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Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive

2022
978-3-7720-5708-3
A. Francke Verlag 
Tobias Kurwinkel
Stefanie Jakobi
10.24053/9783772057083

Literarische Motive - vom Motiv des Schwimmbads über das Schwert bis hin zum Spiel - sind zentrale Bausteine in Kinder- und Jugendmedien und somit Gegenstand der literatur- und medienwissenschaftlichen wie der literaturdidaktischen Betrachtung. Trotz dieser Bedeutung fehlte bis dato ein motivanalytisches Modell, das zum einen für die literaturwissenschaftliche Analysepraxis tragfähig, zum anderen für die didaktische Auseinandersetzung geeignet ist. Dieser Band stellt ein solches Modell vor, leitet dieses von einem trennscharfen und operationalisierbaren Motivbegriff her und verankert es in aktuellen literatur- und medientheoretischen Diskursen. Weiterhin etabliert der Band eine Typologie, die es ermöglicht, Motive und ihre konstellativen Verbindungen abzubilden. Exemplarisch werden Begriff, Typologie und Modell in Einzelanalysen relevanter Motive zur Anwendung gebracht. Der Band versteht sich damit als Beitrag zu einer theoriegeleiteten Motivforschung.

Literarische Motive - vom Motiv des Schwimmbads über das Schwert bis hin zum Spiel - sind zentrale Bausteine in Kinder- und Jugendmedien und somit Gegenstand der literatur- und medienwissenschaftlichen wie der literaturdidaktischen Betrachtung. Trotz dieser Bedeutung fehlte bis dato ein motivanalytisches Modell, das zum einen für die literaturwissenschaftliche Analysepraxis tragfähig, zum anderen für die didaktische Auseinandersetzung geeignet ist. Dieser Band stellt ein solches Modell vor, leitet dieses von einem trennscharfen und operationalisierbaren Motivbegriff her und verankert es in aktuellen literatur- und medientheoretischen Diskursen. Weiterhin etabliert der Band eine Typologie, die es ermöglicht, Motive und ihre konstellativen Verbindungen abzubilden. Exemplarisch werden Begriff, Typologie und Modell in Einzelanalysen relevanter Motive zur Anwendung gebracht. Der Band versteht sich damit als Beitrag zu einer theoriegeleiteten Motivforschung. ISBN 978-3-7720-8708-0 Kurwinkel / Jakobi (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Tobias Kurwinkel / Stefanie Jakobi (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Tobias Kurwinkel / Stefanie Jakobi (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057083 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer‐ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek‐ tronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8708-0 (Print) ISBN 978-3-7720-5708-3 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0131-4 (ePub) Umschlagabbildung: Isabel Moormann (www.isamoormann.de) © 2022 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 15 31 51 89 107 123 141 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des kinder- und jugendliterarischen Motivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lubkoll Thematologie - Intertextualität - Transmedialität. Theoretische Zugänge zu einer Betrachtung des literarischen Motivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motive Carsten Gansel & José Fernández Pérez Erinnerungskulturen im Streit oder Zwischen Diktatur- und Fortschrittsgedächtnis. Zu Aspekten des Wende-Motivs in der deutschsprachigen Literatur (für junge Leserinnen und Leser) nach 1989 . Philipp Schmerheim Spielerzählungen. Spiel als Wahrnehmungsmodus und Motiv, oder: Transmediale Perspektiven auf das Spiel-Motiv in Erzähltexten für Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Engelns Sofortbilder der Adoleszenz. Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen am Beispiel Life is Strange (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Boyken Literarisches ‚Universalmotiv‘? Das Buchmotiv in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel von Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) und Cornelia Funkes Tintenherz (2003) . . . . . . . . . . . . . . . Volker Pietsch Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 177 195 213 233 251 271 291 307 325 Julia Goldlust Konterkarierte Menschlichkeit. Vom semantischen Schillern des Motivs der Fliege in den Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Rinnerthaler Herr Tiger wird liminal. Das figurale Motiv „Außenseiter“ im zeitgenössischen Bilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Stemmann Sommer, Sonne, Schwimmen. Das Freibad in Kinder- und Jugendromanen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabrina Tietjen Entscheidungen treffen und Wege gehen. Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanie Trolley „Es braucht [ein] Lied von den Farben im Wald“. Ein Streifzug durch die sanftmütigen Wälder der Kinder- und Jugendliteratur und -medien . . . . . . Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller Vom „glücklichen Löwen“ zum „schrecklichen Kako“. Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Kumschlies „Ein Paradies von Licht und Geglitzer“. Der Jahrmarkt in Kinder- und Jugendmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktik Ulf Abraham Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht. Die Motivik jugendliterarischer Fantastik aus literaturdidaktischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Maiwald Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Einleitung Die Bedeutung der Motive Schwert, Jahrmarkt oder auch Mutprobe für das Korpus der Kinder- und Jugendmedien lässt sich bereits nach einem nur kursorischen Blick über das klassische und / oder populäre mediale Angebot für Kinder und Jugendliche nicht bestreiten. Sei es Uli, der - wie Klaus Maiwald in seinem Beitrag in diesem Band darlegt - in Erich Kästners Das fliegende Klassenzimmer (1933) und seinen filmischen Adaptionen in die Tiefe springt, sei es Hannes, der in Max von der Grüns Kinderroman Vorstadtkrokodile - Eine Geschichte vom Aufpassen (1976) in die Höhe klettern muss. Selbige Prävalenz ließe sich auch für die anderen beiden genannten Motive nachweisen; es soll an dieser Stelle jedoch kein simples Auflisten von all denjenigen Figuren erfolgen, die Schwerter aus Hüten oder Steinen ziehen und sich auf medial inszenierten Jahrmärkten verirren. Damit würde dieser Beitrag in die von Emer O’Sullivan benannte Problematik tappen: Eine poetologisch-komparatistische kinderliterarische Stoff- und Motivforschung muß klar unterschieden werden von der in der Kinderliteraturforschung dominanten positivistischen Erstellung von Listen von bestimmen Stoffen und Themen in der Kinderliteratur […]. (O’Sullivan 2000: 70) Vielmehr soll einleitend diskutiert werden, warum sich diese und andere Motive häufig nicht in den gängigen Lexika finden und was sich daraus für eine theoriegeleitete kinder- und jugendliterarische Motivforschung ergibt. Ein erster Erklärungsversuch lässt sich bereits im Vorwort zur ersten Auflage von Elisabeth Frenzels Lexikon Motive der Weltliteratur finden, wenn sie, die Schwierigkeit ihres eigenen Vorhabens offenlegend, postuliert, dass „sich für die lexikographische Erfassung von Motiven die statistisch registrierende Verzettelung nahezu aufdränge.“ (Frenzel 2015: VII ) Ihre 67 Motive umfassende Liste ist dabei das Resultat aus einem Ordnungsprozess, bei dem die verwandten unter ihnen, die sich häufig nur durch den unterschiedlichen Standort des Betrachters und Beurteilers unterscheiden, zusammen[ge]faßt und […] von inhaltlichen Zufälligkeiten und auswechselbaren Einzelheiten [ge]löst (ebd.) werden. Dieser Lesart folgend ließe sich fragen, inwiefern der Jahrmarkt als lokales Motiv, das Kirsten Kumschlies in ihrem Beitrag untersucht, ebenso wie das von Sabrina Tietjen untersuchte Labyrinthmotiv Spielarten des von Frenzel markierten „Unterweltsbesuch[s]“ (ebd.: 700) sind. Eine solche Verbin‐ dung stellen Horst S. und Ingrid G. Daemmrich explizit in ihrem Beitrag zum Labyrinth auf, wenn sie in Bezug auf Vergils Aeneis erklären, dass das „Laby‐ rinth […] Aufschluß über die besonderen Gefahren einer Fahrt in die Unterwelt“ (Daemmrich & Daemmrich 1995: 237) gebe. Für das Werwolfmotiv, das Volker Pietsch als Spielart der von Daemmrich und Daemmrich aufgenommenen Metamorphose deutet, lässt sich diese Verbindung ebenfalls ziehen. Bei der Mutprobe gelingt eine solche Einordnung in die Korpora der gängigen Motivlexika jedoch nur bedingt und sie scheint demzufolge aus der literatur‐ wissenschaftlichen Kanonbildung ausgeschlossen. Argumentieren ließe sich vor diesem Hintergrund für die Etablierung eines Motivkorpus der Kinder- und Jugendmedien, das den Besonderheiten dieses literarischen und medialen Subsystems gerecht wird. In Ansätzen findet sich ein solches Korpus bereits in Heidi Lexes Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur, in dem sie nicht nur das Verwandlungsmotiv aufgreift, sondern mit dem Motiv des „Agieren im elternfernen Raum“ (Lexe 2003: 31) implizit die Mut- oder Bewährungsprobe inkludiert. Ebenso adressiert Kaspar Spinner die Spezifik von kinder- und jugendlitera‐ rischen Motiven, wenn er in seiner Auflistung bewusst Motive (und Symbole) benennt, „die mit grundlegenden Entwicklungsaufgaben, die Kindern und Jugendlichen gestellt sind, zu tun haben.“ (Spinner 2010: 31). Die Motivkonstel‐ lation aus „Minderwertigkeit und Selbsterprobung“ (ebd.: 33) wird dabei von ihm ebenfalls aufgenommen und definiert die von Maiwald diskutierte Mutprobe aus. Die Bestimmung eines genuinen Motivkorpus der Kinder- und Jugendmedien könnte somit die Grundlage für eine theoriegeleitete kinder- und jugendlitera‐ rische Motivforschung darstellen und ein zentrales Desiderat im Forschungs‐ diskurs adressieren. Ein solches Korpus als Basis eines Lexikons kinder- und jugendliterarischer Motive erarbeiten Herausgeber und Herausgeberin aktuell. Jeglicher Korpusbildung vorangestellt ist jedoch die Etablierung eines trenn‐ scharfen und operationalisierbaren Motivbegriffs. Reagiert wird damit gleicher‐ maßen auf O’Sullivans oder Ulrich Mölks Kritik, die moniert, dass „man […] Motivforschung betreibt, ohne sich wirklich darum zu sorgen, was denn genau ein literarisches Motiv sei“ (Mölk 1991: 91). Aufbauend auf einem solchen Begriff, der die Identifikation von Motiven in ihren unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen erlaubt, braucht es eine Typologie, die es ermöglicht, Motive und ihre konstellativen Verbindungen abzubilden. Sichtbar gemacht werden kann dadurch bspw., inwiefern Labyrinth und Jahrmarkt nicht allein unterschiedliche Spielarten des Unterweltbesuches, 8 Einleitung 1 Siehe hierzu https: / / www.kurwinkel.de/ index.php/ forschung/ projekte/ 218-transmedia le-motivik. 2 Vgl. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (2019). Das Modell der transmedialen Motiv‐ analyse am Beispiel der Animationsfilme Spirited Away und Beauty and the Beast. kjl&m 71: 3, 41-49. 3 Siehe hierzu https: / / www.kurwinkel.de/ index.php/ forschung/ transmediale-motivik. sondern originäre und eigenständige Motive sind. Schlussendlich benötigt es ein tragfähiges Analyseinstrument, das in Form eines Modells sowohl den nar‐ rativen Kern von Motiven erkennbar macht als auch seinen unterschiedlichen konkreten Ausgestaltungsdimensionen und -ebenen gerecht wird. Der erste Beitrag des Sammelbands, der Überlegungen und Ergebnisse eines kinder- und jugendliteraturwissenschaftlichen Projekts 1 zur transmedialen Mo‐ tivforschung an der Universität Bremen aufgreift 2 und weiterführt, sucht diese Grundlagenarbeit zu leisten. In Form der beschriebenen Typologie und des Analysemodells stellen diese Grundlagen in jeweils individueller Berücksichti‐ gung die Basis für die motivanalytischen Beiträge des Bandes dar, die - bis auf wenige Ausnahmen - auf Vorträge zurückgehen, die im Dezember 2019 auf einem Symposium 3 an der Universität Duisburg-Essen gehalten wurden. Auf den ersten Beitrag Zur Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellie‐ rung des kinder- und jugendliterarischen Motivs für die transmediale Analyse von Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi folgen mit Christine Lubkoll wei‐ tere theoretische Betrachtungen: Ihr Beitrag resümiert Stationen, Begriffe und Fragestellungen der Thematologie, um darauf aufbauend literaturwissenschaft‐ liche Zugänge zu diskutieren, die eine transmediale Motivanalyse vertiefen können. Der Analyse einzelner Motive und Motivkonstellationen ist die nächste Sektion des Bandes gewidmet: Carsten Gansel und José Fernández Pérez integ‐ rieren die motivtypologischen Differenzierungen von Kurwinkel und Jakobi in das erzähltheoretische Zweiebenmodell Peter Wenzels, um darauf aufbauend Aspekte des Wende-Motivs in der deutschsprachigen Literatur nach 1989 zu untersuchen. Der Beitrag schließt mit einer Checkliste zum Wende-Motiv, die ausgewählte Analysedimensionen des Modells berücksichtigt und entspre‐ chende Frage-Cluster entwirft. Das Motiv des Spiels in Erzähltexten für Kinder und Jugendliche perspek‐ tiviert Philipp Schmerheim. Er arbeitet heraus, dass ‚Spiel‘ und ‚spielen‘ in zahlreichen textanalytisch relevanten Formen auftritt und als ‚Leitmotiv‘ auch die Gestaltung von Erzähltexten als Ganzes beeinflussen kann. Im Beitrag von Markus Engelns werden Spiel und spielen zum motivanaly‐ tischen Untersuchungsgegenstand: Am Beispiel von Life is Strange (Dontnod 9 Einleitung Entertainment, 2015) denkt er über das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen nach; dabei zeigt sich, dass über das Motiv im digitalen Spiel nicht nur Elemente der histoire und des discours, sondern auch verschiedene simulative, ludische und narrative Strukturebenen in Bezug gesetzt werden. Wie Schmerheim setzt auch Thomas Boyken Motivterminologie in Anfüh‐ rungszeichen, wenn er das Buchmotiv als literarisches „Universalmotiv“ in der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel von Texten wie Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) oder Cornelia Funkes Tintenherz (2003) analysiert. In Folge der zunehmenden Digitalisierung sei mit dem Buchmotiv ein Selbstbehauptungsgestus verbunden, so Boyken, der sich insbesondere gegen die Neuen Medien richte. Volker Pietsch untersucht, wie in ausgewählten Kinder- und Jugendmedien das figurale Motiv des Werwolfs umgesetzt - und dabei das jeweilige Potenzial medienspezifischer Aussparungen und Akzentuierungen ausgeschöpft wird: So trete zutage, wie stereotype Darstellungen von Gender, Adoleszenz und Natur mittels des Motivs variiert und z. T. reformiert werden. Über die Fliege als Motiv schreibt Julia Goldlust: Unter Bezugnahme auf die kulturhistorische Einbindung der Fliege in religiöse bis morbide Narrative am Beispiel von Michael Endes Filemon Faltenreich (1984) und Jérémy Clapins J’ai perdu mon corps (2019) untersucht Goldlust, inwiefern die Fliege als figurales Motiv semantisch ambivalent bleibt. Sie zeigt, dass mit dem Insekt sowohl die mediale Vermittlung von Perspektiven als auch die medienästhetische Reflexion in den Blick genommen werden kann. Mit Bilderbüchern als Untersuchungsgegenstand beschäftigt sich Peter Rin‐ nerthaler, der seinen Beitrag dem häufig in Kinder- und Jugendmedien zu findendem Motiv des Außenseiters widmet. Hierbei zeigt er, dass es sich bei Außenseiterinnen und Außenseitern im Bilderbuch um Figuren handelt, die sich intentionell und existentiell in liminale Zustände manövrieren. Auf die figuralen folgen lokale Motive, die ins Zentrum von Augenmerk und Beiträgen rücken: Anna Stemmann bestimmt das Freibad mit Michel Foucault als temporäre Heterotopie und untersucht, welche Funktionen dem lokalen Motiv innerhalb der Handlung, aber auch erzählerisch sowie symbolisch in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen der Gegenwart zukommt. Das Motiv des Labyrinths nimmt Sabrina Tietjen in den Blick; das lo‐ kale Motiv inszeniere grundlegend transmediale Handlungsräume, deren To‐ pographie und metaphorische Eigenschaften vielfältige Erfahrungshorizonte anbieten. Der Beitrag perspektiviert im Besonderen Differenzierungen, die sich aus den aisthetischen und ästhetischen Dimensionen des Motivs in unterschied‐ lichen medialen Aufführungen ergeben. 10 Einleitung Melanie Trolley geht auf den Wald als lokales Motiv ein und stellt eine Inszenierungsform des Motivs in den Fokus, die bisher wenig Beachtung gefunden hat: In Kontrast zum Wald, der Angst und Gefahr bedeutet, gebe der Wald, der „mehr kann als erschrecken“ (s. Trolley in diesem Band, S. 237), Anlass zur Reflexion über Natur und Umwelt. Das Motiv des Zoos analysieren Elisabeth Hollerweger und Sophie Müller; als Untersuchungsgegenstände fungieren ausgewählte Bilderbücher, die zwischen 1955 und 2015 erschienen sind. Berücksichtigung finden dabei Konstanten und Entwicklungen der literarästhetischen Zoodarstellungen und die darin codierten Mensch-Tier-Verhältnisse, die sie methodisch aus Perspektive der Cultural and Literary Animal Studies untersuchen. Kirsten Kumschlies widmet ihrem Beitrag dem Motiv des Jahrmarkts. In ausgewählten Texten untersucht sie das lokale Motiv auf seine Funktion hin, wobei der Jahrmarkt nicht nur als Schwellenmotiv oder Umsteigeplatz in eine phantastische Sekundärwelt fungiert, sondern auch als Abenteuerspielplatz und Rauscherlebnis, als fiktionales Spiel im Spiel. Hieran knüpft ein unterrichtsprak‐ tischer Vorschlag zu einer transmedialen Lektüre von Jahrmarkt-Medien in der Grundschule an - und leitet damit zur didaktischen Sektion des Bandes über. Ulf Abraham positioniert das Erkennen, Benennen und Erklären von litera‐ rischen Motiven, das Werkkenntnis und Vertrautheit mit einschlägigen litera‐ rischen Stoffen in verschiedenen Medien voraussetzt, als Antwort auf die Kritik „an einer Art Wissensblindheit der Kompetenzorientierung“ (s. Abraham in diesem Band, S. 291). Motive versteht er als ‚hotspots‘ poetischen Verstehens, deren Erkennen und Nutzen im Unterricht er an phantastischen Texten für Kinder und Jugendliche exemplifiziert. Anhand der Mutprobe zeigt Klaus Maiwald, dass Motive Kristallisations‐ punkte eines zugleich subjekt- und gegenstandsorientierten literarischen Lernens sein können. In einer Progression von der Primarstufe bis in die Sekundarstufe II systematisiert er dieses Lernen an literarischen Motiven auch curricular. Für diese Beiträge, die eindrucksvoll die Möglichkeiten transmedialer Motivfor‐ schung zur Kinder- und Jugendliteratur demonstrieren, danken wir den Auto‐ rinnen und Autoren; sie haben sich nicht nur auf die Motivforschung und ihre Diskurse, sondern vor allem auf unsere Vorarbeiten und das Weiterschreiben dieser in Form fachwissenschaftlicher und -didaktischer Theorie und Analyse eingelassen. Ohne ihre Geduld und gute Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Manuskripts bis hin zur Drucklegung wäre dieser Band nicht möglich gewesen. Bei der Erarbeitung hat Melanie Trolley (Duisburg-Essen) mitgewirkt, der wir für die umsichtige Redaktionsarbeit danken möchten. 11 Einleitung Bedanken möchten wir uns weiter für die Unterstützung durch die Zentrale Forschungsförderung der Universität Bremen und die Geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Oktober 2021 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Literaturverzeichnis Abraham, Ulf (2022) Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutsch‐ unterricht. Die Motivik jugendliterarischer Fantastik aus literaturdidaktischer Sicht. In: Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, 291-306. Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid G. (1995). Themen und Motive in der Literatur. 2. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen [u. a.]. Frenzel, Elisabeth (2015). Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 5., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (2019). Das Modell der transmedialen Motivanalyse am Beispiel der Animationsfilme Spirited Away und Beauty and the Beast. kjl&m 71: 3, 41-49. Lexe, Heidi (2003). Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur. Wien. Mölk, Ulrich (1991). Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die europäische Bedeutungsgeschichte von „Motiv“- Überlegungen und Dokumentationen. Romanis‐ tisches Jahrbuch 42, 91-120. O’Sullivan, Emer (2000). Stoff- und Motivforschung. In: Dies. (Hrsg.) Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg, 70-75. Spinner, Kaspar H. (2010). Grundmotive und -symbole der Kinder- und Jugendliteratur. In: Grenz, Dagmar (Hrsg.) Kinder- und Jugendliteratur. Theorie, Geschichte, Didaktik. Baltmannsweiler, 31-41. Trolley, Melanie (2022). „Es braucht [ein] Lied von den Farben im Wald“ Ein Streifzug durch die sanftmütigen Wälder der Kinder- und Jugendliteratur und -medien. In: Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, 233-250. 12 Einleitung Theorie Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des kinder- und jugendliterarischen Motivs Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Abstract: Der folgende Beitrag sucht das literarische Motiv für eine trans‐ mediale Analyse in Kinder- und Jugendmedien terminologisch und typolo‐ gisch zu bestimmen. Voran geht dieser Bestimmung eine kurze Skizze der Begriffsgeschichte. Im Fokus des Beitrags steht das Modell der transmedialen Motivanalyse, das am Beispiel des Schwert-Motivs und seiner Inszenierung in der Harry Potter-Heptalogie (1997-2007) vorgestellt und exemplarisch zur Anwendung gebracht wird. Genealogie des literarischen Motivs Ein erster Beleg für die Verwendung des Motivs als literarkritischen Begriff findet sich in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre aus dem Jahr 1795 (vgl. Mölk 1991): Im Zeichen des stürmerisch-drängerischen Kultes um das Origi‐ nalgenie plant der Protagonist im 5. Buch des Bildungsromans eine Shakes‐ peare-Bearbeitung - und überlegt, die „zerstreuten und zerstreuenden Motive“ in Hamlet mit einem einzigen „zu substituieren“ (Goethe 1994a: 296). Diese noch fragmentarischen Gedanken zur Ordnung und Wirkung der Motive im Text ergänzt Goethe zwei Jahre später um Überlegungen zu ihrer Morphologie. Im gemeinsam mit Schiller verfassten Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung (1797) typologisiert er fünf Arten des Motivs: Das vorwärtsschrei‐ tende, das rückwärtsschreitende, das retardierende, das zurückgreifende und das vorgreifende (Goethe 1994c: 250). Eine Definition des Motivs als solches erscheint jedoch erst posthum in den Maximen und Reflexionen (1833); hier heißt es: 1 Dieser Beitrag greift ausschließlich auf literartheoretische und -methodische Aspekte der Motivforschung Frenzels zurück - und nicht auf die literarischen Stereotypen ihrer Motivgeschichte, die in ihrer genealogischen Zeichnung an ihre antisemitische Dissertation aus dem Jahre 1940 anknüpfen. 2 Der erste wissenschaftliche Beitrag zur kinderbzw. jugendliterarischen Motivfor‐ schung, der sich in der Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen (LiMoST) an der Universität Göttingen nachweisen lässt, stammt von Wolfgang Zeiske aus dem angegebenen Jahr: Zeiske, Wolfgang (1965). Das Tier in Literatur und Kinderliteratur. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, 7, 87-97. Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist. (Goethe 1994b: 495) Nach Lektüre eines Goethe-Aufsatzes verwendet Jacob Grimm den Begriff 1823 in einer Rezension (vgl. Mölk 1991: 112); in der noch jungen Deutschen Philologie etabliert sich der Terminus jedoch erst, als sich die „Literaturge‐ schichtsschreibung zur Literaturwissenschaft“ entwickelt: Elisabeth Frenzel 1 zufolge ist dieser Zeitpunkt mit Wilhelm Scherers Poetik aus dem Jahr 1888 gegeben (vgl. Frenzel 2002: 24); in seiner Vorlesung im Sommersemester 1885 nennt Scherer das Motiv und präzisiert es als „elementarer, in sich einheitlicher Teil eines poetischen Stoffes“ (Scherer 1888: 141). Trotz dieser fachhistorischen Tradition und eines beachtlichen Aufschwungs der Forschung in den letzten Jahrzehnten, der sich seit 1965 2 insbesondere in einer großen Zahl an Publikationen im Bereich der Kinder- und Jugendlitera‐ turwissenschaft niederschlägt, haftet diesem Forschungszweig das „Image einer diffusen Disziplin“ (Rickes 1997: 406) an. Dafür ist, wie einleitend erwähnt, zum einen die ausstehende begriffstheoretische Fundierung verantwortlich, zum anderen die Tendenz, Motivforschung als das Zusammenstellen von Listen oder Katalogen ausgewählter Primärliteratur zu bestimmten Motiven zu betreiben, wobei letztere „weder im Hinblick auf ihre ästhetische Funktion noch auf Ge‐ staltungsmomente, Darstellungsweisen, intertextuelle Bezüge usw. untersucht werden“ (O’Sullivan 2000: 70). Bestimmung des literarischen Motivs Motive referieren, wie Goethe schreibt, „Phänomene des Menschengeistes“, „anthropologische Grundsituationen“ also, die zwar „historisch variiert werden, aber in ihrem Kern konstant bleiben“ (Lubkoll 2013: 542); im Text werden diese Situationen in „subjektiver Ausführung“ konkretisiert und stehen in „aktiver Wechselbeziehung zu anderen Textelementen“ (Werlen 2009: 665). Dabei können 16 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi 3 Ein Motiv wie die Zeitreise, das in der Kinder- und Jugendliteratur in einer unüber‐ schaubaren Vielfalt vorkommt (vgl. Planka 2014), gehört ebenso wie das Spiel (s. Schmerheim in diesem Band, S. 89-106) zu den wenigen Motiven, die hiervon insofern eine Ausnahme darstellen, als dass sie die Ebene des discours konfigurieren; ihre erzähltheoretische Verortung ist davon aber unberührt: Sie sind ebenfalls Elemente der histoire. die Wechselbeziehungen sowohl intraals auch intertextuell, innerhalb des Texts als auch zwischen mehreren Texten, gegeben sein; intertextuelle Unter‐ suchungen von Motiven erlauben entsprechend diachrone wie auch synchrone Analysen. In der deutschen Terminologie wird das Motiv von Stoff und Thema unter‐ schieden, mit Frenzel liegt der Unterschied von Motiv und Stoff dabei vor allem in der Abhängigkeit des Stoffs von „feststehende[n] Namen und Ereignissen“ begründet: Der Stoff bietet eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an. Der Stoff ist an feststehende Namen und Ereignisse gebunden und läßt nur gewisse weiße Flecken im bunten Ablauf des Plots stehen, […] während das Motiv mit seinen anonymen Personen und Gegebenheiten lediglich einen Handlungsansatz bezeichnet, der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten birgt. (Frenzel 1999: VI) Das Thema beschreibt Frenzel an anderer Stelle als „das Gedankliche des Inhalts herausfiltrierende[n] Begriff “ (Frenzel 1980: 14). Zuletzt aktualisiert Christine Lubkoll diese Bestimmungen und präzisiert: Das Motiv bilde die „kleinste semantische Einheit“, der Stoff setze sich aus einer Kombination von Motiven zusammen und das Thema stelle die „abstrahierte Grundidee“ eines Texts dar (Lubkoll 2013: 542). Vorangegangen bezeichnet Rudolf Drux das Motiv bereits als Einheit, und zwar als „selbstständige Inhalts-Einheit“ (Drux 2007: 638). Dabei gibt das erste Glied des Kompositums Aufschluss über seine erzähltheoretische Verortung: Das Motiv ist eine Kategorie des Inhalts (vgl. Schneider 2016: 33 ff.), ein Element der histoire (vgl. Kurwinkel 2017: 51, 2020: 67, vgl. Staiger 2019: 16); gehört zur Ebene der Ereignisfolge eines narrativen Texts bzw. einer Erzählung. 3 Über diese Zuordnung in die fundamentalen Ebenen oder Dimensionen eines narrativen Texts (vgl. Vogt 2014: 99), die durch den „Gegensatz zwischen dem ‚Was‘ und ‚Wie‘“ (Martínez & Scheffel 2020: 22) charakterisiert sind, lässt sich das Motiv vom Leitmotiv, von der „Übernahme des musikalischen Formprinzips in den epischen Bereich“ (Mayer 1980: 51 f.), differenzieren: Jene mit Thomas Mann „vor- und zurückdeutende […] magische […] Formel“ (Mann 1974: 611) ist eine narrative Technik, die durch die regelmäßige Wiederkehr von Bild- oder Wortformen bestimmt ist. Damit ist das Leitmotiv maßgeblich ein „Verfahren 17 Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des Motivs der Präsentation“ (Martínez & Scheffel 2020: 22) und auf Ebene des discours, der Zeichenfolge einer Erzählung, verortet. Letztere Ebene ist medial bestimmt: Das Zeicheninventar des discours ist abhängig von der Realisierung im und durch ein Medium. Die histoire-Ebene hingegen ist, wie das Erzählerische selbst, von der jeweiligen medialen Reali‐ sierung unabhängig, da es sich „um Vorstellungsinhalte handelt“ (Wolf 2002: 38). Der histoire sind auch die Kernelemente oder Narreme einer Erzählung zuzu‐ ordnen: Die Figur(en) als Träger der Handlung(en), der Raum und die Zeitdauer. Motive sind an diese Narreme gebunden, sie konkretisieren die Kernelemente als schematisierte Einheiten. Eben diese Einheiten sind, um auf Goethes Mo‐ tivbestimmung zurückzukommen, als „Phänomene des Menschengeistes“ in anthropologischen Grundsituationen verankert. Aus strukturalistischer, literar‐ theoretischer Perspektive stehen sie zwischen den abstrakten Narremen und der konkreten Ausgestaltung dieser in der jeweiligen Erzählung. Typologie des literarischen Motivs Aus der Anbindung der Motive an die Narreme einer Erzählung, an Figuren, an Handlung, an Raum und Zeit ergibt sich eine typologische Ordnung in figurale, objektionale, situationale, lokale und temporale Motive; dabei sind die objektionalen und situationalen Motive dem Narrem der Handlung zugeordnet (Abb. 1): Abb. 1: Typologie literarischer Motive Die Kategorie der figuralen Motive umfasst zum einen Aktanten in singulärer Erscheinung, zu denen eine anthropomorphisierte Tierfigur - wie z. B. die Mäuse in Torben Kuhlmanns Bilderbuchwerk - ebenso zählt wie das sprechende 18 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Spielzeug in Pixars Toy Story-Reihe (1995-2019) oder Werwölfe, die sich bei Cornelia Funke wie Stephenie Meyer lesen. Auch abstrakte Entitäten wie die Farben, die in Leo Lionnis Bilderbuch Little Blue and Little Yellow (1959) die Figuren stellen, gehören in diese Kategorie. Weiter erfasst letztere auch religiöse und mythologische Figuren sowie Personen aus Geschichte, Kunst oder Literatur. Ein Beispiel dafür ist der Graf von Saint Germain, der sowohl bei Alexandre Dumas, Alexander Sergejewitsch Puschkin oder Umberto Eco als auch bei Karl May, Kerstin Gier und Kai Meyer vorkommt. Zum anderen gehören die relationalen figuralen Motive in diese Kategorie, die durch die Art und Weise der Figurenbeziehungen charakterisiert sind; darunter fallen Institutionen sowie kleine und große Figurengruppen, wie die Familie oder die Kinderbzw. Jugendbande, die bspw. in Gestalt der Wilden Hühner in Cornelia Funkes Romanen (1993-2009) gegen die Pygmäen bestehen muss. Objektionale Motive sind Gegenstände, die im Rahmen der Narration unter‐ schiedliche Funktion einnehmen können, dabei zeichnen sie sich häufig durch eine deutlich symbolische Konturierung aus. So dient das Schwert Andúril in Peter Jacksons Adaption des The Lord of the Rings (2001-2003) Aragorn nicht allein als Waffe, sondern markiert zudem seine Stellung als König von Gondor. Weiter zählen auch die vier Elemente und daraus abgeleitete Phänomene, wie Blitz und Donner oder Sturm, zu dieser Motivkategorie. Situationale Motive sind hingegen Zustände, Verhältnisse, Eigenschaften individueller und kollektiver Art. Zu diesen gehört das Motiv der Verwandlung, welches als „Bindeglied zwischen der Kreatürlichkeit des Kindes und dessen beginnender Reifung“ (Lexe 2003: 98) gedeutet werden kann, wie Heidi Lexe am Beispiel von Lewis Carolls Protagonistin Alice zeigt. Situationale Motive sind auch die Mutprobe, die in der Kinder- und Jugendliteratur häufig als Initia‐ tionsritus fungiert und der Freundschaftsbeweis als „Archetyp einer freiwilligen Leistung für besonders geliebte Mitmenschen“ (Frenzel 1999: 196). Zu den lokalen Motiven gehören der Wald oder das Labyrinth; auch fiktio‐ nalisierte Räume wie die King’s Cross Station in Joanne K. Rowlings Heptalogie um Harry Potter sind lokale Motive - wie auch frei erfundene, fingierte Räume, die keine Referenz zum realweltlichen Georaum aufweisen. Ein Beispiel für ein solches Motiv ist die Insel der wilden Kerle in Maurice Sendaks Bilderbuchklas‐ siker Where The Wild Things Are (1963). Ebenso zählen abstrakte Raumbegriffe zu den lokalen Motiven, als Beispiel kann das Motiv der Heimat dienen, das Nora Krugs gleichnamigem Bilderbuch von 2018 zugrunde liegt. Tages- und Jahreszeiten, Lebensalter und -phasen, historische Abläufe, Zeit‐ alter u. Ä. sind temporale Motive. Die Nacht, die als Adverb Wolf Erlbruchs 19 Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des Motivs Bilderbuch aus dem Jahr 1999 betitelt, ist Bedingung für die Erzählung, die von ihrer kontrapunktischen Darstellung lebt. Die typologischen Kategorien sind nicht als exklusiv zu verstehen: Nicht nur, dass sie miteinander in Verbindung stehen - ein lokales Motiv wie der Wald bspw. häufig in Konstellation mit figuralen Motiven wie dem Wolf oder der Hexe auftaucht (s. Trolley in diesem Band, S. 237) - vielmehr überschreiten einzelne Motive in ihrer spezifischen Inszenierung die typologischen Grenzen. Zu diesen grenzüberschreitenden Motiven gehört u. a. die Fliege, die gleichsam figural oder objektional in Erscheinung treten kann (s. Goldlust in diesem Band, S. 160) oder auch das Spiel (s. Schmerheim in diesem Band, S. 89-106). Modell der transmedialen Analyse literarischer Motive Literarische Motive sind als Elemente der histoire transmedial, gehören zu jenen „Phänomene[n] […] die nicht an ein bestimmtes Ursprungsmedium gebunden sind und von verschiedenen Medien mit den jeweils eigenen Mitteln umgesetzt werden können“ (Poppe 2013: 38). Diese Bestimmung prägte die Entwicklung des Modells, das somit die unterschiedlichen Gestaltungs- und Einflussdimen‐ sionen literarischer Motive zu fokussieren sucht und eine Analysegrundlage für Einzel-, aber auch Vergleichsstudien in synchroner und auch diachroner Perspektivierung darstellen will. Um es aus der allen Modellen eingeschriebenen Abstraktheit zu lösen und - wenn auch nur überblicksartig - zu zeigen, inwieweit es dem gesetzten An‐ spruch gerecht wird, wird zur Explikation auf das bereits angesprochene objek‐ tionale Motiv des Schwertes zurückgegriffen. Diese Auswahl lässt sich damit begründen, dass das Schwert Excalibur - als einer konkreten Inszenierungsform des Schwertmotivs - aus „der modernen Medienlandschaft nicht wegzudenken ist“, wie Lea Braun betont, wobei sie darauf verweist, dass das Motiv „auch für die Kinder- und Jugendmedien besonders anschlussfähig“ sei (Braun 2019: 137). Für Braun stellt das Schwert Godric Gryffindors, das folgend ebenfalls in den Fokus gerückt wird, eine Aufnahme des „Excalibur-Motiv[s]“ dar (ebd.: 149). Hier soll jedoch stattdessen und vor dem Hintergrund des nachgezeichneten Motivbegriffes dafür argumentiert werden, dass sowohl Excalibur als auch das Schwert Godric Gryffindors oder Aragorns miteinander verflochtene Spielarten des Schwertmotivs sind. 20 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Abb. 2: Modell der transmedialen Motivanalyse Mediale Dimension Die Bedeutung der medialen Dimension für die konkrete Umsetzung literari‐ scher Motive ergibt sich aus der transmedialen Bestimmung der Motive, die auch Lubkoll in ihrem Beitrag in diesem Sammelband ausstellt. Jan Urbichs Aussagen zu narrativen Medien auf die medialen Versatzstücke Motive übertragen, „er‐ schließen und formatieren Medien“ (Urbich 2011: 117) diese. Definieren lässt sich dieser Formatierungsprozess als ein Festlegen des jeweiligen Zeicheninventars, das auf Ebene des discours zur Verfügung steht. Nachgezeichnet wird dieses Gefüge über die im Modell explizit gezogene Verbindung von medialer Dimen‐ sion und Ebene des discours. Erkennbar wird dieses Wechselspiel zwischen medialer Dimension und discours anhand eines Vergleiches der Schwertszene in der literarischen Vorlage und der filmischen Adaption von Rowlings Harry Potter and the Deathly Hallows (2007, 2010). Im literarischen Prätext berichtet eine heterodiegetische Erzählinstanz dem Lesenden, dass Neville das Schwert Godric Gryffindors in „one swift, fluid motion“ (Rowling 2007: 587) aus dem Hut zieht. Gleichzeitig bekommt er mitgeteilt, dass [t]he slash of the silver blade could not be heard over the roar of the oncoming crowd, or the sounds of the clashing giants, or of the stampeding centaurs, and yet it seemed to draw every eye. (ebd.) 21 Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des Motivs In der filmischen Adaption - und damit gebunden an das audiovisuelle Me‐ dium - ist der obig genannte „slash“ (ebd.) deutlich zu hören und zieht damit nicht nur das Auge, sondern vor allen Dingen auch die Ohren der intradiegeti‐ schen und extrafiktionalen Zuschauenden auf sich. Für Urbich eröffnet die Beschäftigung mit der Medialität von Narrationen, die hier erneut auf literarische Motive übertragen wird, zudem Einblick in die vielleicht ungeahnten inhaltlichen Vorentscheidungen und ideologischen Grundlagen […], welche in den geistigen und technischen Apparaten stecken, mit deren Hilfe wir in der Welt sind. (Urbich 2011: 117) Die damit von ihm angesprochene Beziehung zwischen Medium und Diskurs findet ihre Entsprechung auch im Modell der transmedialen Motivanalyse. Materielle Dimension Die Einbeziehung der materiellen Dimension in das Modell der transmedialen Motivanalyse ist nach Per Röcken vielleicht immer noch ein wenig „en vogue“ (Röcken 2008: 22), wurde seit dem material turn in den Literaturwissenschaften zwar die Gestaltung literarischer Texte dezidiert in den Blick genommen, die materielle Dimension literarischer Motive jedoch nur punktuell. In Bezug auf ein - an eine konkrete materielle Gestalt - gebundenes Motiv wie das Schwert mag es zunächst den Anschein haben, dass sich die materielle Dimension auf die materielle Beschaffenheit des konkreten Schwerts bezieht, also auf den Umstand, dass das Schwert Godric Gryffindors in Harry Potter als „something silver, with a glittering, rubied handle“ (Rowling 2007: 587) beschrieben wird und Bastian Balthasar Bux’ Sikánda in Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) zunächst „nicht gerade prächtig aus[sieht]“ (Ende 1979: 222). Dieser Aspekt der Materialität spielt selbstverständlich eine Rolle, wird jedoch in die Frage eingebunden, wie das materielle Objekt in den unterschied‐ lichen materiellen Umgebungen der es inszenierenden Medien zum Vorschein tritt. Dies umfasst im Medium Buch dann bspw. die illustrierten Initialen in Die unendliche Geschichte, in denen Bastians Schwert sichtbar wird (vgl. ebd.: 338), aber auch typografische Gestaltungselemente, wie die Kursivierung der Gravur in Harry Potter and the Chamber of Secrets (vgl. Rowling 2002: 245), welche die materielle Bearbeitung des Schwert(-motivs) auch dem extrafiktionalen Lesenden offenbart. Narrative Ebenen Die zentrale Platzierung der narrativen Ebenen im Modell verweist auf ihre Bedeutung: Zusammen ermöglichen sie die Wiedererkennbarkeit literarischer 22 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Motive, aber auch ihre jeweils spezifische Realisierung. Als ein solches wiederer‐ kennbares Element lässt sich die ermächtigende oder „Zeichenfunktion“ (Braun 2019: 143) des Schwertes in seiner motivischen Repräsentation bestimmen. So ist es das (neugeschmiedete) Schwert, das Aragorn in der Verfilmung von The Lord of the Rings: The Return of the King ( Jackson 2003) zum König macht. Dieselbe Funktion übt Excalibur für Arthur aus. Das Schwert Godric Gryffindors kennzeichnet Harry Potter, Neville Long‐ bottom und Ron Weasley gleichermaßen als „true Gryffindor[s]“ (Rowling 2002: 234). Die Figuren werden somit allesamt über das Schwert zur „Herrschaft [e]rwählt“ (Braun 2019: 143). Es ist dieser Kern, der wiederkehrt und konstant bleibt, gleichwohl es sich um drei konkrete und verschiedene Schwerter handelt, die auf Ebene des discours ausgestaltet werden. Deutlich wird daran auch, dass das Motiv des Schwertes nicht allein an das Auftauchen eines Schwertes in der Narration gebunden ist, sondern dass dieses bestimmte „Handlungsans[ä]tz[e] sichtbar“ (Frenzel 2015: IX ) machen bzw. „funktionelle Möglichkeiten“ (ebd.) ausweisen muss. Das Motiv des Schwertes ist gebunden an ein Schwert, das schon in seiner ma‐ teriellen Gestaltung auf discours-Ebene besonders ausgestellt wird - wie bereits für das Schwert Godric Gryffindors ausgeführt wurde. Ebenso bestimmt Braun in ihrer Auseinandersetzung mit der „außergewöhnliche[n] Karriere“ (Braun 2019) des Schwertes Excaliburs dieses als „vorzüglich geschmiedet“ (ebd.: 138). Selbiges gilt für das Schwert Aragorns, das „[v]on elbischen Schmieden […] wieder zusammengefügt [wurde]“ (Tolkien 2002: 361). Sikánda entpuppt sich gleichfalls nicht als „Kindersäbel[…]“ (Ende 1979: 222), sondern als „Blatt aus gleißendem Licht“ (ebd.). Dass die konkreten Inszenierungen des Schwertmotivs häufig mit Namen versehen werden, unterstreicht ihre herausgehobene Stellung einmal mehr. Zu diesen Besonderheiten kommt zum einen noch die benannte Funktion des Schwertes als Heldenmarkierung: So kann das Schwert Godric Gryffindors bspw. nur unter Bedingungen „of need and valour“ (Rowling 2007: 553) erworben werden. Zum anderen - und dies scheint womöglich zunächst basal - wohnt dem Schwertmotiv, wie Frenzel fordert, ein klarer „Handlungsansatz“ (Frenzel 2015: IX ) inne: die Schlacht oder der Kampf. Das Schwert besitzt demzufolge nicht allein „eine ornamentale oder zeichenhafte Funktion“ (Braun 2019: 143), sondern fungiert als Waffe (vgl. ebd.). Zwar antwortet Harry Potter auf die Frage des Zaubereiministers: „‚Maybe he thought it [the sword of Godric Gryffindor] would look nice on my wall‘“ (Rowling 2007: 109), jedoch basiert der Sarkasmus der Antwort auf dem von Harry Potter, dem Zaubereiminister und den Lesenden geteilten Verständnisses 23 Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des Motivs des Schwertes als Waffe. Explizit wird das Schwertmotiv stets in Kampfhand‐ lungen eingebunden bzw. bringt diese in die Narration ein. So wird Elendils Schwert neugeschmiedet, denn „Aragorn, Arathorns Sohn, zog in den Krieg an den Grenzen zu Mordor“ (Tolkien 2002: 361). Auch Jum-Jum betont in Astrid Lindgrens Mio, mein Mio (Mio, min Mio, schwed. 1954; dt. 1955): „‚Mio braucht ein Schwert‘, sagte Jum-Jum. ‚Ohne Schwert kann man nicht kämpfen‘“ (Lindgren 1995: 93). Paratextuelle Dimension Die Bezeichnung der Dimension verweist bereits auf ihre wissenschaftstheore‐ tische Herkunft. Ihr zugrunde liegt demzufolge ein Verständnis des Paratextes im Sinne Gérard Genettes als „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt“ (Genette 2014: 9). Nach Genette ist der Paratext somit medial an das Buch als Werk gebunden, wird jedoch nachfolgend auf andere Medien übertragen (s. Kreimeier & Sta‐ nitzek 2004). Begründbar wird diese Übertragung aus Genettes Verständnis heraus, betont Genette doch selbst, dass die Aufgabe des Paratextes nicht allein das obig genannte Zum-Buch-Werden des Textes ist, sondern paratextuelle Elemente eine rahmende und präsentierende Funktion einnehmen (vgl. Genette 2014: 9). Warum sollte diese Funktion an das Medium Buch gebunden und nicht etwa ein transmediales Phänomen sein, das sowohl in seiner konkreten Ausge‐ staltung - vom Vorwort zum Buchtrailer - bis hin zu seinem Bezugswerk - vom Text zum Film bis hin zum transmedialen Franchise - medienunspezifisch ist, jedoch jeweils medienspezifisch umgesetzt wird? Raúl Rodríguez-Ferrándiz argumentiert für ein „Updating [of] the Genettian Approach within the Transmedia Turn“ (vgl. Rodríguez-Ferrándiz 2017) und auch Jonathan Gray verweist im Titel seiner Monografie Show Sold Separately: Promos, Spoilers, and Other Media Paratexts bereits auf die mediale Erweiterung des Paratextbegriffes - hin zu ‚Paramedien‘? Diese medienübergreifende und primär funktional determinierte Explikation der paratextuellen Elemente ermöglicht dann auch ihre Nutzbarmachung für eine motivanalytische Anwendung. Diese rahmen, präsentieren und deuten nicht allein den Text, den Film, das Hörspiel als Werk, sondern auch die in diesen Medien inszenierten Motive. Das Filmplakat von Harry Potter and the Chamber of Secrets zeigt als epi‐ textuelles Element in prominenter Position Harry Potter mit dem erhobenen Schwert Godric Gryffindors und weist der Gestaltung des Schwertmotivs damit eine besondere Bedeutung für die filmische Narration zu. Argumentieren lässt 24 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi sich dafür nicht allein vor dem bereits dargelegten theoretischen Hintergrund, sondern insbesondere, wenn man die Genese dieses epitextuellen Elements bedenkt. So bildet das Poster keine Szene aus dem Film ab, sondern versteht sich als bewusst gewählte Zusammenstellung zentraler Elemente des Filmes - und zumindest von Elementen, die von den Verantwortlichen als solche ausgewählt werden: die drei Protagonisten bzw. Protagonistinnen, Dobby und - in zentraler Position - das Schwert. Dessen tragende Rolle für die sich entwickelnden Konflikte wird damit über das Poster bereits angeteasert und lässt den Betrach‐ tenden - auch ohne weiteres Wissen - vermuten, dass es in diesem medialen Produkt zu einem Kampf kommen wird. Der dem Motiv innewohnende „Hand‐ lungsansatz“ (Frenzel 2015: IX ) wird somit bereits auf paratextueller Ebene vorausgedeutet. Diskursive Dimension Genette stellt in seinen Ausführungen zur Transtextualität den Paratext - als Aspekt der Transtextualität - auf eine Stufe mit Intertextualität (vgl. Genette 1993: 19). Ähnlich argumentiert auch Urbich, wenn er unter der Überschrift „Die Kontexte der Literatur“ (Urbich 2011: 261) zunächst mit „Paratextualität und Intertextualität“ (ebd.) beginnt. Diese Verbindung wird im Rahmen des motivanalytischen Modells aufgebrochen. Die genannten Beziehungssysteme, zu denen neben intertextuellen auch intermediale und metatextuelle Bezüge gehören, werden in die diskursive Dimension eingegliedert. Damit wird zunächst der Tatsache Rechnung getragen, dass diese Bezie‐ hungen im Kontext der literarischen Motivanalyse weniger an das konkrete Werk - den Film, das Buch, das Hörspiel, das Theaterstück - gebunden, sondern dem Motiv selbst eingeschrieben sind. Bezug genommen wird diesbezüglich auf Michel Foucaults Diskursbegriff, der Diskurse als „Beziehungen zwischen Aussagen“ (Foucault 2013: 48) be‐ stimmt. Foucault adressiert damit einerseits Beziehungssysteme, die durch (dis‐ kursive) Praktiken gebildet werden (vgl. Kammler et al. 2008: 234). Andererseits rückt er jedoch auch die Entstehung dieser Praktiken in den Fokus der Ausei‐ nandersetzung (vgl. ebd.). Foucaults Diskursbegriff lässt sich demzufolge als „pluralistisch“ (ebd.) bestimmen und umfasst gleichermaßen die Beschäftigung mit konkreten Gegenständen und „Denksystem[en]“ (Foucault 2013: 42): Man sieht zugleich, daß diese Beschreibung des Diskurses sich in Gegensatz zur Geschichte des Denkens stellt. Wiederum kann man ein Denksystem nur ausgehend von einer bestimmten Menge von Diskursen bestimmen. (ebd.) 25 Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des Motivs Dieser Fokus auf „Denksystem[e]“ (ebd.) und damit komplexe Kontext- und Bezugssysteme ist für Foucault bedeutsam, um die verschiedenen Subjekt- und Machteffekte, welche die Etablierung von Diskursen bestimmen, aufzudecken. So postuliert er: Man muß jene dunklen Formen und Kräfte aufstöbern, mit denen man gewöhnlich die Diskurse der Menschen miteinander verbindet. Man muß sie aus dem Schatten jagen, in dem sie herrschen. (ebd.: 34) Dies zunächst zur theoretischen Bestimmung der diskursiven Dimension, frag‐ lich ist jedoch noch, wie sich diese für die motivanalytische Praxis nutzbar machen lässt und welche „dunklen Formen und Kräfte“ (ebd.) im Kontext von Motiven aufzudecken sind. Die Nutzbarmachung knüpft an die erarbeitete Bedeutung der intertextuellen, intermedialen und metatextuellen Bezüge für das Motiv an und verbindet diese mit Foucaults Aussagen zum Buch als Gegenstand des Diskurses: Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die erste Zeile und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz. (ebd.: 36) Das Bild des „Knoten[s] im Netz“ (ebd.) lässt sich auf das Motiv und die Motivanalyse anwenden und verweist auf dessen Eingebundensein in und Erzeugen von intertextuellen, intermedialen und metatextuellen Bezügen - und Bezügen, die über diese hinausweisen. Gerade dieses Hinausweisen soll deutlich machen, dass die Bezugs- oder eben „Denksystem[e]“ (ebd.: 42), in die Motive eingeflochten sind und die sie erzeugen, sich nicht allein auf konkrete Gegen‐ stände - d. h. Medien - zurückführen lassen, sondern Aussagen enthalten, die sich nicht mehr medial zuordnen lassen. So gehören die konkreten Gegenstände und Begriffe und ihre kulturellen und gesellschaftlichen Bezugsfelder - sowohl synchron als auch diachron betrachtet - ebenfalls in das jeweilige Diskursfeld. Wie sich dieses für die Inszenierung des Schwertmotivs in Rowlings Harry Potter and the Deathly Hallows darstellt, zeigt das Schaubild in Abbildung 3 in reduzierter Form. 26 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Abb. 3: Das Schwertmotiv in Harry Potter and the Deathly Hallows - diskursiv Literaturverzeichnis Primärliteratur Ende, Michael (1979). Die unendliche Geschichte. Stuttgart. Lindgren, Astrid (1995). Mio, mein Mio. A. d. Schwed. von Karl Kurt Peters. Stuttgart: Thienemann Verlag. 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Trier, 23-104. Vogt, Jochen (2014). Aspekte erzählender Prosa. 11. Aufl. München. Zeiske, Wolfgang (1965). Das Tier in Literatur und Kinderliteratur. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur 7, 87-97. 30 Tobias Kurwinkel & Stefanie Jakobi Thematologie - Intertextualität - Transmedialität Theoretische Zugänge zu einer Betrachtung des literarischen Motivs Christine Lubkoll Abstract: Der Beitrag resümiert wichtige Stationen, Begriffe und Kontro‐ versen der Stoff- und Motivgeschichte und exponiert problemorientierte Fra‐ gestellungen und Fokussierungen der Thematologie. In einem zweiten Schritt werden systematische Perspektivierungen vorgenommen und literaturwis‐ senschaftliche Zugänge diskutiert, die eine transmediale Motivanalyse ver‐ tiefen können: die strukturale Narratologie; die Intertextualitätsforschung; die Sozial-, Kultur- und Diskursgeschichte; die Intermedialitätstheorie; schließlich die Ikonographie. Diese Zugriffsmöglichkeiten lassen sich mit dem von Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi vorgeschlagenen Analysemo‐ dell verbinden, das zwischen einer narrativen, materiellen, paratextuellen, diskursiven und medialen Dimension der transmedialen Motivanalyse diffe‐ renziert. Fragestellungen und Fokussierungen Das Forschungsfeld der Thematologie stand lange Zeit in Verruf. Als Gründe hierfür wurden - in jahrzehntelangen Debatten insbesondere der deutschspra‐ chigen Literaturwissenschaft - begriffliche Unschärfen genannt (vor allem im internationalen Vergleich; vgl. Trousson 1964, Weisstein 1968, Beller 1970, Ziolkowski 1983, Daemmrich & Daemmrich 1995); außerdem wurde immer wieder der Vorwurf einer positivistischen ‚Stoffhuberei‘ verhandelt (vgl. Beller 1970, Bisanz 1973, Frenzel 1993, Müller-Kampel 2001). In jüngerer Zeit wurde die Forschungsrichtung allerdings weitgehend ‚rehabilitiert‘; die Bezeichnung ‚Thematologie‘ hat sich inzwischen etabliert. Dies liegt vor allem an der zu‐ 1 Auch Kurwinkel & Jakobi machen in ihren Überlegungen die strukturale Analyse (Roland Barthes) für ihre Argumentation fruchtbar, so wie dies auch im vorliegenden Beitrag geschieht. nehmenden Fokussierung auf problemorientierte Betrachtungsweisen und an einer verstärkten theoretischen Anschlussfähigkeit: Narratologische, intertex‐ tualitäts- und intermedialitätstheoretische, kulturwissenschaftliche, ikonogra‐ phische und diskursgeschichtliche Ansätze machen die Auseinandersetzung mit literarischen Stoffen, Motiven und Themen spannend und fruchtbar. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch einer forschungsgeschichtli‐ chen Einbettung und zugleich einer methodologischen Zuspitzung der Thema‐ tologie auf den Aspekt der Transmedialität (vgl. Rajewsky 2002). Nach einer terminologischen Durchdringung des Gegenstandsbereiches auf der Grundlage der genannten Theorieansätze konzentriert er sich im Hauptteil auf eine medienübergreifende Ausprägung der Wirkungsmacht des literarischen Motivs. Dieser Zugang versteht sich nicht zuletzt als ein theoretischer Beitrag zu einer transmedialen Motivanalyse, wie sie von Kurwinkel und Jakobi für die Kinder- und Jugendliteraturforschung vorgeschlagen wurde (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019, Kurwinkel & Jakobi in diesem Band). 1 Gerade in der KJL erweist sich das Motiv aufgrund seiner Einprägsamkeit und relativen ikono‐ graphischen Konstanz als ein besonders wirksames Orientierungsmodell mit diskursbegründender Impulsfunktion. Die ganz einfache Frage lautet: Was tun wir - und was müssen wir be‐ denken -, wenn wir den unbestritten wichtigen, spannenden Einsatz von Motiven in Texten (oder auch in anderen Medien) untersuchen und sinnvoll beschreiben wollen? Und welchen Stellenwert hat dabei das Kriterium der ‚Transmedialität‘? Um sich dieser Frage zu nähern, erscheint zunächst eine begriffliche Klärung bzw. Reflexion notwendig - und hier beginne ich mit einem ganz einfachen ‚Experiment‘: Wenn man in die Suchmaschine des Internets das Stichwort „Motiv“ und dann „Bilder“ eingibt, trifft man auf Abbildung 1: 32 Christine Lubkoll Abb. 1: Autorad „Motiv Luxury Wheels“ Es handelt sich um die Luxusanfertigung eines Autorades der Marke „Motiv Luxury Wheels“, das auf den ersten Blick natürlich nichts mit dem Thema zu tun hat. Aber beim näheren Hinsehen ist doch manches Aussagekräftige in dem Bild - auch für das Thema der transmedialen Motivanalyse. Erstens: Das Markenzeichen der Firma ‚Motiv‘ (das aus dem graphischen Motiv und zusätzlich dem Wort ‚Motiv‘ besteht) steht nicht nur im Zentrum, bildet den Kern, sondern es hält auch den Radkranz mit seinen vielen Streben zusammen. Es ist also ein tragendes Strukturelement des Rades (insofern ist der Signifikant des Markennamens zugleich selbstreferentiell, wenn man so will). Zweitens 33 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität (umgekehrte Perspektive): Das Rad als Ganzes ist aus verschiedenen Streben gebildet, aber die einzelnen Bestandteile sind auf das Motiv bezogen, gehen von ihm aus und / oder laufen auf es zu: Ohne den Kern wären sie funktionslos. Drittens: Die Felge macht das Rad zu einem in sich abgeschlossenen Gebilde - losgelöst aus diesem Rahmen würde das Kernmotiv allein ebenfalls keinen Sinn machen. Last but not least: Das Rad ist dazu gemacht, sich zu drehen, sich fortzubewegen - und auch diese Dynamik, die sich im strahlenförmigen design zeigt, ist eine typische Charaktereigenschaft des Motivs. Das Wort ‚Motiv‘ leitet sich etymologisch von lateinisch ‚movere‘ her, und die Bewegung ist hier doppelt konnotiert: Das Motiv hat eine dynamisierende Funktion (es bewegt, gibt einen Impuls); und es etabliert sich als Motiv erst in einem permanent dynamischen Prozess der Fortschreibung und Variation. Auch die Thematologie bzw. die literaturwissenschaftliche Motivanalyse beschäftigt sich mit der Spannung zwischen Konstanz und Dynamik, von Kern‐ element und Fortschreibung, von Thema und Variation. Ihr Gegenstandsbereich und ihre Genese sollen zunächst reflektiert werden, denn von den Stationen und Kontroversen dieses Forschungszweiges können noch heute einige Impulse für die Motivanalyse gewonnen werden. Nach einem historischen Überblick geht es dabei vor allem um eine Erweiterung um einige neuere literaturwissenschaft‐ liche Ansätze, die für eine problemorientierte und auch methodische Schärfung der Motivanalyse stark gemacht werden können. Historische Impulse: Von der Stoffgeschichte zur Thematologie a) Stationen und Kontroversen Der aus dem Forschungszweig der Stoff- und Motivgeschichte hervorgegan‐ gene, in der internationalen Komparatistik etablierte Begriff der ‚Thematologie‘ wird in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwendet (vgl. Lubkoll 2009). Im engeren Sinne bezieht er sich auf die systematische und problemori‐ entierte Untersuchung literarischer Motive, Stoffe und Themen im diachronen und interkulturellen Vergleich, wobei neben den Zeugnissen der Weltliteratur auch Bearbeitungen in anderen Künsten (Bildende Kunst, Musik, Film, Tanz) in die Analyse einbezogen werden. Im weiteren Sinne wird Thematologie auch generell als „literaturwissenschaftliche Inhaltsforschung“ (Müller-Kampel 2001) oder als „Lehre von der Inhaltsebene literarischer Texte“ (Corbineau-Hoffmann 2004: 138) aufgefasst; allerdings besteht hier die Gefahr einer zu weiten Öffnung des Gegenstandsbereichs, denn schließlich hat jeder Text, jede kulturelle Äu‐ ßerung ein Thema (Im Sinne von ‚dee‘, ‚Gehalt‘). Deshalb konzentriert sich auch der allgemeinere Ansatz einer Thematologie sinnvollerweise auf solche 34 Christine Lubkoll 2 Vertreter der positivistischen Stoff- und Motivgeschichte waren etwa Theodor Benfey und Wilhelm Scherer; die geistesgeschichtliche Richtung etablierten in Deutschland etwa Wilhelm Dilthey, Oskar Walzel, Julius Petersen, Paul Merker, in Italien Benedetto Croce, in Frankreich René Baltensberger und Paul Hazard. Themen der Literatur, die einen (konventionalisierten) Überlieferungszusam‐ menhang, ein verdichtetes intertextuelles Bezugssystem oder ein anthropolo‐ gisches Grundmuster bilden. Thematologie beschäftigt sich so stets mit der vergleichenden Analyse einer themenbezogenen Textreihe. Das ist ein erstes Kriterium, das wir auch für die Motivanalyse im Speziellen festhalten sollten: Ein Motiv wird erst zum Motiv durch Wiederholung, Konventionalisierung und Variation. Auch wenn sich der Begriff der Thematologie im internationalen Diskussi‐ onszusammenhang zunehmend durchsetzt, ist die Kontroverse um eine präzise Terminologie noch längst nicht abgeschlossen, möglicherweise auch nicht endgültig lösbar. Dies liegt zum einen an den wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen, zum anderen an den sprachlichen Differenzen namentlich im französischen, angloamerikanischen und deutschsprachigen Verwendungs‐ kontext (vgl. Müller-Kampel 2001). Während der Begriff ‚Thema‘ im Deutschen abstrakt auf den Gehalt eines Textes bezogen und von den konkreten Kategorien ‚Stoff ‘ und ‚Motiv‘ abgegrenzt wird, erscheint er im englischen und franzö‐ sischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch (theme; thème) zumeist synonym mit den Termini ‚Stoff ‘ und ‚Motiv‘, so dass die Forschungszweige der ‚thematics‘ bzw. der ‚thématologie‘ mit dem Gegenstandsbereich der Stoff- und Motivgeschichte weitgehend identisch sind. Die Etablierung des Begriffs Thematologie - verstanden als problemorien‐ tierte und kulturgeschichtlich interessierte Erforschung literarischer Themen und ihrer intertextuellen Überlieferung - hängt eng mit der Entwicklung der komparatistischen Teildisziplin der Stoff- und Motivgeschichte zusammen. Nachdem diese in der ersten Phase (von den Brüdern Grimm bis zur posi‐ tivistischen Erforschung der Genealogie literarischer Stoffe) in erster Linie Textzeugen gesammelt und schematisch geordnet hatte, wurde von Seiten der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft die Untersuchung ideengeschicht‐ licher Zusammenhänge gefordert: der ‚Gehalt‘ erschien wichtiger als der (bloß materielle) Stoff (vgl. Lubkoll 2013). 2 Dabei kam es aber zunehmend zu Enthis‐ torisierungen bzw. anthropologischen Verallgemeinerungen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts entbrannte eine kritische Debatte über die Methoden der Stoff- und Motivgeschichte: Von Seiten der werkimmanenten Interpretation (vgl. Kayser 1992 [ EA 1948]) und des amerikanischen New Criticism (Wellek & Warren 1993 [ EA 1949]) wurde der Stoff- und Motivge‐ 35 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität schichte erneut positivistischer Reduktionismus (die Konzentration auf den minderwertigen Stoff als außerliterarischer Vorgabe) und die Vernachlässigung der ästhetischen Form des Kunstwerks vorgeworfen. Die sozialhistorisch inte‐ ressierte Literaturwissenschaft warf der Disziplin bloße ‚Stoffhuberei‘ und man‐ gelnde inhaltliche Durchdringung vor. Vor diesem Hintergrund entstand die Neuausrichtung des Forschungszweigs unter der Bezeichnung ‚Thematologie‘. Es wurde nun die Verbindung systematischer, ästhetischer und historischer Per‐ spektiven angestrebt und vor allem eine problembezogene kulturgeschichtliche Reflexion gefordert. Die Frage nach der spezifischen (kulturanthropologischen und gesellschaftlichen) Funktion literarischer Stoffe und Motive trat in den Vordergrund; außerdem richtete sich das Augenmerk nun gezielt auf die histo‐ risch interessanten Wandlungsprozesse literarischer Themen und Topoi. Als erster vertrat der französische Komparatist Raymond Trousson diesen Ansatz. Mit seinem programmatischen Aufsatz Plaidoyer pour la Stoffgeschichte (1964) setzte er sich für eine Neubegründung der Disziplin mit der Fokussierung auf kulturgeschichtlich relevante Fragestellungen ein und entschied sich später - in Abgrenzung zum negativ besetzten Begriff der Stoffgeschichte - für die Bezeichnung ‚Thematologie‘. Außerdem weitete er den Gegenstandsbereich auf Zeugnisse der Bildenden Kunst und der Musik aus. Diese Impulse wurden vor allem von Seiten der US -amerikanischen Literaturwissenschaft produktiv aufgegriffen. Harry Levin forderte mit seinem Konzept der ‚Thematics‘ die Integration von historischer und ästhetischer Betrachtungsweise (vgl. Levin 1968); Francois Jost beschrieb die Thematologie als „study in functional va‐ riations.“ ( Jost 1974) Theodore Ziolkowski schließlich etablierte schon früh einen kulturwissenschaftlichen Zugang zur Thematologie, indem er diese als Erforschung einer ‚literarischen Ikonologie‘ betrieb (vgl. Ziolkowski 1977, 1983). Der Begriff ‚Thematologie‘ wurde seit den 1970er Jahren - im Anschluss an die internationale komparatistische Forschung - auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft starkgemacht, so etwa von Manfred Beller (1970) oder Horst S. und Ingrid G. Daemmrich (1978). Hier kam es allerdings zu einer durchaus heftigen Kontroverse. Jochen A. Bisanz warnte vor einer zu weiten Auslegbarkeit des Begriffs ‚Thema‘ und damit vor der Gefahr zunehmender Unschärfe des Forschungsprofils (vgl. Bisanz 1973). Auch Elisabeth Frenzel, die mit ihren beiden einschlägigen Lexika zu ‚Stoffen’ bzw. ‚Motiven‘ der Weltlite‐ ratur zu einer Hauptvertreterin der Disziplin in Deutschland avanciert war, hielt entschieden an der Bezeichnung ‚Stoff und Motivgeschichte‘ fest (vgl. Frenzel 1993). Inzwischen hat sich aber nicht nur in der internationalen, sondern auch in der deutschen Komparatistik und Germanistik der Begriff Thematologie zuneh‐ mend durchgesetzt. Institutionell vertritt die 1978 eingerichtete Kommission für 36 Christine Lubkoll literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Göttinger Akademie der Wissenschaften das Forschungsgebiet und hat eine höchst brauchbare Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen erstellt (https: / / adw-g oe.de/ forschung/ abgeschlossene-forschungsprojekte/ akademienprogramm/ lite raturwissenschaftliche-motiv-und-themenforschung/ ). Dank der technischen Möglichkeiten können diese inzwischen auch autoren- und epochenspezifisch systematisiert werden. b) Begriffe: Motiv, Stoff, Thema Um den Gegenstandsbereich der Thematologie zu bestimmen, erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, die etablierten Schlüsselbegriffe noch einmal kurz zu klären bzw. voneinander abzugrenzen: Stoff, Motiv, Thema. Der Begriff ‚Motiv‘ bezieht sich im weitesten Sinne auf die kleinste struk‐ turbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen (vgl. Lubkoll 2013). Ursprünglich aus der mittelalterlichen Gelehrtensprache entlehnt (das ‚motivum‘ ist ein intellektueller Impuls, der ‚Einfall‘ einer Rede), wurde der Terminus im 18. Jahrhundert auf die Künste übertragen und bezeichnet zunächst in der Musik den kleinsten Bestandteil einer Melodie, sodann in der bildenden Kunst ein figuratives oder ornamentales Element, schließlich in der Literatur einen dynamischen Impuls, der die Handlung in Gang setzt oder auch psychologisch ‚motiviert‘. Während die allgemeine Definition von ‚Motiv‘ als „kleinste gestaltbildende Einheit“ eines Textes (Müller-Kampel 2001: 12, Corbi‐ neau-Hoffmann 2004: 140) jede Strukturanalyse bestimmt (formale Gliederung, semantische Organisation, thematische Struktur), kommt für eine thematolo‐ gische Untersuchung ein weiteres Kriterium hinzu: Hier erscheint das Motiv nicht lediglich als Baustein innerhalb einer Textstruktur, sondern als Bestandteil eines intertextuellen Bezugssystems. D. h.: Ein fest umrissener thematischer Kern wird diachron bearbeitet; zum literarischen Motiv avanciert er erst in einer als gewichtig erachteten Überlieferungsgeschichte. Beispiele wären etwa die Motive des Außenseiters oder des Vampirs, des fremden Kindes oder des Umweltschützers, des Jahrmarkts oder des Spiels, um nur einige zu nennen, die auch in diesem Band eine Rolle spielen. Zur weiteren Begriffsschärfung grenze ich den Begriff des Motivs nur noch kurz von denen des ‚Stoffes‘ und des ‚Themas‘ ab - zwei Kategorien, die in der Thematologie eine ebenso große Rolle spielen. Ein literarischer ‚Stoff ‘ (von altfrz. estoffe = Gewirk, Gewebe) besteht aus einem fest umrissenen Handlungsgerüst und einer Kombination von Motiven. Im Gegensatz zum Motiv sind Ereigniszusammenhänge, die einen Stoff bilden, 37 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität zumeist an namentlich genannte Figuren, seltener auch an Schauplätze ge‐ bunden (Orpheus in der Unterwelt). Demgegenüber bezeichnet das ‚Thema‘ eine Abstraktion, die Grundidee oder auch den Gehalt eines Textes. Im Grunde kann für die Thematologie alles zum literarischen Thema werden, was in gehäufter Form in Literatur vorkommt und in einem intertextuellen Bezugssystem bearbeitet wird, sei es im diachronen Prozess (z. B. das Thema Kindheit oder das Thema Angst), sei es in einer historischen Konzentration (z. B. das Thema Großstadt in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts). Systematische Perspektiven Das Faszinosum der Erforschung literarischer Stoffe und Motive besteht in der Konstanz der Thematik bei gleichzeitiger historisch und kulturspezifisch sich ausprägender Varianz und Dynamik. Die konkreten Realisierungen einer Figur, einer Konstellation, eines Ereignisses oder eines Handlungsmusters im Sinne der von Kurwinkel & Jakobi vorgeschlagenen typologischen Ordnung (figurale, objektionale, situationale, temporale und lokale Motive) (vgl. Kurwinkel & Ja‐ kobi 2019: 43 f., Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) geben Aufschluss über kulturgeschichtliche Rahmenbedingungen, mentalitätshistorische Kontexte, so‐ ziologische Zusammenhänge, psychologische Motivationen oder auch ästheti‐ sche Ausrichtungen, die einen literarischen Text bzw. andere künstlerische Pro‐ duktionen in ihren jeweiligen Kontexten kennzeichnen und wirksam werden lassen. Diachrone und interkulturelle Vergleiche ermöglichen darüber hinaus Einblicke in kulturgeschichtliche Prozesse und diskursgeschichtliche Entwick‐ lungen. Dabei geht es einerseits um die Analyse von bedeutungsstiftenden Strukturen in formaler und in problembezogener Perspektive, andererseits um die Beschreibung der permanenten Dynamik, der Modifikationen und Trans‐ formationen, denen ein Strukturmuster im historischen Prozess unterliegt. Es ist genau diese Festschreibung und gleichzeitige Fortschreibung von ausgeprägten Mustern oder ‚Kernen‘, die auch die transmediale Motivforschung interessiert. Wie kann man aber Vergleiche zwischen zeitlich oder kulturell auseinan‐ derliegenden, möglicherweise auch medial unterschiedlichen Motivbildungen methodisch bewerkstelligen bzw. systematisch beschreiben? In diesem Punkt bleibt die thematologische Forschung bisher ein bisschen vage. Im folgenden Teil sollen daher Ansätze der Literaturwissenschaft herangezogen werden, die hier gute Impulse bieten könnten: Die (strukturale) Narratologie; die Intertex‐ tualitätsforschung; die Sozial-, Kultur- und Diskursgeschichte; die Intermedia‐ 38 Christine Lubkoll litätstheorie; schließlich die Ikonographie. Folgende Fragen können dabei einen Leitfaden bieten: 1. Identifizierung als Motiv und strukturale Merkmalsbestimmung des Motivs: Handelt es sich bei einem beobachteten Phänomen um ein ‚Motiv‘ im exakten Sinne des Wortes? (Bevor man einen Textimpuls als Motiv bezeichnet und behandelt, muss man klären, warum das so ist). Handelt es sich um ein internes, impulsgebendes Kernmotiv im Rahmen eines Einzeltextes oder um ein intertextuelles Phänomen, bezogen auf eine externe Textreihe und damit ein diachron oder synchron tradiertes Motiv? 2. Intertextueller Bezugsrahmen: Wenn es sich um eine intertextuelle Be‐ zugnahme handelt: wird dieser Bezug markiert - und wo und wie? In welcher Hinsicht ähnelt das aktualisierte Motiv dem überlieferten Motiv; inwiefern werden gegebenenfalls neue Bedeutungen aufgeladen? Welche Bedeutungsbzw. Impulsfunktion kommt einem Motiv im Rahmen eines Einzeltextes / im Rahmen einer intertextuellen Motivkette zu? 3. Kontextuelle Einbettung (historische Dimension): Wie lassen sich die je‐ weiligen Bedeutungszuschreibungen und ihre Dynamik im historischen Kontext beschreiben? 4. Rein intertextuelle Bezugnahme oder intermediales bzw. transmediales Phänomen: Handelt es sich bei einer Motivreihe um ein rein textuelles Phänomen oder sind intermediale Darstellungsweisen am Werk? Handelt es sich bei einem Motiv gegebenenfalls um ein transmediales Phänomen? 5. Ikonographische Funktion: Wenn es sich um ein transmediales Phänomen handelt: Wie funktioniert die kulturelle Festschreibung im Rahmen eines ikonographischen Zeichensystems bzw. Bedeutungszusammenhangs? Diese Fragen sollen nun im Folgenden noch näher ausgeführt und in literatur‐ theoretischen Zusammenhängen betrachtet werden. Strukturale Narratologie Für die Frage der Identifizierung eines Elements als Motiv bzw. die Merkmalsbe‐ stimmung des Motivs bietet, wie ich meine, die strukturale Erzähltextanalyse ein brauchbares Instrumentarium; auch Kurwinkel / Jakobi betonen in ihrem Modell die zentrale Funktion der narrativen Ebene (vgl. ebd: 45 f.). Barthes hat in seinem immer noch lesenswerten Aufsatz zu diesem Thema aus dem Jahr 1985 (deutsche Übersetzung 1988) eine klare Systematik vorgeschlagen (ohne dass dort das Wort Motiv eigens fällt) (vgl. Barthes 1988). Ausgehend von der 39 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität Unterscheidung zwischen histoire und discours schlägt er vor, die Machart eines Textes und seine Bedeutungskonstitution (den discours) durch die Operationen des Zerlegens und des Arrangements zu rekonstruieren (eine Vorgehensweise, die er an anderer Stelle als „strukturalistische Tätigkeit“ beschrieben hat) (vgl. Barthes 1966). Ziel ist es, die „kleinsten Erzähleinheiten“ zu identifizieren und ihre jeweilige Funktion zu erklären. Dabei unterscheidet Barthes zwischen zwei Klassen von Funktionen: 1. Die „distributionellen Funktionen“ beziehen sich auf die Logik der Handlungsfolge (wenn z. B. auf ein Klingeln an der Tür das Öffnen der Tür erfolgt) - es handelt sich hier um ‚metonymische‘ Relata auf der syntagmatischen Ebene. Damit die Analyse hier nicht zu klein‐ teilig wird, findet eine Hierarchisierung der kleinsten Erzähleinheiten statt und Barthes unterscheidet zwischen den „Kardinalfunktionen“, die für eine Handlung hochgradig bedeutsam sind (z. B. die Aufgabe und das Lösen eines Rätsels im Märchen) und solchen, die nur verbindende Funktion haben (er nennt sie: Katalysen). 