten in diesem Teil der Arbeit bereits einige gerichtliche Entwicklungen vor‐ weggenommen werden, die in den beiden vorausgehenden Teilen im jeweiligen Unterkapitel über die gerichtlichen Strategien zur Normierung der Eheschlie‐ ßung thematisiert wurden. Dennoch soll hier der Systematik wegen auf die Gerichtsorganisation und zwecks Vergleich mit den anderen Untersuchungs‐ zeiträumen vor allem auf Urteilstendenzen bezüglich der sich zuspitzenden einstimmigen Urteile gegen die prekarisierten Eheschließungen eingegangen werden. 3.1 Gerichtsorganisation: Vom Oberehegericht zum Amtsgericht Nachdem die Ehegerichte zu Beginn der nachhelvetischen Zeit wieder einge‐ setzt worden waren, änderte sich an ihrer Besetzung und der Organisation bis zur Verfassungsrevision von 1830/ 31 vorerst nichts Grundlegendes. Sie waren wie vor der Helvetik mit zwei Pfarrern aus den deutschsprachigen Kirchen von Bern besetzt, vier weiteren Assessoren, die aus dem Großen Rat gewählt waren sowie einem Präsidenten, der vom Kleinen Rat bestimmt wurde. Alle Assessoren waren auf zwei Jahre gewählt, wobei nach einem Jahr die Hälfte der Gerichtsbeisitzer ausgewechselt wurde. Ausgeschiedene Assessoren konnten allerdings bereits nach einem Jahr wieder in das Amt gewählt werden. Der Präsident war ebenfalls wie gehabt auf ein Jahr gewählt und danach der Stellvertreter des neuen Gerichtsvorsitzenden. 277 Neu war nach 1803, dass die Rekurse nun nicht mehr von den Räten beurteilt wurden, sondern von einem Appellationsgericht, das allerdings ebenfalls von Ratsmitgliedern besetzt war. Erst nach den liberalen Umwälzungen 1830/ 31 kam es im Rahmen einer konsequenten Gewaltentrennung zu mehr oder weniger umfassenden Verän‐ derungen im Berner Gerichtswesen: An die Stelle der lokalen Chorgerichte 373 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter 278 Gerichtsbehörden, 153-155. 279 Verfassung für die Republik Bern (6. Juni 1831), in: Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 40 Bde., Burgdorf, Bern 1833-1940, 1-38, 22. 280 Gerichtsbehörden, 151. 281 Das Konsistorialmanual endete mit seinem 13. Band; vgl. StABE, Bez Bern B 2760. Konsistorial-Manual (1862-1865). traten neuerdings sogenannte ‚Sittengerichte‘, denen nach wie vor die Gemein‐ depfarrer beisaßen. Die Aufgabe dieser Gerichte bestand nun aber lediglich in der Bewahrung des Friedens in bestehenden Ehen und dem Anzeigen von au‐ ßerehelichen Schwangerschaften beim Amtsgericht. Ihre Kompetenzen waren nur noch friedensrichterlicher Art. Die Sittenrichter konnten Ermahnungen an die fehlbaren Eheleute aussprechen und streitende Ehepaare zur Aussöhnung auffordern. Sie konnten aber keine gesetzlichen Sanktionen mehr verhängen. 278 Das mit zwei Geistlichen besetzte Oberehegericht wurde aufgelöst. Für die formelle Rechtsprechung in Ehesachen wurden nun die säkularen Amtsgerichte zuständig. Rekurse übernahm das kantonale Obergericht an Stelle des Appel‐ lationsgerichts. Der gewählte Gerichtspräsident des Amtsgerichts sollte jetzt, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ein „rechtskundiger Mann“ sein. 279 Er durfte aber aufgrund der Gewaltenteilung während seiner Amtszeit weder den Beruf eines Advokaten, Rechtsagenten oder Notars ausüben noch Arzt oder Wirt sein. 280 Das restliche, aus vier Mitgliedern und den zwei Suppleanten bestehende, Gericht durfte nach wie vor mit juristischen Laienpersonen besetzt werden. Geistliches Personal war hingegen nicht mehr explizit vorgesehen. Diese gerichtsorganisatorischen Veränderungen blieben in Bezug auf die Ur‐ teilspraxis im Feld der Ehegerichtsbarkeit ohne größere Folgen, wobei auf die Veränderungen in der Quellenproduktion schon eingegangen wurde. Auf kleinere Verschiebungen in Bezug auf die Dokumentation der Stimmverhält‐ nisse wird weiter unten eingegangen. Die bedeutende Veränderung bezüglich der Ehebeziehungsweise eben der Zivilgerichtsbarkeit kam in Bern erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874, die die Ehe als ein persönliches Freiheitsrecht festschrieb und die ehegesetzlichen Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen neu regelte. Bis 1865 wurde zumindest vom Amtsgericht Bern außerdem ein Konsistorialmanual geführt, worin lediglich Angelegenheiten in Zusammenhang mit dem Ehegesetz protokolliert wurden. 281 Dieser Umstand verweist darauf, welche hohe juristische Aufmerksamkeit man in Bern der Ehe nach wie vor zukommen ließ, obwohl sie seit 1831 von einem säkularen Gericht behandelt wurde. Das Bundesgesetz vom 24. Dezember 1874 führte dann die obligatorische Zivilehe in allen Kantonen ein und verteilte damit die gerichtli‐ 374 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter 282 Siffert, Verlobung, 138-139. 283 Hardwick, Business, 17. chen Kompetenzen im Feld der Eheschließung neu. 282 Diese Entwicklungen sind allerdings nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung. 3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik In der Untersuchung zu den Urteilen prekärer Eheschließungen durch das Oberchorgericht unter dem Ancien Régime konnte noch festgestellt werden, dass die Minderheit der Fälle konsensual beurteilt worden war. In lediglich rund 38 % der Fälle waren sich die Richter über die Beurteilung einig gewesen. Dieses Bild verkehrte sich nun in der Zeit nach 1803 bis 1847 in sein Gegenteil: Nur in 15 der für diesen Zeitraum untersuchten Urteilen widersprachen sich die Meinungen der Eherichter beziehungsweise Amtsrichter und folgten letztlich einem Mehrheitsentscheid. Dies entsprach knapp 21 % der gesamthaft 73 ana‐ lysierten nachhelvetischen Urteile. Dabei fiel keine der von den Protokollen als ambivalent ausgewiesenen Verhandlungen, das heißt im Plenum der Richter uneinig beurteilten Fälle, in den Zeitraum nach 1831. 29 Richtersprüche wurden explizit ‚einhellig‘ gefasst. In 28 Fällen machte der Gerichtsschreiber gar keine Anstalten mehr, Angaben zur Ein- oder Mehrstimmigkeit unter den Richtern auszuweisen. Dadurch erschien das Urteil einstimmig, nota bene ungeachtet der Frage, ob es das war oder nicht. Präzisierend muss hier angeführt werden, dass in den Konsistorialmanualen des Amtsgerichts alle Urteile entweder einstimmig gefällt wurden oder differenzierende Angaben zum Urteil fehlten. Gerade die im Vergleich zum Ancien Régime hohe Zahl fehlender Angaben zu den Stimmverhältnissen im Gericht und die Abnahme polyphoner Richtersprüche, das heißt multinormativ beurteilter Fälle, werden hier als starke Indizien für jene monolithische und expansive Vision des zunehmend anonymen, unpersönlichen Staates gelesen, der verstärkt Macht monopolisierte. 283 Die ehegerichtlichen Behörden präsentierten diesen in Bezug auf seine Ehepolitik zunehmend einheitlich und widerspruchsfrei. Die Multinormativität wich nicht nur in den Taktiken zunehmender Monotonie, sondern auch systematisch in den Urteilssprüchen der Richter und den protokollarischen Aufzeichnungen der Stimmverhältnisse. Wenn man nun alle quasi monotonen Urteile zusam‐ mennimmt, also die einstimmigen Urteile mit denjenigen ohne Angaben zu den richterlichen Stimmverhältnissen addiert, kommt man von insgesamt 73 375 3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik 284 StABE, Bez Bern B 2755, 275. 285 StABE, B III 835, 22-30. 286 StABE, B III 831, 428-431. 287 StABE, B III 826, 74-75. Fällen auf 57, in denen unter den Richtern entweder keine Multinormativität existierte oder die Urkunde es verunmöglicht, diese zu vernehmen. Somit stehen laut den Urkunden 78 % monoton beurteilten beziehungsweise ausgewiesenen Verhandlungen nach 1803 62 % mehrstimmig gefällte Urteile aus den mehr als 50 Jahren vor der Helvetischen Republik gegenüber. Auf die Ursachen dafür wurde teilweise bereits in den vorausgegangenen Erörterungen hingewiesen: Unter dem Ancien Régime konkurrierten im Oberehegericht in Anbetracht des bevölkerungspolitischen Kontextes unterschiedliche Urteilslogiken mitein‐ ander um die Bestimmungshoheit des Wesens der Eheschließung. Der Bezug auf patriarchale Ehegesetze stellte bei der Legitimation der Urteile lediglich eine Option unter anderen dar und wurde vielfach von bevölkerungspolitischen Er‐ wägungen, die die Eheschließung zu demokratisieren wünschten, überstimmt. Das Prinzip der Gnade ließ diese Abweichung vom Gesetz zu. Jetzt spielten diese konkurrierenden Logiken von patriarchalen Rechten, die die Beschränkung der Eheschließungen zum Zweck hatten, und populationistischen Argumenten, die die Eheschließung in der Tendenz zu einem menschlichen Freiheitsrecht erkoren, im Gericht praktisch keine Rolle mehr. Die ehegesetzlich kompetenten Richter urteilten „nach Vorschrift der Satzung“. 284 Diese Satzung - das zeigt die Verschärfung des Armengesetzes von 1808 - schloss mittellose Menschen in zunehmendem Maße konsequent von der Institution der Ehe aus. Dass dem so war, sprachen die Richter 1827 explizit und unverhohlen aus: „Die Absicht der Geseze über die Verhältniße der Armen sey von jeher auf Behinde‐ rung ihrer Ehen gerichtet gewesen, als welche in der Regel so wohl für die Eheleute selbst, als für die Kinder, für die Gemeinden und den ganzen Staat von höchst nachtheiligen Folgen jeder Art begleitet seyen.“ 285 Gleichzeitig war „der buchstäbliche Innhalt der Geseze“ jetzt tendenziell die einzige „Vorschrift“ und „Richtschnur“, die das Gericht noch anerkannte. 286 Der Rückbezug auf die Gnade fiel für die Richter nach den Erschütterungen der ge‐ burtsständischen Gesellschaftsordnung durch die Helvetische Revolution weg und begünstigte die verfahrensrechtliche Formalisierung der Urteile. Während die gnädigen Oberchorrichter zwischen 1742 und 1798 die sture Orientierung am „dürren Buchstaben der Satzung“ zum Teil noch scharf kritisierten und Opponierenden vorgeworfen hatten, sich mit ihm „zu schirmen“, 287 wurde die konsequente Anwendung des Gesetzes von den Eherichtern im nachhel‐ 376 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter 288 Diese Entwicklung lässt sich in einem allgemeinen aufklärerischen Diskurs zum Gerechtigkeitsverständnis verorten, wie das Joachim Eibach getan hat. Eibach, Iustitia, 185; vgl. auch Alexander Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, München, Paderborn 2002, 154-162. 289 StABE, B III 831, 246-248. 290 StABE, B III 833, 265-271. 291 Ebd., 379-384. vetischen Zeitraum nachgerade zur exklusiven Handlungsmaxime erklärt. In ihren Augen war der Gesetzestext nun die einzige legitime Grundlage für ihre Rechtsprechung in Ehesachen. Richterliches Ermessen, das zum einen milde Gnade, zum anderen aber auch drakonische disziplinarische Strenge zuließ, mutierte dadurch im nachhelvetischen Zeitraum zu Willkür. 288 In den 15 Fällen, in denen sich die Richter in ihrem Urteil uneinig waren, entzündete sich die Debatte unter ihnen auch nicht an widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Anschauungen, sondern an der Frage, wie die vom betroffenen Mann erhaltenen Unterstützungsleistungen auf der Grundlage des Ehegesetzes, des Armengesetzes und später der Zivilgesetzgebung zu bewerten waren. Die Diskussionen im Gericht betrafen juristische Fragen der Gesetzes‐ auslegung und nicht bevölkerungspolitische Weltanschauungen, die im Gericht miteinander um Deutungshoheit rangen. Die zuständigen Richter verhandelten jetzt die Fragen, ob es sich um „wirkliche[n] Genuss des Almosens, oder […] regelmäßige Besteurung [sic]“ handelte, ob die erhaltenen Unterstützungsleis‐ tungen genügend bewiesen oder „auf keine Weise bescheinigt war[en]“. 289 Zu welchem Zeitpunkt war die Besteuerung, das heißt die finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde oder Korporation, angefallen? War sie aufgrund des Entstehungszeitpunktes als Unterstützung an die Eltern des Ehewilligen zu bewerten und konnte diesem daher gar nicht zur Last gelegt werden? „[W]eil überhaupt das natürliche und gesezliche Recht zur Ehe nicht zu erschweren, sondern in zweifelhaftem Falle immer möglichst zu begünstigen, auf freyer morali‐ scher Wille mehr als anderes Intereße zu berüksichtigen sey“, urteilte das Gericht, wo die Hinderungsgründe der Opponierenden nicht ge‐ nügend bewiesen wurden, nach eigener Einschätzung zwar in dubio pro reo zugunsten der Ehewilligen. 290 Die Beschränkungen der Eheschließungsrechte besteuerter Männer wurden also durchaus „als Einschränkungen der natürli‐ chen Freyheit“ interpretiert, die „niemals ausdehnend angewendet werden soll[t]en“. 291 Allerdings war es selten der Fall, dass die finanziellen Hinderungs‐ gründe in den Augen der Richter unzureichend bewiesen werden konnten und deswegen die Einschränkung der ‚natürlichen Freiheit‘ im jeweils konkreten 377 3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik 292 Personen-Recht, 75. 293 StABE, B III 831, 642-643; vgl. auch StABE, B III 833, 265-271. Fall ungerechtfertigt erschienen wäre. Während unter dem Oberchorgericht im Ancien Régime eine Mehrheit (59 % von 61 Fällen) der prekären Eheschlie‐ ßungen bewilligt wurde, kehrten sich die Verhältnisse im Zeitraum zwischen 1803 und 1847 exakt um. Nun wurde in 59 % der Fälle (43 von 73) gegen die begehrte Eheschließung geurteilt. Das zuständige Gericht schlug sich also im nachhelvetischen Zeitraum mit seinen Urteilen tendenziell auf die Seite der Gemeinden, Korporationen und Familien, deren geteiltes Interesse in der Zurückdrängung der Armut lag. In Bezug auf die Bezahlung der Gerichts- und Verfahrenskosten kam es im Verhältnis zum Ancien Régime lediglich zu geringfügigen Veränderungen. In 61 der 73 Fälle geben die Urteilsurkunden Auskunft darüber, wie mit den entstandenen Kosten verfahren wurde. Neun Mal, das heißt in 14 % der kosten‐ technisch transparenten 61 Fälle, mussten die Ehewilligen für die Verhandlung bezahlen. Im Sample zum Ancien Régime waren es nur rund 10 % der Ehewil‐ ligen, die für die Verfahrenskosten aufkommen mussten. Aufgrund der kleinen Fallzahl ist das aber kein signifikanter Unterschied und bedürfte für stichhaltige Aussagen weiterer Nachforschungen. Dagegen mussten im nachhelvetischen Untersuchungszeitraum 44 Mal die Opponierenden für die angelaufenen Kosten aufkommen (71 % von 61 Fällen). Im Vergleich zum Ancien Régime (30 von 51 Fällen; 59 %) waren das nicht nur absolut, sondern sogar proportional mehr Fälle. Diese Verschiebung dürfte unter anderem mit der konsequenten Anwen‐ dung der Satzung 72 des 1825 erlassenen Zivilgesetzbuchs in Zusammenhang gestanden haben. In diesem Gesetz wurde das bereits unter dem Ancien Régime angewandte Gewohnheitsrecht festgeschrieben, das besagte, dass die durch den Einspruch entstandenen Kosten durch die Opponierenden übernommen werden mussten. 292 Was allerdings auffällt, ist, dass das Gericht in keinem einzigen Fall mehr explizit zugunsten der Ehebewilligung gänzlich auf die Einnahme der entstandenen Kosten verzichtete, was in der Quellenauswahl zum Ancien Régime neun Mal der Fall gewesen war. Die Richter waren nicht mehr bereit, die Eheschließung kostentechnisch aktiv zu unterstützen und dafür seitens des Gerichts auf Einnahmen zu verzichten. Auf Geld verzichtete das Gericht nur noch in vier Fällen verwandtschaftlicher Einsprachen. Dabei wurde diesen von den Richtern „mit Fleiß nicht gedacht“, um die in den Verhandlungen zu Tage getretenen familiären Streitigkeiten nicht zusätzlich zu befeuern. 293 In vier weiteren Fällen wurden die Kosten zwischen Opponierenden und Ehewilligen 378 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter 294 StABE, B III 831, 352-355; StABE, B III 833, 287-291; 305-309; 356-358. 295 Vgl. Eibach, Iustitia, 177. 296 Gestrich, Neuzeit, 376. 297 Eibach, Iustitia, 177; 186-187. 298 Certeau, Kunst, 94. geteilt, weil die Richter ein Urteil sprechen mussten, ihrer Ansicht nach aber die Rechtslage nicht eindeutig war. 294 Alles in allem lässt sich in Bezug auf die hier analysierten prekären Eheschlie‐ ßungen in Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Liberalisierung im gerichtlichen Umgang mit diesen feststellen. Zwar folgten die Urteile der zuständigen Richter zunehmend vereinheitlichten richterlichen Entscheidungs‐ prozessen und damit einer Tendenz, die von der Kriminalitätsgeschichte im Allgemeinen beobachtet worden ist. 295 Das Feld der Moral wurde in den Ge‐ richtsurkunden den Gemeinden und Korporationen überlassen. Die Richter selbst bedienten sich in ihren Urteilssprüchen in der Selbstinszenierung des Protokolls säkularen gesetzlichen Prinzipien. Diese praktische Entwicklung schließt an die Säkularisierung des Ehegesetzes in Bezug auf gemischtkonfes‐ sionelle Ehen und Cousinenehen an. Daran lässt sich auch für Bern nach 1803 in der Ehegerichtspraxis eine allmähliche Eingliederung der Eheschließung „in das Gesamtsystem der bürgerlichen Rechtsordnung“ erkennen, das in zunehmendem Maße nach Grundsätzen „der Staatsraison und öffentlichen Nützlichkeit“ aufgebaut war. 296 Nach 1803 war diese Nützlichkeit bis mindestens zur Jahrhundertmitte in Bern allerdings maßgeblich auf die Armutsbekämpfung und nicht mehr auf die Bevölkerungsvermehrung ausgerichtet. Dieses System gehorchte im Bereich der Eheschließung in der Folge gnadenlos interpretierten ökonomischen Gesichtspunkten, denen nun stets mit schriftlichen Beweismit‐ teln Genüge geleistet werden musste. Dem juristisch korrekten Verfahren und dessen exakter Befolgung durch alle am Prozess beteiligten Parteien - der „Verfahrensgerechtigkeit“ - kam wesentlich größere Bedeutung zu als noch unter dem Ancien Régime. 297 Neben der starken Fokussierung des Gerichts auf die ökonomischen Verhältnisse der Ehewilligen, reduzierte auch diese „Verallgemeinerung und […] Expansion der technokratischen Rationalität“ die taktisch nutzbaren Handlungsspielräume der prekarisierten Ehewilligen. 