2. Die zweite Klasse von Funktionen sind die sogenannten „integrativen Funktionen“ oder auch „Indizien“ - hier handelt es sich um solche Erzähleinheiten, die weniger für den Handlungsablauf als für die Cha‐ rakterisierung von Personen oder für die Verdeutlichung des Problemgehaltes zuständig sind (z. B.: die Charakterisierung als Außenseiter oder die Markierung von Freundschaft oder Feindschaft). Indizien erfüllen ihre Impulsfunktion für den Text als ‚metaphorische Relata‘ und sind auf der paradigmatischen Ebene angesiedelt. Auch hier finden sich graduelle Unterschiede zwischen den eigentli‐ chen Indizien als hochgradig bedeutungstragenden Funktionen und den bloßen ‚Informanten‘, die zusätzliche Details im Dienste eines Indizes vermitteln. Ich finde diese Differenzierungen sehr hilfreich, um festzustellen, auf welcher Ebene ein im Text ausgemachtes Zentralmotiv bedeutungsstiftend wirkt. Für die Motivanalyse gilt, dass literarische Motive sowohl auf der syntagmatischen Ebene als Kardinalfunktionen als auch auf der paradigmatischen Ebene als Indizien angesiedelt sein können - oder sogar auf beiden Ebenen gleichzeitig. Intertextualitätstheorie Für die Klassifizierung, Markierung und Tradierung von Motivfunktionen kann die Einbettung in einen intertextuellen Bezugsrahmen von zentraler Bedeutung sein. Wie lassen sich solche intertextuellen Bezüge systematisch erfassen? Klassifizierung Zunächst ist festzuhalten - nach Barthes -, dass die Behandlung eines Textele‐ ments als Motiv das Ergebnis einer Zuschreibung ist. Im thematologischen 40 Christine Lubkoll Sinne beschränkt sich die Feststellung, dass es sich bei einem Element um eine Kardinalfunktion oder ein Indiz handelt, nicht auf einen einzigen Text, sondern zugleich auf den größeren Rahmen eines intertextuellen Bezugssystems. Für die systematische Betrachtung solcher in (diachronen oder synchronen) Textreihen vorkommenden Motive liefert die Intertextualitätstheorie einige Möglichkeiten der Präzisierung. Ganz generell beschäftigt sich die Intertextualitätstheorie mit den Bezie‐ hungen zwischen Texten und einzelnen Textelementen, also auch den Motiven. Hintergrund ist ursprünglich Julia Kristevas Theorie des universellen Textes, die Vorstellung nämlich, dass alle Texte als Produkte der Kultur aufeinander Bezug nehmen und miteinander verknüpft seien (Metapher des Gewebes im Sinne der etymologischen Verwandtschaft von Text und Textil) (vgl. Kristevas 1972). Für die konkrete Analyse von Zitaten und Bezugnahmen bestimmter Texte untereinander eignet sich ein solcher weiter Intertextualitätsbegriff natürlich nicht. Eine entscheidende Prämisse lautet nämlich ganz banal: Wenn man von intertextuellen Beziehungen spricht, muss man sie überhaupt erst einmal als solche erkennen. Und hier liefert der ‚engere‘ Intertextualitätsbegriff, wie ihn Gérard Genette, Ulrich Broich und Manfred Pfister, zuletzt aber auch Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk vertreten, eine brauchbare Handhabe (vgl. Genette 1993, Broich & Pfister 1985, Berndt & Tonger-Erk 2013). Markierung Wenn es sich um eine intertextuelle Bezugnahme handelt: wird dieser Bezug markiert - und wo und wie? Für die Analyse von intertextuell überlieferten Motiven ist es zunächst vor allem wichtig, ob und wie ein Zitat oder eine An‐ spielung markiert sind. Laut Genette gibt es fünf Möglichkeiten der Markierung, wobei nur die ersten drei für die Motivforschung relevant sind: nämlich a) das ausdrückliche Zitat oder die Anspielung im Text selbst („Intertextualität“); b) der entsprechende Hinweis im Titel, Nachwort, Motto etc. (Paratextualität); c) die Mitteilung qua Kommentar (als Hinweis des Autors selbst oder auch der Kritik) (vgl. Genette 1993: 9 ff.). Die Hypertextualität ist für das Motiv weniger einschlägig, da es sich hier um komplexere Systemreferenzen handelt - z. B. Stoffe und Themen; und auch die Gattungsintertextualität (Architextualität) bezieht sich auf umfassendere Textmerkmale. Wichtig sind dagegen im Zusammenhang der Motivanalyse noch die qua‐ litativen Kriterien für Intertextualität, wie sie Pfister systematisiert hat: Er unterscheidet zwischen a. Referentialität (hier geht es darum, dass der Bezug sichtbar gemacht, „bloßgelegt“ wird); 41 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität b. Kommunikativität (ein Bezug ist intendiert und wird deshalb markiert, als Leseanleitung für die Rezipienten); c. dies kann gegebenenfalls auch noch autoreflexiv hervorgehoben werden, indem der intertextuelle Bezug als textkonstitutives Element ausgestellt wird; d. das Kriterium der Strukturalität bezieht sich auf die Art der Integration von Prätexten in den Folgetext: handelt es sich z. B. um eine bloße Anspielung am Rande oder um die Reproduktion eines ganzen Struktur‐ musters im Kern? (Z. B. Thomas Manns Anspielung auf das Faust-Motiv im Zauberberg [1924] und seine Adaptation des komplexen Stoffes im Doktor Faustus [1947]) e. Ebenfalls wichtig für die Bestimmung von Motiven ist die Art der Selektivität (Welche Elemente eines Prätextes werden ausgewählt, um ein bestimmtes Themenfeld aufzurufen? ); f. schließlich geht es noch um die Dialogizität, d. h. die ideologische Span‐ nung zwischen Folgetext und Prätext. (vgl. Broich & Pfister 1985: 25 ff.) Dieser letzte Punkt ist ganz zentral und führt zur nächsten Frage: Tradierung Wenn es sich um eine intertextuelle Bezugnahme handelt: Wie lassen sich Ähnlichkeiten bzw. Differenzen zwischen dem zitierten Bezugsrahmen (Prätext) und dem aktualisierten Bezug (Folgetext) beschreiben? In welcher Hinsicht ähnelt das aktualisierte Motiv dem überlieferten Motiv; inwiefern werden gegebenenfalls neue Bedeutungen aufgeladen? Und damit hängen sehr eng die nächsten Fragen zusammen: Welche semantische Funktion kommt einem Motiv im Rahmen eines Einzeltextes, welche im größeren Rahmen einer intertextu‐ ellen Motivkette zu? An dieser Stelle muss die strukturale Analyse erweitert werden durch jeweilige historische Einbettungen. Sozial-, Kultur- und Diskursgeschichte Wie schon Trousson in seinem Plaidoyer pour la ‚Stoffgeschichte betonte, spielt für eine problemorientierte Thematologie die kontextuelle bzw. die diskursive Dimension eine zentrale Rolle (vgl. Trousson 1964, Kurwinkel & Jakobi 2019, Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 25-27). Wie lassen sich die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen und ihre Dynamiken im historischen Kontext beschreiben? Welche Rolle spielen gesellschaftliche, politische, ästhetische, sozialgeschichtliche, mentalitätsgeschichtliche, diskursgeschichtliche Kontexte für die Bedeutungsdimension, die Funktionalisierung und die Tradierung von 42 Christine Lubkoll Motiven? Hier kommen entsprechende literarhistorische Ansätze ins Spiel, die im weitesten Sinne insofern als ‚hermeneutisch‘ zu bezeichnen sind, als sie das ‚Einzelne‘ (das Motiv) auf das Ganze (den Überlieferungszusammen‐ hang) beziehen und so eine Verstehens-Option herausarbeiten. Gefragt sind in der Motivforschung an dieser Stelle vor allem sozial-, kultur- und diskursge‐ schichtliche Untersuchungen, die Aufschluss geben über jeweils zeitgenössische Bedeutungen und Funktionalisierungen bestimmter Begriffe, Leitideen und Topoi (vgl. zu den neueren historischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft Košenina 2016). Intermedialitätstheorie Die Thematologie bezieht schon früh die mediale Dimension (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019, Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21-22) bzw. Bearbeitungen von literarischen Motiven in anderen Künsten und Medien in ihre Forschungen mit ein. Für jede Überlieferungsgeschichte ist zu fragen: Handelt es sich um eine rein intertextuelle Bezugnahme oder um ein intermediales bzw. transmediales Phä‐ nomen? Es ist festzuhalten: Viele (insbesondere konventionalisierte) literarische Motive erscheinen in der kulturellen Überlieferung nicht nur als rein textliche Phänomene, sondern werden auch in anderen Medien veranschaulicht und mit prägnanten Vorstellungen versehen. Daraus ergibt sich für die Motivanalyse immer auch die Frage, ob es sich bei einem Motiv um rein eine textinterne Funktion, um eine intertextuelle Bezugnahme oder um ein intermediales bzw. transmediales Phänomen handelt. Eine für die Begriffsklärung brauchbare Systematik findet sich bei Irina O. Rajewsky: Sie unterscheidet bekanntlich zwischen „Intramedialität“, „Intermedialität“ und „Transmedialität“ (Rajewsky 2002: 13). Intramedialität bezeichnet Bezüge innerhalb eines Mediums, also z. B. intertextuelle Verfahren in der Literatur oder auch die Parodie in der Musik oder ikonographische Traditionen in der bildenden Kunst. Unter dem Begriff Intermedialität, der in ihrer Studie den größten Raum einnimmt, fasst Rajewsky alle „Mediengrenzen überschreitende(n) Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ (ebd.). Transmedialitätstheorie Unter Transmedialität versteht sie „medienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien […] ausgetragen werden können“ (ebd.). Damit sind ikonographisch konstante Attribuierungen gemeint, die ein Motiv in der kulturellen Überlieferung und in verschiedensten medialen Realisationen sofort erkennbar machen. Z. B. wird Maria oft mit einem Heiligenschein und einem Buch in der Hand dargestellt (Verkündigungsszene) oder als stillende Madonna 43 Thematologie - Intertextualität - Transmedialität mit blauem Gewand und dem Christuskind auf dem Arm (Mutter Gottes) - oder auch als Mater dolorosa, über den Leichnam Jesu gebeugt (Pieta). Solche konventionalisierten Vorstellungen sind zumeist (aber nicht notwendig) bildlich geformt; ihr Kennzeichen ist aber, dass sie in andere Medien übertragbar sind - das Medium ändert sich dann, aber nicht das Bündel an Vorstellungen. Ikonographie Schon Levin hat vorgeschlagen, die ikonologische Funktion (bzw. die transme‐ diale Dimension) von Motiven mithilfe einer an der bildenden Kunst orientie‐ rten ‚literarischen Ikonologie‘ zu untersuchen (vgl. Levin 1968). Die Frage lautet: Wenn es sich um eine ikonographische Funktion bzw. ein transme‐ diales Phänomen handelt: Wie funktioniert die kulturelle Festschreibung im Rahmen eines ikonographischen Zeichensystems? Die Kunstgeschichte hat für die Analyse solcher Phänomene schon lange die Methode der Ikonographie entwickelt (vgl. Büttner & Gottdang 2006). In der jüngeren Forschung hat dieser transmediale Ansatz auch Eingang in die Literaturwissenschaften ge‐ funden - wobei strukturalistische Ansätze und hermeneutisch-historisierende Perspektiven sich die Waage halten. Die Kunsthistoriker Aby Warburg und Erwin Panowsky erkannten schon in den 1920er Jahren (der eigentlichen Geburtsstunde der Kultursemiotik) die Notwendigkeit und den Reiz, bestimmte hochgradig konventionalisierte Zeichen in der bildenden Kunst auf ihren symbolischen Gehalt hin zu untersuchen - dafür zogen sie jeweils literarische Kontexte, philosophische oder theologische Schriften oder auch Zeugnisse der Alltagskultur heran. Ich meine, dass die transmediale Motivanalyse von der Kultursemiotik entscheidende Impulse erhalten kann. Die Vorbilder reichen von Warburgs Pathosformeln (vgl. Warburg 1993, Port 2005) bis zu Barthes Mythen des Alltags (1964), von Hans Robert Curtius Toposforschung (1948) bis zu Claude Lévi-Strauss strukturaler Anthropologie (1981). Von all diesen Ansätzen könnte eine transmediale Motivanalyse konzeptionelle und methodologische Impulse empfangen und gewinnbringend einsetzen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es insgesamt fünf litera‐ turwissenschaftliche Zugänge sind, die für eine transmediale Motivanalyse und damit nicht zuletzt auch für den gesamten Forschungszweig der Thema‐ tologie weiterführend erscheinen: Es sind dies die Fokussierungen auf die Strukturalität, die Intertextualität, die Kontextualität, die Transmedialität und die Ikonographie. Diese Zugriffsmöglichkeiten lassen sich gut verbinden mit dem von Kurwinkel & Jakobi in diesem Band vorgestellten Analysemodell (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21), das eine Differenzierung vorsieht 44 Christine Lubkoll zwischen einer narrativen, materiellen, paratextuellen, diskursiven und eben medialen Dimension der transmedialen Motivanalyse. Literaturverzeichnis Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Literaturwissenschaftliche Motiv- und The‐ menforschung. Abrufbar unter: https: / / adw-goe.de/ forschung/ abgeschlossene-fors chungsprojekte/ akademienprogramm/ literaturwissenschaftliche-motiv-und-themen forschung/ (Stand: 07 / 07 / 2020). Bartes, Roland (1964). Mythen des Alltags. Frankfurt / M. Barthes, Roland (1966). Die strukturalistische Tätigkeit. Kursbuch 5, 190-196. Barthes, Roland (1988). Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt / M., 102-143. Beller, Manfred (1970). Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre. arcadia 5, 1-38. Berndt, Frauke / Tonger-Erk, Lily (2013). 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Von narratologischen Überlegungen ausgehend werden zunächst das „Wende-Motiv“ auf der Ebene der histoire verortet und mögliche Realisationen in Form von zwei Schemata anschaulich gemacht. In Verbindung mit einer Bestimmung des Begriffs ‚Gegenwartsliteratur‘ wird vorgeschlagen für Texte, die von „Wende“ und „Nachwende“ erzählen, Fragen von Gedächtnis und Erinnerung ebenso zu berücksichtigen, wie den Umstand, dass in einer Gesellschaft unterschiedliche Erinnerungskulturen existieren, die mit und gegeneinander wirken. Dabei ist für demokratisch verfasste Gesellschaften anzunehmen, dass in ihnen über komplexe Meinungsbildungsprozesse entschieden wird, welche Erinne‐ rungen Hegemonie erlangen. Dies berücksichtigend fällt bei der Analyse von Texten der Kinder- und Jugendliteratur auf, dass die entworfenen Motive, Figuren, Handlungen vielfach der Bestätigung dessen dienen, was der Histo‐ riker Martin Sabrow „Diktaturgedächtnis“ genannt hat. Von diesem Befund setzt sich die Analyse von drei ausgewählten Texten ab, die ein authentisches Bild von Adoleszenz in der DDR liefern. Abschließend macht der Beitrag Vorschläge für Parameter, die mit Blick auf die Einschätzung des „Was“ und „Wie“ des Erzählens in Anschlag gebracht werden können. I Ein Blick in die Geschichte der deutschen Literatur und ihre Theorie zeigt, dass die Stoff- und Motivforschung auch im Kontext mit Entwicklungen der Erzählforschung seit den 1950er Jahren und dann mit dem ‚narrative turn‘ ab den 1990er Jahren eher am Rand stand. Auch im Rahmen einer interna‐ tional ausgerichteten und interdisziplinär arbeitenden Erzähltheorie, die in der systematischen „Darstellung der wesentlichsten Elemente des Erzählens und ihrer strukturellen Zusammenhänge“ (Stanzel 2008: 14, vgl. Nünning & Nünning 2002: 4) einen Zielpunkt hat, spielt das „literarische Motiv“ - soweit zu übersehen - keine Rolle. Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi verweisen daher - neben Impulsen, die sich bereits in Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) finden, zutreffend auf die Rolle von Elisabeth Frenzel und ihre Bände zur Stoff- und Motivforschung. Und in der Tat findet sich in der deutschen Forschung eine Unterscheidung in Termini wie Stoff, Thema und Motiv. Für Frenzel bietet der Stoff „eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an“ (Frenzel 1999: VI ). Insofern ist für sie der Stoff „an feststehende Namen und Ereignisse gebunden und läßt nur gewisse weiße Flecken im bunten Ablauf des Plots stehen“ (ebd.). Dagegen bezeichne das Motiv „mit seinen anonymen Personen und Gegebenheiten lediglich einen Handlungsansatz“, der letztlich „ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten birgt“ (ebd., s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 17). Christine Lubkoll sieht - darauf verweisen auch Kurwinkel und Jakobi (vgl. ebd.) - das Motiv als die „kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb des Textganzen“ (Lubkoll 2008: 515). Im Weiteren stellt sie heraus, dass es sich beim Motiv um die „kleinste semantische Einheit“ handelt, wobei „der Stoff sich aus einer Kombination von Motiven zusammensetzt und das Thema die abstrahierte Grundidee eines Textes darstellt“ (ebd.). In neuesten Arbeiten betont sie, dass ein Motiv „erst zum Motiv durch Wiederholung, Konventionalisierung und Variation“ wird (s. Lubkoll in diesem Band, S. 35). Rudolf Drux hat das Motiv einmal mehr vom Stoff abgesetzt und das Verhältnis wie folgt bestimmt: Im Gegensatz zum Stoff, der aus einem komplexen Sinnzusammenhang besteht, der, ob historisch-real oder fiktiv, durch räumliche, zeitliche und personale Faktoren festgelegt ist, ist das Motiv ein inhaltsbezogenes Schema, das nicht an einen konkreten historischen Kontext gebunden und damit für die Gestaltung von Ort, Zeit und Figuren frei verfügbar ist. Dadurch kann das Motiv verschiedenen Stoffen angehören und über das Einzelwerk hinaus seinen Wiedererkennungswert in der literarischen Tradition behaupten. (Drux 2007: 638) 52 Carsten Gansel & José Fernández Pérez Es ist nicht verwunderlich, wenn der „Stoff “ eine entsprechende Bedeutung auch in der Literaturwissenschaft in der DDR spielte, die sich aus historischen Gründen eigentlich erst in den 1980er Jahren stärker auf narratologische Fragestellungen auszurichten begann. In einer für die Lehre an Universitäten verbindlichen Gemeinschaftspublikation verstand man unter dem Begriff Stoff einen vorgegebenen gesellschaftlich bestimmten Lebenszusammenhang, der in der Wirklichkeit oder der Überlieferung existiert, im Werk aufgenommen wird und seine spezifische, durch den konkret-historischen Standort, die Wirklichkeitssicht und das Talent des Autors bedingte Gestaltung erfährt. (Herden 1978: 58 f.) Unter dem Motiv wurde ein „differenziert eingesetztes, meist bildhaftes, bedeu‐ tungsgeladenes Werkelement“ verstanden, das durch wiederholte und dabei variierende Verwendung zur ‚inneren Organisation‘ (Goethe) des Werks beiträgt und die Aussage vermittelt. Man spricht z. B. vom Teufelspakt- oder Liebestod-Motiv oder vom Motiv der blauen Blume, vom Entschei‐ dungsmotiv oder vom Motiv der revolutionären Stafette. (Kaufmann 1978: 94) Es ist von daher möglich, den Stoff sehr vereinfacht als das in der Wirklichkeit existierende Material zu bezeichnen, das Autorinnen und Autoren zur literari‐ schen Gestaltung nutzen können (vgl. Gansel 2019: 24). Offensichtlich ist, dass das Motiv zur Ebene der histoire gehört, was es auch Kurwinkel und Jakobi herausstellen, wenn sie notieren: Der histoire sind auch die Kernelemente oder Narreme einer Erzählung zuzuordnen: Die Figur(en) als Träger der Handlung(en), der Raum und die Zeitdauer. Motive sind an diese Narreme gebunden, sie konkretisieren die Kernelemente als schematisierte Einheiten. (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) Die von ihnen vorgeschlagene Typologie kann als anregender Versuch gelten, dem Motiv analytisch und das heißt mit Blick auf narratologische Aspekte näherzukommen (vgl. ebd.). Durch die Bindung des Motivs an Figuren und Handlung sowie an Raum und Zeit erscheint es nämlich möglich, eine Ausdiffe‐ renzierung in „figurale, objektionale, situationale, lokale und temporale Motive“ vorzunehmen, wobei die „objektionalen und situationalen Motive dem Narrem der Handlung zugeordnet“ werden können (ebd.). Folgte man diesem Vorschlag, dann lassen sich in diachroner wie synchroner Perspektive Schnitte anbringen, die zeigen, in welcher Weise in literarischen Texten unter spezifischen kulturge‐ schichtlichen Konstellationen ganz bestimmte Motive wiederkehren oder eben auch nicht. Wollte man - wie dies nachfolgend geschieht - den „Wende“-Stoff, das „Wende“-Thema, ja das „Wende“-Motiv diskutieren, dann ergeben sich 53 Aspekte des Wende-Motivs mit Blick auf den theoretischen Ansatz interessante Einblicke. Folgt man nämlich Kurwinkels und Jakobis typologischer Ordnung erscheint auf den ersten Blick klar, dass das „Wende“-Motiv „situational“, „temporal“ wie auch „lokal“ verortbar ist. Wir sind also nicht auf das 18., 19. oder frühe 20. Jahrhun‐ dert verwiesen, sondern auf einen ganz spezifischen historischen Zeitpunkt, nämlich das Jahr um 1989. Klar ist auch, dass mit der „Wende“ sehr konkrete Zustände bzw. gesellschaftliche Verhältnisse bezeichnet sind, an die wiederum ein entsprechendes Inventar von Denk- und Handlungsoptionen der Beteiligten gebunden ist. Und ebenso eindeutig ist die Lokalität erfasst. Wenn die „Wende“ in den Fokus der Aufmerksamkeit oder eben der literarischen Gestaltung rückt, so vollzieht sich dies nicht in Gießen, Hamburg oder München, also in der alten Bundesrepublik Deutschland, sondern in Leipzig, Dresden, Berlin und vielen kleineren Orten der nunmehr vergangenen DDR . Dies hat Folgen für die Figurenkonstellationen: Bei aller möglichen Ausweitung des Zeit- und Handlungsraumes der Figuren - etwa durch Erinnerungen an Vergangenes - wird man sich darüber einig sein können, dass im Zentrum der Handlung Protagonistinnen und Protagonisten mit einer ostdeutschen Herkunft stehen. Wollte man also an Kurwinkels und Jakobis Überlegungen anschließen, dann ließe sich - rein hypothetisch - folgendes Modell (Abb. 1) eines narrativen Textes entwerfen, der die „Wende“ zur Darstellung hat, wobei zunächst die Ebene der histoire, also das „Was“ der Darstellung angesprochen ist: Abb. 1: Schema 1 54 Carsten Gansel & José Fernández Pérez Betrachtet man die Ebene des discours, also des „Wie“ des Erzählens, dann lassen sich für den in Rede stehenden Gegenstand folgende Varianten (Abb. 2) skizzieren: Abb. 2: Schema 2 II Da die histoire mit den entsprechenden „figuralen, objektionalen, situationalen, lokalen und temporalen Motiven“ (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) - wie gezeigt - auf den Zeitraum um 1989 festgelegt ist, wird man mit einigem Recht davon sprechen können, dass jene Texte, die dieses Wirklichkeitsmaterial zur Grundlage für eine literarische Gestaltung machen, zur Gegenwartsliteratur gehören. Das kann man von Texten wie Anna Seghers’ Die Toten bleiben jung (1949), Günter Grass’ Blechtrommel (1959), Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959) oder Christa Wolfs Der Geteilte Himmel (1962) inzwischen nicht mehr sagen. Auch Wolfs Kassandra (1983) oder Patrick Süßkinds Das Parfum (1985) wird man inzwischen eher nicht zur Gegenwartsliteratur rechnen. Frei‐ lich macht die begriffliche Zuschreibung „Gegenwartsliteratur“ im Hinblick auf die spezifische Zeitspanne einer Literatur nur dann Sinn, wenn sie sich auf einen gemeinsamen zeitgeschichtlichen sowie kulturellen Nenner bezieht. Das war über einen längeren historischen Zeittraum das Jahr 1945. Die Texte von Grass, Johnson oder Wolf wurden daher bis in die 1990er Jahre mit der Bezeichnung „Literatur nach 1945“ gekennzeichnet und zur Gegenwartslite‐ 55 Aspekte des Wende-Motivs ratur gerechnet. Inzwischen herrscht in der Literaturwissenschaft und Litera‐ turgeschichtsschreibung weitgehend Konsens darüber, dass mit der politischen „Wende“ und dem Fall der Mauer im Jahr 1989 eine Zäsur anzusetzen und auch in der Literatur ein Epochenwechsel zu verzeichnen ist (vgl. Gansel & Herrmann 2013: 14). Die politischen Wandlungen haben nicht nur den gesell‐ schaftlichen und kulturellen Horizont in Deutschland verändert, sondern auch zu thematischen und stilistischen Umbrüchen innerhalb der Literatur geführt und - wichtiger noch - die Zusammenführung der beiden deutschen Literaturen eingeleitet. Mit dem Jahr 1989 eine Zäsur innerhalb der Literaturgeschichts‐ schreibung anzusetzen, erscheint deshalb nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Ähnlich wie die Datierung „Literatur nach 1945“ bezieht sich diese Markierung auf ein (welt-)politisches Ereignis sowie einen historischen und kulturellen Umbruch. Allerdings - und dies sollte betont werden - ist auch das Jahr 1989 mit Blick auf die Begriffsbestimmung „Gegenwartsliteratur“ kein unverrückbarer (literaturgeschichtlicher) Markstein. Im Rahmen einer Studie zur „Gegenwartsliteratur“ hat Michael Braun betont, dass Gegenwarts‐ literatur per definitionem „einen wandelbaren Anfang und ein unabsehbares Ende“ (Braun 2010: 21) hat. Vergleichbares wird für die Gegenwartsliteratur der kommenden Jahrzehnte zutreffen: Sie wird sich parallel zur Fortschreibung der Zeitgeschichte nach vorne verschieben. „Aufgrund der Mobilität der Eckdaten ist Gegenwartsliteratur auf der Zeitachse keine in sich abgeschlossene Epoche“, schreibt Braun (ebd.). Dies wird letztlich auch den historischen Komplex der „Wende“ betreffen. Für jene Generation, die Anfang der 1990er Jahre und später geboren wurde, ist die „Wende“ ein Datum, mit dem sie keine persönlichen Erfahrungen verbinden können. Insofern macht es Sinn, einen Hinweis von Paul Michael Lützeler aufzugreifen, der mit Blick auf die Bestimmung von Gegenwartsliteratur den Generationsaspekt stark macht. „‚Gegenwart‘ bedeutet die Zeitspanne einer Generation, hier also (in etwa) die letzten dreißig Jahre“, notiert er (Lützeler 2002: XVII ). Damit wird der Terminus „Gegenwartsliteratur“ in einem erinnerungstheoretischen Kontext verortet, ebenso wie er sich auf das Generationenmodell von Karl Mannheim zurückführen lässt (vgl. Mannheim 1964: 509 ff.). Für die Bestimmung des Begriffs „Gegenwartsliteratur“ - und damit immer auch für den in Rede stehenden Gegenstand „Wende“ - erscheint es sinnvoll, diesen in Verbindung mit verschiedenen Formen des Gedächtnisses zu disku‐ tieren. Und dies auch deshalb, weil Fragen der Erinnerung gleichermaßen das Individuum selbst wie auch Gesellschaften betreffen. Mit Blick auf das „Wende“-Motiv erscheint es daher durchaus angebracht, die Kategorien Erinne‐ rung und Gedächtnis mitzudenken, weil sich in der Bindung an sie Unterschiede 56 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 1 Siehe dazu die von Carsten Gansel verantworteten Bände zum Verhältnis von Lite‐ ratur und Gedächtnis in der deutschen Literatur nach 1945 wie: Gansel, Carsten (Hrsg.) (2009). Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ›geschlos‐ senen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus. Göttingen, sowie zuletzt Ders. / Heidrich, Anna / Kulkova, Mariya (Hrsg.) (2021). Zum „Prinzip Erinnerung“ in der deutschspra‐ chigen Gegenwartsliteratur - Ausgewählte Textanalysen. In: GFL, 1: 2021. Zugriff unter http: / / www.gfl-journal.de/ . in den „situationalen, lokalen und temporalen Motiven“ (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) ergeben. Aleida Assmann hat in einer frühen Arbeit betont, dass Individuen in unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingespannt sind, die immer weitere Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der Generation, der Gesell‐ schaft, der Nation, der Kultur. (Assmann 2002: 184) 1 In Abhängigkeit vom Raum- und Zeitradius, der damit in Verbindung stehenden Gruppengröße sowie der jeweiligen Flüchtigkeit oder Stabilität der verschie‐ denen Formen von Gedächtnis unterscheidet sie daher zwischen dem Ge‐ dächtnis des Individuums, der Generation, des Kollektivs und der Kultur, wobei die Übergänge zwischen den Gedächtnisformationen fließend sind. Eben diese unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses sind nun auch für die Produktion, die Distribution wie die Rezeption gerade solcher Texte entscheidend, die ein so hochkomplexes „Thema“ mit entsprechenden Motivketten betreffen, wie dies die „Wende“ in der DDR darstellt. Nimmt man nur einmal das „individuelle Gedächtnis“, das für jeden Akt der literarischen Produktion zentrale Bedeutung besitzt und das entscheidend für den Aufbau eines Selbst ist, dann macht es einen Unterschied, ob der Autor oder die Autorin 1989 60, 40, 20, 10 oder 5 Jahre alt war. Eben dies schlägt sich in Texten nieder, die die „Vorwende“ und „Wende“ zum Motiv bzw. diesen Stoff zur Grundlage haben. Die Generationenzugehörigkeit vermag auch Unterschiede zu erklären, wenn es um Romane wie Uwe Tellkamps Der Turm (2008), Christa Wolfs Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) oder Lutz Seilers Kruso (2014) geht - um nur einmal drei Romane zu nennen, die mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurden und in denen die 1980er Jahre bis hin zur „Wende“ im Zentrum stehen. Zu beachten allerdings ist, dass die Erinnerungen fragmentarisch und veränderlich sind, da sie an die Entwicklung des Individuums gebunden sind. Das „Generationengedächtnis“ dagegen ist durch historische Schlüsselerfahrungen geprägt. Die Angehörigen einer Alterskohorte verbindet eine „bestimmte Atmosphäre von Erfahrungen und Werten, Hoffnungen und Obsessionen“ (Assmann 2002: 185), es geht ferner um gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche 57 Aspekte des Wende-Motivs Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster“ (ebd.: 184). Klar allerdings ist, dass das „Generationengedächtnis“ bereits vom Individuum abstrahiert wird und somit eine Konstruktion darstellt. Es kann daher sein, dass sich zahlreiche Individuen nicht in dem für eine Generation angesetzten Gedächtnis bzw. den Erinnerungen wiederfinden. Wer die „Wende“ in Schwerin, Rostock oder Neubrandenburg - einer der früheren Bezirksstädte der DDR - erlebt hat, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Erfahrungen gemacht haben als jene, die zu diesem Zeitpunkt in Berlin (Hauptstadt der DDR ), Leipzig, Halle oder Karl-Marx-Stadt, also den südlichen Bezirksstädten lebten. Letztlich macht es einen Unterschied, in welcher privaten und beruflichen Situation jemand in die „Wende“-Zeit geraten ist und mit welchen konkreten Erlebnissen er oder sie konfrontiert war. Mit den genannten Markierungen bezieht sich das Generationengedächtnis auf eben jene „räumlichen und zeitlichen Parameter“, auf die Kurwinkel aufmerksam gemacht hat. Über den gemeinsamen Erfah‐ rungshorizont ist eine Generation als kulturelle Gruppe gekennzeichnet. Wenn es denn an dieser Stelle um das zentrale historische Ereignis der letzten Jahrzehnte geht, das weltweite Folgen hatte, dann erscheint es dringlich, auch das „kollektive“ und das „kulturelle Gedächtnis“ in den Fokus zu rücken und knapp zu skizzieren. Assmann geht mit Recht davon aus, dass Institutionen und Körperschaften nicht wie das individuelle Gedächtnis über ein organisches Gedächtnis im biologischen Sinne verfügen, sie müssen sich daher eines „machen“. Dafür bedienen sie sich „memorialer Zeichen und Symbole, Texte, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Monumente“, über die Individuen auf ganz be‐ stimmte Gedächtnisinhalte gewissermaßen „eingeschworen und zu Trägern des kollektiven Gedächtnisses [werden]“ (ebd.: 186). Insofern enthält das „kollektive Gedächtnis“, von dem hier die Rede ist, keine „spontanen und unwillkürlichen Momente“, es ist konstruiert und besteht - dies ist von besonderer Bedeu‐ tung - aus einer „kalkulierten Auswahl“ (ebd.). Es bedarf keiner umfangreichen Erklärungen, wer die Auswahl bestimmt: Es sind dies die Handlungsträger insbesondere des politischen Systems. Dadurch, dass die Konstruktionen des kollektiven Gedächtnisses an der „politischen Gestaltung der Zukunft“ beteiligt sind, ergibt sich die Forderung nach einer „kritischen (Selbst-)Reflexion dieser Gedächtnis-Konstruktionen“ (ebd.: 189), damit die Chance besteht, ihre „blinden Flecken“ auszufüllen. Das „kulturelle Gedächtnis“ schließlich hat die Aufgabe, Erfahrungen und Wissen über die Generationenschwelle zu transportieren und so ein Langzeitgedächtnis auszubilden. Es stützt sich dabei auf „externe Da‐ tenspeicher und Institutionen der Gedächtnispflege und Wissensvermittlung“ und bezieht sich auf einen komplexen Überlieferungsbestand, der „Artefakte, 58 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 2 Siehe zu diesem Komplex auch die zahlreichen Publikationen des Gießener SF 434 Er‐ innerungskulturen. In diesem Rahmen etwa Neumann 2005. Texte, Bilder, Skulpturen, Architektur, Landschaft, Feste, Brauchtum und Rituale umfasst“ (ebd.: 189). In Forschungen zu Gedächtnis, zu Erinnerung und zu Erinnerungskulturen ist immer wieder herausgestellt worden, dass sich in pluralen Gesellschaften über komplexe Meinungsbildungsprozesse entscheidet, was zum Gegenstand kollektiver Erinnerung wird. Über Bewertungsakte werden aus einer Vielzahl möglicher Vergangenheitsreferenzen - Orte, Personen, Ereignisse, Zusammen‐ hänge - jene Elemente ausgewählt, die vor dem Hintergrund gegenwärtiger Interessen und Bedürfnisse als bedeutsam und erinnerungswürdig eingestuft werden. Da aber in Gesellschaften verschiedene Gruppen- und Kollektivge‐ dächtnisse miteinander in Konkurrenz stehen, existiert eine Art Streit um die Deutungshoheit von Erinnerungen. Insofern ist der „Kampf um die Erinnerung“ ein Kampf um die jeweilige Bewertung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Aushandlungsprozess erlangen spezifische Erinnerungskon‐ zepte letztlich Hegemonie, kulturelle Majorität und Macht. Andere werden als minoritär eingestuft und an den Rand des Systems abgedrängt. Auch hier lässt sich also von Erinnerungskonzepten und -kulturen sprechen, die im Kern der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen, und solchen, die sich am Rand befinden. Erfahrungen und Erinnerungen, die im dominanten Kollektiv‐ gedächtnis ausgeschlossen oder verdrängt werden, können nun Gegenstand von alternativen Vergangenheitsversionen sein und auf diese Weise das Entstehen eines „Gedächtnisses zweiter Ordnung“ befördern. Michel Foucault spricht vom „contre-mémoire“, vom Gegen-Gedächtnis. Gegen-Gedächtnisse sind darauf aus, von der Peripherie in den Kern zu gelangen und die Grenze zwischen Erin‐ nern und Vergessen zu durchbrechen. 2 Man wird also davon ausgehen können, dass in Gesellschaften durchaus verschiedene kollektive Gedächtnisse mit und gegeneinander wirken, wobei das staatlich legitimierte Gedächtnis Dominanz und Hegemonie besitzt und die kollektiven Gegen-Gedächtnisse überlagert und gegebenenfalls ausschließt bzw. delegitimiert (vgl. Gansel 2009: 55 ff.). Der Historiker Martin Sabrow hat nun mit Blick auf die Erinnerung an die DDR drei Typen herausgearbeitet: Dabei handelt es sich erstens um das sog. „Diktaturgedächtnis“, das den „Unterdrückungscharakter der SED -Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989 / 90“ (Sabrow 2010: 16) zum Kern der Darstellung macht. Entsprechend finden sich im Diktaturgedächtnis solche Motivketten wie „Stasi, Unrechtsstaat, Parteiherrschaft, Eiserner Vorhang, Mauerschützen, Doping (im Sport)“ (Meyen 59 Aspekte des Wende-Motivs 3 Michael Meyen verweist auf solche Ideale wie „Brechung des Bildungsprivilegs der besitzenden Klassen, Gleichstellung der Geschlechter, Arbeit und Wohlstand für alle, Nahrung und bezahlbarer Wohnraum sowie eine Welt, in der der Mensch sich und seine Arbeitskraft nicht verkaufen muss, keinen materiellen Reichtum begehrt und keine Kriege führt“ (Meyen 2013: 59). 4 Yana Milev zeigt, in welcher Weise der Verlust der Arbeitsplätze, der Millionen Ostdeutsche betraf, Folgen für das hatte, was man Würde der Menschen nennt (vgl. Milev 2020). 2013: 59). Im sog. „Arrangementgedächtnis“ geht es um die Verknüpfung von „Machtsphäre und Lebenswelt“ (Sabrow 2010: 17). Von daher dominieren Mo‐ tivketten und Entgegensetzungen wie „Freude und Leid im Alltag, Stolz auf das erreichte (persönlich und im Betrieb, auch in der Gesellschaft insgesamt, gerade mit Blick auf die Bedingungen im Kalten Krieg)“ (Meyen 2013: 59). Letztlich wird beim „Arrangementgedächtnis“ ein Bild von „alltäglicher Selbstbehaup‐ tung unter widrigen Umständen, aber auch von eingeforderter oder williger Mitmachbereitschaft“ (Sabrow 2010: 17) propagiert. Schließlich existiert auch noch das sog. „Fortschrittsgedächtnis“, in dem an der „Idee einer legitimen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ (ebd.) festgehalten und auf kommunistische Ideale Bezug genommen wird, die am Anfang der DDR standen. 3 Sabrow selbst hat herausgestellt, dass im „öffentlichen Umgang mit der DDR “ seit der Wende zum 21. Jahrhundert die „klaren Schwarz-Weiß-Linien des Diktaturgedächtnisses“ dominieren, „das die Erinnerung an Repression und Teilung in Gedenkstätten und Jahrestagen verankert hat“ (Sabrow 2013: 15, vgl. Gansel 2018: 28). Auch der Medienwissenschaftler Michael Meyen kommt nach seinen Erhebungen im Rahmen des neuen Forschungsverbundes „Das mediale Erbe der DDR “ zu dem Ergebnis, dass das Diktaturgedächtnis jegliche Erinnerung dominiert, jedenfalls dort, wo sie staatlich bzw. institutionell legi‐ timiert ist (vgl. Meyen 2020: 34 ff.). Auf seine Studie von 2013 (Meyen 2013) Bezug nehmend, notiert er: „Egal ob Schulbücher, Museen oder Leitmedien: Es dominierte Typ 1 (das Diktaturgedächtnis im Sinne von Sabrow - CG / JFP ), Tendenz steigend. Typ 2 (das Arrangementgedächtnis - CG / JFP ) gab es noch, immerhin. Typ3 (das Fortschrittsgedächtnis - CG / JFP ) dagegen schien langsam auszusterben.“ (Meyen 2020: 35) In einer profunden Darstellung hat die Sozio‐ login Yana Milev das „Treuhand Trauma“ (Milev 2020) untersucht und gezeigt, welche Spätfolgen sich in Folge der „Transformation des Ostens“ ergeben haben und inwieweit dies die Erinnerung an die vergangene DDR mitbestimmt. 4 60 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 5 Vgl. Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung - Zu Literatur und Gedächtnis in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In: Ders. (Hg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ‚geschlossenen Gesell‐ schaften‘ des Real-Sozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 9-16, hier: S. 10. Norbert Otto Eke und Stefan Elit verweisen unter Bezug auf den genannten Beitrag ebenfalls auf diesen - für die Bestimmung von Gegenwartsliteratur anzusetzenden - Aspekt (Eke / Elit 2012: 7). 6 Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004. Auf die kollektive Identität fördernde Funktion der Literatur, die über die Erstellung eines gemeinsamen Erinnerungsraumes erreicht wird, den sie jenen Rezipienten zur Verfügung stellt, die die in der Literatur thematisierten Erfahrungen teilen, aber auch denen als substitutive Erfahrung(swelt) zugänglich macht, die die beschriebene Erfahrungen nicht teilen, geht Elisabeth Herrmann in einem Beitrag zur gesamtdeutschen Literatur nach der „Wende“ und deutschen Wiedervereinigung III Für die Gegenwartsliteratur - und die „Wende“-Literatur gehört in jedem Fall dazu - kann davon ausgegangen werden, dass vor allem jene Signaturen von Wirklichkeit in das Blickfeld der Autorinnen und Autoren geraten, die generationsspezifisch an bestimmte Schlüsselerfahrungen gebunden und in jeweils individueller Weise auf die vom Einzelnen gegenwärtig wahrnehm‐ baren Werte, Normen, Hoffnungen, Vergangenheitssowie Zukunftsreferenzen bezogen sind. Insofern kann man von der in der kulturwissenschaftlichen Forschung formulierten Position ausgehen, dass Gegenwartsliteratur zum einen ein Medium ist, über das in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis bereit‐ gestellt werden. Die Art und Weise der narrativen Inszenierung in literarischen Texten sagt damit immer etwas über die in einer Gesellschaft funktionierenden Prozesse der Gedächtnisbildung aus, aber eben auch über ihre gegenwärtige Verfasstheit. Zum anderen werden in literarischen Texten individuelle, gene‐ rationenspezifische sowie kollektive Formen von Erinnerung, gegenwärtiger Erfahrung sowie Antizipationen des Zukünftigen gewissermaßen ‚abgebildet‘ und damit wiederum beobachtbar (vgl. Gansel 2009: 10). 5 Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass Literatur ihrerseits einen alteritären Erfahrungshorizont bietet, über den Welterfahrung und „Lebenswissen“ vermittelt werden. Ottmar Ette hat mit „Lebenswissen“ das Vermögen der Literatur bezeichnet, normative Formen von Lebenspraxis nicht nur zu simulieren, sondern auch performativ zur Disposition zu stellen, insofern nämlich Literatur stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen innerhalb einer gegebenen Kultur oder Gesellschaft enthält, diese jedoch zugleich erweitert, indem sie Wissen - und das heißt Welterfahrung - zur Verfügung stellt. 6 In diesem 61 Aspekte des Wende-Motivs ein: Herrmann, Elisabeth: Turnarounds, Ruptures, and Continuity: How Unified is Germany and its Literature More than Twenty Years after the „Wende? “. In: Virtual Walls. Balancing Political Unity and Cultural Differences in Contemporary Germany. Hg. v. Dreyer, Michael / Lys, Franyiska. Evanston: Northwestern University Press, 2013, S. 165-191, hier: S. 183. 7 Vgl. zur Differenz von Kommunikation und Handlung: Gansel, Christina: Textsorten‐ linguistik, Göttingen 2011, S. 25-31. 8 Die Aussagen zur Systemlogik nach Niklas Luhmann werden an dieser Stelle nicht weiter kommentiert. Sie sind vom Verfasser in verschiedenen Beiträgen dargestellt und werden in diesem Rahmen für die ins Auge gefasste Denkfigur erneut herausgestellt. Siehe dazu Carsten Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ - Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hg.): Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin / New York: de Gruyter 2013, S. 31-56. Punkt treffen sich Überlegungen zur Rolle von Kunst und Literatur mit dem systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann, der davon ausgeht, dass für unterschiedliche Teilsysteme von Gesellschaft jeweils eine eigene Systemlogik gilt. Wenn Luhmann davon spricht, dass soziale Systeme kommunizieren, dann ist es erforderlich, seinen Kommunikationsbegriff zu bestimmen, da er von an‐ deren abweicht. Luhmann versteht Kommunikation als eine dreifache Selektion von a) Information, b) Mitteilung und c) Verstehen. 7 Verstehen ist die Grundlage für Anschlusskommunikationen. Ausgehend von der vorgeschlagenen System‐ logik des Systems „Literatur“, kann man sich nun die dreifache Selektion in folgender Weise vorstellen: Autorinnen und Autoren beobachten ihre Umwelt, aus der sie Informationen als Stoffe, Motive und Themen selegieren. Diese verarbeiten und gestalten sie in Mitteilungen (Texten) auf der Grundlage des Codes und der Programme, die sie flexibel variieren und verändern und die freilich durch die jeweiligen Teilsysteme von Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Medien, Wissenschaft, Kultur) mitgeprägt werden (vgl. Gansel 2013, 2021). 8 62 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 9 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2006 (3. Auflage), S. 127. Die nachfolgenden Überlegungen sind im Rahmen von Beiträgen zu einem Projekt entstanden, das sich seit 2008 mit der ‚Kategorie Störung‘ beschäftigt und inzwischen mehrfach als Denkfigur vom Verf. genutzt wurde. Das erneute Aufgreifen ist im Rahmen der vorliegenden Argumentation notwendig. Siehe u. a. Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft, Berlin 2012, S. 173-198; Ders., Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur - Theorie und Praxis, Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4 / 2014, hg. v. Carsten Gansel, Göttingen 2014, S. 315-332. Systemlogik System Funktion Leistung Medium Code Programm Literatur Beobachtung von Gesell‐ schaft (Selek‐ tion von Stoffen, Themen) Unterhaltung Entlastung Lebenshilfe Bildung Spaß Kritik Affirmation Stabilisierung Destabilisie‐ rung Selbsterkenntnis, Therapie Lebenssinn Ruhm Erfolg Kanonisierung Gedächtnis Archivierung Selbstreferenz / Wirklichkeitsrefe‐ renz schön / hässlich interessant / nicht interessant polyvalent / nicht polyvalent Gattungen Darstellungs‐ weisen Zensur Selbstzensur Abb. 3: Literatur systemtheoretisch Für den Modernisierungsprozess insgesamt gilt, dass er vom Kultursystem kritisch begleitet wird. Eben darum werden in den verschiedenen system- und modernisierungstheoretischen Ansätzen dem Kulturbzw. Literatursystem selbstreflexive Funktionen zugeschrieben. Karl Eibl hat mit Blick auf Goethes Werther (1774) und Lessings Minna von Barnhelm (1767) sowie Emilia Galotti (1772) auf den Beginn der Moderne aufmerksam gemacht. Dabei wandle sich die Literatur von einer „Thesen-Verkündigungsanstalt (oder bloßen Un‐ terhaltung) zum Organ der Problemreflexion und zwar von Problemen, die in einigen Facetten bis in die Gegenwart reichen“ (Eibl 1995: 87). Mit Kunst und Literatur schaffen moderne Gesellschaftssysteme sich von daher Formen der Autopoiesis, „um sich selbst zu beobachten: in sich selbst gegen sich selbst“. 9 Literarische Texte praktizieren demnach das „Sichtbarmachen des Unsichtbaren“ und haben - wie die Kunst insgesamt - die Aufgabe, die „(jedermann geläufige) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“ 63 Aspekte des Wende-Motivs 10 Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur, hg. v. Niels Werber, Frankfurt / M. 2008, S. 144. Vgl. die nachfolgenden Aussagen in dem Beitrag: Gansel, Zur ‚Kategorie Störung‘, S. 319 f. 11 Siehe Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Ausgabe. Göttingen: V&R 2006. Es sei an dieser Stelle darauf verzichtet, die ‚Kategorie Störung‘ ins Spiel zu bringen sowie die Rolle zu diskutieren, die Störungen in systemtheoretischer Perspektive spielen. Siehe dazu Gansel, Zur ‚Kategorie Störung‘. zu konfrontieren. 10 Insofern besteht eine Leistung von Literatur in ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Gesellschaften in der „Bereitstellung von Applikations-Vor‐ lagen für Denormalisierungen“ (Link 2006: 41). Dies bedeutet auch, dass die literarischen Darstellungen zu Störungen in dem Fall führen können, da sie die für eine bestimmte Epoche, Gesellschaft, Gemeinschaft gültigen Codes und Programme infrage stellen und den „gesellschaftlichen Normalismus“ (ebd.) irritieren oder gar aus dem Gleichgewicht bringen. 11 Das kann auch bei Texten der Fall sein, die die „Vorwende“ und „Wende“ in der DDR zum Gegenstand des Erzählens machen. Während sich in der Allgemeinliteratur durchgängig Texte finden, die trotz aller Zuspitzung durchaus ein authentisches Bild von der Wende vermitteln, wird man dies vom Teilsystem Kinder- und Jugendliteratur nicht sagen können. Seit Mitte der 1990er Jahre dominiert in zahlreichen Texten das, was Sabrow „Diktaturgedächtnis“ nennt. Auf die Texte bezogen, wird man von bestimmten Motivketten und Topoi sprechen können, die immer wieder kolportiert werden. Es handelt sich hier gewissermaßen um wiederkehrende Stereotypen: erstens den Täter-Opfer-Topos, zweitens den Widerstandstopos und drittens das Feindbild Lehrer / Eltern. Zum Täter-Opfer-Motiv: Da, wo in den untersuchten Texten nach Gründen für das Ende der DDR gefragt wird, dominiert ein Erklärungsmuster, demzufolge eine amoralische, inkompetente Funktionärsclique die Bevölkerung systematisch belogen und den Staat DDR in den Ruin getrieben habe. Die „kleinen Leute“, die vermeintlich schon immer gegen das System waren, wurden letztlich zu Opfern. Der Täter-Opfer-Topos ist verbunden mit dem Herausstellen eines indirekten wie offenen Widerstands in der DDR , dem „Widerstandsmotiv“ bzw. -topos: Die DDR -Bevölkerung wird als Opfer einer kriminellen Führung dargestellt. Der Funktionärskorps gerät durch die betriebene Dämonisierung zu einem deus ex machina. Nach deren Entmachtung dürfen die Bürger demnach ruhigen Gewissens wieder zur Tagesordnung übergehen. Dass die DDR über vierzig Jahre von einem Großteil der Bevölkerung zumindest mitgetragen wurde, weil bestimmte Rituale allem Anschein nach gemeinschaftsbildend wirkten und die soziale Sicherheit als ‚Wert‘ wahrgenommen wurde, gerät ebenso aus dem Blick wie die Tatsache, dass der dissidentische Widerstand in seiner ersten Phase reformkommunistisch 64 Carsten Gansel & José Fernández Pérez orientiert war. Der Herbst 1989 stand zunächst unter dem Signum der Erneue‐ rung einer sozialistischen DDR ; er geschah also im Zeichen einer Realisierung des Zukunftsversprechens ‚ DDR ‘. Schließlich kann man ein drittes Negativ-Ste‐ reotyp ausmachen. In den Texten für junge Leser fungieren durchgängig Lehrer- und Elternfiguren als die Figurengruppe, auf die sich schuldhaftes Verhalten konzentriert bzw. bei der es entsorgt wird. Ausgestattet werden sie mit Eigenschaften wie mangelnder Zivilcourage, Heuchlertum, Anpassung, Parteihörigkeit, Dogmatismus und einer mitunter gar fanatischen Militanz, die im Sinne des Staates vor nichts zurückschreckt („Stichwort: Schießbefehl“). Nun wird man sicher auch Literatur, die für junge Leser von der Wende erzählt, zugestehen können, dass sie zuspitzt oder auch Schemata entwirft. Allerdings wird es problematisch, wenn es vorgeblich darum geht, eine his‐ torisch-soziale Wirklichkeitserkundung zu betreiben. Anders gesagt: Dort, wo sich Autoren eine soziale Wirklichkeitserkundung zur Aufgabe machen, bedeutet dies, dass sie die Forderung nach einer unvoreingenommenen und gewissenhaften sozialen Beobachtung erfüllen müssen, ganz im Sinne der eingangs skizzierten Systemlogik für Literatur. Denn: Literarische Wirklich‐ keitserkundung unterscheidet sich von dem, was im traditionellen Verständnis von der Kinder- und Jugendliteratur als einer Sozialisations- und Zielgruppen‐ literatur gefordert worden ist. Wo (aktuelle) Wirklichkeitserkundung das Ziel ist, bekommt anstelle der „pragmatischen Relation“ (Werk-Rezipient) die „mi‐ metische Relation“ (Werk-Realität) entscheidendes Gewicht. Ein Aspekt dieser mimetischen Relation ist der Umgang mit dem historisch bzw. zeitgeschichtlich Tatsächlichen. Von Clemens Heselhaus stammt der Hinweis, dass es in der „dichterischen Fiktion des Realismus nicht mehr nur um Wahrscheinlichkeit wie im 18. Jahrhundert geht, sondern um die Dokumentation durch die Tatsäch‐ lichkeit gelebten Lebens“ (Heselhaus 1969: 352). Nun ist der Stellenwert dessen, was man Tatsachenstimmigkeit nennen kann, gewiss ein höchst unterschied‐ licher. Allerdings wird man schwerlich von Tatsachenstimmigkeit sprechen können, wenn in Texten, die vorgeben, von der Zeit der Wende zu erzählen, zu lesen ist, dass DDR -Bürger nach Brot anstehen, Jugendliche froh sind, einen „ RIAS -Mitschnitt“ auf Tonband zu haben oder der Empfang von „Westsendern“ bewundernd zur Kenntnis genommen wird. Dies hat mit der „Tatsächlichkeit gelebten Lebens“ nichts zu tun. Es handelt sich in solchen Fällen schlicht und einfach um Verfälschungen (vgl. Gansel 1996: 32 ff., 2009). Da Literatur in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationsspezifische Erinne‐ rungen für das kollektive Gedächtnis bereitstellt, ist es problematisch, wenn sich ganz bestimmte Motive und Topoi durchsetzen, die einseitig bestimmte 65 Aspekte des Wende-Motivs 12 Infolge der historischen Zäsur von 1989 entstanden in den 1990er Jahren zahlreiche fik‐ tionale Texte, die auch die Erinnerung an die ,verschwundene‘ DDR, die Wende und die Nach-Wende-Zeit inszenieren. Sie sind bereits Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden. An dieser Stelle sei auf einige ausgewählte Publikationen verwiesen: Grub 2003, Dettmar & Oetken 2010, Lüdeker & Orth 2010, Führer 2016, Keuler 2017 und Lange 2020. „Botschaften“ vermitteln und affirmative erinnerungspolitische Funktionen übernehmen. IV Es seien nachfolgend vier Texte im Sinne von „Probebohrungen“ diskutiert, in denen „Wende-Motive“ gestaltet werden. 12 Da es um eine Vergleichbarkeit geht, erfolgt eine Konzentration auf Texte, in denen in Verbindung mit „Wende“-Mo‐ tiven jugendliche Protagonisten im Zentrum der Darstellung stehen. Es handelt sich also letztlich um Adoleszenzromane (vgl. Gansel 2016, Fernández-Pérez 2021). Mit dem Moment der Adoleszenz ist „gesichert“, dass auf der Ebene des „Was“ und „Wie“ vergleichbare Generationserfahrungen (Stichwort: Gene‐ rationengedächtnis) und entsprechende Wissensbestände in den Fokus der Darstellung gerückt werden (vgl. Schema 1). Dies wäre in dem Fall, da Figuren im Zentrum stehen, die der Eltern- oder Großelterngeneration angehören, nur bedingt der Fall gewesen. Mit ihrem Debütroman 1988. Wilde Jugend (2019) präsentiert Nadja Klier einen Adoleszenzroman, deren Handlung kurz vor der „Wende“ angesiedelt ist. Die dreizehnjährige Protagonistin lebt mit ihrer Mutter, einer viel beschäf‐ tigten und erfolgreichen Theaterregisseurin, in Ost-Berlin. Die Eltern haben sich getrennt, als sie zwei Jahre alt war. Der Vater lebt seit sieben Jahren im Westen und hat Einreiseverbot. Sie ist ein Schlüsselkind und verbringt viel Zeit allein. Ihre Freizeit nach der Schule gestaltet sie mit Gleichaltrigen im Einkaufszentrum, wo sie „rumhängen“, westliche Musik hören und mit Jungen flirten. Ihre beste Freundin Anna und sie sind unzertrennlich. Mit dem Eintritt in die Pubertät wächst das Interesse am anderen Geschlecht, Nadja interessiert sich für „die Jungen“. Es kommt zum ersten Verliebtsein und damit in Verbindung zu Unsicherheiten und Schmerzen. Ihr Leben wird zu einer Art Gefühlsachterbahn. Ein Jahr später, 1988, entstehen neue Probleme für Nadjas Familie, denn die Mutter erhält eine Art Berufsverbot, sie äußert jedoch weiterhin ihre (system-)kritischen Positionen zur gesellschaftlichen Situation in der DDR . Zusammen mit ihrem neuen Partner ist sie in einem Friedenskreis aktiv und tritt in Kirchengemeinden mit selbstgeschriebenen Texten auf. Nadjas 66 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 13 Zur Rolle der Popkultur siehe auch Gansel & Ludwig 2021. Leben wird zunächst davon wenig tangiert, denn ihr Taschengeld finanziert sie durch den Verkauf der Jugendzeitschrift Bravo, die sie regelmäßig vom West-Besuch erhält. Die Mutter ist aber jetzt vermehrt zu Hause und Nadja hat immer größere Schwierigkeiten, ihr freizügiges Freizeitleben zu gestalten. Es folgt die kontinuierliche Überwachung durch die Staatssicherheit und es kommt zu Haussuchungen. Nadjas Mutter kommt kurzzeitig ins Gefängnis, und für Nadja bricht die Welt zusammen. Zwei Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag wird sie mit ihrer Familie ausgebürgert. Über Nacht verliert sie ihr Zuhause, ihre beste Freundin und ihren gesamten Lebensalltag. Die neue Welt im Westen ist interessant, aber immer wieder ist Nadja von ihren eigenen Gefühlen überfordert, sie weiß nicht, ob und wann sie ihre Freundinnen und Freunde in Ost-Berlin wiedersehen wird. Durch Telefonate und Briefverkehr versucht sie den Kontakt mit ihnen aufrechtzuerhalten. Ihre Versuche, ein Einreisevisum für einen Tagesbesuch zu erhalten, werden mit einer einzigen Ausnahme abgelehnt. Dann, knappe zwei Jahre später, kommt es überraschend zum Mauerfall. Damit endet der Roman. Für die Lesenden ist erkennbar, wie im Zuge einer gesellschaftlichen Mo‐ dernisierung Jugend auch im Osten zunehmend durch die westliche Medien- und Popkultur sozialisiert wird und sich von den Vorstellungen der Eltern distanziert. Nadja gehört zur sog. „Generation der Wende-Kinder“, die in der offener werdenden Spätphase des Real-Sozialismus aufwachsen und eine letztlich geordnete Kindheit erleben. Wie üblich für ihre Generation, suchen die Jugendlichen wie Nadja den Sinn ihres Lebens zunächst in Bereichen, die außerhalb der staatlichen Indoktrination und Kontrolle liegen. Kennzeichnend sind für diese Generation außerdem eine am Hedonismus orientierte Lebensein‐ stellung. Von daher spielt die westliche Medienkultur für sie eine noch größere Rolle, als dies bei den vorherigen Generationen und Jahrgängen der Fall war (vgl. Ahbe & Gries 2011: 66 f.). 13 Die für die Adoleszenz kennzeichnende Abgrenzung von den Eltern ist nicht primär politisch bedingt, sondern ergibt sich vor allem aus der Notwen‐ digkeit einer eigenen Selbstverortung in der Gesellschaft, die die heranwach‐ senden Protagonistinnen und Protagonisten in der Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsenenalter erzielen müssen, um eine eigene Identität auszubilden (vgl. Figurenkonstellation auf der Ebene der histoire im Schema 1). In Kliers Text zeigt sich, dass diese Abgrenzungsprozesse nicht nur in vermeintlich linientreuen Familien stattfinden, wie mit dem Stereotyp vom „Feindbild-Eltern“ suggeriert wird, sondern auch in oppositionellen Kreisen. Die 67 Aspekte des Wende-Motivs Heranwachsenden entwickeln unabhängig von den Interessen der Eltern ein Bewusstsein für ihre eigenen sozialen Bedürfnisse und gestalten ihre Freizeit nach eigenen Vorstellungen. Diesbezüglich nimmt die Protagonistin gegenüber ihrer Mutter eine konträre Position ein, der die Clique am „Center“ „ein Dorn im Auge“ (Klier 2019: 19) ist und die kein Verständnis dafür hat, dass ihre Tochter und andere Jugendliche „halb asozial auf der Straße rumhängen und ihre Zeit verplempern“ (ebd.). Die Vorstellungen von Nadja und ihrer Mutter unterscheiden sich diametral. Nadja ist darauf aus, den jugendkulturellen Raum mit all seinen Möglichkeiten auszukosten, um sich sozial zu verorten. Sie will sich mit anderen Jugendlichen treffen, um „Musik zu hören und zu tratschen und rumzuknutschen“ (ebd.). Die Mutter dagegen plädiert für eine aus ihrer Sicht sinnvollere Freizeitgestaltung mit Lesen und Aktivitäten in der Jungen Gemeinde oder in Öko- oder Friedenkreisen (vgl. ebd.: 110). Für Anna, Nadjas beste Freundin, ist es schwieriger, ihr Abgrenzungsbedürfnis durchzusetzen, da sie im Elternhaus mit starren Vorgaben für Kleidung und Freizeitgestaltung konfrontiert wird. Der Kampf um einen adoleszenten Individuationsraum wird daher von ihr intensiver geführt, allerdings bleibt der Spielraum für ein freies und selbstbestimmtes Verhalten deutlich eingeschränkt. Als Mitglied der Partei vertritt ihre Mutter ideologische Positionen, die für Anna nicht vertretbar sind, ein offenes Gespräch darüber kann jedoch im familiären Raum nicht stattfinden. Im Berliner Dialekt schätzt die Protagonistin die Situation gegenüber ihrer Freundin Nadja wie folgt ein: Meinst du, ick finde allet jut, watt hier passiert? Mit meiner Mutter kann ick eben nicht drüber reden, sie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Sozialismus und ick eben meine. Und die passen nicht so richtig zusammen (ebd.: 91). Die Clique am „Center“ stellt einen emanzipatorischen Initiationsraum für die Interaktion mit Gleichaltrigen dar. Durch das gemeinsame Hören westlicher Musik und das Betrachten versteckter Bravo-Zeitschriften aus dem Westen werden alternative Werte tradiert, wodurch die Protagonistin ihre Identitätsfin‐ dung vorantreibt (vgl. ebd.: 8 f.). Für Nadja stellt das Bekenntnis zur Clique in Absetzung von der Mutter einen wichtigen Schritt zur eigenen Emanzipation dar. Die Orientierung an westlicher Pop-Musik mit Stars wie Madonna und Dave Gahan bildet ein Verbindungselement in der heterogenen Gruppe, die sich vor allem durch Selbstdarstellungspraktiken wie Kleidung und Haarschnitt von anderen Jugendlichen und den Erwachsenen abzugrenzen versucht. In dem Wunsch nach sozialer Distinktion und der Orientierung an den westlichen Stars sind sie sich einig und kennen sich bestens in den aktuellen Hits aus: „Madonna hat gerade ihr drittes Album auf den Markt gebracht. ,Into the Groove‘ ist 68 Carsten Gansel & José Fernández Pérez der aktuelle Hit, und ich will nichts anderes, als genauso aussehen wie sie in diesem Video“ (ebd.: 10). Mit dem expliziten Verweis auf Madonna wird ein Idol präsentiert, das seit Mitte der 1980er Jahre für weibliche Adoleszente im Westen und Osten als Identifikationsfigur gilt. Anders als vermutet und in Texten behauptet, spielen innerhalb der Clique politische Fragen keine Rolle. Für Nadja und die anderen Heranwachsenden fungiert die Clique lediglich als Ort der Selbstinszenierung und Selbsterprobung. Der Sinn der Zusammenkünfte besteht nicht in der Debatte von politischen Auffassungen oder dem Protest gegen die staatlichen Instanzen, sondern ausschließlich darin, sich selbst in der Gruppe zu inszenieren. Neben der Freizeit nimmt die Schule im Erfahrungsraum der Protagonis‐ tinnen und Protagonisten eine wichtige Stellung ein. In einem schulischen Umfeld, in dem eine ,Zwiesprech-Haltung‘ von den meisten Schülerinnen und Schülern verinnerlicht worden ist, fällt Nadja durch ihr Selbstbewusstsein und ihre politisch kritische Haltung auf und stellt damit eine Herausforderung für die schulischen Instanzen dar. Beeinflusst von den Diskussionen der oppositi‐ onellen Kreise, die bei ihnen in der Wohnung stattfinden, führt sie „verbale Gefechte“ (ebd.: 61) mit der Klassenlehrerin, um die Missstände in der DDR anzuprangern und ihre Mitschülerinnen und Mitschülern für den Unterschied zwischen der offiziellen Darstellung und der wirklichen Realität zu sensibili‐ sieren. Das schulische System wird auf diese Weise irritiert und auf die Probe gestellt. Dies geschieht insbesondere in einer Episode, in der Nadja völlig naiv einen von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater verfassten offenen Brief an Kurt Hager in der Schule verteilt, in dem sie den gesellschaftlichen Zustand der DDR kritisieren und Reformen einfordern. Zwar wird der Brief beschlagnahmt und die Mutter zu einem Gespräch einbestellt, aber die Schule sieht von Strafmaßnahmen ab. Offensichtlich werden hier die Grenzen der schulischen Sozialisationseffekte. Die im Zuge der 1980er Jahre unter der Bevölkerung eingetretene Skepsis gegenüber offiziellen Darstellungen, die das alltägliche Leben der DDR -Bürger tangieren, kann durch die schulische Sozialisation nicht neutralisiert werden. Vielmehr wird die Schule zum Ort, wo Widersprüche der Gesellschaft sehr wohl reflektiert und ausgehandelt werden (vgl. ebd.: 185 f.). Der Verzicht auf Sanktionsmaßnahmen durch die Schuldirektorin ist bereits ein Indiz von gesellschaftlichen Veränderungen in den 1980er Jahren. Lehrende fungieren zwar durchaus als Negativ-Figuren, aber keineswegs werden sie durchweg zum Feindbild degradiert. Nadjas Sportlehrerin wird durch ihre Strenge und ihren militärischen Ton gekennzeichnet, der allerdings in gewisser Weise nachvollziehbar erscheint (vgl. ebd.: 60). Kliers Darstellung des Lehrper‐ sonals berücksichtigt jedoch auch einzelne Lehrerinnen und Lehrer, die sich 69 Aspekte des Wende-Motivs 14 Siehe dazu Fernández Pérez, José, der in seiner eingereichten Dissertationsschrift unter‐ schiedliche Nach-Wende-Narrationen mit Blick auf die entworfenen Adoleszenzmuster untersucht (vgl. Fernández Pérez 2020). von affirmativen Haltungen distanzieren und Schülerinnen und Schüler ernst nehmen (vgl. ebd.). Nach der Verhaftung von Nadjas Mutter legen die meisten Lehrenden der Protagonistin gegenüber sogar eine empathische Haltung an den Tag. Die Ich-Erzählerin notiert: „Selbst die meisten Lehrer haben mitfühlende Blicke oder sogar kleine aufmunternde Worte übrig. Ich werde mit Samthand‐ schuhen angefasst beziehungsweise sehr freundlich ignoriert“ (ebd.: 204). Im Zentrum des Romans steht Nadjas Selbstverortung in der Familie und im sozialen Umfeld und ihre Auseinandersetzung mit den biologischen Verände‐ rungen in der Adoleszenz. Gleichwohl werden wichtige politische Zusammen‐ hänge im Verlauf des Textes direkt durch Reflexionsmomente thematisiert oder indirekt materialisiert, indem über die Figuren soziologische oder ideologische Tendenzen der Zeit vor der Wende einsehbar werden. Ebenso verhandeln die Figuren in Dialogen realexistierende politische Konfliktlagen: „Sozialismus ist das hier alles nicht“ (ebd.: 31). Dadurch können die Lesenden einen Eindruck über die Widersprüche, Reformbewegungen und inneren Spannungen in der DDR -Gesellschaft vor der Wende gewinnen. Eine besondere Brisanz erhalten diese Fragen in dem Moment, als Nadjas Mutter verhaftet und die Familie zwangsweise aus der DDR ausgebürgert wird. 14 Jochen Schmidt präsentiert 2013 mit Schneckenmühle einen Adoleszenz‐ roman, dessen Hauptanliegen in der Inszenierung von Erinnerung an die Jugend in der DDR besteht. Die erzählte Zeit beschränkt sich auf einen kurzen Zeitraum im Ferienlager Schneckenmühle im Jahr 1989. Der Untertitel Langsame Runde verweist auf die Situation des Protagonisten im Moment eines gesellschaftli‐ chen Umbruchs. Während das alte System sich auflöst, sind die Facetten des neuen für den Protagonisten noch nicht erkennbar. Die Handlung ist auf einer gegenwärtigen Erzählebene verortet und wird, abgesehen von einzelnen kurzen Analepsen mit Kindheitserinnerungen, chronologisch entwickelt, wobei es sich um eine konsequent durchgehaltene Ich-Perspektive des vierzehnjährigen Jens handelt. Nachträgliche Wertungen oder eine Evaluation findet nicht statt. Der Wissenshorizont des damaligen Protagonisten bleibt erhalten. Erzählt wird also nach einem Prinzip, das in Anlehnung an Uwe Johnson folgendermaßen beschrieben werden kann: Das Kind, das ich war. Die Lesenden gewinnen Einblick in den Alltag eines pubertierenden Jungen, der zum letzten Mal ins Ferienlager Schneckenmühle darf. Entsprechend stellt sich der Protagonist Jens u. a. solche Fragen: „Ob ich diesmal eine Freundin haben werde? Aber wie soll es dazu kommen? “ (Schmidt 2013: 15). Die Suche nach einer Freundin erscheint für 70 Carsten Gansel & José Fernández Pérez ihn als eine unlösbare Aufgabe, denn er kann nicht tanzen, womit eine Chance wegfällt, sich erfolgreich den Mädchen zu nähern. [B]ei mir funktioniert es nicht, ich muss bei jeder Bewegung nachdenken, was ich als nächstes tun soll, und wenn jemand zusieht, werden meine Glieder steif. Ich habe deshalb immer Angst (ebd.: 16), gesteht er sich ein. Über die realisierte interne Fokalisierung können die Lesenden die Geschehnisse aus Jens’ Perspektive miterleben und sind einzig an seine Wahrnehmung gebunden: seine Träume, Unsicherheit, Ängste vor dem Erwachsenwerden und vor der Zukunft, Liebesgefühle wie auch sexuellen Hoffnungen und Wünsche. Auf diese Weise wird der Lebensalltag eines reflek‐ tierten, altklugen und gelegentlich naiven jungen Mannes erfasst. Die Erlebnisse des Protagonisten im Ferienlager dominieren die Erzählung, aus der die histo‐ rischen Ereignisse und gesellschaftlichen Probleme zwar nicht ausgeklammert, jedoch gänzlich in den Hintergrund geraten und durchweg immer aus der Perspektive des Protagonisten dargestellt werden. Einmal mehr findet sich keine nachträgliche Evaluation. Während einzelne Gruppenleiter im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs die Flucht über die ungarische Grenze ergreifen (vgl. ebd.: 97), geht der Alltag im Ferienlager unbeeindruckt von den historischen Ereignissen der Wende weiter. Unbeschwert kommentieren die Jugendlichen das Verschwinden eines Gruppenleiters und die politischen Veränderungen an der ungarisch-österreichischen Grenze: „Der ist bestimmt rüber“, sagt Holger. „Rüber? Wie denn? “ „Na, über Ungarn.“ […] „In Ungarn gibt es Danone-Joghurt“, sagt Dennis. „Und Schweppes.“ „Quatsch, Ungarn ist doch sozialistisch.“ „Trotzdem gibt´s da Danone. Da sind unten Früchte drinne, zum Umrühren“ (ebd.: 98). Politische Fragen spielen zwar in die Gespräche der Jugendlichen hinein, sie werden aber von banalen und kindlichen Themen überlagert, da die Heran‐ wachsenden keinerlei Vorstellung von der geschichtlichen Dimension jener Ereignisse haben, die gerade ablaufen. Der eingeschränkte Wissenshorizont der jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten wie auch ihr geringes Interesse am Politischen wird einmal mehr offenbar, als sie im Clubraum kurz eine ARD -Sendung trotz schlechten Empfangs sehen und die DDR -Flüchtlinge beobachten. In diesem Kontext notiert der Ich-Erzähler: Eine Gruppe von Urlaubern versucht, über den Zaun eines Campingplatzes zu klettern, sie haben es so eilig, als sei draußen ein Löwe ausgebrochen. […] Manche weinen, vielleicht, weil ihr Mann sie schlägt oder weil sie soviel Gepäck zu tragen 71 Aspekte des Wende-Motivs haben. Ich kann aber nicht genauer erkennen, was los ist, weil das Bild so verrauscht ist und sogar ganz ausfällt […]. (ebd.: 167) Ganz offensichtlich kann der Ich-Erzähler die dargestellte gesellschaftliche Situation nicht einordnen, aber sie interessiert ihn auch gar nicht. Letztlich wird das Ferienlager zu einem erweiterten Initiationsraum, in dem Jens und seine Freunde provisorisch eigene Identitätsentwürfe erproben können. Der Sinn der Zusammenkunft besteht ausschließlich darin, Anerken‐ nung zu suchen und sonstige Selbstbestätigungsprozesse zu gestalten. Dies‐ bezüglich finden innerhalb der Gruppe die üblichen Zusammengehörigkeits- und Abgrenzungsprozesse statt, die mit Selbstinszenierung einerseits und der Profilierung auf Kosten anderer andererseits einhergehen. Dabei spielen der Kleidungsstil, das sprachliche Register, das (auffällige) Verhalten sowie die politische und religiöse Überzeugung eine gewichtige Rolle. Jens’ Zerrissenheit ist nicht politisch oder ideologisch motiviert, sondern einzig durch die Phase der Adoleszenz bestimmt. Insofern handelt es sich um Phänomene, die einen über‐ zeitlichen Status insofern erlangen, als sie keineswegs an die DDR gebunden sind, sondern systemübergreifend funktionieren. Die Figur des Jugendlichen erlebt eine aufregende Zeit, er vergleicht sich permanent mit den anderen Jungen, ist mit seinem Körper nicht zufrieden, sucht mit seinen Freunden nach Grenzerfahrungen und ist neugierig auf die Welt der Mädchen. Seine Hoffnung besteht darin, dass die Zeit stehen bleibt. Das Frappierende an Schmidts Roman besteht gerade darin, dass es dem Autor gelingt, die Normalität eines Zeitab‐ schnitts im Leben eines jungen Menschen darzustellen, ohne sie angesichts der ablaufenden Wende-Ereignisse zu politisieren. Entscheidend hierfür ist u. a. die vom Autor vorgenommene Auswahl der Ereignisse und des Schauplatzes (vgl. Schema 1). Selbst die offensichtliche Durchdringung des DDR -Lebens mit ideologischen Versatzstücken wird als gegebener Zustand erfasst, mit dem die Jugendlichen gelassen umgehen: Sie machen Witze über Erich Honecker, lästern über die Engpässe der Wirtschaft im Osten und haben keinerlei Probleme, ihre Meinung über den Unterschied von östlicher und westlicher Popmusik wie das Fernsehen offen und ohne Ängstlichkeit zu präsentieren. Als es um Entscheidungen zur künftigen Berufswahl geht, werden Fragen des möglichen ideologischen Einflusses geradezu cool reflektiert: Meine Eltern sind aber sehr dafür, daß ich versuche [eine Schule mit mathematischem Schwerpunkt zu besuchen], sie sagen, einen Mathematiker könne man nicht zwingen, seine Forschungsergebnisse dem Marxismus-Leninismus anzupassen, die Zahlen seien ja, wie sie sind. Ich würde später von der Partei in Ruhe gelassen. Außerdem muß man während der Arbeit nur nachdenken. (ebd.: 34) 72 Carsten Gansel & José Fernández Pérez Die Distanz gegenüber dem DDR -System wird keineswegs versteckt, und Angst vor Repressionen hat der Protagonist in keiner Weise. Im Gegenteil, er reagiert innerlich empört, als er feststellt, dass seine Post im Ferienlager gelesen wird. Seine Reaktion zeugt von einer stark ausgebildeten Sensibilität für die gesellschaftlich gegebenen Verhältnisse: „Meine Post ist gelesen worden! Empörung wallt in mir auf, es fühlt sich gut an, sich im Recht zu wissen. Ich bin nicht so verblendet wie Rita, die an den Staat glaubt“ (ebd.: 89). Jens weiß mithin sehr genau, was er will. Er ist sich über die praktizierte politische Doppelkultur mit einer Diskrepanz zwischen der im Privaten unpo‐ litischen Haltung und einem klaren Bekenntnis zur Partei in der Öffentlichkeit im Klaren und spielt geradezu damit: „Ich habe ein Gefühl dafür, bei wem man wie weit gehen kann mit seinen Äußerungen. […] Man muß genau aufpassen, wieviel man bei jedem durchblicken läßt“ (ebd.: 121). Wie schon bei Thomas Brussigs Roman Wasserfarben, der schon 1991 erschien und noch in der DDR geschrieben wurde, ist Jens vorsichtig, wenn es um Politisches geht. Seine Wertorientierungen sind hedonistisch-materialistisch ausgerichtet und durchaus mit jenen vergleichbar, wie sie für Teile der westlichen Jugend kennzeichnend waren. Offensichtlich wird, wie weit die Distanz gegenüber dem Real-Sozialismus bereits ausgeprägt ist, als der vierzehnjährige Junge, der ansonsten noch recht naiv wirkt, in einer ‚communal voice‘ (vgl. Schema 2) beim Betrachten einer verwahrlosten Fabriklandschaft zu folgender Überlegung gelangt: Wir haben nicht das Gefühl, mit diesen Dingen etwas zu tun zu haben oder irgend‐ wann damit konfrontiert zu werden, hier für Besserung zu sorgen. Man weiß ja aus dem Westfernsehen, daß es anders geht, und man identifiziert sich mit dem erfolgreicheren Teil der Welt. (ebd.: 136) Was Jens hier auf den Punkt bringt, kann als „Generationseinheit“ im Sinne von Karl Mannheim für die „entgrenzte Generation“ und die „Generation der Wende-Kinder“ gelten. Lea Streisands Roman Hufeland, Ecke Bötzow (2019) erzählt - vergleichbar wie Schmidt - aus der Perspektive einer kindlichen Protagonistin von Kindheit und Jugend in Ost-Berlin der Wendezeit. Die erzählte Zeit beginnt im Jahre 1986 mit dem GAU in Tschernobyl und dehnt sich bis zur Zeit nach der „Wende“. Die Handlung des Romans ist im Prenzlauer Berg verortet und dreht sich um das Leben der Schulanfängerin Franzi, die mit ihrer Naivität und Unvoreinge‐ nommenheit beobachtet, was um sie herum geschieht. Im Text dominiert ein zeitraffendes Erzählen, das insbesondere die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen zum Ausdruck bringt. Bei ihrer chronologischen Darstellung 73 Aspekte des Wende-Motivs 15 Genaueres zur Erfassung der Ereignisse aus der Perspektive des kindlichen erlebenden Ichs siehe Gansel 2010b: 22. Zur Unterscheidung von „field memories“ (Felderinne‐ rungen) und „observer memories“ (Beobachtererinnerungen) vgl. Schacter 2001: 45. des gesellschaftlichen Umbruchs nutzt die Autorin für ihre Ich-Erzählerin einmal mehr „field memories“, also das, was man „Kinderblick“ 15 nennen kann (vgl. Schema 2). Es geht letztlich erneut darum, wie die Kinder in den Familien „in dem Bewusstsein zweier Sprachen[, e]iner öffentlichen und einer privaten“ (Streisand 2019: 34), erzogen werden und wie sie damit alltäglich in der Schule umgehen: „Das darfst du aber nicht in der Schule erzählen, Franzi! “, ermahnten mich meine Eltern oft […]. Aber dann war Montagmorgen, ich saß in der Schule, wir hatten Erzählstunde … und ich erzählte doch so wahnsinnig gern Geschichten. (ebd.) Als Angehörige einer sog. oppositionellen Familie erhalten ihre Erzählungen eine besondere Brisanz. Als kleines Kind erfasst die Protagonistin, was die lini‐ entreuen Lehrerinnen und Lehrer hören wollen, und liefert entsprechende Bei‐ träge in der Erzählstunde. Voller Stolz beobachtet Franzi, wie die Lehrerin Frau Reinicke aufmerksam zuhört und protokolliert, ohne allerdings zu erkennen, welche Ziele die systemtreue Lehrerin damit verfolgt (vgl. Figurenkonstellation in der Schule und Gesellschaft im Schema 1). Die Kinder wohnen alltäglichen Gesprächen der Eltern bei, in denen wichtige gesellschaftliche Probleme wie Ausreiseanträge, Berufsverbote für Ausreisewillige (vgl. Streisand 2019: 50) oder politische Tabus thematisiert werden. Die Aussagen der Erwachsenen bleiben jedoch unkommentiert, da die kindliche Protagonistin die Dimension des Erzählten nicht begreift, oder sie werden aus der Perspektive des kindlichen erlebenden Ichs in einer gewissen Naivität wiedergegeben. So spielen die Kinder „antifaschistischer Schutzball“ und berichten von in den Westen geflohenen Vätern als „Zirkuskünstlern“, ohne sich der Dramatik dieser Ereignisse bewusst zu sein. Die zunehmenden Fluchtfälle in der Vorwende-Zeit werden erkennbar, als Franzi nach den Sommerferien mit den leeren Schulbänken konfrontiert wird: Plötzlich bekam ich Magengrummeln: In den vergangenen Wochen lief bei uns zu Hause unentwegt der Fernseher und das Radio, immer wieder war von DDR-Flücht‐ lingen die Rede gewesen. (ebd.: 88) Auf der Ebene der histoire werden aus der Perspektive der autodiegetischen Erzählerin mehrere Ereignisse wie die Veränderungen in der Schule, die An‐ sätze der DDR -Reformbewegung, die systemkritische Haltung der Eltern, die Enttäuschungen der Anhängerinnen und Anhänger der Reformbewegung im 74 Carsten Gansel & José Fernández Pérez Zuge der Wiedervereinigung, die Währungsumstellung und der Untergang der DDR erfasst (vgl. Schema 1). Den politisch-gesellschaftlichen Umbruch fasst die Protagonistin wie folgt zusammen: Ich hatte bei den Demos in den höchsten Tönen Kleine weiße Friedenstaube ge‐ sungen. […] Im Zuge der vielen historischen Ereignisse im vergangenen Jahr war erst die DDR-Flagge verschwunden, dann die sowjetische, dann Ernst-Thälmann. Nur die Taube war übriggeblieben. (ebd.: 113) Mit dem Eintritt in die Pubertät gewinnt die Neuprogrammierung der ado‐ leszenten Protagonistin an Bedeutung. Das Interesse für Gleichaltrige, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, die Entdeckung der eigenen Sexualität, die Suche nach eigenen sozialen Räumen außerhalb der elterlichen Obhut und die Suche nach Identifikationsfiguren in der westlichen Musikwelt der 1960er Jahre geraten in den Vordergrund der Erzählung: Annabel und ich wurden auch Hippies. […] Wir bewegten uns in der Vergangenheit wie in einer Traumwelt, in der die Dinge geordneter und freundlicher zu sein schienen. Peace, Love and Rock ’n‘ Roll, das waren doch universale Werte. Der Widerstand, den wir leisteten, richtete sich gegen die Zukunft. Die Freiheit machte uns Angst. Es gab keine Sicherheit mehr. Alles konnte passieren. (ebd.: 161) Die Ambivalenz der adoleszenten Suche sowie der Orientierungsverlust im Zuge der Wende werden durch die Tatsache verstärkt, dass die Eltern mit dem gesell‐ schaftlichen Umbruch überfordert sind. Die Ankunft im Kapitalismus mit der Entsorgung des DDR -Wissens und der Infragestellung der DDR -Identität stellt Eltern und Adoleszente vor schwierige Herausforderungen. Die Problematik wird von der Ich-Erzählerin so auf den Punkt gebracht: „Deutschland versuchte zusammenzuwachsen, wir pubertierten. Beides verlangte Nerven wie Draht‐ seile“ (ebd.: 176). Eindrucksvoll gelingt es der Autorin, den „Wende-Kindern“ eine Stimme zu geben, mit ihrer Stimme den gesellschaftlichen Umbruch der Wende zu erzählen und ihre generationsspezifischen Erfahrungen zu markieren: „Unsere Eltern setzen keine Grenzen mehr, sie boten keinen Widerstand. Sie waren Verbündete, genauso machtlos wie wir“ (ebd.). Die für den modernen Adoleszenzroman kennzeichnende Dichotomie von Jugend und Erwachsenwelt erhält durch die Wende-Erfahrungen eine spezifische Ausprägung (vgl. Abb. 1). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Darstellung in den drei ausgewählten Texten auf Facetten der adoleszenten Neuprogrammierung fokus‐ siert: auf den Aufbau sozialer Beziehungen außerhalb der Familie, auf die Suche nach Anerkennung in der Peergroup und auf eine bewusste Selbstverortung in der Gesellschaft. Gleichwohl werden wichtige politische Zusammenhänge 75 Aspekte des Wende-Motivs 16 In ähnlicher Form verfährt auch André Kubizcek in seinen Darstellungen der Vor-Wende-Zeit in Skizze eines Sommers (2016) und Straße der Jugend (2020) vgl. Fernández Pérez 2021. indirekt aus der Perspektive der adoleszenten Protagonistinnen und Protago‐ nisten thematisiert. Durch die Archivierung des jugendkulturellen Lebens in der (Vor-)Wende-Zeit werden maßgebliche Momente des kulturellen Gedächtnisses der DDR gewissermaßen archiviert und ‚gesichert‘, die im Erinnerungsmuster des Diktaturgedächtnisses keine Berücksichtigung finden und mitunter in Gefahr stehen, aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen zu werden. Insofern bereichern die Texte das kollektive Gedächtnis und tragen dazu bei, ein ‚ostdeutsches‘ Gedächtnis jenseits von Schwarz-Weiß-Zeichnungen und Trivialisierungen zu etablieren. 16 V Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2019 hat Dorit Linke ein „Wendebuch“ vorgelegt. Ihr Jugendbuch Wir sehen uns im Westen reiht sich in die Tradition von Texten ein, in denen ein Liebespaar dramatisch durch die Mauer getrennt wird. Der Text erschien in der pädagogischen Reihe Carlsen Clips, die an eine jugendliche Zielgruppe adressiert ist. Wie schon ihr erster Roman Jenseits der blauen Linie (2014) wurde ihre Wende-Geschichte von der Literaturkritik durchaus positiv aufgenommen. Hilde Elisabeth Menzel hob in der Süddeutschen Zeitung den authentischen und autobiographischen Charakter des Textes hervor (vgl. Menzel 2019). Die Geschichte wird multiperspektivisch von zwei jugendlichen Figuren erzählt (vgl. Abb. 2). Beide Ich-Erzähler präsentieren abwechselnd ihre Liebesgeschichte. Nina und Lutz werden durch die Ausreise von Ninas Familie in die Bun‐ desrepublik zwanghaft getrennt, bleiben sich aber emotional verbunden und führen eine Brief-Beziehung weiter. Mit der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 wird das lang ersehnte Wiedersehen der Protagonisten möglich. Für die Darstellung der Liebesgeschichte bedient sich die Autorin einer Reihe von Stereotypen, die bereits in anderen kinder- und jugendliterarischen Texten zur „Wende“ vorzufinden sind (vgl. Gansel 2010a: 35 ff.). Insbesondere Lutz’ Eltern fungieren als Prototypen linientreuer Staatsbürger. Manifest wird ein Bruch des jugendlichen Protagonisten mit der Elterngeneration, die als blinde Anhänger des Systems erscheinen und zu keinem Nachdenken bereit sind. Es ist insbesondere die dominante Vater-Figur, die mit repressiven Mitteln versucht, die Identitätsfindung des Protagonisten einzuschränken und seine zunehmend systemkritische Haltung zu verhindern (vgl. Figurenkonstellation 76 Carsten Gansel & José Fernández Pérez im Schema 1). Erteilung des Westfernsehen-Verbots, Stubenarreste und Kon‐ taktverbot zu Nina sowie seine durch Gewaltbereitschaft geprägte Haltung gegenüber Andersdenkenden machen klar, dass es sich hier um den Typ des kalten Funktionärs handelt, und erzeugen ein klares Feindbild bei den Lesenden. „Hätte er etwas zu melden, würde er auf die Leute, die gerade Richtung Mauer laufen, schießen lassen“ (Linke 2019: 15), fasst der Sohn die Ansicht des Vaters zusammen. Für die zunehmende Flucht aus der DDR macht der Vater die inkompetente DDR -Funktionärselite verantwortlich und erwartet, dass sie mit Repression reagiert: „Wieso machen die denn nichts? […] Die müssen die Leute zurücktreiben! Das können sie doch nicht zulassen! “ (ebd.). Neben dem „Feindbild Eltern“ fungieren auch die Lehrerinnen und Lehrer als linientreue Figuren, die die Entwicklung der Jugendlichen einschränken. Sie lehnen das Punk-Outfit von Lutz ab (vgl. ebd.: 17) und bestrafen Nina mit schlechten Noten, weil ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt haben. Mit diesem geraten Nina und ihre Familie in eine Opfer-Rolle, sie werden ausgegrenzt und sozial stigmatisiert. Mit Blick auf die fehlende Solidarität wird eine Art Resümee über die Schikanen gezogen, wenn Nina erinnert: Zu oft hat uns niemand geholfen. Stattdessen gab es schlechtere Noten in der Schule und in der Kaufhalle ernteten wir abfällige Blicke. Ich wurde einfach so aus der Handballgruppe ausgeschlossen. (ebd.: 73) Willkürlichen Kontrollen ausgesetzt lebt Nina ständig in einer Atmosphäre der Angst. Durch die Dämonisierung der Polizei und der Grenzsoldaten muss für die jugendlichen Leseinnen und Leser der Eindruck entstehen, dass im DDR -Alltag ein allgegenwärtiger Repressionsapparat eine dauernde Atmosphäre der Bedro‐ hung erzeugt hat. „Ob in den dunklen, unheimlichen Ecken ein Soldat hockt und die Maschinenpistole griffbereit hat? “ (ebd.: 31), fragt sich Lutz in der U-Bahn. Auf dem Rückweg nach Ost-Berlin befürchtet er, dass der Staat alle zurückkehrenden Bürgerinnen und Bürger ins Gefängnis bringen wird. Der bedrohliche Eindruck wird ebenso von Nina vermittelt, die nach der Öffnung der Grenze mit einer gewaltsamen Repressionswelle rechnet. Entgegen der realen Verhältnisse im Kontext der Maueröffnung wird ein simpler Vergleich zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und 1989 in Peking hergestellt: „Morgen sind vielleicht schon Panzer aufm Alex“ (ebd.: 11), vermutet die Pro‐ tagonistin. Eng mit dieser Bedrohungsatmosphäre hängt die Sehnsucht der Jugendlichen nach Freiheit und den bislang nicht möglichen Reisen zusammen, um der gesellschaftlichen Einengung zu entkommen: Ich war in Gedanken am Kolosseum und auf der Spanischen Treppe und er dachte vermutlich an die Freiheitsstatue und das World Trade Center. Dieses Spiel spielten 77 Aspekte des Wende-Motivs wir später noch oft, entführten uns gegenseitig an Orte, die uns gefielen, träumten uns nach Australien oder Feuerland, nach Island oder in die Karibik. (ebd.: 77 f.) Die an der „Tatsächlichkeit gelebten Lebens“ in der Wende-Zeit vorbeigehende Darstellung wird möglich, weil diese Phase des gesellschaftlichen Umbruchs auf ca. zwölf Zeilen radikal verkürzt wird. Die zahlreichen Demonstrationen, bei denen allein die hergestellten Plakate und Spruchbänder das Selbstbewusstsein wie auch die Kreativität der DDR -Bevölkerung zeigten, schrumpfen gewisser‐ maßen auf einen Slogan zusammen, den die Autorin auf der Ebene der histoire für die Konstruktion der Handlung und die damit im Zusammenhang stehende „Message“ benötigt: „Das Volk braucht die SED wie der Fisch das Fahrrad“ (ebd.: 38). Mehr an Erinnerung wird dem Protagonisten nicht zugestanden. Nun wird man freilich einwenden können, dass durch die Konzentration auf zwei jugendliche Ich-Erzähler mit Notwendigkeit eine begrenzt-subjektive Perspek‐ tive auch auf die dargestellten historischen Ereignisse erfolgt. Wenn dem so sein sollte, dann wird man allerdings auch eingestehen müssen, dass eine an junge Leserinnen und Leser adressierte „Zielgruppenliteratur“ schwerlich in der Lage ist, eine auch nur ansatzweise differenzierte Darstellung des gesellschaftlichen Umbruchs zu erfassen. Im vorliegenden Fall wird man zudem zu dem Ergebnis kommen, dass die eingebaute Analepse, also der Wechsel von der Gegenwartsauf die Vergangenheitsebene so rudimentär ist, dass nur ein „Phantombild“ von dem übrig bleibt, was einmal „Die Wende“ war (vgl. Schema 2). - Damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Hinweis auf sozialwissenschaftliche und historische Kriterien bedeutet nicht, dass diese zum Wertungsmaßstab für die literarischen Texte zu erklären wären. Wenn aber Autorinnen und Autoren den Anspruch erheben, mit ihren Texten die deutsche Geschichte für die jüngere Generation lebendig zu machen und das historische Wissen über die DDR -Ge‐ schichte zu fördern, stellen sich doch Bedenken ein. Mit ihrer verkürzten Darstellung und ihrem Rückgriff auf Figurentypen sowie auf Stereotype wie z. B. den Täter-Opfer-Topos oder das „Feindbild Eltern“ und „Lehrende“ besteht die Gefahr, dass in einem für die Lesesozialisation wichtigen Bereich schlichtweg Vereinfachungen bzw. Klischees ins kommunikative und kulturelle Gedächtnis transportiert werden, die schließlich die klaren Schwarz-Weiß-Linien des von Sabrow ausgemachten „Diktaturgedächtnisses“ bestätigen. VI Es sei mit Blick auf die Darstellung von „Wende-Motive“ ein weiterer Aspekt angerissen: Wenn von der „Wende“ erzählt wird, dann handelt es sich aktuell, also 2021, zumeist um Texte, in denen die Ereignisse, Figuren, Räume (vgl. 78 Carsten Gansel & José Fernández Pérez 17 Ewers bezieht sich auf folgenden Beitrag: Dahrendorf, Malte (1997). Das zeitgeschicht‐ liche Jugendbuch zum Thema Faschismus / Nationalsozialismus. Überlegungen zum gesellschaftlichen Stellenwert, zur Eigenart und zur Didaktik. In: Rank, Bernhard / Rose‐ brock, Cornelia (Hrsg.) Kinderliteratur, literarische Sozialisation und Schule. Weinheim, 201-226, hier: 205. Schema 1) unmittelbar an eine historisch konkrete Zeitebene gebunden sind und das Erzählen - auch wenn es einen Wechsel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsebene geben kann, mithin Erinnerungen eine Rolle spielen - dominant auf die Jahre um 1989 / 90 ausgerichtet ist. Wenngleich zur Gegen‐ wartsliteratur zugehörig, kann man in diesen Fällen durchaus mit einigem Recht von „historischen Romanen“ sprechen und in dem Fall, da es sich um Texte für junge Leserinnen und Leser handelt, von der sog. zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur. Unter Bezug auf Malte Dahrendorf fasst Hans-Heino Ewers darunter Geschichten, die entweder vor [einem] konkrete[n] zeitgeschichtlichen Hintergrund spielen […] oder die Zeitgeschichte ausdrücklich thematisieren […]. Mit ‚Zeitgeschichte‘ ist die jüngste Vergangenheit gemeint, eine Vergangenheit, in deren unmittelbarer Auswirkung wir heute noch leben, zum Beispiel: Drittes Reich und seine Vorgeschichte, Zweiter Weltkrieg, Ost-Westspannung, Konflikte der Dekolonisierung und der Dritten Welt, Rassismus […]. (Ewers 2005: 127) 17 Es gehört - darüber herrscht Einigkeit - zu den Konventionen der Subgattung des historischen Jugendromans, denn darum handelt es sich nolens volens bei der sog. ‚zeitgeschichtlichen KJL ‘, ein möglichst realistisches und ‚stimmiges‘ Bild jener geschichtlichen Periode zu geben, in der die Handlung angesetzt ist und die Figuren agieren. Wenngleich also historische Romane keine 1: 1-Ent‐ sprechungen der jeweiligen Zeit liefern können und sollen, so gilt doch, dass „man bei einem historischen Buch die Richtigkeit der Fakten voraussetzen sollte“ (Pleticha 2000: 446). Diese Grundüberlegung wäre nun im Weiteren zu präzisieren durch Vorschläge, wie sie zur Ausdifferenzierung des historischen Romans und seiner Unterteilung in ‚dominant heteroreferentielle‘ und ‚domi‐ nant autoreferentielle‘ Texte gemacht wurden (vgl. Nünning 2007). Darauf sei an dieser Stelle verzichtet (vgl. Ächtler 2012, 2013, Gansel 2013). Die Frage nach der Darstellung zeitgeschichtlicher Problemkomplexe in der KJL gehört zuerst in das Gebiet der Stoff- und Motivforschung. Bei den Stichworten Drittes Reich, Holocaust, Flucht und Vertreibung, Nachkriegszeit handelt es sich um Stoffe, die die Realgeschichte der Literatur vorgibt, um Motive, die bestimmte Formungen und Funktionen haben, um Themen, die innerhalb und außerhalb der Literatur in ideologischen Auseinandersetzungen 79 Aspekte des Wende-Motivs 18 Zu denken ist an Beiträge von Ewers, Dahrendorf, Weber, Hopster, Lange, Steinlein, Payrhuber oder Gansel. und öffentlichen Diskursen einen Platz einnehmen. Wenn von „jüngster Ver‐ gangenheit“ die Rede ist, wird man inzwischen auch Geschichten dazu zählen können, die über die DDR und die „Wende“ erzählen. Petra Josting bringt das zutreffend auf den Punkt: Zeitgeschichtliche KJL im Allgemeinen wie auch Wendeliteratur im Besonderen sind Teil einer Erinnerungskultur, die ebenso wie Primärerfahrungen und Geschichtswis‐ senschaft Zugänge zur Zeitgeschichte ermöglichen. ( Josting 2008: 40) Da aber zeitgeschichtliche literarische Texte für Kinder und Jugendliche, so wird man sagen können, in jeder Kultur in besonderem Maße an der Produk‐ tion historischer Vorstellungsbilder beteiligt und abhängig vom kulturellen Gedächtnis sind, wie sie auch dasselbe mitprägen, ist die Frage maßgeblich, wie die Texte aufgebaut sind und was sie erzählen (vgl. Schema 1). In den letzten Jahrzehnten ist diese Frage insbesondere im Hinblick auf die Darstellung von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust diskutiert worden. Die hier in die Diskussion gebrachten Fragen an Texte lassen sich natürlich auf die Darstellung von historischen Epochen insgesamt übertragen. Insofern betreffen sie auch jene Texte, die nunmehr von „Wende“ und „Nachwende“ in der Kinder- und Jugendliteratur erzählen. Betrachtet man die Vorschläge, die nicht nur innerhalb der KJL -Forschung in den letzten Jahrzehnten unterbreitet wurden, 18 dann lässt sich mit Blick auf die „Wende“-Motive folgende Checkliste entwerfen. Dabei sei versucht, ausgewählte Analysedimensionen des Modells von Jakobi und Kurwinkel zu berücksichtigen und entsprechende Frage-Cluster zu entwerfen (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21). Narrative Ebenen Zum Verhältnis von Inhalt und Form bzw. histoire und discours (Erzählstruktur) • Wie verhalten sich Inhalt und Form bzw. das „Was“ und „Wie“ zueinander? Über welche Darstellungsmittel werden Motive und Bilder von der „Wende“ geliefert? Sind sie in der Lage, das „Was“ des Erzählens adäquat zu präsentieren? • Wer ist der Erzähler bzw. welche Erzählform wird gewählt? Findet sich ein auktorialer kommentierender Erzähler oder dominiert eine Darstellung, die auf die subjektive Sicht einer oder mehrerer Figuren konzentriert ist? Spricht die Erzählinstanz in Form einer personal voice, die eine 80 Carsten Gansel & José Fernández Pérez individuelle Darstellung präsentiert, oder in Form einer communal voice als Vertreter einer Gruppengemeinschaft bzw. Generation? • Wird ein mehrdimensionaler, multiperspektivischer Blick auf die darge‐ stellte Zeit geworfen, der die Vielfalt der Verhältnisse erkennen lässt? • Wie verhalten sich Erzählzeit und erzählte Zeit? Wird aus der damaligen Sicht erzählt oder kommt es zu einem Wechsel der Erzählebenen (Gegen‐ wart - Vergangenheit / Rückblenden bzw. Analepsen)? • Sind die Figuren als eigenständige Individuen angelegt oder fungieren sie eher als Typen (Widerstandstopos, Opfertopos, Tätertopos)? Ist die Darstellung der Figuren psychologisch glaubwürdig? • Welche Formen des Erzählens werden in dem Fall eingesetzt, da es sich um ausgewiesene autobiographische Darstellungen handelt („field me‐ mories“ / „Kinderblick“ oder / und „observer memories“ / „Erwachsenen‐ blick“)? • Wie werden Einsichten in die Strukturen des Systems vermittelt, wenn eine kindliche Figur als Erzähler fungiert? Finden sich gegebenenfalls explizite oder implizite Wertungen von Figuren, die die Handlungen, Ereignisse, Verhaltensweisen betreffen oder aber wird darauf verzichtet? • Wie ist das Verhältnis zwischen Spannung und Erkenntnisvermittlung? Dienen die „Wende“-Motive einzig der literarischen Einkleidung für eine aktionsreiche Handlung und zur Spannungserzeugung? Oder zielt der Text vordergründig darauf ab, eine „Lehre“ im Sinne der aktuell vertre‐ tenen politischen Auffassungen zu vermitteln? Dominiert gegebenenfalls eine pädagogisch-politische Absicht? Paratextuelle Dimension • Wie sieht die paratextuelle Gestaltung aus? Welche Funktion erfüllen die peritextuellen Elemente? Werden durch sie Verweise auf komplexe historische Zusammenhänge möglich oder dienen sie lediglich der Ver‐ stärkung einer politisch-pädagogischen Absicht? • Existieren epitextuelle Elemente, z. B. Interviews oder Gespräche, die auf ganz bestimmte Motive verweisen oder die intendierte Botschaft des Textes markieren? • Gibt es Epitexte, die in ausgewählten Medien (Werbung, Buchtrailer, Presse, Rezension, TV - oder Rundfunkbeitrag, soziale Netzwerke) u. a. auf jeweils spezifische Motive, Motivketten, Episoden aufmerksam ma‐ chen, diese aus dem Textganzen herausdestillieren und damit eine mögliche Rezeption lenken? Geht es dabei um eine Bestätigung ganz bestimmter staatlich bzw. institutionell legitimierter Bewertungen, wie 81 Aspekte des Wende-Motivs sie sich im kollektiven Gedächtnis etabliert haben oder um alternative Vergangenheits(re)konstruktionen, gegebenenfalls sogar um Momente eines Gegen-Gedächtnisses? Diskursive Dimension • Wie erfolgt die Darstellung der Wende? Geben die Schicksale, Hand‐ lungen, Motive exemplarisch Auskunft über die Zeit um 1989 sowie die Vor- und Nachgeschichte? • Nach welchen Prinzipien erfolgt die Auswahl des historischen Materials und welche Figuren, Handlungen, Ereignisse, Verhaltensweisen werden ausgehend davon zum Gegenstand der Darstellung gemacht oder aber ausgelassen und nicht berücksichtigt? • Reflektieren die literarisch aufbereiteten Befunde und die mitgelieferten Erklärungsmuster die Komplexität der Verhältnisse (Anfang nach 1945, Ideale, zunehmender Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, be‐ ginnendes Gegen-Denken und Opposition, Opportunismus) angemessen oder tragen sie durch unzulässige Vereinfachung anstatt zur Aufklärung zur Klischeebildung bei? • Wird eine Reflexion der gesellschaftlichen Strukturen erkennbar? Welche Hinweise gibt der Text zu Zusammenhängen, Ursachen, Folgen des Endes der DDR und wie erfolgt die historische Einordnung? • Welches Geschichtsbild bzw. welche Auffassung vom ‚Wesen‘ des Real-Sozialismus und seiner Vorstellungen werden offenbar? • Wird deutlich, wie der DDR -Alltag funktioniert hat (Familie, Schule, Arbeit, Medien, Militär, vgl. Schema 1), wie also die Arbeits- und Lebens‐ verhältnisse während dieser Zeit aussahen und wie sich Einzelne dazu verhielten? • Welche Aussagen werden gemacht über die Art und Weise, wie mit jenen umgegangen wurde, die „anders“ dachten? • Welche Konsequenzen ergeben sich aus der literarischen Darstellung für die gegenwärtigen politischen, sozialen, ethischen Vorstellungen und wofür wird im Text sensibilisiert? Existieren intertextuelle Bezüge zu anderen literarischen Texten, in denen entsprechende Motive bzw. Motivketten den Kern der Darstellung ausmachen? • Welche diskursiven Momente werden durch die Auswahl des Materials besonders hervorgehoben, welche unterdrückt oder ignoriert? • Geht es um die Bestätigung ganz bestimmter staatlich bzw. institutio‐ nell legitimierter Bewertungen, wie sie sich im kollektiven Gedächtnis etabliert haben oder um alternative Vergangenheits(re)konstruktionen, 82 Carsten Gansel & José Fernández Pérez gegebenenfalls sogar um Momente eines Gegen-Gedächtnisses (siehe paratextuelle Gestaltung). Vereinfacht gesagt: erfolgt mit Blick auf die DDR -Geschichte eher eine Bestätigung des „Diktaturgedächtnis“, des „Arrangementgedächtnisses“ oder des „Fortschrittsgedächtnisses“ (vgl. Sabrow 2010, Meyen 2020)? • Eröffnen die intertextuellen und intermedialen Bezüge alternative Sichten auf den dargestellten Motivkomplex zur DDR ? Mediale Dimension • Wurde der literarische Text medial adaptiert (Film, Hörspiel, Hörbuch)? Welcher Typ der Adaption liegt vor? • Wie wird der Text durch die mediale Adaption verändert? Welche Mo‐ tive, Motivketten, Episoden werden für die Adaption ausgewählt (siehe paratextuelle Gestaltung)? Handelt es sich um eine a) aktualisierende Adaption, b) aktuell-politisierende Adaption, c) eine ideologisierende Adaption, d) eine historisierende Adaption, e) eine ästhetisierende Adap‐ tion, eine psychologische Adaption, f) eine popularisierende Adaption oder eine parodierende Adaption (vgl. Gast 1993: 45 ff.)? Die markierten Parameter sollen nicht zuletzt mit Blick auf das „Was“ und „Wie“ der Darstellung von zeitgeschichtlichen Kontexten sensibilisieren. Sie stellen eines mit Sicherheit nicht dar, „Vorgaben“ für die Textproduktion. Denn es gilt auch in der Gegenwart eine Maxime von Christa Wolf: „Der Autor nämlich“, so eine wichtige Einlassung in „Lesen und Schreiben“, ist „ein wichtiger Mensch“ (Wolf 1986: 40). Diese in der DDR formulierte Maxime, die gegen simple Wider‐ spiegelungsauffassungen gerichtet war, hat nach deren Ende nichts von ihrer Bedeutung verloren. Literaturverzeichnis Primärliteratur Klier, Nadja (2019). 1988. Wilde Jugend. Berlin: Okapi Verlag. Linke, Dorit (2019). Wir sehen uns im Westen. Hamburg: Carlsen Verlag. Schmidt, Jochen (2013). Schneckenmühle. München: C. H. Beck Verlag. Streisand, Lea (2019). Hufeland, Ecke Bötzow. Berlin: Ullstein Verlag. 83 Aspekte des Wende-Motivs Sekundärliteratur Ächtler, Norman (2012). Zwischen Konvention und Modernität: Gattungstheoretische Überlegungen zu aktuellen Historischen Jugendromanen. In: Der Deutschunter‐ richt 64: 4, 12-23. Ächtler, Norman (2013). „Nachbohren, recherchieren - und erfinden.“ Die verlorenen Schuhe und Ringel, Rangel, Rosen in gattungstheoretischer und narratologischer Perspektive mit einem literaturdidaktischen Ausblick. In: Ders. / Rox-Helmer, Monika (Hrsg.) Zwischen Schweigen und Schreiben - Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer. Frankfurt / M., 41-59. Ahbe, Thomas / Gries, Rainer (2011). Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 3. Aufl. Erfurt. Assmann, Aleida (2002). Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägungen Wissen Ethik 13: 2, H. 2, 183-190. Braun, Michael (2010). Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart. Dettmar, Ute / Oetken, Mareile (2010). Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg. Drux, Rudolf (2007). Motiv. In: Weimar, Klaus / Fricke, Harald / Müller, Jan-Dirk / Grub‐ müller, Klaus (Hrsg.) Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbei‐ tung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. II: H-O. Berlin, 638-641. Eibl, Karl (1995). Die Entstehung der Poesie. Frankfurt / M. Eke, Norbert Otto / Elit, Stefan (2012). Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.) Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft 2012. Berlin, 1-14. Ette, Ottmar (2004). ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin. Fernández Pérez, José (2020). Zur Darstellung von Adoleszenz in der DDR in der Gegen‐ wartsliteratur. Unveröffentlichte Dissertation. Justus-Liebig-Universität Gießen. Fernández Pérez, José (2021). Adoleszenz in der DDR erinnern - André Kubiczeks Romane Skizze eines Sommers (2016) und Straße der Jugend (2020). In: Gansel, Carsten / Heidrich, Anna / Kulkova, Mariya (Hrsg.) Sondernummer zum Thema: Zum „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - Ausgewählte Textanalysen. GFL 1: 2021, 24-42. Frenzel, Elisabeth (1999). Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 5., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart. Führer, Carolin (Hrsg.) (2016). Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. 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Zuerst werden diese ausgehend vom Spielbegriff erkundet, anschließend ausgehend von einer Typologie von Spielmotiven. Deutlich wird dabei, dass ‚Spiel‘ und ‚spielen‘ in zahlreichen textanalytisch relevanten Formen auftritt und als „Leitmotiv“ auch die Gestaltung von Erzähltexten als Ganzes beeinflussen kann. Hinführung Erzählen eröffnet einen Spiel-Raum der Imagination, spielt es doch buchstäblich mit unzähligen Möglichkeiten, Welten zu imaginieren. Erzählen schafft und erkundet einen „Raum des Möglichen“ und wird zu einem „Ort für die immer neu die Erfahrung übersteigenden Selbstentwürfe des Menschen“ (Matuschek 1998: 16). Einzelne Ausdrucksmedien des Erzählens wie Literatur, Bilderbuch, Film, Theater oder Hörspiel konkretisieren mit ihren jeweiligen Ausdrucksmöglich‐ keiten diese erzählerischen Spielräume der Imagination. Beispielsweise ver‐ schmelzen in Benoît Sicats kindertheatraler Inszenierung Le jardin du possible (2012) Zuschauer- und Aufführungsraum zu einer sich gegenseitig bedingenden Einheit. In einer von einem Gärtner gepflegten künstlichen Gartenlandschaft in einem Theatersaal kann das (kindliche) Publikum dem Treiben zusehen, aber auch selbst auf spielerische Weise an der Gartengestaltung mitarbeiten und damit die Aufführung als Mitwirkende überhaupt erst hervorbringen (vgl. 1 Zum „Als-ob“ als Spielraum der Literatur siehe Dettke & Heyne 2016. 2 Momo erzählt von dem gleichnamigen „fremden Kind“, das eines Tages im zerfallenen Amphitheater eines italienischen Dorfes auftaucht, von den Dorfbewohnern adoptiert wird und diesen später - im Verbund mit einer Schildkröte und Meister Hora, dem Verwalter der Zeit - hilft, gegen das Zeitspardiktat der grauen Herren zu bestehen. Diese überreden Menschen zum „Zeitsparen“, stehlen ihnen damit aber lediglich Lebenszeit, symbolisiert durch verwelkende Stundenblumen, von deren Konsum - zu Zigarren verarbeitet - die Existenz dieser Personifizierungen des Kapitalismus abhängt. Heinemann 2016: 9 ff.). Der spielerische Als-ob-Modus, der Bestandteil jeglicher Erfahrung und Darbietung des Theaters ist, erweitert sich bei Sicat zum Spiel als Motiv: Der imaginative Spielraum des Theaters wird als „Spiel-Raum“ (Hentschel 2016: 26) zu einem lokalen Motiv im Modell der transmedialen Motivanalyse von Kurwinkel & Jakobi (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21). 1 Diese Transformation des Theaterraums geht allerdings einher mit der Auflösung dramaturgischer Strukturen, wird doch keine Geschichte erzählt, sondern ein non-narrativer Erfahrungsraum konstruiert, der erst im Nacher‐ zählen narrativiert werden kann. Vorwiegend erzählerisch eingebettet ist das Spiel-Motiv hingegen in Momo (1973). Die bei Sicat im Medium des Theatralen angelegte Verbindung zwischen Theater, Kind und Spiel wird in Michael Endes Märchen-Roman in literarischer Form und als situationales Motiv verarbeitet. 2 Die Titelheldin zeichnet sich nicht nur durch ihre Fähigkeiten als Zuhörerin aus, wenn sie in den Ruinen eines antiken Amphitheaters lächelnd den Erzählungen und Lebenssorgen ihrer Freundinnen und Freunde lauscht, sondern auch durch ihr Talent zum freien Spiel (der Imagination), in das sie andere einzubeziehen vermag. Beispielsweise trotzen Momo und die Dorfkinder als Besatzung des „Forschungsschiff ‚Argo‘“ (Ende 1973: 24) den Stürmen des „Wandernden Taifun“ (ebd: 25). Und obwohl sie doch nur bei einsetzendem Regen unter freiem Himmel im Theater spielen, wundert sich ein Mädchen etwa, dass sie „ganz vergessen hatte, sich vor Blitz und Donner zu fürchten, solange es auf dem stählernen Schiff gewesen war“ (ebd.: 33). Aber so ist das eben in diesem Märchen-Roman, denn „[s]o wie bei Momo konnte man sonst nirgends spielen“ (ebd.: 34). Auch in Momo ist das Theater lokales Motiv, diesmal innerhalb der fiktionalen Welt der Erzählung. Als solches wird es zum Schauplatz des freien imaginativen Spiel(en)s, zum Schauplatz von paidia in der spieltheoretischen Terminologie von Roger Caillois (vgl. Caillois 1958b: 84). Es wird in Momo kontrastiert durch das von Nutzungsvorgaben eingegrenzte Regelspiel - ludus bei Caillois - mit der Spielzeugpuppe Bibigirl, die Barbie-Figuren nachempfunden ist. Dieses hinterlistige Geschenk der grauen Herren, denen Momo beim Versuch, den Dorfbewohnern buchstäblich (Lebens-)Zeit zu stehlen, im Wege steht, kann 90 Philipp Schmerheim 3 Zum Begriffsfeld Medien- und Produktverbund vgl. Kurwinkel 2020. zwar sprechen, spielen lässt sich mit ihr aber nur innerhalb enger Spielroutinen: Man muss Bibigirl mehr Kleidung, mehr Spielgefährtinnen und -gefährten, mehr von allem geben. Der Märchen-Roman Momo kontrastiert dementsprechend zwei Modi des situationalen Motivs ‚Spiel‘: paidia und ludus. Als objektionales Motiv, als handlungsfunktionaler Gegenstand, taucht ‚Spiel‘ hingegen im Medien- und Produktverbund Jumanji auf. 3 In dem ur‐ sprünglich 1981 veröffentlichten Bilderbuch von Chris Van Allsburg spielen Kinder ein gleichnamiges Brettspiel, dessen Spielfiguren - Dschungeltiere wie Nashörner und Affen - aus dem Spiel ‚ausbrechen‘ und im Wohnzimmer für Chaos sorgen. Dieser Fluch des Spiels kann nur gebrochen werden, indem die Kinder es erfolgreich zu Ende spielen. Die Dramaturgie der Geschichte ist somit von Spiellogik geprägt, ebenso wie ihre Diegese, denn Jumanji nutzt mit der Ebenenüberschreitung von der Welt des Spiels (Spielwelt) in die Welt der Spielenden (Spielendenwelt) eine Spielart narrativer Metalepse. Jumanji verselbständigte sich schnell zu einem Stoff im Medien- und Pro‐ duktverbund. Die erste Filmadaption ( Johnston 1995) sowie die Animationsserie ( UPN / Syndication 1996-1999) erweitern die narrative Prämisse des Bilder‐ buchs: Als Hauptfigur fungiert Alan Parrish, der 26 Jahre lang in der Welt des Brettspiels gefangen war, bevor spielende Kinder ihn zufällig befreien und dabei helfen, den Fluch des Spiels zu brechen. Hier sind es die Spielenden selbst, und nicht nur die Spielfiguren, die zwischen Spielwelt und Spielendenwelt reisen. In Jumanji - Welcome to the Jungle (Kasdan 2017) und Jumanji - The Next Level (Kasdan 2019), die als Sequel des ersten Films von 1995 positioniert sind, ist aus dem (analogen) Brettspiel ein (digitales) Videospiel geworden. Auch in Welcome to the Jungle ist ein menschlicher Spieler namens Alex Vreeke in der Welt von Jumanji gefangen. Vreeke wird von weiteren Figuren im Spiel entdeckt, als diese ebenfalls unfreiwillig in die Spielwelt gezogen werden. Durch diese bewegen sie sich in den Körpern von Avataren, womit die ontologischen Spiele des Bilderbuchs um figurale Identitätsspiele erweitert werden: So wird ein nerdiger Teenager zum muskulösen Archäologen, eine Highschool-Cheerleaderin landet im Körper eines übergewichtigen und hochintelligenten Paläontologen. Spiel ist hier nicht nur objektionales und lokales Motiv, sondern auch ein figurales sowie situationales. Die bisher diskutierten Erzähltexte veranschaulichen das Potenzial eines er‐ zähltheoretischen Blicks auf das Spielmotiv, der in den folgenden Abschnitten systematisiert wird. Spiel zeigt sich hier nicht nur als Modus der Rezeption narrativer Texte oder als Konstruktionsprinzip des Erzählens. Spiel kann auch 91 Spielerzählungen 4 Für eine umfassendere Untersuchung des Spielbegriffs siehe Sutton-Smith 2001. als Motiv des Erzählens vom (kindlichen) Spiel konkrete (narrative) Funktionen in Erzähltexten übernehmen. Begriffs-Spiele: Spiel als Modus, Spiel als Motiv Spiel als Gegenstand, Spiel als Tätigkeit Der Begriff des Spiels bezeichnet entweder einen materiellen / immateriellen Gegenstand oder aber eine bestimmte Form von Verhaltensweisen. Spiel als Gegenstand kann ein materiell präsentes Brettspiel sein, ein Set an Verhaltens‐ regeln oder zumindest eine analoge oder digitale Spielumgebung, die als Gelin‐ gensbedingung spezifische Verhaltensweisen herausfordert. Dementsprechend ist ein Schachbrett ebenso Spielgegenstand wie die (impliziten bzw. expliziten) Spielregeln des Kinderspiels „Fangen spielen“ oder die der Spielumgebung von Mario Kart 8 Deluxe (2017) auf der Nintendo Switch. Derlei Spielvarianten verwirklichen sich erst im handelnden Vollzug, im Spiel als Tätigkeit: Dieses lässt sich mit dem Begriff des Spielens fassen, und zwar in einem pragmatischen Sinne als Form des Zeitvertreibs, im anthropologisch auf‐ geladenen Sinne als „Lebensform“ (Huizinga 1987: 12), als etwas, „was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbe‐ tätigung einen Sinn hineinlegt.“ (ebd.: 9) Die von der Spielforschung erarbeiteten Merkmalskataloge des Spielens lassen sich auch für das Nachdenken über Spielerzählungen nutzen. Caillois skizziert bspw. sechs Spielmerkmale; es sei „libre […] séparée […] incertaine […] improductive […] réglée [und] fictive“ (Caillois 1958a: 23). 4 Spielweisen: Ludus und paidia Caillois hat den durch Johan Huizingas Spiel-Theorie gesteckten Rahmen fort‐ gedacht. So unterscheidet er als „deux pôles antagonistes“ (Caillois 1958b: 84) die Spielweisen paidia und ludus. Während paidia regelloses, freies, improvisiertes Spiel bezeichnet, entspricht ludus dem regelbasierten, somit strukturierten Spiel (vgl. ebd.; s. auch Abb. 1). Paidia und ludus - die sich im Englischen in etwa mit play und game übersetzen lassen - sind als Pole eines Spektrums konzipiert und erlauben somit Zwischenbzw. Mischformen (s. ebd.). 92 Philipp Schmerheim Abb. 1: Spielbegriffe (eigene Zusammenstellung anhand von Huizinga 1987 und Caillois 1958b) Diese Spielweisen differenzieren sich bei Caillois aus in die vier Spielformen agộn, alea, mimicry und ilinx (s. Caillois 1958b: 85 ff.). Agôn („competition“) referiert auf das Spiel als Wettstreit bzw. regulierter Wettbewerb, mit Sportwettbewerben als typische Beispiele. Agonale Spiele schaffen grundsätzlich gleiche Ausgangsbedingungen, weil der Wettbewerbs‐ erfolg idealerweise von den Kompetenzen der Spielenden abhängt. Joachim Masanneks Buch- und Filmreihe von den Wilden Fußballkerlen (2002-2005; 2003-2016) lässt sich als agonale Spielerzählung charakterisieren, geht es doch um eine Gruppe von fußballspielenden Kindern, die mannschafts‐ interne Konflikte und individuelle Probleme meistern müssen, um erfolgreich in Fußballspielen zu bestehen, die den Ausgang der Handlung bestimmen. In Suzanne Collins’ Romantrilogie The Hunger Games (2008-2010) wiederum haben potenziell tödliche Wettkämpfe handlungstreibende Funktion: Die Heldin Katniss Everdeen und weitere Jugendliche müssen wiederholt in einer Arena auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen; nur eine Person kann laut Spielregeln den rituellen Wettkampf überleben. Die Ausgangslage ist jedoch nicht egalitär - Zufallselemente und Ungleichheitsbedingungen liefern die Kämpfenden dem Schicksal aus und beeinflussen den Handlungsverlauf. Caillois bezeichnet eine solche Spielform als alea („chance“), da „le destin est le seul artisan de la victoire“ (ebd.: 88). Die Spielenden liefern sich an 93 Spielerzählungen externe Kräfte aus, in der Hoffnung, diese zu bezwingen. Auch der Beginn der biblischen Mosegeschichte ist eine aleatorische Erzählung: Moses wird als Säugling in einem Bastkorb auf dem Nil ausgesetzt, um ihn vor dem sicheren Tod zu schützen, hat doch der ägyptische Pharao befohlen, alle erstgeborenen hebräischen Jungen umzubringen. Das (göttliche) Schicksal will es, dass er von der Tochter des Pharaos entdeckt und großgezogen wird (2. Mose 1-2). Während die Mosegeschichte einen Auserwählungsmythos erzählt, behandeln andere aleatorische Spielerzählungen Spiel als „Syndrom des Lasters generell“ ( Jahn & Schilling 2010: 10), etwa wenn der soziale Abstieg einer Figur als analog zu deren Abgleiten in exzessives Glücksspiel erzählt wird. Agôn und alea setzen der „confusion normale de l’existence courante“ (Cail‐ lois 1958b: 89) künstliche geschaffene Idealbedingungen entgegen. Dadurch stellen sie aber auch Versuche dar, der alltäglichen Existenz zu entfliehen, indem sie die Welt (temporär) verändern („on s’évade du monde en le faissant autre“, ebd.). Eine andere Möglichkeit ist es aber, der Welt zu entfliehen, indem man sich selbst verändert („s’en évader en se faisant autre.“, ebd.). Dies vollzieht die Spielform mimicry („simulacre“), die sich als Maskierung, als „Hineinschlüpfen in fremde Rollen“ (Stampfl 2016) manifestiert und somit beispielsweise das theatrale Spiel erfasst. Erzählerisch manifestiert sich mi‐ micry in Verwechslungserzählungen wie Kleider machen Leute (1874) oder in Geschichten vom bewussten Rollentausch wie in Das doppelte Lottchen (1949). Mimicry liegt aber auch dann erzählerisch vor, wenn die kindlich-jugendlichen Hauptfiguren in die Rolle von Kinderdetektiven schlüpfen, um wie Erwachsene in Kriminalfällen zu ermitteln, etwa in Astrid Lindgrens zwischen 1946 und 1953 erstmals erschienenen Kalle Blomkvist-Kinderromanen. Spiel kann rauschhafte Zustände auslösen und das normale, stabile Erleben der Welt zumindest zeitweise (zer)stören. Eine solche Spielform bezeichnet Caillois als Ilinx („vertige“). Jahrmarktspiele, etwa das Karussell oder die Ach‐ terbahn, dienen ebenso als Beispiele wie Extremsportarten (zum Jahrmarkt s. Kumschlies in diesem Band, S. 271-287). Eine rauschhafte Spielerzählung liefert das kindliche Spiel in Momo, in das die Spielenden derart aufgehen, dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und spielerischer Imagination verschwinden und das Amphitheater zum sturm‐ umtosten Ozean wird. Rauschhaftes Erzählen manifestiert sich nicht nur auf Ebene der histoire, sondern auch auf Ebene des discours, man denke an den stream of consciousness von Molly Bloom in James Joyces Ulysses (1922), dessen erzählerische Organisationsform regelhafte Sprachverwendung aushebelt. 94 Philipp Schmerheim 5 Eine Ausnahme bildet bspw. die Einleitung zu Jahn & Schilling 2010, die folgende Systematik von Spiel und Literatur konstruiert, dabei aber wiederum das Spiel mit literarischen Formen und Erscheinungsformen des Spiels in literarischen Texten kom‐ biniert: „1. Spiel als Attribut und Kolorit; 2. Spiel als Katalysator und Zentrum der Handlung 3. Spiel als Konstruktionsbasis literarischer Texte; 4. metaphorische und allegorische Verwendung von Spielen; 5. Spiele mit Literatur; 6. Spiele in der Literatur Eine Typologie von Spielmotiven Motivbegriff Die bisherigen typologischen Überlegungen sind vom Spielbegriff her gedacht: Vorgestellt wurden spieltheoretische Differenzierungen, deren Auftreten in Erzähltexten in einem zweiten Schritt exemplarisch veranschaulicht wurde. Die nun folgenden Ausführungen gehen hingegen vom Motivbegriff aus, der als Rahmen für eine Typologie von Spielmotiven dient. Wie Kurwinkel & Jakobi (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 15-30) ausführlich darlegen, fungieren Motive in (literarischen) Texten als „im wei‐ testen Sinne kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen“ (Lubkoll 2008: 515), die intra- und intertextuell in „aktiver Wechselwirkung zu anderen Textelementen“ (Werlen 2000: 665) stehen. Motive sind als Element der histoire transmedial und damit in ihrer Konzeption „von der jeweiligen medialen Realisierung unabhängig“ (Kurwinkel & Jakobi 2019: 42). Dies bedeutet aber auch: Zwar lassen sich Motive transmedial modellieren, aber ohne die Verwirklichung in konkreten Ausdrucksmedien mit ihren jeweils spezifischen Zeichensystemen, ohne die Realisierung im discours ist ein Motiv eine begriffliche Abstraktion. Im Folgenden werden die von Kurwinkel & Jakobi spezifizierten fünf Formen literarischer Motive (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) aufgegriffen und als Untersuchungsraster für einen systematischen Blick auf Varianten des Spielmotivs in Spielerzählungen genutzt. Spiel als Motiv Spiel wird in der Literatur- und Kulturwissenschaft vor allem literaturtheore‐ tisch für „produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte sowie für institutio‐ nelle Vermittlungsprozesse“ (Stuck 2007: 721) ausgedeutet, oft in Rekurs auf Schillers Spielbegriff und andere Poetiken (vgl. Anz & Kaulen 2009: 5). Als Motiv, das konkrete Funktionen in Erzähltexten übernimmt, wird der Spielbegriff bisher eher selten oder unter Verzicht auf eine motivtypologische Gesamtschau betrachtet. 5 Beispielsweise diskutieren Horst S. und Ingrid G. Da‐ emmrich (1995) den Begriff des Spielens eingeschränkt auf das Glücksspiel 95 Spielerzählungen als Auseinandersetzung mit Spieltheorien.“ (ebd.: 8) Zu den Spielen der Literatur s. Iser 1993: 466. (als aleatorisches Motiv also), das z. B. in seiner Funktion als dämonische Bewährungsprobe beschrieben wird, in der „die Geschicklichkeit der Figur nicht ausschlaggebend ist, da Gewinn und Verlust letztendlich vom Zufall abhängen.“ (ebd.: 327). Solchen eingeschränkten Ansätzen gegenüber soll hier der Spielbegriff als erzähltextuelles Motiv erweitert werden. Das Spielmotiv ist wesentlich facettenreicher als andere Motive. Es ist nicht lediglich auf der Ebene der histoire verortet, sondern kann - ähnlich wie das Zeitreisemotiv - auch „die Ebene des discours konfigurieren“ (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 17). In einem solchen Fall funktioniert es ähnlich wie das in der Einführung zu diesem Sammelband diskutierte Leitmotiv mit seiner „Übernahme des musikalischen Formprinzips in den epischen Bereich“ (Mayer 1980: 51 f.). Sofern es als „Verfahren der Präsentation“ (Martínez & Scheffel 2020: 22) auf discours-Ebene angesiedelt wird, ist das Spielmotiv als Leitmotiv analog durch eine Übernahme des Formprinzips des Spiels in den epischen Bereich gekennzeichnet. Die Differenz zwischen Spiel als Motiv und Spiel als Leitmotiv lässt sich an einem Beispiel erläutern: Als Motiv lassen sich die Figur des Spielers als figurales Motiv oder ein Spielplatz als lokales Motiv beschreiben. Hier findet eine Verortung auf histoire-Ebene statt, da sich beide Motivvarianten auf unterschiedlichste Weisen im discours realisieren lässt, diese aber noch nicht per se konfigurieren. Es gibt aber auch Erzähltexte, die Spielstrukturen umsetzen, ohne dabei notwendigerweise auch Spielmotivik zu nutzen. So verwendet Tom Tykwers Spielfilm Lola rennt (1998) Spielstruktur als Erzählstruktur, ohne dass dies auf Handlungsebene thematisiert wird - die titelgebende Protagonistin läuft insgesamt drei Mal durch Berlin, um ihren Freund Manni zu retten und startet wie in einem Jump’n’Run-Spiel nach jedem Fehlversuch wieder von vorne - ohne, dass ihr dies bewusst zu sein scheint. In Lola rennt fungiert Spiel als Leitmotiv für die Erzählstruktur in toto, nur sporadisch hingegen als inhaltlich bestimmtes Motiv (Lola versucht u. a., in einem Casino beim Roulette-Spiel Geld zu gewinnen). Spielarten des Spielmotivs in Spielerzählungen Der eben skizzierten Typologie folgend kann Spiel in Erzähltexten als lokales, objektionales, situationales, figurales und / oder temporales Motiv vorkommen, mit jeweils spezifischen dramaturgischen oder literarästhetischen Funktionen (Abb. 2). Diese werden in den folgenden Abschnitten diskutiert. 96 Philipp Schmerheim 6 Zu Jahrmärkten als motivischer Schauplatz siehe den Beitrag von Kirsten Kumschlies in diesem Band, S. 271-287. Abb. 2: Typologie der Spielmotive Lokales Spielmotiv, oder: Spiel als Schauplatz Spiel kann als Schauplatz einer Erzählung fungieren und darüber zum lokalen Motiv werden. So gehen Figuren der Literaturgeschichte regelmäßig ins Theater, so tauchen immer wieder Spiel- und Puppenbühnen sowie Jahrmärkte als narrativ bedeutsame Spielräume auf, etwa in Theodor Storms Pole Poppenspäler (1874), Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 1796) oder gar im zweiten Teil von Miguel de Cervantes’ Don Quijote de la Mancha (1605 / 1615). 6 Hier handelt es sich i. d. R. allerdings um Spielbühnen, die als Aufführungsraum für Schauspiele dienen, die wiederum von den handelnden Figuren rezipiert werden. Innerfiktional sind derlei Bühnen dementsprechend eher objektionales Motiv. Für unsere Zwecke interessanter sind Erzähltexte, in denen der Spielraum des Spiels selbst als mal partieller, mal totaler Handlungsraum dient. Ein paradigmatisches Beispiel liefert die Kinderroman-Reihe The Doll People (erster Band: Martin & Godwin 2000), die von den Abenteuern der Spielzeugpuppen‐ familie Doll handelt (Familie Puppenheimer in der deutschen Übersetzung), die seit Generationen in einem alten Puppenhaus lebt. Ähnlich wie Pixars Toy Story-Filmreihe (1995-2019) erkundet The Doll People die dramaturgischen Im‐ plikationen der Überlappung zweier Wirklichkeitsräume, der Welt der Puppen und der Welt der Menschen, die nichts vom heimlichen Leben ihrer Spielzeuge wissen. Als totaler Handlungsraum fungiert Spiel auch in den Disney-Filmen Wreck-It Ralph (Moore 2012) und Ralph Breaks the Internet: Wreck-It Ralph 2 (Moore & Johnston 2019) mit der Computerspielfigur Ralph, die den Lebensumständen 97 Spielerzählungen ihrer Spielwelt entflieht und dabei in weitere Spielräume mit jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten gerät. Die Ralph-Filme erkunden die Ästhetik des Wechsels zwischen und der Zusammenführung von Spielräumen und damit die medialen wie materiellen Dimensionen des Spielmotivs: So verändert sich das Aussehen der Spiel-Figuren zwischen den Spielwelten, etwa wenn sie zwischen einer zweidimensionalen 256-Bit-Umgebung und einer in 3D gerenderten Umgebung wandeln. Auch macht sich der Film einen Spaß daraus, die Antihelden berühmter digitaler Spiele wie Mortal Kombat (Midway Games, seit 1992), Street Fighter (Capcom, seit 1987) oder Super Mario Bros. (Nintendo, seit 1985) einander im Stile eines parodistischen world building in der Selbsthilfegruppe „Bad Anon“ ihr Leid klagen zu lassen. Dadurch werden, vermittelt über die Figuren, verschiedene Spielräume zusammengeführt. Als partieller Spiel-Handlungsraum fungiert ein raumfüllendes Schachbrett in Harry Potter and the Philosopher’s Stone (1997; Filmadaption: Columbus 2001) mit zum Leben erwachenden Schachfiguren. An diesem Spiel muss Ron Weasley teilnehmen, um es Harry Potter und Hermione Granger zu ermöglichen, auf der Suche nach dem Stein der Weisen in den nächsten Raum zu gelangen, in dem wieder andere „Spiel“-Regeln gelten. Das Schachbrett als Handlungsraum konstituiert eine diskursive Dimension des lokalen Spielmotivs, denn es ist hier intertextuell angelegt, verweist es doch auf Lewis Carrolls zweiten Alice-Roman Through the Looking Glass, and What Alice Found There (1872). Bereits die Figurenkonstellation sowie narrative Struktur dieses Romans sind nach einem Schachspiel in elf Zügen modelliert (vgl. Carroll 1872), aber auch die Handlung spielt sich buchstäblich auf einer lebensgroßen Schachbrettlandschaft ab, die Alice als Bauernfigur im Spiel gegen die rote Königin von der zweiten bis zur achten Reihe durchqueren muss, um - den Schachregeln entsprechend - ebenfalls zur Königin transformiert zu werden. Diese Beispiele zeigen: Ein Spiel als Schauplatz einer Erzählung ist drama‐ turgisch relevant, weil es innerfiktionale Handlungsbzw. Verhaltensregeln festlegt. Dies gilt umso mehr, wenn sich ein alltagsweltlicher Schauplatz im Laufe der Handlung in einen Spielraum mit entsprechend veränderten Verhal‐ tensregeln transformiert. Dies passiert in der Science-Fiction-Komödie Pixels (Columbus 2015), in der die Erde zum Schauplatz einer Invasion von Aliens wird. Diese machen in Gestalt von Computerspielfiguren Jagd auf Menschen und verwandeln die Hochhausschluchten von New York in ein albtraumhaftes Pac Man-Labyrinth bzw. Stapelfeld eines intergalaktischen Tetris-Spiels. Auch in der Bilderbuch-Fassung von Jumanji transformiert sich der Schau‐ platz der Erzählung zum Spielraum; das Wohnzimmer der spielenden Kinder 98 Philipp Schmerheim 7 Jumanji lässt sich also wunderbar mit Hilfe von Maria Nikolajevas (1988) Zweitwelten‐ modell des phantastischen Erzählens lesen. wird zum erweiterten Spielraum des Brettspiels. Die späteren medialen Erwei‐ terungen von Jumanji variieren dieses lokale Spielmotiv, da in ihnen die Figuren nun zwischen primärer Alltags- und sekundärer Spielwelt wandeln und es dramaturgisch nicht mehr alleine um die ontologische Einhegung der Spielwelt geht, sondern auch um die Rettung einzelner Figuren aus dieser. 7 Objektionales Spielmotiv, oder: die Gegenstände von Spielerzählungen Während bei lokalen Spielmotiven das Spiel selbst zum Schauplatz der Hand‐ lung wird, fungiert es bei objektionalen Spielmotiven lediglich als Gegenstand auf dem Schauplatz der Handlung. Dabei kann es sich um Brettspiele, Ge‐ sellschaftsspiele, Kartenspiele, digitale Spiele ebenso handeln wie um eine Spielbühne. Beispielsweise ist das Schachspiel objektionales Motiv in der Filmadaption des ersten Teils der Jugendbuchreihe Enola Holmes (Bradbeer 2020) über die Abenteuer der 16-jährigen Schwester des Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Enola, die von ihrer Mutter Eudoria - in Nancy Springers Pastiche (2006-2010) der Romane Conan Doyles auch die Mutter von Mycroft und Sherlock - alleine aufgezogen wird, ist eine passionierte Schachspielerin, „but only with a worthy opponent“, wie es im Film wiederholt heißt. Enolas Fähigkeiten als Schachspielerin symbolisieren ihren unausgesprochenen Wettkampf mit dem berühmten Bruder Sherlock, demgegenüber sie sich als nicht nur ebenbürtig, sondern vielleicht sogar überlegen erweist. Das objektionale Motiv Schachspiel ist hier „koloritgebendes Detail“, das Spiel hat eine „attributive Funktion“ ( Jahn & Schilling 2010: 9). Während z. B. in Harry Potter das Schachbrett innerfiktional Schauplatz des Geschehens ist, lässt sich hier das Geschehen lediglich metapho‐ risch mit einer Schachpartie vergleichen. Im zeitgenössischen kinder- und jugendmedialen Erzählen dienen oft Com‐ puterspiele als objektionales Motiv, etwa in Ursula Poznanskis Roman Erebos (2010) oder in dem Spielfilm Offline - Das Leben ist kein Bonuslevel (Schnell 2017). In beiden Spielerzählungen veranschaulicht exzessive Computerspielnutzung die (zunehmende) Abwendung der jungen Protagonisten von ihrem Lebensum‐ feld, während sie in die virtuelle Welt ihrer digitalen Spiele eintauchen. Analytisch interessant sind in diesem Zusammenhang wiederum Spieler‐ zählungen, die dramaturgisch auf der Transformation eines Spiels vom ob‐ jektionalen zum lokalen Motiv beruhen. Diesen Mechanismus nutzen Erebos wie Offline: Zwar landen die Hauptfiguren nicht körperlich in der virtuellen 99 Spielerzählungen 8 Der Abschnitt zu Offline wurde Schmerheim 2018 entnommen. Dort werden auch weitere Beispiele für Ludifizierung und Computerspielästhetik im aktuellen Jugendfilm diskutiert. Spielumgebung wie beispielsweise in den Jumanji-Filmen, aber am Erfolg im jeweiligen Computerspiel hängt der erfolgreiche Ausgang der Handlung. Zudem verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit, weil die jugendlichen Protagonisten ihre Lebensumgebung zunehmend ludifiziert wahrnehmen. Offline visualisiert dies filmästhetisch dadurch, dass auch in der lebensweltlichen Primärwelt Inventarbestände und Lebensbäume eingeblendet werden. Der Film referiert u. a. die Point-and-Click-Mechanik vieler Adventures und expliziert seine eigene Level- und Quest-Struktur, indem e[r] die jeweils zu bewältigende Aufgabe in neuen Situationen oder Gebieten einblendet. (Düerkop 2020: 266) 8 Situationales Spielmotiv, oder: Spiel als Handlungselement Spiel kann nicht nur Schauplatz oder Gegenstand von Erzählungen sein, son‐ dern motivisch als Handlungsmerkmal dienen. Mit Caillois’ Spielformen lassen sich Spielerzählungen differenzieren, bei denen der (agonale) Wettbewerbscha‐ rakter im Fokus steht (Die wilden Fußballkerle), die sich im aleatorischen Umfeld etwa von Glücksspielen bewegen (Casino Royale [Campbell 2006], Ocean’s Eleven [Soderbergh 2001], The Sting [Hill 1973]), den Rollentausch (mimicry) fokussieren (Das doppelte Lottchen, Mrs Doubtfire [Columbus 1993]) oder Rau‐ scherfahrungen thematisieren. Jede dieser Spielerzählungsformen entwickelt eigene dramaturgische Strukturen und / oder charakteristische Spannungsver‐ läufe, teils sogar innerhalb eines einzigen Erzähltexts. Beispielsweise versuchen die grauen Herren in Momo letztlich, die aleatorisch im Modus der paidia handelnde Momo dazu zu bewegen, wie ihre Freundinnen und Freunde agonale Verhaltensweisen zu adaptieren - denn „Zeitsparen“ ist ein Prototyp agonalen Verhaltens. In agonalen Spielerzählungen bestimmt das Spiel als Wettbewerbsform den Handlungsverlauf mit, es ist „strukturbestimmend für die Erzählung“ ( Jahn & Schilling 2010: 17). Offensichtlich ist das agonale Handlungselement in Dystopien wie The Hunger Games oder Maze Runner (2009-2020). Agonale Spielerzählungen bilden eigene Subgenres wie Geschichten aus dem Fußball‐ milieu heraus. Die Wettbewerbsregeln des jeweiligen Sports bestimmen die dramaturgische Struktur, wie in dem Film Bend It Like Beckham (Chadha 2002), in dem das britisch-indische Mädchen Jess gegen den Willen ihrer Familie in einer Mädchenfußballmannschaft mitspielt, deren Erfolg Jess’ eigenen emanzi‐ 100 Philipp Schmerheim 9 Pierre Mattern (2009) analysiert Varianten von Literatur und Sport als agonaler Ordnung. patorischen Fortschritt spiegelt. Soziale Konflikte werden auch in Masanneks bereits diskutierter Buch- und Filmreihe Die wilden Fußballkerle verhandelt, die erzählstrukturell von der Dramaturgie von Fußballturnieren geprägt ist. 9 Figurales Spielmotiv, oder: Spiel als Modus des Figurenhandelns Dementsprechend hat auch Figurenhandeln eine potenziell motivische Spiel‐ komponente. Fester Bestandteil der Literaturgeschichte ist die - mit Caillois - aleatorisch handelnde „Figur des Spielers“ ( Jahn & Schilling 2010: 10). Diese wird mal negativ als Glücksspieler mit einem „Spieltrieb als unkontrollierbares Laster“ (ebd.: 13) gezeichnet, mal als positiv konnotierte Figur, „die den Aspekt des Zufalls und des Glücks nutz[t], um ihren Lebensweg einer allzu strengen Planbarkeit zu entziehen“ (ebd.: 10). Ein in seiner medialen Dimension besonders potentes figurales Spielmotiv ist mimicry, denn besonders Film und Theater nutzen sein narratives Potenzial. Beide sind performative Erzählformen, in beiden schlüpfen menschliche Dar‐ stellende von vornherein in Rollen und tun im Modus des Als-ob so, als seien sie Andere. Wenn sie dabei auch noch Figuren verkörpern, die innerfiktional in andere Rollen schlüpfen, verstärkt sich der mimicry-Aspekt; im Fokus stehen dann nicht nur die jeweiligen Figuren, die in andere Rollen schlüpfen, sondern auch die Darstellenden, die Figuren verkörpern, die in andere Rollen schlüpfen. Spielerzählungen mit mimicry-Fokus sind zugleich situational und figural strukturiert, da sich das Figurenverhalten aus dem Handlungsrahmen ergibt und umgekehrt. Als neuzeitliche fiktional-literarische Blaupause mag Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute dienen, in der ein verarmter Schneider auf Grund seiner fein gearbeiteten Kleidung für einen Grafen gehalten und entsprechend behandelt wird und der derart Verwechselte sich auf das Spiel einlässt. Kleider machen Leute verhandelt die Reziprozität zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung sowie die Wirkungen, die es auf Menschen hat, wenn sie - erst gezwungenermaßen, dann zunehmend spielerisch - neue Identitäten erproben und diese zunehmend in ihr ‚altes Selbst‘ integrieren. Die wohl bekannteste kinderliterarische mimicry-Erzählung ist Erich Käst‐ ners Kinderroman Das doppelte Lottchen, in dem zwei Zwillingsmädchen einander unverhofft voneinander erfahren und ihre Identität tauschen, um den jeweils anderen Elternteil kennenzulernen. Figurenanalytisch interessant sind die Verwicklungen, die daraus entstehen, dass zwei charakterlich unter‐ schiedliche Figuren versuchen, ihre Position im Leben der jeweils anderen 101 Spielerzählungen einzunehmen, ohne dass das Wechselspiel auffällt. Die filmischen Adaptionen und Stoffaneignungen von Kästners Geschichte variieren das figurale Motiv des Rollentausches und parodieren es teils auch mit den medialen Mitteln des Mediums. Beispielsweise tauschen in It Takes Two (Tennant 1995) zwei ei‐ nander lediglich zum Verwechseln ähnliche, aber nicht miteinander verwandte Mädchen die Rollen, gespielt werden sie aber von den zweieiigen Zwillingen Mary-Kate und Ashley Olsen. In David Swifts Adaption The Parent Trap (Swift 1961) wiederum, einer direkten Adaption von Kästners Prätext, werden die Zwillingsfiguren von Hayley Mills in einer Doppelrolle verkörpert. Mimicry äußert sich als Spielerzählung aber nicht nur über den Extremfall des Identitätstausches, sondern taucht bereits da auf, wo Figuren Rollenspiel betreiben, wie in den bereits erwähnten Kinderdetektivgeschichten um Kalle Blomkvist. Eine andere Form von Rollenspiel, die motivische Funktion über‐ nehmen kann, ist das Sprachspiel, etwa im Versuch der Figuren, mittels code-switching einen anderen (höheren) sozialen Status vorzugeben, wie in Angie Thomas’ Roman The Hate U Give (2017) oder in der Filmkomödie Fack ju Göhte (Dağtekin 2013). Die Situationskomik des Films beruht maßgeblich auf code-switching. Der Kleinganove Zeki Müller, der unter falschen Angaben als Aushilfslehrer an einer Problemschule anheuert, versucht zwar, sich in Habitus und Sprachgebrauch an seine neue Rolle anzupassen, verfällt aber immer wieder in gewohnte, nicht-bildungsbürgerliche Verhaltensmuster. Dieses Oszillieren wird vom Film dramaturgisch ausgenutzt, indem Zeki mehr didaktischen Erfolg als sein Kollegium hat, was auch daran liegt, dass er anders als dieses nicht in der Lage ist, dauerhaft einen lehrerhaften Habitus anzunehmen. Eine letzte Variante des figuralen Spielmotivs sei erwähnt. Diese taucht in Medientexten auf, die buchstäblich Spiel(zeug)figuren als Charaktere ihrer Geschichte einsetzen, etwa in den bereits erwähnten Buch- und Filmreihen The Doll People und Toy Story. In den Blick nehmen lassen sich zudem Figuren aus Medien- und Produktverbünden, insbesondere die Narrativierungen von Spielzeugfiguren und ihrer Spielwelten im Rahmen von Spielfilmen und Fern‐ sehserien. Als Beispiel mögen hier dienen: Barbie (zuletzt: Barbie Dolphin Magic [Skelly 2017]), Masters of the Universe (Film: Goddard 1987) sowie Ninjago von Lego (The LEGO Ninjago Movie [Bean & Fisher & Logan 2017]). Während bei Barbie und Masters die Entwicklung einer fiktionalen, auserzählten Welt erst nach Einführung der Spielzeuglinie in Angriff genommen wurde, ist Ninjago von vornherein in einen transmedialen Medien- und Produktverbund eingebettet: 102 Philipp Schmerheim 10 Im zeitgenössischen Film findet die Tendenz zur Narrativierung von Spielwelten Ausdruck in Filmadaptionen von digitalen Spiel(verbünden) wie Doom (id Software, seit 1993), Resident Evil (Capcom, seit 1996), Assassin’s Creed (Ubisorf, seit 2017) oder Warcraft (Blizzard Entertainment, seit 1994). 11 Zur Computer-Spiel-Ästhetik siehe ausführlicher Schmerheim 2016, Schmerheim 2018 und Düerkop 2020. Die Figuren und ihre Spielwelt sind nicht nur als ‚spielbar‘, als „toyetic“ (Kurwinkel 2020: 15) konzipiert, sondern auch als ‚erzählbar‘. 10 Temporale Spielmotive, oder: Spiel-Raum und Ludifizierung Nicht nur im rauschhaften Spiel (ilinx) vergeht die gefühlte Lebenszeit anders, es ist grundsätzlich so, dass sich Zeit im Spiel verdichtet, intensiviert. Sie kann sich aber auch gefühlt endlos ausdehnen und zu dem beitragen, was in Momo als Langeweile beschrieben wird: Gehen die Kinder im gemeinsamen Spiel im Amphitheater noch so sehr im Spiel auf, dass sie nicht einmal das Gewitter um sie herum wirklich wahrnehmen, dehnt sich für Momo die Zeit im erfolglosen Bemühen, mit der Puppe Bibigirl zu spielen, geradezu ins Unendliche: Momo versuchte es mit einem anderen Spiel und als auch das mißlang, mit noch einem anderen und noch einem und noch einem. Aber es wurde einfach nichts daraus. […] Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, dass es die Langeweile war. (Ende 1973: 89) Gerade mit Blick auf die zunehmende Verzahnung von Film und Computerspiel wird temporale Spielmotivik auch über ludifizierte Erzählstrukturen umgesetzt. Paradigmatisch sind in diesem Kontext die Filme Lola rennt und Groundhog Day (Ramis 1993), die im filmwissenschaftlichen Diskurs bereits sattsam debattiert wurden. Beide Filme arbeiten innerhalb einer traditionellen Drei-Akt-Erzähl‐ struktur mit repetitiven Zeit- und Handlungsstrukturen, die dem Spielen eines Computerspiels nachempfunden sind. Dies bedeutet aber auch: Die Erzählzeit schreitet voran, während die erzählte Zeit gleichsam in einen Loop versetzt wird, bis Lola - die aus ihren gescheiterten Versuchen zu lernen scheint - das „Spielelevel“ erfolgreich meistert und der zynische Wettermoderator Phil Connors sich endlich zu einem charakterfesten Herzensmenschen entwickelt hat, der es wert ist, das Herz der von ihm begehrten Frau zu gewinnen. 11 Dieser kurze Rundgang durch Facetten des Spielmotivs zeigt, welches erzähl‐ forscherische Potenzial darin liegt, die Spiele des Erzählens innerhalb eines systematischen Rahmens zu untersuchen. 103 Spielerzählungen Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Barbie Dolphin Magic (USA 2017). Regie: Jennifer Skelly. (DVD) Bend It Like Beckham (UK / D 2002). Regie: Gurinder Chadha. (DVD) Enola Holmes (USA 2020). Regie: Harry Bradbeer. (Netflix) Fack ju Göhte (D 2013). Regie: Bora Dağtekin. (DVD) Groundhog Day (USA 1993). Regie: Harold Ramis. (DVD) Harry Potter and the Philosopher’s Stone (USA / UK 2001). Regie: Chris Columbus. (DVD) Jumanji - The Next Level (USA 2019). Regie: Jake Kasdan. (DVD) Jumanji (USA 1995). Regie: Joe Johnston. (DVD) Jumanji (USA 1996-1999). Produktion: Interscope Communications / Teitler Film / Ade‐ laide Productions / Columbia TriStar Television / Rough Draft Korea / Sunwoo Enter‐ tainment. (UPN / Syndication). Jumanji. Welcome to The Jungle (USA 2017). Regie: Jake Kasdan (DVD) Lola rennt (D 1998). Regie: Tom Tykwer. (DVD) Masters of the Universe (USA 1987). Regie: Gary Goddard. (DVD) Offline - Das Leben ist kein Bonuslevel (D 2019). Regie Florian Schnell. (DVD) Pixels (USA 2015). Regie: Chris Columbus. (DVD) Ralph Breaks the Internet: Wreck-It Ralph 2 (USA 2019). Regie: Rich Moore / Phil Johnston. (DVD) The LEGO Ninjago Movie (USA 2017). Regie Charlie Bean / Paul Fisher / Bob Logan. (DVD) Wreck-It Ralph (USA 2012). Regie Rich Moore. (DVD) Theater Le jardin du possible. 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Die Zeitreise als Motiv (auch in digitalen Spielen) Die Zeitreise als Motiv der Literatur hat ganz unterschiedliche Funktionen. Sie ist lehrreich (vgl. Beck 2014: 262), weil die Reise in der Zeit oft zu tieferen Er‐ kenntnissen der eigenen Persönlichkeit, Familien- oder Gesellschaftsgeschichte führt. Die typischen Beispiele hierfür wären etwa H. G. Wells’ Time Machine (1895) oder der erste Teil der Back to the Future-Trilogie (ab 1985). Bei Wells nämlich gelangt der Zeitreisende in die Zukunft, wo er die Auswüchse der kapitalistischen Fluchtlinien seiner Gegenwart absurd zugespitzt sieht. In Back to the Future hingegen dient die Zeitreise dazu, die Vergangenheit der Protago‐ nisten zu ergründen und vielleicht sogar ganz zu verändern. Insofern steht im Zentrum der allermeisten solcher Geschichten die Erfahrung von Zeit anhand von Kausalität: Früher war es anders, in Zukunft wird es anders sein, aber dieses ‚Anderssein‘ oder ‚Anderswerden‘ ist gewachsen, es entsteht in einem Zusammenspiel aus Chronologie, Kausalität und auch Kontingenz. Lehrreich ist die Zeitreise also, weil die Protagonistinnen und Protagonisten Situationen ihrer eigenen Biografie bzw. Konsequenzen ihres Handelns in der Zeit nacherleben können. Damit einher geht das Motiv der Selbstermächtigung, das in Back to the Future zu einer neu geschriebenen Gegenwart des Protagonisten, in Bezug auf Wells’ Zeitreisenden zu einer Flucht aus seinen starren Lebensumständen führt. Die Zeitreise hat aber auch eine physikalische Dimension. Wells verwendet große Teile seiner eigentlich kaum mehr als hundert Seiten umfassenden Erzäh‐ lung darauf, das Prinzip hinter seiner Zeitreise halbwegs plausibel zu erläutern und auch Back to the Future ist maßgeblich an den Mechanismen der Zeitreise interessiert. Aber neben der Frage, ob und wie Zeitreisen denk- und umsetzbar werden, verweist insbesondere Wells’ Erzählung auf einen Bruch zwischen der naturwissenschaftlich verbürgten Physik und der historisch und durch Taten veränderbaren Kultur. So betrachtet Wells minutiös gesellschaftliche Entwicklungen der Menschheit, die aus der Schere zwischen Prekariat und Wohlstandsbürgern evolutionsbiologisch zwei verschiedene Spezies werden lässt. Das ‚Kapital‘ dieser Zeit sind dementsprechend auch die Eloi, naive Wesen in bunten Kostümen, die bar jeder Kultur buchstäblich darauf warten, von den bösartigen Morlock gefressen zu werden. Diese kausale Engführung durchbricht er aber in der vorletzten Reise des Zeitreisenden, die ihn an das physikalische Ende der Welt bringt, wo die Sonne überdimensioniert und alt kaum mehr über den Horizont zu steigen vermag und die letzten Geschöpfe auf der Erde krebsartige Kreaturen sind. Überdeutlich konterkariert Wells hier eine gesellschaftliche Kausalität mit derjenigen der Physik, die unabhängig und bedeutungslos die Kämpfe der Vergangenheit in ein unweigerliches naturwis‐ senschaftlich verbürgtes Ende überführt. Insofern verwundert es auch nicht, dass außer dem Ich-Erzähler der Rahmenhandlung niemand dazu bereit ist, den sozialen Lehren des Zeitreisenden in der Gegenwart des späten 19. Jahrhunderts Glauben zu schenken, was den Zeitreisenden dazu nötigt, wieder durch die Zeit zu reisen und dort verschwunden zu bleiben. Zuletzt ist die Zeitreise im klassischsten narratologischen Sinne eine Form der Zeitraffung bzw. eine elaborierte Form der Verschachtelung von Ana- und Prolepsen, die in eine Ellipse münden, immerhin wirken sich die Ereignisse der Vergangenheit und Zukunft direkt oder indirekt immer auf den Startpunkt, auf die Gegenwart aus, entweder, indem man sie nun besser versteht oder ihre Ausgestaltung gleich ganz verändert. Anders aber als die klassischen Rückblenden erlaubt es die Zeitreise, die Vergangenheit und die Gegenwart 108 Markus Engelns direkt zu erfahren. Man könnte sagen: Das Wechselspiel zwischen histoire und discours hat in Bezug auf die Zeitreise eine ganz eigene Performanz, weil die Protagonistinnen und Protagonisten diesen Wechsel körperlich mitmachen und durchleben und so zu einem Teil der jeweiligen vergangenen oder zukünftigen Ereignisse werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen ist also schon deshalb besonders reizvoll, weil die bisher benannten Dimen‐ sionen der Zeitreise auch Strukturmomente ganz verschiedener Spielformen darstellen. Denn auch digitale Spiele verhandeln über ihre Interaktivität die Selbstermächtigung der Spielenden und Protagonistinnen und Protagonisten, die immer dann auch reflektiert wird, wenn es Entscheidungen für den weiteren Plot- und Spielverlauf zu treffen gilt. Das heißt, dass die Spielenden gerade in entscheidungsreichen Spielen per se schon dazu eingeladen sind, ein Teil der jeweiligen Spielsituationen zu werden und in ihnen zu agieren. Zudem weisen die meisten Spiele durch ihre technischen Grundvoraussetzungen eine (mehr oder weniger) konsistente physikalisch strukturierte Welt auf, die von narra‐ tiven Elementen durchzogen und gerahmt ist sowie manchmal auch von ihnen konterkariert wird. Das Motiv der Zeitreise ist aus dieser Perspektive betrachtet in digitalen Spielen also besonders gut aufgehoben. Der vorliegende Beitrag möchte deshalb zwei Argumentationslinien verfolgen: Einerseits ist es auf der theoretischen Ebene sinnvoll, bestehende Motivkonzepte auf ihren Erkenntnis‐ gewinn bezüglich der Modellierung von digitalen Spielen hin zu befragen. Andererseits können diese Erkenntnisse genutzt werden, um anhand eines Bei‐ spiels die technische und semantische Verschränkung von Selbsterkenntnis und Selbstermächtigung sowie von physikalischen und narratologischen Prinzipien genauer in den Blick zu nehmen. Ein gutes Beispiel findet man in dem Spiel Life is Strange, das die Coming-Off-Age Geschichte einer jungen Kunstschülerin erzählt, die zu Beginn der fünf Einzelepisoden im Angesicht des Todes ihrer Kindheitsfreundin lernt, die Zeit für einige Minuten zurückzudrehen, um so an entscheidenden Stellen in die Geschichte eingreifen zu können. Die Zeitreise hat dabei als Motiv gleichermaßen spielfunktionalen wie narrativen Charakter, weil, wie zu zeigen sein wird, die Manipulation von histoire und discours die beiden eigentlich unterschiedlichen Dimensionen narrativer digitaler Spiele miteinander verbindet. Das Tetris-Problem der transmedialen Motivik In den späten 1990er Jahren gab es rund um das bekannte Klötzchenstapel-Spiel Tetris (Paschitnow 1984) eine mit Blick auf die transmediale Motivik durchaus 109 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen folgenschwere Forschungsdiskussion. Die Literaturwissenschaftlerin Janet Murray hatte eine Interpretation des Spiels vorgelegt, in der sie das Prinzip der fallenden Klötze grundlegend als ein literarisches Motiv auffasst: Tetris is a perfect enactment of the overtasked lives of Americans in the 1990s - of the constant bombardment of tasks that demand our attention and that we must somehow fit into our overcrowded schedules and clear off our desks in order to make room for the next onslaught. (Murray 1997: 143 f.) Versteht man Motive Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi folgend als Struktu‐ relemente der histoire, die „Phänomene des Menschengeistes“ betreffen und für stoffliche sowie thematische Zusammenhänge einer Geschichte offen sind (Kur‐ winkel & Jakobi 2019: 41), so wird deutlich, dass Murray im Kern behauptet, die fallenden Klötze bildeten das Hauptmotiv des Spiels und seiner Deutungsmög‐ lichkeiten. Die Kritik an ihrem schon auf den ersten Blick durchaus verkürzten Ansatz war vehement. So schreibt Markku Eskelinen: Murray tries to […] project her favourite content on it; consequently we don’t learn anything of the features that make Tetris a game. The explanation for this interpretative violence seems to be equally horrid: the determination to find or forge a story at any cost […]. (Eskelinen 2001) Relevant für den Zusammenhang dieses Bandes ist, dass sich die Kritik einer‐ seits an der Auffassung von Spielelementen als Motive und andererseits der Motive als grundlegender Prozess des Erzählens insgesamt aufhängt. Eskelinen behauptet immerhin, Murray stülpe dem Spiel mit ihrer Interpretation gleich eine ganze Geschichte über, was sie in dieser Form tatsächlich nicht macht. Das hat aber trotzdem für die game studies, die inzwischen und vor allem auf der Basis der transmedialen Narratologie um eine Moderation von Spiel- und Erzählelementen bemüht sind, Konsequenzen. Bis heute blieb der oben ausgetragene Streit und mithin die Frage, wann Teilelemente von Spielen zu Motiven werden, weitestgehend ungeklärt. Entsprechend sind Auseinanderset‐ zungen mit Motiven in digitalen Spielen dem obigen Schema folgend für ihre Technikvergessenheit kritisiert worden. Beispielhaft sei hierzu Britta Neitzels Interpretation der Land-Wasser-Übergänge in Spielen und die entsprechende Kritik bei Lars Zumbansen (2008: 127) genannt. Insofern sind eingehendere Beschäftigungen mit Motiven in solchen Spielen später weitestgehend ausge‐ blieben. Das bisher skizzierte Tetris-Problem demonstriert exemplarisch, wie schwierig es ist, trennscharf zwischen ludischen und narrativen Realisierungen von digitalen Spielen zu unterscheiden. Das wäre aber notwendig, um Motive 110 Markus Engelns von anderen Realisierungen zu trennen, um nicht wie Murray dem Verdacht anheim zu fallen, die eigentlich spielerischen Elemente, die oft im Fokus von digitalen Spielen stehen, aus dem Blick zu verlieren. Die Forschung hat hierzu Modelle angeboten, die zunächst einmal zwischen verschiedenen technischen, ludischen, narrativen und rezeptionsorientierten Strukturen unterscheiden (vgl. u. a. Backe 2008, Engelns 2014). Besonders aufschlussreich sind hierbei Ansätze zur transmedialen und kognitiven Narratologie, weil sie Narrativität stark auf die Rezeptionsebene verschieben. Marie-Laure Ryan sieht grundlegend zwar noch die Darstellung einer Welt, die nach kausalen Zusammenhängen strukturiert ist, als Merkmal narrativer Gegenstände (vgl. Ryan 2001). Zugleich bemerkt sie aber auch, dass Narrativität erst semiotisch im Zuge der Rezeption auf der Bedeutungsebene entsteht (vgl. ebd.). Hinsichtlich des oben genannten Theoriestreits, durch den sich die transmediale Narratologie erst umfassend in der Medienkulturwissenschaft etablieren konnte, ist so eine Trennung und Integration zwischen der medial-ludischen Struktur digitaler Spiele und ihrer potenziell narrativ ausgerichteten Rezeption denkbar (vgl. Ryan 2006: 189). Gegenüber der von Gérard Genette (1998) oder Seymour Chatman (1978) streng terminologisch geprägten ‚klassischen‘ Narratologie entsteht hier aber für die transmediale Motivik im Zusammenspiel mit den Differenzierungsver‐ suchen der oben genannten Strukturmodelle ein nicht zu unterschätzender begrifflicher Nachteil. Zur trennscharfen Bestimmung von Motiven sind die obigen transmedialen Überlegungen nur als Ausgangsprämissen, kaum aber als Begriffsinstrumentarium verwendbar. Terminologische Ausdifferenzierungen, wie Kurwinkel und Jakobi sie vorgenommen haben und wie sie diesem Band zugrunde liegen, sind hierzu ausgesprochen hilfreich. Andernorts habe ich ein Modell vorgeschlagen, das im Anschluss an Ryan narrative Rezeptionsangebote in den Blick der Betrachtung rückt. Das von mir entwickelte Modell geht davon aus, dass es bestimmte Elemente von digitalen Spielen gibt, die in Teilen eine narrative Rezeption anbieten oder zumindest nahelegen. Hierzu unterschiede ich die simulative Ebene (die mathe‐ matisch-informatische Verfasstheit von Spielwelten), die spielerische Ebene (die Spielregeln, nach denen diese Welt strukturiert ist) und die Ebene der kulturellen Verfasstheit von Spielelementen (die abstrakte mathematische Operationen in identifizierbare Tätigkeiten wie ‚Springen‘, ‚Schießen‘ oder eben ‚Zeitreisen‘ umsetzt). Narrativität entsteht dann im Schnittbereich dieser drei Ebenen und im Zuge der Rezeption. Hier etablieren Spiele unter anderem die Achse der Handlung, die zumeist in Texten, Filmsequenzen oder anderen spielweltlichen Elementen eine Vorgeschichte realisiert, die nicht simulativ oder spielerisch dargestellt ist. Zudem markiert sie einzelne Ereignisse des Spielverlaufs als 111 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen narrativ bedeutsam und überführt diese Ereignisse summarisch in narrative Konsequenzen (vgl. Engelns 2014: 163 ff.). Es bietet sich an, Motive auf dieser Achse anzusiedeln, sie somit also als Teilelemente der Vorgeschichte, der im Re‐ zeptionsprozess und spielstrukturell ausgewählten narrativ bedeutsamen Spie‐ lereignisse und in den daraus gezogenen Konsequenzen zu suchen. Allerdings kann hier nur noch in Teilen von einer voll ausgebildeten histoire im Sinne eines chronologischen und kausalen Strukturmerkmals von Erzählungen gesprochen werden. Vielmehr ist die Achse der Handlung die Entsprechung der histoire, die sich aus Versatzstücken simulativer, spielerischer, kultureller und im Re‐ zeptionsprozess entstandener narrativer Realisierungen ergibt. Anhand dieser kleinen Modifikation ist es folgend möglich, Motive relativ trennscharf von merkmalsähnlichen, aber rein spielfunktionalen Elementen zu unterscheiden. Zeitreisen: Von der Spielfunktion zum Motiv Life is Strange ist 2015 in fünf etwa dreistündigen Episoden erschienen und vermischt recht unterschiedliche Genres. Die Erzählung weist Aspekte der Comic-Off-Age-, High-School- und Freundschaftsgeschichten anteilig mit Thriller- und Serial-Killer-Passagen auf. Die spielerische Ebene folgt filmisch inszenierten Adventurespielen, die ihre Protagonistinnen und Protagonisten durch einen meist spannungsreichen Plot führen, in dem sie Entscheidungen für den weiteren Verlauf treffen dürfen. Das zentrale Spielelement ist dabei die Zeitreise, die es der Protagonistin Max erlaubt, an bestimmten Stellen des Spiels die Zeit für ein paar Minuten zurückzudrehen. Meist geschieht dies in mal binären, mal komplexeren Entscheidungssituationen, wie es sie inzwischen in vielen Spielen gibt. Der Clou an Life is Strange ist dabei, dass die Entscheidungen hier zurückgespult werden können, die Spielenden also unterschiedliche Varianten durchspielen dürfen, ohne dabei das Spiel neu starten zu müssen. Dabei sehen sie die unmittelbaren Konsequenzen einer Entscheidung, nicht aber die längerfristigen, die zuweilen erst in späteren Episoden zu Überraschungen führen. So erlaubt es das Spiel nicht nur, den Spielerinnen und Spielern die Frage zu stellen, wie sie sich in einem als repressiv empfundenen Schulsystem verhalten würden, sondern auch mitzuerleben, wie Max als Hauptfigur zusehends Verantwortung für ihre Handlungen übernimmt. Dies kulminiert in einem Abschluss, der die Zeitmechanik geradezu auf den Kopf stellt: Max entscheidet sich anfänglich, ihre alte Freundin Chloe, die auf der Schultoilette von einem toxisch männlichen Mitschüler erschossen wird, mit Hilfe ihrer neuen Kräfte zu retten - vermutlich bildet sie ihre Kräfte nur wegen dieser Initialszene aus. Im weiteren Verlauf der Handlung führen die Zeitmanipulationen immer wieder zu zusehends komplexer werdenden Situa‐ 112 Markus Engelns tionen, sodass die neu gewonnene Entscheidungsfreiheit in Zweifel gezogen wird. Schlussendlich muss Max - und stellvertretend für sie die Spielenden - entscheiden, ob sie Chloes Rettung rückgängig macht, um ihre Heimatstadt vor einem Sturm zu bewahren, der vom Spielanfang an als unheilvolle Prophezeiung über der Protagonistin dräut. Entweder also stirbt Chloe oder es sterben all die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, die im Spielverlauf minutiös vorgestellt werden. Am Ende wird so eindrücklich deutlich, dass es zum Er‐ wachsenwerden zuweilen dazugehört, Konsequenzen der eigenen Handlungen zu tragen, gerade auch, wenn sie negativ sind. Strukturell gesehen entsteht diese Erkenntnis dabei genau zwischen histoire und discours. Zwar ist die Zeitreise als Motiv ein Grundelement dessen, was erzählt wird. Zugleich aber ist sie im Spiel auch ein Mittel der Gestaltung dieser Erzählung durch Max und die Spielenden. Demnach versetzt das Spiel seine Spielerinnen und Spieler dazu in die Lage, die histoire von der Ebene des discours aus mitzugestalten. Es ist sinnvoll, die Überkreuzungen zwischen den verschiedenen simulativen, spielfunktionalen und narrativen Elementen zu beschreiben, auch, um ihr Zusammenspiel zu verdeutlichen. Zeitreisen sind in so genannten in Echtzeit berechneten Spielen, also solchen, deren Physikalität oder Grafik im Moment des Spielens aktuell berechnet und nicht einfach nur wie ein Film abgespielt werden, zunächst einmal ein simulatives Phänomen. Das Spielsystem muss dazu in der Lage sein, die Spielwelt, ihre Chronologien und Kausalitäten, ihre Objekte wie auch ihre Figuren vorwärts und rückwärts durch die Zeit zu bewegen. Selbst wenn der Begriff der Zeitreise bereits ein ganzes Genre der fantastischen Literatur evoziert, so ist das Phänomen auf dieser Ebene doch nur eine mathematische Prämisse, für das die Spielsimulation vor allem die Bewegungen, aber auch die Sounds innerhalb der Spielwelt vermessen und bei Bedarf auf demselben Weg zurückführen muss, auf dem sie sie zuvor vorwärtsbewegt hat. Die zeitliche und kausale Ordnung der Spielwelt ist ein algorithmisches Konstrukt, das dem Spiel erst einprogrammiert wird. Dadurch ist es möglich, dieses in ganz unterschiedliche Richtungen laufen zu lassen, die Welt einzufrieren oder sie in Gleichzeitigkeit zu überführen. Insofern ist die Zeitmanipulation in digitalen Spielen zunächst einmal keine Form der Pro- oder Analepse, sondern eine mathematische Form auf der Ebene des discours, Objekte und Körper auf bestimmten Wegen in Bewegung zu versetzen. Die Zeit zurückzuspulen hat auf dieser Ebene noch keinen motivischen Charakter, weil es eher dem Umstand ähnelt, einen älteren Spielstand zu laden, wenn die Spielerinnen und Spieler an einer Aufgabe scheitern (vgl. Unterhuber 113 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen 1 Nicht umsonst verwendet das Spiel Prince of Persia (Ubisoft Montreal, 2003) die Zeitma‐ nipulation als Speicherersatz. Hier dürfen die Spielende ebenfalls die Zeit zurückspulen, wenn sie an einer Hürde scheitern. 