298 In der Konsequenz bedeutete diese durchaus im Sinne des politischen Libera‐ lismus zu verstehende quasi rechtsstaatliche Prinzipientreue keinen Vorteil für die ehewilligen AkteurInnen, die ihren prekarisierten ehelichen Eigensinn in zunehmendem Ausmaß gegen Gemeinden und Korporationen statt gegen die väterlich-verwandtschaftliche Gewalt durchsetzen mussten. Von der viel beschworenen „freiheitssichernde[n] Funktion des Rechts“, die vom politischen 379 3.2 Zunehmende Einstimmigkeit und einheitliche Gerichtslogik 299 Roman Hensel/ Diethelm Klippel, Art. Verrechtlichung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, hrsg. v. Friedrich Jaeger, 16 Bde., Stuttgart, Weimar 2005-2012, 191-197. 300 Diese Hoffnung auf mehr milde Humanität durch das Recht verband der italienische Rechtstheoretiker Cesare Beccaria mit den aufgeklärten Regierungen. Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen, Nachdr. der Aufl. von 1764, Berlin 2005, 2. 301 In dieselbe Richtung weisen folgende Publikationen für Bern: Pfister, Strom, 158-159; für Zürich: Sutter, Act; für Europa: Gestrich, Neuzeit, 384; Matz, Pauperismus; Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleu‐ ropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991. 302 Certeau, Kunst, 169. Liberalismus ausgegangen sein soll, war zumindest für die prekarisierten Ehe‐ willigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im zuständigen Ehegericht in Bern wenig zu spüren. 299 Dass das Vordringen formaljuristischer Prinzipien einen Nachteil für die prekarisierten ehewilligen AkteurInnen in Bern und einen Vorteil für die einsprechenden Gemeinden darstellte, belegt die Veränderung des Verhältnisses der durch das Gericht begünstigten zu den abgelehnten Eheschließungen. Die Urteilsrelationen verkehrten sich im Vergleich zu der untersuchten Zeit des ausgehenden Ancien Régimes, und bedeuteten für die Ehewilligen gerade weniger „Milde und Menschlichkeit“ in der Zeit nach der Helvetik. 300 Die Verrechtlichung eines zunehmend bürgerlich-liberalen Systems des Besitzstands, das die Richter im zuständigen Ehegericht verwalteten, ließ insbesondere den subalternen TaktikerInnen in Bern, die in Anbetracht der Agrarkrise am stärksten unter Arbeitsmangel und Ressourcenknappheit litten, weitaus weniger Spielraum als das zwischen bevölkerungspolitischem Pater‐ nalismus und patriarchaler Familien- und Ehepolitik changierende gnädige Oberchorgericht des Ancien Régimes. 301 Das Fazit lautet also: Die liberale „Konjunktur“ lieferte den AkteurInnen prekärer Ehebegehren unter den hier analysierten Zeitabschnitten zumindest im Gericht vergleichsweise weniger günstige Gelegenheiten, um in den „organisierten Raum“ der Eheschließung einzudringen beziehungsweise sich die Ehe anzueignen. 302 So stellt sich hier die Frage, welche neuen, vielleicht außerehelichen Wege sich der taktische Eigensinn im 19. Jahrhundert am Ehegericht vorbei bahnte, um zu den Vorzügen eines Familienlebens und solidarischer Partnerschaft zu kommen. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die taktischen Versuche von AkteurInnen, die sich eine Verbesserung der Lebensumstände durch ein Zusammenleben erhofften, einfach verschwanden. Doch die zuständige ehegerichtliche Instanz war nicht mehr das erfolgversprechende Forum und deshalb der Gang vor das entsprechende Gericht ein taktisch ungünstiger Weg. 380 3 Strategien: Die ehepolitische Urteilspraxis der Richter E Resultate Die vorliegende Arbeit brachte die zentralen Faktoren, die die Eheschließung im Wechselspiel historisch konstituierten, in der Gerichtspraxis von 1742 bis 1848 miteinander in Berührung: die relativ beständigen gesetzlichen Normen, konjunkturelle bevölkerungspolitische Debatten in der entstehenden Öffent‐ lichkeit, listige Aneignungsversuche ehewilliger AkteurInnen sowie deren taktische Abwehr durch Opponierende und die strategische Urteilssprechung der Eherichter. Diese Variablen und die sich zwischen ihnen unablässig abspie‐ lenden und verändernden Wechselwirkungen konnten in dieser gerichtlichen Kontaktzone in Abhängigkeit der Zeit über rund 100 Jahre hinweg erforscht werden. Dabei wurde einerseits versucht, den differenzierten Stimmen der AkteurInnen und ihren eigenen alltagspraktischen Theorien der Eheschließung im Gericht bestmöglich Gehör zu verschaffen, ohne dabei andererseits kon‐ textuelle Voraussetzungen und strukturelle Bedingtheiten auszublenden. Die vorliegende Arbeit zielte dabei darauf, eine strikte Dichotomie zwischen Norm und Praxis aufzuweichen. In der Gerichtspraxis wurden vielmehr Dialektik und Wechselseitigkeit zwischen diesen beiden konstruierten Polen sichtbar. Daraus resultierten verschiedene Beobachtungen, die im Folgenden unter den Blickwinkeln von Kontinuität und Wandel konzentriert wiedergegeben werden. 1 Kontinuitäten Die markanteste beobachtete Beständigkeit hinsichtlich der prekären Eheschlie‐ ßungen in Bern über die drei untersuchten Zeitabschnitte hinweg war die allge‐ meine, das heißt ständebeziehungsweise klassenübergreifende und anhaltende Begehrtheit der Ehe im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Dieser Befund war aufgrund der allgemeinen Forschungslage grundsätzlich zu erwarten. Der eheliche Status war mit symbolischem Kapital, ökonomischen Vorteilen und rechtlichen Privilegien ausgestattet. Zudem war die Ehe eine wichtige Form der haushaltsökonomischen Solidarität und Altersvorsorge sowie -fürsorge für beide Geschlechter. Sie erleichterte die Haushaltsführung und die Erziehung sowie Versorgung von Kindern, wenn solche bereits aus vorausgegangenen ehelichen oder unehelichen Verbindungen existierten oder zu erwarten waren. Dieser Aspekt hat sich im Quellenmaterial insbesondere in der Motivation verwitweter Personen und alleinerziehender Elternteile immer wieder narrativ gezeigt: Sie versuchten sich die Ehe mit dem Argument der Selbsthilfe anzu‐ eignen. Dazu hoben sie die Notwendigkeit der partnerschaftlichen Unterstüt‐ zung als zwingenden Grund für die Ehebewilligung durch das Gericht hervor. Sie strebten nicht nur danach, ihre Lebenslage in ökonomischer Hinsicht zu verbessern, sondern waren zum Teil aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Gebrechen auf Pflege und Hilfe angewiesen. Gleichzeitig ergab die Analyse prekärer Eheschließungen, dass Heiraten aus allen Ständen, Berufsgruppen und räumlichen Regionen aus dem sozialen Nahraum durch Einsprachen verunsichert wurden. Dieser Befund bestätigt die eingangs der Arbeit vorgestellte These von der Ehe als fait social total (Marcel Mauss) in einem erweiterten Sinn: Sie betraf nicht nur alle Lebensbe‐ reiche der ledigen oder verheirateten Menschen in umfassender Weise, sondern sie berührte in Bern auch alle gesellschaftlichen Gruppen in der Stadt und auf dem Land. Daher stellte die Ehe in gewisser Weise eine Form stände- und schichtübergreifender Gleichheitserfahrung dar, auch wenn die sonstigen Lebensumstände und -bedingungen der ehelich prekarisierten Menschen oft ganz unterschiedlich sein konnten. Die Prekarisierung von Eheschließungen aus dem Umfeld konnte Menschen aus allen Ständen und sozialen Gruppen (Aristokraten, Handwerker, Landwirte, Dienstboten etc.) sowie Regionen zu subalternen AkteurInnen herabsetzen. Sie alle waren dann einer hegemonialen Eheordnung ausgesetzt, der sie tendenziell fremd gegenüberstanden, die sie sich aber aufgrund der damit verbundenen Vorteile gleichwohl anzueignen 382 1 Kontinuitäten versuchten. Ihnen drohte, von der eminent wichtigen Institution der Ehe ausgeschlossen und dadurch an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden, wenn sie sich nicht bereits dort befanden. Dagegen wehrten sie sich im Aushandlungsprozess der Ehe vor Gericht zu allen hier untersuchten Zeiten mit unterschiedlichen Mitteln und Taktiken und versuchten - unter großem Ressourcenaufwand und mehr oder weniger erfolgreich -, in den Genuss der Vorteile einer Eheschließung zu kommen. Eine weitere Konstante, die sich durch alle Fälle hindurch in mehr oder weniger ausgeprägter Weise über alle untersuchten verfassungsgeschichtlich definierten Perioden abzeichnete, ist der ausgeprägte Eigensinn der Akteu‐ rInnen prekärer Eheschließungen. Alle hier untersuchten Prekarier besaßen die Fähigkeit, eigene Vorstellungen von ihrem Leben und der Eheschließung zu entwickeln, die mit dem gesellschaftlichen Gemeinsinn, den Gesetzen oder dem herrschenden bevölkerungspolitischen Diskurs kollidierten. In der Folge wurden die Eheschließungen prekarisiert und mittels Justiznutzung vor Gericht gezogen, das heißt auf dem Weg der verrechtlichten Konfliktaustragung aus‐ gehandelt. Ob in den Rekursmanualen des Oberchor- oder Oberehegerichts, den Petitionen an den helvetischen Vollziehungsausschuss oder in den Konsis‐ torialmanualen des Amtsgerichts von Bern - in sämtlichen Quellen drangen der Eigensinn der Ehewilligen und deren kreative Taktiken und Aneignungs‐ versuche in ihrem Handeln mehr oder weniger deutlich durch. Eigensinn und taktische Kreativität entwickelten die ehewilligen AkteurInnen, um sich die Eheschließung anzueignen. Diese Beobachtung lässt sich nicht nur ex post und mit der Brille postmoderner Handlungstheorien anstellen. Sie wurde bereits von den zeitgenössischen Opponenten prekärer Eheschließungen und den Gerichtsschreibern gemacht und schriftlich erfasst. An den hartnäckigen Eigensinn schloss sich in den Gerichtsquellen ein weites semantisches Feld von äquivalenten Begriffen und Charakterisierungen des Verhaltens der ehewilligen und prekarisierten AkteurInnen an. Es betraf sowohl Frauen als auch Männer. Dabei war der Eigensinn nicht nur über die Zeit hinweg beständig, sondern zeigte sich im Einzelfall vor allem hartnäckig. Gleichzeitig trat er zu keiner Zeit eindeutig auf und wurde stets mehrdeutig beurteilt. Diese Ambiguität kristallisierte sich neben seiner Persistenz als weiteres konstitutives Merkmal des Eigensinns heraus. Indem er die Fähigkeiten zur Entwicklung von Taktiken mit sich brachte, entpuppte er sich schließlich selbst als maßgebliche Ressource für die Ehewilligen im Kampf um eine Eheschließung und ihren Erfolg vor Gericht. Das Potenzial des Eigensinns zeigte sich in den Quellen ex negativo auch gerade dort, wo die Entschlossenheit des Eigensinns Reue oder Unsicherheiten wich - und dann selten zum gewünschten Resultat führte. 383 1 Kontinuitäten Ihre konstante Entsprechung fanden der kontinuierliche Eigensinn ehewil‐ liger AkteurInnen und deren taktische Manöver im Widerstand der Opponie‐ renden, der sich bis ans Ende des Untersuchungszeitraums ebenso hartnäckig hielt. Korporationen, Familien und Gemeinden hüteten den Zugang zur Ehe vor Gericht ebenfalls auf taktische Weise. Jede Eheschließung konnte in einer Gesellschaft knapper Ressourcen ohne ausdifferenzierte und effektive staatliche Armenfürsorge eine potenzielle Bedrohung derselben bedeuten. Deswegen überwachten und kontrollierten die Opponierenden den Zugang zur Ehe mit großer Strenge. Diesen versuchten sie einzuschränken, indem sie sich auf patriarchales Ehegesetz beriefen und Zugrechtsklagen sowie Eheeinsprachen erhoben, die die betreffenden Eheschließungen verhindern sollten. In ihrer Optik sollte die Eheschließung durchgehend ein ständisches Vorrecht moralisch integrer und wirtschaftlich selbsttragender Menschen sein und keineswegs einen universellen Rechtsanspruch darstellen. Das förderten auch die Petitionen zu Tage, in denen die Opponierenden grundsätzlich keine eigene Stimme erhielten. Doch zahlreiche Bittschriften thematisierten die Gewalt und die Rügerituale, die sie aus ihrem Umfeld entweder zu befürchten oder bereits erlitten hatten. Die geschilderten Maßnahmen verdeutlichen aber auch, dass zahlreiche prekäre Eheschließungen wohl gar nicht vor Gericht kamen, sondern bereits im sozialen Nahraum scheiterten, wo sie von den Opponierenden auf der informellen Ebene der Sozialkontrolle erfolgreich verhindert wurden. Insofern bezeugen die untersuchten Fälle - ob in den Gerichtsmanualen oder den Petitionen - das besondere Ausmaß des Eigensinns, der Hartnäckigkeit und des taktischen Geschicks der Ehewilligen. Über die gesamten analysierten rund 100 Jahre hinweg gerieten vor allem örtlich exogame Heiraten ins Visier der Opponierenden. Vor 1798 waren 72 % (44 von 61) aller prekärer Ehebegehren exogamer Natur, nach 1803 waren es gar 88 % (64 von 73). Dass Gemeinden, Korporationen, aber auch Familien exogame Verbindungen besonders strikt kontrollierten und zu verhindern versuchten, bestätigt sich anhand der hohen Zahl von Petitionen, die während der Helvetik von exogamen Paarkonstellationen ausgingen. Rund 64 % (102 von 160) aller Bittschriften betrafen Beziehungen, bei denen die Verlobten aus unterschied‐ lichen Heimatgemeinden stammten oder einige von ihnen überhaupt keine Heimatrechte besaßen. Diese nutzten das Mittel der Bittschrift vielfach, um direkt mit der Regierung in Beziehung zu treten. Durch Kanzeldispense oder di‐ rekte Eheerlaubnis konnten sie Widerstand aus ihrem sozialen Umfeld umgehen und die begehrten Eheschließungen mit geringerem Widerstand durchsetzen. Neben der Exogamie lässt sich als ebenfalls markantes strukturelles Merkmal prekärer Eheschließungen identifiziert, dass viele vor Gericht gezogene Ehe‐ 384 1 Kontinuitäten begehren von Witwen und Witwern ausgingen. Und auch in den Petitionen baten wiederum auffällig viele Witwen und Witwer das helvetische Direktorium um eine direkte Ehebewilligung oder einen Erlass der dreifachen Kanzelver‐ kündigung, weil ihre Verbindungen nicht der moralischen Ökonomie lokaler Gemeinschaften und Korporationen entsprachen und daher an der Opposition zu scheitern drohten. Als weitere Gemeinsamkeit vieler prekarisierter Ehe‐ schließungen trat die voreheliche Sexualität auf, die vielfach schon im Vorfeld der jeweiligen Gerichtsverhandlung zu Brautschwangerschaften oder bereits zur Geburt unehelicher Kinder geführt hatte. Gerade bei Paaren ohne oder mit wenig materiellem Besitz drohten die Kinder aus diesen Verbindungen den lokalen Gemeinschaften der Männer zur Last zu fallen, wogegen sich diese vor Gericht mit allen verfügbaren Mitteln sträubten. 385 1 Kontinuitäten 2 Wandel Neben den aufgeführten Konstanten und Kontinuitäten zeigten sich aber vor allem Veränderungen im Verlauf des untersuchten Zeitraums. Es wurde deutlich, dass auch in Bezug auf die Eheschließung die Zeit zwischen 1742 und 1848 - die zwei Drittel jenes ‚Sattels‘ abdeckt, den Reinhard Koselleck begriffsgeschichtlich als beschleunigten Wandel beschrieben hat - eindeutig eine Phase sich rasch verändernder Verhältnisse war. Die Transformationen zeigten sich auf allen hier beobachteten Ebenen, also bezüglich der Normen und Debatten, der Taktiken der Ehewilligen und der Opponierenden sowie der Strategien der richterlichen Instanzen. Ganz grundsätzlich lässt sich im Vergleich der Zeiten für Bern im Übergang vom Ancien Régime zur Helvetischen Republik - von den Rekursurkunden des Berner Oberchorgerichts hin zu den an die helvetische Verwaltung gerichteten Petitionen - zunächst eine drastische Steigerung der Erfolgsaussichten der eigensinnigen und hartnäckigen TaktikerInnen prekarisierter Ehebegehren verzeichnen. Erst im Anschluss fielen die Chancen in der nachhelvetischen Periode rapide ab. Vor dem Oberchorgericht des Ancien Régimes endeten 59 % (36 von 61) der matrimonialen Aushandlungsprozesse prekärer Ehebegehren für die Verlobten mit einem für sie positiven Urteil. Dagegen wurden 90 % aller Petitionen, von denen man erfährt, wie sie beurteilt wurden (97 von 108), mit der Ehebewilligung durch die helvetische Verwaltung belohnt. Betrachtet man allerdings zusätzlich die Erfolgsquote prekärer Ehebegehren in der Zeit nach der Helvetik bis zur Bundesstaatsgründung, so lässt sich nach der Helvetik ein mindestens ebenso markanter Einbruch derselben beobachten. Im Vergleich zum Ancien Régime verkehrten sich die Verhältnisse. Nun wurden lediglich noch 41 % der begehrten Eheverbindungen durch das Oberehegericht und das Berner Amtsgericht legitimiert. Geht man mit Michel de Certeau davon aus, dass die Helden des Alltags stets auf günstige Gelegenheiten hoffen und mit den Ereignissen spielen mussten, um ihre Eheschließungen in flüchtigen Augenbli‐ cken zu realisieren, dann kann festgehalten werden, dass das Ancien Régime im Verhältnis der untersuchten Zeitabschnitte eine ‚mittelmäßige‘ Gelegenheit für den taktischen Erfolg prekarisierter ehelicher Begehren darstellte. Dagegen hielt die Helvetik historisch gesehen für die TaktikerInnen prekärer Eheschließungen viele und geradezu optimale Gelegenheiten bereit. Das gemeinhin als Beginn eines für die Schweiz liberalen Zeitalters beschriebene 19. Jahrhundert bot hin‐ 386 2 Wandel gegen den Ehewilligen hinsichtlich prekärer Eheschließungen die schlechtesten Handlungsoptionen und geringsten Erfolgsaussichten. Die normative Ebene des Ehediskurses war in Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich geprägt durch das zwiespältige Nebeneinander eines ständisch-patriarchalen Ehegesetzes, das einen traditionalen religiösen Se‐ xual-Kodex zum Ausdruck brachte, und einer bevölkerungspolitischen Debatte, die die Bevölkerung als wertvollste Ressource des werdenden Staats erkannte. Während das traditionelle Gesetz die unteren gesellschaftlichen Schichten im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung aufgrund der Armut zunehmend von der ‚reinen‘ Gesellschaft ausschloss und dadurch Armut zusätzlich moralisch brandmarkte, schlugen die populationistischen Stimmen mit Blick auf die gewünschte Bevölkerungsvermehrung eine reformorientierte Heiratspolitik vor, die auf eine gesellschaftliche Verbreiterung der Ehe und einen direkten staatlichen Zugriff auf das Individuum abzielte. Gerade mittels gesellschaftlicher Verbreiterung der Eheschließung als Teil der natürlichen Ordnung sollten Armut, Sittenlosigkeit und Krankheiten reduziert werden. Zugleich konnten dadurch patriarchale Machtansprüche intermediärer Parteien wie Gemeinden, Korporationen und Verwandte beschränkt und die staatliche Machtfülle durch einen zunehmend direkten Zugriff auf das Subjekt im selben