2016: 340). 1 Für Time Machine und Back to the Future könnte man sagen, dass das Motiv der Zeitreise ein genuin narrativer Gegenstand ist. In digitalen Spielen ist dieses Verhältnis genau umgekehrt, weil Chronologien, Kausalitäten, aber auch Zeitraffungen oder andere narrative Prinzipien in die Simulation einprogrammiert werden müssen. Auf spielfunktionaler Ebene ist die Zeitreise mit klaren Spielzielen und -regeln verbunden. Die Spielenden dürfen die Zeit nur in vorgegebenen Situationen und um einen festgelegten zeitlichen Betrag zurücksetzen. In der Regel ist dieser Einsatz mit einer klaren Problemstellung (Rette Chloe! ) verbunden. Auch hier ist die Zeitmanipulation noch kein Motiv, immerhin bieten viele andere Spiele die Möglichkeit, die Zeit zumindest zu pausieren, um beispielsweise sorgfältig zu überlegen, welchen nächsten Schritt man unternehmen will. Trotzdem ist völlig einsichtig, dass die Zeitreise im vorliegenden Beispiel eben einen grundlegend motivischen Charakter hat, der im Anschluss genauer betrachtet wird. Die Zeitreise und ihre Entscheidungsfreiheiten Allein schon in der ersten Spielsequenz, in der die Spielenden die Zeit manipu‐ lieren können, kommen diverse topische, symbolische und auch motivische Elemente zusammen, die hinsichtlich der bisher konturierten Problemlagen wichtig sind. Nach dem Unterricht besucht Max die Schultoilette, weil sie wegen eines Schulwettbewerbs aufgeregt ist und sich Wasser über die Hände laufen lassen möchte. Zunächst zerreißt sie das Sofortbild, das sie eigentlich für den Wettbewerb einreichen wollte, wegen Selbstzweifeln. Alsbald fliegt ein leuch‐ tend blauer Schmetterling durch das geöffnete Fenster. Max folgt ihm in eine Ecke, sodass sie während der nachfolgenden Handlungen unbemerkt bleibt. Nun betritt Nathan Prescott, ein Mitschüler, den Raum. Er ist ein reicher Schulrüpel, der hier aber unsicher mit sich selbst spricht und dabei bemerkt, dass ihm die Schule gehöre und er sie in die Luft jagen könnte, wenn er wollte. Zuletzt kommt Chloe herein, wobei sofort die farbliche Verbindung zwischen ihren leuchtend blauen Haaren und dem Schmetterling auffällig wird, wohingegen Nathan eine hierzu im Kontrast stehende kupferrote Jacke trägt. Chloe und Nathan streiten sich, sie will Geld von ihm, er hingegen fordert Respekt von ihr. Schließlich zieht er eine Pistole aus der Tasche und drängt Chloe gegen die Wand. Als sie sich befreien will, erschießt er sie. Max, die diesem Geschehen unfreiwillig beigewohnt hat, reißt die Hand hoch und die Zeit wird um einige Minuten zurückgedreht. Die Spielenden wohnen abermals dem Unterricht bei, während 114 Markus Engelns Max zu verstehen versucht, was gerade passiert ist. Schnellstmöglich sucht sie die Schultoilette auf, wo sie zunächst die Handlungen noch einmal nachstellt, bis sie wieder in der Ecke beim Schmetterling verschwindet. Diesmal können die Spielenden sie aber steuern. Während des Streits zwischen Chloe und Nathan müssen sie einen heruntergefallenen Notfallhammer für den Feueralarm finden, wobei Chloe hier wenigstens ein weiteres Mal angeschossen wird, sodass die Spielerinnen und Spieler die Rückspulfunktion effektiv nutzen müssen, damit sie nicht stirbt. Die Szene endet damit, dass Chloe entkommt, eine Entscheidung seitens der Spielenden gibt es hier noch nicht. Spätere Sequenzen finden anschließend in ebenfalls räumlich oder zeitlich abgeschlossenen Situationen statt, in denen die Spielenden beispielhaft entscheiden müssen, ob Max ihrer Freundin Chloe während einer beleidigenden Standpauke ihres Stiefvaters offen beisteht oder den Mund hält, was dann kurzfristige und auch langfristige Konsequenzen hat. Die oben geschilderte Initialszene beginnt mit dem Schmetterling als sym‐ bolisches Element. Einerseits rekurriert er farblich auf Chloe, wobei sein auf den ersten Blick willkürliches ‚Herumflattern‘, das aber doch zielgerichtet ist, weil der Schmetterling Max mehrfach in solchen Situationen begleitet, auch auf Chloe übertragen werden kann. So scheint ihr Leben irrlichternd und ohne rechtes Ziel zu verlaufen, bis sie ihre alte Freundin Max wiedertrifft, wodurch ihr Leben durchaus produktiv gewendet wird. Andererseits steht der Schmetterling zweifelsohne symbolisch für den Butterfly-Effekt der Chaostheorie, der sich mit unvorhersagbaren Konsequenzen innerhalb anfänglich stark determinierter Systeme beschäftigt und somit zum Vorbild des gesamten Spiels wird. Dass also die Handlungen auf der Schultoilette nicht voraussagbare Konsequenzen haben werden, ist hier im Schmetterling schon angedeutet. Nathan dient als figurales, situationales, in Kombination mit der Schusswaffe auch als objektionales Motiv, das topisch zum Diskurs hin geöffnet ist. In ihm als ‚Bully‘, der seine Minderwertigkeitsgefühle mit hypermaskulinem Gehabe übertünchen will, überkreuzen sich nämlich klassische Motive von Highschool-Geschichten mit denen einer durchkapitalisierten und leistungso‐ rientierten Gesellschaft, weil alsbald die deutlich zu hohen Erwartungen seines reichen, aber kühl distanzierten Vaters als Ursache für seine Probleme ausge‐ macht werden. Nathan handelt also permanent kompensierend: So versucht er seinen im Gegensatz zu Chloe eher kleinen Körperbau mit einem körperlich dominanten, höchst übergriffigen Verhalten auszugleichen, das schließlich in einem vermutlich ungewollten Schuss mündet. Die Pistole versteht er dabei als Möglichkeit, Selbstkontrolle herzustellen, weil er Chloe gegenüber erwähnt, es zu hassen, wenn Menschen ihn kontrollieren wollten. In der Szene werden 115 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen also Freiheit, Selbstbestimmung, Kontrolle, Reichtum und deren Gegenteile zueinander positioniert, schon deshalb, weil Nathan und Chloe hier exakt oppositionell angelegt sind: Nathan versichert sich seines Reichtums und will Selbstkontrolle herstellen, wohingegen die aus ärmeren Verhältnissen stamm‐ ende Chloe scheinbar von Erwartungen und Leistungsdruck befreit durch Nathan der Freiheit beraubt wird. Max, die dieser Szene durch ihre räumliche Position entrückt ist, steht motivisch gesehen genau zwischen den beiden anderen Figuren. Ähnlich wie Nathan erscheint auch sie als eine stark von außen kontrollierte Figur, wobei sie nicht durch ihre Eltern, sondern mehr durch ihren Mentor, Förderer und später als Serienmörder entlarvten Lehrer permanent zu besseren Leistungen genötigt wird. Seine Dominanz im Unterrichtsraum ist von der ersten Sekunde an spürbar. Die Schule erscheint demnach als ein Geflecht komplexer sozialer Interaktionen, in denen Kontrolleure in Form der Schuladministration und ‚an‐ gesagten‘ Schülerinnen und Schülern sowie Kontrollierte auftreten, zwischen denen Max sich situieren muss. Im Konflikt stehen hier also motivisch die freie Selbstentfaltung der Kunst, die der Lehrer anmahnt, und die beengende, stellenweise gar klaustrophobische soziale Ordnung der Schule. Max hat ei‐ gentlich nur zwei Mittel, um mit diesen Umständen umgehen zu können: Die Sofortbildkamera und die Manipulation der Zeit. Ihre Sofortbildkamera ist dabei nicht nur Ausdruck eben jener künstlerischen Selbstentfaltung. Sie ist selbst ein Mittel der Zeitreise, indem sie Momente, Situationen und Figuren festhält und medial fixiert. Ihre Produkte, die Fotografien, bieten, wie Unterhuber (2016: 344) anmerkt, Anlass vor allem zur Rückschau, Besinnung, kurz: zur Analepse, indem sie die vergangenen Momente verlebendigen. Anders als Digitalfotografien kann man Sofortbilder im Nachhinein nicht mehr bearbeiten. Die dargestellten Situationen sind demnach festgeschrieben und aus ihrem kausalen Zusammen‐ hang enthoben (vgl. ebd.: 346). Im Nachhinein kann die Protagonistin sie also nicht mehr verändern. So betrachtet ist das Sofortbild ein Gegenprinzip zur Zeitmaschine auf der Ebene des discours, das den Unterschied zwischen der klassischen Rückblende und der Zeitreise im Effekt auf die histoire verständlich macht. Die Fotografie kann demnach zwar Kausalitäten sichtbar machen. Sie kann aber keinen Einfluss mehr auf die bereits gespannten kausalen Bezüge nehmen. Max löst diesen Widerspruch, der sich zwischen der persönlichen Veränderung durch Selbstentfaltung und der Kamera als Element des Erstarrens aufspannt, zunächst nicht auf. Nicht umsonst will sie ein Sofortbild für den Wettbewerb einreichen, das sie von hinten dabei zeigt, wie sie auf eine Wand mit Sofortbildern schaut. Sie ist somit sowohl die Beobachterin als auch die Beob‐ achterin der Beobachterin, quasi eingefroren in einem Moment des Sehens (vgl. 116 Markus Engelns ebd.: 335 f. und 348). Dabei wohnt der Tätigkeit selbst keine tiefere Bedeutung inne. Jenseits des zyklischen und hermetischen Verweisspiels von Fotografie und Fotografin findet auch Max keine tiefere Bedeutung in ihrem Werk. Die Fotografie ist also ein temporales Motiv, das aber auch starke lokale Züge dreht. Das liegt nicht nur daran, dass ein Foto Zeit und Raum festhält, sondern auch daran, dass die Sofortbildkamera Max schon räumlich zur Beobachterin macht. So hat sie immer Abstand zu dem, was gezeigt wird, was in der Toilettenszene schon daran sichtbar wird, dass Max, um den Schmetterling zu fotografieren, in der von Chloe und Nathan nicht einsehbaren Ecke des Raums steht. Die Fotografie ist somit zusammenfassend ein temporales und ein lokales Motiv, das für weitere Motive (Zeit und Raum fixieren, Erinnerung verobjektivieren, Leistung, Entfaltung …) offen ist. In einem relativ starken Kontrast zum Sofortbild steht die Manipulation der Zeit, weil sie Raum, Zeit und Kausalität geradezu fluide macht. Durch ihre Fähigkeit bricht Max die physikalische und kausale Verfasstheit der Vergangen‐ heit, mithin also auch von Gegenwart und Zukunft auf. Auch die Zeitreise bzw. die Manipulation der Zeit ist ein temporales, lokales und objektionales Motiv, weil sie darin sichtbar wird, dass sich Körper und Objekte innerhalb des dargestellten Raums rückwärts in Bewegung setzen. Als Max das erste Mal die Zeit manipuliert reißt sie vor Schreck vor dem Schuss die Hand als Geste des Eingriffs und der Selbstermächtigung hoch. Pointiert zeigt die Spielgrafik dabei, wie Chloe, Nathan und die fallende Schusswaffe zunächst langsamer werden, dann einfrieren und sich wieder zurückbewegen, wodurch die Motive der Fotografie und der besonderen Kräfte der Protagonistin zusammenkommen: Beide sind Formen der Selbstsowie Fremdkontrolle und beide sind Mittel zur Manipulation der Zeit. Die bisher benannten Motive münden in einem immer stärker sich abzeichn‐ enden Schmetterlingseffekt, der dazu führt, dass die vielen sich aus dieser Ini‐ tialszene ergebenden Konsequenzen sich weiter und weiter ausdifferenzieren - bis die Lage dermaßen unübersichtlich ist, dass Max die Zeit immer wieder manipulieren muss, um einen halbwegs zufriedenstellenden, sprich positiven Ausgang der Handlung gewährleisten zu können. Dies mündet in der bereits benannten Schlusssequenz, in der Max den heraufziehenden Sturm entweder verhindern oder zulassen muss. Da der Sturm selbst Motiv des Schmetterlings‐ effekts ist und dabei maßgeblich für die zahlreichen unüberschaubaren kausalen Verästelungen der Konsequenzen des Handelns steht (vgl. Unterhuber 2016: 340), kann er nur aufgelöst werden, indem Max ihre erste Entscheidung, nämlich Chloe zu retten, revidiert. In der anderen Variante akzeptiert sie ihren Eingriff in den natürlichen Ablauf der Zeit und trägt deren Konsequenzen, sodass Chloe 117 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen überlebt, die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt aber sterben. Die im Spiel zunehmende Kausalität der Ereignisse bleibt somit motivisch ambivalent: In dem Maße, in dem sie Konsequenzen festschreibt, erlaubt sie neue Entscheidungen. Das Wechselspiel von Freiheit und Gefangenschaft, von Selbst‐ entfaltung und Fremdbestimmung wird im Spiel als Regel verstanden, immerhin hat das Wort Selbstentfaltung ohne ein eingreifendes Außen keine eigentliche Bedeutung, schon, weil es schwierig ist, das Selbst ohne Umgebungsfaktoren zu ermitteln. Alle bisherigen Motive, die im Laufe der Handlung variantenreich verbalisiert und von den Figuren zur Disposition gestellt werden, somit also auch per se thematischen Charakter haben, werden von zwei Motiven flankiert, die nur implizit Gegenstand der Reflexion über die Handlung sind. Zunächst einmal müssen hierbei die auf der narrativen und spielerischen Ebene situ‐ ierten Entscheidungen bedacht werden, die im Laufe des Spiels selbst zu Motiven werden und die übrigen Motive miteinander ins Spiel bringen. Sie sind Ausdruck der Selbstentfaltung, der Fremdbestimmung, des Wunsches nach Veränderung wie auch des Festhaltens an der Vergangenheit. Immerhin ist die Entscheidung, Chloe zu retten, gleichermaßen ein selbstbestimmter Eingriff in die Kausalität und zugleich der Wunsch danach, die Vergangenheit in Form der Kindheitsfreundin Chloe zu erhalten. Neben solcher Effekte auf der Ebene der histoire, durch die sich der Plot in verschiedenen Varianten permanent verändert, verschiebt oder neu nuanciert, bilden die Entscheidungen insbesondere im Zusammenspiel mit der Zeitreise einen Querschnitt durch alle Strukturebenen des Spiels. Die Zeitmanipulationen und Entscheidungen sind somit simulativ, ludisch, narrativ wie auch rezeptiv verfasst. Dabei sind die Ebenen so eng miteinander verbunden, dass es schwierig wird, sie überhaupt voneinander zu scheiden. Beispielhaft sei hier die Schusswaffe genannt, die als simuliert-physikalisches Objekt die Körper in Bewegung versetzt, indem diese getroffen zu Boden stürzen, dadurch motivational die Zeitreise auslöst und sie objektional ausdrückt, wenn sie im Fallen innehält und sich rückwärts durch den Raum bewegt. Daran angeschlossen ist zudem ein zweites Motiv, das stärker mit dem Genre der Zeitreisegeschichten verbunden ist, zugleich im Plot aber nur indirekt verhandelt wird: Bei diesem Motiv handelt es sich um das Zusammenspiel und den Bruch von physikalischen und narrativen Grundprinzipien der Zeitreise. Einerseits vollzieht sich im Spiel etwas, das beispielsweise Wells nur verspre‐ chen kann, nämlich die Zeitreise als ein physikalisches Phänomen zu verstehen. In seiner Erzählung rechtfertigt er die Zeitreise zwar wissenschaftlich, letztlich benennt er aber lediglich klassische Techniken des Erzählens als Zeitreisen. 118 Markus Engelns Damit ist die Zeitreise ein genuin kulturelles Phänomen. In Life is Strange hingegen wird die Zeit als simulativ-physikalischer Gegenstand etabliert, Max beherrscht mit ihren Kräften in erster Linie den Fluss der Zeit und nur in zweiter Instanz das, was innerhalb der Zeit zwischenmenschlich passiert - streng genommen entgleiten ihr das Zwischenmenschliche wie auch ihre eigene Geschichte zusehends. Time Machine erzählt das Motiv somit auch als eine narrative Erhebung des Menschen über die Physik und die Erzählung, indem sie sie als Leistungen des Menschen beherrschbar macht. Erst später zieht die Novelle diese Leistungen im Angesicht des Endes der Zeit in Zweifel. Dennoch bleibt das Erzählen der Zeitreise ein Prozess der Kulturalisierung oder eben Nar‐ rativierung der Natur. Das Erzählen selbst macht die Physik beherrschbar. Life is Strange hingegen trennt aufgrund seiner technischen Verfasstheit zunächst recht stark zwischen der physikalischen und der narrativen Dimension der Zeitreise. Physikalisch ist die Zeitreise eine spezifische Art, Körper und Objekte zu bewegen. Narrativ gesehen ist die Zeitreise Gegenstand des Schmetterlings‐ effekts, der die Erzählung in unzähligen Kausalitäten aufsplittet. Bei Wells bleibt der Zeitreisende trotz des erdrückenden physikalischen Endes der Erde Herr über seine Geschichte, sodass er ein weiteres und letztes Mal in der Zeit verschwindet und dabei wieder dem Prinzip der physikalischen Herrschaft über die Zeit frönt. Selbst wenn er hier auch seiner eigenen entglittenen Erzählung entflieht - seine Zuhörer in der Binnenhandlung glauben ihm nicht wirklich und die Ereignisse in der Zukunft haben sich nicht zum Positiven gewendet - bleibt ihm die Möglichkeit der Zeitreise erhalten. Er glaubt fest daran, die Zeit weiterhin verändern zu können. Max hingegen kann sich letztlich nur für den Verzicht auf ihre Kräfte entscheiden, um sich somit dem Lauf der Handlung hinzugeben. Rettet sie Chloe, so unterlässt sie den Eingriff in die Zeit zwecks Rettung der Stadt. Lässt sie Chloe sterben, so verzichtet sie im Grunde gänzlich darauf, ihre Kräfte einzusetzen. Überraschenderweise resultiert daraus aber keine Entpolitisierung. So könnte man vermuten, dass Max hier bewusst auf ihre sozialen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten verzichtet, sie also im Erwachsenwerden lernt, dass es besser ist, sprichwörtlich ‚die Klappe zu halten‘. Dem ist aber nicht so, weil die Entscheidung von Max und auch den Spielenden letztlich aus einer moralischen, politischen und sozialen Positionierung heraus entsteht. Ihr Verzicht ist in diesem Fall genau die Entscheidung und der Eingriff in das Gefüge, der alles ändert, selbst wenn die Zeit so weiterverlaufen sollte, wie es ohne sie passiert wäre. Angesichts der Überbetonung interaktiver Elemente in digitalen Spielen ist diese Erkenntnis durchaus folgenschwer, weil die selbstwirksame, sich geradezu über den Spielprozess und die Handlung 119 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen ermächtigende Position der Spielerinnen und Spieler, die ja wie in Back to the Future einen Vorteil für die Protagonistin verspricht, aufgegeben wird. Man könnte nun einwenden, dass solcherlei Erzählungen in Bezug auf Zeit‐ reisen gar nicht so selten sind. Immer wieder gibt es Beispiele, an deren Ende die mehr oder weniger bewusste Entscheidung gegen einen Eingriff in die Zeitlinie steht. Solche Umsetzungen basieren meist auf dem Großvaterparadoxon, bei dem es darum geht, dass die Ermordung des eigenen Großvaters vor der eigenen Geburt zur Zerstörung der eigenen Existenz führen müsse. Tatsächlich wendet Life is Strange das Motiv der Zeitreise genau in diese Richtung. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass digitale Spiele medienpsychologisch betrachtet ver‐ suchen, „positive Selbstwirksamkeit“ (Hartmann et al. 2009: 168) herzustellen, die hier in der permanenten Rekonfiguration der histoire mit Mitteln des discours ermöglicht wird. Interaktionen, Einflussnahmen und Steuerungsopti‐ onen sind dabei in der Regel vorteilhaft, befriedigend und sie werden belohnt. Digitale Spiele sind demnach ganz wunderbar dazu geeignet, Einflussnahmen zu erzählen. Das vorliegende Beispiel unternimmt demgegenüber eher einen ungehörigen Schritt. Es erzählt die Zeitreise als Motiv dieser Selbstwirksamkeit, die anschließend kritisch hinterfragt und negativ gewendet wird. Die mal mehr, mal weniger deutlich verhandelten Motive nahezu aller digitalen Spiele, die sich um Kontrolle, Einfluss oder Herrschaft drehen, werden so in einen reflektierbaren Kontext gestellt, sodass das vorliegende Beispiel letztlich dazu anregt, die so forcierten Motive genauer zu hinterfragen. Ausblick In digitalen Spielen zeigt sich das Motiv der Zeitreise tatsächlich als ein Bindeglied von ‚Phänomenen des Menschengeistes‘ - und zwar gleich in dreifacher Hinsicht: Zunächst einmal verbindet und strukturiert es Teilelemente der histoire in immer größer werdenden Zusammenhängen, die sich als Motiv‐ konstellationen von der Manipulation der Zeit ausgehend über Fragen der Kontrolle und der Selbstermächtigung bis hin zur Gestaltung narrativer und physikalischer Motive erstrecken. Als narratives Prinzip kombiniert das Motiv der Zeitreise aber eben auch histoire und discours in dem Sinne, das es über Pro- und Analepsen die Gegenwart erzählt und gestaltet. Zu den Phänomenen des Menschengeistes gehören zuletzt aber auch die Simulation als digitales ‚Was-wäre-wenn-Konstrukt‘, das Spiel und die Erzählung als Grundkonstanten der menschlichen Kulturen, die ebenfalls wieder Motive sein können (s. Schmer‐ heim in diesem Band, S. 89-106). Insofern zeigt Life is Strange, dass es sein Hauptmotiv als Querverstrebung all dieser sehr unterschiedlichen medialen 120 Markus Engelns und kulturellen Bereiche einzusetzen weiß. Dabei helfen die besonderen Mög‐ lichkeiten digitaler Spiele, bei denen die Rezipierenden über Interaktions- und Entscheidungsstrukturen Handlungsverläufe und Spielprozesse selbst ausge‐ stalten dürfen. Sprich: Die tatsächlichen Querschnitte stellen die Spielenden her, mindestens, um den Anforderungen des Spiels nachkommen zu können. Indem nämlich die Manipulation der Zeit, mithin also auch die daraus resultier‐ enden Entscheidungsmöglichkeiten gleichermaßen zu den Spielregeln und zum Erzählprozess gehören und die Spielerinnen und Spieler diese nutzen müssen, um im Spielverlauf voranzuschreiten, sind letztlich sie es, die all die bisher skizzierten Ebenen in Bewegung versetzen und auch aufeinander beziehen. Hinsichtlich der philologisch geprägten Teilbereiche der game studies bedeutet dies, dass der Begriff des Motivs, überall dort, wo er anwendbar ist, ein guter Ausgangspunkt ist, um herausarbeiten zu können, wie digitale Spiele ihre höchst unterschiedlichen Strukturebenen miteinander kombinieren. Mit Bezug auf die transmediale Motivik, wie sie in diesem Band entwickelt wird, fokussieren sie zudem die Rolle der Spielenden als Rezipierende, denen es obliegt, die Motive zu verlebendigen und ihre syntagmatischen und hinsichtlich dieses Beispiels auch paradigmatischen Bezüge zu konkretisieren. Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Back to the Future (1985). Regie: Robert Zemeckis. (DVD) Primärliteratur Wells, H. G. (1895). Time Machine. London: Heinemann. Ludografie Life is Strange (2015). Entwickler: Dontnod Entertainment. Sekundärliteratur Backe, Hans-Joachim (2008). Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computer‐ spiel. Eine typologische Einführung. Würzburg. Beck, Philippe (2014). Weltenretter in Vergangenheit und Zukunft. Captain Futures „didaktische“ Zeitreisen. In: Planka, Sabine (Hrsg.) Die Zeitreise. Ein Motiv in Literatur und Film für Kinder und Jugendliche. Würzburg, S. 243-265. Chatman, Seymour (1978). Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca. 121 Das Motiv der Zeitreise in digitalen Spielen Engelns, Markus (2014). Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg. Eskelinen, Markku (2001). The Gaming Situation. Abrufbar unter: http: / / www.gamestu dies.org/ 0101/ eskelinen/ (Stand: 15 / 01 / 2021). Genette, Gérard (1998). Die Erzählung. 2. Aufl. München. Hartmann, Tilo / Vorderer, Peter / Klimmt, Christoph (2009). Medienpsychologische Er‐ forschung von Computerspielen. Ein Überblick und eine Vertiefung am Beispiel von Ego-Shootern. In: Bopp, Matthias / Wiemer, Serjoscha / Nohr, Rolf F. (Hrsg.) Shooter. Eine multidisziplinäre Einführung. Münster, 155-182. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (2019). Das Modell der transmedialen Motivanalyse am Beispiel der Animationsfilme Spirited Away und Beauty and the Beast. kjl&m 71.3, 41-49. Murray, Janet H. (1998). Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge, Mass. Ryan, Marie-Laure (2001). Beyond Myth and Metaphor. The Case of Narrative in Digital Media. Abrufbar unter: http: / / gamestudies.org/ 0101/ ryan/ (Stand: 15 / 01 / 2021). Ryan, Marie-Laure (2006). Avatars of Story. Electronic mediations 17. Minneapolis. Schmerheim, Philipp (2022). Spielerzählungen. Spiel als Wahrnehmungsmodus und Motiv, oder: Transmediale Perspektiven auf das Spiel-Motiv in Erzähltexten für Kinder und Jugendliche. In: Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 89-106. Unterhuber, Tobias (2016): “If only I could turn back time” Coming of Age, Nostalgie und die Macht der Medien in Life Is Strange. In: Redaktion PAIDIA (Hrsg.) „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt, 335-353. Zumbansen, Lars (2008). Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierungen in phantastischen Bildschirmspielen. München. 122 Markus Engelns Literarisches ‚Universalmotiv‘? Das Buchmotiv in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel von Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) und Cornelia Funkes Tintenherz (2003) Thomas Boyken Abstract: In fiktionalen Texten der Erwachsenensowie der Kinder- und Jugendliteratur ist das Buch ein häufig verwendetes Motiv, wobei sich dessen Funktionalisierung im Laufe der Zeit verändert hat. In Folge der zunehmenden Digitalisierung ist mit dem Buchmotiv ein Selbstbehauptungs‐ gestus verbunden, der sich insbesondere gegen die Neuen Medien richtet. Der folgende Artikel verdeutlicht die Funktionspotenziale des Buchmotivs anhand der Analyse zweier phantastischer jugendliterarischer Werke. Krise und Selbstvergewisserung In Büchern wird gelesen. Was soll man sonst auch mit ihnen tun? Natürlich können Bücher auch zweckentfremdet werden und beispielsweise als Unterlage für die Kaffeetasse dienen. Sie können in ausreichender Menge auch als wacke‐ liger Leiterersatz fungieren. In der Regel sind sie aber ein Speichermedium faktualer und fiktionaler Texte. In Büchern muss also gelesen werden, will man informiert oder unterhalten werden. Dass in fiktionalen Texten immer wieder Bücher gelesen werden - dass also in Büchern Bücher gelesen werden, ist wenig verwunderlich. Schließlich ist die Buchlektüre ein Realismuseffekt, um die fiktive Welt an die empirische Wirk‐ lichkeit anzunähern (vgl. Japp 1975: 658 ff.). So finden sich in der Literatur immer wieder Lese-Szenen: Werther liest zunächst Homers Odyssee, um sich dann den Texten Ossians hinzugeben. Und in seinem Sterbezimmer liegt bekanntlich Emilia Galotti (1772) „auf dem Pulte aufgeschlagen“ (Goethe 1996: 124). All diese 1 Vgl. zum Lesen in kulturgeschichtlicher Perspektive Cavallo & Chartier 2003. Zum Begriff ‚Lese-Szene‘ vgl. den Sammelband von Hron et al. 2020. Texte werden im Buch Die Leiden des jungen Werthers (1774 / 1787) als Bücher - teilweise sogar in unterschiedlichen Druckformaten - gelesen. Insofern ist Jürgen Nelles zuzustimmen, wenn er zu Beginn seiner Habilitationsschrift konstatiert, dass „in beinahe jedem Buch gleich mehrere andere Bücher beim Namen beziehungsweise Titel genannt werden“ (Nelles 2002: 13). Das Buch ist ein oft eingesetztes Motiv fiktionaler Texte. Allerdings lässt sich im 18. Jahrhundert ein quantitativer und qualitativer Umschwung feststellen. Während in der Frühaufklärung vor allem ein Buch, nämlich die Bibel, als Erbauungs- und Trostlektüre Erwähnung findet, weitet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die binnenfiktionale Buchlektüre aus. Dabei spielt die Bibel eine immer geringere Rolle, während säkulare Bücher zunehmend thematisiert werden. Dies korrespondiert mit dem Wechsel der intensiven Einzellektüre zur extensiven Massenlektüre, der sich ebenfalls im 18. Jahrhundert vollzieht. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung schließlich in der romantischen Poetik, wo das Buch zur ‚Universalmetapher‘ wird (vgl. Schlegel 1967: 265). Dass insbesondere der Roman seit dem 18. Jahrhundert immer wieder von Lese-Szenen erzählt und sie für die Erzählung funktionalisiert, hat vor allem zwei Gründe. 1 Zum einen ist der Roman ein zentrales Organ des sich konstituie‐ renden Bürgertums, um sich als souveräne soziale Schicht zu verständigen. Zum anderen verläuft die Etablierung des Romans als eigenständige Textsorte pa‐ rallel zur Ausdifferenzierung und Professionalisierung des literarischen Feldes. Dass im ausgehenden 18. Jahrhundert in Romanen immer wieder Bücher er‐ wähnt werden, hat ferner mit der sich etablierenden Kunstautonomie zu tun, deren mediale Ausdrucksform eben das Buch ist. Einerseits geben Texte einen sozialhistorisch aufschlussreichen Einblick in die gängigen Lektüren der jewei‐ ligen Entstehungszeit. Andererseits wird das Buch ästhetisch und erzählerisch funktionalisiert. So korrespondiert der ‚Buchwechsel‘ in den Leiden des jungen Werthers mit einem Stimmungswechsel des Protagonisten. Werther bezieht die von ihm gelesenen Bücher immer wieder auf seine eigene Situation. Gleichzeitig besitzt sein identifikatorisches Lesen eine kompositorische Funktion. Dass Werthers letzte Lektüre vor seinem Suizid Emilia Galotti ist, ist nicht zufällig, sondern Teil der Verweisstruktur des Romans, die das tragische Ende immer wieder andeutet (vgl. Marx 1995: 139 ff.). In Büchern werden also Bücher gelesen (vgl. Wuthenow 1980, Wolpers 1986a). Interessanterweise lässt sich insbesondere in der neueren Kinder- und Jugendliteratur eine Forcierung dieser Buch-Lese-Szenen konstatieren. 124 Thomas Boyken Ausgehend von Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003-2007) stellt Caroline Roeder fest, dass das Buchmotiv in der Kinder- und Jugendliteratur mittlerweile „in fast schon inflationärem Umfang“ (Roeder 2005: 8) eingesetzt werde. Mög‐ licherweise ist Roeders Einschätzung ein wenig zu spezifizieren. Denn vor allem in der phantastischen Literatur wird das Buchmotiv eingesetzt. Neben der Tintenwelt-Trilogie wäre natürlich zunächst an Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) zu denken. Aber auch für Walter Moers’ Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (1999), Ensel und Krete (2000), Die Stadt der Träumenden Bücher (2004), Das Labyrinth der Träumenden Bücher (2011) oder Der Bücher‐ drache (2019) ist das Buchmotiv zentral. Lässt sich vortrefflich streiten, ob die Zamonien-Romane von Moers zur Kinder- und Jugendliteratur oder zur Erwachsenenliteratur zu rechnen sind, dürfte sich der Unterhaltungsthriller Das Buch (2003) von Wolfgang und Heike Hohlbein vornehmlich an erwachsene Leserinnen und Leser richten. Gleiches gilt auch für Kai Meyers Trilogie Die Seiten der Welt (2014-2016) oder seine Romane Die Spur der Bücher (2017) und Der Pakt der Bücher (2018). Diese unvollständige Liste an neueren Romanen, die das Buchmotiv handlungsleitend einsetzen, illustriert, dass es sich nicht nur um ein Phänomen der Kinder- und Jugendliteratur handelt, sondern vielmehr um eine allgemeine Tendenz insbesondere der phantastischen Literatur. Es steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion, warum es seit einigen Jahren zu dieser Konjunktur des Buchmotivs kommt. Freilich findet sich schon in Dantes La Divina Commedia (ca. 1321) und auch in Miguel de Cervantes Saavedras El ingenioso hidalgo don Quixote de la Mancha (1605 / 1615) das Buch im Buch (vgl. Bayer-Schur 2011: 38, 83 f.). Auffällig ist jedoch, dass das Buchmotiv in den neueren Romanen anders funktionalisiert wird: Bis hinein ins 20. Jahrhundert fungiert das im Roman gelesene Buch noch als Modell für den binnenfiktionalen Leser, um bestimmte Rollen- und Handlungsmuster zu imitieren. Dies kann komisch-anachronistisch ausfallen, wie im Don Quixote, oder tragisch, wie in den Leiden des jungen Werthers oder in Madame Bovary (1857) (vgl. Wolpers 1986b: 7 ff.). Die Konjunktur des Buchmotivs in der neueren (phantastischen) Literatur scheint mir aber ein Reflex auf die sich vollziehende Digitalisierung der (westlichen) Gesellschaft zu sein. Schließlich ist mit der Thematisierung des Buches oftmals ein nostalgischer Gestus verbunden, der sich insbesondere gegen die sogenannten Neuen Medien wendet und diese qualitativ gegen das Buchmedium abwertet. Ist das Buchmotiv in der Gegenwartsliteratur also Ausdruck eines medialen Krisenbewusstseins? Schließlich hat das Buch den Status eines Leitmediums - sowohl mit Blick auf die Unterhaltung als auch auf die Informationsvermittlung - verloren und muss sich in Konkurrenz zu anderen Medien positionieren. Dies führt mutmaßlich zu einem Akt der Selbst‐ 125 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? 2 Einen Eintrag ‚Buch‘ gibt es weder in Frenzels Nachschlagewerk noch bei Horst S. und Ingrid G. Daemmrich (vgl. Frenzel 2008 und Daemmrich & Daemmrich 1995). Auch in englischsprachigen Nachschlagewerken ist das ‚Buchmotiv‘ eine Leerstelle (vgl. McClinton-Temple 2010). vergewisserung und Selbstbehauptung. Romane, die das Buch thematisieren, entwerfen daher ein positives Bild des Buchmediums. Das Buch als Motiv Ob die Ubiquität des Buches Schuld daran trägt, dass es keinen Eintrag im einschlägigen Nachschlagewerk Motive der Weltliteratur von Elisabeth Frenzel gibt, muss spekulativ bleiben. 2 Dieser Leerstelle in motivgeschichtlichen Über‐ blickswerken stehen zahlreiche Einzelstudien gegenüber, weswegen Gerhard Sauder bereits 2004 in einer Sammelrezension feststellt: „Allem Anschein nach ist das Sujet der ‚Bücher in den Büchern‘ inzwischen weitgehend untersucht. Neue Entdeckungen […] dürften kaum noch zu erwarten sein.“ (Sauder 2004: 266) Wenn man sich allerdings die Studien seit den 1970er Jahren anschaut, fällt auf, dass sie keine einheitliche Definition des Buchmotivs anlegen. Was ist also das ‚Buch im Buch‘? In Anschluss an Christine Lubkoll verstehe ich unter Motiv die „kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen“ (Lubkoll 2013: 542). Ein literarisches Motiv ist eine „inhaltliche Schaltstelle“ (ebd.), auf deren Basis der Text gedeutet werden kann. Dabei muss das Buchmotiv zunächst von verwandten Motiven abgegrenzt werden. Zwar sind Lese-Szenen häufig ans Buch geknüpft, aber nicht jeder intradiegetische Lektü‐ reakt beschreibt das Lesen eines Buches; es können auch Manuskripte, Briefe, Notizen, Einkaufslisten, Emails oder WhatsApp-Nachrichten gelesen werden. Außerdem muss nicht jedes Buch, das in einer Erzählung thematisiert wird, gelesen werden. So gibt es in Moers’ Die Stadt der Träumenden Bücher auch ‚lebende Bücher‘, in denen man gar nicht lesen kann, weil es sich um Lebewesen handelt (vgl. Moers 2004: 329). Wenn Bücher in Texten erwähnt werden, kann man ferner unterscheiden, ob es sich um reale oder fiktive Bücher handelt (vgl. Kurwinkel 2017: 51). Die ‚lebenden Bücher‘ bei Moers sind natürlich fiktive Bücher. Insbesondere ältere Studien fokussieren die Erwähnung realer Bücher. Dies liegt mutmaßlich daran, dass dieses Phänomen einen Ausgangspunkt für die Analyse intertextueller Bezüge bildet. Der Begriff ‚Intertextualität‘ fällt in diesen Studien nicht, weil die Intertextualitätstheorie in den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum noch nicht weit verbreitet war - den Begriff hat Julia Kristeva 1967 eingeführt (vgl. 126 Thomas Boyken 3 Zur Bibliothek vgl. Stocker 1997 und Rieger 2002 und auch der kenntnisreiche Überblick von Rost 1981. 4 Die spezifische Buchförmigkeit (Buchhaftigkeit) von narrativen Texten lasse ich eben‐ falls außen vor, sofern sie nicht an das Buchmotiv im engeren Sinne gekoppelt ist. Zur Buchhaftigkeit des Romans vgl. Boyken 2020. 5 Roeder spricht in diesem Kontext vom „Buchschleusentrick“ (Roeder 2005: 8). Goebel 1972: 34 ff. oder Japp 1975: 651 ff.). In gewisser Weise ist die Untersuchung des Buchmotivs in älteren Studien eng verbunden mit dem Intertextualitätspa‐ radigma, was ebenso für neuere Studien gilt (vgl. Heber 2010, Siebeck 2009, Conrad 2011: 281 ff.). Während die Erwähnung und Thematisierung realer Bü‐ cher heutzutage wohl eher unter Aspekten der Intertextualität verhandelt wird, führt das fiktive Buch oftmals zur Herstellung metaleptischer oder paradoxaler Erzählsituationen (vgl. Klimek 2010). Für die Analyse der Funktionspotenziale fiktiver Bücher wird daher auf literaturtheoretische Ansätze zurückgegriffen, die sich mit Metaisierungsphänomenen oder Aspekten der Metafiktionalität befassen. Das Buchmotiv eröffnet insofern ein doppeltes literaturtheoretisches Analysefeld, da es zwischen Aspekten der Intertextualität und Metafiktionalität changiert. Um die Besonderheiten des Buchmotiv präziser zu beschreiben, möchte ich im Folgenden auf das von Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi vorgeschlagene Modell der Motivanalyse zurückgreifen. Zunächst wäre für das Buchmotiv zwischen einer textuellen und einer paratextuellen Ebene zu unterscheiden. Auf textueller Ebene kann das Buch als Gegenstand der erzählten Handlung fungieren (histoire). Es kann aber ebenso als Leitmotiv die Erzählung struktu‐ rieren (discours). Auf paratextueller Ebene können hingegen Zitate aus Büchern ein Verweisspektrum eröffnen, wobei die Grenze zur Intertextualität wiederum fließend ist. Ich möchte von einem engeren Verständnis des Buchmotivs ausgehen und dabei das Buch von ihm verwandten Motiven, wie beispielsweise der Bibliothek, unterscheiden. 3 Vom Buchmotiv spreche ich, wenn das Buch als Gegenstand der fiktiven Welt erwähnt wird. 4 Dies kann sich sowohl auf reale als auch auf fiktive Bücher beziehen. Das Buch ist zunächst ein Gegenstand innerhalb der fiktiven Welt. Insofern ist es, um mit Kurwinkel und Jakobi zu sprechen, ein ‚objektionales Motiv‘, das innerhalb einer Erzählung unterschiedliche Funkti‐ onen einnehmen kann (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 19). Das Buch fungiert in der phantastischen Literatur allerdings oftmals als Schwelle, da es zwischen einer Primär- und einer Sekundärwelt vermittelt. Insofern kann es „Zustände, Verhältnisse, Eigenschaften individueller oder kollektiver Art“ verändern, womit es zu einem ‚situationalen Motiv‘ wird (ebd.). 5 Und wenn 127 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? man an die ‚lebenden Bücher‘ aus der Stadt der Träumenden Bücher denkt, dann avanciert das Buch sogar zum ‚figuralen Motiv‘. Es deutet sich bereits an, dass in der hilfreichen Typologie literarischer Motive von Kurwinkel und Jakobi das Buchmotiv offensichtlich unterschiedliche Positionen einnehmen kann. Dies liegt meines Erachtens an der besonderen Relevanz des Buchmotivs mit Blick auf die gedruckte Literatur. Zwar ist es transmedial funktionalisierbar, allerdings gewinnt das Buchmotiv in einem gedruckten Text stets eine metareferentielle Funktion, da es auf die Beschaffenheit des Trägermediums verweist (vgl. Wolf 2009: 1 ff.). Deutlich wird dies, wenn man die Gegenprobe macht: Das Buch ‚Die unendliche Geschichte‘, das Bastian Balthasar Bux liest, besitzt im Buch Die unendliche Geschichte, das 1979 von Ende im Thienemann-Verlag veröffentlicht wurde, eine andere Qualität als in der Verfilmung Die unendliche Geschichte von Wolfgang Petersen (1984). Nur im Buch Die unendliche Geschichte kommt es zu einer vertikalen Metalepse, die das fiktive Buch mit dem empirischen Buch überblendet und damit auch die Lesenden in den Status des Protagonisten setzt, da die medial-materiale Beschaffenheit analog ist. Insofern führt das Buchmotiv - womöglich stärker als andere Motive - zu einer Verschränkung von medialer, materieller und paratextueller Dimension (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21). Im Folgenden werde ich das Buchmotiv und seine Funktionalisierung in zwei jugendliterarischen Texten genauer analysieren. Endes Die unendliche Geschichte kann sicherlich als eine Art ‚Prototyp‘ des Buches über Bücher in der neueren phantastischen Literatur angesehen werden. In Endes Roman wird das Buchmotiv vor allem metareferentiell funktionalisiert. Folglich werde ich das fiktive Buch als Ausgangspunkt des metaleptischen Erzählens fokussieren. Danach rücke ich das Buchmotiv in Funkes Tintenherz ins Zentrum, wobei ich die Bedeutung des fiktiven Buches in Funkes Roman nur am Rande erwähne. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Bedeutung der realen Bücher, die sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours eine große Rolle spielen. Auf der diskursiven Ebene wird das Buchmotiv in Endes Roman eng in den Akt des Erzählens eingebunden, während Funke das Büchernetzwerk, das sie über Zitate, Titelallusionen und Mottos generiert, vornehmlich nutzt, um den eigenen Text als ‚Literaturklassiker‘ zu positionieren. Beide Texte sind freilich wichtige Referenztexte für das Buchmotiv. So erkennt die Protagonistin in Markus Walthers Roman Buchland (2013) bereits zu Beginn des Romans, dass sich im Antiquariat ihres Arbeitgebers, der der Ich-Erzähler dieser Geschichte ist, seltsame Dinge abspielen. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Fiktion und intradiegetischer Realität, was die Protagonistin zunächst irritiert: 128 Thomas Boyken 6 Hierbei handelt es sich selbstverständlich um eine Form paradoxalen Erzählens: In der Diegese wird das Buch, das Beatrice schreiben wird, mit der ISBN 978-3-86 282-186-0 angegeben. Das ist aber die ISBN von Walthers Buchland (vgl. Walther 2014: 157). Es liegt ein diegetischer Ebenensprung vor, der nicht nur die Logik verletzt, sondern auch die binnenfiktionale mit der außerfiktionalen Wirklichkeit verschränkt. Zum paradoxalen Erzählen vgl. Klimek 2010: 72. 7 Verbunden ist damit eine Ich-Findung in der Folge romantischer Vorstellungen (vgl. Solte-Gresser 2016: 45 ff.). Bea schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen, dass wir in die Bücher hineingehen können? “ Ich lachte. „Verdammt, nein! Sehe ich aus wie Cornelia Funke? “ „Ich dachte mehr an Karl Konrad Koreander“, gab Beatrice zu. […] „Nein. Ich hätte zwar gerne eine tragende Rolle in einer Geschichte von Michael Ende gespielt, doch ich bin nur der Protagonist einer viel unbedeutenderen Story.“ (Walther 2014: 39) Walthers Roman operiert an einigen Stellen mit solch ironisch-intertextuellen Bezügen, die metareferentiell auf die Gemachtheit des Textes verweisen und gleichzeitig intertextuelle Bezüge eröffnen. Das Leitmotiv sowohl für die inter‐ textuellen als auch für metareferentiellen Verweise ist das objektionale Motiv ‚Buch‘. Allerdings wird am Ende des Romans deutlich, dass es sich um eine mise en abyme handelt, da das Buch, das Beatrice am Ende der Erzählung schreibt, das Buch ist, das nun der empirische Leser in Händen hält. 6 Schriftliches Erzählen im Medium Buch (Ende: Die unendliche Geschichte) Dass der Roman Die unendliche Geschichte zunächst über den Fund und das Lesen eines Buches, das ebenfalls den Namen ‚Die unendliche Geschichte‘ trägt, handelt, belegt bereits die zentrale Stellung, die das Buchmotiv hier einnimmt. Bastian Balthasar Bux ist passionierter Leser, wobei er Texte vorzieht, die eine immersive Lektüre ermöglichen; insbesondere Abenteuerromane, Ritter-, Helden- und Fantasygeschichten faszinieren ihn. Das Lesen ist für Bastian eine Möglichkeit, um aus der Wirklichkeit zu entfliehen. Dieser Vielleser und gesell‐ schaftliche Außenseiter findet im Antiquariat von Karl Konrad Koreander eben jenes (fiktive) Buch, das im Folgenden einen konkret-körperlichen Übergang nach Phantásien ermöglicht. 7 Dass Endes Roman in zwei unterschiedlichen Schriftfarben gesetzt ist, die jeweils die Erzählebene markieren, ist bekannt. Diese typographische Technik, die nicht auf Ende, sondern auf die Illustratorin Roswitha Quadflieg zurückgeht, 129 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? 8 Hier jedoch von „einer Sonderform des Abc-Buches“ zu sprechen, ist eine steile These (vgl. Lexe 2016: 133). zeigt, wie sehr der Roman auch für seine Erzählung die buchmedialen Darstel‐ lungsmöglichkeiten zu nutzen versteht (vgl. Dankert 2016: 180 f.). So verweist der Untertitel auf die Möglichkeiten des buch-schriftlichen Erzählens und damit auf die materielle Dimension des Motivs: „Die unendliche Geschichte. Von A bis Z mit Buchstaben und Bildern versehen von Roswitha Quadflieg“ (Ende 1979: 3). Unter Rekurs auf die 26 Grundbuchstaben des deutschen Alphabets wird also die Geschichte erzählt. Konkret bedeutet dies, dass jedes Kapitel mit einem als Majuskel gestalteten Buchstaben beginnt, wobei sich die Kapitel chronologisch am Alphabet orientieren. 8 Ich erwähne dies an dieser Stelle, weil dieses Erzähl‐ prinzip bereits darauf hindeutet, dass Endes Roman maßgeblich schriftlich erzählt: In der gesprochenen Sprache nutzen wir keine Buchstaben, sondern Laute. Allerdings beziehen sich diese Majuskeln auf das intradiegetische Buch ‚Die unendliche Geschichte‘. Das reale Buch Die unendliche Geschichte beginnt mit einer Spiegelschrift. Hier wird die typographische Darbietung genutzt, um Dinge zu erzählen, die nicht im engeren Sinne erzählt werden. Die Spiegelschrift wird als Fokalisierungstechnik eingesetzt, um den räumlichen Standort des Lesers innerhalb der erzählten Welt zu markieren. Denn nach der Spiegelschrift heißt es: Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte. (ebd.: 5) Im Antiquariat ist Bastian von einem Buch fasziniert, das in Aufmachung und Ausstattung dem Buch Die unendliche Geschichte gleicht: Der Einband war aus kupferfarbener Seide und schimmerte, wenn er es hin und her drehte. Bei flüchtigem Durchblättern sah er, daß die Schrift in zwei verschiedenen Farben gedruckt war. Bilder schien es keine zu geben, aber wunderschöne, große Anfangsbuchstaben. Als er den Einband noch mal genauer betrachtete, entdeckte er darauf zwei Schlangen, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand in eigentümlich verschlungenen Buchstaben der Titel: Die unendliche Geschichte. (ebd.: 10) Mit der Art und Weise, wie das Buch im Buch beschrieben wird, deutet sich bereits die mise en abyme an, die zu einer Verwringung von meta- und intradiegetischer Ebene führen wird. Der Titel des Buches, das Bastian sich anschaut, wird im Text mittelaxial und in einer gebrochenen Schrifttype gesetzt. 130 Thomas Boyken 9 Was sich auf den knapp 250 Seiten des Romans abspielt, ist insofern eine Warnung vor zu starker Einbildungskraft. Denn Bastian gelingt es mit seiner letzten Erinnerung und nur unter Mithilfe von Atréju und Fuchur, den Weg in die Wirklichkeit zu finden. Zurückgekommen aus Phantásien befreit er seinen Vater aus dessen Lethargie, womit er zum Retter der phantastischen und der realen Welt wird. Im Schlussdialog zwischen Koreander und Bastian wird diese Funktion der doppelten Weltenrettung auch expliziert: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen […], und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es Wenn man erneut die materielle Dimension im Sinne von Kurwinkel und Jakobi anlegt, erinnert die Schrifttype zumindest assoziativ an mittelalterliche Kodices. Es ist allerdings dieselbe Type wie in der Titelei des realen Buches. Nur wenige Seiten später wird der Titel des fiktiven Buches erneut im Text gedruckt. Bastian hat das Buch aus dem Antiquariat entwendet und befindet sich nun auf dem Schulspeicher. Der Beginn des Leseakts wird hier farblich markiert, denn der Titel wird jetzt nicht nur mittelaxial und in einer gebrochenen Schrift‐ type gesetzt, sondern auch in grüner Schriftfarbe (vgl. ebd.: 16). Der Übergang zur intradiegetischen Lektüre wird also seitenkompositionell angezeigt und sprachlich ausgeführt. Dabei kommt es zu punktuellen Ebenensprüngen. Wenn beispielsweise Atréju von Ygramul entdeckt wird, reagiert Bastian mit einem „Schreckenslaut“ (ebd.: 70), der sich als Schrei in der metadiegetischen Ebene spiegelt. Bastian selbst bemerkt diesen ‚narrativen Kurzschluss‘ mit Unbehagen. Eine mise en abyme wird schließlich erzeugt, als die Kindliche Kaiserin den Alten vom Wandernden Berge zwingt, die Erzählung von vorne zu beginnen, um eine endlose Wiederholung der Geschehnisse zu erwirken, die nur durchbrochen werden kann, indem sich die Grenze zwischen den Erzählebenen auflöst (vgl. Klimek 2010: 54). Dies erfolgt schließlich in dem Moment, wo Bastian nach Phantásien übertritt (vgl. Ende 1979: 179 ff.). Es dürfte schlaglichtartig deutlich geworden sein, dass Endes Roman nicht nur metaleptisch erzählt, sondern vor allem eine schriftliche Erzählung in Buchform vorlegt. Die unendliche Geschichte nutzt die spezifisch medialen Ausdrucksmöglichkeiten des Buches; es wird mithilfe der Medialität des Buches erzählt. Im Zentrum stehen die Möglichkeiten des schriftlichen Erzählens im Medium Buch, wie man auch an der Argax-Episode in der Alten Kaiserstadt ausführen könnte. Insbesondere diese Episode belegt auch nachdrücklich, dass der Roman keinen Eskapismus proklamiert. Bastian muss aus dem Reich der Einbildungskraft, Phantásien, wieder zurück in die intradiegetische Wirklich‐ keit. Wer den Weg zurück nicht findet, wird wahnsinnig. Eigentlich handelt die komplette zweite Hälfte des Romans darum, wie Bastian den Weg aus Phantásien in die Wirklichkeit sucht. 9 131 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund“ (Ende 1979: 473). 10 Dies belegt Sandra Potsch, die sich mit den Vorstufen von Die unendliche Geschichte und mit Endes Schreibarbeit intensiv auseinandersetzt (vgl. Potsch 2019: 183 ff.). 11 Sonja Klimek weist darauf hin, dass am Ende der Trilogie sogar die binnenfiktionale Realität und die Tintenwelt auf ontologisch identischen Ebenen angesiedelt werden. Die Tintenwelt ist nicht in die binnenfiktionale Wirklichkeit ‚verschachtelt‘, sondern eine eigenständige Welt (vgl. Klimek 2009: 18). 12 Meggies Bruder, der in der Tintenwelt geboren wird, will am Ende des Romans allerdings die binnenfiktionale Realität bereisen, weil sie ihm spannender erscheint als die Tintenwelt. Die Fokussierung auf das Buchmedium zeigt sich bei Ende einerseits in der großen Bedeutung des Buchmotivs für Die unendliche Geschichte. Andererseits hat Ende im Arbeitsprozess stets die buchmediale Beschaffenheit seines Textes im Blick gehabt. 10 Buchnetzwerke (Funke: Tintenherz) In Funkes Tintenwelt-Trilogie ist der Rekurs auf das Buch ebenfalls struktur‐ bildend. Innerhalb der Erzählung fungieren Bücher, wenn sie von besonders begnadeten Vorlesern laut vorgetragen werden, als Schwelle zwischen der Primär- und Sekundärwelt (intradiegetische Wirklichkeit und Tintenwelt) (vgl. O’Sullivan 2009: 12, Kümmerling-Meibauer 2012: 125 ff., Kurwinkel 2014: 309). Wenn nun beispielsweise Tinker Bell aus Peter Pan ‚hinaus‘- und in die binnen‐ fiktionale Realität ‚hineingelesen‘ wird, dann wechselt für die ‚hinausgelesene‘ Figur eine Figur oder ein Gegenstand der Primärin die Sekundärwelt (vgl. Kurwinkel 2017: 53). Diese metaleptische Erzählhaltung wird potenziert, indem sich im ersten Band der Trilogie die Handlung um das fiktive Buch ‚Tintenherz‘ dreht, aus dem innerhalb der Diegese immer wieder Figuren ‚hinaus-‘ und ‚hineingelesen‘ werden. Wie bei Ende tragen auch bei Funke reales und fiktives Buch denselben Titel. Während die erzählte Handlung von Tintenherz vollständig in der binnenfik‐ tionalen Realität situiert ist, wird die Tintenwelt in den beiden Folgebänden sukzessive zum primären Handlungsort. 11 Es ist daher nur folgerichtig, dass auch Meggie und ihre Familie am Ende der Trilogie in der Tintenwelt bleiben wollen. Damit ist eine deutliche Differenz zu Endes Die unendliche Geschichte markiert, in der die Gefahren der Einbildungskraft nachdrücklich thematisiert werden. Die Ambivalenz der Fiktion, das Sich-Verlieren-Können in der eigenen Einbildungskraft ist in Funkes Tintenwelt-Trilogie kein Problem. 12 132 Thomas Boyken 13 Sehr konkret auf die Kapitelhandlung beziehen sich beispielsweise Funke 2020: 70, 109, 137, 301, 311, 514. Es gibt aber auch Mottos, die eher atmosphärisch die folgende Handlung antizipieren (vgl. ebd.: 206, 224, 374, 496). Zudem werden Zitate auch als Vorwegnahme von Gefühlen oder Gedanken von Figuren genutzt (vgl. ebd.: 434, 453). Neben dem fiktiven Buch ‚Tintenherz‘ sind zahlreiche reale Bücher in Tin‐ tenherz präsent. Funkes Tintenwelt-Romane weisen ein hohes Maß an intertex‐ tuellen Bezügen auf, die eine Art Büchernetzwerk erzeugen. Dies gilt sowohl für die Ebene der histoire als auch für die Ebene des discours. Denn zum einen wird im Roman viel über Bücher gesprochen, wobei ‚Klassiker‘ der Weltliteratur immer wieder Erwähnung finden. Gleichzeitig werden diese Bücher konkret in die Handlung integriert: So wird Farid beispielsweise aus einer Ausgabe der persischen Erzählungen Tausendundeiner Nacht herausgelesen. Ferner wird das Buchmotiv bei Funke in seiner paratextuellen Dimension funktionalisiert. Für den Erzählzusammenhang weniger relevant scheinen auf den ersten Blick die zahlreichen intertextuellen Bezüge, die über die Mottos zu Beginn der einzelnen Kapitel hergestellt werden. Tintenherz präsentiert insgesamt 44 Verweise auf unterschiedliche Bücher, die sich auf die 59 Kapitel aufteilen. Dabei werden einige Bücher, wie beispielsweise J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings (1954 / 1955), mehrfach zitiert. Auch die Auswahl der in den Mottos zitierten Texte besteht vor allem aus Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Allein über die Textauswahl stellt sich Tintenherz bereits in der Linie der zitierten Texte. Werkpolitisch gesprochen: Über die zahlreichen Verweise auf Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur positioniert sich Tintenherz in der Folge dieser Klassiker. Inhaltlich fungieren die Mottos für die jeweiligen Kapitel vor allem als thematische Hinführung. Je nach Zitat werden direkte oder weniger offensicht‐ liche Bezüge zum jeweils folgenden Kapitel hergestellt. 13 Häufig verweisen die Zitate auch auf das Medium Buch oder das Lesen (vgl. Funke 2020: 21, 151, 367, 473). Die Kenntnis der zitierten Texte ist für das Verständnis der Zitate allerdings unerheblich, da sie vor allem auf Wortebene funktionalisiert werden. Dies hat zur Folge, dass die Mottos eigentlich austauschbar und in gewisser Weise beliebig sind. Es geht ausschließlich um die Wortebene, die thematische oder motivische Stichworte für die folgende Handlung gibt. Beispielsweise leitet das Kapitel „Der erfüllte Auftrag“ mit einem Zitat aus The Chronicles of Narnia (1950-1956) ein, wobei der im Motto erwähnte Verrat von Edmund an seinen Brüdern für Tintenherz nicht relevant ist. Vielmehr geht es darum, auf Staubfingers Verrat, der in diesem Kapitel erfolgt, vorauszuweisen - das letzte Wort im Zitat lautet schließlich auch „verraten“ (Funke 2020: 137). Und auch das Motto aus Endes Die unendliche Geschichte, die das Kapitel „Heimweh“ einleitet, 133 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? 14 Das Motto des Kapitels „Heimweh“ lautet: „Und doch wusste Bastian, dass er ohne das Buch nicht weggehen konnte. Jetzt war ihm klar, dass er überhaupt nur dieses Buch wegen hierher gekommen [sic] war, es hatte ihn auf geheimnisvolle Art gerufen, weil es zu ihm wollte, weil es eigentlich schon seit immer ihm gehörte! “ (Funke 2020: 552). Auch hier geht es darum, auf Staubfingers Buchdiebstahl vorausweisen, der von gänzlich anderer Qualität für die Handlungsstruktur ist als Bastians Buchdiebstahl. Durch Auswahl und Positionierung erscheinen Bastians Gedanken als die Gedanken Staubfingers. Die unendliche Geschichte wird mit Tintenherz überlagert. ist lediglich als Stichwortgeber von Relevanz, wenngleich Endes Roman freilich auch das ‚Nach-Hause-Kommen‘ thematisiert. 14 Die Mottos werden in Tintenherz intratextuell funktionalisiert: Sie nehmen die Romanhandlung vorweg und werden so integriert, dass Funkes Roman zum Zentrum eines Buchnetzwerks kinder- und jugendbuchliterarischer Klassiker wird. Funke hat dieses Verfahren immer wieder als Leseanreiz verstanden. Dass es sich aber auch um einen Bildungsgestus handeln könnte, ist zumindest nahe‐ liegend. Problematisch ist dieses Verfahren der De- und Neukontextualisierung allerdings mit Blick auf das Motto, das zu Beginn des Romans Tintenherz steht. Der Roman wird eröffnet mit einem Zitat aus Paul Celans Gedicht Engfüh‐ rung. Das Gedicht stammt aus dem Band Sprachgitter (1959), wobei im Roman lediglich ein Auszug des Gedichts zitiert wird: „Kam, kam. / Kam ein Wort, kam, / kam durch die Nacht, / wollte leuchten, wollte leuchten. / / Asche. / Asche, Asche. / Nacht.“ (Funke 2020: 7) Überraschend ist die Wahl als übergeordnetes Motto aus zwei Gründen: Einerseits handelt es sich um ein Gedicht; die übrigen Mottos stammen allesamt aus erzählenden Texten. Andererseits wird mit Celan wohl der bekannteste Vertreter der deutschsprachigen Nachkriegslyrik aufge‐ rufen, während die übrigen Mottos vor allem kinder- und jugendliterarische Texte aus dem anglo-amerikanischen Raum zitieren. Nichtsdestotrotz eröffnen auch diese Verse einen Bezug zur Romanhandlung: Sie deuten auf Meggies Sieg über den ‚Schatten‘ voraus (vgl. ebd.: 531 ff.). Der ‚Schatten‘ besteht aus der ‚Asche‘ seiner Opfer; in der ‚Nacht‘ wird er in Capricorns Dorf mit der Macht des geschriebenen ‚Wortes‘ aus der Tintenwelt beschworen. Schließlich verschwindet er wieder in der Tintenwelt, „wie Asche, die der Wind verweht.“ (ebd.: 542) Die zentralen Begriffe dieser Episode weisen also wieder zurück auf das Eingangsmotto des Romans. Hier zeigt sich eine Strategie, die man mit Gerhard Goebel als ‚Öffnung‘ bezeichnen könnte (vgl. Goebel 1972: 34 ff.). Indem Funke ihren Roman mit einer Referenz auf einen Klassiker der Hochliteratur einleitet und sich damit in diese Traditionslinie stellt, beansprucht der Roman für sich selbst eine vergleichbare Literarizität. Die Mottos zu Beginn der Kapitel und zu Beginn des Romans dienen also primär der Nobilitierung des eigenen Werks. 134 Thomas Boyken 15 Die Operation funktioniert womöglich auch deswegen, weil die jungen Leserinnen und Leser wohl keine literaturgeschichtliche Einordnung von Celan im Allgemeinen und von diesem Gedicht im Speziellen vornehmen können. Insofern sind die Mottos aus Tintenherz doppelsinnig. Allerdings eröffnet dieser Doppelsinn, zumindest beim über‐ geordneten Motto und einigen Kapitelmottos, keine ‚tiefergehende‘ Bedeutungsschicht, weil die Verweisstruktur vor allem auf Wortebene realisiert wird. Mit Blick auf das übergeordnete Motto funktioniert diese Operation jedoch nur, wenn man Celans Gedicht dekontextualisiert und auf die Wortebene reduziert. Insofern handelt es sich bei Funkes Roman eben nicht um eine „Hommage an das Buch“ (Roeder 2005: 8). Vielmehr werden Bücher für die eigene Erzählung funktionalisiert. 15 Die Grenzen dieses Verfahrens werden an der Funktionalisierung von Celans Gedicht besonders anschaulich. Zunächst ist festzustellen, dass das Gedicht wesentlich länger ist, als es das Eingangszitat aus Tintenherz suggeriert. Aus den 171 Versen wählt Funke die Verse 49 bis 55 aus. Diese Reduktion, die im Übrigen nicht kenntlich gemacht wird, lässt bereits erahnen, dass die von Funke zitierten Verse in einem größeren Zusammenhang stehen. Tatsächlich meint Celans Gedicht dann auch andere Dinge, wenn es ‚Asche‘, ‚Nacht’ und ‚Wort‘ nennt. In Engführung ruft der aus einer jüdischen Familie stammende Dichter die traumatisierenden Erfahrungen der Shoah auf: Engführung ist ein Gedicht, das in sich nur schwer erschließenden Zusammenhängen die hohe, pathosgeladene und immer auch religiös besetzte Tradition der abendländ‐ ischen Lyrik mit der Shoah konfrontiert und mit der gegenwärtigen, apokalyptisch bedrohten Situation des Dichters in einer Welt nach der Shoah. (Auerochs 2013: 1049) Es verhandelt die Frage, wie und ob Lyrik in deutscher Sprache nach der Shoah und den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs überhaupt noch möglich ist. Mit ‚Engführung‘ bedient sich Celan eines Begriffs, der eine bestimmte Musiktechnik beschreibt: ‚Engführung‘ meint in der Musik „die kontrapunkti‐ sche Verknüpfung zweier oder mehrerer, dicht aufeinander folgender Stimmen im letzten Teil einer Fuge“ (Lehmann 2012: 74). Bei Celan geht es darum, unter‐ schiedliche Kontrapunkte gegeneinanderzusetzen. So wird beispielsweise in der Passage, aus der die in Tintenherz zitierten Verse stammen, „das Geschehen in der Gaskammer mit der Entstehung von Poesie ‚enggeführt‘“ (Auerochs 2013: 1049). Die daraus resultierende Spannung steht im Zentrum von Engfüh‐ rung. Diese historische und poetologische Dimension wird im verkürzenden Zitat vollkommen ausgeblendet. Der ursprüngliche Bedeutungshorizont des Gedichts wird ausgeschaltet, damit die Verse für die Tintenherz-Handlung funktionalisiert werden können. Celans Text ist freilich ohne Kenntnis der Kontexte nicht 135 Das Buchmotiv als literarisches ‚Universalmotiv‘? verständlich. Indem das Gedicht aber gekürzt wird, werden nicht nur die Komplexität und die Literarizität des Gedichts missachtet. Vielmehr zeigt sich das strategische Ziel dieser Buchnetzwerke, das gerade nicht auf eine ‚Engführung‘ aus ist, da zwei Stimmen nicht gleichberechtigt und spannungsvoll nebeneinanderstehen: Der Bildungsgestus läuft dabei, zumindest mit Blick auf Celans Engführung, ins Leere. Krise, Nostalgie oder ‚Wiederverzauberung der Welt‘? Meine Ausführungen zu Endes Die unendliche Geschichte und Funkes Tinten‐ herz konnten nur wenige Funktionspotenziale des Buchmotivs schlaglichtartig analysieren. Die deutlich seltenere Spielart der ‚lebenden Bücher‘ habe ich beispielsweise nicht berücksichtigt. Möglicherweise handelt es sich beim Buch tatsächlich um eine Art litera‐ risches ‚Universalmotiv‘. Auf jeden Fall ist es ein besonderes literarisches Motiv, weil es eng mit der (bis heute) gängigen medialen Präsentationsform des Romans verbunden ist. Das Buch ist kein gewöhnliches Motiv in der Literatur, weil es stets selbst- und metareferentiell auf die Literatur zurückweist. Verbindet Ende noch eine gewisse Skepsis mit dem ‚Aufgehen ins Buch‘ ist Funkes Tintenherz wohl eskapistischer. Hier ist die Buchwelt eine erstrebens‐ werte Alternative zur binnenfiktional-realen Welt. Möglicherweise hat diese Differenz mit der zunehmenden Infragestellung des Buchs als Leitmedium zu tun. So könnte man vermuten, dass in einer Phase des medialen Übergangs das Buchmotiv nostalgisch aufgeladen wird. In neueren Texten, die sich der Medienkonkurrenz ausgesetzt sehen, wird das Buch daher als machtvolles Objekt erzählt, das zu Positions-, Raum-, Situations- und Weltenwechseln führt. Dies resultiert möglicherweise daraus, dass das Buch als ‚Motiv‘ sinnbildlich für das Lesen und die Einbildungskraft der Lesenden steht. Selbst in Die unendliche Geschichte, die auch die Gefahren eines Verlierens in der ‚Buchwelt‘ thematisiert, erscheinen das Buch und das Antiquariat als zeitlich entrückte Orte. Funkes Tintenherz radikalisiert diese Nostalgie und kürzt die Ambivalenzen, die in Endes Roman noch mit dem Buchmotiv verbunden sind. Tintenherz nutzt die Bucherwähnungen hingegen, um sich selbst zu positionieren, was besonders nachdrücklich an dem übergeordneten Motto deutlich wird. In den hier untersuchten Texten schließt das Buchmotiv an die romantischen Vorstellungen eines ‚absoluten Buches‘ an, da sie eine radikale Kunstautonomie imaginieren. Die Bücher in der phantastischen Literatur sind eben nicht nur Bücher. Sie bilden vielmehr den Ausgangspunkt für eine ‚Wiederverzauberung‘ 136 Thomas Boyken 16 Diese These kann mit Blick auf Ende poetologisch erhärtet werden, da sich Ende bekanntermaßen nicht nur in die Linie der romantischen Poetik gestellt, sondern sich in zahlreichen Essays, Reden und Interviews gegen die ‚Entzauberung der Welt‘ durch die Aufklärung gewendet hat. Zum Romantikbezug vgl. Ewers 2015: 72 ff. Zu Endes anti-aufklärerischer Auffassung vgl. Kaminski 1985: 71 ff. der Welt. 16 Das Genre der Phantastik erweist sich dafür als optimaler Nährboden: Das Buch als magischer, mystischer und gefährlicher Gegenstand verbindet sich organisch mit den Genrekonventionen der phantastischen Literatur. Literaturverzeichnis Primärliteratur Ende, Michael (1979). Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemann. Funke, Cornelia (2020). Tintenherz. 15. Aufl. Hamburg: Dressler. Goethe, Johann Wolfgang von (1996). Die Leiden des jungen Werthers. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 6: Romane und Novellen. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese. 14., überarb. Aufl. München: C. H. Beck, 7-124. Moers, Walter (2004). Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. 2. Aufl. München: Piper. Schlegel, Friedrich (1967). Ideen. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 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Am Beispiel des situationalen Motivs der Verwandlung haben Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi ihr Modell der transmedialen Motivanalyse vorgestellt (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019: 41 ff.). Das figurale Motiv des Werwolfs ist kulturgeschichtlich in der Regel an den Zwang oder auch die Fähigkeit zu einer Verwandlung geknüpft, weniger zwingend, aber häufig auch an die Vollmond‐ nacht (vgl. Völker 1994: 411 ff., Schwagmeier 2013: 500 ff.). Um also Werwölfe in diversen medialen Ausformungen zu vergleichen, liegt es nahe, als Schlüssel‐ momente Gestaltungen eines solchen Zusammenwirkens von figuralem und situationalem Motiv in den Blick zu nehmen. Wo auf der Ebene der histoire etwas seine Form wandelt, darf man vermuten, dass sich dies mit den jeweiligen me‐ dialen Mitteln auch als formale Veränderung auf der discours-Ebene bemerkbar machen könnte. Inwiefern aber macht es nun einen signifikanten Unterschied für die verschiedenen „Inszenierungs- und Einflussdimensionen“ (Kurwinkel & Jakobi 2019: 44), wenn diese Verwandlungen sich zwischen Mensch und Wolf vollziehen, im Gegensatz etwa zu einer Verwandlung zwischen einem Menschen und einem ‚Biest‘ wie in Beauty and the Beast (Trousdale & Wise 1991)? Um Spezifika herauszuarbeiten, möchte ich drei Beispiele aus Kinder- und Jugendmedien einander gegenüberstellen: das Buch Kleiner Werwolf, das Hör‐ spiel Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf und den Film Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. Kleiner Werwolf Motte, ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, blickt abends in den Badezim‐ merspiegel und sieht sich einem „grässlichen, haarigen Monstergesicht“ (Funke 2002: 15) gegenüber. Bis zu diesem Moment hat sich die Veränderung motivkun‐ digen Leserinnen und Leser bereits durch verschiedene Sinneswahrnehmungen Mottes angekündigt. Motte riecht besser (mit der Nase) und er riecht schlechter (aus dem Mund), in der von ihm gefürchteten Dunkelheit kann er plötzlich klarsehen, sein Gesicht beginnt, intensiv zu jucken und fühlt sich stoppelig an. Der Text schöpft hier in der medialen Dimension der Motivgestaltung ein Potenzial der Fokussierung und Aussparung aus, das der schriftsprachlichen Li‐ teratur in besonderem Maße gegeben ist. Die Transformation nicht am Äußeren des Protagonisten zu zeigen, auch nicht in dessen sprachlichen Äußerungen zu Gehör zu bringen, sondern sie in Verbindung mit Geruchs- und Tastsinn durch ein Verfahren zu gestalten, dass annähernd einer internen Fokalisierung nahekommt, ist Medien wie Film oder Hörspiel zwar möglich, provoziert aber markante Brüche mit den darin vorherrschenden Darstellungskonventionen. Das Buch Kleiner Werwolf folgt hingegen von Beginn an konventionell und unauffällig Mottes Perspektive und so vollzieht sich auch die Transformation schleichender, als es im Film etwa der Einsatz einer ‚subjektiven Kamera‘ sig‐ nalisieren würde. Einige seiner Veränderungen können Motte noch als vereinbar mit Alltagserfahrungen erscheinen (der intensive Geruch des Käses), andere mit einem Pubertätsschub (die Bartstoppeln), wieder andere immerhin noch naturwissenschaftlich erklärbar als Symptome einer Tollwutinfektion (zunächst das Jucken, dann sein sich veränderndes Sehvermögen). Dementsprechend äußert sich die Befremdung sprachlich bis dahin nur in einem gemurmelten „Komisch“ (ebd.). Erst der plötzliche Blick in den Spiegel stellt schockhaft Mottes Realitätsgefüge in Frage. Bezeichnenderweise ist dies auch der erste Moment im Text, in dem Mottes Äußeres direkt näher beschrieben wird - es ist ihm bis dahin offenbar eine (wenn auch implizit lästige) Selbstverständlichkeit gewesen, nachgedacht hat der Junge nur über das markante Kinn eines Filmhelden und über die langen Beine seiner ihn an Größe überragenden Schulfreundin Lina. Auch die Illustration von Mottes Gesicht, also des Werwolf-Motivs in seiner medialen Dimension, erwartet die Leserinnen und Leser erst nach dem Umschlagen jener Seite, auf der noch von den Anzeichen der Verwandlung erzählt wird. Die Gestaltung des Buches in seiner Materialität berücksichtigt 142 Volker Pietsch also die Relevanz des Spiegelbildes. Eine größere Herausforderung für einen Film wäre es auch, Mottes verändertes Tast- und Geruchsvermögen umzusetzen, ohne seine Mimik und Gestik zu zeigen. Motte würde seine Gefühle dann üblicherweise als Voice Over versprachlichen, während der Gefühlswandel im Buch bis auf das bezeichnend vage „Komisch“ keine monologische Äußerung durch den Protagonisten provoziert. Vielmehr geht die Bewegung von außen nach innen: die neuen körperlich-sinnlichen Eindrücke müssen von Motte nicht abstrahierend verarbeitet werden, äußerer Sinneseindruck und inneres Gefühl sind vielmehr eins: Er roch den Käse ganz deutlich […]. Sogar die Schrift auf dem Pickelwasser seines Bruders konnte er lesen. […] Er rieb sich das juckende Gesicht. Seine Backen fühlten sich an wie der Dreitagebart seines Vaters. (ebd.: 13 ff.) In dieser Hinsicht sind auch die Unterschiede zwischen dem Je‐ kyll-und-Hyde-Stoff und dem Motiv des Werwolfs relevant. Wenn sich im Film Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Mamoulian 1931) die subjektive Kamera sozusagen in Jekylls Inneres zurückzieht, kann ihn der anschließende Blick aus Hydes Augen in den Spiegel nur begrenzt überraschen. Jekyll leitet seine Verwandlung willentlich ein, wenn er sein Elixier trinkt. Motte hingegen ist seiner Verwand‐ lung ausgeliefert; er wurde von einem Wolfsbiss infiziert. Zwar gibt es in der Überlieferung auch Figuren, die sich bewusst in einen Werwolf verwandeln, etwa durch das Anlegen eines magischen Gürtels, doch hat sich diese Variante in den Medien des 20. und 21. Jahrhunderts nicht durchgesetzt: Zum Werwolf wird man durch einen Fluch oder, häufiger noch, durch einen infektiösen Biss. Diese Passivität korrespondiert mit den unterschiedlichen medialen Umsetzungen der internen Perspektive: Der Film-Hyde von 1931 begrüßt im Spiegel sein Äußeres, Motte ist entsetzt von dem, was aus ihm geworden ist. Auch die Art und Weise, auf die der Fokus auf Mottes Tast-, Geruchs- und Sehsinn gelegt wird, passt zum Werwolf-Motiv: Motte wurde infiziert und interpretiert seine Sinnesveränderungen zunächst auch als Krankheitssymptome. Damit liegt er im Prinzip richtig: Seit dem Film The Wolf Man (Waggner 1941) hat sich der Biss, also der unvermittelte und meist schuldlos erlittene Infekt, gegenüber dem über den Sünder verhängten und zumeist über Generationen vererblichen Fluch durchgesetzt - eine der Kontingenz der Moderne gemäßere Motivation anstelle einer archaischen. Mottes Verwandlung weist Analogien zu einer biologisch oder medizinisch erklärbaren Veränderung auf. Die Metamorphose des Körpers prägt das Bewusstsein. Das Werwolf-Motiv wird durch diesen Biss wie das des Vampirs auch zu einem relational-figuralen Motiv (wenn es dies nicht schon vorher war, je nachdem, ob man Mensch und Wolf als eigene Figuren oder 143 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen dieselbe gespaltene Figur auffasst). Mottes unschuldiges Gewahrwerden der eigenen körperlichen Veränderung wird also in Kleiner Werwolf mit den Mitteln der Schriftsprache adäquat umgesetzt. Diese unschuldige Passivität wiederum passt zu der auch paratextlich ersichtlichen Markierung des Buches als an Kinder adressiertes Produkt. Schon der Titel reiht sich ein in die Reihe populärer deutscher Bücher, die aus Schreckgestalten vermenschlichte Identifikationsfiguren für Kinder machen, z. B. Der kleine Vampir (1979). Im Fall des Werwolfs liegt hier allerdings eine besondere Herausforderung vor: Mensch bzw. Kind und Werwolf bilden ohnehin eine Einheit. Im Werwolf-Mythos sind die verschiedenen Pole (Gut / Böse, Normalität / anderer) nicht auf zwei verschie‐ dene Figuren verteilt, sondern in ein und derselben Person verschmolzen. […] Damit steht der Werwolf-Mythos natürlich ungleich dichter an der Realität als ein Stoff wie Dracula; die Normalität ist nicht mehr unerschütterlich, sondern nimmt selbst bedrohliche Züge an. Ganz folgerichtig steht im Werwolf-Mythos und seinen Varianten stets die Transformation im Mittelpunkt. Das Danach interessiert nur selten; einmal erschienen, ist der Werwolf nichts weiter als ein grausames, sinnlos mordendes Tier. Weder besitzt er die verführerischen Qualitäten des Vampirs noch richtet sich seine Aggression dabei auf ein bestimmtes Ziel. (Stresau 1987: 146 f.) Wo jedoch in anderen Beispielen die Verwandlung als spektakuläre, gewaltsame Verformung des Körpers inszeniert wird, ist sie in Kleiner Werwolf schmerzlos und äußert sich auch in durchaus angenehmen Begleiterscheinungen wie Mottes Nachtsicht. Peinigend ist für Motte nicht die Verwandlung, sondern erst die Erkenntnis seines veränderten Äußeren. Sein Problem liegt eher darin, dass er eben nicht sofort zum rasenden Tier wird, sondern sich seiner ihn isolierenden Entwicklung bewusst ist. Während Motte stellvertretend für die Leserinnen und Leser schockiert ist, fügt die Illustration (vgl. Funke 2002: 16) auch seinem monströsen Äußeren stark mildernde Aspekte bei: Die traurigen, großen Augen senden Kindlichkeitssignale, die runden, flauschigen Wangen erinnern nicht nur Mottes Freundin Lina eher an ein Meerschwein als an einen Wolf und anstelle von Reißzähnen weist Motte nur Eckzähnchen auf. Die Farben sind hell und vielfältig, grün, rot, gelb und blau und selbst das hellgraue Wolfsfell trägt nicht zu einem dunkleren Tonfall bei. Zudem werden Mottes Raubtieranteile durch ein Gummientchen im rechten Bildrand konterkariert. Eine solche Kontrastierung des Werwolf-Motivs mit Kinderspielzeug in Tier‐ form findet sich auffällig häufig in Coming-of-Age-Geschichten, Ausdruck einer noch domestizierten Nähe der Kinder zum Animalischen: In einer Illustration von Wenn du dich gruseln willst (vgl. Sommer-Bodenburg 1987: 53) ist hinter 144 Volker Pietsch der Mutter, die ihrem Sohn eine Werwolf-Geschichte erzählt, groß im Bild ein Teddybär zu sehen, während in The Company of Wolves ( Jordan 1984) dem Teddy der pubertierenden Heldin selbst gefährliche Klauen wachsen, ihre Verwandlung vorwegnehmend. In Kleiner Werwolf findet sich ein Bild, das den Abschied von der Kindheit prägnant zusammenfasst (vgl. Funke 2002: 75): Motte kauert als schutzsuchender Werwolf auf einem Sofa neben seiner ihn beruhigend umarmenden Freundin Lina. Das Sofa ist aufgerissen und notdürftig geflickt, der äußere Stoff der Polsterung hält nicht mehr stand, so wie Mottes bislang kindlicher Körper ihm nicht mehr gemäß ist, die weiche und bequeme Zuflucht des Möbels ist hinfällig geworden. Distanziert oben auf dem Sofa sitzt ein Teddy, das trostspendende Versprechen einer ungefährlichen Einheit zwischen Natur und Kultur. Im Text neben dem Bild verarbeitet Motte eine für ihn erschreckende Erfahrung: Beinahe hätte er seinem Jagdinstinkt nachgegeben und ein Kaninchen totgebissen, als dieses jedoch schrie „wie ein kleines Baby“ (ebd.: 74), besann er sich. Lina wendet ein, dass Motte das direkte Erlegen des Fleischs bisher nur abgenommen worden sei. Um mit dieser erwachsenen Einsicht in die unmittelbaren Folgen einer Gewalt, an der er schon immer beteiligt war, fertigzuwerden, bietet sich Lina anstelle des aller Raubtierhaftigkeit entledigten Teddys als tröstende Bezugsfigur an. Sie sitzt im Bild zwischen Motte und den Plüschbären. Auch erinnert ihr Haar in Form und Farbe an eine halbvolle Mondsichel. Ein Licht, auf das Motte sich anstelle des Mondes fixieren könnte - und so kommt es auch zum Ende der Geschichte. In seiner Kombination zwischen Werwolf- und Coming-of-Age-Story schließt das Buch an eine bestimmte Tradition an. So wie die infektiöse Übertragung des Wölfischen auf The Wolf Man zurückgeht, so ist der Prototyp für die Kombination aus Werwolf-Motiv und Coming-of-Age-Genre auch hier ein Film, I Was a Teenage Werewolf (Fowler jr. 1957). Die Jugendlichen, die zum Filmende überleben, pubertieren ‚erfolgreicher‘ als der Teenage-Werwolf, der seine Triebe nicht unterdrücken kann. Er ist aber nicht böse - das wäre eine zu offene Denunzierung der Zielgruppe des Films -, sondern in einem fragilen Lebensabschnitt besonders gefährdet, ein trauriger Fall. Es ist also naheliegend, dass gerade auch Kinder- und Jugendmedien seither das Motiv vor dem Erfahrungshorizont der Pubertät situierten. Bemerkenswerterweise ist aber in Kleiner Werwolf die Titelfigur nicht nur bemitleidenswert, ihre Gefährdung übertrifft sogar eindeutig ihre Gefährlichkeit für andere und die Verwandlung hat in vieler Hinsicht auch positive Aspekte. So zeigt sich am Werwolf-Motiv ein gewandeltes Verhältnis zur Pubertät und auch zum Wolf, also zur eigenen und zur äußeren Natur. Lina sorgt sich nicht vor ihrem Freund, sondern um ihn, denn: 145 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen Kaum etwas löst beim Menschen so viel Angst aus wie der Wolf, obwohl er ein sehr scheues, soziales und keinesfalls bösartiges Tier ist. Und zu allen Zeiten hat der Mensch auf Wolfsmenschen nur mit Hass und Furcht reagiert und sie als Monster erbittert gejagt und zur Strecke gebracht. (Funke 2002: 131 f.) Diese Sorge um die Natur, stellvertretend auf den Werwolf übertragen, findet sich auch in anderen Kinder- und Jugendbüchern zum selben Motiv, z. B. in Dabei ist nicht einmal Vollmond (The Adventures of a Two-Minute-Werewolf, engl. 1983; dt. 1993). Hier sagt Cindy, die vierzehnjährige Schulfreundin des Betroffenen: Vielleicht haben Werwölfe die gleichen Probleme wie normale Wölfe. Normale Wölfe sind furchtbar nett. Man schreibt bloß so schlecht über sie. Vielleicht sind Werwölfe auch nett. (DeWeese 1993: 50) Es ist bemerkenswert, dass in beiden Fällen Mädchen den Jungen dabei helfen, ihre scheinbar so fatale Entwicklung zu relativieren. Der Werwolf an sich stellt, passend zu seiner diskursiven Dimension in Zeiten gewachsenen Umwelt‐ bewusstseins, in seiner narrativen Dimension in vielen an Kinder gerichteten Texten nicht mehr die eigentliche Gefahr dar. Bei Mottes Verwandlung wird dementsprechend die Schärfung der Sinne betont, nicht aber die erschreckende Bestialität. Sein Körper verformt sich nicht monströs, vielmehr wächst etwas aus und an ihm, potenziert ihn. Im Kontrast zu anderen Stadtbewohnern kann er seine Gegenüber sofort anhand ihrer Gerüche einordnen und diese Gerüche legen denn auch die zivilisatorischen Verwahrlosungen der ihrer Natur entfremdeten Körper offen: Ein Lehrer, der nach Kartoffelchips, Zigaretten und verschwitzten Socken riecht, genießt zurecht kein Vertrauen bei ihm, die klischeehaft verhärmte, kinderfeindliche Bibliothekarin riecht nach Laven‐ delseife, Füllertinte und Mundwasser. In Twilight-Franchise geht die positive Neubewertung der Einheit zwischen Wolf und Mensch so weit, dass gleich ein ganzer Quileute-Stamm aus Werwölfen besteht und dem Stereotyp der Native Americans gemäß im Einklang mit seiner Natur lebt. Die Verwandlung in den Wolf ist in The Twilight Saga: New Moon (Weitz 2009) dank CGI ein fließender Prozess und hat nichts Traumatisch-Ruckhaftes mehr an sich; gerade die digitalen Effekte stärken die Auslegung des Begriffes ‚natürlich‘ als ‚selbstverständlich‘ und nicht als ‚naturbelassen‘ und ‚roh‘ - ein Beispiel für Motivwandel in seiner diskursiven, medialen und materiellen Dimension. Die gewaltsame Seite der Natur in ihren Metamorphosen kommt eher in den prädigitalen Effekten der 1980er Jahre zum Ausdruck, z. B. An American Werewolf in London (Landis 1981). In Büchern wie Kleiner Werwolf allerdings soll die endgültige Verwandlung in den Wolf nicht nur wegen der möglichen Verfolgung der Tiere verhindert 146 Volker Pietsch werden, sondern hat auch an sich noch wenigstens ambivalente Seiten. So trägt Motte seine Aggressionen offener nach außen. Das wirkt sich hier aber durchaus auch konstruktiv aus. Gilt z. B. in Sen to Chihiro no kamikakushi (Miyazaki 2001) wie Kurwinkel und Jakobi darlegen, Horst S. und Ingrid G. Daemmrichs Prinzip der qualitativen Ähnlichkeit zwischen verwandeltem und nicht-verwandeltem Zustand (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019: 45), so verhält es sich in einschlägigen Kinder- und Jugendbüchern zum Werwolf-Motiv eher umgekehrt: Kinder, die sich verwandeln, sind zuvor eher schüchtern, angepasst, übervorsichtig und durchsetzungsschwach. „‚Ich glaub, ich werde den Wolf vermissen‘, sagte Motte leise. ‚Wird nicht leicht, wieder klein, schwach und feige zu sein‘“ (Funke 2002: 86). Und in Gunnel Lindes Vollmondwolf (Jag är en en Varulvsunge, schwed. 1972; dt. 1977) beurteilt sich Ulf wie folgt: Ich betrachte mich im Spiegel, aber da ist noch nichts zu sehen. […] Ich sehe genauso blöd aus wie immer. Jämmerlich, beschissen, pappköppig und nicht für fünf Öre Kraft. Längst nicht so stark wie Jaakko Lappalainen. (Linde 1988: 7) Den Jungen könnte also, scheint es, eine „Archaisierung“ (Böhm 2017) gut bekommen. Allerdings weisen die hier zitierten Kinderbücher auch darauf hin, dass ihr eigentliches Problem nicht darin liegt, dass sie männlicher werden müssten, sondern dass sie sich an überkommenen Männlichkeitsidealen aus‐ richten: Motte sieht sich als defizitär im Vergleich zu Filmhelden, seinem großen Bruder und Schulhof-Bullies an. Die völlige Verwandlung würde bedeuten, dass er sich überkompensatorisch einem archaischen Männerbild mit einer toxischen Männlichkeit angleicht. Lina bringt ihm hingegen bei, dass er seine wölfischen Anteile integrieren kann, um mit ihnen eine ‚neue Art von Mann‘ zu vertreten, die bereits in ihm angelegt war, die Mädchen als gleichwertig behandelt, sich nicht dafür schämt, wenn diese größer sind, und gar Vegetarier werden könnte. Er findet also eine Balance im Umgang mit seiner Sinnlichkeit, die letzten Endes in einer zwar heteronormativen, aber im Rollenverständnis doch reformierten Zweisamkeit enden dürfte. Dass es sich bei den wölfisch geschärften Sinnen primär um Verweise auf Sexualität handelt, wird bereits so sehr mit dem Motiv assoziiert, dass sich der Film Når dyrene drømmer (Arnby 2014) im Dialog davon abgrenzen muss, um den Interpretationsspielraum wieder zu erweitern. Weil Wolf und jugendliche Sexualität aber gleichermaßen nicht mehr länger nur als monströs verdrängt werden, eignet sich der Werwolf im besonderen Maße auch, um auf dezente Weise eine vergleichende Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität zu ermöglichen. Während als pervers betrachtete Sexualität auf in sich gespaltene Serienkiller des Horrorfilms für Erwachsene übertragen 147 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen wurde, eröffnet der jugendliche Werwolf heute den Gedankenspielraum, ein positives Verhältnis zur eigenen Natur in all ihren tendenziell auch gefährlichen Ambivalenzen zu entwickeln. Er wird also unter der gegebenen Verwandlung des Motivs offenbar als geeignete Identifikationsfigur für Kinder zu Beginn ihrer Pubertät angesehen und die Illustration der Spiegelszene in Kleiner Werwolf unterstreicht dies noch, indem der Leser beim Umblättern selbst in einen Spiegel zu sehen scheint, der an Eisenklammern ordentlich auf der Buchseite aufgehängt ist. Nur der Leser oder auch die Leserin? „Wer hat schon mal was von einer Werwölfin gehört? “ fragt Cindy in Dabei ist nicht einmal Vollmond (DeWeese 1993: 47). Ist die Arbeit am Motiv hier noch der begrenzten Vorstellungswelt verhaftet, die Hans Richard Brittnacher 1994 festhält? Ein zottiges weibliches Ungeheuer […] als Objekt einer - und sei sie noch so obskuren - Begierde war kaum denkbar oder literarisch durchsetzbar […]. Mit seinem plumpen Protagonisten, mit seiner ganz unraffinierten Sexualität, mit der alttestamentarischen Religiosität […], […] Archaik und Anachronismus sperrt sich der Stoff gegen jede Modernisierung […]. Sprachlich-stilistisch bedeutet das eine häufig schwer erträgliche, klischierte Sprache, ideologisch ein Paktieren mit den Interessen des Publikums an der unverblümten Darstellung physischer Grausamkeit und hinter‐ gründig mit seinem Verlangen nach einer rechtskonservativen law-and-order-Menta‐ lität und einer Rehabilitierung inquisitorischer oder totalitärer Praktiken. (Brittnacher 1994: 201) Diesem vernichtenden Urteil gegenüber hat sich nun durchaus eine Veränder‐ lichkeit und Modernisierbarkeit des Motivs in seiner diskursiven wie auch narrativen Dimension erwiesen, zu der gerade Kinder- und Jugendmedien mit ihrer Verlagerung der Sympathien zugunsten der Wolfsidentität beigetragen haben. Und beigetragen dazu haben in besonderem Maße schriftsprachliche Bücher mit ihrem Potential zur Aussparung, die ihnen durch ihre Adressaten‐ orientierung auch als besondere Verpflichtung auferliegt. Es ist anzunehmen, dass der Werwolf im Rahmen der letzten Jahrhundertwende deshalb so überaus auffallend an Popularität gewonnen hat, weil das Motiv in zwei besonders erfolgreichen kinder- und jugendliterarischen Reihen eine wichtige Rolle spielt. (Schwagmeier 2013: 506) Uwe Schwagmeier bezieht sich auf Twilight (2005-2008) und Harry Potter (1997-2007), aber auch wenn Kleiner Werwolf und andere der oben zitierten Texte weniger international einschlägig wurden, so belegen sie doch eine kontinuierliche Arbeit an dem Motiv in der Kinderliteratur schon der 1970er bis frühen 2000er Jahre, die signifikante Parallelen in ihren Selektionen aus 148 Volker Pietsch der Motivtradition und in ihren Neuerungen aufweist - bis zu dem Punkt, an dem eine Bestandsaufnahme des Motivs, wie sie Brittnacher anhand der Erwachsenenliteratur vorgenommen hat, wenigstens in diesem Bereich nicht mehr gilt. Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf Auch eine Vielzahl an Werwölfinnen gibt es mittlerweile; ein besonders frühes Beispiel ist Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf. Dieses Hörspiel aus der Grusel-Reihe (1981-1982) des Labels Europa kam in drei Auflagen auf den Markt, das erste Mal 1981, dann 1987 und 1999 (inzwischen ist letztere Fassung auch im Stream erhältlich, z. B. bei Apple Music). Die wechselnde Altersempfehlung der Cover - 1981 und 1987 ab 12, 1999 ab 14 - erklärt sich nicht durch Kürzungen der früheren Versionen, sondern offenbar durch veränderte Sensibilitäten des öffentlichen Diskurses. Mit dem Rückgriff anno 1999 auf das erste Cover von 1981 wird auf die Nostalgie der „Kassettenkinder“-Generation (Bastian 2003) spekuliert. Da Produkte des Horrorgenres oft zur initiatorischen Mutprobe herangezogen werden, lässt sich darauf spekulieren, dass sich das scheinbar vorsorgliche „ab 12“ oder „ab 14 Jahren“ jeweils als besondere Empfehlung für genau diese Altersgruppen deuten lässt. Indem die Grusel-Reihe von Europa auf die klassischen, ‚literarischeren‘ Motive zurückgriff, setzte sie sich zudem von den Motiven des bei Erziehungsberechtigten übel beleumundeten Splatterfilms ab. Lernen können Hörerinnen und Hörer hier, dass auch Erwachsene in kind‐ lichen Verhaltensmustern befangen sein können. Die Erzählerin, Vera Aston, führt zu Beginn retrospektiv in das Geschehen ein, das dann in den Szenen vor uns entfaltet wird: An einem Spätnachmittag im Juni kam ich ins Wohnzimmer, Herr Kommissar. Henry war dort und versuchte, etwas rasch wieder in einer Schublade verschwinden zu lassen, um es vor mir zu verbergen. [00: 01: 47-00: 01: 58] Als ausgerechnet zu Vollmond ein Besuch von Veras Mutter Hethy und ihrer Tante Martha bevorsteht, denkt Henry Aston an Selbstmord durch eine silberne Pistolenkugel. Vera dagegen hofft, das Geheimnis der Astons wahren zu können. Es kommt natürlich, wie es kommen muss: Vera muss das Haus in der Voll‐ mondnacht verlassen; derweil dringen ihre Mutter und ihre Tante in den Keller vor, in dem Henry versteckt gehalten wird. Schon hier entfaltet das Hörspiel sein Potenzial in der Gestaltung von Geräuschen. Das plötzliche Scheppern eines Eimers, gegen den Martha tritt, wird als jump scare eingesetzt. Über die Laut‐ stärke werden bedrohliche Distanzverringerungen oder -erhöhungen reguliert. 149 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen Dies beginnt mit dem verklingenden Motorengeräusch von Veras Wagen, das den beiden alten Damen die Gelegenheit bietet, sich unwissentlich zu gefährden. Dazu kommen Henrys erst leises und dumpfes, dann plötzlich allzu nahes Wüten, und die sich entfernende Stimme Hethys, die, von Telefonklingeln abgelenkt, Martha allein im Keller zurücklässt. Diese Mittel werden variiert und ergänzt, als einige Szenen später die Frauen in den Keller zurückkehren und diesmal Henry finden. Wieder irritiert das unvermittelte Scheppern des Eimers Figuren und Zuhö‐ rende, da Martha das Hindernis eigentlich aus dem Weg geräumt hatte. Wieder wird über die wechselnde Lautstärke die Gefahr für beide Frauen in ihrer Isolation von der Oberwelt und in der Nähe des Werwolfs evoziert. Als ihre Konfrontation mit dem - menschlich aussehenden, also offenbar kurz nach oder vor einer Verwandlung stehenden - Henry erfolgt, setzt das Hörspiel auf Kontraste zwischen Momenten der Stille, bei denen auch die Musik aussetzt, und dem plötzlichen Aufschreien Henrys, auf das die Musik dann auf dem Fuße folgt. Hören spielt aber nicht nur dort eine Rolle, wo sich für potentielle Rezip‐ ientinnen und Rezipienten die angespannte Stimmung im Schock entlädt, das Hören ist auch noch in anderer Beziehung von Bedeutung: Aufmerksam werden Hethy und Martha auf Henrys Transformation durch sein lautes Wüten. Aber die beiden Frauen hören ohnehin zu viel, was sie aus Henrys und Veras Per‐ spektive nicht hören sollten. Zudem interpretieren sie all das Gehörte zunächst falsch - wie auch die impliziten Rezipientinnen und Rezipienten des Hörspiels, denn zum Ende wird sich herausstellen, dass nicht Henry, sondern Vera der Werwolf ist (ihr sprechender Name hätte das freilich schon verraten können). Henrys Transformation ist eine rein psychische; seit seiner Begegnung mit einem Werwolf glaubt er, infiziert worden zu sein. Ist Henry also mit sich selbst beschäftigt und nimmt Vera als Zusprecherin in Beschlag, so nehmen Martha und Hethy Vera ebenso wenig als eigenständige Akteurin wahr und überblenden stattdessen ihre gesellschaftlichen Rollenmuster. So wie sie permanent über andere lästern, sind sie auch ihrerseits stets auf der Hut, ein Skandal könne laut werden. In ihrer überprotektiven Art sind sie nur in der Lage, Vera als unschuldiges, passives Opfer zu sehen - als die Polizei von Haus zu Haus zieht, um vor dem Vollmondmörder zu warnen, ist Hethys erste Reaktion: „Ja, aber Engelchen, was hast du mit der Polizei zu tun? “ und Martha ergänzt: „Das ist ja schrecklich, Hethy, in welche Hände ist deine Tochter geraten? “ [00: 04: 80-00: 04: 89]. Das „Engelchen“ fügt sich in diese Rolle, so kann sie es auch nicht über sich zu bringen, unhöflich zu werden und die beiden Damen zum Schutz aller 150 Volker Pietsch Beteiligten aus dem Haus zu werfen, wohingegen alle Vorwände, die sie im gemäßigten Ton vorbringt, geflissentlich überhört werden. Nicht gehört zu werden, das geschieht in diesem Hörspiel insbesondere den jungen Frauen, so etwa schon zu Beginn einer Figur namens Susan Clayton, die ihren nächtlichen Begleiter warnt, als sie ein Geheul exakt als das eines Wolfes identifiziert. Susans Verlobter nimmt sie nicht für voll, verspricht ihr in maßloser Selbstüber‐ schätzung „Ich beschütze dich“ [00: 01: 09-00: 01: 10] und wird prompt gerissen. Natürlich glaubt auch die Polizei nicht an Susans Täterbeschreibung. Frauen erweisen sich hier als fähiger in allen Disziplinen: Susan wird, bewaffnet mit einem Gewehr, zu einer besseren Werwolfjägerin als der Kommissar, die alten Damen ermitteln letztlich erfolgreicher als er und Vera schließlich ist ein weiter entwickelter Werwolf als Henry und hält diesen Umstand auch deutlich besser vor ihm geheim als ihr Mann seine suizidalen Pläne vor ihr. Die Besetzungen der Figuren unterstreichen dies insofern, als Vera (Elke Reissert) und Susan (Roswitha Benda) ruhige Altstimmen haben, während Henry mit der eher hohen, etwas blechernen Stimme von Wolfgang Draeger, damals Woody Allens Synchronsprecher, spricht und der Kommissar mit dem noch höheren, nasalen Timbre von Karl-Ulrich Meves, seinerzeit Sprecher von Grobi aus der Sesamstraße (Sesame Street; seit 1969). Schon dem nervösen Rollenprofil ihrer Schauspieler entsprechend sind die Figuren, die konventionell zu Held und Widersacher designiert wären, also nicht stereotyp maskulin besetzt. Freilich deuten die Geheimhaltungsversuche Henrys wie auch Veras darauf hin, dass beide in unreifer Konfliktscheue verharren, insbesondere gegenüber den alten Damen: Hethy maßregelt ihren im Keller rasenden Schwiegersohn als unartigen Jungen und dieser krümmt sich daraufhin auch zusammen wie ein schlafendes Kind. Daher ist es sowohl in der medialen als auch in der narrativen Dimension nur allzu passend, dass die psychischen und physischen Verwand‐ lungen und Auftritte der Werwölfe sich hier zunächst über den Gehörsinn vermitteln: Erst auf dieser ultimativen Regressionsstufe kann sich Vera Gehör verschaffen, kann ihren Aggressionen gegenüber der eigenen Mutter freien Lauf lassen. Die gesprochene Sprache genügt nicht mehr, weil die Dialoge nur zu einem Aneinandervorbeireden, als Mittel der Machtsicherung oder Täuschung benutzt werden. In einer solchen kommunikativen Misere bleibt nur noch Heulen, Knurren und Jaulen. Diese Regression wird freilich augenblicklich auf fatale Weise beendet. Die Mutter kann im leidenden und wütenden Wolf die Tochter nicht erkennen und tötet sie mit der Silberkugel. Tante Martha beharrt darauf, dass es sich nur bei Veras menschlicher Gestalt, also der sozial unterdrückten und angepassten, um deren wirkliche Identität gehandelt habe, und Hethy darum unschuldig sei, was auch die Institution der Polizei in Gestalt 151 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen des Kommissars der Institution der Familie in Gestalt von Mutter und Tante bestätigt. Veras Beichte, die posthum von einem Tonband abgespielt wird und mit der auch das Hörspiel endet, ist eine Rechtfertigung gegenüber diesen Institutionen - Repräsentationen des Großen Anderen im Lacanschen Sinne (vgl. Lacan 2015: 300): An einem Spätnachmittag im Juni kam ich ins Wohnzimmer, Herr Kommissar. Henry war dort und versuchte, etwas rasch wieder in einer Schublade verschwinden zu lassen, um es vor mir zu verbergen. [00: 38: 10-00: 38: 21] Die vermeintliche Rede einer überlebenden Erzählerin im direkten Gespräch mit dem Kommissar, mit der die Handlung als Rückblende begann, sie entpuppt sich nun als die Erzählerstimme einer Verstorbenen, die als Totgeweihte ihre Botschaft immer dann eingesprochen hatte, als sich eine Wolke vor den Voll‐ mond schob. Veras Stimme, mit der sie ihr Handeln entschuldigt, hat sich nun endgültig vom Körper gelöst. Waren die nonverbalen Ausdrücke ihres Wolfskörpers erschreckend, so ist die Sprache Veras nun auf eine gespenstische Weise unheimlich, dem mühsam unterdrückten animalischen Körper nun auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer so entfremdet, wie sie es schon immer war - wohl auch schon vor dem Biss, der sie ansteckte, denn wie Slavoj Žižek in The Pervert’s Guide to Cinema (Fiennes 2006: 00: 17: 35-00: 17: 48) sagt, „we ourselves are the aliens controlling our bodies. Humanity means the aliens are controlling our animal bodies.” Der Anfang der Kassette entpuppt sich als ihr Ende und es gibt keinen Ausweg aus diesem regressiven Zyklus. Dies unterstreicht das retardierende Klavier-Motiv in der Schlussmusik. Da es sich bei der Hörspielcassette tatsächlich um eine Art Tonband handelt, werden Rezeptions- und Handlungsebene hier nahe zusammengeführt. Die gespenstische Stimme der ewigen Tochter ist auf das Band gebannt und kann ihre Abbitte dort in derselben ewigen Endlosschleife wiederholen, wie sie der Zyklus des ab- und zunehmenden Mondes vollzieht. In diesem Hörspiel wird eine Ausgestaltung des Motivs aus The Wolf Man verändert. Erschlägt dort der Vater den rasenden Sohn zum Schluss mit einem schweren Stock, erschießt hier die Mutter die Tochter - das ist anno 1981 auch insofern ein beachtlicher Schritt, als sich das Hörspiel damit auch von dem auf die Konkurrenz zwischen Vater und Sohn fixierten freudianischen Szenario löst, in welches das Werwolf-Motiv im Film eingebunden ist. Auch in anderen Beispielen bringen Werwölfe das zu Gehör, was in ihren Familien totgeschwiegen wird. Doch in Büchern wie Wenn du dich gruseln willst (vgl. Sommer-Bodenburg 1987: 51 ff.) wird der Kontrast zwischen einer drückenden Kommunikationslosigkeit und dem verzweifelten 152 Volker Pietsch Protestgeheul der Regression zwingenderweise nicht so effektvoll umgesetzt, wie das im Hörspiel möglich ist. Harry Potter and the Prisoner of Azkaban Eine medienspezifisch im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtende Lösung findet der Film Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. Mehr als in anderen Varianten wird hier die direkte Einwirkung des Vollmondes auf die Verwand‐ lung gezeigt. Warnend weist Hermines Finger auf den Vollmond. In einer Zickzack-Bewegung verfolgt die Kamera nun die Blicke der Anwesenden, die diesem Fingerzeig folgen. Der betroffene Werwolf, Lupin, ist der letzte in der Kette, der seiner gewahr wird. Unterstützt von der illustrativen Musik (der Mond geht zu einem Gongschlag auf) wird nun zurück vom auslösenden Objekt des Mondes auf das gebannte Auge Lupins geschnitten, in dessen sich wei‐ tender Pupille sich der Vollmond spiegelt. Die Transformation wird filmgemäß also über Blicke hergeleitet. Der Trigger des Vollmonds unterwirft Lupin auf schmerzhafte Weise seiner Natur - und er ist nur zu bereit, diese Schmerzen weiterzugeben, wie das ernüchternde Scheitern der Beruhigungsversuche Her‐ mines verdeutlicht. Durch die sich wie unter Drogeneinnahme vollziehende Mydriasis, die pulsierenden Herzfrequenzen und die besorgte Frage von Lupins Freund Black, ob er denn sein Gegenmittel genommen habe, weckt die Ver‐ wandlung starke Assoziationen an einen Krankheitsschub oder einen Rückfall. Auch die Spezialeffekte ermöglichen hier eine Umsetzung des Werwolfkörpers, die ihn krank erscheinen lassen, anstatt die Kraft einer entfesselten Natur in Szene zu setzen. Mit CGI kann Lupins ausgezehrter, schwankender Körper auf fragilen, überlangen Beinen herumstaksen, wie es in dieser eher spinnenar‐ tigen Beweglichkeit durch nichtdigitale Spezialeffekte kaum möglich gewesen wäre. Die Gefahr der Ansteckung, die von Lupin ausgeht, ist allerdings nicht unbedenklich, wenn sein Schicksal als von Enthüllung bedrohter Werwolf - wie etwa von Joanne K. Rowling selbst (vgl. Rowling 2015) - mit der Diskri‐ minierung von AIDS -Kranken verglichen wird. Eine solche Analogie könnte fragwürdige Schlussfolgerungen auf vom AIDS betroffene Menschen nach sich ziehen, da Lupin durch seinen fahrlässigen Umgang mit den Schutzmaßnahmen tatsächlich zur Gefahr wird. In Slash-Fanfiction wird er besonders häufig als unterdrückter Homosexueller dargestellt (vgl. Cuntz-Leng 2015: 263 ff.). Auch diese Lesart ist insofern problematisch, da damit auch die Gefahr, die von seiner Wolfsform ausgeht, auf die ‚Ansteckung‘ mit einer spezifischen Art von Sexualität bezogen werden könnte: Als Wolf wird Lupin ‚übergriffig‘, ‚infektiös‘ und ist daher selbst in Hogwarts nicht auf Dauer integrierbar. Am ehesten findet 153 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen er noch eine Form von Frieden in einer heteronormativen Zweierbeziehung, überlebt aber nicht das Ende der Filmbzw. Romanserie. Bezeichnend ist, dass sich Harry zu Beginn des Ausschnitts gerade die Aussicht einer Männer- WG mit Lupins Freund Black bietet, als diese von der Erinnerung an die Gefahren einer ähnlichen Männerfreundschaft zerstört wird. Und bezeichnend ist in diesem Kontext auch, welche Figur im Harry-Potter-Universum ihre Hybridität als Werwolf begeistert annimmt: Greyback, dem auch andere Schurken mit Abscheu begegnen und der vorzugsweise Kinder ansteckt, darunter seinerzeit auch Lupin, der selbst mit dem Drang zu kämpfen hat, sein Trauma weiterzu‐ geben. Die Verwandlung als Folge einer fatalen Grenzübertretung ist zwar bemitleidenswert und nicht eigene Schuld, muss aber unbedingt unterdrückt werden. Die Sorgen der Eltern von Lupins Schülerinnen und Schüler sind folglich nicht irrational und einige Vergleiche, zu denen sich das Motiv hier implizit anbietet, also in letzter Konsequenz selbst diskriminierend. Darin ist der Film noch nah an der alten Überlieferung des Werwolf-Fluchs in der Literatur, einer unentrinnbaren Determination durch höhere Mächte, ob der Mond nun die Natur oder die Sünde meint, die in einer Rohheit mündet, „die kaum zwischen Zerfleischung und Paarung unterscheidet“ (Brittnacher 1994: 215). Dieses Ausgeliefertsein an den Fluch, die Herabwürdigung des Menschen zum Objekt durch Sucht, Krankheit und Begehren wird medial freilich weitaus pointierter als z. B. in den wortreichen Ausführungen von Michael Endes Gmork (vgl. Ende 2018: 154 ff.) mithilfe der Kamerafahrten und der Montage in Harry Potter and the Prisoner of Azkaban realisiert. Das Werwolf-Motiv im Wandel der Medien und Zeiten Dasselbe Motiv wird also in den vorliegenden Beispielen in drei Traditions‐ strängen überliefert, aber auch reformiert: In Kleiner Werwolf wird mit ihm die Integration der eigenen und fremden Natur thematisiert, in Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf die Regression, in Harry Potter and the Prisoner of Azkaban die bewusste Anpassung an die Repression. Literatur, Hörspiel und Film haben für diese Verarbeitungen des Motivs Umsetzungen gefunden, die das besondere Potenzial des jeweiligen Mediums mit seinen medienspe‐ zifischen Aussparrungen und Akzentuierungen ausschöpfen konnten, wie an den Gestaltungen der Verwandlungen ersichtlich wurde. Verwandelbar erscheint auch das Werwolf-Motiv entgegen seinem Ruf. Noch in Paul van Loons Gruselhandbuch (The Horror Handbook, nl. 1993; dt. 1995) für Kinder ist zu lesen, Werwolfgeschichten seien schematisch und schlicht konstruiert und es ergeht die Aufforderung an die Leserinnen und Leser, eine eigene, 154 Volker Pietsch originellere Geschichte zu schreiben: „Werwolfgeschichten können gut ein bisschen neues Blut brauchen! “ (van Loon 1995: 68). Brittnacher konstatiert fast um dieselbe Zeit dem Motiv seinen nahenden Untergang wegen mangelnder Flexibilität (vgl. Brittnacher 1994: 200). Freilich richtet er seinen Blick hier allein auf Erwachsenenliteratur. Tatsächlich erweist sich in der Beispielanalyse in diesem Artikel jedoch eine hohe Dynamik, die aus der Wechselwirkung der verschiedenen Dimensionen resultiert und sich nicht zuletzt dem Transfer des Motivs in die Kinder- und Jugendmedien verdankt. Schon von einem Motivkern zu sprechen, erscheint riskant. Was aber wäre so etwas wie der größte wieder‐ kennbare gemeinsame Nenner des Motivs? Beim Werwolf-Motiv darf man im Allgemeinen erwarten, dass es die Verwandlung in einen wilden, ungestümen Wolf bei teilweise oder gänzlich reduziertem Bewusstsein beinhaltet. Selbst hier noch gibt es Ausnahmen, Werwölfe, die unveränderlich hybride zwischen menschlicher und wölfischer Form bleiben und meistens sprechen können, siehe Hotel Transylvania (Tartakovsky 2012). Die Verwandlung zum Wolf stellt auf den ersten Blick nicht unbedingt eine anthropologische Grundsituation dar und ist doch relevant genug, um nicht im Motiv der Verwandlung an sich oder in dem des Tiermenschen aufzugehen. Nicht zuletzt bedingt dieses Motiv in einer deutlichen Regelmäßigkeit diverse andere Motive und ist auf besondere Weise an den Diskurs angeschlossen. Wie weit aber müsste man dieses Motiv auf basale Konflikte hin zurückführen, um auf eine anthropologische Konstante zu stoßen? In seinem einflussreichen Erklärungsansatz zum Horrorgenre (vgl. Wood 1979: 6 ff.) macht Robin Wood zufolge basic repression, grundsätzliche Triebverdrängung, den Unterschied zwischen Tier und Mensch aus, während er mit surplus repression eine kulturspezifische Restverdrängung bezeichnet (z. B. die Verdrängung von Homosexualität). Schicht a des Motives eines Horrorfilms repräsentiere daher jene Triebe, die menschliche Sozialformen grundsätzlich unmöglich machen könnten, würden sie nicht verdrängt, Schicht b dagegen unterläge den Anpassungen einer dynamischen surplus repression. Wollte man diesem Muster folgen, wäre offensichtlich schon die Figur des Wolfs im Werwolf-Motiv ein Phänomen der surplus repression, denn Wölfe werden mit abnehmender Tendenz als Bedrohung betrachtet, wie an Kleiner Werwolf zu sehen. Wirklich von basic repression betroffen wäre letztlich die Tendenz des Werwolfes, sich alles einzuverleiben und jedem Trieb nachzu‐ gehen, was die Gefahr des Zivilisationsverfalls bis hin zu einem inzestuösen Chaos heraufbeschwört. Aber bei einer solchen Reduktion auf das (vielleicht) Wesentliche ließen sich viele Motive auf dasselbe Tabu zurückführen, sie würden dabei zu fast beliebigen Oberflächenphänomenen. Versucht man sich an einer überzeitlich gültigen Definition des Motivs, die konkreter wird als 155 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen dies, wird man schnell an der Eigendynamik scheitern, die im komplexen und individuellen Zusammenspiel transmedialer Manifestationen entfesselt wird. Daher wäre es sinnvoll, die Perspektive, wie es Benjamin Moldenhauer für Genres fordert, stärker auf fluide Transformationsprozesse zu richten als primär auf Rahmungen und Invarianten (vgl. Moldenhauer 2016: 22). Dazu verhilft das Modell der transmedialen Motivanalyse (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019). Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (UK / USA 2004). Regie: Alfonso Cuarón. Nach dem gleichnamigen Roman von Joanne K. Rowling [EA 1999]. [DVD] The Pervert’s Guide to Cinema (UK / AT / NL 2006). Regie: Sophie Fiennes. [DVD] Sen to Chihiro no kamikakushi (JP 2001). Regie: Hayao Miyazaki. [DVD] The Wolf Man (USA 1941). Regie: George Waggner. [DVD] Audiografie Francis, H. G. Grusel Folge 14: Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf [Hörspiel] (1981). Regie: Heikedine Körting. Quickborn: Europa [weitere zitierte Auflagen: Grusel Folge 04: Werwolf (1987); Grusel Folge 14: Die tödliche Begegnung mit dem Werwolf (1999)]. Primärliteratur DeWeese, Gene (1993). Dabei ist nicht einmal Vollmond. A. d. Engl. von Regine Adolphsen. In: Henke, Carola (Hrsg.) Monster, Drachen und Vampire. Ravensburg, 37-53. Ende, Michael (2018). Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemann. Funke, Cornelia (2002). Kleiner Werwolf. Mit Illustrationen der Autorin. Hamburg: Dressler. Linde, Gunnel (1988). Vollmondwolf. A. d. Schwed. von Liselotte Baustian. München: Bertelsmann. Loon, Paul van (1995): Das Gruselhandbuch. Ein Ratgeber für schaurige Stunden. A. d. Nl. von Mirjam Pressler. Mit Bildern von Axel Scheffler. Berlin: Jacoby & Stuart. Sommer-Bodenburg, Angela (1987). Wenn du dich gruseln willst. Unheimliche Ge‐ schichten. Bilder von Helga Spieß. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Sekundärliteratur Bastian, Annette (2003). Das Erbe der Kassettenkinder …ein spezialgelagerter Sonderfall. Brühl. 156 Volker Pietsch Böhm, Kerstin (2017). Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld. Brittnacher, Hans Richard (1994). Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt / M. Cuntz-Leng, Vera (2015). Harry Potter Que(e)r. Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre. Bielefeld. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (2019). Das Modell der transmedialen Motivanalyse am Beispiel der Animationsfilme Spirited Away und Beauty and the Beast. kjl&m 19: 3, 41-49. Lacan, Jacques (2015). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoana‐ lyse. Das Seminar, Buch II. Aus dem Frz. von Hans-Joachim Metzger [fr. EA 1975]. Wien [u. a.]. Moldenhauer, Benjamin (2016). Ästhetik des Drastischen. Berlin. Rowling, Joanne K. (2015). Remus Lupin. Abrufbar unter: https: / / www.wizardingworld. com/ writing-by-jk-rowling/ remus-lupin (Stand: 09 / 10 / 2020). Schwagmeier. Uwe (2013). Werwolf. In: Brittnacher, Hans Richard / May Markus (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 500-510. Stresau, Norbert (1987). Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München. Völker, Klaus (1994). Nachwort. In: Ders. (Hrsg.) Werwöfe und andere Tiermenschen. Frankfurt / M., 411-443. Wood, Robin (1979). An Introduction to the American Horror Film. In: Britton, Andrew / Lippe, Richard / Williams, Tony / Wood, Robin (Hrsg.) American Nightmare: Essays on the Horror Film. Toronto, 6-28. 157 Werwölfe und ihre transmedialen Verwandlungen Konterkarierte Menschlichkeit Vom semantischen Schillern des Motivs der Fliege in den Medien Julia Goldlust Abstract: Der Beitrag analysiert das Motiv der Fliege in Michael Endes Fi‐ lemon Faltenreich (1984) und Jérémy Clapins J’ai perdu mon corps (2019). Unter Bezugnahme auf die kulturhistorische Einbindung der Fliege in religiöse bis morbide Narrative wird untersucht, inwiefern sie als Motiv semantisch ambivalent bleibt. Mithilfe des Text- und des Filmbeispiels wird aufgezeigt, dass mit dem fokussierten Insekt sowohl die mediale Vermittlung von Per‐ spektiven als auch die medienästhetische Reflexion in den Blick genommen werden kann. Ausgehend von der Annahme einer signifikanten semantischen Ambivalenz, perspektiviert der folgende Beitrag das Motiv der Fliege anhand von Michael Endes Tierfabel Filemon Faltenreich und des Animationsfilms J’ai perdu mon corps von Jérémy Clapin. Aufgeschlüsselt werden soll die Fliege dabei hin‐ sichtlich ihres medienreflexiven und narratoästhetischen Potentials zwischen Buchseite und Retina-Display insbesondere paratextuell und diskursiv. Die Werke von Ende und Clapin sind geeignet, um unter Rückgriff auf das in diesem Band vorgestellte Analysemodell und die Typologie des literarischen Motivs nach Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi das motivische Spektrum der Fliege aufzuzeigen. Mit der vom Verlag ab vier Jahren empfohlenen Fabel und dem von der FSK ab 12 Jahren freigegebenen Coming-of-Age-Film wird gleich‐ zeitig die breite Spannweite der Zielgruppen von Kinder- und Jugendmedien berücksichtigt. Über die Analyse der paratextuellen Dimension von Buch und Film wird das relationale Verhältnis des Fliegenmotivs zu den Figuren sowie dessen Einbindung in die Narration bestimmt. Hierfür soll(en) Fliegen in doppeltem Wortsinn - substantivisch und prädikativ - Berücksichtigung finden, wodurch die Interdependenz von histoire und discours mitgedacht werden kann (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18). Die immanente Flexibilität, die aus der - zumindest für das menschliche Auge - unsystematischen Betriebsamkeit des Insekts erwächst und sich im semantischen Oszillieren in der Narration fortsetzt, fordert es im vorliegenden Zusammenhang ein, eine besondere Aufmerksamkeit auf die diskursive Dimen‐ sion zu legen. Denn dass die Fliege in der Unruhe stiftenden Flugbewegung ein dankbares und herausforderndes Motiv vor allem für den kineastischen Fiktionsfluss darstellt, bisweilen aber auch in ihrem Sich-Niederlassen auf Schrift- und Filmbild inszeniert wird, bedingt, dass sich sowohl mit ihrem momentanen Stillstand als auch ihrem Flug die Fiktionen als solche in ihrer artifiziellen Gemachtheit aufzeigen und reflektieren lassen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts fungiert sie in der Bildenden Kunst wie‐ derholt als trompe-l’oeil (vgl. Geimer 2018: 89), also als täuschend echt wirkendes Bilddetail. Dieses Prinzip der Sichtbarmachung der Kunst in ihrer spezifischen Materialität gerade durch die Perfektionierung einer Illusion setzt sich in Lite‐ ratur und im Film fort. Die kritische Auseinandersetzung mit den menschlichen Aneignungspraktiken tierischer Aspekte für die Kunst fördert gleichsam die Verhaftung im eigenem „Denksystem“ zutage (vgl. Foucault 2013: 42). Die Studie des Biologen Jacob von Uexküll über Fliegen betrachtend, beschreibt Peter Geimer das „anthropomorphistische Dilemma“ (Geimer 2018: 50) wie folgt: „Das ganz Andere ließ sich nicht als solches darstellen, man musste es der eigenen Vorstellungswelt einverleiben und verfehlte gerade damit die Andersheit“ (ebd.). Mit der Imitation des animalischen Facettenblicks und Flugs in den Künsten stellt sich in der transmedialen Motivanalyse die Fliege als Vexierbild des Menschen heraus, mit dem die Perspektive auf dessen Repräsentation in der Schrift- und Bildkultur neu ausgerichtet werden kann. Das Motiv bietet somit die Möglichkeit, (Erzähl-)Perspektivik und ihre medialen Herstellungspraktiken zu fokussieren. Unter der Prämisse, dass das motivische Changieren der Fliege mehrere Dimensionen betrifft, die es zu unterscheiden und in ihrem Zusammenspiel zu erschließen gilt, soll unter Bezugnahme auf die im Folgenden schlaglicht‐ artig beleuchtete Genese des Motivs am konkreten Gegenstand nachvollzogen werden, wie das Insekt in Literatur und Film figural oder auch objektional (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 18) in Szene gesetzt wird. Die Fliege tritt in verschiedenen Epochen und Medien sowohl als parasitäres Objekt als auch als ephemeres Subjekt in Erscheinung. Motivisch werden hier auf der Ebene der diskursiven Dimension grundsätzlich diametrale Narrative 160 Julia Goldlust bedient, insofern das Insekt zwischen dem Beelzebub, dem Herrn der Fliegen, und der Nähe zu göttlichen Instanzen oszilliert. Zum einen suchte man seit der Aufklärung in der genauen Betrachtung der belebten Natur nach Gemeinsam‐ keiten mit dem Menschen, zum anderen wird bereits in der Bibel die Furcht vor den Insekten geschürt: Der dichotomen Einteilung der Tiere in rein und unrein im AT folgend, fällt die Fliege als Insekt insofern in die erste Kategorie, da sie in mehr als einem Element existiert, wodurch sie sich als Opfergabe verbietet und ihr der Weg in den Tempel verwehrt bleibt. Ein Forschungsdesiderat ergibt aus der sich ewig reproduzierenden Verbindunglinie von verführerischer und gefährlicher Weiblichkeit, bestimmten Tieren, Nahrung und Tod, welche sich bis zu dem Narrativ des Sündenfalls zurückverfolgen lässt (vgl. Kristeva 1982: 95 f.). Dieses Misstrauen gegenüber den Fliegen, die sich - im Zuge der mit der Industrialisierung einhergehenden Verstädterung und durch Hygienemängel häufenden Epidemien - immer dort aufhalten, wo viele Menschen sind, setzte sich gegenüber dem positiven Bild durch (vgl. Finzsch 2009: 169). Ob als diabo‐ lischer Schwarm, der Tod und Zersetzung bringt, oder als ruheloses Detail, das Narrationen atmosphärisch anreichert, stets bleibt der Eindruck einer seman‐ tischen Ambivalenz der Fliege. Diese ist möglicherweise auch auf die bereits angesprochene Fremdartigkeit der Insekten zurückzuführen, die der Spezies trotz der Annäherung zum Menschen über die Kunst anhaftet. In fantastischen Möglichkeitsräumen kulminieren solche Annäherungsversuche von Mensch und Fliege nicht selten in subtilen oder drastischen Verschmelzungen, etwa in E. T. A. Hoffmanns Das fremde Kind (1817) oder in der filmischen Adaption von George Langelaans The Fly (1957) durch David Cronenberg (1986). Mal werden diese Verwandlungen mit romantischer Ironie entworfen, mal überwiegt die groteske Beleuchtung phantasmagorischen Zusammenseins. Wo sich der hero‐ ische Traum vom Fliegen in der profanen Darstellung der Fliege verwirklicht, findet bei näherem Hinsehen die frühromantische Schwebepoetik - wie man sie etwa in Friedrich Schlegels wohl berühmtesten Athenaeum-Fragment konzent‐ riert findet - eine Fortsetzung: Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frey von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln poetischer Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. (Schlegel 2018: 92) Der technologische Fortschrittsgedanke in Superlativen, dominiert durch die Antriebskraft patriarchaler Virilität, bricht sich in der natürlichen Miniatur des Fliegens an und für sich - als eine universelle Idee, losgelöst vom ge‐ 161 Zum Motiv der Fliege in den Medien schlechtlichen Subjekt. Ein Tier, das selbst in der biedermeierschen Stube haust, gleichwohl als unzähmbare Kreatur ohne Namen nie Haustier sein kann. Dieser Beitrag nimmt solche narrativen Momente fliegenden Wechsels der Perspektiven zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden zum Anlass, um aufzuzeigen, wie schriftlich und bildlich mit Filemon Faltenreich und audiovisuell mit J’ai perdu mon corps das Motiv der Fliege selbst als Medium der Leerstellen, Zwischenräume und Obertöne in Erscheinung tritt, das zwischen den medialen Dimensionen des Erzählens vermittelt. In den sich nun anschließenden Analysen zeigt sich die Universalität des Motivs auch insofern, da es trotz seiner Avancen dem Teufel gegenüber für ein junges Publikum in seiner alltäglichen Erscheinung als unliebsamer Störfaktor fruchtbar gemacht werden kann. Filemon Faltenreich - Das unbemerkte Ende der Fliegen am Ufer des heiligen Stroms In einer Besprechung von Endes Filemon Faltenreich in der Zeit unter dem Titel Dickhäuter auf Sinnsuche wird dem Bilderbuch und seinem Verfasser eine ge‐ nussfeindliche Überdidaktisierung vorgeworfen, „[…] die noch die dämlichsten Kinder […]“ (o. A. 1985 / Nr. 02) spüren müssten. Bemerkenswert ist, dass sich die passionierte Kritik am namenhaften Autoren nur indirekt entlädt. Die profanen Fliegen, die in der Geschichte den Gegenentwurf zum kontemplativen Dickhäuter bilden, werden hier genutzt, um in drastischen Formulierungen die implizite Ideologie Endes offenzulegen: Im Plot der Erbauungsfabel ist eine ekelhafte Fliegen-Bagage, Haufentiere, […] Massenkreaturen, von minderer Herkunft und minderem Hirn, die wollen ganz dummdreist zum Fußballweltmeisterspiel herausfordern. (ebd.) Da der Elefant und die Fliegen einander als Kontrastpaar bereichern, soll das Motiv des Schwarms nun in Relation zum Protagonisten und auf der Ebene der histoire analysiert werden. Filemon Faltenreich hebt sich nicht bloß seiner Spezies gemäß von den anderen Tieren übergroß ab, der Elefant scheint zwischen den vielen Hautfalten auch die angehäufte Würde der abendländischen Kultur auf seinen „gewaltigen Beinsäulen“ (Ende 2004: 1) mit sich zu tragen. Der Dickhäuter wird also als zentrale Figur der Erzählung eingeführt; als ein philosophischer Schöngeist, der primär seine Zeit damit zubringt, sich von bedeutsamen Gedanken ergreifen und inspirieren zu lassen, die so groß sind wie er selbst, „[…] nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Seele“ (ebd.: 5). Eine eigentliche Handlung entrollt sich 162 Julia Goldlust erst mit dem Fliegenschwarm in seiner Hybris, der seine Überlegenheit anhand der von ihm ausgerichteten Fußballweltmeisterschaft unter Beweis stellen möchte. Da auch das Sportturnier vor dem Hintergrund der soeben entfalteten feierlichen Erhabenheit des Protagonisten nichtig und banal erscheint, wird mit den Fliegen und ihrem Vorhaben gleichsam ein kontrastives Weltbild artikuliert. Die Pointe des Plots besteht darin, dass die Fliegen sich zwar als Sieger des Turniers wahrnehmen, aber die als Gegner vorgesehenen Tiere von dem Wettstreit gar nichts mitbekommen haben: die Fliegen sind schlichtweg zu klein, als dass sie ihrem Anliegen Gehör verschaffen könnten. Überdies findet der vermeintliche Triumphzug des Schwarms durch ein sintflutartiges Unwetter sein jähes Ende, das sie samt ihrer Brutstätte, einem großen Tanghaufen, mit den „Fluten des heiligen Stromes“ (ebd.: 37) wegspült. So endet die Fabel mit Filemon Faltenreich, der die Notlage der Insekten nicht zur Kenntnis genommen hat und indes erneut seinen Blick und mit ihm seine Geisteskraft auf den Mond richtet. Das Epimythion liegt somit vielleicht in der aus dem Subtext abzulei‐ tenden Erkenntnis, dass ein vergänglicher Augenblick - je nach Warte der betrachtenden Instanz - in seiner zugeschriebenen Wertigkeit stark variieren kann. Thematisch verhandelt das Bilderbuch auf der Metaebene die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis und die vermeintliche Unvereinbarkeit von kont‐ rären Perspektiven in Ermangelung einer Kommunikation auf Augenhöhe. Stofflich mag sich hierin auch die abstrakte Umsetzung des Sprichworts ‚eine Mücke zum Elefanten machen‘ abzeichnen; demnach müssen die individuellen Befindlichkeiten den Figuren über den Kopf hinauswachsen: den Fliegen ihr Größenwahn, dem Elefanten der große Gedanke an den Mond, in dem er sich selbst reflektiert - zumindest wenn man die Illustration als ebenso wichtig wie den Text erachtet. Dies zeigt sich bereits in der paratextuellen Dimension anhand der Aufma‐ chung des Covers und der illustrativen Sinnstiftung durch Daniela Chudzinki. Bezüglich der materiellen Dimension kann allgemein bemerkt werden, dass mit der visuellen Aufbereitung mit Acrylfarben die Fabel nicht nur durch sichtbare Strichführung und geschichtete Farben an Textur bereichert wird, sondern auch der Text an Deutungsebenen gewinnt. Ein zentraler Gedanke, der Filemon Faltenreich umtreibt, und bleibender Fixpunkt der Geschichte ist der Mond. Mit dem Bezug zu diesem Motiv, lässt sich Ende in der Tradition der Romantik verorten: Im unbestimmten Mondlicht ist die Welt nicht mehr in hell und dunkel entzweit; die Konturen lösen sich auf und die Dinge verlieren ihre Gegenständlichkeit, ihr Entgegenstehen. Darum ist das Mondlicht zum Lieblingsmotiv einer Zeit geworden, die im Äußeren den Ausdruck des Inneren suchte. (Spinner 1969: 10) 163 Zum Motiv der Fliege in den Medien Durch die Varianz aus Text- und Bildgewebe findet auch die Perspektive auf den Mond, in seiner Hypostase als dem großen Gedanken schlechthin, eine jeweils neue Ausrichtung im visualisierten Verhältnis zwischen Himmelskörper und Betrachter. Der Gedanke des Elefanten als solcher zeigt sich zumindest textuell dabei eher statisch, wie im Übrigen der Mond selbst, der lediglich zu seiner vollen Phase abgebildet wird. Da die Interaktion zwischen Elefant und Fliegenschwarm einseitig verläuft und die geometrische Form der Kugel für das Verhältnis der Figuren eine Rolle zu spielen scheint, sofern sie als Spielball zwischen Theorie und Praxis fungiert, soll zunächst aufgezeigt werden, wie sich in der Beziehung des Elefanten zum Mond Rückschlüsse auf die Grundsituation der Fabel ziehen lassen. Auf dem Buchcover hebt sich von dem in Blautönen gehaltenen Hintergrund der Mond in kräftigem Gelb ab; in dessen Zentrum schreitet den Lesenden der Elefant entgegen. Die komplementäre Farbgestaltung setzt sich im Schriftbild fort: Der Name des Autors ist in einem satten Gelb und serifenloser Schrift gehalten, der Titel des Buches hingegen setzt sich, in nachtblauem Ton und Serifenschrift, durch die Schriftgröße sowie eine foliierte Oberflächenstruktur deutlich von den anderen Komponenten des Covers ab. Das Tier wiederum sticht in Farbgebung und Gestaltung kaum aus der Mondlandschaft heraus; allein die großen Augen blicken gut erkennbar unter den präzise gezeichneten Wimpern hervor. So scheint die Person anvisiert zu werden, die das Buch in den Händen hält. Dergestalt werden bereits vor dem Aufschlagen des Buches Mond und Elefant als diffundierende Einheit wiedergegeben. Diese Union findet sich auch auf den Seiten 7 und 8 wieder. In der sich über die Doppelseite erstreckenden Panoramaansicht sieht Filemon Faltenreich im Verhältnis zum Mond fast winzig aus, sogar sein Schatten übertrifft ihn noch in seiner Größe. Allerdings erkennt man in der zeichnerisch angedeuteten Oberflächenstruktur des Mondes auch die Silhouette eines in der Embryonalstellung zusammenge‐ drängten Elefanten (vgl. Ende 2004: 7 f.). In der Kombinatorik aus Text und Bild lassen sich Spiegelungspotenziale auf mehreren Ebenen antizipieren: In der Re‐ flektion des „[…] samtblauen Himmel[s] Indiens zu seinen Füßen“ (ebd.: 8) findet Filemon Faltenreich - die Spiegelung des Mondes im Wasser betrachtend - sein eigenes Antlitz zurückgeworfen. Der Elefant im Mond scheint eine subjektive Perspektive wiederzugeben, die auf den zweiten Blick den Protagonisten als narzisstischen Betrachter seiner selbst entlarvt. Die Illustration fügt dem Text eine mögliche romantisch-ironische Lesart hinzu, die aus dem großen Gedanken „[…] Mond! Sonst dachte er nichts […]“ (ebd.) doch auch eine gedankliche Selbstbeschauung macht. 164 Julia Goldlust Im Spiegel poetischer Reflexion kann […] [das romantische Ich] sich zwar momentan in eine schwebende Synthese mit der Welt versetzen, diese aber verbleibt im Reich des Scheins. Die erste Reflexion kann nur in einer zweiten usw. aufgehoben werden (vgl. Tholen 1999: 218). Die Fliegen und ihren Wohnsitz am Ufer des heiligen Stroms kann man erst nach der Lektüre mit Bestimmtheit auf dem Cover identifizieren. Seinen Platz als individuelles Tier bekommt das Insekt trotzdem vor dem Beginn der Geschichte und nach dem Ende auf den Innenseiten des Einbandes. Abb. 1: Einband mit Fliege in Filemon Faltenreich So fliegt man mit der Fliege als Repräsentantin des profanen Alltags sowohl der Fiktion entgegen als auch wieder hinaus. Es ist überdies ihr bildlich einziger Auftritt als Individuum, obgleich in der Debatte um die Ausrichtung des Wettbewerbs auch einzelne Fliegen zu Wort kommen. Aufschlussreich erscheint außerdem, dass der Luftwiderstand und die Geschwindigkeit während des Insektenflugs in der Darstellung durch eine comicartige Strichführung oberhalb der Flügel sowie den zur linken Seite geneigten Rüssel und die nach hinten gebo‐ genen Beine illustrativ betont werden. Die weit aufgerissenen - ebenfalls an eine Comicästhetik erinnernden - Augen scheinen hektisch und furchterfüllt mit dem Eintritt in die Fiktion dem nahenden Lebensende entgegenzublicken. Erst auf den Seiten 13 und 14 wird die Fliege textuell und bildlich als mit der Hand‐ 165 Zum Motiv der Fliege in den Medien lung interagierendes Motiv vorgestellt. Für ihre Bestimmung als Schwarmmotiv in Filemon Faltenreich müssen folgende Aspekte gesondert beleuchtet werden: Reinheit und Schmutz, religiöse Bezüge und die besagten kugelförmigen Ob‐ jekte. Inwiefern der Protagonist und der Mond eine semantische Einheit bilden, wurde bereits ausgeführt. Auf vielen Bildern findet sich noch ein weiterer Mond, der als Sichel ikonisch einen Gebäudekomplex in seiner Silhouette komplettiert und damit auf die religiöse Verortung des Handlungsraums verweist. Mit den Informationen durch die auktoriale Erzählinstanz auf der ersten Seite wird somit nicht nur der Dickhäuter als weiser Philosoph etabliert. Durch die diskursive Dimension des indischen Elefanten als heiliges Tier oder gar als hinduistische Gottheit Ganesha wird zusätzlich die zentrale Figur in einen mythologischen Verweisraum eingebunden: „Selbst die ältesten Schildkröten behaupteten, er habe immer schon […] [am heiligen Strom] gestanden, so weit sie sich zurück‐ erinnerten“ (Ende 2004: 1). Außerdem erfährt man hier bereits, dass Filemon Faltenreich sich nicht mit „Nebensächlichkeiten“ (ebd.) aufhält, was sich in der Rückschau auch auf den Fliegenschwarm beziehen lässt. Die Interaktion zwischen dem Text auf Seite 1 und dem Bild auf Seite 2 respektive des Motivs der Fliegen scheint ebenfalls erhellend. In der Illustration, die die gesamte Fläche ausfüllt, ist der Elefant sich im heiligen Strom waschend dargestellt. Nicht nur sieht der Rüssel hier aus wie ein Duschkopf, im Umkreis des Elefanten befinden sich Produkte für die Köperpflege und Reinigung; überdies endet das vermeint‐ liche Blau des Himmels in Ösen, die die Landschaft hinter einem Duschvorhang verschleiern. Die bei der Säuberung produzierten Schaumblasen schweben bis in die untere Bildhälfte von Seite 1 - in der Ästhetik der Verteilung und Durchbrechung auf der sonst weißen Seite ganz ähnlich wie später die vielen Fliegen dargestellt werden. Somit wird nicht nur Reinheit und Weisheit mit der Figur des badenden Elefanten zusammengeführt und die Fiktion als solche durch das Motiv des Vorhangs angedeutet, sondern wird auch der Kontrast zu den Fliegen aufgebaut. Die materielle Dimension betreffend, färbt sich das Bild ironisch mit der Überlagerung der Landschaftsebene durch den Vorhang und die Seifenblasen. Bezüglich der diskursiven Dimension mögen die vielen im Wasser treibenden Objekte zur Reinigung zusätzlich als ambivalente Anspielung auf die Verschmutzung des heiligen Stroms durch die Zivilisation zu verstehen sein, die in der Darstellung gerade mit dem Bemühen um die äußere und innere Kul‐ tiviertheit zusammengebracht wird. An dieser Stelle kann angemerkt werden, dass mit dem figuralen Motiv der Fliege ein schlüssiger Gegenpol zum Elefanten gesetzt wird. Nicht jedes Kind mag ihre religiöse Symbolik kennen, aber wird durchaus im Alltag beobachtet haben, dass Fliegen unterschiedslos jegliche Form von Hinterlassenschaften besetzen. Das Motiv des Insektenschwarms als 166 Julia Goldlust parasitärer und diabolischer Unheilbringer wird somit in der Fabel charmant und kindgerecht aufgegriffen. Der Kothaufen als gewöhnliches Anflugsziel wird durch das weniger ordinäre grüne Tanghaufen-Domizil ersetzt: „Der Haufen verbreitete einen äußerst unangenehmen Geruch“ (ebd.: 13). Erst im Anschluss der Erwähnung des besagten Haufens als ein die Idylle trübendes Objekt, wird der Bezug zum Fliegenschwarm hergestellt, der diesen bewohnt. Die Verbindung zum Kot wird überdies in der Anfertigung des Fußballs durch einen Mistkäfer aufgegriffen (vgl. ebd.: 29 f.). Eine interessante Analogie zur Einführung des Protagonisten ergibt sich: Genauso wie das Alter des Elefanten im Dunkeln bleibt, kann auch die Anzahl der Fliegen nicht genau bestimmt werden, „[w]eil sie einfach nicht ruhig halten konnten und beständig durcheinander schwirrten“ (ebd.). Auf diese Weise setzen sie sich zum einen in ihrer Dynamik vom Dickhäuter ab, zum anderen wird durch ihre unbestimmte Menge die Spur zum apokalyptischen Schwarm gelegt, der schon auf der nächsten Seite in der ersten Person Plural damit prahlt, er könne die Sonne verdunkeln, wenn er nur wollte (vgl. ebd.: 15) - eine Drohung, die immerhin illustrativ in den Raum des Vorstellbaren gehoben wird. Zu sehen ist nicht nur die durch die Insekten sich verfinsternde Sonne, sondern im Anschnitt sind auch Dächer und die Kuppeln von Moscheen mit der ikonischen Mondsichel zu erkennen. Eine weitere Anspielung auf den christlichen Glauben wiederum, die Nähe zum Teufel und seiner Zahl, wird auf textueller Ebene dadurch impliziert, dass durch das Fliegenkomitee wiederholt die Anzahl ihrer Beine zur Sprache gebracht wird, die sie zum Sieg führen sollen: „Bedenkt nur, eine Mannschaft mit insgesamt sage und schreibe sechsundsechzig Beinen! “ (ebd.: 20). Auch das Ende der Fliegen, das sie in Form des sintflutartigen Unwetters ereilt, kann mit einer religiösen Reinigung von der Plage des Schwarms aufgefasst werden. Die Formulierungen „[d]ie Fluten des heiligen Stroms aber schwollen“ (ebd.: 37) kann hier gar als gezielte Bestrafung durch eine höhere Macht gedeutet werden, die noch über die bildliche Ebene durch die große sich erhebenden Welle unterstützt wird. Abschließend lässt sich festhalten, dass den Fliegen als Schwarm insofern eine wichtige Funktion zukommt, da sie perspektivisch nicht nur illustrativ bereichernd sind. In der dynamischen Darstellung verleihen sie als schwarzer Punkt auf der weißen Seite dem Bild Tiefe. Durch das symbolische Schillern des Motivs zwischen Himmel und Hölle wird der Elefant als unfehlbare Gestalt hinterfragt, auch wenn zwischen den Figuren selbst keine direkte Kommunika‐ tion und nur ein einseitig imaginierter Zwist stattfindet. Der Schwarm bildet einen aktiven, ungehorsamen Widerpart zu dem gemütlichen Dickhäuter, der in der philosophischen Denkbewegung verharrt. So bleibt auch das Ende der 167 Zum Motiv der Fliege in den Medien Geschichte im Gleichnis der Mondbetrachtung ambivalent, da der Planet unter den Füßen des Elefanten im Anschnitt als farbenfroher Erdball illustriert wird, während der Mond sich in seinem Schein für die Lesenden - von der anderen Seite betrachtet - als farblos entpuppt; ein weiteres Objekt ist am Nachthimmel zwischen Mond und Erde zu sehen, das in der Distanz in Größe und Färbung an die Mistkugel und das ungewisse Schicksal der Fliegen erinnert (vgl. ebd. 40). Dass es dort, wo das Motiv der Fliege zum Einsatz kommt, oftmals um die perspektivische Provokation und die Zersetzung von Körperbildern geht, bestä‐ tigt sich auch mit dem preisgekrönten Animationsfilm, der Gegenstand der nun folgenden Motivanalyse ist. Hier wird der Körper als Einheit durch eine sehr spezifische Ästhetik nicht nur visuell, sondern in einer audiovisuellen Dekonstruktion zur Schau gestellt. In der Ausleuchtung des Loses eines Men‐ schen und seiner abgetrennten Hand wird mit der Inszenierung des Insekts die Schwellenzone zwischen Figur und Objekt ausgeschöpft. „Doch das Schicksal der Dinge, um das es […] hier geht, ist von dem des Leibes von vornherein nicht zu trennen“ (Waldenfels 2015: 246). J’ai perdu mon corps - Eine handgemachte Liebesgeschichte In J’ai perdu mon corps von Clapin fungiert die Fliege als eine die Stationen eines Daseins beobachtende Instanz. Dabei entsteht jedoch sukzessive der Eindruck, dass von dem Insekt selbst eine diabolische Intentionalität ausgeht, die das Leben des heranwachsenden Protagonisten nicht nur als eine Art schwebendes memento mori begleitet, sondern das auch zu seinem Nachteil zu intervenieren scheint. Um herauszuarbeiten, warum sich die Fliege motivisch weder als Abstraktum in Gänze erfassen noch als Insekt auf der Handlungsebene einfangen lässt, werden erneut insbesondere die paratextuelle Dimension in ihrer Gesamtheit und der Einstieg in die Fiktion in den Blick genommen. Doch nun sei zunächst in geraffter Form der Plot vorgestellt: Der Film erzählt von Naoufels Erwachsenwerden in bescheidenen Verhältnissen in Paris. Sein Leben, das seines Vaters und das seines älteren Bruders sind von dem Tod der Mutter durch einen Autounfall gezeichnet; durch einen Streit während der Autofahrt scheint sich Naoufel schuldig zu fühlen, was durch das gefühlskalte Verhalten seines Vaters genährt wird. So gestaltet sich das Zusammenleben der Hinterbliebenen schwierig. Naoufel, der durch viele Rückblenden zu Kind‐ heitserinnerungen als sensibles und kreatives Kind vorgestellt wird, verdient mittlerweile sein Geld als Pizzabote. Als er sich aufgrund eines Unfalls mit dem Moped bei der Auslieferung verspätet, verliebt er sich in die Stimme Gabrielles, die er über die Gegensprechanlage beim Verhandeln im Umgang mit der miss‐ 168 Julia Goldlust glückten Zustellung kennenlernt. Er versucht, mehr über sie herauszufinden und als sich ihm die Möglichkeit ergibt, ergreift er einen Job bei ihrem Onkel in einer Tischlerei. Der Annäherungsversuch verläuft für Naoufel positiv, bis er sich als der Pizzabote zu erkennen gibt und Gabrielle ihn daraufhin zurückweist. Nach einer Nacht im Vollrausch erscheint der Protagonist verkatert bei der Arbeit. Als ihn eine Fliege beim Holzzuschnitt stört und er versucht diese zu fangen, gerät er mit der Kette am Handgelenk unter das Sägeblatt. Hier setzt der zweite Handlungsstrang an, der parallel zum ersten Handlungsstrang inszeniert wird. Dieser umfasst den Weg der abgetrennten Hand auf ihrer Suche nach dem Körper Naoufels, der naturgemäß drastische und surrealistische Bilder zeitigt. Durch die Verschränkung mit dem ersten Erzählstrang sowie durch die zeichnerische Abstraktion und weil die Hand selbst als belebtes Objekt entworfen wird, geht der Film nicht im reinen Horror auf. Der Titel Ich habe meinen Körper verloren - so die deutsche Fassung - eröffnet bereits den Raum für Spekulationen über die Identität des Ichs. Unter Berücksichtigung der paratextuellen Dimension können bereits die Fährten zu den zwei Haupterzählsträngen aufgezeigt werden. Dieser Umstand soll genutzt werden, um das Motiv der Fliege in seiner Funktion für die erzähl‐ technische Dynamik vorzustellen und eine Genreeinordnung zu versuchen. Betrachtet man das Cover der Blu-ray so gibt der Handabdruck, der sich scharlachrot von einer urbanen Nachtlandschaft absetzt, bereits einen Hinweis auf die Identität des Ichs, das den Körper verloren hat. Die Größe des Abdrucks lässt Raum für die zwei Köpfe der zentralen Figuren, deren ernste Gesichtsausd‐ rücke die bedrückende Grundstimmung widerspiegeln, die dem Titel bereits anhaften mag. Die Fliege, die direkt neben dem Wort ‚corps‘ sitzt, lässt gleich‐ zeitig eine morbide Handlungserwartung im Bereich des Zombiefilmgenres zu, welche sich jedoch konträr zum nachtblauen Sternenhimmel und den Figuren verhält, die diesen vom Dach eines Hauses beobachten. Hierdurch scheint wiederum eher der Tonfall einer Liebesgeschichte angeschlagen zu werden, der sich ebenfalls in die weichen Züge der gezeichneten Gesichter hineinlesen lässt. Zusätzlich sind die Rezeptionsbedingungen des Streaming-Dienstes Netflix zu berücksichtigen. Hält man bei der Suche nach einem Film auf der Menüseite über dem entsprechenden Titelbild an, ertönt nicht nur der melancholische Sound‐ track, gleichzeitig werden eine Altersempfehlung ab 12 Jahren, die Laufzeit des Films sowie die Stichworte ‚Atmosphärisch‘, ‚Romantisch‘ und ‚Animation für Erwachsene‘ eingeblendet. Gut lesbar erscheinen in dem bewegten Bildmaterial überdies die Informationen zu den gewonnenen Preisen, der Oscarnominierung sowie der Verweis auf die zugrundeliegende Buchvorlage von Guillaume Lau‐ rant. Insgesamt lässt sich der Film als Genrehybride zwischen Adoleszenzfilm, 169 Zum Motiv der Fliege in den Medien Liebesgeschichte und surrealistischem Horror verorten. Auf der Ebene des discours sind die einzelnen Genretendenzen in einer komplexen Erzählstruktur miteinander verwoben, die in sich als Hauptthema eine Suchbewegung ver‐ einen, welche in dem ruhelosen Motiv der Fliege als allgegenwärtiger Beobach‐ tungsinstanz ihre Entsprechung findet. Was einander finden muss, sind der jugendliche Protagonist zu einem gereiften Selbst, die abgetrennte Hand zu ihrem Körper und die zentralen Figuren in der aufkeimenden Liebe zueinander. Die zwei Haupthandlungsstränge des Films werden um weitere Nebenstränge, Flashbacks und traumartige Sequenzen, ergänzt. Allen ist gemein, dass sie die Figur des Protagonisten für das Publikum mit Leben anreichern, um das Schlüs‐ selereignis der Spaltung der Hand vom Menschen mithilfe szenischer Puzzleteile zusammensetzen zu können. In ihrer Alltäglichkeit fungiert das Motiv der Fliege als verknüpfendes Medium zur Orientierung, das alle Handlungsstränge nahtlos passieren kann und auf diese Weise Bewegungs- und Zeit-Bilder im Sinne Gilles Deleuzes bedient. Stark vereinfacht ausgedrückt ist ein Bewegungs-Bild ein bewegtes Bild, das die Bewegung selbst mittels Montagetechnik wahrnehmbar macht. Die Bewegung realisiert sich insofern doppelt, weil in jeder Bewegung selbst ein Schnitt inhärent ist, wenn sich in ihrem Vollzug die Struktur des Ganzen verändert (vgl. Deleuze 1997: 26). Das Zeitbild hingegen macht Dauer wahrnehmbar. Es bildet Zeit ab, „[…] die jetzt nicht mehr aufgrund einer Bewegung gemessen wird, sondern selbst Zahl und Maß der Bewegung ist“ (Deleuze 2015: 346). In der filmischen Umsetzung des Insekts werden somit auch klare Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt momentan aufgehoben und kinästhetisch in Frage gestellt. Spielt man den Film ab, so fungiert die Fliege auch hier, ganz ähnlich wie in Filemon Faltenreich, zu Beginn als den Eintritt in die Fiktion weisendes Motiv. Noch bevor sich in der Synergie aus bewegtem Ton- und Bildmaterial die spezifische Sogwirkung der Filmästhetik einstellt, wird das Motiv als ein bedeutsames für die Narration vertont. Das schwarze Bild wird auf auditiver Ebene durch das Brummen des Insekts ergänzt. Die materielle Dimension betreffend wird, noch bevor die opening credits in weißen, skizzenhaften Lettern erscheinen, dem aktiven Publikum Zeit gelassen, sich das Motiv und den Raum zum Ton vorzustellen, da sich die Geräusche von Maschine und Tier vermischen. Erst dann kommt im hors-cadre durch die Landung der Fliege in Close-up und Draufsicht das Motiv zur visuellen Darstellung (vgl. Clapin 2019: 00: 00: 00-00: 00: 32). Auf auditiver Ebene bleibt sie trotzdem stets präsent, da ihre Inszenierung in der Vergrößerung die trippelnden Geräusche ihrer Füße und das Aneinanderreiben ihrer Gliedmaßen bei der Säuberung die lautstarke Vertonung legitimieren. Verstörend und drastisch wirken die Bilder 170 Julia Goldlust insbesondere dadurch, dass von der unteren rechten Bildseite immer mehr Blut in den Bereich des Sichtbaren und auf das Insekt zuläuft. Dabei findet sich die blutrote Farbe in den Facettenaugen wieder, wodurch sich mit der Farbgestaltung gleichsam ein semantischer Zusammenhang mit dem Verlust des Lebenssaftes eröffnet. Denn in der zeichnerischen Animation und ihrer computertechnologischen Unterstützung erscheinen sowohl die Fliege als auch die Schraube, die schräg oberhalb der Blutspuren auf dem sonst grau-metalli‐ schen Untergrund ins Bild ragt, eher der Darstellungsweise einer realistischen Graphic Novel nachempfunden zu sein, wodurch die roten Augen als gezielter Hinweis für die Beteiligung der Fliege gedeutet werden können. Bevor das Blut sie erreicht, fliegt sie ins hors-cadre davon (vgl. ebd.: 00: 00: 32-00: 00: 41). Das Bild wird erneut schwarz und weitere credits erscheinen, bevor der am Boden liegende Protagonist als derjenige offenbart wird, der das Blut verliert - sein Gesicht wird halb durch seine ebenfalls am Boden liegende, entzweite Brille wiedergegeben. Aus dieser Perspektive sieht man nun, wie die Fliege vor dem jungen Mann landet und auf diesen zu flattert, während sich das Maschinengeräusch zum elektronisch treibenden Klangteppich erhebt. Erneut erscheinen credits auf schwarzem Grund, die jedoch von einem Close-up schnell abgelöst werden, das eine andere Perspektive zeigt. Man blickt nun von der anderen Seite durch die Brillenhälfte und sieht die Hand; dass sie abgetrennt ist, kann man anhand der Blutspuren und des Perspektivwechsels nachvollziehen, denn die Finger müssen auf den Protagonisten gerichtet sein (vgl. ebd.: 00: 00: 41-00: 00: 56). Erneut findet nach der Einblendung des schwarzen Bildes mit credits eine perspektivische Veränderung statt: Im extremen Close-up nimmt das gezeichnete Gesicht des Protagonisten den Großteil der Bildfläche ein. Seine Augen haben tiefe Schatten und der Mund öffnet sich - so scheint es - im Schock der Realisation der abgetrennten Hand. In das Soundgemisch aus Maschine und Fliege hat sich nun die Atmung der Figur und ein an Tinnitus erinnernder Ton gedrängt, als die Fliege auf dem Gesicht landet, während sich im Hintergrund - nur im Ausschnitt zu erkennen - die Tür öffnet, eine Person eintritt, den Namen ‚Naoufel‘ ruft und sich zu dem am Boden Liegenden hinunterbeugt. Dieser wiederum wendet sein Gesicht der Stimme zu; die Fliege verharrt dabei scheinbar unbeirrt auf der Stelle (vgl. ebd.: 00: 00: 56-00: 01: 12). Nun überwindet das Motiv die zeitliche Distanz zwischen den Szenen. Der temporale Sprung wird zusätzlich durch schwarz-weiße Bilder als Vergangen‐ heit kenntlich gemacht. Man befindet sich nun im zweiten Handlungsstrang, der hier mit einer Kindheitsszene Naoufels einsetzt. Ihr voller Gehalt erschließt sich erst zum Ende hin, da sie eine rahmende Bedeutung für die Fliegen im Leben Naoufels bietet, die in diesem Kindheitserlebnis begründet scheint. In der Szene, 171 Zum Motiv der Fliege in den Medien die gleichzeitig die Figuren in ihrem Verhältnis als familiäre Einheit situiert, erklärt Naoufels Vater seinem kleinen Sohn, wie man eine Fliege fängt: Vater: Wenn du dahin zielst, wo sie ist, dann ist sie, wenn du zugreifst, nicht mehr da. Du musst sie überraschen. Nicht dahin zielen, wo sie ist, sondern dahin, wo sie sein wird. Der Trick ist, abzuwarten, bis sie ihre kleinen Beine aneinander reibt und dann daneben zu zielen. Naoufel: Das kann gar nicht klappen. Die Fliege sieht alles mit ihren großen Augen. Vater (lacht): Ja, das stimmt, aber sie kann nicht wissen, dass du daneben zielst. (Naoufel versucht vergeblich sie zu fangen.) […] Naoufel (stöhnt leise): Dein Trick ist doof. Vater: Ich hab’ nicht gesagt, dass es leicht ist. Es klappt nicht immer. So ist das Leben. (ebd.: 00: 01: 40-00: 02: 16) Der Dialog von Vater und Sohn kann gleichsam als Schlüssel für den Nach‐ vollzug der audiovisuellen Erzähltechnik verstanden werden: Handlungsstrang A zielt dahin, wo die Fliege sein wird, in der abgetrennten Hand des Protago‐ nisten. Auf tonaler Ebene ist die Fliege aber immer schon da. Die Bemerkung Naoufels zu den Augen implementiert gleichzeitig das Motiv der Fliege als allgegenwärtige Instanz der Beobachtung. Sie hat Facettenaugen, also Augen, in denen sich „[…] [a]lle Flächen zerteilen, überschneiden, zerlegen und [sich] brechen“ (Deleuze 1997: 42), wie in der szenischen Aufsplitterung des Lebens des Akteurs und seiner Hand in die Handlungsstränge. Abgesehen vom Dialog scheinen mit der Verfolgungsjagd die von der Fliege angeflogenen Objekte dem Publikum dazu zu verhelfen, die Hauptfigur näher kennenzulernen. So fällt der letzte Satz des Vaters bezüglich des Lebens an sich mit dem Landen der Fliege auf dem Globus zusammen. Das Brummen der Fliege wird lauter, wie zur Unterstreichung des zuvor Gesagten, das sich in der Geschichte des Heranwachsenden zu bestätigen scheint. Wo in dieser Szene noch die Fliege als Gejagte in Erscheinung tritt, potenziert sich in der audiovisuellen Ästhetik sukzessive ihre Allgegenwart im Alltag zu einer höheren Macht, die dem Erzählten perspektivisch vorgeschaltet ist. Den Kumulationspunkt dieser motivischen Inszenierung bildet nicht etwa die Szene des Handverlustes, sondern ein Moment, der vor dem Unfall stattfindet und die Fliege im höllischen Licht einfängt (vgl. Clapin 2019: 01: 00: 13-01: 00: 57): Im Übergang zur vorherigen Szene, die den Protagonisten zeigt, wie er auf der Party aus seiner Haut fährt, verkehrt sich das Bild mit der Verfinsterung der Stimmung zum bloßen Schwarz. In diesen Übergangsraum zwischen Zeit- und Bildsprung tritt die Fliege in das hors-cadre. Im Moment ihrer motivischen 172 Julia Goldlust Zurschaustellung regiert sie den filmischen Raum durch ihre spezifische Bewe‐ gungsdynamik und ihr Brummen, so dass es fast den Anschein erweckt, als hätte sie als Störfaktor nun endgültig die Fiktion durchbrochen. Im ständigen Erscheinen und Verschwinden in hors-cadre und hors-champ lotet sie die Raumdimensionen in ihrer audiovisuellen Darstellbarkeit aus. Als sie erneut aus dem Blickfeld hinausfliegt, dringt sie in die Vergangenheit ein, aus der heraus das Filmpublikum ganz plötzlich selbst angeblickt wird, da die Fliege direkt neben dem Auge eines Tieres landet, das sich nach ihrem erneuten Wegfliegen in der Halbtotalen als Ziegenbock offenbart. So sieht man das Insekt auf dessen Hörnern sitzen, während dieser gemächlich zum Überqueren der Straße ansetzt und somit dem Publikum als Ursache des Unfalls offenbart wird. Auf diese Weise erfährt die Fliege als zunächst objektionales Motiv in der visuellen Begleitung des Gehörnten eine symbolische Überhöhung als teuflisches Subjekt. Fazit - Fliegen transmedial Resümierend lässt sich festhalten, dass in den ersten Filmminuten bereits das besondere diskursive Potenzial der Fliege als Objekt der Inszenierung in der Sy‐ nergie aus Ton, Bild und Bewegung entfaltet wird. In der transmedialen Analyse bestätigt sich die oszillierende Motivik der Fliege bereits in der Fabel Filemon Faltenreich. Die motivische Janusköpfigkeit steigert sich in der permanenten Bild-Ton-Progression des Films, sodass mit der motivischen Metamorphose vom parasitären Objekt zum diabolischen Subjekt die Wandlungsfähigkeit der Kinästhetik selbst zur Schau gestellt wird. So bestätigt sich mit der Fliege auf eindrückliche Weise das Motiv mit Christine Lubkoll als „die kleinste semanti‐ sche Einheit“ (Lubkoll 2013: 542). Selbst wenn die Fliege nur in der Narration auftaucht, um als lästiges Insekt erschlagen zu werden, so geht ihre Inszenierung durch das symbolische Changieren doch über die integrative Funktion bzw. Indizien (s. Lubkoll in diesem Band, S. 40) als Atmosphäre schaffendes Motiv hinaus. Denn dort, wo das Leben in seiner Kürze zeitliche Dehnung bzw. ästhetische Sichtbarmachung in der Fiktion erhält, prägt die Fliege Figuren in deren Charakterentwicklung und Verhältnis zur inszenierten Welt. Wo sich Autorinnen und Autoren in den Text und dabei auch in das Insekt einschreiben oder dieses als schwarzer Punkt den Fokus und die Bewegungen der Kamera vorgibt, kann sich das Motiv situativ zum figürlichen Subjekt aufschwingen und rückt der menschliche Körper in die Rolle des betrachteten Objekts. Auf diese Weise stiftet die Fliege als subversiver Punkt auf dem Papierblatt oder in der audiovisuellen Vergrößerung und Vertonung als begleitende Instanz des 173 Zum Motiv der Fliege in den Medien Films Sinn als motivische Gestalt medialer Orientierung zwischen discours und histoire. Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie J’ai perdu mon corps (Frankreich 2019). Regie: Jérémy Clapin. [EA 2019]. Basierend auf dem Roman Happy Hand von Guillaume Laurant [EA 2006]. (Netflix). Primärliteratur Ende, Michael (2004). Filemon Faltenreich. Illustriert von Daniele Chudzinski. Stuttgart [u. a.]: Thienemann. Sekundärliteratur Deleuze, Gilles (1997). Bewegungs-Bild. Kino 1. A. d. Franz. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. 8. Aufl. Frankfurt / M. Deleuze, Gilles (2015). Zeit-Bild. Kino 2. A. d. Franz. von Klaus Englert. 7. Aufl. Frank‐ furt / M. Finzsch, Norbert (2009). ‚I don’t rejoice insects at all‘. Soziale Insekten in der westeuro‐ päischen Kulturgeschichte und im Science-Fiction-Film. In: Möhring, Mare / Perinelli, Massimo / Stieglitz, Olaf (Hrsg.) Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Mo‐ derne. Köln [u. a.], 163-176. Foucault, Michel (2013). Archäologie des Wissens. Frankfurt / M. Geimer, Peter (2018). Fliegen. Ein Portrait von P. G. Naturkunden No. 45. Schalansky, Judith (Hrsg.). Berlin. Kristeva, Julia (1982). Powers of Horror. An Essay on Abjection. A. d. Franz. von Leon S. Roudiez. New York. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie: Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellie‐ rung des kinder- und jugendliterarischen Motivs. In: Ders. / Dies. (Hrsg.) Narratoäs‐ thetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außensei‐ tern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 15-30. Lubkoll, Christine (2013). Motiv, literarisches. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.) Metzler-Le‐ xikon Literatur- und Kulturtheorie. 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Andererseits wird mit Hilfe der transmedialen Analyse literarischer Motive nach Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi erkennbar, dass das Zeicheninventar des Mediums Bilderbuch weit über die vielzitierte Bild-Text-Interdependenz hinausreicht und dass das Bilderbuch als ein zentraler Player der aktuellen, intermedialen Motivproduktion wahr‐ genommen werden muss. „Wir haben 100 Leute gefragt…“ Der auflösende Moment der Spielesen‐ dung Familien-Duell ( RTL 1992-2003) hat sich tief in die Erinnerung aller Game-Show-Fans eingebrannt und während der 1990er-Jahre einen populär‐ kulturellen Einblick in die kollektive Psyche Deutschlands ermöglicht. Ob die für diesen Sammelband zentrale Frage im Laufe der elfjährigen Ausstrahlungs‐ zeit gestellt wurde, ist leider nicht dokumentiert, jedoch denkbar: „Nennen Sie ein bekanntes Motiv der deutschsprachigen Literatur! “ Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wäre die Top-Antwort „Außenseiter“ gewesen. Zweifel an der quantitativen Vormachtstellung des figuralen Motivs kommen jedoch auf, wenn die historisch grundlegende Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur aufgeschlagen wird. In der über 100 Seiten starken Sammlung kommt das Wort „Außenseiter“ nicht ein einziges Mal vor (vgl. Merker & Lüdtke 1932). Mut für eine gewisse Relevanz des für diesen Beitrag ge‐ wählten Motivs „Außenseiter“ machen dagegen die exemplarischen Nennungen in Kurwinkels Bilderbuchanalyse (vgl. Kurwinkel 2017: 91) oder in Christine Lubkolls Beitrag zur Thematologie in diesen Sammelband: „Beispiele wären etwa die Motive des Außenseiters oder des Vampirs, des fremden Kindes oder des Umweltschützers […]“ (s. Lubkoll in diesem Band, S. 37). In dieser illustren Runde der figuralen Motive wirkt der „Außenseiter“ beinahe wie ein altbackener „Sonderling“, übrigens ein Synonym für „Außenseiter“, das in der zuvor genannten Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur schon erwähnt und auch in den Motiv-Forschungen Elisabeth Frenzels angeführt wird: „[…] bestimmte menschliche Typen, in deren Existenz etwas Situationsmabiges liegt, etwa der Bramarbas, der Misanthrop, der Sonderling, haben die Funktion von Motiven.“ (Frenzel 1963: 29) So sind auch Hamlet (vgl. Frenzel 1970: 278) oder Eulenspiegel (vgl. ebd.: 19) Figuren, die als Sonderlinge bezeichnet werden. Shakespeares Helden werden unter dieser Zuschreibung „Tatenlosigkeit, Melancholie und Demut“ anbeigestellt (ebd.: 278), dem Eulen‐ spiegel dagegen einerseits die Verkörperung des Groben und andererseits „die Schlagfertigkeit, den Realismus und den Witz, die Selbstlosigkeit und Genügsamkeit, die den Außenseiter arm leben und sterben lassen.“ (ebd.: 198) Gegenwärtig spielt bei einer breiten Recherche (ohne literarischer Spezifizie‐ rung) nach dem Schlagwort „Außenseiter“ der Tod oder zumindest eine stark problemorientierte Ebene eine prägende Rolle, da aus einer gesellschaftspoliti‐ schen Perspektive über das Außenseitertum ein kausaler Zusammenhang zu Gewaltakten wie Amok oder Terror hergestellt wird. Doch auch der Hikikomori (jap. für „sich einschließen“), der sich nicht gegen eine Menschengruppe bzw. nicht aktiv gegen die Gesellschaft stellt, sondern die soziale Isolation als Lebenskonzept anstrebt, ist eine problematische Form des zeitgenössischen Außenseiter-Daseins, das v. a. in Japan, aber auch in anderen Ländern bereits zu wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen führt. Howard S. Becker, der die gesellschaftliche Rolle „Außenseiter“ unter einer devianzsoziologischen Perspektive betrachtet, definiert es mit Blick auf Norm und Abweichung im Jahr 1963 wie folgt: Alle sozialen Gruppen stellen Verhaltensregeln auf und versuchen sie - zu gewissen Zeiten, unter gewissen Umständen - durchzusetzen. Soziale Regeln definieren Situa‐ tionen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen, indem sie einige Handlungen als „richtig“ bezeichnen, andere als „falsch“ verbieten. Wenn eine Regel durchgesetzt wird, kann der Mensch, der sie verletzt haben soll, als besondere Art Mensch angesehen werden, als eine Person, die keine Gewähr dafür bietet, dass sie nach den Regeln lebt, auf die sich die Gruppe geeinigt hat. Sie wird als Außenseiter angesehen. 178 Peter Rinnerthaler Doch der Mensch, der so als Außenseiter abgestempelt ist, kann darüber durchaus anderer Ansicht sein. (Becker 2014: 25) Mit diesem assoziativen Einstieg, der zu guter Letzt die Problematik der sub‐ jektbezogenen Perspektivierung aufgreift und der kursorisch um den Begriff bzw. um das Motiv des „Außenseiters“ kreist, zeigt sich, wie ausufernd und wie ambivalent das Phänomen „Außenseiter“ begriffen und kulturtheoretisch betrachtet werden kann. Dieser Beitrag möchte dieser Ambivalenz, der weder eine negative noch eine positive Bewertung zukommen soll, entgegentreten und das figurale Motiv „Außenseiter“ möglichst eng erfassen. Um einen konzisen Blick auf den „Formatierungsprozess“ eines Motivs (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21) zu erreichen, werden folgende Parameter abgesteckt. Die ausgewählten Beispiele der Primärliteratur … • können dem Bereich der Kinderliteratur zugeschrieben werden. • können im Sinne der Intramedialität nach Irina O. Rajewsky innerhalb eines Mediums Bilderbuch betrachtet werden. • können auf Grund der Erscheinungsjahre - nicht vor 2012 - zu einer synchronen Studie führen. • werden mit Blick auf objektionale, situationale, lokale und temporale Motive vorab kontextualisiert. • werden im Hauptteil mithilfe eines Bilderbuchs und des „Modells der transmedialen Analyse literarischer Motive“ nach Kurwinkel und Jakobi (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 20) einer stringenten und vereinheitlichten Betrachtung unterzogen. 1 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Medium Bilderbuch Dass es sich bei dem „Außenseiter“ um ein figurales Motiv handelt, ist wohl unbestritten. Dennoch lohnt es, auch einen Blick auf die weiteren Motiv-Formen zu werfen, die einleitend von Kurwinkel und Jakobi unterschieden werden, um zu sehen, ob und wie der „Außenseiter“ weitere Motive, v. a. auf der Bildebene zusammenführt. Objektionale Motive Auf der objektionalen Ebene fällt auf, dass Außenseiter-Figuren in Bilderbü‐ chern mit Attributen versehen werden, die sie einerseits distinguieren, anderer‐ seits auch als Marker für den Außenseiterstatus eingesetzt werden können. So tragen die Figuren in Oliver (2013), Das Löwenmädchen (2014), Greta haut ab (2017), Otto war nicht begeistert (2017) und Albert will lesen (2020) ein ihnen 179 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch angestammtes Objekt in den Illustrationen mit sich, das - der kunstgeschichtli‐ chen Ikonenforschung gleich - symbolischen sowie charakterisierenden Gehalt zugeschrieben bekommen kann. Vor allem das letztgenannte Bilderbuch, das den Protagonisten Albert durchgehend mit einem Buch und einem Stuhl in eine direkte Verbindung setzt, zeichnet ihn mit diesen Attributen als eine lesende Figur aus. Die weiteren Figuren werden kontrastierend mit Gegenständen versehen, die einem stereotypen Kindbild eher zugerechnet werden. So halten diese Figuren Kinderwägen, Tennisschläger oder eine Boombox in Händen, um dem bibliophilen Außenseiter objektionale Kontrapunkte entgegensetzen zu können. Situationale Motive Der lesende Albert, der als Rollenmodell am Ende des Bilderbuchs alle Figuren zum Lesen anstiftet, befindet sich in seiner Erzählung in keinem langfristigen oder identifikatorischen Prozess eingebettet, der ihn im Sinne des situationalen Motivs gerade Anschluss suchend oder sich von einer Majorität abgrenzend als Außenseiter deklariert. Ganz anders ist das im Falle der Bilderbücher Der Rote Baum (2012), Oliver, Herr Tiger wird wild, Das Löwenmädchen, Greta haut ab, Otto war nicht begeistert, Adrian hat kein Pferd (2019) und Lulu in der Mitte (2020). Alle Protagonistinnen und Protagonisten befinden sich in einer entwicklungspsychologischen Phase, die am besten mit Victor Turners Liminalitätskonzept beschrieben werden kann: In dem Aufsatz „Betwixt and Between. The Liminal Period” in „Rites of Passage” (1964) sowie in seinem Hauptwerk „The Ritual Process. Structure and Anti-Structure” (1969) entwickelt er aus van Genneps Beschreibung von Initianden während der mittleren Phase des Übergangsritus mit dem Begriff der ,liminalen Persona‘ den Prototyp eines undefinierbaren Zwischenwesens, das sich als Außenseiter oder Grenzgänger durch jenseitige Welten bewegt. Außerdem zieht er die instabilschwebenden Zustände des schwellenzeitlichen Wesens im Zentralbegriff der Liminalität zusammen, den er zugleich auf alle Transformations- und Übergangsprozesse sowie auf kulturelle Phänomene des Spielerisch-Reflexiven anwendet. (Nünning 2008: 733) Zwar bewegen sich die kindlichen Außenseiterinnen und Außenseiter in den Bilderbüchern nicht in jenseitigen Welten, doch in durchaus sich wiederho‐ lenden Raumstrukturen, wie gleich noch zu sehen ist. Doch für die Betrachtung des situationalen Motivs, das den „Außenseiter“ begleitet, trifft Turners Verweis auf „Zustände, Verhältnisse, Eigenschaften individueller und kollektiver Art“ (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 19) völlig zu, da sich die eben ge‐ nannten Figuren in einem „Transformations- und Übergangsprozess“ (Nünning 180 Peter Rinnerthaler 2008: 733) befinden, der sie in der Phase der Trennung oder der Angliederung von oder zu einer sozialen Gruppe abbildet. Browns Bilderbuch Herr Tiger wird wild deutet bereits im Titel darauf hin, dass es sich um einen Prozess handeln muss. Die Erzählung inszeniert schließlich den zivilisatorischen Trennungsmoment, indem der anthropomorphisiert illustrierte Herr Tiger zuerst beschließt, zu dem seiner Tierart angestammten Gang auf vier Pfoten „zurückzukehren“, sich schließlich seiner Kleider zu entledigen und den Lebensmittelpunkt in die Natur zu verlegen. In die entgegengesetzte Richtung im Sinne einer sozialen Deixis, orientiert sich das Bilderbuch Otto war nicht begeistert. Die misanthropisch angelegte Figur Otto weigert sich, bis kurz vor Ende der Erzählung an den geplanten Aktivitäten einer Ferienwoche teilzunehmen, womit er sich zunächst als intentioneller Außenseiter positioniert. Dies wird auf der Textebene mit dem sich stets wiederholendem Titelsatz „Otto war nicht begeistert“ verfestigt und in den Illustrationen durch die Figurenpositionierung sowie der Raumgestaltung sichtbar gemacht. Abb. 1: Jutta Richter und Jacky Gleich: Otto war nicht begeistert (2017) Aufgelöst wird der Prozess und angegliedert wird die Figur, indem Otto dank einer glücklichen Fügung im Kreise der Kinder sowie nicht mehr isoliert dargestellt wird. Der affirmative Satz „Otto war begeistert“ markiert im Text die gelungene Angliederung an die Gruppe, die den Jungen schließlich auf Händen über den rechten (positiv konnotierten) Bildrand trägt. Lokale Motive Ähnlich auffallend wie die sich wiederholenden Attribute im Kontext objekti‐ onaler Motive, erscheint die räumliche Strukturierung von Doppelseiten, die eine Außenseiterin bzw. einen Außenseiter auf der Bildebene narrativieren. Während zum Beispiel die Bilderbücher Das Löwenmädchen und Greta haut 181 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch ab die isolierten oder sich selbst isolierenden Figuren konsequent an den Bildrand setzen, bleibt den Außenseiter-Figuren in Otto war nicht begeistert und Albert will lesen lediglich ein stark begrenzter Aktionsraum im Eck links unten. Wobei der Begriff „Aktionsraum“ in Anbetracht ihrer passiven, rezeptiven Haltung beinahe als Euphemismus verstanden werden darf. Jacky Gleichs Bildkomposition in Otto war nicht begeistert realisiert eine Art topografische Klammer (s. Abb. 1), deren verjüngtes Ende immer der Außenseiter-Figur und das sich öffnende Ende der Gruppe vorbehalten ist. Dieses Gestaltungsmerkmal ist zudem die zentrale lokale Motivformatierung, um die exilierte Lokalisierung des figuralen Motivs „Außenseiter“ zu manifestieren: Die Vereinzelung der Figuren wird durch das Fehlen von räumlichen Beziehungen und durch Distanz hergestellt. Stets befindet sich eine Figur vereinzelt in einer Abseitsposition (meist in der linken Bildhälfte situiert), die von einer eng aufgestellten Gruppe an Figuren kontrastiert wird. Temporale Motive Van Genneps und Turners Erkenntnisse zum liminalen Zustand von Grenzgän‐ gern und Grenzgängerinnen und somit auch gültig für das Motiv „Außenseiter“ ist die Markierung einer temporal prekären Situation, die mit einer konkreten, abgrenzbaren Lebensphase einhergehen kann. Während Lulu in der Mitte als Sandwichkind per se eine temporal bedingte Problemstellung darstellt, zeigt Shaun Tan in Der rote Baum, wie problematisch Zeiten des Übergangs für Außenseiterinnen und Außenseiter sein können. Dafür setzt er die Protagonistin in von Doppelseite zu Doppelseite an Ausweglosigkeit zunehmende Situationen, die in der Zusammenschau als Stationen oder emotionale Perspektiven einer Depression interpretiert werden können. Besonders eindrücklich zeigt das jene Doppelseite, auf der die Hauptfigur (Gender nicht eindeutig festzustellen) in einer Glasflasche sitzt, der eine undefinierbare Flüssigkeit bis zum Bauch reicht und deren Isolation durch das Tragen eines antiquierten, schwer wirkenden Tauchhelms, verstärkt wird. Im Hintergrund ziehen dunkle Gewitterwolken auf, die den kargen sowie menschenleeren Steinstrand noch düsterer erscheinen lassen. Der Illustration werden die Worte „keiner versteht dich“ anbeigestellt (Tan 2012: 12 f.). Die Phase des Nicht-Verstanden-Werdens scheint sich schmerz‐ lich zu dehnen und wird mit einer weiteren Doppelseite ins Unendliche gestei‐ gert. Dort beobachtet man in acht Einzelbildern, wie die Figur zuerst Zählstriche auf einer undefinierten Bodenfläche anhäuft. Das Ausmaß der Zeitdehnung, das im Text mit „manchmal wartest du / und wartest / und wartest […] und wartest“ (ebd.: 18 f.) ausgeweitet wird, findet auf der Bildebene durch ein weites Herauszoomen auf eine überdimensionale Schnecke eindringliche Wirkung. 182 Peter Rinnerthaler Abb. 2: Shaun Tan: Der rote Baum (2012) Die Protagonistin sitzt auf der riesenhaften Schnecke, die eine ausgedehnte Spirale in den entleerten Raum zieht. Dank der extremen Form der grafischen Darstellung der subjektiven Wahrnehmung wird das Empfinden des Unwohlseins dieser prekären Lebensphase nachvollziehbar. Existentielle und intentionelle Außenseiter-Varianten Gerade für jene Außenseiter-Figuren, die ihr Schicksal nicht frei wählen, sondern „aufgrund von körperlichen und / oder sozialen Normabweichungen exkludiert sind, […]“ (Kurwinkel 2017: 91) scheint das temporale Motiv der sich dehnenden Ausgrenzung ein wesentlicher Bestandteil der Erzählung zu sein. Denn im Unterschied zu den intentionellen Außenseiterinnen und Außensei‐ tern, die Kurwinkel als „Grenzüberschreiter“ versteht, (ebd.) denen es auf ihren Aventiuren oft gar nicht schnell genug gehen kann, um zum Beispiel Elternferne (vgl. Lüthi 2005: 38) zu erreichen, hadern existentielle Außenseiterinnen und Außenseiter mit der Tatsache, dass sich ihr Zustand, d. h. ihr Außenseitertum, nicht zu verändern scheint. Ein Beispiel für eine Erzählung, deren Figur rasch die Trennung von den Eltern sucht, ist Greta haut ab. Nach nur zwei Ungereimtheiten mit Eltern und Bruder, in deren Darstellung sich die Protagonistin auf der 183 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch Bildebene stets weit von der Gruppe zu positionieren versucht, beschließt das Kleinkind ihr Glück in der Ferne zu finden und verlässt kurzerhand den sicheren Familienraum. So schnell wie der Austritt vonstattengeht, erfolgt allerdings auch die Rückkehr in das ihr angestammte Zuhause, womit die Außenseiterin ein rasantes Tempo, d. h. schnell getaktete erzählte Zeit vorlegt. Ähnlich pro‐ gressive Erzählungen von misanthropisch charakterisierten Figuren findet man in Olivia und die schlechte Laune (2013), Herr Tiger wird wild, Paule Pinguin allein am Pol (2017) oder Das ist mein Baum (2020), die ihren Außenseiter-Status durch impulsives Ausbrechen und Handeln nicht nur in den Illustrationen zeigen, sondern auch in der temporeichen Erzählform manifestieren. Das Motiv des existentiellen „Außenseiter“ wird vergleichsweise langsamer erzählt und nicht anhand einer Eruption gezeigt, sondern meist episodenhaft anhand einzelner Szenen abgearbeitet. So verspürt die Bilderbuchfigur Oliver keine Notwendig‐ keit, etwas an seiner exkludierten Situation zu ändern, d. h. die Isolation mithilfe von proaktiven Handlungen zu beenden. Der in den Illustrationen inszenierte Spieltrieb, der den Jungen fokussiert und ohne Interesse für sein Umfeld charakterisiert, wird von der Nonchalance des Textes unterstützt: „Oliver hatte das Gefühl ein bisschen anders zu sein. Aber das macht gar nichts. Er lebte glücklich und zufrieden mit seinen Freunden in seiner eigenen Welt.“ (Sif 2013: o. P.). Die Freunde sind Plüschtiere, seine eigene Welt ist im Abseits des kollektiven Aktionsraums zu finden und der entscheidende Moment, der ihn aus seinem intentionellen Exil holt, passiert zufällig nach vielen Stationen und einer sich dehnenden Wanderung, die keinen Zweck zu haben scheint, bis es am Ende heißt: „Oliver war ein bisschen anders. Aber das machte gar nichts … / Olivia war’s auch.“ (ebd.) Bei den nun genannten Beispielen wird eine weitere Kategorisierung augen‐ fällig: Da die Außenseiterinnen und Außenseiter allesamt als Identifikationsfi‐ guren auftreten, werden sie - zumindest eingangs ihrer Erzählungen - in der Vereinzelung dargestellt und sind nie Teil einer Gruppe von Außenseitern und Außenseiterinnen. Damit ist zu beobachten, dass das Motiv „Außenseiter“ in der Kinderliteratur tendenziell als singular und nicht kollektiv figurales Motiv umgesetzt wird. 2 Ein Tiger in der transmedialen Analyse literarischer Motive Mediale Dimension Wie zentral das Spannungsverhältnis zwischen einem singular figural ausge‐ führten Außenseiter-Motiv und dem ihm gegenüberstehenden Kollektiv ist, zeigt das für diesen Abschnitt ausgewählte Bilderbuch bereits auf der ersten 184 Peter Rinnerthaler Doppelseite: „Alle waren vollkommen zufrieden, so wie es war. Alle außer Herrn Tiger.“ (Brown 2014: o. P.) 15 zu eins steht es dort: 15 Tier-Figuren tragen grau-schwarz-weiße-beige Kleidung, die Köpfe erhoben, die Augen geschlossen und werden in Bewegung in Richtung linken oder rechten Bildrand dargestellt. Flankiert werden sie von zehn Tauben, deren Farbgestaltung die Monotonie der Szenerie unterstützt und die dank der fehlenden Kleidung anzeigen, dass die Tiere dieser Stadt auch unter dem schicken Stoff keine Farbakzente setzen können. All das steht im demonstrativen Kontrast zu dem Protagonisten, der zwar der konformen Mode der Majorität Folge leistet, jedoch durch drei Merkmale aus dem konservativen Rahmen fällt: Herr Tiger ist die einzige Figur, die sich nicht in Bewegung und nicht in Beziehung mit einem zweiten Tier oder Gegenstand befindet, sondern die Körpervorderseite den Betrachterinnen und Betrachter entgegenstellt. Herrn Tigers oranges Fell, das reine Weiß seiner Schnauze und die stechend grünen Augen erzeugen zudem einen Kontrapunkt zu der dominierenden, monotonen Farbgestaltung zu diesem Umfeld. Abb. 3: Herr Tiger als Kontrapunkt. Peter Brown: Herr Tiger wird wild (2014) Und Herr Tiger scheint mit den geöffneten Augen, die den Eindruck erwecken, er starre direkt aus dem Bilderbuch, die vierte Wand zu durchbrechen. Die Verbindung von Bild und Text, die bereits auf der ersten Doppelseite die absolute Außenseiterrolle anhand der Farbgestaltung, der Bildkomposition, der Figurenposition, der Bewegungsrichtungen und der Blickrichtungen manifes‐ tiert, zeugt davon wie das Medium Bilderbuch ein Motiv auf elaborierte Weise narrativieren kann. Während das grau-monotone Kollektiv auf harmonische Weise auseinanderstrebt, um den Außenseiter bildästhetisch als Einzelgänger 185 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch in Szene zu setzen, stellt der Text mit den Worten „alle“ und „alle außer“ eine klare Referenz sowie eine fruchtbare Beziehung zur Bildinszenierung her. Somit ist das Zeicheninventar des Mediums Bilderbuch definiert, das Kurwinkel und Jakobi einleitend im Kontext der medialen Dimension ihres Modells der transmedialen Analyse literarischer Motive voranstellen: Jan Urbichs Aussagen zu narrativen Medien auf die medialen Versatzstücke Motive übertragen, „erschließen und formatieren Medien“ (Urbich 2011: 117) diese. Definieren lässt sich dieser Formatierungsprozess als ein Festlegen des jeweiligen Zeicheninven‐ tars, das auf Ebene des discours zur Verfügung steht. (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21) Darüber hinaus greift Brown auf eine Vielzahl von ästhetischen Mitteln zurück, die dem zeitgenössischen Bilderbuch zur Verfügung stehen. Das ist zum Beispiel die ironische Brechung, die aus der fünffachen Wiederholung des spezifischen Aus-dem-Bilderbuch-Starren hervorgeht oder auch der spezifische Einsatz von Textsorten, die wiederum mit unterschiedlichen Typografien versehen werden. So wird oberflächlicher Smalltalk zwischen Tiger und Hirsch über das aktuelle Wetter in gleichförmige, brav abgerundete Sprechblasen gesetzt, die die Belanglosigkeit des Gesprächs in der gewählten grafischen Darstellung von Kommunikation zu wiederholen scheinen: „Guten Tag, Herr Tiger. / Guten Tag Herr Hirsch. / Schönes Wetter heute. / Ganz meiner Meinung. Wohl war.“ (Brown 2014: o. P.) Der zweite groß ins Bild gesetzte Akt der Wildheit - Herr Tiger ist gerade zum Vier-Pfoten-Gang übergegangen - wird in Form eines in Großbuchstaben gedruckten „ ROARS “ umgesetzt und in einem „wilderen“ Satz layoutiert. Die serifenlose Schrift, die im Erzähltext und in den zuvor erwähnten Sprechblasen für gediegene Neutralität sorgt, muss einer grob hingefetzten Permanentmarker-Schrift weichen, die den verbalen Ausbruch des Tieres ty‐ pografisch begleitet, wodurch sichtbar wird, wie im Bilderbuch Materialität und Medialität auf harmonische Weise zusammenspielen können. Gesteigert wird die über das Schriftbild transportierte Wildheit, indem sich das „ ROAR “ einige Doppelseiten später wiederholt, die Buchstaben jedoch über den Rand der Sprechblase hinausreichen und so die Klimax der orgiastischen Entwicklung in einem raumgreifenden Brüllen gipfeln lässt. Die spezifische Farbgestaltung der Trennung zwischen Außenseiter und Kollektiv wurde bereits erwähnt, kommt an einem Wendepunkt jedoch unter anderen Vorzeichen nochmal sinnstiftend zu tragen. Als Herr Tiger schließlich angekommen ist, bei sich und in der Wildnis, wird der Status des Außenseiters abermals schlagartig in Bild und Text gesetzt: „Aber Herr Tiger war einsam. Er vermisste seine Freunde. Er vermisste die Stadt. Er vermisste sein Zuhause.“ (ebd.) Unter diesen Worten realisiert 186 Peter Rinnerthaler Brown eine Ikonographie der Einsamkeit und reizt dabei das Zeicheninventar des Bilderbuches voll aus. Zunächst reduziert er die Farbsättigung der Wildnis, die auf den vier davorliegenden Doppelseiten einen starken Kontrast zu dem städtischen Grau hergestellt hatte. Abb. 4: Die Stadt als Sehnsuchtsort. Peter Brown: Herr Tiger wird wild (2012) Der Sehnsuchtsort Stadt wird genau in die Bildmitte gesetzt, der Tiger dagegen aus dem Zentrum gerückt. Darüber hinaus ist der Körper entgegen der in westlichen Kulturen als sich vorwärts bewegende (nach links und somit der Leserichtung zuwiderlaufend) positioniert. Der Tiger blickt sprichwörtlich zurück, in eine bessere Vergangenheit und wird der Gemütslage entsprechend von langen Regentropfen eingefasst. Augenbrauen, Ohren, Mundwinkel und Mähne hängen nach unten und sogar die Fellmaserung scheinen auf den locus amoenus zu zeigen. Zu guter Letzt starrt der Tiger, der gerade nur noch Augen für sein neues Umfeld hatte, den Betrachterinnen und Betrachtern abermals frontal an, um jenen reflexiven Moment zu teilen, indem der Tiger realisiert, dass er sich durch den Vier-Pfoten-Gang, den räumlichen Grenzübertritt und durch das Entkleiden intentionell in den Außenseiter-Status manövriert hat. Materielle Dimension Die letztgenannte Praxis, d. h. das Ablegen der Kleidung und die damit verbun‐ dene Wildheit, die das Tier von dem bekleideten Kollektiv unterscheidet, wird auf einer haptischen Ebene wiederholt, die den Rezipientinnen und Rezipienten des Bilderbuches beim ersten Durchblättern vielleicht noch verschlossen oder aber auch für immer verschlossen bleibt. Mit einer kreativen Form der Buchge‐ 187 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch staltung zeigen Verlag sowie die Urheberinnen und Urheber, welche materiellen Mittel dem Bilderbuch zur Verfügung stehen und wie diese laut Kurwinkel und Jakobi mit Bezug zu Michel Foucault Verweischarakter haben können: Die Nutzbarmachung [der diskursiven Dimension] knüpft an die erarbeitete Bedeu‐ tung der intertextuellen, intermedialen und metatextuellen Bezüge für das Motiv an und verbindet diese mit Foucaults Aussagen zum Buch als Gegenstand des Diskurses: „Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die erste Zeile und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus […]“ (Foucault 2013: 36) (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 26). Paratextuelle Dimension Das Bilderbuch Herr Tiger wird wild erzählt ebenfalls über „Titel, erste Zeile und den Schlußpunkt“ (ebd.) hinaus, indem es den Einband und den Schutzumschlag in die Erzählung einbetten. D. h., dass die materielle Dimension Teil der Erzäh‐ lung wird und somit auch das Motiv des „Außenseiters“ mitgestaltet. Denn der zuvor beschriebene Akt des Entkleidens, der den Protagonisten in eine liminale Phase führt und wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Trennungsprozesses ist, wird auch am Buch und nicht nur im Buch narrativiert. Nimmt man den Schutzumschlag des Bilderbuches ab, im übertragenen Sinn könnte diese Praxis ebenfalls als „Entkleiden“ des Buches bezeichnet werden, wird die wilde Seite des Tigers sichtbar. Abb. 5: Cover mit Schutzumschlag. Peter Brown Herr Tiger wird wild (2012) 188 Peter Rinnerthaler Abb. 6: Cover ohne Schutzumschlag. Peter Brown Herr Tiger wird wild (2012) Denn im Gegensatz zu dem Cover, wo das Tier mit Hut, Fliege und Frack, seiner ursprünglichen Ausgangslage gemäß angezogen, dargestellt wird, zeigt dieser mögliche zweite Blick auf das Buch, den Tiger in seinem in der Narration später folgenden, „nicht zivilisierten“, nackten Lebensweise. Doch nicht nur die Abbil‐ dung der schwarzen Streifen auf orangefarbenem Fell verweist auf den wilden Außenseiter-Status, sondern auch die deiktische Ausrichtung repräsentiert das Motiv: Die Maserung verläuft vertikal, wodurch die Figur in ihrem als wild konnotierten Vier-Pfoten-Gang realisiert wird. Dank des Schutzumschlages verfügt Herr Tiger wird wild im Vergleich zu anderen Bilderbüchern, die in den meisten Fällen ohne zusätzliches Einband‐ material auf den Markt kommen, über mehr Paratext, da die eingeschlagenen Papierflächen Platz für zwei Rezensionsauszüge (vorne) und einem Künstler‐ portrait (hinten) bieten. Diese Texte und auch der inhaltliche Teaser auf der Rückseite des Umschlags fokussieren allesamt auf das „Wild-sein“ und verweisen damit weniger auf das Motiv des „Außenseiters“, sondern vage auf das Motiv des „Wilden Kindes“: Langweilt es dich, immer brav und anständig zu sein? Willst du frei sein und was erleben? Herr Tiger weiß genau, wie du dich fühlst. Er beschließt, wild zu werden und sein Glück zu suchen. / Ein unerhört wildes Bilderbuch für alle Tiger da draussen.“ (cbj 2013) Der „Tiger“ wird somit zu einem Synonym für ein Konzept von „Wildheit“, das jede und jeder für sich abstimmen und dosieren kann; ein Gegenkonzept 189 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch zu den pädagogisch verbrämten Begriffen „brav“ und „anständig“. „Tiger“ wird jedoch in diesem Kontext wohl kaum als „Außenseiter“ gedeutet werden, womit der medienspezifische Paratext keinen Einfluss auf die Erzählung nimmt bzw. Teil des Zeicheninventars des Motivs wird. Erkenntnisreich wird jedoch der Blick auf intermediale Bezüge, die wie es Kurwinkel und Jakobi einleitend formulieren, wesentlich an der Gestaltung des Motivs teilhaben: Diese medienübergreifende und primär funktional determinierte Explikation der paratextuellen Elemente ermöglicht dann auch ihre Nutzbarmachung für eine moti‐ vanalytische Anwendung. Diese rahmen, präsentieren und deuten nicht allein den Text, den Film, das Hörspiel als Werk, sondern auch die in diesen Medien inszenierten Motive. (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 24) Dank des ständig in den Vordergrund tretenden Charakteristikums „wild“, das Titel, Erzähltext und Paratext prägt, liegt die intramediale Referenz zu dem wohl bekanntesten Bilderbuch nahe. Bezüge zu Maurice Sendaks Bilderbuch Wo die wilden Kerle wohnen (Where The Wild Things Are, engl. 1963; dt. 1967), das den Begriff „wild“ ebenfalls im Titel trägt, das auch einen Grenzübertritt in einen nicht-zivilisatorischen Raum narrativiert und das mit Blick auf die Erzählstruktur - Ausbruch, Wild-sein, Rückkehr - als eine Art Schablone verstanden werden kann, sind offenkundig und somit wenig fruchtbar für einen zeitgenössischen Blick auf das Motiv des „Außenseiters“. Zumal man bei Sendaks Protagonisten Max Bezüge zu dem figuralen Motiv des „Wilden Kindes“ naheliegender sind, als die des „Außenseiters“. Die diskursive Dimen‐ sion des Wilden wird im nächsten Unterkapitel genauer betrachtet. Für die paratextuelle Dimension sind dagegen intermediale und transmediale Bezüge erkenntnisreich, die in Rezeptions- und Produktionsprozessen Einfluss auf das Narrativ des sich isolierenden Tigers nehmen können. Mit einem abermaligen Blick auf die erste(n) Doppelseite(n), die eine biedere Gesellschaft in förmlicher Kleidung zeigt / zeigen und dabei an ein antiquiertes Bild Großbritanniens erinnern, bietet sich eine Referenz zu der im Jahr 2013 (Erscheinungsjahr Mr. Tiger Goes Wild) besonders populären TV -Serie Downton Abbey (2010-2015) an. Auch all jene, die die britische Produktion nicht gesehen haben, werden bei Promotion-Bildern im Internet, die meist den gesamten Cast vor dem ikonischen Handlungsort zeigen, eine Verbindung in Kleidungsstil, Farbgebung und aristokratischer Haltung der Figuren erkennen. Vor allem die Akribie, die hinter der aufwändigen Arbeit im Bereich Kostüm betrieben und aktuell in TV -Serien wie The Crown (seit 2016) auf die Spitze getrieben wird, zeugt von der Zentralität, die Mode und die damit verbundene Charakterisierung der Figuren in jeglichen medialen Erzählungen einnehmen 190 Peter Rinnerthaler können. Besonders dann, wenn es sich wie in den beiden genannten, britischen TV -Serien, aber auch im Bilderbuch Herr Tiger wird wild um hermetische Sozialräume handelt, aus denen es auf gewisse Weise zu entfliehen gilt. Ein weiteres ästhetisches Merkmal des Bilderbuchs, das schon mehrmals als Durchbrechen der vierten Wand bezeichnet wurde und damit die bildästhe‐ tische Leserinnen- und Leseransprache meint, lag im Erscheinungsjahr des Bilderbuches voll im Trend. Während 2013 gerade die letzte Staffel der TV -Serie The Office (2005-2013) lief, die u. a. auf Grund der sarkastischen Brechungen mittels direkt in die Kamera gesprochenen Monologszenen populär wurde, durfte sich das Drama-affine TV -und Streaming-Publikum 2013 zum ersten Mal von POTUS selbst angesprochen fühlen. Kevin Spacey in der Rolle Frank Unter‐ dwoods gab in seiner Rolle des mächtigsten Außenseiters der Welt immer wieder direkte Einblicke in die Psyche des Präsidenten und starrte den Rezipientinnen und Rezipienten dabei - wie der Bilderbuch-Tiger auch - direkt in die Augen. Aber auch Beispiele aus dem Bereich Kinder- und Jugendliteratur und -medien setzen schon viel früher auf diese Erzählstrategie, um das Narrativ auf sehr spezifische Weise zu gestalten. Zu nennen wären etwa Erich Kästners Romane oder Filme wie Ferris Bueller’s Day Off (Hughes 1986) und TV -Serien wie A Series of Unfortunate Events (2017-2019), die in Kommentaren die Leserinnen und Leser sowie Zuseherinnen und Zuseher direkt ansprechen. Narrative Ebenen Wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, zieht das figurale Motiv „Außenseiter” eine Reihe an weiteren Motiven an. Für die narrativen Ebenen eines Bilderbuches, die dieses Motiv aufgreifen, ist v. a. das situationelle Motiv von strukturgebender Bedeutung. Denn zur Wiedererkennbarkeit des literari‐ schen Motivs trägt nicht nur die Charakterisierung im Text und die Darstellung auf der Bildebene bei, sondern auch der Übergangsprozess, in dem sich die Protagonistinnen und Protagonisten befinden. Mit van Genneps und Turners Konzepts der Liminalität ist der Kern des Außenseiter-Narrativs benannt. Gemäß Frenzel rufen Motive gewisse Handlungsansätze hervor, die im Falle des „Außenseiters“ in den Grenzübertritten zu erkennen sind (vgl. Frenzel 2015: IX ). Damit der Protagonist von Herr Tiger wird wild zu der Erkenntnis kommt, dass das Wild-sein auch in der Stadt und im Beisein bzw. nur im Beisein seiner Freundinnen und Freunde möglich ist, muss er diesen ihn läuternden Prozess durchmachen. So wie das Sendaks Max, so wie das Tolkiens Frodo und Sam und so wie das Parzival erleben muss. Das Aventiuren-Schema ist auch dem Bilderbuch-Außenseiter eingeschrieben. Das muss jedoch nicht für alle medial, narrativ umgesetzte Motive des „Außenseiters“ zutreffen, sondern kann 191 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch durchaus als Spezifikum des kinderliterarischen Kerns des Motivs verstanden werden. Im Bilderbuch ist es kaum vorstellbar, dass eine Außenseiterin oder ein Außenseiter bis zum Ende keinen Anschluss findet, d. h. keine Angliede‐ rungsphase narrativiert wird, oder wie im Falle von Herr Tiger wird wild alle anderen Figuren auf dessen Seite gezogen werden. Als Gegenbeispiel kann die Figur Joker aus dem DC -Comic-Universum genannt werden, die in allen medialen Auftritten als Außenseiter charakterisiert wird, eine Angliederung an die Gesellschaft jedoch stets ausbleibt. Diskursive Ebenen Wie der Joker aber zu der ihm gegenüberstehenden Gesellschaft positioniert, geformt und interpretiert wird, ist jedoch wandelbar und eine Frage des zeitge‐ nössischen Diskurses, den Kurwinkel und Jakobi an das Ende ihres Modells der transmedialen Analyse literarischer Motive stellen. Wie man bei der Lektüre dieses Beitrages vielleicht feststellen konnte, wäre es nicht möglich ein Motiv zu beschreiben, ohne dabei an aktuellen Diskursfeldern anzustoßen, die auf die Erzählstruktur einer Motivgestaltung zwar keinen unmittelbaren Einfluss nehmen, die jedoch zum Beispiel ästhetische oder kulturelle Implikationen mitliefern; wie etwa modische Referenzen oder aber auch das Durchbrechen der vierten Wand. Das Bilderbuch Herr Tiger wird wild erzählt den Ausbruch eines Stadtbewoh‐ ners in einen unzivilisierten Naturraum, um den konstitutiven Grenzübertritt des Außenseiters möglichst plakativ zu gestalten. Für diese Erzählung wäre auch eine andere topografische Repräsentationsform denkbar gewesen; etwa der Ausbruch in eine andere, wildere Stadt. Das Bild des „Knoten[s] im Netz“ (ebd.) lässt sich auf das Motiv und die Motivanalyse anwenden und verweist auf dessen Eingebundensein in und Erzeugen von intertextuellen, intermedialen und metatextuellen Bezügen - und Bezügen, die über diese hinausweisen (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 26). Das zeitgenössische Bilderbuch ist immer auch eingebunden in Bezüge, die aus zeitgeschichtlichen, kulturellen Gegebenheiten stammen, die sowohl für die Produktionsals auch für die Rezeptionsästhetik eine zentrale Rolles spielen. Der nun implizierte Stadt-Land-Diskurs ist Teil der gesellschaftlichen Ausei‐ nandersetzung und während der Covid-19-Pandemie (zumindest in Österreich) nochmal stärker in den Vordergrund getreten. Das Thema „Klimakatastrophe”, das eine weitere Dichotomie eröffnet, nämlich Natur / Kultur schreibt sich eben‐ falls in die Erzählung eines Ausbruchs in die Wildnis ein. David Attenborough zuletzt veröffentlichte Dokumentation A Life On Our Planet (2020), die das Leben 192 Peter Rinnerthaler des Journalisten und die Veränderung während seiner Lebenszeit parallel führt, fokussiert auf den drastischen Rückgang der Tierwelt, im englischen Original den Rückgang des wildlifes. Browns Bilderbuch ist somit nicht nur eine - wie im Paratext angekündigte - Anleitung zum Wild-sein, d. h. zum Unanständig-sein, sondern auch ein Werk, dass sich (in der Rezeption) in eine lange Reihe an Büchern zum Thema „Natur(-schutz)“ einreiht (s. zum Naturschutz auch Trolley in diesem Band, S. 242). 3 Fazit Nach diesem Versuch, einen konzisen und gleichzeitig ausdifferenzierten, in‐ termedialen Blick auf das figurale Motiv „Außenseiter“ anzustellen, bleibt am Ende die Frage, welche Funktion die Außenseiterin oder der Außenseiter im Bilderbuch gegenwärtig einnimmt. Welche Rolle spielt es, dass diese Figuren in ihren Grenzübertritten porträtiert und narrativiert werden? Um auch eine linguistische Ebene und naheliegenden Blickwinkel zur Beantwortung mitein‐ zubeziehen: Das Wort „Außenseiter“ trägt ein „Außen“ in sich; eine andere Per‐ spektive, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten kann. Ob der Außenseiter eine positiv konnotierte, charismatische Figur ist, wie der postmoderne Tramp in Into The Wild (Penn 2007) oder eine negativ konnotierte, misanthropische Figur wie der Joker, ändert nichts am reflexiven Potenzial, die durch diesen Blick von außen möglich wird. Herr Tiger wird wild, weil er einen ihn anspornenden Beweggrund dafür hat, den die anderen Figuren zunächst nicht sehen, später jedoch auch zu ihrem Motiv im übertragenen Sinn machen, wild zu werden. Eine Welt und eine Literatur ohne Außenseiterinnen und Außenseiter ist eine dystopische Welt, die es verabsäumt, sich von alten Ideen zu trennen und sich neuen Ideen anzugliedern. Literaturverzeichnis Primärliteratur Arsenault, Isabelle (2020). Albert will lesen. A. d. Franz. von Anna Schaub. Zürich: NordSüd Verlag. Brown, Peter (2014). Herr Tiger wird wild. A. d. Amerik. von Uwe-Michael Gutzschhahn. München: cbj. Lindenbaum, Pija (2017). Greta haut ab. A. d. Schwed. von Kerstin Behnken. Hamburg: Oetinger. [Doris drar. Schwed. EA Lilla Piratförlaget 2015] Richter, Jutta / Gleich, Jacky (2017). Otto war nicht begeistert. München: Hanser. Sif, Birgitta (2013). Oliver. A. d. Engl. von Sophie Birkenstädt. Hamburg: Aladin. 193 Das figurale Motiv „Außenseiter“ im Bilderbuch Tan, Shaun (2012). Der rote Baum. A. d. Engl. von Eike Schönfeld. Hamburg: Aladin. Sekundärliteratur Becker, Howard S. (2014). Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. A. d. Engl. von Monika Plessner. 2. Aufl. Wiesbaden. Frenzel, Elisabeth (1963). Stoff-, Motiv- und Symbolforschung. 3. Aufl. Stuttgart. Frenzel, Elisabeth (1970). Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 3. Aufl. Stuttgart. Frenzel, Elisabeth (2015). Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6. Aufl. Stuttgart. Kurwinkel, Tobias (2017). Bilderbuchanalyse. Narrativik - Ästhetik - Didaktik. 1. Aufl. Tübingen. Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (2022). Genealogie, Bestimmung, Typologie und Modellierung des kinder- und jugendliterarischen Motivs. In: Ders. / Dies. (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 15-30. Lubkoll, Christine (2022). Thematologie - Intertextualität - Transmedialität. Theoreti‐ sche Zugänge zu einer Betrachtung des literarischen Motivs. In: Kurwinkel, Tobias / Ja‐ kobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 31-47. Merker, Paul / Lüdtke, Gerhard (Hrsg.) (1932). Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Berlin [u. a.]. Nünning, Ansgar (Hrsg.) (2008). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. 4. Aufl. Stuttgart. Trolley, Melanie (2022). „Es braucht [ein] Lied von den Farben im Wald“ Ein Streifzug durch die sanftmütigen Wälder der Kinder- und Jugendliteratur und -medien. In: Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 233-250. 194 Peter Rinnerthaler Sommer, Sonne, Schwimmen Das Freibad in Kinder- und Jugendromanen der Gegenwart Anna Stemmann Abstract: Der Beitrag widmet sich dem lokalen Motiv des Freibads in gegenwärtigen deutschsprachigen Kinder- und Jugendromanen. Es wird herausgearbeitet, welche Merkmale dieses Motiv kennzeichnen und welche Funktionen das Freibad innerhalb der Handlung, aber auch erzählerisch sowie symbolisch trägt. In enger Wechselwirkung mit dem Raum Freibad, der als Motiv immer wieder aufgegriffen und variiert wird, steht die Phase des Sommers. Die Analyse zeigt, welche verschiedenen Ebenen im Motiv des Freibades zusammenlaufen und wie diese narrativiert werden. Im Anschluss an Michel Foucault (1993; 2005) kann man das Freibad als eine temporäre Heterotopie deuten, denn dort treffen sich Kinder und Jugendliche ohne elterliche Aufsicht und können sich allein erproben. „Vermutlich werde ich jeden Tag im Freibad verbringen.“ (Höfler 2016: 15), ver‐ kündet die Protagonistin Zonja auf den ersten Seiten in Stefanie Höflers Roman Mein Sommer mit Mucks (2015). Das Freibad erscheint hier als ein zentrales lokales Motiv (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 19); ein solches Motiv bildet im Anschluss an Christine Lubkoll die „kleinste semantische Einheit“ (Lubkoll 2013: 542) eines Textes, wobei Motive intertextuell und intermedial immer wieder aufgegriffen und variiert werden können (s. Lubkoll in diesem Band, S. 40). Das Zitat aus Mein Sommer mit Mucks verdeutlicht außerdem die funktionalen Bedeutungen, die mit dem Motiv des Freibads verbunden sind: Innerhalb der Diegese strukturiert der Aufenthalt im Freibad die Planungen der Figur, auf narrativer Ebene den Text selbst. Das Motiv des Freibades ist in aktuellen Kinder- und Jugendromanen sehr präsent und setzt sich in Bezug auf die narrativen Ebenen (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 22) aus zwei Teildimensionen zusammen, die in ihrer Wechselwirkung schließlich auch symbolische Bedeutung codieren: zum einen eine zeitliche (1), zum anderen eine topographische Teildimension (2). Im Zusammenspiel dieser beiden Teildimensionen fungiert das Freibad als Motiv, um in symbolischer Hinsicht von Reifungs- und Entwicklungsprozessen der kindlichen oder jugendlichen Figuren zu erzählen (3). Der Sommer und die Sommerferien bilden als temporale Teildimension (1) des Freibadmotivs auf der Makroebene der Diegese sowie der Narration den zeitlichen Erzählhintergrund. Die Phase der Sommerferien steckt zum einen die Dauer der erzählten Zeit und damit des Erlebens der Figuren ab, zum anderen markieren Beginn und Ende des Sommers oftmals auch den Erzählanfang und -schluss der Texte auf der Ebene des discours. Auf der zeitlichen Mikroebene zeigt sich weiterhin, dass während des Sommers die sonst gültigen Regeln des Tagesablaufs außer Kraft zu treten scheinen, die Zeit viel langsamer vergeht oder dahin rast. Im Anschluss an Michail Bachtin lässt sich ein solches Gefüge von Raum und Zeit, in dem beide Bestandteile unauflöslich verwoben sind, als Chronotopos beschreiben (vgl. Bachtin 2008: 7). Vor allem in den großen Schulferien verschiebt sich die Zeitordnung hin zu mehr Möglichkeiten der Selbstgestaltung, aber gleichzeitig auch der diffusen Entgrenzung und potentiell überfordernden Auflösung von Zeitverläufen. Aufs engste verbinden und ver‐ dichten sich im Mikrokosmos des Freibads destrukturierte Zeitverläufe und Entwicklungsprozesse in der Raumdarstellung miteinander. Die räumliche Teildimension des Freibadmotivs (2) beinhaltet weiterhin zum einen die Konstruktion von spezifischen Grenzen nach Außen, die sich in der klaren Einzäunung des Gebietes zeigen, zum anderen gibt es auch innerhalb des Freibads Grenzziehungen und Raumordnungen, die soziale Hierarchien unter den Kindern und Jugendlichen verdeutlichen. Mit Michel Foucault lässt sich das Freibad als heterotopes lokales Motiv deuten, in dem Zeit und Raum alternativen Regeln folgen. In der Verbindung beider Teildimensionen wird von (Entwicklungs-)Passagen und Übergängen kindlicher und jugendlicher Figuren erzählt. Der folgende Beitrag arbeitet die Teildimensionen der Zeit (1) und des Raumes (2) sowie die damit verknüpfte Symbolik (3) in Detailanalysen von aktuellen Kinder- und Jugendromanen heraus. Im zeitlichen und räumlichen Dazwischen - Heterotopien Foucaults Überlegungen zur Heterotopie lassen sich sowohl an die zeitliche als auch die räumliche Teildimension des Freibads anschließen und bilden daher die methodische Schnittstelle der Analyse, um die Bestandteile des Freibadmotivs 196 Anna Stemmann zu erfassen und auch dessen symbolischen Einschreibungen und diskursive Dimension (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 25) zu diskutieren. (1) Eine Heterotopie zeichnet sich nach Foucault durch einen alternativen Zeitverlauf aus und „erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.“ (Foucault 1993: 43) Dies trifft zum einen für die zeitliche Makroebene zu, wenn die Sommerferien als Zeit außerhalb aller (schulischer) Regularien erscheinen. Zum anderen gilt dies auch auf der zeitlichen Mikroebene für die irregulären Zeitdehnungen oder -raffungen innerhalb einzelner Tage im Freibad. (2) In topographischer Hinsicht beschreibt Foucault Heterotopien als „Ge‐ genplatzierungen oder Widerlager […], gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (ebd.: 39). Dies trifft in der literarischen Inszenierung häufig auf das Freibad zu, denn dieser Raum bildet eine Insel im Normalraum, die sich nur während der kurzen Spanne des Sommers öffnet. Der Zutritt zu heterotopen Räumen ist reguliert, denn diese Orte „setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus“ (ebd.: 44). Dort herrschen eigene Regeln des Miteinanders, soziale Hierarchien werden ausgehandelt, spezifische Geräusche und Gerüche prägen diesen Raum und markieren diesen als abweichend vom Alltag: „Schwimmbäder riechen nach frisch gemähtem Rasen, nach Sonnenmilch und Pommes. Das dicke Kind ist morgens schon auf dem Einmeterbrett und übt Arschbomben“ (Bach 2012: 94). (3) Das Freibad steckt einen klar begrenzten zeitlichen und topographischen Rahmen ab, innerhalb dessen sich ein alternativer Gegenraum (vgl. Foucault 2005: 10) zum Alltag eröffnet: Hier können sich die Figuren ohne ihre Eltern frei bewegen. Das Alter fungiert als ein Marker für Abweichung, denn im Freibad treffen sich meist nur Kinder und Jugendliche, die noch nicht zur erwachsenen Gesellschaft gehören. Foucault führt einen solchen Gedanken der „Abweichungsheterotopie“ (ebd.: 12) im Hinblick auf Alter am Beispiel von Altersheimen aus. Dies lässt sich in anderer Richtung sinnvoll fortführen: Die Kinder und Jugendlichen entwickeln eigene Hierarchien und Ordnungen und müssen sich bei spezifischen Proben, etwa am Sprungturm bewähren. Mit Victor Turner kann man diese Anordnung als liminale Phase beschreiben, da sich hier ein Zeitraum der Entstrukturierung zwischen gesellschaftlich fixierten Positionen eröffnet (vgl. Turner 1969: 95) und bestimmte Rituale erfüllt werden (müssen). Für die Figuren ergibt sich daraus ein Raum „fließender Bedeutungen, Zugehörigkeiten und Identitäten, in der gesellschaftliche Struk‐ turschemata nicht mehr greifen.“ (Koschorke 2012: 115) Dabei laufen im Motiv des Freibads als heterotoper Raum drei Ebenen zusammen, „zeitlich (zwischen vorher und nachher), systematisch (zwischen dem einen und dem anderen) 197 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen und räumlich (zwischen hier und dort)“ (Achilles et al. 2012: 7). So ist das Freibad als lokales Motiv mit wiederkehrenden Strukturen, aber auch darin realisierten Handlungen, versehen und kehrt als „kleinste bedeutungsvolle Ein‐ heit eines literarischen Textes“ (Doering 2007: 514) in verschiedenen Variationen wieder und transportiert in symbolischer Lesart Entwicklungsprozesse der kindlichen und / oder jugendlichen Figuren. Ordnet man das Motiv des Freibads, ausgehend von diesen textuellen Merkmalen weiterhin in die „kulturellen und gesellschaftlichen Bezugsfelder“ (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 26) ein, verdeutlicht sich die diskursive Dimension des Motivs, wobei hier insbesondere die Konstruktion von Alter eine zentrale Rolle spielt. Umschlagsmomente, Schwellenzeiten, großen Ferien - Zeitstruktur Die im Folgenden analysierten Romane sind: Höflers Mein Sommer mit Mucks, Martina Wildners Jede Menge Sternschnuppen (2003), Florian Wackers Dahlen‐ berger (2015), Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011) sowie Stefanie de Velascos Tigermilch (2013). Alle Texte nutzen die klar begrenzte Zeitspanne der Ferien als Makrostruktur, um daran entlang zu erzählen. In Will Gmehlings Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel (2019) verbringen die drei Hauptfiguren gemäß des Untertitels sogar jeden „einzelnen Tag“ im Bad: „Den ganzen Sommer lang. Vom 15. Mai bis zum 15. September. Über hundert Tage.“ (Gmehling 2019: 8) Und auch in Martina Wildners Königin des Sprungturms (2013), Anne Beckers Die beste Bahn meines Lebens (2019) sowie Tamara Bachs Vierzehn (2016) werden die Sommerferien in graduellen Abstufungen themati‐ siert und, ebenso wie bei Gmehling, um Zeiten davor oder danach ergänzt. Im Hinblick auf die narrativen Ebenen (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 22) des Freibadmotivs ist neben der Phase der Sommerferien ein wiederkehrendes Element die Darstellung von Umschlagsmomenten, die in dem letzten oder ersten Schultag vor oder nach den Ferien markiert werden. Diese Stellen betonen Übergänge an den Rändern der Schwellenzeit der Sommerferien. So nutzen die Texte auch die symbolischen Implikationen „des jugendlichen Lebens […] und der Reife“ (Naschert 2012: 405), die mit dem Sommer verbunden sind. Das Ende des Sommers verweist somit häufig auf das Ende einer Lebens- oder Entwicklungsphase. Für die Protagonistinnen Nini und Jameelah geht der Sommer in Tigermilch am Beginn des Jugendromans erst los. Hier wird über den Verlauf der Jahres‐ zeit ein symbolischer Aspekt eingezogen, der entsprechend auf das Ende des Sommers zuläuft. Beide Hauptfiguren stellen sich einen spezifischen Zielplan für die Sommerferien auf, der ihren ersehnten Übergang ins Erwachsensein 198 Anna Stemmann forciert: Sie wollen sich während des Sommers entjungfern lassen und damit einen Meilenstein im Erwachsenwerden erreichen, der hier durch verschiedene Signale besonders rituell konnotiert ist (vgl. Stemmann 2019: 91). Die Sommer‐ ferien der Mädchen werden durch verschiedene Exzesse zur spezifischen Phase der Erprobung, Anti-Struktur und Grenzauslotung. Ins Freibad gehen sie im Verlauf des Textes zwar nur zweimal, jedoch an dramaturgisch einschlägigen Punkten am Beginn und Ende, womit die Freibadszenen der histoire eine narrative Funktion auf Ebene des discours einnehmen, die Symbolik des Textes unterstützen und durch das temporale Motiv des Sommers gerahmt werden. In narrativer Hinsicht bedeutsam ist auch die Thematisierung des Frei‐ bads in Beckers Die beste Bahn meines Lebens. Der Protagonist Jan besucht am Beginn des Romans ein letztes Mal sein vertrautes Freibad, bevor die Familie umzieht. Dieser einschneidende Punkt am Ende der Sommerferien markiert einen Umbruch und doppelten Abschied: „Dann sprang ich. Meinen Acapulco-Köpper […]. Ich tauchte perfekt ins Wasser ein. Abends lag ich dann auf meiner Matratze. Die letzte Nacht in meinem Zimmer.“ (Becker 2019: 9) Der 13-jährige Jan verabschiedet sich von seinem vertrauten Raum und parallel dazu von der Kindheit. Der weitere Verlauf entspinnt sich um die Neuorientierung des Jungen, wobei statt eines Freibades dann aufgrund des Wohnortswechsels ein Badesee eine zentrale Rolle einnimmt. Bisher vertraute Strukturen brechen für Jan weg und er muss sich neu orientieren. Der Kontrast von Freibad zu Badesee ergänzt in funk‐ tionaler Hinsicht die Konstruktion, denn während es in einem Freibad durch Bademeister und die Umzäunung noch mehr Regeln gibt, steht der Badesee für mehr Freiheit. Dieser Kontrast setzt sich weiter in der Erscheinungsweise des Wassers fort, die im Freibad normiert ist, während der Badesee mehr Offenheit transportiert. In Bachs Vierzehn wird statt von einem ganzen Sommer nur von einem einzigen Tag erzählt. Dabei ist als wichtiger Umschlagsmoment der erste Tag nach den Sommerferien gesetzt. In einer Du-Konstruktion und mit bewusst gesetzten Leerstellen steht das Erleben der 14-jährigen Beh im Zentrum. Der endende Sommer ist dabei symbolisch aufgeladen und als Übergangsphase mit der Öffnungszeit des Freibades unauflöslich verschränkt: „Eigentlich ist es noch Sommer. Zwei Wochen wenigstens noch. Auch wenn jetzt das Schuljahr angefangen hat. Auch, wenn das Schwimmbad Ende der Woche zu macht.“ (Bach 2016: 46) In der Verdichtung der erzählten Zeit auf einen einzigen Tag of‐ fenbart sich ein besonderes Moment der Veränderung, das für die Protagonistin verschiedene Ebenen tangiert und ihr bisheriges Leben umstrukturiert. Sowohl innerhalb des familiären Miteinanders nach der Trennung der Eltern als auch 199 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen im Klassenverbund, in den sie nach einer mehrwöchigen Krankheit vor den Ferien zurückkommt. Außerdem ist Beh verliebt und bekommt ihren ersten Kuss. Übergänge und erste Male sind die Leitelemente des Textes und laufen schließlich im Motiv des Freibads in einer Szene am Abend, und damit erneut an einem Übergangszeitpunkt, zusammen. Dass das Freibad außerhalb des Sommers bald funktionslos wird, stellt der Text an anderer Stelle subtil heraus, wenn Beh im Kunstunterricht von der Lehrerin „nach der Funktion von Gebäuden“ (ebd.: 48) gefragt wird. Metareflexiv verweist ihre Antwort auch auf die Bedeutung des Freibades, wenn der Sommer vorbei ist: „Menschen weg, Funktion hinfällig. Ort traurig. Eben Leerstelle.“ (Ebd.) Der Text changiert bewusst zwischen den ambigen Stimmungen von sommerlicher Leichtigkeit und zarter Melancholie des baldigen Endes. Mit einem Songtitel von Lana Del Rey gesprochen, hat Beh die Summertime Sadness (2012) erfasst, die auf die ambivalenten Lebenspassagen zwischen Kindheit und Jugend verweist. Dem Freibad am Abend steht der Morgen am ersten Schultag kontrastiv gegenüber, denn dort wird deutlich, welche reglementierende Funktion Schule hier einnimmt. Die zeitliche Einteilung geht mit einer räumlichen Organisation und einer habituellen Normierung von Tätigkeiten einher. (Krammer 2019: 68) Während in der Schule klare und repetitive Abläufe den Zeitverlauf durch‐ takten, kann Beh am Nachmittag und im Freibad ihre Einteilung selbstgestalten. Höflers Kinderroman Mein Sommer mit Mucks nutzt ebenfalls die Phase der Sommerferien als Rahmen der erzählten Zeit. Am Schluss reflektiert die Erzählstimme über die Definition des Sommers und benennt selbstreflexiv die Prozesse des Übergangs, die unauflöslich mit der Jahreszeit verschaltet sind: Der Sommer dauert also offiziell von Mitte Juni bis Mitte September. Das heißt, dass die Sommerferien noch im Sommer enden. Und trotzdem habe ich immer das Gefühl, als müsste ich dem Sommer Auf Wiedersehen sagen, wenn die Ferien zu Ende gehen. (Höfler 2016: 127) Eingangs des Textes hatte die Protagonistin und homodiegetische Erzählstimme Zonja bereits einen anderen Umschlagspunkt in die Ferienzeit in der atmosphä‐ rischen Beschreibung des letzten Schultags vor den Ferien erfasst. Nicht zufällig beginnt die Erzählung mit diesem Schwellentag, der in die bald alternative Zeitordnung hineinführt: „Der Sommer wächst wie ein gefräßiges Ungeheuer und bläst die dampfende Hitze ins Klassenzimmer, sodass wir matt auf unseren Schulstühlen kleben“ (ebd.: 13). Für Zonja bedeuten die Ferien aber zunächst nicht eine ungebrochen positive Stimmung, wie in der Umschreibung des 200 Anna Stemmann personifizierten Sommers als gefräßiges Ungeheuer bereits angedeutet wird. So findet Zonja die Ferien eigentlich eher öde: „Das Problem sind die Ferien an sich. […] Und überhaupt passiert in den Ferien einfach weniger.“ (Ebd.: 15) Auch in Wackers Dahlenberger passiert für die Protagonisten während der Sommerfe‐ rien wenig, wobei in der Schilderung der autodiegetischen Erzählstimme bereits in den ersten Sätzen eine anstehende Veränderung angedeutet wird: Alles war, wie es sein sollte. Ich liebte das Dahlenberger [das Freibad], ich liebte den Sommer. Aber gleichzeitig fühlte sich in diesem Jahr alles komisch an, so, als ob ich ein Bonbon lutschen würde, an dem noch ein Aluminiumschnipsel klebt. (Wacker 2015: 9) Die vordergründig positive Sommerstimmung wird gebrochen „von Melan‐ cholie und jener Angst […], dass dies der letzte Sommer dieser Art sein könnte“ (Portugal 2016: 26), womit bereits die symbolische Bedeutung des Freibads als Übergangsraum für Entwicklungsprozesse anklingt. Foucault hält fest, dass „Heterotopien oft in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen stehen“ (Foucault 2005: 16) - für die Freibadromane gilt dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen spielen jahreszeitliche Wechsel eine wichtige Rolle, zum anderen werden damit auch Entwicklungsprozesse der Figuren auserzählt. Das Wetter ist dabei im heterotopen Raum eng „mit dem Übergang, der Verwandlung“ (ebd.: 17) ver‐ bunden: „Du denkst, es ist immer Sommer - aber dann guckst du in die Bäume und siehst, dass sie anfangen, sich zu verfärben.“ (Gmehling 2019: 108) Der äußere Zyklus der Natur geht so eng mit dem inneren Entwicklungsprozess der Figuren einher. Am letzten Tag ist den Kindern beim Eintritt an der Kasse „ganz feierlich zumute“ (ebd.: 149) und das Ende der Sommersaison wird in Freibad am Abend mit einem kleinen Grillfest der Stammgäste rituell beschlossen und „[s]o ging der Somme zu Ende.“ (Ebd.: 154) Auch Mein Sommer mit Mucks endet bezeichnenderweise mit einer Szene im Freibad, „Ein letztes Mal“ (Höfler 2016: 138), womit der Text seine zeitliche Klammer schließt. Für die jugendliche Hauptfigur in Dahlenberger bedeutet das Ende dieses Sommers eine große Veränderung, da er sich dafür entscheidet, mit einem Begabtenstipendium auf ein Internat zu wechseln. Dieser einschneidende Punkt fällt mit der Inszenierung des Bades als temporären heterotopen Raum zusammen, denn „plötzlich war uns klar, dass die Zeit im Dahlenberger vorbei war, die Zeit, wie wir sie kannten. Natürlich würde jeder von uns weiter ins Bad gehen, aber es wäre dann etwas anderes.“ (Wacker 2015: 187) Eine neue Zeit nach dem Sommer bricht auch für die drei Geschwister in Freibad an und hinterlässt für sie eine Leerstelle: „Es war ein komisches Gefühl, am Nachmittag nach der Schule nicht mehr schwimmen zu gehen.“ (Gmehling 2019: 154) 201 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen Sommer, Sonne, Sonnenbaden - Raumstrukturen Foucault betont, dass der Zutritt zu heterotopen Räumen reguliert ist. Dies mag auf den ersten Blick für das Freibad nicht einleuchten, so ist es zwar meist umzäunt und damit topologisch isoliert, wenn man den Eintritt bezahlt, darf jedoch jeder eintreten. Viele der Texte inszenieren den Übergang in das Bad dennoch als spezifischen Schwellenmoment, der durchaus mit Schwierigkeiten und / oder „Eingangs- und Reinigungsrituale[n]“ (Foucault 2005: 18) verknüpft ist. Darin transportieren sich Aspekte der diskursiven Dimension in zweierlei Hinsicht: zum einen werden in dem Übergang Markierungen des Alters tangiert (darf man schon alleine in das Bad? ); zum anderen zeigen sich an diesem Übergangspunkt auch soziale bzw. ökonomische Hierarchien (hat man genug Geld, für den Eintritt? ). Die drei Kinder in Gmehlings Freibad können sich den täglichen Eintritt ins Freibad beispielsweise nur leisten, weil sie im Frühjahr im Hallenbad ein Kind vor dem Ertrinken gerettet und als Belohnung eine Freikarte für den Sommer bekommen haben. Bereits der weite 30-minütige Fußweg zum Freibad, „über den Fluss“ (Gmehling 2019: 9), betont in der topographischen Distanz den mühevollen Übergang, der schließlich ritualisiert in die skeptische Prüfung ihrer Karte mündet: „Und wieder gab es Theater wegen unserer Freikarte.“ (Ebd.: 20) Der Roman Dahlenberger betont ebenfalls den rituell aufgeladenen Übergang ins Bad, der jeden Morgen einer festen Zeitstruktur folgt, wenn die Freundes‐ gruppe sich um 9.00 Uhr trifft und die Kassiererin kritisch die Karten beäugt: Jeder von uns hatte eine Dauerkarte, und obwohl die Königin [die Kassiererin] das wusste, obwohl sie uns in den Sommerferien öfter zu Gesicht bekam als unsere Eltern, zog sie jeden Morgen die gleiche Nummer ab. (Wacker 2015: 11) In Wildners Königin des Sprungturms müssen die Hauptfiguren Carla und Nadja, die als Leistungsturmspringerinnen täglich trainieren, ebenso täglich die überwachte Schwelle ins Bad überwinden: „Dann musste ich an der Kassenfrau vorbei. Kassenfrauen waren gefährlich. Es gab solche und solche, richtig nett war keine“ (Wildner 2015: 46). In Bachs Vierzehn ist der Übergang hingegen weniger problematisch, wird aber dennoch als Übergangsmoment auserzählt: „Schmollend durch die Kasse, noch den Spätbaderabatt plus Schülerermäßigung rausgeholt.“ (Bach 2016: 83) Die Raumordnung in den Bädern folgt nach dem Übertritt eigenen Regeln, denn obwohl man „meint, Zugang zum Einfachsten und Offensten zu finden“ ist man „doch in Wirklichkeit […] mitten im Geheimnis.“ (Foucault 2005: 19) Dieser Aspekt der Paradoxie ist vor allem in Kinder- und Jugendromanen mit 202 Anna Stemmann 1 Dies gilt beispielsweise auch für Verena Güntners Roman Es bringen (2014). Der wichtigste Handlungsort ist eine Hochhaussiedlung mit angrenzendem Freibad. In diesem werden immer wieder Hierarchien ausgefochten, Liegeplätze und soziale Stellungen verteidigt und die ‚Kurzen‘ müssen den Älteren ihr Taschengeld abgegeben. Gleichzeitig ist das Freibad der zentrale Ort, um Mädchen kennen zu lernen. ungeschriebenen Gesetzen der sozialen Ordnung verbunden, die sich im Freibad in spezifischen räumlichen Platzierungen manifestiert: Wer wo sein Handtuch auslegt, ist streng reguliert und gibt Einblick in hierarchische Gefüge. Ein „Stammplatz“, „direkt hinter dem Fünfer“ (Becker 2019: 8) betont beispielsweise in Die beste Bahn meines Lebens besonderes Prestige und auch die Jugendlichen in Tigermilch haben ihren „Stammplatz“ (de Velasco 2013: 241), von dem aus sie das Geschehen im Bad genau taxieren. Der jüngere Viktor lässt sich in Jede Menge Sternschnuppen hingegen am falschen Platz nieder, erhält von älteren Jungen „Schwimmbadverbot“ (Wildner 2005: 162) und wird verscheucht: „Hey Milchgesicht, wer hat dir erlaubt, dich neben uns zu legen? “ (Ebd.) Die Raumordnungen und Handlungsweisen in‐ nerhalb des Freibads sind damit auch eng mit Altershierarchien verbunden. 1 Die Älteren bestimmen und haben ihre festen Plätze, während die Jüngeren Platz machen müssen. An der Spitze der Ordnung steht dabei in Jede Menge Sternschnuppen nicht zufällig „der Chef vom Sprungturm“ (ebd.: 22). Im Dahlenberger hat jede der Figuren ebenfalls ihren festen Ort, die jugend‐ lichen Hauptfiguren „in der Nähe des Kiosks […] im Schatten unter der Platane“ (Wacker 2015: 2) und der Bademeister Hackenbarth „in seinem Stuhl unter dem Schirm“ (ebd.: 13 f.). Der Bademeister ist der unhinterfragte Herrscher über das Gebiet, „der große Fisch im Becken“ (ebd.: 14). Topographisch genau vermisst die autodiegetische Erzählstimme Jan das Areal des Freibads und ordnet den Teilräumen ihre jeweiligen Figuren mit ihren Handlungshoheiten zu: Im Dahlenberger gab es ein paar unumstößliche Regeln, die schon immer galten und immer gelten würden: Hackenbarths Hoheitsgebiet umfasste das Becken und die Bänke, und jenseits davon, auf der Liegewiese und vor dem Kiosk, hatten wir so ziemlich alle Freiheiten. Die Weißen [Senioren] waren unantastbar, ebenso die Rosenbeete der Königin [Kassiererin]. Wir waren die ersten, die das Bad betraten, und die letzten, die es verließen. (Ebd.: 23) Eng verknüpft mit der Raumordnung ist somit auch eine zeitliche Ordnung in zweierlei Hinsicht. Zum einen gibt es Regeln, die von jeder Generation weitergegeben werden und wurden - „die schon immer galten und immer gelten würden“ (ebd.) und damit eine makroperspektivische Persistenz der Rituale herausstellt, „als könnte dieser Raum selbst endgültig außerhalb der 203 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen Zeit stehen“ (Foucault 2005: 16); zum anderen ist jeder einzelne Tag durch das Betreten und Verlassen in einer festen Reihenfolge gerahmt und strukturiert, womit die Jugendlichen für sich eine neue Zeitordnung etablieren. Die Zeit dazwischen folgt einem eigenen Verlauf „in einer Dauerschleife […], Sprung folgte auf Sprung“ (Wacker 2015: 37). Wichtiger Ankerpunkt im Tagesverlauf ist es, morgens als erster im Wasser zu sein, wenn Jan mit einem Sprung vom Einmeterbrett ritualisiert das Becken eröffnet und seine Spuren in das Wasser einschreibt: Er ist „der erste, der die Wasserfläche aufriss und sie für alle nachfolgenden Sprünge vorbereitete.“ (Ebd.: 25) Für die drei Bukowski Geschwister ist der Morgen in Freibad ebenfalls „immer ganz besonders“ und semantisch positiv aufgeladen, denn das „Wasser liegt Spiegelglatt da. Sonnenlicht glitzert. […] und es ist ganz still.“ (Gmehling 2019: 34) Denn normalerweise ist das Freibad „wirklich kein sehr leiser Ort“ (Höfler 2016: 17), wie auch Zonja in Mein Sommer mit Mucks resümiert. Für sie, die mit einem offenen Blick durch die Welt geht und mit wissenschaftlichem Interesse Besucherinnen und Besucher zählt und ungewöhnliche Fundstücke im Becken auflistet (vgl. ebd.), ist das Freibad gerade dann spannend, wenn viel los ist. Während es um sie herum trubelig ist, erscheint das Bad als „ein Ort der stillen Beobachtung“ (ebd.), denn nirgends „kann man so gut unter einem Baum sitzen, unbemerkt die Leute beobachten und dabei Statistiken aufstellen.