Zug ausgebaut sowie die Macht monopolisiert werden. Die konträren ehepolitischen Perspektiven fanden sich auch in den mehr‐ heitlich polyphonen Urteilen der Berner Obereherichter wieder. Über alle Fälle betrachtet, verfolgte eine Minderheit der Richter eine ständisch-patriarchale Ur‐ teilslogik und begünstigte damit die ständischen Zwischengewalten. Dagegen gab eine knappe richterliche Mehrheit den eigensinnigen Ehebegehren der AkteurInnen nach und förderte sowie demokratisierte damit die Eheschließung unter dem Ancien Régime nicht nur in der bevölkerungspolitischen Theorie, sondern auch in der Gerichtspraxis. Während ständische Zwischengewalten und eigenwillige Eheaspiranten über die physische, moralische, ökonomische und emotionale Realisierbarkeit einer in der Zukunft funktionierenden Ehe‐ schließung verhandelten, anerkannten die Obereherichter in vielen Fällen eine ständisch legitimierte Gnadenverwaltung, die in der Mehrheit der Urteile allerdings bevölkerungspolitisch motiviert war und daher tendenziell gnädig, also nicht mit gesetzlicher Strenge zugunsten der prekären Eheschließungen ausschlug. In den meisten Fällen wurden schließlich den Ehegegnern die Ge‐ richtskosten aufgebürdet, wenn sie nicht zwecks Begünstigung der Ehe oder um innerfamiliäre Streitigkeiten zu vermeiden erlassen wurden. So ermöglichte im Gericht ausgerechnet ein ständisches Prinzip eine reformorientierte Ehepolitik. 387 2 Wandel Das Klima ehepolitischer Unentschiedenheit zwischen patriarchalem Gesetz und reformorientierter Bevölkerungspolitik sowie die potenzielle Ergebnisof‐ fenheit schlugen sich auch qualitativ in den Rekursmanualen nieder. Unter dem Ancien Régime fand im Oberchorgericht ein multinormativer Aushandlungs‐ prozess zwischen eigensinnigen Ehewilligen, Opponierenden und Eherichtern statt. Hier erschien die Situation in den Quellen zwischen Erfolg und Miss‐ erfolg tatsächlich am unentschiedensten. Jeder Einwand aus dem sozialen Nahraum sah sich mit einem eigensinnigen taktischen Pendant der ehewil‐ ligen AkteurInnen konfrontiert. Während die Opponierenden insbesondere die Sexualität der Minderjährigen als unkontrolliert und triebhaft und die Ehever‐ sprechungen als unbesonnen darzustellen versuchten, wiederholten diese ihre Eheversprechungen, verwiesen auf die allgemeine Bekanntheit ihres Umgangs und benannten zum Teil den fortgesetzten vorehelichen sexuellen Kontakt als Zeichen der Entschlossenheit. Der Vorwurf unzulänglicher ökonomischer und körperlicher Ehevoraussetzungen seitens der Opponierenden wurde von den Ehewilligen mit der essenziellen Notwendigkeit der Eheschließung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ins Gegenteil verkehrt und gekontert. Dabei stellten die Verlobten für den Erhalt der Ehebewilligung taktisch in Aussicht, dass sich durch die Heirat ihre wirtschaftliche Situation derart verbessern würde, dass dadurch die kollektiven Ressourcen der Gemeinden und Korporationen geradezu entlastet würden. Einwände gegen den Geistes‐ zustand der Ehewilligen wurden durch schiere Anwesenheit im Gericht, also im wortwörtlichen Sinne durch Geistesgegenwart entkräftet. Sowohl die ein‐ sprechenden Parteien als auch die sich verteidigenden Ehewilligen versuchten wiederholt in taktischer Weise die moralische Integrität der Gegenseite zu diskreditieren. Opponenten von Eheschließungen setzten dafür insbesondere bei mittellosen Paaren bei der sexuellen Vorgeschichte, den Ehemotiven und somit beim Verhältnis zwischen Emotionen und wirtschaftlichem Kalkül an. Die Ehewilligen unternahmen ihrerseits Anstrengungen, die Einsprachen als lediglich ökonomisch motiviert darzustellen und damit zu zeigen, dass die Eheschließung für die Opponierenden ausschließlich einen Schacher darstellte, der der Würde der Eheschließung als erster Ordnung Gottes unwürdig war. Außerdem verwendeten einige Prekarier die voreheliche Sexualität und die damit verbundene Brautschwangerschaft beziehungsweise voreheliche Geburt explizit und implizit als ökonomisches Druckmittel, um ihre Eheschließung zu erwirken. Wie mit Bezug auf entsprechende Forschungsarbeiten erläutert wurde, standen die Chancen auf die eigenständige Versorgung unehelicher Kinder wesentlich schlechter als jene von ehelichen. Dieser Umstand hebt nochmals die existenzielle Bedeutung der für die Mehrheit der Bevölkerung in 388 2 Wandel dieser Zeit geradezu unverzichtbaren Eheschließung hervor. Gleichzeitig zeigt er an, vor welches Dilemma die Ehewilligen die Richter mit ihrer vorehelichen Sexualität stellten. Diese mussten in der Folge über ökonomische Risiken für die Gemeinden und Ehewilligen abwägen. War zu erwarten, dass die Ehe die gewünschte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Paares brachte und dieses die Familie in Zukunft eigenständig versorgen konnte, oder drohte dadurch der Gemeinde statt lediglich für ein uneheliches Kind gleich für die Versorgung der ganzen Familie aufkommen zu müssen? Durch die politischen Ereignisse der Helvetischen Revolution gerieten jene reformorientierten, aufklärerischen Kräfte, die sich in Bern bereits während des Ancien Régimes zum Teil im Oberchorgericht eingefunden hatten, auf der Ebene der nominell indirekt demokratischen Republik an die Macht. Darauf verweist unter anderem auch das Indiz, dass direkt zu Beginn der helvetischen Ära eine Volkszählung anberaumt und durchgeführt wurde. Daran zeigte sich, dass während der Helvetik die Bevölkerung tatsächlich zum wichtigsten Gegenstand der Regierung und zum Gradmesser des politischen Erfolges wurde. Die gou‐ vernementale Logik der Bevölkerungspolitik, die in Bern ihren Ursprung um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte, gelangte nun ins Zentrum der Regierung. Die reformerische Stimmung zeigte sich nicht nur in der helvetischen Verfassung, sondern spiegelte sich auch in Bezug auf die Eheschließung in einer Reihe anderer Symptome wider. Lokale Sittengerichte - Verfechter patriarchaler Rechte - wurden aufgehoben, das Berner Oberchorgericht zwischenzeitlich abgeschafft. Einzugsgelder für Bräute aus anderen Gemeinden der Helvetischen Republik wurden suspendiert, wodurch das Heiraten drastisch erleichtert und begünstigt wurde. Bürger wurden zum Mitwirken am Staat und in der Folge zum Petitionieren aufgerufen. Dadurch wurden sie geradezu zur Teilhabe und Mitarbeit an der Staatsbildung eingeladen. Diese Gelegenheit wurde insbeson‐ dere von den ehewilligen AkteurInnen in Bern in der Folge eifrig und mit großem Erfolg genutzt. Einige Petitionen evozierten zu Beginn der Helvetik mit ihrem Eigensinn gar manifeste Gesetzesänderungen im Eherecht, indem sie mit ihren taktisch formulierten Ehebegehren parlamentarische Debatten anstießen. Interkonfessionelle Ehen wurden daraufhin erlaubt, Verwandtenehen wurden neuerdings bis zum zweiten Grad der Blutsverwandtschaft gesetzlich toleriert. In den Petitionen konnte sich zudem ein neuartiges direktes Verhältnis zwischen Staat und Regierten entwickeln, das die opponierenden Intermediären nicht ausblendete, aber zu Objekten aufklärerischer Kritik werden ließ. Ehegegner erschienen in den taktischen Argumentationen der Petitionen als unaufgeklärte Vertreter partikularer Interessen, die dem Streben nach Ruhe und Ordnung im ohnehin instabilen staatlichen Konstrukt zuwiderliefen und den natürlichen 389 2 Wandel Fortschritt aufzuhalten drohten. Dabei ist in der Untersuchung gleichzeitig deutlich geworden, dass Rügerituale und Charivaris am Ende des 18. Jahrhun‐ derts keinesfalls zu existieren aufhörten und in diesen sozioökonomischen Umbruchzeiten vielleicht sogar eine Intensivierung erfuhren. Darüber müsste allerdings eingehender geforscht werden. Während des helvetischen Intermezzos erprobten die Ehewilligen und die Verwaltung gemeinsam quasi ein neues Verhältnis zwischen Souverän und BürgerIn, das es erlaubte, Dorfaristokraten und Patriarchen zu übergehen und dadurch deren prekarisierenden Einfluss auf die Eheschließungen zu mindern. Darunter konnten sich in den Bittschriften vor allem neuartige Gefühle entfalten und manifestieren, die in den Gerichtsurkunden höchstens in negativer Weise angedeutet worden waren. Vor dem Oberchorgericht hatte voreheliche Liebe keine Ressource ehewilliger Paare dargestellt, sondern eine als Täuschung interpretierte Leidenschaft. Sie wurde, ganz im Gegenteil, von den Opponie‐ renden vor Gericht als Einwand gegen die Eheschließung genutzt, indem sie als instabile und flüchtige Gefühlsregung ausgelegt wurde, die kein Glück aus der begehrten Ehe erwarten ließ und zwangsläufig zu Zerrüttung führen musste. Das Auftreten der Liebe in den vorhelvetischen Gerichtsurkunden deutet ex negativo dennoch auf die Wahrnehmung und Erfahrung dieses Gefühls weit unterhalb des Bürgertums hin. Gegen die abwertende Beurteilung der Liebe in den Gerichtsquellen des Ancien Régimes wurde von den helvetischen Petenten und deren Notare über die Liebe als schicksalhaftes und natürliches Gefühl, das gewissermaßen auf die Ewigkeit angelegt war, beredtes Zeugnis abgelegt. Was natürlich war, konnte in den Augen der Aufklärer dem Gesetz nicht widersprechen. Und so konnte auch die voreheliche Sexualität, die der Liebe in der Logik der Bittschriften natürlich folgte, im Sinne der Naturrechtslehre keinen Ehehinderungsgrund mehr darstellen. Die vorliegende Arbeit zeigte, wie die Petitionierenden in der Folge quasi in einem Akt des Patriotismus intime Gefühle mit dem Staat zu teilen begannen, dabei gleichzeitig an die Gefühle und gütige Vaterliebe der als Bürger angesprochenen Gesetzgeber appellierten und diese im Gegenzug in den allermeisten Fällen zurückerhielten, was gegenseitige Loyalitäten und Verbindlichkeiten schaffen sollte. Es hat sich gezeigt, wie stark die spezifische Art und Wertigkeit der Gefühle und deren Möglichkeiten, sich Ausdruck zu verschaffen, von der historischen Regierungsform abhängig waren. Gleichzeitig hat sich in der Regierung der Gefühle vom Ancien Régime zur Helvetik ein eindeutiger Bruch gezeigt. Während das Oberchorgericht Gefühle tendenziell unterdrückte, kultivierte die helvetische Zentralregierung diese, um in engen Kontakt zu den Subjekten zu treten. Daran zeigt sich auch eine tendenzielle Verschiebung der Art des Paternalismus vom Ancien Régime zur 390 2 Wandel Helvetik: Während die alte Obrigkeit sich nicht nur gütig, sondern durchaus auch hausväterlich streng und disziplinierend zeigen konnte, inszenierten sich die helvetischen Landesväter als familiär und kümmerten sich um die innersten Gefühle der Menschen. Ein weiteres wichtiges Argument der Petitionäre für die Legitimation ihrer Ehebegehren betraf deren Wirtschaftlichkeit. Diese Figur der Ehe als ökono‐ misches Institut war bereits aus dem Ancien Régime bekannt, erhielt aber während der Helvetik zum Teil im Zusammenhang mit der vermeintlich schneller voranschreitenden Zeit einen neuen, fortschrittsorientierten Akzent. Es musste schnell und ohne Verzögerung geheiratet werden können, damit der wirtschaftliche Fortschritt nicht aufgehalten wurde - so die vom frühneuzeitli‐ chen Selbsthilfe-Argument differenzierte Petitionsrhetorik. In den Akten des Oberchorgerichts musste die Ehe auch von den Taktike‐ rInnen als Privileg, dessen man sich vor Gericht verdient machen musste, angesehen werden. Die Eheschließung entsprach im ständisch organisierten Bern vor der Helvetischen Republik keiner Gleichheitsforderung. Dabei hatten die AkteurInnen prekarisierter Ehebegehren versucht, sich als gute Menschen zu inszenieren, um sich der Ehe würdig zu erweisen. In der Helvetischen Republik traten die petitionierenden Frauen, Männer und Paare wesentlich selbstbewusster auf und forderten die Ehe insbesondere im Sinne eines neuen Gleichheitsrechts ein, das ihnen zuvor von den aristokratischen Herrschern verwehrt geblieben war. Daneben wurde auch zunehmend in standardisierter Weise auf andere Beispiele der Kanzeldispens und Ehebewilligung verwiesen. Die formale Ehebewilligung wurde hier bereits im Sinne einer Routine oder Tradition eingefordert, was allerdings ebenfalls einem Bruch mit der alten bernischen Privilegienordnung gleichkam. Es handelte sich dabei zwar nicht um eine grundsätzlich neue Form der Gleichheitsforderung. Im Kontext der Eheschließung tauchte sie unter dem Ancien Régime als Taktik in den unter‐ suchten Gerichtsakten gleichwohl nie auf. Zu einer neuen Form der Gleichbehandlung der Eheschließung kam es dann in der Zeit nach der Helvetik. Allerdings handelte es sich dabei nicht mehr um eine naturrechtliche Gleichbehandlung, sondern um eine verfahrens‐ rechtliche Gleichbehandlung. Das Ende der Helvetischen Republik brachte vorerst eine vermeintliche Rückkehr zum vorhelvetischen Zustand. Doch dieser Eindruck ist trügerisch. Einerseits wurde das Ehegesetz in Bezug auf weltan‐ schauliche Hinderungsgründe in Kontinuität zur Helvetik durch punktuelle Verordnungen entscheidend säkularisiert und liberalisiert. Interkonfessionelle Eheschließungen wurden im Nachgang der Helvetik unter bestimmten Voraus‐ setzungen in Bern weiterhin toleriert. Ehen im vormals verbotenen zweiten 391 2 Wandel Grad der Verwandtschaft wurden nach kurzer Unentschiedenheit grundsätz‐ lich zulässig. Andererseits wurde das alte patriarchale Gesetz, das von den Oberchorrichtern zuvor mit viel Gnade ausgelegt und verwaltet worden war, in Bezug auf die armen Bevölkerungsschichten unter dem Eindruck der auf‐ kommenden bevölkerungspolitischen Diskussion des Pauperismus rigoros und prinzipiengetreu angewendet. Diese kategorische Rechtsanwendung auf die besitzlosen Schichten, die zunehmend auch kriminalisiert wurden, zeitigte verschiedene Effekte. Anhand der Quellensprache konnte gezeigt werden, dass der hartnäckige Eigensinn der ehewilligen AkteurInnen nicht abriss. Und auch die Opponierenden präsentierten weiterhin moralisierende Argumente im Ehegericht. Aber ihren taktischen Manövern waren nun wesentlich engere Grenzen gesetzt. Während im vorhelvetischen Zeitraum die Mehrheit der Einsprachen und Zugrechtsklagen aus der Verwandtschaft und insbesondere von den Vätern der ehewilligen Akteure stammten (59 %), verschob sich dieses Verhältnis schon gegen das Ende des Ancien Régimes allmählich hin zu einer Mehrzahl von Einwänden von Gemeindevertretern und Korporationen der männlichen Ehewilligen. Im nachhelvetischen Zeitraum kamen dann sogar 81 % (59 von 73) aller Einsprachen gegen die Eheschließungen aus den Reihen der Gemeinden und Korporationen der Männer. Diese Entwicklung erschien gepaart mit dem Trend, dass im Vergleich von Ancien Régime und nachhelvetischer Zeit immer weniger Ehehindernisse aus dem sozialen Umfeld der ehewilligen Frauen geltend gemacht wurden. Vor 1798 stammten noch rund 34 % (21 von 61) aller Einsprachen aus dem Umfeld der Frauen. Nach dem helvetischen Intermezzo entstammten gerade noch 10 % (7) der Einsprachen dem sozialen Hintergrund der Frauen. Die quantitativen Entwicklungen fanden ihren Niederschlag auch in den von den Opponierenden vorgebrachten juristischen Hinderungsgründen. Vor der Helvetik war der patriarchale Hinderungsgrund der Minderjährigkeit das am häufigsten geltend gemachte rechtliche Argument, um eine Eheschließung einer Angehörigen oder eines Angehörigen zu prekarisieren. 44 % (27) aller Einsprachen erfolgten aufgrund der Minderjährigkeit des Zöglings. Diese Zahl korrelierte mit der gestiegenen Zahl an Einsprachen aus dem familiären Umfeld, dem es vor allem um standesgemäße Eheschließungen ging, die die Familienehre nicht mindern und neue Ressourcen erschließen sollten. In Bezug auf das Ehrkapital einer Familie spielten nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen eine wesentliche Rolle. Ihnen kam bei der Erweiterung des Familien‐ netzwerks und beim Zugewinn neuer Ressourcen eine große Bedeutung zu. Nach der Helvetik war der am meisten angebrachte Hinderungsgrund die 392 2 Wandel Besteuerung, das heißt die Abhängigkeit von kommunaler oder korporativer Fürsorgeleistungen der männlichen Partei. In 60 % (44 von 73) der Fälle waren vermeintlich nicht zurückbezahlte Unterstützungsleistungen an die Gemeinde oder Korporation die rechtliche Grundlage der Opponierenden, um Einsprache gegen eine Eheschließung ihrer männlichen Angehörigen zu erheben. So lässt sich diese doppelte Verschiebung bezüglich Geschlecht und von patriarchalen hin zu ökonomisch akzentuierten Einsprachegründen tendenziell als Anzeichen des Übergangs von einer frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft hin zu einer zuneh‐ mend ökonomisierten Erwerbsgesellschaft im 19. Jahrhundert deuten, in der die Bedeutung familiärer Ehre auf Kosten materieller Werte wie Besitz und Vermögen abnahm. Auf der Ebene der Taktiken schlug sich diese Entwicklung einer zuneh‐ menden ökonomischen Prekarisierung der Eheschließungen gepaart mit der prinzipientreuen Gesetzesanwendung der Oberehe- und Amtsrichter in Form einer drastischen Abnahme der Argumentationsvielfalt nieder. Im Oberchor‐ gericht war eine Vielzahl unterschiedlicher Argumente entwickelt worden, die untereinander in kreativer Weise kombiniert worden waren. Nun ging es im Gericht vor allem um beweisrechtliche Fragen. Das Gericht lehnte geburts‐ ständische Gnade als Urteilsprinzip durchaus in Kontinuität zur Helvetischen Republik ab und urteilte dafür kategorisch nach strengen besitzständischen Kriterien. Dadurch nahm auch die Mehrstimmigkeit im Gericht ab und ein Großteil der Urteile wurde nun einstimmig gefällt. Wo die Besteuerung der prekarisierten Ehewilligen bewiesen war, wurde die Eheschließung vom Gericht tendenziell abgelehnt. Emotionen wurden von den Richtern nicht sui generis abgelehnt, doch sollten menschliche und insofern willkürliche Befindlichkeiten keinen Einfluss mehr auf die Rechtssprechung haben. Sie erhielten daher einen nur sehr marginalen Platz in den Urteilsurkunden. Aus dem verhandelbaren geburtsständischen Privileg war ein Institut besitzständischer Gleichheit ge‐ worden, das Arme und Bedürftige in zunehmendem Maß von der Ehe ausschloss und damit zusätzlich benachteiligte. Dieser Umstand änderte sich in Bern erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 grundlegend, indem diese die Ehe in ein persönliches Freiheitsrecht überführte. So entwickelte sich die Eheschließung in Bern zwischen 1742 bis 1848 in der Praxis von einem geburtsständischen Privileg, das von der Gnade der Eherichter und dem Patriziat abhängig war, aufgrund der herrschenden Bevölkerungspo‐ litik aber zunehmend gnädig erteilt wurde, über ein Menschenrecht hin zu einem besitzständischen Vorrecht, das im Gericht verfahrensrechtlich formalisiert durchgesetzt wurde. Daran zeigt sich, dass die sogenannte ‚Sattelzeit‘ auch für die Ehe durchaus eine transformative historische Phase war und vor allem eine 393 2 Wandel ideengeschichtliche Schwelle darstellte. Allerdings offenbarte sich der Wandel darin nicht unbedingt in jenem fortschrittsoptimistischen Sinn, der von einer aufklärerischen Entwicklung hin zu einer in der Praxis gerechteren Gesellschaft unter Gleichen ausging. Wesentlich stärker wurden im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in Bezug auf die Ehe soziale Unterschiede neu konfigu‐ riert. Ihre gerichtliche Durchsetzung erfolgte im nachhelvetischen Zeitraum zwar verfahrensrechtlich formalisiert und daher nach juristischen Grundsätzen gleich. Dadurch wurden jedoch eine wachsende Zahl armer Menschen aus der ehelichen Privilegienordnung kategorisch ausgeschlossen, weil richterliche Gnade zugunsten populationistischer Anschauungen verunmöglicht wurde. Gleichzeitig wurde damit eine Bevölkerungspolitik gefördert, die sich prinzipiell gegen Arme und Unterschichten richtete. Was folglich, trotz oder eben gerade wegen dem Wandel, allen drei Epo‐ chen gemein war: Die Menschen mussten dieser ‚natürlich‘ heteronormativ gedachten Idee der einzig legitimen Paarbeziehung Genüge leisten, um die Ehe, die ihnen aufgrund der herrschenden Normen unvergleichliche Vorteile brachte, zu erhalten. Dazu unternahmen sie ungeheure taktische Anstrengungen. Und so stellt sich am Ende dieser Untersuchung aus den angestellten historischen Überlegungen in Bezug auf die Gegenwart die Frage, wie viel durch die soge‐ nannte Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare für eine Gesellschaft tatsächlich gewonnen werden kann. Ist damit - so sehr man sich die Gleichberechtigung aller Menschen wünscht - tatsächlich eine Öffnung der Gesellschaft verbunden, die über eine juristische Gleichberechtigung homosexueller Paarbeziehungen hinausgeht, oder lässt sich daran lediglich die voranschreitende Verarmung, soll heißen Verbürgerlichung, aller Beziehungsformen beobachten? Und was passiert dabei mit all jenen Migrant*innen, die die für die Heirat nach wie vor erforderliche Vermögensbescheinigung und Herkunftsnachweise nicht er‐ bringen können? Wie werden Vulnerabilitäten abgesichert, die sich aus allen Be‐ ziehungsformen auch außerhalb der Ehe ergeben? Welche Geschlechterstereo‐ typen liegen der Gesellschaft eines Landes zugrunde und welche Rollenmuster fördert sie damit, wenn sie in der Schweiz gegenwärtig verwitweten Frauen mit gemeinsamen Kindern aus einer Ehe eine lebenslängliche Rente zubilligt, das Anspruchsrecht der Männer allerdings mit der Minderjährigkeit des jüngsten Kindes endet? Von was für einer eherechtlichen Gleichberechtigung ist die Rede beziehungsweise wie viele Beziehungsformen lassen sich vorstellen, wenn die entsprechende Eheordnung polyamore und bisexuelle Beziehungsformen ausschließt? 394 2 Wandel F Quellen- und Literaturverzeichnis 1 Ungedruckte Quellen 1.1 Staatsarchiv Bern StABE, B III 437. Instruktionenbuch für das obere Chorgericht der Stadt und Republik Bern (1708-1790). StABE, B III 824. Band A; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1743-1748). StABE, B III 667. Chorgerichtsmanual des Oberehegerichts Bern (1751). StABE, B III 826. Band C; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1756-1767). StABE, B III 827. Band D; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1767-1773). StABE, B III 829. Band F; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1781-1792). StABE, B III 438. Instruktionenbuch für das obere Chorgericht der Stadt und Republik Bern (1790-1828). StABE, B III 830. Band G; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1792-1797). StABE, B III 179. Akten der Kommission über den Verfall der Religion; Band 1 (1793-1795). StABE, B III 440. Registerband zum Instruktionenbuch Bd. I (ca. 1795). StABE, B III 831. Band H; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1798-1809). StABE, B III 840. Ehegerichts-Protokoll der Distriktsgerichtschreiberei Aeschi (1798-1803). StABE, A II 3047. Regierungsakten; Verwaltungsabteilungen (Kollegien); Oberehegericht (1803-1830). StABE, B XIII 580. Eherodel über die Heiraten mit Katholischen (1804-1831). StABE, K Bern 9. Eherodel Nr. VIII (1805-1829). StABE, B III 833. Band K; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1814-1820). StABE, B III 835. Band M; Rekurs-Manual des Chorgerichts der Stadt Bern / Oberehege‐ richts des Kantons Bern (1826-1831). StABE, A II 4474. Bittschriften des Landes (1830). StABE, Bez Bern B 2748 Band 1. Konsistorial-Manual (1832-1833). StABE, Bez Bern B 2755 Band 8. Konsistorial-Manual (1844-1848). StABE, Bez Bern B 2760. Konsistorial-Manual (1862-1865). 396 F Quellen- und Literaturverzeichnis 1.2 Schweizerisches Bundesarchiv BAR B0#1000/ 1483#1409*, Kirchenwesen; Waldstätten; Pfarreien A-C (1798-1802). BAR B0#1000/ 1483#222*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1798, Teil 1 (1798-1798). BAR B0#1000/ 1483#223*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1798 Teil 2 und 1799 Teil 1 (1798-1799). BAR B0#1000/ 1483#224*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 2 (1799-1799). BAR B0#1000/ 1483#225*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 3 (1799-1799). BAR B0#1000/ 1483#226*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1799 Teil 4 (1799). BAR B0#1000/ 1483#227*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1800 Teil 1 (1800). BAR B0#1000/ 1483#228*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1800 Teil 2 (1800). BAR B0#1000/ 1483#229*, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privatper‐ sonen, Munizipalitäten, Petitionen, Denk-, Zuschriften aus Kantonen von Privat‐ personen, Munizipalitäten, Gemeindekammern, kant. Verwaltungskammern, Regie‐ rungsstatthaltern, Beamten, Ministern, Kantons-, Distriktsgerichten, Kirchgemeinden etc. an die Legislative, mit Beilage: Bern 1801 (1801). BAR B0#1000/ 1483#489*, Korrespondenz an den Kleinen Rat bzw. an den 2. Vollzie‐ hungsrat von Privatpersonen [Gesuche um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkündigung], Munizipalitäten, Regierungsstatthaltern und kantonalen 397 1.2 Schweizerisches Bundesarchiv Verwaltungskammern [alle Bereiche der Staatsverwaltung betreffend], geistlichen Würdeträgern, Offizieren und französischen Generälen. Korrespondenz von im Zu‐ sammenhang mit dem dritten und dem vierten Staatssreich zurückgetreten oder entlassenen bzw. neu eingesetzten Beamten. Akten über den vierten Staatsstreich vom 17./ 20. April 1802(1)\Korrespondenz von designierten Mitgliedern der Notabeln‐ versammlung und des 3. [4.] Senats sowie von designierten Staatssekretären. 21. Dezember 1801-30. August 1802 (1801-1802). BAR B0#1000/ 1483#490*, Korrespondenz. Korrespondenz an den 2. Vollziehungrat von Privatpersonen [Gesuche um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkün‐ digung], Munizipalitäten, Distrikten und Regierungsstatthaltern [alle Bereiche der Staatsverwaltung betreffend], Offizieren, französischen Generälen, Staatssekretären und Beamten [Forderung rückständiger Gehälter] und Senatoren. Korrespondenz von im Zusammenhang mit dem „Stecklikrieg“ zurückgetretenen bzw. neu eingesetzten Beamten. Korrespondenz der offiziellen helvetischen Delegation an der Konsulta in Paris(1). 13. Juli 1802 - 7. März 1803 (1802-1803). BAR B0#1000/ 1483#602*, Eheangelegenheiten. Gesetz über die Zulässigkeit konfessionell gemischter Ehen vom 2. August 1798 [Petitionen von Privatpersonen](1)\Gesetzliche Zulassung von Ehen zwischen Geschwisterkindern am 17. Oktober 1798 [Petitionen von Privatpersonen](2)\Beurteilung von eherechtlichen Angelegenheiten wie nicht eingehaltenen Eheversprechen, Fällen von Ehebruch, Vaterschaftsklagen und derglei‐ chen durch die helvetischen Behörden [Petitionen und Beschwerden von Privatper‐ sonen aus verschiedenen Kantonen] (1798-1801). BAR B0#1000/ 1483#604*, Dispensation von sich in der Helvetischen Republik aufhal‐ tenden Ausländern von der gesetzlich verordneten Eheverkündigung (1). Gesuche von Privatpersonen aus verschiedenen Kantonen um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkündigung, Helvetischer Vollziehungsausschuss (1798-1801). BAR B0#1000/ 1483#605*, Dispensation von sich in der Helvetischen Republik aufhal‐ tenden Ausländern von der gesetzlich verordneten Eheverkündigung (1). Gesuche von Privatpersonen aus verschiedenen Kantonen um Dispensation von der zweiten und dritten Eheverkündigung (1798-1801). 