“ (Ebd., 17 f.) Mit Foucaults Überlegungen zur Heterotopie lässt sich auch diese Paradoxie erklären, wenn „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen [gebracht werden], die eigentlich unvereinbar sind.“ (Foucault 2005: 14) Für Zonja über‐ lagern sich im Freibad die Raumqualitäten zwischen lärmendem Trubel und beobachtenden Studienobjekten. Damit erfüllt diese Konstruktion auch eine metareflexive Kommentarfunktion (vgl. Foucault 1993: 39), wie Foucault sie für Hetereotopien benannt hat. Einen solchen metareflexiven Hinweis auf die heterotope Konstruktion findet sich ebenso in Dahlenberger: Alles war mir vertraut wie sonst kaum etwas, die Bewegungen, Gerüche und Ge‐ räusche. Sie machten das Dahlenberger zu einem Ort, der unabhängig von seiner Umgebung existierte und den es nur gab, weil wir ihn so erschaffen hatten. (Wacker 2015: 15) Die Besonderheit des Freibads als Sommerraum ist außerdem, dass es nur als eine der „zeitweiligen Heterotopien“ (Foucault 2005: 16) funktioniert, denn außerhalb des Sommers ist der Raum geschlossen. Gerade deshalb bietet sich dieses reziproke lokale um temporale Motiv dafür an, um von Übergängen und Passagen zu erzählen. Die Erzählstimme in Dahlenberger zeigt sich entsprechend fasziniert von einem alten Foto, das das Bad im Winter zeigt, „eins, das nicht 204 Anna Stemmann zu den Sommermonaten, zum Geruch nach Chlor und gemähtem Rasen passte“, denn das „Becken ist mit einer Plane abgedeckt“ (Wacker 2015: 22). Oder um hier noch einmal auf Bachs Roman Vierzehn zurückzukommen: Außerhalb des Sommers verliert das Bad seine spezifische Funktion. Ferien, Freiheit, Familienstrukturen - Funktionen In auffälliger Weise sind in vielen Romanen die beginnenden Sommerferien nicht nur eindimensional positiv besetzt, wie auch die autodiegetische Erzähl‐ stimme Viktor in Wilders Jede Menge Sternschnuppen unmittelbar am Beginn eröffnet. Für ihn „liegt die langweiligste Zeit des Jahres vor mir: sechs Wochen Sommerferien in der Stadt.“ (Wildner 2003: 6) Ohne den Schulalltag brechen in den Ferien feste Strukturen und Routinen weg, was neben einem Freiheits‐ erleben ebenso überfordernd sein kann. Verstärkt wird ein solches Gefühl der Überforderung, wenn sich die Figuren in Familiensituationen befinden, die brüchig sind. So lebt der 13-jährige Viktor mit seinem Vater allein, der bis spät nachts Taxi fährt und daher bis mittags schläft. Ihr Miteinander ist zwar liebe‐ voll, dennoch hadert Viktor damit, immer wieder die Rolle eines Erwachsenen ausfüllen zu müssen, etwa, wenn er morgens die angebissenen Brote seines Vaters wegräumt, ihm Kaffee kocht und ihn weckt. Das Freibad eröffnet für Viktor einen Gegenraum, in dem er vordergründig der sommerlichen Hitze zu entkommen versucht, „Wasser macht glücklich“ (ebd.: 9), aber eigentlich auf der Suche nach festem Halt ist. Für Nini ist in Tigermilch das Freibad ebenfalls ein positiv besetzter Gegen‐ raum, der diametral zu ihrem dysfunktionalen Familienraum semantisiert ist. Während Ninis Mutter in der Wohnung „immer auf dem Sofa“ (de Velasco 2015: 36) liegt und sich wegen ihrer Depressionen kaum kümmern kann, findet Nini im Freibad hingegen Essen in überbordender Fülle: „Am allerliebsten aber mag ich das Essen. Überhaupt habe ich manchmal das Gefühl, als würde ich nur zum Essen ins Freibad kommen.“ (Ebd.: 49) Das Essen ist hier ein Zeichenträger, der nicht nur das Freibadgefühl im gestimmten Raum (vgl. Haupt 2004: 75) atmosphärisch untermalt, sondern zusätzliche Bedeutung für das dysfunktio‐ nale Familiengefüge codiert. Ebensolche Einschreibungen transportiert auch die Inszenierung des Essens in Gmehlings Roman Freibad. Die drei Geschwister Alf, Katinka und Robbie, aus „dem Wohnblock hinter den Gleisen“ (Gmehling 2019: 8) leben mit ihren Eltern gemeinsam in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Gezeigt wird ein liebevoller Umgang miteinander, implizit schwingt aber in vielen Details deutlich mit, dass die Familie mit sehr wenig Geld auskommen muss. Entsprechend sehnsüchtig betrachten sie das Angebot der Imbissbude im 205 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen 2 Im gegenwärtigen Jugend- und Adoleszenzroman markieren solche dysfunktionalen familiären Gefüge ein wiederkehrendes situationales Motiv. Siehe dazu weiter: Stem‐ mann 2019. Freibad, „wo sie alles haben, was du brauchst. Falls du Geld hast.“ (Ebd.) In die Raumbedingungen schreiben sich so auch soziale Hierarchien und ökonomische Differenzen ein. In anderer Weise brüchig ist das familiäre Miteinander, das in Dahlenberger nachgezeichnet wird. Während die Eltern des Protagonisten Jan geschieden sind, ist der Vater seines bestens Freundes an einer Depression erkrankt und verlässt das Haus kaum mehr. Die familiären Räume, die nur nebenbei erwähnt werden, 2 sind subtil negativ konnotiert und das Freibad Dahlenberger öffnet den Gegenraum zu diesen aufgestörten Gefügen. Ebenso aufgebzw. zerstört ist das familiäre Gefüge für den namenlosen Protagonisten in Nils Mohls Es war einmal Indianerland. Nach dem der Vater die Stiefmutter ermordet hat, befindet sich dieser auf der Flucht vor der Polizei. Der Roman erzählt von dem defragmentieren Erleben eines Heranwachsenden, dessen Welt aus den Fugen geraten ist. Verschiedene räumliche Fixpunkte markieren letzte Haltepunkte der Orientierung (vgl. Stemmann 2019: 107). Das Freibad steht dabei explizit für einen Raum des Regelbruchs, da der Protagonist dort nachts heimlich einbricht und an einer Party teilnimmt. Solche nächtlichen Besuche im Freibad kehren auch in anderen Texten wieder, wobei in funktionaler Hinsicht immer die normativen Grenzüberschrei‐ tungen damit verbunden sind. In den Romanen Freibad und Dahlenberger verbringen die Figuren heimlich eine oder mehrere Nächte im Bad und eignen sich den Raum nochmals neu an: Es gehörte ebenfalls zu den ungeschriebenen Gesetzen des Dahlenberger, das Wasser nachts in Ruhe zu lassen, als sei es etwas Lebendiges und müsse sich von den Anstrengungen des Tages erholen. (Wacker 2015: 64) Die normative Grenzverletzung des Verbots geht mit einer topographischen Passage einher, denn die Figuren müssen über die räumliche Schwelle des Zauns klettern. In Freibad krabbeln die drei Kinder hingegen unter dem Zaun hindurch, aber auch sie erleben das Freibad nachts noch einmal neu: „Plötzlich fühlte ich mich so gut! […] Alles war perfekt und richtig, das Freibad gehörte uns, den Bukowskis …“ (Gmehling 2019: 131) Zwar nicht im Freibad, aber dafür auch nachts am Badesee zieht der Prota‐ gonist Jan in Die beste Bahn meines Lebens am Schluss des Romans eben jene titelgebende Bahn, als er mit Flo gemeinsam im Mondlicht schwimmt: „Gleich, wenn wir bei der Badeinsel sind, werde ich sie küssen. Ganz sicher. Und zwar 206 Anna Stemmann richtig.“ (Becker 2019: 175) Die normativen Regelbrüche werden so auch als Entwicklungsmarker genutzt: Die Figuren erleben einschneidende Momente, die Schritte im Heranwachsen betonen. Der (Ab-)Sprung als Raumpraktik - Symbolik Neben dem jahreszeitlichen Wandel und den nächtlichen Regelbrüchen verweist noch ein weiteres Element im Motiv des Freibads auf Übergangs- und Verän‐ derungsprozesse der Hauptfiguren, so sind fast alle der Romane mit Szenen des Springens vom Turm unterlegt. Das Abspringen, das sich oft am Beginn noch nicht getraut wird, taktet den dramaturgischen Verlauf der Texte und markiert wichtige Umbruchspunkte als einschneidende Momente. Als Meilensteine des Heranwachsens listet Viktor in Jede Menge Sternschnuppen verschiedene Punkte auf, wobei er damit hadert, noch nichts davon erfüllt zu haben: Und ich hab immer noch keinen Stimmbruch. Mit zwölf war das nicht schlimm, aber mit dreizehn schon. Mit dreizehn muss man auch vom Zehner gesprungen sein und ein Mädchen geküsst haben. (Wildner 2005: 132 f.) Dass Viktor am Ende des Romans zumindest die letzten beiden Dinge erledigt hat, betont so die entwicklungspsychologischen Veränderungen. Diese wurden bereits am Beginn angedeutet, indem der Sprung als Symbol der Initiation eingeführt wird: Heute muss ich wenigstens vom 7,5er springen. Ich muss. Alle meine Kumpels sind schon seit Jahren runtergesprungen, auch vom Zehner. Nur ich nicht. Ich bin noch nicht mal vom Dreier gesprungen. (Ebd.: 8 f.) Im Verlauf des Textes klettert Viktor immer wieder auf den Sprungsturm und schafft sukzessive verschiedene Höhen. Erzähllogisch sind diese Erfolgs‐ momente mit positiven Entwicklungen in Viktors Familie verschaltet. Als sich sein Vater und seine Mutter wieder annähern und der Vater es daraufhin beispielsweise schafft, liegen gebliebene Aufgaben zu erledigen, sich ein neues Hemd kauft und die Wohnung mit einem Sofa neu einrichtet, springt Viktor in der unmittelbar anschließenden Szene zum ersten Mal vom 7,5 Meterbrett: „Echt harmlos, habe ich gedacht und mich fallen lassen.“ (Ebd.: 74) Unterschwellig wird in dieser Abfolge der Ereignisse gezeigt, wie sehr Viktor mit den aufgestörten familiären Bindungen hadert und wie diese sein Selbstbewusstsein beeinflussen. So erzählt der Roman nicht allein von Viktors individuellen Übergangspassagen, sondern stellt diese in Wechselwirkung zum familiären Miteinander. Der letzte 207 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen Satz des Romans betont dann nochmals die subjektive Passage von Viktor im Heranwachsen, als er seinen ersten Kuss erlebt. Kleinere Schritte der Reife machen auch die drei Kinder in Freibad. Mit zehn, acht und sieben Jahren sind diese noch deutlicher in der Lebensphase der Kindheit verortet, verändern sich aber ebenfalls. Am Beginn formulieren sie drei Ziele, die ihren Sommerverlauf strukturieren: „Katinka wollte einen Kilometer kraulen. Ich wollte vom Zehner runter. […] Robbie […] musste anständig schwimmen lernen.“ (Gmehling 2019: 17) Schrittweise nähern sie sich, mit Fort- und Rückschritten, im Verlauf des Sommers im Freibad diesen Zielpunkten an und schaffen am Schluss alle drei, bezeichnenderweise zu dem Zeitpunkt, als sich bereits der Herbst im Bad ankündigt (vgl. ebd.: 108 ff.). Wie oben bereits erwähnt, gibt es in Tigermilch zwar nur zwei Szenen im Freibad, diese sind mit ihrer Platzierung am Anfang und Ende des Textes aber dramaturgisch bedeutsam und zeichnen in funktionaler Hinsicht eine spezifi‐ sche Figurenentwicklung nach, die mit dem Absprung vom Zehnmeterbrett verknüpft ist. Amir, der gute Freund der Protagonistinnen, traut sich am Beginn noch nicht, zu springen und muss wieder herunterklettern: „Ein paar Jungs johlen. Verlierer, Verlierer! “ (de Velasco 2015: 53) Erst am Ende des Romans wagt er den Absprung und blickt nun zuversichtlich nach Vorn (ebd.: 244). Sichtbar wird in dieser Passage auch, dass das Abspringen auf sehr deutliche Weise mit Genderperformanzen verbunden ist, womit sich ein weiterer Aspekt der diskursiven Dimension des Motivs zeigt. Dies haben bereits die Romane von Wildner und Gmehling angedeutet, denn fast ausschließlich sind es die Jungen, die ihren Mut im Sprung beweisen müssen, „[u]nten stehen dann immer die Mädchen und gucken“ (Gmehling 2019: 21) und „oben im Gedrängel“ auf der Plattform müssen die Jungen „cool sein.“ (Wildner 2005: 9) Für Zonja in Mein Sommer mit Mucks ist es beispielsweise kaum relevant, dass sie Angst vor dem Springen hat (vgl. Höfler 2016: 34) und auch im Dahlenberger versuchen sich allein die Jungen mit gewagten Sprüngen zu profilieren, während die Mädchen sich sonnen (vgl. Wacker 2015: 15). Allein in die Königin des Sprung‐ turms stehen zwei Mädchenfiguren im Vordergrund, die sich nicht nur trauen zu springen, sondern dies als Leistungssportlerinnen perfektionieren. Während der größte Teil des Romans ihren Alltag und das Miteinander während des Trainings in einem Schwimmbad thematisiert, beginnt die Erzählung bezeichnenderweise mit einer Szene am Ende der Sommerferien im Freibad. Hier zeigen sie, nachdem „der Sprungturm lange genug durch schlechte Sprünge entweiht worden war“ (Wildner 2015: 9) allen anderen ( Jungen), wie es geht. Zwar nicht als Leistungssportler, aber mit großen Ambitionen trainieren die Jungen in Dahlenberger täglich ihre Sprünge vom Einmeterbrett. Da kein 208 Anna Stemmann richtiger Sprungturm vorhanden ist, müssen sie dafür umso mehr an der Technik feilen: „Der Doppelte rückwärts war unser heiliger Gral“ (Wacker 2015: 17). Jeden Tag üben sie, aber schnell wird deutlich, dass sie diesen Sprung mit den begrenzten Möglichkeiten des Schwimmbads auf dem Einmeterbrett nicht schaffen werden. Aufs engste ist diese Erkenntnis mit der Hauptfigur und autodiegetischen Stimme Jan verbunden, denn er steht vor einer großen Entscheidung über seinen weiteren Lebensweg. Im übertragenen Sinne figuriert dabei die Beschränktheit des Freibads in der zu kleinen Sprunganlage in seinem vertrauten Raum auch die Begrenztheit für seine Entwicklungsmöglichkeiten. Jan muss den Absprung aus dem Dorf hinauswagen, um sein Potential entfalten zu können. Entsprechend endet der Roman mit einem Besuch in der Großstadt Frankfurt, wo er als rituellen Moment nicht nur das erste Bier mit seinem Vater trinkt (vgl. ebd.: 207), sondern auch vom Zehnmeterbrett springen kann (vgl. ebd.: 210). Dass Jan ausgerechnet diesen ersten Sprung „verkackt“ (ebd.) und kurz darauf ein großes Gewitter losbricht, betont nochmals die Widrigkeiten solcher Übergangsprozesse, die hier kein eindimensionales Ende finden. In Dahlenberger, wie auch in Abstufungen in Jede Menge Sternschnuppen und Freibad ist die Suche nach dem perfekten Sprung leitmotivisch realisiert und mit dem Raum des sommerlichen Freibads verschränkt. Das Freibad als lokales Motiv - Schluss Das Freibad als lokales Motiv beinhaltet verschiedene Elemente, die zusammen‐ laufen und sich wechselseitig bedingen und durchdringen: Die sommerliche Jahreszeit, die heterotope Raumstruktur als Gegenraum sowie die Symbolik des Springens. Aufs engste verzahnen sich diese drei Aspekte, um damit von Entwicklungsprozessen und Passagen zu erzählen. Das Motiv des Freibads erfüllt damit neben seiner Bedeutung als Handlungselement sowohl narrative als auch symbolische Funktionen. Die Handlungsweisen und Bewegungen der kindlichen und jugendlichen Figuren innerhalb des Raumes des Freibads, so gut wie immer ohne Eltern, verweisen auf innere Entwicklungsprozesse der Figuren. Ganz besonders zentral ist dafür der (Ab-)Sprung vom Turm. Die Sommerferien und der Sommer als Jahreszeit betonen einen temporären Schwellenzeitraum, der auch symbolisch markiert ist. Einschlägig sind dafür Übergangsmomente an den zeitlichen Rändern des Sommers, die auch in den Anfängen und Schlüssen der Erzählungen betont werden. Die heterotope Raum‐ struktur, als Gegenraum, betont außerdem den Status des Dazwischenseins der Figuren. Analysiert man das Freibad als Motiv, ist es sinnvoll, die drei Aspekte von Zeit, Raum und Symbolik auszudifferenzieren, gerade aber auch in ihrer 209 Das Motiv des Freibades in Kinder- und Jugendromanen Reziprozität zusammenzudenken, um die vielschichtige Funktion des Motivs diskutieren zu können. Literaturverzeichnis Primärliteratur Bach, Tamara (2012). was vom Sommer übrig ist. Hamburg: Carlsen. Bach, Tamara (2016). Vierzehn. Hamburg: Carlsen. Becker, Anne (2019). Die beste Bahn meines Lebens. Weinheim: Beltz & Gelberg. Gmehling, Will (2019). Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel. Wuppertal: Peter Hammer Verlag. Höfler, Stefanie (2016). Mein Sommer mit Mucks. Weinheim: Gulliver. Mohl, Nils (2011). Es war einmal Indianerland. 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Das Motiv des Labyrinths inszeniert hierbei grundlegend transmediale Handlungsräume, deren Topographie und meta‐ phorische Eigenschaften vielfältige Erfahrungshorizonte anbieten. Ein beson‐ deres Augenmerk legt der Beitrag auf Differenzierungen, die sich aus den aisthetischen und ästhetischen Dimensionen des Motivs in unterschiedlichen medialen Aufführungen ergeben. Ausgehend von der Annahme, dass das Labyrinthmotiv es insbesondere erlaubt, an Entwicklungs- und Erfahrungs‐ horizonte von Kindern und Jugendlichen anzuknüpfen und diese zu adres‐ sieren, schließt der Beitrag mit Überlegungen zu didaktischen Potentialen des Motivs. Einleitung Nach Horst S. und Ingrid G. Daemmrich lassen sich erste Ansätze zu einer Motiventwicklung in Vergils Äneis identifizieren: In der odysseeischen Hälfte des Epos verfolgt Aeneas seinen Weg wie einem unikursalen Labyrinth, in dem es keine Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Dem Irrenden bleibt hier nur ein Pfad, der jedoch immer wieder sehr nah am schlussendlichen Ziel vorbeiführt. Bereits in dieser Ausführung kommt dem Motiv die Funktion eines Zeichens symbolischer Bedeutung zu. Als Symbol verweist das Labyrinth auf Prozesse, die zwischen Chaos und Ordnung ebenso vermitteln wie zwischen Initiation und Rückkehr oder Tod und Wiedergeburt. Etwa seit dem 19. Jh. lässt sich eine Entwicklung hin zum lokalen Motiv beobachten: Als „Einkreisung von Figuren in undeutbaren gesellschaftlichen Mechanismen“ (Daemmrich & Daemmrich 1995: 237) und deren Reifeprozessen elaboriert Manfred Schmeling (Schmeling 1987) in den 1980er Jahren die Raum‐ motivik vor dem Hintergrund eines labyrinthischen Diskurses weiter. Das Labyrinthmotiv greift in diesem Zusammenhang Erfahrungen des Individuums auf, die von einem Orientierungsverlust im Dschungel der Städte sowie von der Suche nach einem sinngebenden Zentrum bzw. zu einer emanzipatorischen Selbstbestimmung innerhalb gesellschaftlicher Strukturen geprägt sind (vgl. Daemmrich & Daemmrich 1995: 237 f.). Dabei mögen „[l]iterarische Labyrinthe […] durchaus realistische räumliche Situationen spiegeln oder den Erzählvorgang strukturieren […]“ (Schmeling 1987: 42), sie sind aber nicht ausschließlich als immer „strenge[s] Abbild to‐ pologischer Gesetzmäßigkeiten“ (ebd.) zu verstehen. Neben einer konkreten topographischen Aufführung inszenieren sich Labyrinthe (oder auch das Laby‐ rinthische, zum Beispiel als Erzählform) im Modus des „Ungefähre[n], [der] Andeutung oder verstehen sich als ‚Bild‘“ (ebd.). Abgesehen von dieser tradierten Motivgeschichte haben Labyrinthe auch heute noch Konjunktur: Nicht zuletzt das ikonische Brettspiel Das verrückte Labyrinth (Ravensburger) zeichnet nach seiner Erstauflage 1986 noch immer eine gewisse Popularität aus und erfährt, ähnlich wie Monopoly (Hasbro 1935), populärkulturelle Neuauflagen in unterschiedlichen Editionen. Diese Konjunktur lässt sich übertragen: Ob Hörspiel- oder Trickfilmserie, Computer- oder analoge Geschicklichkeits- und Zeichenspiele, Rätsel- oder Bilderbuch, ob Kinder- und Jugendroman, Buchreihe oder schließlich Filme für nahezu alle Altersklassen. Gerade serielle Formate bedienen sich dabei häufig mindestens einmal der Adaption des Labyrinthmotivs. Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs Das Labyrinth als sich handelnd zu erschließender Erfahrungsraum Hinsichtlich seiner Topographie und symbolischer Perspektiven lässt sich das Labyrinth als konkreter Raum beschreiben, der als sich handelnd zu erschließender Erfahrungsraum inszeniert wird: Durch ein Labyrinth muss man sich bewegen und um voranzukommen, müssen stets Entscheidungen getroffen werden. Intrinsisch-psychologisch gesprochen wird das Labyrinth erst „im Prozess seiner symbolischen Ausformung“ (Wolf 2013: 149) erfahrbar 214 Sabrina Tietjen und entwickelt sich weniger als ein sich selbst darstellender Gegenstand, denn vielmehr als Verfahren der „Darstellung selbst“ (ebd.). Das Labyrinth ist damit zugleich konstitutiver Handlungsort und -träger, dessen metaphorische und symbolische Perspektiven gerade dann mitzudenken sind, wenn die Grenzerfahrungen des labyrinthischen „Irrens und Suchens“ (Kappes 2013: 86) im Raum nach Strategien zur Bewältigung etwaiger Hinder‐ nisse verlangen. Aisthetische und ästhetische Erfahrungsdimensionen des Motivs Neben dem Faktor des Spielerischen oder der Möglichkeit, an tradierte kul‐ turhistorische Narrative anzuknüpfen, scheint das Labyrinthische als Erfah‐ rungsraum in besonderer Form dafür geeignet zu sein, an Lebenswelten und Entwicklungsvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen anzuschließen. Sinnlich-sensorische bzw. aisthetische Wahrnehmungen einerseits sowie die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen im Labyrinth andererseits mögen eine Erklärung dafür sein. Denn indem das Labyrinth als Erfahrungsraum inszeniert wird, der sich nur mittels einer Bewegung durch seine Gänge erschließen lässt, evoziert das Motiv in seinen vielfältigen medialen Adaptionen (1) aistheti‐ sche, also sinnlich-sensorische, Wahrnehmungen. Dies kann einerseits dadurch realisiert werden, dass Wandernde im Labyrinth tatsächlich selbst oder mit Hilfe eines Interfaces durch einen Raum schreiten und durch das Bewegen des eigenen Körpers diese sinnlichen Erfahrungen machen. Andererseits können auch vermittelte Labyrinthe, zum Beispiel in einem Roman, Imaginationen bereits erfahrener Sinneseindrücke hervorrufen. In seiner Funktion als Symbol ermöglicht das Motiv darüber hinaus (2) ästhetisch wirksame Erfahrungen, die z. B. Reflexionen zu biographischen (Des-)Orientierungserlebnissen anstoßen. Auf diese Weise wird das jeweilige ästhetische Medienerlebnis auf zweierlei Weisen vorstrukturiert und vermittelt sich medial wie symbolisch anhand von Wahrnehmungs- und Orientierungsabläufen, die Wandernde im Labyrinth erleben. Diese Prozesse können bei Rezipierenden Momente der Irritation, Desorientierung, Unsicherheit, Anspannung oder auch die Angst vor dem Verlorengehen, die sich aus den räumlich-strukturellen Voraussetzungen des Motivs entwickeln, hervorrufen. Eine (1) aisthetische Erfahrbarkeit halten dabei einerseits die jeweiligen Mittel der medialen und materiellen Umsetzung bereit: Film- oder spieläs‐ thetische Raumkonfigurationen, welche die Spielenden oder Rezipierenden selbst durchschreiten müssen oder auf diesem Weg imaginativ oder visuell mitgenommen werden, tragen beispielsweise zu solchen sinnlich-sensorischen 215 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive 1 Erwartbar ist hierbei eine Potenzierung dieser Wirkung in Medien, die auf Technologien der Dreidimensionalität und virtuellen Realität zurückgreifen. Empfindungen bei. Diese können gerade für die kindlichen und jugendlichen Rezipierenden generell einen besonderen Reiz beinhalten, denn die entwick‐ lungspsychologische Genese des Raumverständnisses ist - beispielsweise - mit Vollendung des zwölften Lebensjahres noch nicht abgeschlossen (vgl. Erikson 1973). Filmästhetische Mittel etwa können bezüglich dieser körperlich-mentalen beschriebenen Eindrücke Empfindungen wie Schwindel, Desorientierung, Un‐ sicherheit auf eindrückliche Weise - mitunter motiviert - stimulieren. 1 Entwicklungspsychologisch betrachtet verweisen die beschriebenen sinn‐ lich-sensorischen Empfindungen im Kontext des Labyrinthmotivs auf Spezi‐ fika der mittleren Kindheit, die sich z. B. in Ängsten vor der Unsicherheit, Einsamkeit, vor Trennung und dem Unbekannten zeigen können. Im Labyrinth übertragen sich diese Entwicklungsmerkmale in eine konkrete Raumsituation: Hier wird die Schwierigkeit des Sich-Verortens, die Herausforderung der Ori‐ entierung durch das Aufheben üblicher Orientierungsmarken intensiviert. Andererseits zeigt sich die (2) Erfahrbarkeit des Labyrinthmotivs auf einer inhaltlich-symbolischen Ebene: Das Labyrinth bietet die Chance, über die eigenen Fähigkeiten hinauszuwachsen, aber auch die Gefahr, an ihnen zugrundezugehen. Die metaphorische Auslegung des Sich-ins-Labyrinth-Begebens verweist dabei […] auf grundlegende menschliche Exis‐ tenzerfahrung: Initiationsrituale und Bewährungsproben; Tod und Wiedergeburt. […] Das Monster im Labyrinth, das vom physisch Unterlegenen besiegt wird, und der Held, der die Prüfung erfolgreich meistert […]. (Kappes 2013: 99) Medienästhetische Strategien greifen auch diese Aspekte des Motivs auf, beispielsweise in dynamischen, desorientierenden Kameraeinstellungen, und erweisen sich in der Folge anschlussfähig an grundlegende anthropologische Phänomene, wie sie sich wiederum für die Phase der Kindheit und Adoleszenz als typisch feststellen lassen (vgl. Bach 2004: 33 ff., Rogge 2004: 8 ff., Erikson 1973). So kann zunächst gelten, dass der allen Labyrinthen, Irrgärten und Rhizomen innewohnende „desorientierende Effekt“ (Schmitz-Emans 2007: 138) sich auf über den konkreten Raum hinausreichende, metaphorische bzw. symbolische Perspektiven erweitern lässt. Diese Phänomene können sich auf sämtliche Lebensbereiche beziehen und lassen sich bis auf die Grundsituationen der Bezugsmythologeme zurückführen. 216 Sabrina Tietjen Schon hier gestaltet sich das „In-der-Falle-Sitzen“ (Körner 1983: 37) im Laby‐ rinth nicht absolut, der Mensch ist lediglich zunächst „[…] nicht in der Lage, den schwierigen Weg zum Ausgang [sofort] zu finden" (ebd.). Diese Konstellation des Labyrinths als Bewährungsprobe, als „Ort der Prü‐ fung“ (Schmeling 1987: 29), rekurriert ebenfalls auf das mittlere Kindheitssta‐ dium und frühe Jugendalter und ist anschlussfähig an deren Lebenswelten. Das Labyrinth als divergierendes Motiv vermag es schließlich auf symbol‐ ischer Ebene diese Perspektiven zu verbinden, also gar die „innere und äußere Welt“ (ebd.: 15) in ihrer „ganzen Komplexität zu repräsentieren“ (ebd.), so Schme‐ ling, und vereint die gleichzeitig destruktiv-dysphorische wie konstruktiv-eu‐ phorische Qualität des Motivs. Zudem kommen im Labyrinthmotiv symbolische und sinnlich-sensorische Perspektiven zueinander und ermöglichen eine ästhetische Erfahrung, die als eine verkörperte Erfahrung beschrieben werden kann. So verschränkt sich im Labyrinthmotiv die sinnliche Empfindung mit dem erkennenden Denken (vgl. Rittelmeyer 2014: 12), indem z. B. ein durch Desorientierung empfundener Schwindel durch das Erkennen des richtigen Weges in den Prozess der Orien‐ tierung überführt wird. Typologie des Labyrinths Die skizzierten Dimensionen des Labyrinths, also seine aisthetischen und ästhe‐ tischen bzw. symbolischen, sowie seine Aufführung als konkreter Raum tragen dazu bei, dass eine Einordnung je nach motivischer Inszenierung zwischen dem lokalen, situationalen und objektionalen Typus changieren kann. Weiter klassifizieren lässt sich das Labyrinth hinsichtlich seiner konkreten Formensprache. Drei mögliche (diskursive) Konkretisierungen lassen sich be‐ nennen: (1) das klassisch-griechische, kretische Einweglabyrinth, (2) der barock-manieristische Irrgarten, (3) das Labyrinth der Postmoderne (vgl. Eco 1987, Schmitz-Emans 2000). 217 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive Abb. 1: Von links nach rechts - (1) Kretisches Labyrinth, (2) Barocker Irrgarten und (3) Irrgarten im Sauerlandpark als Beispiel des postmodernen Irrgartens In der (1) kretischen Form, mit Umberto Eco die klassisch-griechische Form, findet sich die Umsetzung des Einweglabyrinths. Parabelhaft gesprochen be‐ findet sich in diesem Typ des Labyrinths der Mensch auf seinem Lebensweg in 218 Sabrina Tietjen einem steten Wechsel von Ferne und Nähe an ein wie auch immer geartetes Zentrum. Die Richtungen ändern sich, Umwege sind die Regel. Lediglich das sichere Wissen um ein Ankommen, der Glaube an ein Ziel im Einweglabyrinth, tröstet über die Spannungen des umständlichen Weges hinweg, auch wenn die Selbstverortung im Prozess des Labyrinthischen durch stete Richtungswechsel erschwert wird. Wandelnde im Labyrinth erleben in dieser klassischen Form Mühsal und Beängstigung - im Zentrum wartet stets die Prüfung, der Mino‐ taurus - verlaufen können sie sich jedoch nicht. Ein solches Labyrinth findet sich beispielsweise in Bibi Blocksberg und das Geheimnis der blauen Eulen (Buch 2004). Der (2) zweite Labyrinthtyp des (nach Eco „barock-manieristischen“) Irrgar‐ tens verlangt nun verstärkt nach „Alternativentscheidungen“ (Schmitz-Emans 2000: 26). Die Herausforderung besteht im Auffinden des richtigen Weges im konkreten wie im übertragenen, lebensweltlichen Sinne. Im neuzeitlichen Irrgarten wird die Bewältigung von Ängsten, der Rückgriff auf Strategien der Selbstermächtigung, vollkommen unabdingbar. Die Zuversicht ist geringer als im antiken Labyrinth. Scheinbar führt keine Logik, keine Berechnung an ein letztendliches Ziel; im Zentrum angekommen beginnt der Weg von neuem. Den Ariadnefaden als Orientierungsstrategie konstatiert Eco hier als obligatorisch; in Bezug auf das Labyrinth als (symbolischer) Erfahrungsraum erfüllt diese Strategie in der Form (selbst)reflexiver Verfahren grundlegende Voraussetzungen in der Entwicklung des Selbstkonzeptes Heranwachsender. Das Labyrinth, das Harry Potter und seine Mitstreitenden während des Trimagischen Turniers im vierten Teil der Reihe (Newell 2005) durchschreiten ist ein Beispiel für diesen Typus; wie auch das Labyrinth, in dem Ofelia in Del Toros Pans Labyrinth (2006) sich verschiedenen Herausforderungen stellen muss. Der (3) dritte, postmoderne Typus des Labyrinths in der Form rhizomatischer Gebilde bietet von jedem Standpunkt aus einer Vielzahl von Wegeoptionen. Dies bürdet der räumlich hervorgerufenen Desorientierung eine zusätzliche Unsicherheit in der Entscheidungsfindung auf, indem die Alternativen ins Unermessliche steigen: Ecos „Raum der Mutmaßung“ ist ein (Denk-)„Raum in Rhizomform“ (Eco 1984: 65). Ein Beispiel für diese Gebilde findet sich in James Dashners Die Auserwählten im Labyrinth (2009). Bezugnehmend auf die aisthetischen und ästhetischen Dimensionen des Motivs werden im Folgenden exemplarisch ausgewählte Labyrinthsequenzen nach den genannten Fragestellungen und unter Anwendung des Modells transmedialer Motivanalyse (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019) untersucht. Die 219 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive ausgewählten Adaptionen des Labyrinthmotivs sind zum einen für unterschied‐ liche Altersgruppen, zum anderen zu ganz unterschiedlichen topographischen Bedingungen entworfen worden. Transmediale Betrachtung: das Labyrinthmotiv in Buch, Bild und Film Verwebungen zwischen Darstellungs- und Erfahrungsraum des Labyrinthmotivs: Die mediale und materielle Perspektive Hinsichtlich der medialen Dimension erscheint die jeweilige Exposition in Buch und Film von Die Auserwählten im Labyrinth, in der Verfilmung Maze Runner (Ball 2014), eindrücklich. Die zunächst im Fokus stehende Sequenz des Films dauert nur wenige Sekunden: Aus Rezipierendenperspektive erblickt man einen Blackscreen und wird akustisch eingeführt. Dissonantes, sich nahezu bis auf eine binaurale Wirkung erstreckendes Quietschen evoziert die eigene visuelle Wahrnehmung eine Orientierung herzustellen, die dem Gehörten entspricht. Dies gelingt nicht, was zu einem Gefühl der Anspannung und einer diffusen Desorientierung des Blicks führt (s. Abb. 2). Erst dann lenkt die Kamera den Blick aus der Perspektive des nun erschein‐ enden Protagonisten; der Blick folgt aus einer durch Dutch Angle und fluch‐ tender Perspektive offensichtlich liegenden Position eine Fahrstuhlfahrt nach oben. Durch fehlende Master-Shots bleibt der Blick die gesamte Exposition über eingeschränkt, was mit der tatsächlichen Beschaffenheit der labyrinthischen Situation korreliert und diese vorgreift. Abb. 2: Exposition des Maze Runner Labyrinths Als der Protagonist Thomas schließlich ins Bild tritt und bei seinem Ankommen auf der Oberfläche erschrocken flüchten will, sperrt ihn die Gruppe in einen Ver‐ schlag. Intensiv vermittelt die Exposition anhand wechselnder Point-of-Views hier den labyrinthischen Raum samt und „anhand der Wahrnehmungs- und 220 Sabrina Tietjen Orientierungsprozesse, mittels derer der Besucher das unbekannte Terrain erschießt“ (Kappes 2013: 87). Während die anfängliche immersiv wirkende Strategie dazu beiträgt, dass sich Rezipierende präsentisch in die Situierung des zu diesem Punkt noch unbekannten Protagonisten Thomas versetzt fühlen, operiert die literarische Vorlage, trotz relativ hoher Werktreue, anders: Sein neues Leben begann im Stehen, umgeben von kalter Dunkelheit und staubiger Luft. Metall knirschte auf Metall; eine abrupte Anfahrbewegung brachte den Boden unter seinen Füßen zum Schwanken. Der Ruck kam so plötzlich, dass er hinfiel und auf Händen und Knien rückwärtskroch. Trotz der kalten Luft stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Er stieß mit dem Rücken gegen eine harte Metallwand und rutschte daran entlang, bis es nicht mehr weiterging. Er hockte sich in die Ecke, zog die Knie an den Körper und hoffte, dass seine Augen sich bald an die Dunkelheit gewöhnen würden. Mit einem weiteren Ruck fuhr der Raum schwankend nach oben wie ein Aufzugkorb in einem Kohlebergwerk. Hartes Knirschen von Ketten und Flaschenzügen wie in einer alten Stahlfabrik erfüllt den Raum und hallte mit einem hohlen blechernen Echo von den Wänden. Der stockdunkle Aufzug schwankte so stark hin und her, dass sich dem Jungen der Magen umdrehte. Ein Geruch von verbranntem Öl machte alles noch schlimmer. Er hätte am liebsten vor Angst geweint, aber es kamen keine Tränen; er konnte nur dasitzen, allein, und warten. (Dashner 2011: 8) Nicht nur dass durch die medial verschiedenartigen Möglichkeiten von si‐ multaner und sukzessiver Gestaltung von Erzählung auf Ebene der discours andersartige Imaginationen hervorgerufen werden können, auch die in der Modellierung betonte Verknüpfung von medialer und materieller Dimension wird an diesem Beispiel eindrücklich verdeutlicht. Auf Ebene der histoire ist festzustellen, dass in der Buchvorlage die personell markierte Innensicht und das Erleben von Thomas im Mittelpunkt stehen, wenngleich dies selbstverständlich auch Vorstellungen bei Lesenden hervor‐ rufen kann. Der Film vermag zumindest in diesem Beispiel in seinen ersten Se‐ kunden allerdings zweierlei: Zuerst setzt er die unspezifische Vorstellung einer Narration (vielleicht sogar eher Situation) in Gang, und diese ist eng verbunden mit den an die Rezipierenden geknüpften Imaginationen und ihren somatischen, sinnlich-sensorischen Resonanzen. Dann schließt die Verknüpfung des Erlebten an die Einführung des Protagonisten an und die (empfundene) Perspektive der Rezipierenden ändert sich. 221 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive Das Motiv vermittelt sich also in beiden Fällen, wenn auch unterschiedlich, zunächst über durch das Labyrinth hervorgerufene Empfindungen und nicht über die Ansicht seiner Topographie an sich. Unklar bleiben in beiden Umsetzungen in der Folge sowohl für die Prota‐ gonisten als auch für den Rezipienten die Hintergründe dieser eingeführten Umstände; das Nichtwissen bezüglich der Umstände und Gründe des Eintritts in das Labyrinth besteht in der dystopischen Welt dieses Films nahezu über die gesamte Länge. In einer späteren Sequenz ist zum ersten Mal der Blick auf ein Modell des Labyrinths möglich, welches die sogenannten Läufer nach ihren Expeditionen erstellt haben. Vom Zentrum aus erstrecken sich die Pfade in sämtliche Rich‐ tungen und enden in einer nicht näher zu bestimmenden Leere. An diese Leere und Zerfaserung der Randzonen des Labyrinths knüpft der Erfahrungsraum des Maze-Runner-Labyrinths an: In diesem können Entschei‐ dungen kaum nach verifizierbaren Aspekten getroffen werden, denn seine Wände verändern sich stetig. In dieses Labyrinth begibt man sich immer wieder mit dem gleichen Risiko, ganz einerlei welchen Weg man einschlägt. Das Beschreiten wird zur ganzheitlichen Belastungsprobe: Die Desorientierung ist absolut, ein Sinn der Wanderung niemals sicher und auf bereits beschrittene Pfade ist nicht per se Verlass. Die Exposition des Erfahrungsraumes in Maze Runner eröffnet somit den Blick auf existenzielle Ängste und Unsicherheiten, die bereits zum Erfahrungs‐ potential junger Heranwachsender zählen und Fragen wie ‚Wer bin ich, wo komme ich her, woran soll ich mich orientieren, was wird kommen? ‘ ins Zentrum rücken. Die hier repräsentierte labyrinthische Welt ist eine voller „Irrationalismus und Verzweiflung“ (Brittnacher 2007: 232). In dieser Inszenierung wird zudem die Frage nach dem Verhältnis des Innen und Außen des Labyrinths forciert. Dabei wird das Zentrum zum Spannungs‐ raum, der Mittelpunkt oszilliert zwischen locus terribilis und locus amoenus (vgl. Koebner 2007: 133). Interessant ist, und das unterscheidet beispielsweise Maze Runner von vielen anderen Gestaltungen des Motivs: In beiden Fällen der Umsetzung erfolgt die Exposition des Labyrinthmotivs von innen heraus - topographisch wie psychologisch. Eine weitere Exposition des Labyrinthmotivs von innen heraus, als Motiv eines „Denkraums“, lässt sich in Das Labyrinth des Fauns von Cornelia Funke beobachten: In der 2019 erschienenen Buchadaption des Del Toro-Films von 2006 vermittelt sich den Lesenden zunächst eine mentale Verfasstheit der 13-jährigen Protagonistin Ofelia, die an die vorausgegangen Ausführungen zu einer labyrinthischen Erfahrung anknüpft und die sich wiederum im kindlichen 222 Sabrina Tietjen oder jugendlichen Phänomen eines Gefühls des Verlorenseins oder Verlorenge‐ hens manifestiert. Bevor Lesende erfahren, dass Ofelia sich nach der Zeit des spanischen Bürgerkriegs mit ihrer verwitweten Mutter auf dem Weg durch einen Wald und zu deren neuem Mann - dem Capitán Vidal - befindet, leitet das erste Kapitel ein: Es war einmal ein Wald, im Norden Spaniens, so alt, dass er Geschichten erzählen konnte, die längst vergangen und von den Menschen vergessen waren. Die Bäume ankerten so tief in der moosbedeckten Erde, dass sie die Gebeine der Toten mit ihren Wurzeln umfassten, während sie die Äste nach den Sternen streckten. So vieles ist verloren, murmelten die Blätter, als drei schwarze Autos die unbefestigte Straße entlangkamen, die durch den Farn und das Moos führte. Alles Verlorene kann wiedergefunden werden, wisperten die Bäume. (Funke 2019: 9) Den Lesenden offenbaren sich so auf den ersten Seiten drei Perspektiven einer Verlusterfahrung: Zunächst fungieren die einleitenden Absätze als personal unspezifische Leerstelle, die Lesende mit eigenen oder unbestimmt imaginierten Verlusterfahrungen füllen können. Dann verschiebt sich die Perspektive auf die Protagonistin und mit ihr auf jene des verstorbenen Vaters, den Ofelia schmerzlich vermisst, sowie auf das eigene Verlorengehen, das hiermit und mit der Tatsache in Verbindung steht, dass die Kolonne immer weiter in einen nicht enden wollenden Wald fährt, immer weiter fort von allem, was Ofelia kennt. Dieser Wald, der hier zunächst als locus terribilis entworfen wird, wandelt sich im Fortgang des Romans und mit Ofelias Erschließung dieses zunächst feindlichen Raumes stetig, ähnlich wie es Melanie Trolley für den Wald in Hänsel und Gretel beschreibt (s. Trolley in diesem Band, S. 244). In diesen Perspektiven des Verlustes erfährt Ofelia weiterhin ein Gefühl - kindlicher - Ohnmacht. Das bald darauf an einer entfernten Stelle im Wald entdeckte Labyrinth tritt dem gegenüber oder an die Seite: „In consiliis nostris factum est“ - „In unseren Entscheidungen bestimmt sich unser Schicksal“ (Funke 2019: 18) lautet die Inschrift auf dem Torbogen und verweist damit bereits an seinem Eintritt auf die Funktion des Labyrinths als Handlungsraum, in dem sich Ofelia in der Folge (zumindest in ihrer Fantasie) insofern ermächtigt, als dass es ihr obliegt, ob und wie das Fortkommen durch diesen Raum sich gestalten wird. Im Roman verweist die Formel „Es war einmal“ darauf, dass das was Ofelia im Verlauf der Geschichte erlebt, möglicherweise ein Produkt ihrer Fantasie ist. Der Film markiert dies durch Mittel des Bildes. So ist in einem der Bücher, die sie mit sich trägt, zu sehen, dass Feenwesen die Illustration eines Mädchens umgeben. Diese Abbildung verweist auf eine später zu sehende Szene im Film, 223 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive in der Ofelia in der Kreatur, die ihr später den Weg ins Labyrinth weist, eine Fee zu erkennen glaubt. Das im Film sodann animierte und morbid anmutende, in seiner Erscheinung an eine Gottesanbeterin erinnernde und somit der Va‐ nitas-Symbolik nahestehende Insektenwesen erhält durch den Einsatz von CGI anthropomorphe Züge. Das Geschöpf morpht im weiteren Verlauf tatsächlich in ein Feenwesen und fungiert als Pförtner zwischen der Lebensrealität und der naturnah-fantastischen Vorstellungswelt des Mädchens. Dem Übergang ins Labyrinth schließlich räumt die Buchadaption quantitativ nur geringfügig größeren erzählerischen Raum ein, doch was im Film durch einen Jump Cut vollkommen implizit bleibt, sind die Zweifel und Unsicherheiten Ofelias, die aus dem kindlichen Wissen bzw. Nicht-Wissen resultieren und im Roman ausbuchstabiert werden: Als Ofelia in ihre Schuhe schlüpfte und der Fee in die Nacht hinaus folgte, war noch immer keine Angst in ihrem Herzen. Es fühlte sich beinahe so an, als folgte sie ihr nicht zum ersten Mal, und wer würde schon einer Fee misstrauen, selbst wenn sie mitten in der Nacht erschienen war? Vermutlich machten sie das immer so. Und man musste ihnen folgen. So stand es in den Büchern, und klangen die Geschichten, die sie erzählten, nicht so viel wahrer als das, was die Erwachsenen über diese Welt behaupteten? Nur Bücher sprachen über all die Dinge, nach denen man Erwachsene nicht fragen durfte - Leben. Tod. Gut und Böse. Und alles andere, was wirklich wichtig war. Ofelia war nicht überrascht, als der Steinbogen aus der Dunkelheit auftauchte. (ebd.: 57 f.) Sobald Ofelia in das Labyrinth eintritt, vermittelt sich eine der Besonderheiten medialer Umsetzungen des Labyrinthmotivs: Während durch die Gestaltung des Erzählens im Roman Lesende in der Regel im Wissen um die Topographie nur von einem Weg zur Zeit, nur von einer Abzweigung nach der anderen erfahren und so sukzessive eine Vorstellung der topographischen Anlage entwi‐ ckeln können, vermag das audiovisuelle Medium direkt einen Übersichtsmodus bereitzuhalten. Auf der anderen Seite weiß der Funke & del Toro-Roman das schriftsprachbasierte Medium geschickt zu nutzen: Durch die nahezu verschlu‐ ngene Struktur des Romans, in der sich Kapitel der romaninternen Gegenwart mit Parabeln und Märchen abwechseln, obliegt es den Lesenden, einen oder den eigenen Weg durch die Geschichte zu identifizieren. Hier verbinden sich im Akt des Lesens diskursive Elemente der Inter-, Intra- und Metatextualität mit der medialen Ebene (vgl. Kurwinkel & Jakobi 2019), indem eine brüchige Narration inszeniert wird. 224 Sabrina Tietjen Orientierungsfunktion im Wortsinn: die paratextuelle und diskursive Dimension Insofern paratextuelle Elemente rezeptionsleitende Funktionen übernehmen und davon auszugehen ist, dass „diejenigen, die davon wissen, nicht so lesen wie diejenigen, die davon nicht wissen […]“ (Genette 2014: 15), lässt sich sagen, dass dem Paratext im Falle des Labyrinthmotivs eine im Wortsinn orientie‐ rungsgebende Funktion zuteilwerden kann. Neben der Orientierungsfunktion verdichtet zumindest im Fall dieses Motivs die paratextuelle Dimension auch die Diskurse und teils metaphorischen Semantiken, die mit ihm einhergehen: Leben und Tod, Sieg und Niederlage, Sicherheit und Unsicherheit, Initiation und Wiedergeburt, existenzielle und identitätsstiftende Bewährungsproben. So schwächt der Klappentext der Auserwählten im Labyrinth zu Beginn die narrativ konstruierte anfängliche Wirkung der Unkenntnis um die Situation, die sich den Lesenden darstellt und gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen das Gelesene zu verstehen und einzuordnen ist. Ebenso der Buchdeckel der Paper‐ pack-Ausgabe hat eine dieser Anspannung vorweggreifend lösende Funktion. Während der Roman - und auch die Verfilmung - zu Anfang eine Situation des Nicht-Wissens, der Desorientierung und Ohnmacht evoziert, gibt der Paratext den um ihn wissenden Lesenden die Aussicht auf eine diese Anspannung lösende Option. So ist ein Mauerspalt zu sehen, durch den ein Lichtkegel eintritt und der den Blick auf eine Person freigibt, deren Laufrichtung nicht eindeutig zu identifizieren ist (s. Abb. 3). Abb. 3: Buchdeckel von Die Auserwählten im Labyrinth 225 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive Abb. 4: Buchdeckel von Das Labyrinth des Fauns So wie der Buchdeckel offen lässt, in welche Richtung die Bewegung geht und damit den divergierenden Charakter des Labyrinthmotivs aufgreift, lassen sich auch verschiedene Filmplakate changierend lesen: Mal steht das Labyrinth den Protagonistinnen und Protagonisten im Rücken, mal gehen sie darauf zu, dann wieder stellt sich eine Übersicht auf das Labyrinth dar oder der Blick richtet sich aus der Froschperspektive über die Protagonistinnen und Protagonisten fluchtend hin zum Labyrinth (Abb. 5). Die Verbindung zwischen Leben und Tod, die sich in diesem Charakter des Labyrinths zwischen Konstruktion und Destruktion widerspiegelt, greift der Buchumschlag des Labyrinths von Funke und del Toro auf (s. Abb. 4): Hier scheint Ofelia der labyrinthischen Unterwelt emporzusteigen, die in den mär‐ chenartigen Prologen beider Inszenierungen und dem Klappentext eingeführt wird. Das Mädchen scheint gar zu schweben, ihr Bruder liegt dabei in ihren Armen. Die Lebensrealität Ofelias bezüglich ihres Familienhintergrunds des Umzugs in die Mühle im Wald verwebt sich auf bildlicher Ebene mit der Welt des Phantastischen. Besonders eindrücklich erscheinen die hervortretenden, auch taktil wahrnehmbaren Prägungen des Mäanders und der Baumrinde bzw. Wurzeln, die somit erneut auf die Verknüpfung des Labyrinthischen mit der Unterwelt, von Leben und Tod verweisen und bis in die materielle Dimension des Motivs hineinreichen. 226 Sabrina Tietjen Abb. 5: Filmplakate zu Maze Runner Dieses Oszillieren zwischen Fantasie und Realität, zwischen Leben und Tod und damit der Verweis auf die diskursive Dimension des Motivs finden sich auch auf dem Filmplakat, das Ofelias Eintreten in das Labyrinth illustriert. Hier zu sehen ist im vordersten Bildteil das Portal, dahinter ein toter Baumstumpf, dessen gehörnte Erscheinung sich im Verlauf der Erzählung im Pan wiederfindet (s. Abb. 6). 227 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive Abb. 6: Filmplakat zu Pan´s Labyrinth Fazit und Ausblick Während sich die exemplarischen Betrachtungen des Labyrinthmotivs vor‐ nehmlich auf zweidimensionale Medien bezogen haben, sollte gerade im Hin‐ blick auf die Erfahrbarkeit des Motivs als Handlungsraum eine weitere Analyse auch dreidimensionale Medien bzw. Adaptionen einschließen. Fragestellungen nach dem Verhältnis von Übersicht und Innensicht, von beobachtender und verstärkt teilnehmender Rezeptionshaltung werden zentral. Aber auch Fragen nach einer sinnlich-sensorischen und sinnstiftenden Erfahrung erscheinen gerade für Medien, die haptisch zu erschließen sind und / oder dreidimensional funktionieren relevant. Diese Perspektive schließt auch binaural gestaltete Hörmedien (wie z. B. die Hörbuchadaption des Labyrinth des Fauns [Atmende Bücher 2019]) ein. Aus didaktischer Perspektive ist nicht nur das kulturhistorisch tradierte Wissen, das notwendig wird, um Motive und ihre strukturelle sowie Bezugs- und Verweisfunktion in Medien einordnen und vergleichen zu können, an‐ schlussfähig an die KMK -Vorgaben und Bildungsstandards für die Fächer der literarästhetischen, der kulturellen und Medienbildung (vgl. KMK Deutsch 228 Sabrina Tietjen 2004: 34). Auch und gerade die Erfahrbarkeit eines Motivs wie dem des Laby‐ rinths birgt verschiedene didaktische Potentiale, die sich insbesondere bei einer transmedialen Betrachtung entfalten. Während es also beispielsweise in einer Musteraufgabe der KMK nahegelegt wird, einen Text auf „Beeinflus‐ sungsstrategien“ ( KMK Medienbildung 2012: 5) zu untersuchen und hier die „Suggestion durch mehrfache Wiederaufnahme bestimmter Motive oder Bilder“ (ebd.) angeführt wird, lässt sich eine suggestive Kraft nicht nur durch das Mittel der Wiederholung feststellen. Denn auch andere poetische, narrative filmästhe‐ tische Mittel entfalten Wirkungen, die ein intensives Gefühl von Immersion und Präsenz initiieren und deren Wirkungsweisen es in der Auseinandersetzung mit Medien nachzuvollziehen und zu analysieren gilt. So wird besonders „in der Begegnung mit dem Medium Film, seiner Sprache und seiner Wirkung […] die Sinneswahrnehmung geschult […]“ und „die ästhetische Sensibilität geför‐ dert […]“ (ebd.). Diese Sensibilität und die Fähigkeit, das Wahrgenommene zunächst elaborieren und schließlich einordnen zu können, spielen einerseits in der Auseinandersetzung mit der transmedialen Gestaltung von Motiven - wie demonstriert - eine große Rolle; andererseits werden sie bedeutsam, wenn es darum geht, (ästhetische und mediale) „Wechselwirkung[en] zwischen virtueller und materieller Welt […]“ (ebd.: 3) sowie „die immer stärker vernetzten medialen Angebote mit ihren dynamischen Symbol- und Lebenswelten“ (ebd.) zu begreifen, zu reflektieren und sich gegebenenfalls auch zum Zwecke der Ein‐ ordnung von Realität und Virtualität vom Erlebten analytisch zu distanzieren. Die Bedeutsamkeit einer Erfahrung inhaltlich-symbolischer Dimensionen des Labyrinthmotivs bzw. eine derart „symbolisch gesteuerte Aneignung von Kultur“ (Duncker 1999: 14) reicht somit hinein in subjektiv bedeutsame, kultur‐ elle Bildungsprozesse in und mit Medien. Aber, und dies muss vor dem Hintergrund eines subjektiv bedeutsamen Lernens trotz gebotener Analysekompetenzen nicht vernachlässigt werden, es sollte auch gelten, diese „neue[n] Erfahrungs-, Handlungs- und Erlebnisräume“ ( KMK Medienbildung 2012: 5) in ihrer jeweiligen Medialität und ihrer Bedeutung für die eigene Selbstentfaltung und Welterfahrung genießen zu können. Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Maze Runner - Die Auserwählten im Labyrinth (USA 1991). Regie: Wes Ball. Nach dem gleichnamigen Roman von James Dashner [EA 2009]. (Amazon Prime Download) Pans Labyrinth (Spanien / Mexico 2006). Regie: Guillermo del Toro. (Amazon Prime Download). 229 Erfahrungsdimensionen des Labyrinthmotivs aus transmedialer Perspektive Primärliteratur Funke, Cornelia / del Toro, Guillermo (2019). Das Labyrinth des Fauns. A. d. Engl. von Tobias Schnettler. Frankfurt / M.: Fischer. Dashner, James (2011). Die Auserwählten im Labyrinth. A. d. Engl. von Anke Caroline Burger. Hamburg: Carlsen. 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Diesem Desiderat will sich der nachfolgende Beitrag in einem ersten Schritt widmen. Anschließend wird am Beispiel von Wieland Freunds Nemi und der Hehmann (2019), der Verfilmung von Otfried Preußlers Die kleine Hexe (2018) und anderen kinder- und jugendliterarischen Texten eine Inszenierungsform des Waldmotivs in den Fokus gestellt, die bisher wenig Beachtung gefunden hat: der positiv konnotierte Wald. Dieser gibt Anlass zur Reflexion über Natur und Umwelt und steht in einem Kontrast zu den vielfach erzählten und erforschten Wäldern, die Angst, Schrecken und Gefahr bedeuten. Eintritt in den Wald: Wann ist der Wald ein Motiv und warum? Unzählige Autorinnen und Autoren haben dem Wald in den letzten Jahrhun‐ derten einen Platz in ihren Werken eingeräumt - bereits im ältesten uns überlieferten Epos, dem Gilgamesch-Epos, nimmt der vom schreckenerregenden Humbaba bewachte Zedernwald eine entscheidende Rolle für den Verlauf der Erzählung um König Gilgamesch und seinen Freund Enkidu ein. Seither wird uns in der deutschsprachigen und internationalen (Kinder- und Jugend-)Lite‐ ratur von unterschiedlichsten Wäldern berichtet. Darüber hinaus finden sich Wälder häufig auch in Comics, Filmen, Computer- und Hörspiel, wo ihre 2 Der hier aufgegriffene Definitionsansatz bildet nur einen Aspekt des umfassenden Beitrages zum Wald im DWB ab. Der Beitrag enthält zudem eine umfassende ety‐ mologische Untersuchung des Begriffs „Wald“, die Aufschluss über Wortherkunft, -verwendung und Konnotationen liefert (vgl. DWB: Bd. 27, Sp. 1072 bis 1091, abrufbar unter: http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB&mode=Ver netzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GW03296#XGW03296). 3 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Wald. Darstellung und Funktionalisierung den jeweils eigenen erzähltechnischen und ästhetischen Mitteln dieser Medien unterliegt. Transmedialität (vgl. Poppe 2013: 38) und die von Christine Lubkoll geforderten Bestimmungskriterien der Motivanalyse - „Wiederholung, Konventionalisierung und Variation“, die ein Motiv erst zum Motiv machen (Lubkoll in diesem Band, S. 35) - können für den Wald mit diesem Wissen als gegeben angesehen werden. Es stellt sich daher die Frage: Was umfasst das Motiv Wald und worin liegt der Kern der vielen, scheinbar ungleichen Wälder? Bevor eine Antwort auf diese Frage gefunden werden kann, ist zu klären, was unter dem Begriff „Wald“ zu verstehen ist. Die Brüder Grimm heben im Deutschen Wörterbuch ( DWB ) hervor, dass man „unter wald […] eine gröszere, dicht mit hochstämmigem holz, das aber mit niederholz untermischt sein kann, bestandene fläche [versteht].“ ( DWB : Bd. 27, Sp. 1076) Aus der Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie dem Forst lässt sich zudem schließen, dass die Grimms „im ‚Wald‘ […] die ursprüngliche Natur verkörpert sahen“ (Ono 2007: 77, siehe auch DWB : Bd. 4, Sp. 3 bis 5). 2 Dass diese Definition auch im gegenwärtigen, allgemeinen Sprachgebrauch Bestand hat, zeigt ein Blick in den Duden, der den Wald als eine „größere, dicht mit Bäumen bestandene Fläche“ 3 beschreibt. Darüber hinaus werden dem Wald derzeit weitere zum Teil recht verschie‐ dene Eigenschaften zugesprochen - abhängig von den unterschiedlichen Inte‐ ressen von Rechtsprechung, Pflanzenökologie, den Forstwissenschaften und anderen Disziplinen. Daher sind die aufgegriffenen Definitionen zu erweitern und dabei zu berücksichtigen, dass „Bäume allein […] noch keinen Wald im vollen Wortsinn“ (Arens 2016: 22) ausmachen. Der Wald ist unterschiedlich dicht und hat neben Bäumen in aller Regel eine Strauch- und eine Krautschicht. Hinzu kommen Gräser, Moose und Flechten sowie der Saum oder Rand des Waldes (vgl. ebd.). Dieses Waldverständnis ist dem deutschen Gesetzgeber folgend zudem um weitere Aspekte zu ergänzen: Als Wald gelten auch kahlgeschlagene oder verlichtete Grundflächen, Waldwege, Waldeinteilungs- und Sicherungsstreifen, Waldblößen und Lichtungen, Waldwiesen, 234 Melanie Trolley Wildäsungsplätze, Holzlagerplätze sowie weitere mit dem Wald verbundene und ihm dienende Flächen. (Thomas 2013: 623) Zusätzlich zum Einbezug einer größeren Pflanzenwelt und der durch den Menschen geformten Flächen sind auch die Tiere, die die Wälder bevölkern, in eine Walddefinition einzubeziehen, denn sie prägten und prägen das Waldbild maßgeblich (vgl. Arens 2016: 26). Folgend soll daher eine Definition des Waldes vorausgesetzt werden, die sämtliche oben beschriebene Bestandteile einschließt: Danach ist Wald eine Vegetationsform und mehr als nur eine Ansammlung von vorherrschenden, geschlossen auftretenden stammförmigen Bäumen. [Er ist] ein vernetztes Sozialgebilde und Wirkungsgefüge seiner sich gegenseitig beeinflussenden und oft voneinander abhängigen […] Bestandteile, das praktisch von der obersten Krone bis hinunter zu den äußersten Wurzelspitzen reicht. (Thomas 2013: 624) Diese der Realwelt entsprungene Walddefinition soll auch den Besonderheiten der literarischen und medialen Wälder gerecht werden. Daher sind auch solche Räume als Wald zu definieren, die zwar eine phantastische Tier- und Pflanzen‐ welt beheimaten, in ihrer Anlage aber dennoch denen des realweltlichen Waldes ähneln. Der Handlungsraum in Walter Moers‘ Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien (2000) ist beispielsweise von Zyklopeneichen, Druidenbirken, Hutzenlärchen und florinthischen Rottannen bewachsen und von Buntbär, Schuhu und Kassanderspecht bevölkert (vgl. Moers 2017: 11) - allesamt der Phantasie des Autors entsprungen. Die Struktur dieses Raumes, die Anordnung von Tieren und Pflanzen in ihm sowie die Bezeichnung „Großer Wald“ lassen dennoch keinen Zweifel daran, dass auch dieser Raum ein Wald im Sinne der oben genannten Definition ist. Diese Walddefinition als Grundlage und Ausgangspunkt nutzend, soll nun die eingangs gestellte Frage nach dem Kern des Waldmotivs beantwortet werden. Ein Blick in gängige Motivlexika gibt hierüber wenig Aufschluss; in Elisabeth Frenzels Motive der Weltliteratur fehlt das Waldmotiv gänzlich, während Horst S. und Ingrid G. Daemmrich den Wald in ihrer Sammlung Themen und Motive in der Literatur zwar benennen, aber ausschließlich auf die Grenze verweisen, anstatt das Motiv Wald zu erläutern (vgl. Daemmrich & Daemmrich 1995: 372). Die Grenze des Waldes (auch Saum oder Rand genannt) ist nicht nur für die Definition desselben von Bedeutung, auch für das Waldmotiv ist sie entschei‐ dend, denn der Verweis auf die Grenze lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Charakteristikum, das alle Wälder gemeinsam zu haben scheinen: ihre Stellung als Gegenort innerhalb der erzählten Welt. Unabhängig von den innerhalb oder außerhalb des Waldes stattfindenden Handlungen, seiner Konnotation als negativer oder positiver Raum, den figuralen Akteuren einer Erzählung oder der 235 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien 4 Eine dichotomische Raumstruktur ist im Zusammenhang mit dem Waldmotiv in vielen kinder- und jugendliterarischen Texten zu finden, Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel: Moers unterscheidet in seinem Kunstmärchen Ensel und Krete beispielsweise nicht nur zwischen Wald und Nicht-Wald, auch innerhalb des „Großen Waldes“ unterscheidet er zwischen den Bereichen, die der „zivilisierten Gemeinde […] Baumingen“ angehören, und denjenigen, die abseits der Gemeinde liegen und dem „unzivilisierten Teil des Waldes“ angehören, dem „dunklen, wilden Urwald“ (Moers 2017: 11 ff.). Statt einer zweigeteilten liegt hier eine dreigeteilte Raumstruktur vor, innerhalb derer mit gängigen topographischen Zuschreibungen gespielt wird. Zuordnung zu einem Genre wird der Wald stets in Abgrenzung zum Nicht-Wald präsentiert. Um sich einer Bestimmung des Motivs Wald zu nähern, erweist sich folglich ein Blick auf die Auswahl und Kombination der Teilräume einer Erzählung (vgl. Frank 2017: 77 ff.) als lohnenswert. Aus raumnarratologischer Perspektive kann in der stets wiederkehrenden Kombination bzw. Gegenüber‐ stellung von Wald und Nicht-Wald eine Raumstruktur ausgemacht werden, die sich durch semantische Oppositionen und Dichotomien 4 auszeichnet (vgl. ebd.: 101 ff.; Lotman 1993: 327). Das Vorhandensein dieser wiederkehrenden Raumstruktur macht aus dem Waldraum aber noch kein lokales Motiv, denn auch dieses fordert sichtbare „Handlungsans[ä]tze“ und „funktionelle Möglichkeiten“ (Frenzel 2015: IX ). Die notwendige Verbindung von Raum und Handlung wird auch in der raumnarra‐ tologischen Forschung hervorgehoben. So beschreibt beispielsweise Caroline Frank, dass ein Raum nur dann sinnvoll nach seiner Funktion für die Handlung bestimmt werden kann, „wenn tatsächlich eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen den beiden Konstituenten Raum und Handlung besteht.“ (Frank 2017: 199) Hinzu kommt die Beobachtung, dass in Texten, in denen Räume nur eine marginale Rolle spielen, „die konkreten Räume der erzählten Welt nicht handlungskonstitutiv bzw. -initiierend [sind].“ (ebd.) Hieraus lässt sich schließen, dass nicht nur eine Raumstruktur aus Wald und Nicht-Wald erforderlich ist, um den Kern des Motivs Wald auszumachen; hinzu kommt die Notwendigkeit, dass der Waldraum eine zentrale Rolle innerhalb der Erzählung einnimmt und als „Handlungskatalysator[ ]“ (ebd.: 109) fungiert. In der Versetzung einer oder mehrerer Figuren von einem Raum in einen anderen sieht Jurij Lotman den entscheidenden Handlungsauslöser (Er‐ eignis / Sujet), der aus einem „sujetlose[n]“ einen „sujethafte[n]“ Text macht (vgl. Lotman 1993: 336). Und hierin, dem Übertritt der Grenze zwischen Wald und Nicht-Wald, liegt auch der dem Waldmotiv zugehörige „Handlungsansatz“ (Frenzel 2015: IX ). Ob ein Austritt aus dem Wald heraus zum Auslöser für die Handlung wird - so zu finden beispielsweise in Felix Saltens Bambi (1940) - oder der Eintritt in den Wald hinein - wie in Preußlers Der Räuber Hotzenplotz 236 Melanie Trolley 5 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Wald. (1962) -, ist für die Identifizierung des Waldes als Motiv unerheblich, denn beide Formen implizieren den erforderlichen „Handlungsansatz“ (ebd.). Der auf der Ebene der histoire verortete Kern des Waldmotivs, „der wieder‐ kehrt und konstant bleibt“ (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 23), liegt somit in der Auswahl und Kombination der Teilräume Wald und Nicht-Wald, die eine zentrale Rolle innerhalb des Textes einnehmen, sowie dem handlun‐ sauslösenden Übertritt der Grenze zwischen diesen. Darüber hinaus lassen sich verschiedene Handlungsabläufe bzw. -elemente beobachten, die vielfach mit dem Waldmotiv kombiniert werden. Darunter fällt das Verlaufen im Wald - und damit einhergehend das Abkommen vom Weg, das spätestens seit Hänsel und Gretel in unzähligen literarischen und medialen Waldgeschichten auftritt. Außerdem das Aufeinandertreffen mit phantastischen Wesen - beispielsweise die Begegnung zwischen Nemi und dem Hehmann im gleichnamigen Roman von Freund - oder das Bestehen im fremden Waldraum - man denke an Kirsten Fuchs Mädchenmeute (2015) oder Jutta Wilkes Stechmückensommer (2018), um nur zwei jüngere Beispiele zu benennen. Hinzu kommen stets wiederkehrende Figuren, wie Fuchs, Wolf, Jäger, Förster oder Hexe, die verschiedenartig mit dem Waldmotiv verbunden werden. In dieser Auflistung zeigt sich zum einen die dem Motiv innewohnende Wandelbarkeit und deuten sich zum anderen die abwechslungsreichen Formen der Ausgestaltung auf Ebene des discours an. Am Beispiel ausgewählter Texte soll dies nachfolgend verdeutlicht werden. Vom Waldmotiv, das mehr kann als erschrecken Ausgangspunkt für den Streifzug durch die sanftmütigen literarischen und medialen Wälder soll der „hinter der Bushaltestelle“ (Freund 2019: 7) liegende Wald in Nemi und der Hehmann sein. Eine zweigeteilte Raumstruktur zeigt sich auch in dieser Erzählung, die zwischen der Siedlung und dem Wald differenziert. Dass der Wald auch in dieser Erzählung mehr ist, als eine „größere, dicht mit Bäumen bestandene Fläche“ 5 , wird schnell deutlich. Denn neben verschiedenen Bäumen gibt es „Sträucher und allerlei Kraut“ (ebd.), Pfade, eine Lichtung, Tiere und Insekten. Die Unterscheidung zwischen Wald und Nicht-Wald wird mehrfach betont, denn der Wald liegt nicht nur „hinter der Bushaltestelle“ (ebd.), also abseits der zivilisierten Gemeinde, auch unterscheidet sich der Wald von den in der Siedlung liegenden, kultivierten Gärten, die aussehen „wie Wohn‐ zimmer für den Sommer“ (ebd. 89). Das Verlassen des Nemi zugeschriebenen 237 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien 6 Ebenso verschieden wie die Gestaltung der Wälder, kann auch die Inszenierung des Grenzübertrittes sein. Ist bei Nemi von einem Eintauchen in den Wald (vgl. Freund 2019: 26) die Rede, ist das Übertreten der Grenze zwischen Nicht-Wald und Wald in vielen anderen Texten mit einer schrittweisen Loslösung von der Zivilisation verbunden, die durch veränderte Straßen- und Wegeverhältnisse verdeutlicht wird, so zu finden beispielsweise in Das Blaubeerhaus (vgl. Michaelis 2015: 11), Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes (vgl. Heinrich & Flygenring 2018: 29) oder Sommer mit Opa (vgl. Welk 2018: 29). Siedlungs-Raums (vgl. Lotman 1993: 328) und das „[Ein]tauch[en] in den Wald“ 6 (Freund 2019: 26), ist ein Grenzübertritt und Auslöser für die nachfolgende Handlung. Bereits auf paratextueller Ebene wird der Wald von der Illustratorin Hanna Jung hervorgehoben und seine positive Bedeutung innerhalb der Erzählung vorausgedeutet: Das Cover (Abb. 1) zeigt als peritextuelles Element den Kopf des Hehmanns, der den Wald und die Protagonistin Nemi auf seinem breitkrem‐ pigen Hut trägt. Nicht nur Nemi, die ruhig und entspannt an einem Baumstamm lehnt, auch die farbliche Gestaltung des Covers geben Aufschluss über die positive Charakterisierung des Waldes. Die Kombination aus grünen und braunen Pflanzen und einem hellgelben Hintergrund erzeugt eine beruhigende, sanfte und warme Stimmung, die Frieden, Natürlichkeit sowie Freundlichkeit ausstrahlt (vgl. Kurwinkel 2020: 158). Ein Blick auf weitere Cover - beispiels‐ weise von Antonia Michaelis‘ Das Blaubeerhaus (2015; Abb. 2) - und Filmplakate, wie von Die kleine Hexe (Abb. 3), zeigt, dass diese Form der Gestaltung auch für andere positiv konnotierte Waldmotive gewählt wurde. Nun lässt sich sicherlich einwenden, dass die Farbwahl auch als eine Orientierung an realen Wäldern verstanden werden kann. Ein Gegenbeispiel soll die angeführte These jedoch unterstreichen: Neben dem Blaubeerhaus hat Michaelis 2012 einen weiteren Roman veröffentlicht, der das Motiv Wald in den Vordergrund stellt: Solange die Nachtigall singt. Der Wald dieser Erzählung entpuppt sich als Ort größter Gefahr; und das spiegelt auch das Cover (Abb. 4), das in dunkelblau, grau und schwarz gehalten ist und einen harten, wurzelüberzogenen Waldboden in den Fokus rückt, wider. 238 Melanie Trolley Abb. 1-4: Cover von Nemi und der Hehmann, Das Blaubeerhaus, Die kleine Hexe und Solange die Nachtigall singt 239 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien Das positive Waldmotiv zieht sich in Nemi und der Hehmann auch auf Ebene der Materialität und des discours fort. Wortreiche Waldbeschreibungen der heterodiegetischen Erzählinstanz, wie Das Sonnenlicht rieselte auf sie herab. Es tropfte durch die Baumwipfel hoch über ihr. Es sprenkelte den torfigen Pfad und rann warm über ihre Wangen und ihre Stirn. Ein Schmetterling trudelte vorbei, hellgelb, in halber Höhe. […] Der Zitronenfalter verschwand zwischen den Bäumen am Wegesrand. (Freund 2019: 9), werden von doppelseitigen Illustrationen der Kapitelanfänge sowie kleineren und größeren Abbildungen, die den Schrifttext unterbrechen, begleitet. Freund wählte aus den verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung von Raum, „[e]r kann unter anderem durch Figuren oder durch den Erzähler vermit‐ telt werden, anthropomorphisiert oder allegorisiert, wahrgenommen oder be‐ schrieben werden“ (Dennerlein 2009: 115), eine durch den Erzähler vermittelte Beschreibung, die vielfach auf Nemis raumbezogenen Wahrnehmungen beruht (zur Raumbeschreibung und anderen Darstellungstechniken siehe Dennerlein 2009: 115 ff.). Hierzu gehören nicht nur das Sehen (vgl. z. B. Freund 2019: 127) und Hören (vgl. z. B. ebd.: 9, 46) des Waldes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner, auch die haptische Wahrnehmung spielt bei der Erkundung des Waldraumes eine wichtige Rolle: Durch wispernde Gräser ging Nemi an der Kapelle vorbei. Sie tauchte in den Wald ein. Sie wollte immer tiefer gehen. Oft legte sie im Vorübergehen die Hand auf einen Stamm. Dann spürte sie die kühle, feste Rinde einer Buche oder bettete ihre Finger in die aufgeworfene Borke einer alten Eiche. Eine Birke schälte sich unter ihren Händen, als wäre ihre Rinde aus Papier. (ebd.: 26) Hinzu kommen Beschreibungen und Lieder des Hehmanns, die Nemis Wahr‐ nehmungen und die Beschreibungen der Erzählinstanz ergänzen. Vermittelt wird durchweg ein wohlwollendes Waldbild, das die Bedeutung des Waldes für die Erzählung und die außerliterarische Wirklichkeit betont. Ebenso wie Nemi werden auch die Leserinnen und Leser dieses Romans auf die Bedrohung des Waldes im Besonderen und der Natur im Allgemeinen aufmerksam gemacht, denn immer wieder stellt sich die Frage: „Wie kann der Wald geschützt werden? “ (vgl. z. B. ebd.: 69, 92). Diese Beobachtung zum Anlass nehmend soll erneut die Raumstruktur in Nemi und der Hehmann betrachtet werden, die Einblicke in das „Bezugs- und Denksystem[ ]“ (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 26) auf außerliterarische, „kulturelle und gesellschaftliche Bezugsfelder“ (ebd.) der diskursiven Dimension gibt. 240 Melanie Trolley Die Zweiteilung der erzählten Welt in Wald und Nicht-Wald ist mit dem Entwurf zweier gegensätzlicher Räume verbunden: Auf der einen Seite steht der Naturraum Wald, dessen Schönheit sowohl im Schriftals auch im Bildtext hervorgehoben wird, wo phantastische Wesen wie der Hehmann einen Platz haben. Ihm Gegenüber steht ein zivilisierter Raum, in dem selbst naturnahe Orte wie Gärten vollständig kultiviert sind (vgl. Freund 2019: 89) und auf dessen Weg zum Wald „der Müll aus dem Mülleimer [quillt]“ (ebd.). Mit der Zuordnung der Figuren zu einem dieser Räume geht eine Charakterisierung derselben einher, denn „der erzählte Raum [trägt] zur impliziten Charakterisierung der Figuren bei[ ], sei es durch die Art ihres Raumerlebens oder die Wahl eines Lebensraumes.“ (Würzbach 2001: 122; siehe auch Hoffmann 1978: 55, Dennerlein 2009: 2, Frank 2017: 189 ff.) Nemi, dem Hehmann und der alten Frau können auf‐ grund ihrer Zuordnung zum Waldraum positive Eigenschaften zugeschrieben werden. Die übrigen Figuren der Erzählung gehören hingegen dem zivilisierten Raum an, sie nehmen nur wenig Rücksicht auf die Natur und sind daher eher negativ zu bewerten. Ihre Handlungen verdeutlichen dies: Etwas jaulte auf, furchtbar laut - lauter als der Bus, die Autos, die Schnellbahn, ein Flugzeug -, spukte, knurrte und biss dann zu. Ein Raubtier. Das war eine Motorsäge. […] Die Motorsäge jaulte, knurrte, biss zu. Jaulte, knurrte, biss zu. […] Jetzt hörte Nemi sie auch fressen. Äste und Zweige brachen, es rauschte, ein dumpfer Schlag. So klingt es, wenn Bäume fallen, dachte Nemi. […] Die Männer machten ihre Arbeit, sonst nichts. Die Motorsäge jaulte, knurrte, biss. (Freund 2019: 76 ff.) Die Rücksichtslosigkeit der Menschen, die sich außerhalb des Waldes bzw. an seinen Grenzen aufhalten, gegenüber dem Begehren dieses schützbedürftigen Naturraums und seine aktive Zerstörung stehen in einem drastischen Missver‐ hältnis zu dem Bemühen von Nemi, der alten Frau und dem Hehmann, ein Bewusstsein für die Bedrohung des Waldes zu schaffen und eine Zerstörung der Natur zu verhindern. Die Zweiteilung der erzählten Welt in Wald und Nicht-Wald erreicht damit dreierlei: Zum einen geht mit der gegensätzlichen Ausgestaltung der Räume eine Charakterisierung der Figuren einher, zum an‐ deren kommt es zu einer Umkehr des negativen Waldmotivs: Es sind nicht länger die Wilden, die Tiere, die Monster des Waldes, die zur Gefahr werden. Nun sind sie es, die den Eindringlingen in den Wald (nahezu) schutzlos ausgeliefert sind. Zum dritten gelingt es Freund, sich mit Hilfe des Waldmotivs in einen 241 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien 7 Das Bestreben Freunds mit seinem Roman einen Beitrag zur Diskussion um Umwelt- und Klimaschutz zu leisten, spiegelt sich auch auf paratextueller Ebene: In einem Interview aus dem Jahr 2019 verbindet Freund die Ankündigung seines bis dahin unveröffentlichten Romans mit den Fridays-for-Future-Demonstrationen und merkt an, dass Nemi „da […] bestimmt mitmarschieren“ würde (Trolley 2019). 8 In der Reflektion über Sprache spiegelt sich abermals die Opposition zwischen den Räumen der Erzählung und den durch sie geprägten Figuren: Nemi, die alte Frau und der Hehmann kennen verschiedenste Begriffe und Bezeichnungen für die Bestandteile des Waldes. Nemis Schwester, die dem Nicht-Wald zugehörig ist, kennt hingegen „[d]ie meisten Wörter […] für Geld." (Freund 2019: 58). außerliterarischen Diskurs um Umweltpolitik und Naturschutz einzuschreiben und mit seinem Roman ein Plädoyer für den Schutz der Wälder zu halten. 7 Die Thematisierung von Umwelt- und Naturschutz mithilfe der Waldmotivik gelingt Freund nicht nur durch Figurencharakterisierungen, -handlungen und Raumdarstellungen; auch die in die Erzählung integrierten Lieder und die Reflektionen über Sprache geben Anlass, auf den Schutz des Waldes einzugehen. Ein Gespräch über die verschiedenen Bezeichnungen des Eichelhähers zwischen Nemi und dem Hehmann wird zum Auslöser für das Nachdenken über die Bedeutung von Namen und Sprache (vgl. ebd.: 52 ff.): Der Hehmann erklärt die vielen Namen des Eichelhähers - „der Gratsch, der Grabsch, der Grätsch. Der Hagel, der Hayer." (ebd.: 51) - damit, dass diese Zeichen der Liebe für den Eichelhäher und eine Anerkennung seiner Wichtigkeit wären: „Ein einziger Name ist nicht mehr als Notwendigkeit" (ebd.: 52), denn „[a]lles, was wichtig ist, hat viele Namen“ (ebd.: 115). Reflektionen über Sprache ziehen sich fortan durch die gesamte Erzählung und weisen auch den Hehmann (vgl. ebd.) und den Wald selbst als bedeutungsvoll aus: „‚›Hei‹ oder ›Hag‹, das sind alte Wörter für den Wald.‘ […] Oder ›Hain‹. Oder ›Forst‹. Oder ›Tann‹. Oder ›Lohn‹.