1.3 Archives cantonales vaudoises Archives cantonales vaudoises (ACV), Bg 13/ 4. Mariages entre cousins germains, ou autres semblables, question de validité, punitions encourues, remises de peines (1538-1890). 398 1 Ungedruckte Quellen 2 Gedruckte Quellen 2.1 Verwaltungsquellen Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der helvetischen Republik (ASHR) (1798- 1803), hrsg. v. Johannes Strickler, 16 Bde., Bern 1886-1966. Artickel und satzung, die ee beträffend (17. Mai 1529), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 1; Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1960, 381-389. Beschluss. Katholischer Gottesdienst in Bern (4. Februar 1804), in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 326-330. Chorgerichtssatzung (3. Juli/ 5.Dezember 1743), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 762-791. Civil-Gesetz für die Stadt und Republik Bern, 1. Theil. Personen-Recht. Mit Anmerkungen von Dr. Samuel Ludwig Schnell, Bern 1825. Dekret. Heyrath mit katholischen Glaubensgenossen (23. Mai 1804), in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde., Bern 1805-1817, 381-382. Der statt Bern chorgerichts satzung umb ehsachen, huerey und ehbruchs-straff, anstell- und erhaltung christenlicher zucht und ehrbarkeit, und was zur selben gehörig. Zu statt und land zugebrauchen (28. Juni 1634/ 1667), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 719-747. Ehegerichts-satzung für die stadt Bern und dero lande (25. Januar 1787), in: Die Rechts‐ quellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 794-825. Eheverkündigung der Hintersässen, Landsassen, Handwerksleute und Dienstboten (11. Februar 1790), in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte. Bd. VI, 2: Staat und Kirche, hrsg. v. Hermann Rennefahrt, Aarau 1961, 826. Erneuerte Gerichts-Satzung vor Die Stadt Bern, Und Derselben Teutsche Städte und Landschaften. Erster Theil Der Gerichts-Satzung, Bern 1762. Gesetz über die Einzugsgelder für die Heirathen mit äusseren Weibspersonen (20. Dezember 1816), in: Neue Sammlung der Gesetze und Dekrete des Großen und kleinen 399 2 Gedruckte Quellen Raths der Stadt und Republik Bern, Bd. 1, hrsg. v. Staatskanzlei des Kantons Bern, 5 Bde. 1818-1831, 226-230. 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Tabelle: Petenten nach Beschäftigungen (Quellen: BAR B0#1000/ 1483#223*-229*; 489*; 490*; 604*; 605*) . . . . . . . . . . 258 Diagramm 6: Eheschließungen zwischen katholischen Männern und reformierten Frauen in Bern zwischen 1804 und 1831 (Quelle: StABE B XIII 580, Eherodel über die Heiraten mit Katholischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Diagramm 7: Opponierende (73) gegen prekäre Eheschließungen, 1803-1847 (Quellen: StABE B III 831; 833; 835; Bez Bern B 2755; 2748) . . 343 Konflikte und Kultur herausgegeben von Carola Dietze, Joachim Eibach, Mark Häberlein, Gabriele Lingelbach, Ulrike Ludwig, Dirk Schumann, Gerd Schwerhoff Bisher sind erschienen: 1 Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff (Hrsg.) Kriminalitätsgeschichte Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne 2000, 920 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-89669-934-3 17 Christian Hochmuth Globale Güter - lokale Aneignung Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden 2008, Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-86764-082-4 18 Mathis Leibetseder Die Hostie im Hals Eine ›schröckliche Bluttat‹ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726 2009, 200 Seiten €[D] 24,- ISBN 978-3-86764-208-8 19 Sarah Bornhorst Selbstversorger Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm 2010, 374 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-249-1 20 Mark Häberlein, Christian Kuhn, Lina Hörl (Hg.) Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750) 2011, 314 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-86764-254-5 21 Päivi Räisänen Ketzer im Dorf Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg 2011, 370 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-86764-255-2 23 Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richert, Gerd Schwerhoff (Hrsg.) Das Duell - Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne 2012, 372 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-86764-319-1 24 Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815) 2011, 60 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-86764-320-7 25 Albrecht Burkardt, Gerd Schwerhoff (Hg.) Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2012, 450 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-86764-371-9 26 Matthias Bähr Die Sprache der Zeugen Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) 2012, 316 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-86764-397-9 27 Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation 2013, 386 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-403-7 28 Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hrsg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften 2013, 218 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-86764-404-4 29 Andreas Flurschütz da Cruz Zwischen Füchsen und Wölfen Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden 2014, 460 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-86764-504-1 30 Nina Mackert Jugenddelinquenz Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre 2014, 338 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-86764-559-1 31 Maurice Cottier Fatale Gewalt Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne. Das Beispiel Bern 1868-1941 2017, 246 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-86764-719-9 32 André Krischer, Tilman Haug (Hrsg.) Höllische Ingenieure Kriminalitätsgeschichte der Attentate und Verschwörungen zwischen Spätmittelalter und Moderne 2021, 263 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-7398-2770-4 33 Suphot Manalapanacharoen Selbstbehauptung und Modernisierung mit Zeremoniell und symbolischer Politik Zur Rezeption europäischer Orden und zu Strategien der Ordensverleihung in Siam 2017, 292 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-86764-809-7 34 Moritz Glaser Wandel durch Tourismus Spanien als Strand Europas, 1950-1983 2018, 396 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-86764-826-4 36 Eva Keller Auf Bewährung Die Straffälligenhilfe im Raum Basel im 19.-Jahrhundert 2019, 304 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-86764-892-9 36 Patrick Berendonk Diskursive Gerichtslandschaft Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert 2020, 268 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7398-3074-2 37 Sarah Masiak Teufelskinder Hexenverfolgung und gesellschaftliche Stigmatisierung im Hochstift Paderborn (1601-1703) 2020, 554 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-7398-3095-7 38 Franz-Josef Arlinghaus, Peter Schuster (Hrsg.) Rang oder Ranking? Dynamiken und Grenzen des Vergleichs in der Vormoderne 2020, 114 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-86764-914-8 39 Arno Haldemann Prekäre Eheschließungen Eigensinnige Heiratsbegehren und Bevölkerungspolitik in Bern, 1742-1848 2021, 430 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-7398-3173-2 Arno Haldemann Eigensinnige Heiratsbegehren und Bevölkerungspolitik in Bern, 1742-1848 Prekäre Eheschließungen Arno Haldemann Prekäre Eheschließungen www.uvk.de ISBN 978-3-7398-3173-2 Konflikte und Kultur In der Vergangenheit haben viele historische Studien Ehe und Sexualität auf kommunaler Ebene thematisiert. Dabei blieben die sich während der sogenannten ‚Sattelzeit‘ rasant wandelnden Haltungen der übergeordneten Zentralgewalten jedoch vernachlässigt. Letztere rissen in einem gipfelnden Staatsbildungsprozess das Gewaltmonopol immer vehementer an sich und wiesen Interessen von Partikularmächten zunehmend energisch zurück. Die vorliegende Arbeit begegnet dem genannten Desiderat, indem sie Eheschließungen als Aushandlungsprozesse zwischen ehewilligem Eigensinn, kommunaler und familiärer Ressourcenpolitik sowie obrigkeitlicher Biopolitik analysiert. Exemplarischer Untersuchungsraum ist das Gebiet der ehemals großen Stadtrepublik Bern, die sich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer Transformation von einem der mächtigsten alteidgenössischen Bundesglieder zu einem gleichberechtigten bundesstaatlichen Kanton befand. Die Quellengrundlage für die Erforschung des wechselseitigen Beziehungsdreiecks von ehebegehrenden Paaren, sozialem Umfeld (Familien, Verwandte, Gemeinden sowie Korporationen) und obrigkeitlichem Ehegericht bilden Ehegerichtsakten und Petitionen um Eheerlaubnis, aber auch Ehegesetze und bevölkerungspolitische Debatten, die die Aushandlungsprozesse beeinflussten.