‘“ (ebd.) 8 Was den, dem Wald zugehörigen, Figuren innerhalb der Erzählung mit Sprache gelingt - über das Vergessen des Waldes zu sprechen und hierdurch auf seine Bedrohung aufmerksam zu machen - gelingt Freund mit seinem Roman auch außerhalb der Erzählung. Denn ebenso wie die Lieder des Hehmanns Nemi an den Wald heranführen und in ihr ein Bewusstsein für diesen schaffen, ist auch Freunds Roman ein Erinnern an den Wald und ein Aufmerksammachen auf den notwendigen Wald- und Naturschutz. Vom lokalen Motiv und raumbezogener Intertextualität Auf diskursiver Ebene des Modells zur transmedialen Motivanalyse werden laut Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi nicht nur die benannten „Bezugs- und Denksysteme“ (Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 26) untersucht auch 242 Melanie Trolley intertextuelle, intermediale und metatextuelle Bezüge sind Bestandteil dieser Dimension (vgl. ebd.). Die Untersuchung raumbezogener Intertextualität ist mit einigen Fallstricken verbunden, denn es gilt zu beachten, dass literarische Raummodelle vom Rezipienten meist nur in Kombination mit weiteren Aspekten als Vorbilder für erzählte Räume […] identifiziert werden, denn in den seltensten Fällen liegt ausschließlich eine raumbezogene Intertextualität vor. Wenn erzählte Räume eine prägnante Struktur besitzen und zugleich mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen oder in einem besonderen Stil verfasst sind, bleiben sie dem Leser zwar im Gedächtnis, das Memorieren erfolgt aber häufig nur in Verbindung mit der Handlung, die in den Räumen stattfindet, oder mit den Figuren, die sich in ihnen aufhalten. (Frank 2017: 91) Das Raummodell allein gibt auch in Nemi und der Hehmann keinen Aufschluss über mögliche intertextuelle Referenzen. Erst durch die Verbindung von Raum‐ struktur und Handlungs- und Figurenkonstellation lassen sich intertextuelle Bezüge erkennen. Die Gegenüberstellung der naturverbundenen Nemi und der anderen Figuren, die den Kontakt zur Natur verloren zu haben scheinen, erin‐ nert an einen „Topos der Romantik - das reine, naturnahe Kind im Kontrast zum entfremdeten Erwachsenen“ (Zöhrer 2020: 35), genauer an E. T. A. Hoffmanns Das fremde Kind (1817): Auch hier stehen sich positiv konnotierter Wald und negativ beurteilter Nicht-Wald gegenüber, auch hier findet das Phantastische einen Platz im Wald, auch hier sind es die kindlichen Protagonisten, die „glei‐ chermaßen unschuldige wie wilde Naturkinder verkörpern“ (Bidmon 2015: 118). Die Intensität dieses intertextuellen Verweises ist, bezogen auf die Terminologie von Ulrich Broich und Manfred Pfister (vgl. Broich & Pfister 1985: 25 ff.), gering. Nicht nur fehlt ein konkreter Hinweis auf den Prätext; auch sind die Differenzen im Handlungsverlauf groß. Dennoch zeigt sich in der Verbindung dieser beiden Texte die Wandelbarkeit des Waldmotivs und seine Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Themen. Ist der überwiegend positiv besetzte Waldraum bei Hoffmann ein Mittel um „kindliche Wahrnehmung und Phantasietätigkeit ernstzunehmen und nicht mehr als Fehlverhalten im Sinne der aufklärerisch-bürgerlichen Vernunft zu deuten“ (Kümmerling-Meibauer 2003: 255), wird die positive Inszenierung des Waldmotivs mehr als 200 Jahre später zum Ausgangspunkt für die Thematisierung von Natur- und Umwelt‐ schutz. In Nemi und der Hehmann bleibt es bei diesem schwachen intertextuellen Verweis. In anderen positiv inszenierten Waldmotiven reicht die Intensität 243 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien der Intertextualität von vorwiegend raumbezogenen Verweisen bis hin zu markierten Zitaten aus anderen Walderzählungen. Eine intertextuelle Bezugnahme zwischen wohlwollenden Waldmotiven, die überwiegend auf raumbezogenen Verweisen beruht, findet sich beispielsweise in Sommer mit Opa, Stechmückensommer und Das Blaubeerhaus. Alle drei Er‐ zählungen weisen die für das Waldmotiv notwendige dichotome Raumstruktur auf und ergänzen diese um einen weiteren Teilraum. Die Romane vereint eine sonnenbeschienene Waldlichtung, in deren Mitte ein See zum Schwimmen und Verweilen einlädt; ganz ähnlich dem locus amoenus: Er [der locus amoenus] ist, so sahen wir, ein schöner, beschatteter Naturausschnitt. Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu. (vgl. Curtius 1993: 202) Die Ausgestaltung dieses Teilraums ist in den genannten Texten sehr ähnlich - exemplarisch sei auf die Beschreibung des Ich-Erzählers Jonas in Sommer mit Opa verwiesen: Vor uns liegt ein See. Er hat am Rand ganz hellblaues und in der Mitte dunkelblaues Wasser. Gleichzeitig funkelt er, weil die Sonne auf ihn scheint. […] Rundherum stehen bis fast direkt ans Wasser Kiefern. Irgendwie riecht das hier richtig gut, nach Gewürzen und Erde oder so. Vielleicht auch nach Sonne. Und es ist ganz still. Man kann nur den Wind hören, der ein bisschen durch die Bäume weht, und Vögel und ein paar Grillen, die zirpen. (Welk 2018: 29) Auch die groben Handlungsstrukturen, die mit diesem Teilraum verbunden sind, ähneln sich innerhalb der Erzählungen. Referenzen „auf stereotype Orte, auf loci, die keinem bestimmten Ausgangstext und keiner bestimmten Textgruppe zugeordnet werden können“ (Frank 2017: 93) sind für die Motivanalyse (und auch für raumnarratologische Untersuchungen) jedoch wenig aussagekräftig, insbesondere wenn der Verweis auf einen loci keine Modifikation desselben mit sich bringt. Interessanter und gehaltvoller sind intertextuelle Verweise auf einzelne, das Waldmotiv inszenierende Texte. Auffällig viele positive Darstellungen des Waldmotivs in gegenwartsliterarischen Erzählungen verweisen auf das 15. Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm: Hänsel und Gretel. Als Arbeits‐ stätte des Vaters beschrieben, birgt der Wald hier vorerst weder Besonderheiten noch Gefahren. Erst die Hoffnung der Stiefmutter, Hänsel und Gretel könnten, im Wald allein gelassen, „den Weg nicht wieder nach Haus [finden]“ ( KHM 15: 97) und die Sorge des Vaters, die Kinder könnten im Wald von „wilden Tieren 244 Melanie Trolley [zerrissen]“ werden (ebd.), verdeutlichen die vom Wald ausgehenden Gefahren. Diese zwingen die Geschwister wiederholt, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Am „Extrempunkt […] abseits des Alltäglichen“, im innersten des Waldes, am Hexenhaus, „[vollzieht] Gretel den Übertritt ins Erwachsenenleben“ und ist anschließend in der Lage, den „vormals feindlichen Raum“ gemeinsam mit ihrem Bruder zu verlassen (Frost 2012: 323). Die Bannung der Bedrohung und die damit einhergehende Veränderung des Waldes zeigen sich auch in der abschließenden Beschreibung desselben: Der Wald ist nicht länger ein fremder Raum, er wird den Geschwistern „immer bekannter und immer bekannter“ ( KHM 15: 104) und kann schlussendlich wieder verlassen werden. Trotz der Veränderung des Waldes in einen weniger furchteinflößenden Raum steht in Hänsel und Gretel der Wald als Ort der Bedrohung und Gefahr im Mittelpunkt. Sowohl Sarah Welk als auch Gudrun Mebs nutzen den Verweis auf dieses Märchen in ihren Erzählungen dazu, das Angstgefühl der Geschwister mit wenigen Worten in ihre positiven Waldräume zu integrieren: Was machen Marie und ich denn, wenn ihm was passiert? Bleiben wir dann für immer allein im Wald? So wie Hänsel und Gretel? Und dann mästet mich irgendwer in einem Käfig oder was? (Welk 2018: 46). Wer kratzt denn da! „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, hat Papa gemurmelt und weitergelöffelt. Ich nicht. Ein Wind kratzt doch nicht, der weht doch bloß. (Mebs 2019: 103 f.) Beide Autorinnen greifen mit diesen Verweisen die dem Wald vielfach zuge‐ schriebene Bedrohung (vgl. z. B. Prestel 2013: 27, Rinnerthaler 2020: 31, Zöhrer 2010: 15) auf und verdeutlichen mit der unmittelbar nachfolgenden Auflösung der Situation den Gegensatz zwischen diesen beiden Formen der Waldinszenie‐ rung: Denn es ist nicht die böse Hexe, die im Wald lauert, stattdessen sind eine streunende Katze und die rothaarige Lucky, die Marie und Jonas in Welks Sommer mtit Opa zur Freundin wird, Auslöser für den Schreckmoment. Ebenso wie Mebs und Welk verweist auch Wilke in Stechmückensommer auf Hänsel und Gretel und spielt damit auf das Motiv des Verlaufens, das vielfach mit dem Wald verbunden wird, an. Eine Spur aus Badekleidung soll Madeleine und ihren Begleitern in Wilkes Road Novel den Weg zur Waldlichtung zeigen: Juli zeigt irgendwo hinter sich in den Wald und dann falle ich vor Lachen fast aus meinen Wanderschuhen. An einem Zweig neben dem Weg baumelt eine Badehose. Und ein paar Meter weiter hängt ein Bikini-Oberteil. Der String-Tanga dazu, der kann nur Juma gehören, wippt noch ein paar Meter weiter an einem Ast. (Wilke 2018: 164) 245 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien Auch dieser Verweis spielt mit der Angst, die das 15. Kinder- und Hausmärchen dominiert. Die Umwandlung der Spur aus Brotkrummen, die Hänsel und Gretel den Weg nach Hause weisen soll, wird von Madeleine und Vincent zwar durchweg positiv gewertet, der Einwand Julis, die Spur aus Kleidung müsse ihnen früher oder später den Weg aus dem Wald heraus zeigen (vgl. ebd.: 165), impliziert jedoch die Gefahr, sich im Wald zu verlaufen. In allen drei hier exemplarisch ausgewählten Verweisen wird aus der Ver‐ bindung von positiven und negativen Waldinszenierungen ein Spiel mit den Erwartungen der Leserinnen und Leser. Mit dem Aufrufen des beänstigenden Waldraums und den ihm zugehörigen situationalen Motiven, werden mögliche Gefahren hervorgerufen. Das Nichteintreten dieser dient dabei der Brechung von Leserinnen- und Leserannahmen und der Bestätigung des bis dahin vermit‐ telten Bildes eines positiven Waldes. Das Verweisen auf negative Walderzählungen kann nicht nur der Bestätigung des positiven Waldes nützen, auch kann hierüber die Charakterisierung der im Wald lebenden Figuren beeinflusst werden. Dies wird in der Filmadaption von Preußlers Die kleine Hexe besonders deutlich. Hier sind es eine Anspielung auf Hänsel und Gretel, die sich im dunklen Wald verirren, und die dort lebende böse Hexe, die einem lieblichen Wald und einer freundlichen Hexe gegenübergestellt werden. Die Ausgestaltung des Waldes im literarischen Prätext von 1957 ist noch sehr zurückhaltend und wird auf medialer Ebene lediglich durch eine knappe Erwähnung der Erzählinstanz eingeführt: „Sie wohnte in einem Hexenhaus, das stand einsam im tiefen Wald.“ (Preußler 1957: 3). In der filmischen Adaption von 2018 werden die verschiedenen Möglichkeiten dieses audiovisuellen Mediums genutzt, um den Wald bereits in der Titelsequenz in den Vordergrund zu stellen. Mittels Kamerafahrt und aus Untersicht - die Kamera befindet sich nur geringfügig über dem Waldboden - wird den Rezipierenden der Handlungsraum des Films präsentiert: Igel und Reh (beides sehr friedvolle Waldbewohner) stehen in einem lichtdurchfluteten Wald, der Boden ist mit sattgrünem Moos bedeckt, die Filmmusik, ein fröhlicher, mit Gesang arbeitender Score von Nora, Diego und Lionel Baldenweg, wird von Vogelgezwitscher begleitet. Bevor die kleine Hexe sichtbar wird, erklingt statt der gewöhnlich schrillen Stimme einer Hexe ein freundliches Lachen, dass die gewöhnliche Darstellung derselben kontrastiert. Das windschiefe Hexenhaus steht mitten im Wald, ist von Blumen und einem kleinen See umgeben - eine Anspielung auf den locus amoenus - und scheint mit dem Hexenhaus in Hänsel und Gretel nichts gemein zu haben. Der Verweis auf das 15. Kinder- und Hausmärchen ist vor allem in dem Kapitel Freitagsgäste (ebd.: 53 ff.) bzw. in der filmischen Umsetzung dieser Epi‐ 246 Melanie Trolley sode auszumachen. Die Ähnlichkeiten in der räumlichen Ausgestaltung (ein Hexenhaus im Wald), der Figurenkonstellation (zwei Geschwister, ein Junge und ein Mädchen, und die Hexe) sowie dem Handlungsverlauf (die Geschwister verlaufen sich im Wald und treffen auf ein Hexenhaus, in dem sie zu essen bekommen), geben Anlass für diese Bezugnahme. Das Knusperhaus in Hänsel und Gretel, das „aus Brot gebaut […] und mit Kuchen gedeckt“ ( KHM 15: 101) ist, ist in der Fassung Preußlers und auch in der fimischen Umsetzung nicht mehr essbar, doch erwartet die Kinder im Haus immerhin noch „ein Stück Freitagskuchen“ (Preußler 1957: 55) bzw. Streuselkuchen und Kakao (Schaerer 2018: 00: 37: 51). Auch die Hexe ist „weder böse, noch hässlich, noch alt“ (ebd.: 00: 38: 25). Dass sie dennoch mit dem boshaften Vorbild aus dem Märchen in Verbindung gebracht wird, zeigt sich in der Verfilmung von Preußlers Erzählung in Thomas‘ Erschrecken über das Zusammentreffen mit der kleinen Hexe. Und auch die Hexe hat das Bedürfnis, sich von der bösen Vorgängerin abzugrenzen, indem sie den Kindern versichert „ich fress´ euch schon nicht“ (ebd.: 00: 36: 52). Durch die Gegenüberstellung der bösen Märchenhexe der Grimms und der kleinen Hexe Preußlers, wird diese charakterisiert und ihr gutmütiges Wesen hervor‐ gehoben, die Ausgestaltung und Inszenierung des Waldes ist dabei als Spiegel der Persönlichkeit der kleinen Hexe zu verstehen. Ausblick aus dem Wald Dass der Wald weit mehr sein kann, als ein dunkler, undurchdringlicher „Ort[ ] voller Geheimnisse und Bedrohungen“ (Prestel 2013: 27) zeigte dieser Beitrag. Umwelt- und Naturschutz, liebenswerte (phantastische) Figuren, Reflexion über Poesie und Sprache und vieles mehr finden ihren Platz ebenso wie Angst und Schrecken zwischen Bäumen und Sträuchern dieses Raums. Vielfach tritt der Wald in Literatur und Medien als lokales Motiv auf. Es ist geprägt von einer dichotomen Raumstruktur - bestehend aus Wald und Nicht-Wald - und einem handlungsauslösenden Grenzübertritt. Die Ausgestal‐ tung der Teilräume und die Kombinationsmöglichkeiten von Waldmotiv und anderen Motiven sind vielfältig. Die Unterscheidung von positiven und nega‐ tiven Ausprägungen des Waldes ist ein erster Schritt auf dem Weg durch das Dickicht dieses wandlungsfähigen und bislang wenig erforschten Motivs. Sie versteht sich als Grundlage für weitere Forschungen, die die unterschiedlichen Variationen des Waldmotivs zwischen diesen gegensätzlichen Polen in den Blick nehmen. 247 Zum Motiv des Waldes in den Kinder- und Jugendmedien Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Die kleine Hexe (D / CH 2018). Regie: Michael Schaerer. Nach dem Roman Die kleine Hexe von Otfried Preußler [EA 1957]. (DVD) Primärliteratur Freund, Wieland (2019). Nemi und der Hehmann. Weinheim / Basel: Beltz & Gelberg. Grimm, Jacob und Wilhelm (2013). Hänsel und Gretel. In: Dies.: Kinder -und Hausmär‐ chen. Ausgabe letzter Hand mit Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Band 1. Märchen Nr. 1-86. Stuttgart, 96-104. [15. KHM]. Heinrich, Finn-Ole / Flygenring, Rán (2018). Reise zum Mittelpunkt des Waldes. Reuber‐ roman. Hamburg: Marisch Verlag. Mebs, Gudrun (2019). Ferien nur mit Papa. Frankfurt / M.: Sauerländer. Michaelis, Antonia (2012). Solange die Nachtigall singt. Hamburg: Oetinger. Michaelis, Antonia (2015). Das Blaubeerhaus. Hamburg: Oetinger. Moers, Walter (2017). Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien. 2. Aufl. München: Knaus. Preußler, Otfried (1957). Die kleine Hexe. Stuttgart: Thienemann Verlag. Welk, Sarah (2018). Sommer mit Opa. München: ars edition. Wilke, Jutta (2018). Stechmückensommer. München: Knesebeck Verlag. Sekundärliteratur Arens, Detlev (2016). Der deutsche Wald. Naturereignis, Wirtschaftsraum, Sehn‐ suchtsort. 3. Aufl. Köln. Bidmon, Agnes (2015). Das fremde Kind (1817). In: Lubkoll, Christine / Neumeyer, Harald (Hrsg.) E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart, 117-119. Curtius, Ernst R. (1993). Europäische Literatur und latainisches Mittelalter. 11. Aufl. Bern. Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid G. (1995). Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen [u. a.]. Dennerlein, Katrin (2009). Narratologie des Raumes. Berlin. Duden: Wald. Abrufbar unter: https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Wald (Stand: 28 / 11 / 2020). Forst. In: Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.) Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wil‐ helm Grimm. Bd. 4, Sp. 3 bis 5. Abrufbar unter: http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WB Netz/ wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF07050#XGF07050 (Stand: 04 / 01 / 2021). 248 Melanie Trolley Frank, Caroline (2017). Raum und Erzählen. Narratologisches Analysemodell und Uwe Tellkamps Der Turm. Würzburg. Frenzel, Elisabeth (2015). Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 5. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart. (= Kröners Taschenausgabe; 301) Frost, Inken (2012). Märchenwälder. Der Topos Wald im europäischen Märchen und in seinen modernen Interpretationen. 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Zur Beantwortung dieser Frage werden die ausgewählten Werke zunächst in die Entstehungszeit ein‐ geordnet und schließlich hinsichtlich ihrer medialen sowie ihrer diskursiven Dimension analysiert. Konstanten und Entwicklungen der literarästhetischen Zoodarstellungen finden dabei ebenso Berücksichtigung wie die darin jeweils codierten Mensch-Tier-Verhältnisse. Zoos [reproduzieren] als Heterotopien der „Wildnis“ in der „Zivilisation“ die Trennung von Natur und Kultur, etablieren ein zoologisches Blickregime der Asymmetrie zwischen Mensch und Tier, in dem Tieren innerhalb der Kultur ein Ort zugewiesen wird, der sie damit gleichzeitig außerhalb der Kultur positi‐ oniert. (Steinkrüger 2019: 395 f.) Dass der Zoo als realer Raum solch vielschich‐ tige und ambivalente Bedeutungszuschreibungen hervorbringt, fundiert zwar noch nicht seine Einordnung als literarisches Motiv, wirft aber zumindest die Frage auf, inwiefern diese diskursiven Konnotationen literarisch aufgegriffen, akzentuiert oder verfremdet werden und inwiefern der Zoo dabei als „kleinste strukturbildende Einheit innerhalb eines Textganzen“ (Lubkoll in diesem Band, S. 37) zum Tragen kommt. Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach, indem er vier zwischen 1955 und 2015 erschienene Bilderbücher im Hinblick auf den „permanent dynamischen Prozess der Fortschreibung und Variation“ (Lubkoll in diesem Band, S. 35) hin untersucht, durch den sich ein Motiv etabliert. Die Fokussierung von Bilderbüchern legitimiert sich einerseits durch den Rezept‐ ionsmodus, da der Kombination von Text und Bild die Visualität immanent ist, die auch die Wahrnehmung von Zoos kennzeichnet, andererseits durch die Adressierung, da sich sowohl Bilderbücher als auch Zoos u. a. an eine kindliche Zielgruppe richten. Welche Aspekte des Zoos in der medienspezifischen Per‐ spektivierung für wen sichtbar gemacht werden, tangiert demnach neben den narrativen Ebenen auch die mediale und diskursive Dimension transmedialer Motivanalyse (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 20). Leitgebend für die Auswahl der konkreten Titel war der Anspruch, den Zoo nicht nur als erzählten Raum, sondern als Gegenstand des narrativen Diskurses zu beleuchten und dabei ein breites Spektrum an Darstellungsformen aus unterschiedlichen Jahrzehnten abzudecken. Da die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zoo in der Kinder- und Jugendliteratur bislang ausgeblieben ist, setzt das Vorhaben an einer Forschungslücke an. Um den Zoo nun als lokales Motiv identifizieren und systematisch er‐ schließen zu können, werden seine literarischen Inszenierungen zunächst knapp innerhalb der jeweiligen Entstehungszeit verortet (historische Dimen‐ sion), hinsichtlich der bild-textlichen Semantisierung des Raums und der darin auftretenden Figurenkonstellationen (narrative Ebenen / mediale Dimension) analysiert und schließlich dahingehend ausgewertet, welche Mensch-Tier-Ver‐ hältnisse sie codieren und transportieren (diskursive Dimension). Der Zoo als Schutzraum: Der glückliche Löwe Einordnung in die Entstehungszeit Als Der glückliche Löwe (1955) 1956 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, beschränkte sich die Jurybegründung auf die knappe Beschreibung: Die Geschichte von einem Löwen, der aus dem Tierpark in die Stadt entläuft und sich - überrascht durch das Erschrecken der Erwachsenen - schließlich von einem zutraulichen Kind in seine Gefangenschaft zurückführen läßt. (AKJ 1956) Nicht das Tier, sondern das Kind wird hier also als „zutraulich“ identifiziert und die Gefangenschaft wertfrei, aber klar benannt. Zu dieser Zeit hatte die Kritik an Zoos bereits eine längere Tradition, die z. B. in Rilkes Gedicht Der Panther (1903) auch literarischen Ausdruck fand und schrittweise Reformierungen mit sich brachte. Die im 19. Jahrhundert entstandene „Mode, die Gehege in ihrer äußeren Architektur entsprechend der ,Kultur‘ ihrer Heimatregionen zu gestalten“ (Steinkrüger 2019: 393), um das Unbehagen in Anbetracht einge‐ sperrter Tiere vergessen zu lassen, wurde im 20. Jahrhundert insbesondere durch Carl Hagenbecks lebensweltliche Panoramen (vgl. Klothmann 2015: 127, 252 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller vgl. Steinkrüger 2013: 190) weiterentwickelt. Dabei schrieben die Zoos sich selbst eine altruistische „Arche Noah“-Funktion zu, indem sie hervorhoben, dass die Tiere im Zoo geschützt vor den Gefahren ihrer natürlichen Lebenswelt in einem aus „Liebe zum Tier“ kreierten „Tierparadies“ leben könnten (ebd.: 203 f., Klothmann 2015: 127 ff.). Dieser Argumentationslogik folgt auch Louise Fatio in ihren Geschichten rund um den glücklichen Löwen. Analyse der narrativen Ebenen / medialen Dimension Als „strukturbildend“ und „bedeutungsvoll […]“ (Lubkoll in diesem Band, S. 37) fungiert der Zoo in der Geschichte insofern, als er sowohl durch seine Architektur als auch durch seine Lage außerhalb der Stadt den Raum markiert, der dem Löwen vom Menschen zugewiesen wird. Abb. 1: Das Zootier als Attraktion in Der glückliche Löwe (1995) Innerhalb des Zoos ist das Löwengehege mit dem dazugehörigen Löwenhaus durch eine Umzäunung klar abgegrenzt von den Wegen, auf denen die Men‐ schen flanieren. Diese Unterteilung des Raums in Menschenraum und Tierraum wird auf der Bildebene zwar offensichtlich, durch die weitläufige und helle Darstellung der Anlage sowie den darin fröhlich winkenden Löwen aber positiv konnotiert und auf der Textebene schließlich von idyllisierenden Schilderungen 253 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos 1 Da das Bilderbuch nicht paginiert ist, wird auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet. Die nicht anders ausgewiesenen Zitate entstammen im folgenden Abschnitt diesem Buch. überlagert, wenn es heißt: „Er war in einem freundlichen Städtchen daheim“, in dem er zwischen „Blumenbeeten“ und einem „Musikpavillon“ lebt, dabei sogar „ein Haus für sich ganz allein, dazu einen großen Felsengarten mit einem Was‐ sergraben drum herum [besaß]“ und in dem „jedermann […] sein Freund [war]“ (Fatio 1954) 1 . Die idealisierende Umdeutung des Käfigs als großzügiges und von zugewandten Menschen umgebenes Zuhause wird in der Gegenüberstellung mit der realen Heimat des Löwen um die Funktion als Schutzraum erweitert: „Er wohnte nicht in Afrika, wo es heiß und gefährlich ist, weil dort die Jäger mit ihren Gewehren lauern.“ Als Gegenraum des Zoos wird aber nicht nur das ferne Afrika aufgebaut, sondern auch die benachbarte Stadt, in der der Löwe bei seinem Besuch mit einer Umkehrung der im Zoo geltenden Regeln konfrontiert ist. Denn statt wie im Zoo von allen freundlich begrüßt zu werden, stößt er plötzlich auf Panik und Ablehnung. Die Kontrastierung von menschlichem Verhalten inner- und außerhalb des Zoos wird von der episodischen Begegnung mit genau den Figuren getragen, die im Zoo täglich an seinem Gehege vorbeilaufen, nun aber in Ohnmacht fallen, die Flucht ergreifen oder ihm Gemüse ins Gesicht werfen. Der dadurch für den Löwen entstehende Eindruck „[…] die Leute in dieser Stadt sind verrückt geworden. […] so benehmen sich die Leute, wenn sie nicht im Tierpark sind“ ist ebenso Ausdruck wie Karikatur der tierischen Unbedarftheit. Abb. 2: Das Zootier als Bedrohung in Der glückliche Löwe (1995) 254 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller ,Ver-rückt‘ ist durch die Grenzüberschreitung des Löwen vor allem die hierar‐ chische Ordnung, der zufolge die Menschen dem Löwen seinen Platz zuweisen, nach eigenem Belieben seine Nähe suchen und die durch eine ausgeklügelte, nur im Bild zu erahnende Überwältigungsaktion wiederhergestellt werden soll. Jenseits dieser hierarchischen Ordnung bewegt sich lediglich Franz, der als Sohn des Zoowärters die anthropozentrischen Machtstrukturen noch nicht verinnerlicht hat, sodass er mit kindlicher Unbefangenheit auf den Löwen zu- und mit ihm zum Zoo zurückgehen kann. Die Harmonie zwischen Mensch und Wildtier ist außerhalb des Zoos somit an das ,Zookind‘ gebunden und ansonsten nur innerhalb des Zoos durch Wassergraben und Gitterstäbe zu erreichen. In der Logik der Erzählung durchläuft der Löwe die Entwicklung von der naiven Annahme „vielleicht sollte ich selbst spazierengehen und meine Freunde in der Stadt besuchen“ zur reifen Einsicht wenn einer seine Tür öffnete, wollte er keinen Spaziergang und keine Besuche mehr machen. Er saß lieber in seinem Felsengarten, wenn auf der anderen Seite des Wassergrabens […] alle seine alten Freunde standen und wie höfliche und vernünftige Leute ‚Guten Tag, glücklicher Löwe´ sagten. Dieser Erkenntnisprozess lässt sich auf der Textebene durch eine heterodie‐ getische Erzählinstanz mit vorwiegend interner Fokalisierung schrittweise nachvollziehen. Sowohl der unbedarfte Duktus des Löwen als auch die Au‐ ßenperspektive der Bilder erzeugen zudem einen Wissensvorsprung der Re‐ zipierenden, sodass die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung nicht nur die zentrale Komplikation positiv auflöst, sondern auch die suggerierte Lesendenerwartung erfüllt. Der konstanten Anthropomorphisierung des Löwen kommt dabei die Funk‐ tion zu, das Tier innerhalb von - vermeintlich - seinesgleichen zu verorten. So werden dem Löwen im Text menschliche Gefühle, Gedanken und Verhaltens‐ muster zugeschrieben, die auch auf der Bildebene einen Ausdruck finden, wenn der Löwe mit menschlicher Mimik zufrieden lächelnd in seinem Gehege sitzt und menschlichen Kulturtechniken wie dem Zuwinken oder dem Musikhören nachkommt. Diese Angleichung des Tiers an den Menschen folgt zwar einer hierarchischen Logik, verschleiert diese aber gleichzeitig, indem der Löwe sich dadurch im Zoo als ebenbürtiger Part innerhalb der Freundschaftsbezie‐ hungen wahrnimmt und sein vermenschlichter Zooalltag untrennbar mit dem mehrfach wiederholten Attribut „glücklich“ verbunden wird. Im Gegensatz zu den menschlichen Figuren mit individuellen Eigennamen besteht der Name des Löwen aus einer Kombination von Adjektiv und Tierart, die neben der 255 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos deskriptiven auch eine präskriptive Wirkung entfaltet: Der Löwe hat glücklich zu sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Zoo im Laufe der Handlung als Schutzraum, Zuhause und Ort der Begegnung fungiert und durch die Kon‐ trastierung sowohl mit dem gefährlichen Afrika als auch mit der „verrückten“ Stadt als einzig wahrer ,place to be‘ für einen glücklichen Löwen ausgewiesen wird. Auswertung der diskursiven Dimension Ausgehend von dem formulierten Ziel der Cultural and Literary Animal Studies, „literarische Texte als Darstellungs- und Reflexionsmedien historischer und gegenwärtiger Tiersituationen zu lesen, als historische und soziologische Doku‐ mente“ (Borgards 2015: 77) lässt sich die Inszenierung des Zoos in Der glückliche Löwe insofern als Spiegel und Reproduktion einer anthropozentrischen Welt‐ wahrnehmung lesen, als • der Löwe als Zoobewohner vor allem mittels der Vermenschlichung charakterisiert wird, die sich über Mimik, Gestik und Verhalten erstreckt, • der menschengemachte Zoo sowohl im Vergleich zum natürlichen Le‐ bensraum als auch im Vergleich zum menschlichen Lebensraum als einzig wahrer Lebensraum für den Löwen ausgewiesen wird, • das Beziehungsgefüge von Mensch und Tier dadurch gekennzeichnet ist, dass das Tier in dem ihm zugewiesenen Raum des Zoos auf die Menschen reagiert statt mit ihnen interagiert, • die fortlaufende Titulierung des Löwen als „glücklich“ das von Menschen als angemessen empfundene Gefühl auf das Zootier projiziert. Der Zoo als Ausflugsziel: Anthony Brownes Zoo Einordnung in die Entstehungszeit In den 1970er Jahren entwickelte sich, angestoßen durch ethische Bedenken in der landwirtschaftlichen Intensivtierhaltung, die philosophische Disziplin der Tierethik (vgl. Petrus 2015: 156, vgl. Ach 2018: 208). Daraus entstehende Tier‐ rechtsbewegungen und Kampagnen trugen tierethische Anliegen auch in die Öffentlichkeit (vgl. Petrus 2015: 333). Zusätzlich gelangte im Rahmen des Washingtoner Artenschutzübereinkommens der beträchtliche Beitrag von Zoos an Wildtierfängen ins gesellschaftliche Bewusstsein (vgl. Goldner 2015: 440). Nicht nur aufgrund des gesteigerten Umweltbewusstseins, sondern auch aufgrund fehlender Unterhaltungsmöglichkeiten gerieten Zoos vor allem ab den 1980ern 256 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller 2 Da das Bilderbuch nicht paginiert ist, wird auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet. Die nicht anders ausgewiesenen Zitate entstammen im folgenden Abschnitt diesem Buch. unter Druck und reagierten mit einer stärkeren Erlebnisorientierung durch Im‐ mersionsgehege, die dem natürlichen Habitat der Tiere nachempfunden waren und damit tierethische Bedenken mindern sollten (vgl. Steinkrüger 2013: 202). Zeitgleich dazu entwickelte die Tiergartenbiologie ein Vier-Säulen-Konzept, das die vier Funktionen von Zoos festhält und den Betreibenden als Selbstlegi‐ timation diente. Dieses Konzept umfasste ebenfalls altruistische Bestrebungen und sah Artenschutz, Forschung, Bildung und Erholung als Ziele von Zoos vor (vgl. Goldner 2015: 440). Dies greift der Bilderbuchkünstler Anthony Browne auf gewohnt überspitzte Art und Weise auf. Analyse der narrativen Ebenen / medialen Dimension „Am letzten Sonntag waren wir alle im Zoo. Ich und mein Bruder waren ganz schön aufgeregt.“ (Browne 1992) 2 berichtet der kindliche autodiegetische Erzähler und nimmt damit von Anfang an eine anthropozentrische Sicht auf den Zoo und die darin lebenden Tiere ein. Gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder bildet der Erzähler insofern eine Einheit, als alle drei impulsiv, unbe‐ herrscht und animalisch erscheinen. So ahmen sie ungeniert medial geprägte Tierbilder nach, klettern auf Wegweiser und haben neben Affenmützen auf den Köpfen auch Essensreste im Gesicht. Abb. 3: Animalische Menschen in Zoo (1992) Sie suchen den Zoo mit der Intention auf, von „spannenden“ Tieren unterhalten zu werden und nehmen dafür einen Stau und teure Eintrittspreise in Kauf. Hier deutet sich bereits die Funktion des Zoos als Freizeitbeschäftigung an, denn sobald sich die Zootiere als „langweilig“ entpuppen, werden sie von Vater und 257 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos Söhnen verschmäht und Alternativen aufgesucht. Diesem Gebaren steht das ruhige Verhalten und aufrichtige Interesse der Mutter gegenüber. Zu einer realistischen Inszenierung der Tierfiguren trägt der Verzicht auf Anthropomorphisierungen bei. So sind die Tiere auf den Bildern lediglich stehend oder sitzend in ihren Gehegen zu sehen. Im Schrifttext wird deutlich, dass sie den Unterhaltungsanspruch der Besucherinnen und Besucher nicht erfüllen können, da sie der sozialen Kategorie des exotischen Zootiers nicht gerecht werden. Statt wild und gleichzeitig menschenzugewandt erscheinen sie vollkommen teilnahmslos. Abb. 4: Menschliche Tiere in Zoo (1992) Die anthropozentrische Perspektive auf den Zoo geht auch hier mit einer sichtbaren Unterteilung nach Menschen- und Tierräumen einher. Beide Räume sind jeweils angepasst an die Bedürfnisse der menschlichen Besucherinnen und Besucher und werden durch Gitter und Glaswände voneinander getrennt. Wäh‐ rend die Menschen sich frei bewegen und unterschiedliche Räume wie Lokal und Souvenirladen aufsuchen können, um den Bedürfnissen nach Essen, Konsum und Unterhaltung nachzugehen, bleiben die Tiere auf die ihnen zugewiesenen Umgebungen beschränkt. Dabei wird die Imitation der vermeintlich natürlichen Lebensräume durch karge Backsteinwände, Mauern, Zäune und Gitter als solche entlarvt. Sind die Tierräume also durch ein wenig authentisches Abbild von 258 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller Natur geprägt, fällt in den Menschenräumen die völlige Abwesenheit von Natur auf. Bereits auf dem Weg in den Zoo erscheint die „Autoschlange“ als letztes metaphorisches Relikt aus der Tierwelt und gleichzeitig als Euphemismus für die „völlig verstopft[e]“ Straße. Doch nicht nur in diesem urbanen Setting, sondern auch innerhalb des Zoos bewegen sich die Menschen teilweise eng gedrängt in naturfernen Umgebungen. Obwohl die menschlichen Unterhaltungsansprüche über die Bedürfnisse der Tiere gestellt und somit hierarchische Verhältnisse reproduziert werden, lassen sich in der Darstellung der menschlichen Übermacht durchaus Brüche erkennen. Diese zeigen sich vor allem in der Umkehrung der Rollen, wenn Menschen Tierlaute von sich geben, Tiergesten nachahmen oder durch die Frontalansicht selbst zu Anschauungsobjekten hinter Gittern und Glaswänden werden. Letzteres spitzt sich in dem lediglich auf Bildebene ausgestalteten „total verrückten Traum“ des Ich-Erzählers zu, in dem er selber hinter Gittern sitzt und sein Gesicht verbirgt. Aber auch eingestreute Aussagen wie „Die [Paviane] erinnern mich an jemanden.“ und „Ich glaube so ein Zoo ist gar nicht für Tiere […], der ist eher für Menschen.“ hinterfragen die bestehenden Mensch-Tier-Verhältnisse. Dass kritische Einwände lediglich von der Mutter zur Sprache gebracht und vom Rest der Familie ignoriert, sanktioniert oder als nervig empfunden werden, trägt über die Konstruktion von Zootieren hinaus auch zur Konstruktion von Gender bei. So bleiben Vater und Söhne darauf fixiert, dass ihre eigenen Erwartungen erfüllt werden und hinterfragen weder das apathische Verhalten der Tiere noch die Einwände der Mutter. Dagegen reagiert die Mutter auf die Wünsche ihrer Familie, nimmt auch die Tiere als Individuen wahr und stellt Fragen wie „Wer ist denn jetzt der Affe hier? “, in den Raum, die in der Rezeption aufgegriffen werden können. Auswertung der diskursiven Dimension Das anthropozentrische Weltbild wird in der Darstellung des Zoos als Ausflugs‐ ziel also insbesondere von Vater und Söhnen reproduziert, wenn • der Vater in der Frage „In welcher Stadt kann man die Einwohner im Zoo essen? “ auf den Tier-Tier-Dualismus verweist, demzufolge Tiere nach ihrer Funktion für den Menschen als Haus-, Nahrungs-, Unterhaltungstier kategorisiert werden und Zootiere nicht zum Verzehr vorgesehen sind, • die Zootiere eine Abwertung erfahren, sobald sie ihrer zugeschriebenen Rolle nicht nachkommen, z. B. der hin- und herwandernde Eisbär als „doof “ und der zusammengekauerte Orang-Utan als „Blöder Typ“ be‐ zeichnet werden. 259 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos In Frage gestellt wird das anthropozentrische Weltbild hingegen durch Aus‐ sagen der Mutter, die eine Dekonstruktion der sozialen Unterscheidung von Mensch und Tier sowie Kritik am Umgang mit Zootieren erkennen lassen, wenn • rhetorische Fragen und Mensch-Tier-Vergleiche die übermächtige Posi‐ tion des Menschen anzweifeln, • eine Antithese zu der kollektiven Vorstellung der Artenschutz- und Arterhaltungsfunktion von Zoos aufgestellt wird. Brüche in der anthropozentrischen Wahrnehmung werden zudem auf Bildebene sichtbar, wenn • sich die Rollen von Betrachtenden und Betrachteten umkehren, indem die Tiere in ihren Landschaften emotionale und nachdenkliche Züge aufweisen, die Menschen hingegen hinter Gittern und Glaswänden auf‐ tauchen und dabei animalische Züge annehmen, • der autodiegetische Erzähler sich in der Nacht nach dem Ausflug selber in Gefangenschaft träumt, damit die bewusst gezogene Grenze zwischen Mensch und Tier unterbewusst aufbricht und daraufhin in einer direkten Anrede des Lesenden die weitreichende Frage aufwirft: „Glaubst du, dass Tiere träumen können? “ Der Zoo als Freiheitsberaubung: Der Traum des Tasmanischen Tigers Einordnung in die Entstehungszeit Die zunehmende Erlebnisorientierung war zur Entstehungszeit dieses Werkes bereits fest in Zoos etabliert und erfuhr einen enormen Aufschwung, der über die sogenannte „Habitat Immersion“ hinausgeht: Erlebnis-Zoos. Diese fokussieren sich nicht nur auf die Tiergehege, sondern reproduzieren ganze Kulturkreise. Der Zoo wird damit zum umfassenden Immersionserlebnis und bietet zahlreiche Unterhaltungsmöglichkeiten fernab der Tiere (vgl. Steinkrüger 2013: 207). Auch das Vier-Säulen-Konzept ist fester Bestandteil des Zoo-Diskurses und somit auch der Internetauftritte von großen deutschen Zoos (vgl. z. B. Erlebnis-Zoo Hannover 2020). Insbesondere im Hinblick auf das Bildungsargument werden Zoos als außerschulische Lernorte geschätzt (vgl. z. B. Niedersächsisches Kul‐ tusministerium 2020). Doch trotz aller rhetorischen und gestalterischen Bemü‐ hungen finden sich in den Mainstream-Medien des 21. Jahrhunderts zahlreiche Berichte und Beiträge, die Zootierhaltung aus tierethischer Perspektive wei‐ terhin kritisch betrachten. Aus den internationalen Tierrechtsbewegungen sind 260 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller 3 Da das Bilderbuch nicht paginiert ist, wird auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet. Die nicht anders ausgewiesenen Zitate entstammen im folgenden Abschnitt aus diesem Buch. es im Wesentlichen große Organisationen wie PETA oder Animal Liberation, die Angriffe, Unfälle, Ausbrüche oder die Misshandlung von Tieren in Zoos anprangern (vgl. z. B. PETA 2020). Diese Gegenbewegung ergänzen Margaret Wild und Ron Brooks in Der Traum des Tasmanischen Tigers (2012) um die Stimme eines im Zoo ausgestorbenen Tiers. Analyse der narrativen Ebenen / medialen Dimension Im Gegensatz zu den drei anderen Beispielen findet sich in dieser Erzählung erstmals eine Zootierfigur als autodiegetischer Erzähler, sodass die Gefühlswelt eines Tiers in den Fokus rückt. Indem auf menschliche Perspektiven verzichtet wird, kommt die anthropozentrische Sicht auf das Tier nur implizit in der menschengemachten, hochstilisierten literarischen Konstruktion des leidenden Zootiers zum Ausdruck. Die erzählende Figur des Tasmanischen Tigers ist zugleich die einzige Figur, die in der Geschichte auftritt. Diese wird durch die Nutzung menschlicher Sprache zwar anthropomorphisiert, wirkt jedoch im Vergleich zum glücklichen Löwen selbstreflektiert und kritisch, was sich in der Dokumentation des eigenen Resignationsprozesses erkennen lässt. Beschreibt der Tiger sich anfangs noch als „rastlos, rasend, tobend“ fügt er sich bald „trauernd, schmerzerfüllt, sehn‐ suchtsvoll“ seinem Schicksal und endet schließlich „abgemagert, scheu, stumm“ (Wild & Brooks 2012) 3 . Dies wird durch eintönige Farbgebung und schemenhafte Realfotografien des letzten Tasmanischen Tigers unterstützt, die gleichzeitig die Argumentation der Zootierhaltung zum Artenschutz ad absurdum führen. Mit seiner Situations- und Gefühlsbeschreibung widerlegt er demnach die soziale Kategorie des gefährlichen und dennoch menschenzugewandten Zootiers und setzt ihr das Bild des in Gefangenschaft leidenden Lebewesens entgegen. Die Menschen treten lediglich in den wiederkehrenden Fragen als gesichts- und verständnislose Masse von Verantwortlichen in Erscheinung: „Wisst ihr nicht, dass ich ein Raubtier bin? […] Wisst ihr nicht, dass mein Herz einem Wald gleicht? […] Wissen sie nicht, dass mein Geist frei umherschwebt? “ Wird durch die erste sehr konkrete Frage vor allem der Kontrast zwischen Wissen und Handeln im Umgang mit dem Raubtier entlarvt, lässt der Wechsel von der direkten Anrede zur dritten Person die bereits in den Adjektiven erkennbare zunehmende Distanzierung und Selbstaufgabe des Tiers erkennen. In der Logik dieser tierzentrierten Ausrichtung des autodiegetischen Erzäh‐ lers werden auch menschliche Räume innerhalb des Zoos ausgeblendet. Der 261 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos Tiger kontrastiert dementsprechend nicht Menschenvs. Tierraum, sondern Gefangenschaft vs. Freiheit. Der „[…] Käfig aus dichtem Draht, blankem Beton“ stellt dabei seine Lebensrealität und die Freiheit einen imaginären Wunschraum außerhalb der erzählten Welt dar. Das Wort ‚Zoo‘ verwendet die Erzählinstanz an keiner Stelle. Stattdessen wird die Freiheitsberaubung im Zoo sowohl durch die Aussage „Ich bin gefangen […]“ expliziert als auch im Bildtext durch Gitterstäbe, Holz- und Maschendrahtzäune zum Ausdruck gebracht. Abb. 5: Leben in Gefangenschaft in Der Traum des Tasmanischen Tigers (2012) Dem gegenüber steht das Idealbild des aktiven Lebens in verschiedenen imagi‐ nären Räumen der Freiheit: „[…] seht mich stolz die Wildnis durchstreifen, seht mich mein Glück auf den Klippen genießen.“ Hier finden sich unterschied‐ liche abwechslungsreiche Umgebungen, wie z. B. Wälder, Klippen am Meer, Dschungel, Schneelandschaften und Flüsse. Auf den Bildern ist die Weitläu‐ figkeit dieser Orte sowie die Bewegungsfreiheit des Tigers erkennbar, die nichts mit einem Leben im Käfig gemeinsam haben. Die Semantik der Räume wird somit gerade in der direkten Gegenüberstellung von schwarz-weißen Fotomontagen und farbenfrohen Zeichnungen, von passivem Verharren hinter dem immergleichen Gitter und dem aktiven Durchstreifen wechselnder Natur‐ räume, von anklagendem Text und textlosen Bildern entfaltet und zunehmend verstärkt. 262 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller Abb. 6: Traum von Freiheit in Der Traum des Tasmanischen Tigers (2012) Obwohl der Tiger als apathisches Opfer der hierarchischen Mensch-Tier-Ver‐ hältnisse in Erscheinung tritt, wird in seiner Gedankenwelt nicht nur die Zootierhaltung problematisiert, sondern mit dem Leben in Freiheit auch ein Gegenmodell als Lösung für sein Leid entworfen. Auswertung der diskursiven Dimension Mit der literarisch konstruierten Perspektive des Tiers verweigert sich Der Traum des Tasmanischen Tigers einem anthropozentrischen Blick auf den Zoo, indem • an die Stelle rhetorischer Strategien zur Aufrechterhaltung des Status quo explizite Anklagen gegen den Status quo treten, • das mit der Gefangenschaft verbundene Leid durch die klangvolle An‐ einanderreihung negativer und zunehmend resignativer Adjektive zum Ausdruck gebracht wird, • die vielschichtige Kontrastierung von Gefangenschaft und Freiheit mit eindeutigen Konnotationen einhergeht, die eine kritische Haltung gegen‐ über der Zoohaltung forcieren, • die direkte Anrede der Lesenden mit dem Appell verbunden wird, aus dem Wissen über Raubtiere die richtigen Schlüsse zu ziehen und diese nicht für eigene Zwecke einzusperren. 263 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos 4 Da das Bilderbuch nicht paginiert ist, wird auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet. Die nicht anders ausgewiesenen Zitate entstammen im folgenden Abschnitt aus diesem Buch. Der Zoo als Trugbild: Kako, der Schreckliche Einordnung in die Entstehungszeit Zur lauter werdenden Kritik an Zoos gehört auch, dass Angriffe von Zootieren gegen Menschen zunehmend für Kontroversen um Zootierhaltung sorgen (vgl. WDR 2020). Während im öffentlichen Diskurs aktuellere Fälle im Fokus stehen, greifen Emanuelle Polack und Barroux in Kako, der Schreckliche (2015) auf ein reales Ereignis von 1903 zurück. Das „spannende“ und „verstörende“ Tierbilderbuch wurde 2016 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, denn: es „wirft Fragen zum Verhältnis von Mensch und Tier auf und bietet damit viel Gesprächsstoff “ ( AKJ 2016). Somit zeichnet sich im Vergleich der Nominierungen und Jurybegründungen von 1956 und 2016 der „animal turn“ (Kompatscher 2018: 320) auch im kinderliterarischen Feld ab. Analyse der narrativen Ebenen / medialen Dimension Fokussiert man das jüngste Beispiel nun hinsichtlich der motivtypischen „Ein‐ prägsamkeit und relativen ikonographischen Konstanz“ (Lubkoll in diesem Band, S. 32), lässt sich feststellen, dass der Zoo, auch wenn er einziger Schauplatz der Geschichte ist, mit einer wiederkehrenden Strukturierung von Räumen sowie Akteurinnen und Akteuren einhergeht. Die Unterteilung nach Menschen- und Tierraum innerhalb des Zoos wird hier bereits vor dem Eintreffen des Protagonisten Kako sichtbar, wenn Zoowärter Simon neben dem Affenkäfig auf die „wertvolle Lieferung aus Afrika“ (Polack & Barroux 2015) 4 wartet. Dieser Verweis auf das Herkunftsland, der anders als bei Der glückliche Löwe wertfrei und deutungsoffen bleibt, wiederholt sich in der Aufschrift der roten Kiste, die als letztes Relikt der zwischen Heimat und Pariser Zoo überwundenen Distanz einen deutlichen Kontrast zu dem grau gehaltenen Gehege bildet. So wie der Wirkungskreis des angelieferten Nilpferds sich fortan auf dieses Gehege beschränkt, bleibt auch die Handlung innerhalb des Geheges verhaftet. Dieses markiert einerseits die Grenze zwischen tierischem Akteur und mensch‐ lichen Zuschauern und Zuschauerinnen, die aus dem Gehege heraus hinter der Glaswand zu sehen sind, andererseits aber auch die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit des Zoowärters Simon, was lediglich aus Simons Erzählungen hervorgeht. Innerhalb des Geheges wird besonders das Wasserbecken hervor‐ gehoben, das in Relation zu dem Nilpferdbaby noch überdimensional weitläufig 264 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller erscheint, von dem ausgewachsenen Nilpferd aber fast komplett ausgefüllt wird. Die in der Beschreibung „Manchmal verschwand er ein paar Minuten komplett unter Wasser und tauchte am anderen Ende wieder auf.“ suggerierte Bewegungsfreiheit wird somit auf der Bildebene widerlegt. Versatzstücke von Kakos Heimat werden lediglich in den Steinen angedeutet, die in dem glei‐ chen Rot gehalten sind wie die Transportkiste und die sich von dem blassen grau-braunen Grundton der Gehegemauern ebenso abheben wie das täglich herangekarrte Futter. Dass das eingesperrte Wildtier in dieser Tristesse „[…] ein geruhsames Leben [führte]“ lässt sich demnach als euphemistische Umdeutung der widernatürlichen Haltungsform lesen. Im Unterschied zu den bislang beleuchteten Bilderbüchern wird das Gehege aber nicht nur dem Tier zugewiesen, sondern ist auch der Raum, in dem sich die Beziehung zwischen Tier und Wärter entwickelt. Diese Beziehung ist von Anfang an geprägt durch Simons emotionalen („schloss ihn sofort in sein Herz“) und fürsorglichen („voller Sorge, sein Schützling könne sich erkälten“) Umgang mit dem ihm anvertrauten Lebewesen. Dessen anfängliche Objektifizierung als „wertvolle Lieferung“ wird mit seinem ersten Erscheinen abgelöst durch verniedlichende, dem Kindchenschema entsprechende Umschreibungen: „[…], und heraus tapste ein niedliches Nilpferdbaby. Mit leisem Grunzen erkundete es seine neue Umgebung und ließ Simon dabei nicht aus seinen kleinen kugelrunden Augen.“ Dieser anthropomorphisierenden Darstellung entspricht, dass Simon ihm wie einem menschlichen Baby die Arme entgegensteckt, ihm einen Namen gibt, die Wassertemperatur für ihn prüft und ihn zunächst mit Fläschchen voller Ziegenmilch und schließlich mit tonnenweise Gemüse versorgt. So wie Simon sein Handeln an Kakos vermeintlichen Bedürfnissen ausrichtet, so wird umgekehrt Kakos Handeln in menschliche Deutungsmuster eingeordnet. Wenn er Simon von hinten ins Wanken bringt, wird das auf „seinen eigenen Kopf “ und damit seinen individuellen Charakter zurückgeführt, sein Status als „Zuschauermagnet“ resultiert daraus, dass er sich „große Mühe“ gibt und sich „richtig ins Zeug“ legt, sein natürliches Verhalten im Wasser wird als „Wasserballett“ und damit als ausgeklügelte Showeinlage inszeniert und sein Gähnen gilt als bewusst eingesetzte Zusatzattraktion, „wenn er gute Laune hatte“. Selbst in dem Spitznamen „Kako der Schreckliche“ spiegelt sich letztlich die menschliche Faszination an der Unberechenbarkeit und Stärke des Wildtiers wider. Dieses soziale Konstrukt des ebenso menschenbezogenen wie potentiell gefährlichen Zootiers wird also sowohl durch Simons Verhalten als auch durch die heterodiegetische Erzählinstanz erzeugt, auf der Bildebene aber von Anfang an in seiner Gemachtheit entlarvt. Denn der Körper des Nilpferds hebt sich 265 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos aus dem mit gedeckten Farben gezeichneten Umfeld dadurch hervor, dass er aus collagenartig hineinmontierten Zeitungsartikeln und -fotos besteht, die wiederum intertextuell auf das der Geschichte zugrundeliegende reale Ereignis verweisen. Dementsprechend bleibt die Vermenschlichung auf eine aus Punkten und Strichen bestehende Mimik beschränkt und den variierenden Rollenzuschreibungen als „süßes“, „gutmütig“ wirkendes Baby, als „eleganter“ Showstar oder Schrecken verbreitendes Ungeheuer wird in den Bildern ein le‐ diglich wachsendes und sich seinem Leben in Gefangenschaft fügendes Wildtier entgegengesetzt. Dass Simon diesem immer weniger gewachsen ist, deutet sich bereits auf dem Bild an, auf dem er gemeinsam mit Kako auf der dem Tier zugewiesenen Seite der Glaswand der staunenden Menschenmenge gegenübersteht. Sein Arm auf Kakos Hals kann einerseits als freundschaftlich-lockere Umarmung, andererseits als demonstrative Machtgeste gedeutet werden, verstärkt aber unabhängig von der Auslegung den Eindruck, dass er innerhalb des Geheges eine Einheit mit dem Tier bildet und aus der Einheit der Menschen ähnlich ausgeschlossen ist wie das Tier selbst. Abb. 7: Ambivalenz der Mensch-Tier- Beziehung in Kako, der Schreckliche (2015) Seine Überforderung wird zudem in der Fütterungsszene deutlich, in der er auf Textebene überhaupt keine Erwähnung findet, also letztlich hinter den Schilderungen von Kakos Nahrungsbedarf zurücktritt und auf Bildebene voll‐ beladen, gebückt und mit frustriertem Gesichtsausdruck dargestellt wird. Von dieser Fixierung auf das Tier weicht er schließlich erst mit den begeisterten Schilderungen des besuchten Feuerwehrballs ab, in denen er die Zuhörenden auf Textebene als „Meine Freunde“ anspricht, die auf Bildebene eine Begegnung 266 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller mit einer Frau beinhalten und die implizit auch darauf hindeuten, dass eine Mensch-Tier-Beziehung nicht den Kontakt unter seinesgleichen ersetzen kann. Simons Ausbruch aus seiner Rolle, seine Verspätung und insgesamt die lärmende menschliche Feier gehen für Kako mit einer Beeinträchtigung seiner vom Zooalltag gesteuerten Schlaf- und Fressgewohnheiten einher und setzen in der Logik der Geschichte auch die bislang geltende Mensch-Tier-Ordnung außer Kraft, denn bei der Fütterung „[…], stieß Kako, der Schreckliche, seinen Wärter, der ihn doch seit sieben Jahren hegte und pflegte zu Boden - getrieben von einem natürlichen Trieb, den er wohl nie wirklich verloren hatte. Und ohne lang zu fackeln, verschlang er ihn.“ Dieser Wendepunkt, mit dem die Geschichte abrupt endet, lässt sich auf Handlungsebene also durchaus auf die Störanfälligkeit der anthropozentrischen Machtstrukturen zurückführen, transportiert auf der Darstellungsebene aber eine durchaus widersprüchliche Botschaft. So wird auf den ersten Blick eine deutliche Diskrepanz zwischen dem schrecklichen, triebgesteuerten und undankbaren Wildtier und seinem selbst‐ losen, verantwortungsvollen und langjährigen Pfleger aufgebaut, die an der Zuweisung von Schuld und Unschuld keinen Zweifel lässt. Diese vorhersehbare Argumentationsstrategie wird auf den zweiten Blick allerdings gerade durch die Überspitzungen, die sich im bestärkenden „doch“, im vermutenden „wohl“, im Rückgriff auf den Beinamen „der Schreckliche“, im umgangssprachlichen „ohne lange zu fackeln“ und im märchenhaft übertreibenden „verschlang“ manifestieren, brüchig und so zumindest ansatzweise in ihrer Scheinheiligkeit entlarvt. Auswertung der diskursiven Dimension Die „diskursbegründende Impulsfunktion“ (Lubkoll in diesem Band, S. 32) ist der Inszenierung des Zoos in Kako, der Schreckliche also zusammenfassend dadurch immanent, dass • Text und Bild bei der Beschreibung des Raumes sowie des Tiers in einem teilweise ergänzenden, teilweise kontrapunktischen Verhältnis stehen und dadurch polarisierende Wahrnehmungen des Zoolebens offenlegen, • das Zootier auf Bildebene als mediale Konstruktion in den Fokus gerückt wird, • die enge Beziehung zwischen Zootier und Zoowärter nicht nur harmo‐ nisch, sondern auch als belastender, unnatürlicher und letztlich lebens‐ bedrohlicher Balanceakt dargestellt wird, • die Erzählinstanz auf eindeutige Wertungen verzichtet und somit die Rezipierenden in die Verantwortung nimmt, sich eine eigene Meinung zu bilden. 267 Motivgeschichtliche Perspektiven auf Bilderbuch-Zoos Der Zoo als lokales Motiv? Zusammenfassung und Ausblick Wenn sich ein Motiv „durch Wiederholung, Konventionalisierung und Varia‐ tion“ (Lubkoll in diesem Band, S. 35) konstituiert, so scheint vor dem Hinter‐ grund der gewonnenen Erkenntnisse die Einordnung des Zoos als lokales Motiv angemessen. Die Wiederholung zeigt sich insbesondere darin, dass der Zoo konstant mit einer Einteilung von Räumen nach Innenraum vs. Außenraum, Menschenraum vs. Tierraum, Heimat vs. Fremde, Freiheit vs. Gefangenschaft einhergeht und damit auch die Figuren kategorisiert nach Bewohnenden und Besuchenden, zwischen denen sich lediglich Zoowärtersohn Franz und Zoowärter Simon bewegen. Eine Konventionalisierung lässt sich dahingehend beobachten, dass der Raum des Zoos unabhängig vom jeweiligen moralischen Impetus im Laufe der Jahr‐ zehnte immer wieder als Ausgangspunkt dient, um Mensch-Tier-Beziehungen literarisch auszuloten, zu reproduzieren, zu (de-)stabilisieren und dabei auch Spezieskonstruktionen zu entnaturalisieren. Die Variation schlägt sich schließlich in der expliziten und impliziten Bewer‐ tung sowohl des Zoos als auch der zugrundeliegenden Machtverhältnisse nieder. So hat sich für Der glückliche Löwe gezeigt, dass es die Mensch-Tier-Ordnung aus der Perspektive des untergeordneten Tieres euphemisierend darstellt. Dabei spielen v. a. naive Anthropomorphisierungen eine entscheidende Rolle, da sie das Tier als menschenzugewandt und den Zoo als geeignete Umgebung insze‐ nieren. Diese Umgebung wird in den anderen drei Büchern auf verschiedene Weise in Frage gestellt. Zoo (1992) erreicht dies über eine relativ neutrale sprach‐ liche und bildliche Darstellung des Zoos, unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Zoo und den Tieren, eine Umkehrung der stereotypen Rollen von Mensch und Tier auf Bildebene und einer Reflexionsfrage an die Rezipierenden. Der Traum des Tasmanischen Tigers schafft Irritation durch die Konstruktion einer reflektierten Tierperspektive, durch den Verzicht auf kategoriale Begriffe und menschliche Euphemismen sowie durch die Kontrastierung von Gefangenschaft und Freiheit. In Kako, der Schreckliche entstehen Reibungspunkte durch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Text und Bild, eine ungewöhnliche visuelle Darstellung des Tieres sowie ein abruptes und offenes Ende. Schneidet man nun abschließend Jan-Erik Steinkrügers provokative Frage, „was Kinder in einem Zoo lernen können“ (2019: 96), auf die Bilderbuch-Zoos zu, so liegt die Antwort in der Erweiterung der eigenen, von individuellen Vorerfahrungen geprägten, Perspektive auf den Zoo um a) eine historische Perspektive in Der glückliche Löwe, b) eine gesellschaftskritische Perspektive 268 Elisabeth Hollerweger & Sophie Müller in Zoo, c) eine tierimitierende Perspektive in Der Traum des Tasmanischen Tigers und d) eine desillusionierende Perspektive in Kako, der Schreckliche. Diese unterschiedlichen Schwerpunkte lassen sich auch in einer tiersensiblen Motivdidaktik aufgreifen, indem a) die wertende Kontrastierung der Räume Afrika - Löwengehege, Stadt - Zoo herausgearbeitet und z. B. mithilfe von Positionslinien kritisch beleuchtet wird, b) die These „so ein Zoo ist gar nicht für Tiere […], der ist eher für Menschen“ der Geschichte entlang nachvollzogen und z. B. in möglichen Traumbildern der Tiere in Relation zur abschließenden Frage des Buches gesetzt wird c) Antworten auf die Fragen des Tasmanischen Tigers diskutiert und z. B. in einem Positionspapier zum Leben in Gefangenschaft abstrahiert werden, d) die im Hinblick auf Kakos Handlungsmotivationen ent‐ stehenden Leerstellen durch gezielte Perspektivübernahmen z. B. in Denkblasen gedeutet werden. Insbesondere in einem diachronen Vergleich der Werke oder einer daraus getroffenen Auswahl lässt sich damit literarisches Verstehen fun‐ dieren, das das Motiv in seinen medialen, aber auch diskursiven Dimensionen erfahrbar macht. Literaturverzeichnis Primärliteratur Browne, Anthony (1992). Zoo. A. d. Engl. von Nina Schindler. Hamburg: Lappan. Fatio, Louise / Duvoisin, Roger (1955). Der glückliche Löwe. A. d. Engl. von Fritz und Regina Mühlenweg. Freiburg: Herder. Polack, Emmanuelle / Barroux, Stephane (2015). Kako, der Schreckliche. A. d. Franz. von Babette Blume. München: mixtvision. 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Der Artikel will dazu beitragen, dieses Desiderat zu schließen und untersucht ausgewählte Texte und Medien, in denen der Jahrmarkt eine zentrale Rolle spielt, auf die Funktion des Motivs hin. Dabei werden alle Dimensionen des motivanalytischen Modells von Stefanie Jakobi und Tobias Kurwinkel berücksichtigt. Abschließend sei ein unterrichtspraktischer Vorschlag zu einer transmedialen Lektüre von Jahrmarkts-Medien in der Grundschule vorgestellt. Der Jahrmarkt in Kinder- und Jugendmedien: Narrativer Rausch, Heterotopie und Spiel Es war wie ein Märchen, der Jahrmarkt auf dem Läusemarkt. Es war, als ob ein Märchen vor ihren Augen Wirklichkeit geworden wäre, als sie den funkelnden Lichterbogen über dem Eingang sahen und das Paradies von Licht und Geglitzer dahinter. Der ganze Festplatz strahlte, überall in den alten Fliederbüschen des Läuse‐ markts hingen kleine rote und gelbe Laternen, die das Dunkel zwischen den Büschen erhellten, so dass alles so zauberisch und festlich und ganz anders aussah. Das Karussell drehte sich rundherum und war allein schon ein Wunder mit seinen Ranken von kleinen, flimmernden Lichtpünktchen, und jede einzelne Bude erstrahlte in einem roten, geheimnisvollen Schein, von dem man angezogen wurde, ob man wollte oder nicht, so beschreibt Astrid Lindgren den Jahrmarkt, der in die Stadt gekommen ist in Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker (Lindgren 1971: 25). Weniger märchenhaft, dafür witzig und in einfacher Zeichentrickform prä‐ sentiert sich der Jahrmarkt in der populären Kinderserie Peppa Wutz (Peppa Pig; seit 2004) in der Folge „Auf der Kirmes“ (Baker 2009): Die Schweinefamilie Wutz geht auf den Jahrmarkt und klappert eine typische Attraktion nach der nächsten ab. Während Papa Wutz und der kleine Bruder Schorsch Riesenrutsche und Riesenrad benutzen, gewinnt Mama Wutz ein Spiel nach dem anderen und erfüllt Schweinetochter Peppa so den Wunsch nach einem Riesenteddy. Der Figurenkonstellation der Serie entsprechend trotzt Mama Wutz allen frauenfeindlichen Vorurteilen, ist geschickt im Bogenschießen und gewinnt das Hau-den-Lukas-Spiel, während Papa Wutz „nicht so fit“ (Baker 2009: 00: 08: 33) ist und mitsamt seiner imposanten Körperfülle der Lächerlichkeit preisgegeben ist (wie in jeder Folge). Dabei wird die ganze Folge über die Unproduktivität der Jahrmarktsspiele ironisch aufs Korn genommen, denn auf einem Jahrmarkt wird das Geld mehr oder minder ohne Gegenwert vernichtet. Auf dieser Kirmes kostet alles zwei Euro, was die Schweinefiguren immer wieder konsterniert zur Kenntnis nehmen. Am Ende liegen die Figuren alle lachend in einem Berg aus gewonnenen, billigen Riesenteddys. Zwei sehr unterschiedliche Medien aus verschiedenen Zeiten, die den Jahr‐ markt als lokales Motiv nutzen und andersartig inszenieren. Die Reihe der Beispiele lässt sich in langer Folge fortsetzen. Erstaunlich ist, dass der Jahrmarkt als Motiv und / oder Raum bislang noch nie zum Gegenstand der KJL -Forschung geworden ist, obwohl er kinder- und ju‐ gendmedial häufig genutzt wird, wie noch anhand vieler Beispiele gezeigt wird. Sichtet man einschlägige Symbol- und Motivlexika (Daemmrich & Daemmrich 1995, Frenzel 1993) findet sich unter den Stichworten „Jahrmarkt“, „Rummel“ oder „Kirmes“ kein Eintrag. In dem Bestreben, dieses Desiderat zu schließen, werden im Folgenden die Jahrmarkts-Inszenierungen ausgewählter Texte im Hinblick auf die Funktion des lokalen Motivs hin untersucht. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über Kinder- und Jugendmedien mit dem Jahrmarkts-Motiv und eine entsprechende kultursoziologische Einord‐ nung, an die sich eine zweiteilige Kategorisierung anschließt. Hernach wird das Motiv didaktisch perspektiviert, indem ich Ansätze einer transmedialen Lektüre des Jahrmarkts-Motivs in der Grundschule vorstelle. 272 Kirsten Kumschlies Eingrenzung Der Fokus liegt im Folgenden ausschließlich auf solchen Texten bzw. Medien, in denen ein Jahrmarkt im engeren Sinne vorkommt. Ausgeklammert bleiben verwandte Motive wie Vergnügungspark und Zirkus, wobei die Abgrenzungen nicht immer leichtfallen und ebenso wenig trennscharf sind, zumal Jahrmarkt und Zirkus kulturgeschichtlich (und damit in der diskursiven Dimension des Motivs) eng miteinander verbunden sind. Das zeigt sich vor allem daran, dass das Erscheinungsbild des historischen Jahrmarkts stark geprägt war von Menagerien und auch (aus heutiger Sicht unvertretbaren) Völker- oder Abnormitätenschauen - Referenzen, die sich auch in den Jahrmärkten der Kinder- und Jugendliteratur spiegeln. Zu verweisen ist hier insbesondere auf Lemoney Snickets The Carnivorous Carnival (2002) aus der Reihe A Series of Unfortunate Events (1999, 2006), wo sich die Protagonisten in ironischer Brechung den Monströsitäten der Völkerschau anschließen und den Löwen, sehr zur Begeisterung des schaulustigen Publikums, zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Sichtet man die Kinder- und Jugendmedien, in denen das Jahrmarktsmotiv eine zentrale Rolle spielt in der Breite, so fällt auf, dass es sich hierbei vielfach um solche mit primär unterhaltender Funktion handelt, ästhetisch komplexe Texte finden sich weniger. In vielen populären, seriellen Kinder- und Jugendmedien taucht ein Jahrmarkts-Titel auf. Verwiesen sei hier exemplarisch auf die Drei Ausrufezeichen - Tatort Geisterbahn (2017), TKKG - Anschlag auf die Achterbahn (2009) oder Die Fünf Geschwister - Gefahr auf dem Jahrmarkt (2017) sowie auf das Hörspiel Benjamin Blümchen auf dem Rummel (Kiddinx 1988) oder das Eingangsbeispiel Peppa Wutz - Auf der Kirmes. Aber es finden sich auch Kinderklassiker wie Pippi Långstrump går ombord (1946) und Rasmus på luffen (1956) von Astrid Lindgren, in denen der Jahrmarkt eine Rolle spielt. Auch ästhetisch komplexere Texte nutzen vereinzelt den Jahrmarkt als Schau‐ platz, allen voran David Almonds Der Junge, der mit den Piranhas schwamm (The Boy, Who Swam with Piranhas, engl. 2012; dt. 2014). Diskursive Dimension: Jahrmarkt als kulturelles Phänomen Um der Funktion des Jahrmarkt-Motivs auf die Spur zu kommen, sei hier zunächst ein kurzer Blick auf den Jahrmarkt als kulturelles Phänomen geworfen. Im allgemeinen Sprachgebrauch verstehen wir, so schreibt es Sacha-Roger Szabo in seiner soziologischen Kulturgeschichte des Jahrmarkts einen „Markt 273 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien mit Verkaufs- und Schaubuden, Karussellen und ähnlichen Einrichtungen, welcher einmal oder mehrmals im Jahr stattfindet“ (Szabo 2006: 27). Er akzentuiert vor allem die Rauscherfahrung, die der Jahrmarkt als Fest mit sich bringt. Genuin ist er aus der Kirchmesse, also der Kirmes, somit aus religiösem Kontext hervorgegangen: Die Kirmes bezeichnet ursprünglich die zu einer Einweihung einer Kirche gelesene Messe und die im Anschluss daran stattfindenden Kirchweihfeste, die an dem Na‐ menstag des Kirchenheiligen stattfinden. An diesen Tagen soll eine besonders enge Verbindung zwischen den Gläubigen und dem Heiligen bestehen. Im Rahmen dieser Kirmessen kommt es zu Festlichkeiten, die auch Gaukler, Artisten und Spielleute anziehen, so dass sich die religiöse Handlung mit weltlicher Festivität verbinden. (ebd.: 25) Dagegen ging es beim weltlichen Jahrmarkt, der seine Wurzeln im Mittelalter hat, von Anfang an vorrangig „um den zollfreien, teilweise auch privilegierten Warenaustausch“ (ebd.: 27). „Vergnügungs- und Belustigungselemente“ waren eher „Randphänomene“ (ebd.). Diese aber machen den Jahrmarkt, wie wir ihn heute kennen, aus. Es geht laut Szabo um die Erzeugung eines außergewöhnlichen Zustands der Wirklichkeitserfahrung, um eine kommerzialisierte Form der Weltflucht und so vor allem um Rauscherleben: Rausch durch Geschwindigkeit, Schaukeln, Wettkampf, Glücksspiel, Alkohol, Zucker und mit allem verbunden auch immer Sexualität. So entsteht eine Gegenwelt bzw. Spielwelt, die Szabo in Anlehnung an Huizingas Spieltheorie mit folgenden Merkmalen belegt: Freiwilligkeit, eigener Raum, Eigengesetzlichkeit, Unproduktivität und Fiktivität (vgl. ebd.: 60). Dadurch rückt der Jahrmarkt grundsätzlich in die Nähe zum Spiel und dessen Zweckfreiheit (s. Schmerheim in diesem Band, S. 94). In alldem ergibt sich eine Analogie zum Zirkus, den Margarete Fuchs jüngst bei ihrer Betrachtung von Kinder- und Jugendliteratur mit dem Zirkus-Motiv als populärkulturelles Phänomen, das einerseits einen Mikrokosmos darstellt, einen Spiegel der gesellschaftlich-historischen Gegenwart, andererseits auch eine perfekt inszenierte Gegenwelt und Projektionsfläche von Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten aller Art (Fuchs 2019: 34) beschreibt. Durch die Nicht-Sesshaftigkeit der Schausteller avancieren sowohl Jahrmarkt als auch Zirkus zum Fremden und sind für viele der kindlichen und jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten mit einem Akt der Transgression im Rahmen einer Initiationsreise verbunden. 274 Kirsten Kumschlies Nach Sichtung und Rezeption zahlreicher Jahrmarkt-Medien sei vor dem Hin‐ tergrund dieser kulturellen Einordnungen folgende Zweiteilung vorgenommen: 1. Jahrmarkt als Abenteuerspielplatz und Rauscherlebnis: Fiktionales Spiel im Spiel 2. Jahrmarkt als Schwellenmotiv: Heterotopie und Transgression Jahrmarkt als Abenteuerspielplatz und Rauscherlebnis: Fiktionales Spiel im Spiel In vielen Kinder-und Jugendmedien, vor allem jenen mit primär unterhaltender Funktion, ist der Jahrmarkt inszeniert als großer Abenteuerspielplatz. Der Jahrmarkt erscheint in diesen Texten als fiktionales Spiel, das die Lust auf das Jahrmarkts-Spiel, und damit verbunden der Freiheit und der Entgrenzung, trig‐ gert oder entfacht. Im Zentrum steht hier ganz deutlich das Rauschempfinden, das der Jahrmarktsbesucher erfährt - damit befinden wir uns im Rahmen des motivanalytischen Modells nach Jakobi und Kurwinkel (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 25) in der diskursiven Dimension des Motivs. Beschrieben werden Urlaubsgefühle, ungebremste Freude, der Ausstieg aus dem Alltag, Lichter, Musik und Essen, sodass der Jahrmarkt als ein Sinneserlebnis aus Gerüchen, Geräuschen und Lichtern erscheint. Überall leuchteten und blitzten bunte Lichter auf, es roch nach Frittierfett, Süßig‐ keiten. Aus Hunderten von Boxen erdröhnten Musik und die übersteuerten Sprüche der Ansager (Wolf 2009: 118), so heißt es etwa in TKKG - Anschlag auf die Achterbahn. In Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker ist es „Karussellmusik“, die schmetterte über den Läusemarkt: Sie war weithin zu hören, sie verführte und lockte: Kommt her, alle, die ihr Karussell fahren und ein letztes Mal euer Glück versuchen wollt! Kommt her, bald ist es zu spät! (Lindgren 1971: 126) In den 5 Geschwistern - Gefahr auf dem Jahrmarkt liest man: „Jede Bude wollte die großen und kleinen Besucher selbst in eine andere Welt hineinlocken. Dabei war diese Kirmes hier in Düsseldorf schon selbst eine völlig andere Welt …“ (Schier & Schuffenhauer 2017: 9). Der Rummelplatz erscheint als ein riesiger Abenteuerspielplatz, insbesondere in serieller, schematischer Kinder- und Ju‐ gendliteratur wird eine Jahrmarkts-Attraktion nach der anderen regelrecht abgeklappert und wird so zum fiktionalen Spiel im Spiel, so auch in Peppa Wutz, häufig ebenso in Bilderbüchern wie Sam und Julia auf dem Jahrmarkt (2016). Die einzelnen Buden und Fahrgeschäfte erscheinen hier wie einzelne 275 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien Schauplätze im dramatisch-präsentierenden Modus, dessen zentrale Intention es ist, deren Attraktivität ausschnitthaft und Spotlight-artig vorzuführen. Im Falle von Peppa Wutz verbindet sich diese dramaturgisch inszenierte Schau mit Kapitalismuskritik, die durch die Unproduktivität der Jahrmarktsspiele virulent wird. Auf dem Jahrmarkt kann nichts Wert- und Gehaltvolles erworben werden. Sowie die hier gemachten Erfahrungen bleibt alles brüchig und instabil, wofür überteuerte Stoffteddys, die man an Losbuden gewinnt, ein Sinnbild sind. Peppa und ihre Familie aber sind in ihrer Familienkonstellation so stabil, dass sie die billige Brüchigkeit, die sie auf dem Jahrmarkt vorfinden, einfach weglachen. Besonders beliebte Schauplätze in der seriellen Kinder- und Jugendliteratur mit Jahrmarkts-Motiv sind Geister- und Achterbahn. Und: Der Jahrmarkt bietet auch eine wunderbare Kulisse für Kriminalfälle. Die Detektivinnen der Drei Ausrufezeichen stellen am Tatort Geisterbahn (2017) zwei Bankräuber, die TKKG -Bande verhindert einen Anschlag auf die Achterbahn (2009), mit dem Erpresser an das Geld der Betreiber gelangen wollen. In Rüdiger Bertrams Stunk in der Geisterbahn (2017) werden die magischen Tiere in der Geisterbahn gefangen gehalten und dort von Zora und ihrem ebenfalls magischen Stinktier Dieter überführt. Die typischen Rummel-Attraktionen bilden sich auch auf paratextueller Ebene ab: Die Mädchen der Drei Ausrufezeichen sehen wir auf dem Cover in einem Geisterbahnwagon, bei TKKG sitzt die Kinderbande in der Achterbahn, das Titelbild der 5 Geschwister zeigt das Riesenrad, Schieß-, Wurfbude und Autoscooter, Zora fährt mit ihrem Stinktier in der Geisterbahn. Wie einen Parcours durchläuft auch Pippi Langstrumpf mit Tommy und Annika in der entsprechenden Episode die Jahrmarktsattraktionen. Sie hin‐ gegen nutzt diese, um einmal mehr ihre Stärke und damit ihre phantastische Dimension zu demonstrieren. Hier gleicht der Jahrmarkt, insbesondere in der klassischen filmischen Adaption mit Inger Nilson (vgl. Hellboom 1969), einem Potenz-Schauplatz: Pippi gewinnt jedes Spiel, besiegt - zur Belustigung von Rezipierenden und Kinderfiguren - den stärksten Mann der Welt im Ringkampf und beschwört gefährliche Schlangen. Wie in fast allen Pippi-Episoden geht es auch auf dem Jahrmarkt darum, die erwachsenen Figuren im Sinne der kinderliterarischen Komik zu blamieren und der Lächerlichkeit Preis zu geben. So wird der Jahrmarkt zum Paradies für die Entfaltung von Kindheitsautonomie und ungebremster Spielfreude. 276 Kirsten Kumschlies Abb. 1: Pippi auf dem Rummelplatz Die Rauschelemente des Rummelplatzes sind eng verbunden mit der medialen Dimension des Motivs (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 21): In allen hier besprochenen Medien erscheint der Jahrmarkt als atmosphärisch gestimmter Raum, der Rausch und Spiel als Grundstimmung inszeniert, diese aber den jeweiligen Strukturen der Einzelmedien folgend unterschiedlich ausdifferen‐ ziert. Während Film und Hörspiel häufig Drehorgelmusik einsetzen, um die Jahrmarktsatmosphäre zu inszenieren, werden in den Büchern Lichter, Musik, Essen und vor allem auch Gerüche beschrieben. In einigen Texten ist der Fremdheits-Diskurs dominant. Ein zentrales Beispiel ist Lindgrens Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker. Die Bedrohung geht hier vor allem von den Schaustellern aus, ist also gebunden an deren Nicht-Sess‐ haftigkeit, die Fremdheit evoziert. In Lindgrens Kinderkrimi überführen die Freunde Rasmus und Pontus den bösen Schwertschlucker Alfredo, der mit dem Jahrmarkt in die Stadt gekommen ist, als Silberdieb, der obendrein auch noch Rasmus’ geliebten Hund entführt. Die Bedrohung ist allein auf die Figuren zentriert, nicht an den Schauplatz Jahrmarkt als solchen, dieser verströmt ausschließlich den Charakter des Rausches und des Abenteuers und somit des Rauscherlebens. Jahrmarkt als Schwellenmotiv: Heterotopie und Transgression In Wolfgang und Heike Hohlbeins Roman Spiegelzeit (1993) fungiert der Jahr‐ markt als Schwellenmotiv zum Übergang von der primären, realistischen Welt in die sekundäre, phantastische Welt. Explizit als „Umsteigebahnhof “ (ebd.: 405) bezeichnet wird hier das Spiegelkabinett, durch das der Protagonist Julian in die bedrohliche und unheimliche sekundäre Welt gelangt. Markiert ist der Weltenwechsel sowohl durch farbliche als auch durch akustische Kontraste. 277 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien Der diskursiven Dimension des Motivs entsprechend erscheint der Jahrmarkt der realistischen Welt grell, bunt und laut, während der Kirmes in der phantas‐ tischen Welt all die Dimensionen, vor allem der Lärm und die Farben, die das Rauscherleben tragen, entzogen sind. Plötzlich ist der „Rummelplatz einfach zu ruhig“ (Hohlbein 1993: 133) und: Die ganze Umgebung war unheimlich. Es war, als befänden sie sich irgendwie auf der dunklen Seite der Kirmes, wo es nur Schwärze gab und Schatten und Grau in allen denkbaren Nuancen. Vor ihnen erhob sich eine dreifache Reihe buckeliger Wohnwagen, sie ähnelten dem, in dem sein Vater verschwunden war. Daneben stand ein Kinderkarussell, tot, außer Betrieb. Kein Laut war zu hören, aber in den Schatten war etwas … (ebd.: 157) In den Schatten bewegen sich bösartige Trolle, die den Übergang in eine gruselige Anderswelt bereiten. Julian gelangt durch das Spiegelkabinett in den Strudel einer schrecklichen Vergangenheit, in der der Jahrmarkt immer wieder abbrennt, die Schaustellenden sind hier in einer grausamen Zeitschleife gefangen und erleben die Qualen, die das Feuer evoziert, immer wieder neu. Der Roman erzählt davon, wie Julian es schafft, diesen Kreislauf zu unterbrechen, wobei er stets zwischen den Welten hin- und herpendelt. Durch die Spiegel im Labyrinth gelangt er auf den historischen, von bösen Trollen bevölkerten Rummelplatz, dem insofern die Rauschelemente entzogen sind, als hier sowohl Lärmpegel als auch bunte Lichter fehlen. So fungiert der Jahrmarkt hier als „Schleuse, als Umsteigpunkt zwischen Primär- und Sekundärwelt“ (O’Sullivan, zitiert nach Kurwinkel 2017: 53) und ist demnach, folgt man Tobias Kurwinkel, ein materielles Schwellenmotiv (vgl. ebd.), das hier, und auch in anderen Texten wie etwa Luna Park von Olivia Monti (2010) oder dem interaktiven Spielbuch Jahrmarkt der Angst (2019) (bzw. ganz populär in Stephen Kings It [1986]) Elemente von Grusel und Horror aufweist. Der Jahrmarkt wird hier zu einer Heterotopie im Foucaultschen Sinne, die zur Transzendenzerfahrung erweitert wird. Für Foucault ist der Jahrmarkt eine „Heterotopie, die nicht im Modus der Ewigkeit, sondern in dem des Festes mit der Zeit verbunden sind“ (Foucault 2005: 16). Heterotopien sind bei Foucault Utopien, die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt (ebd.: 9). Als Heterotopie betrachtet, avanciert der Jahrmarkt zum Wunsch- und Sehn‐ suchtsort, wie es Fuchs ganz ähnlich für den Zirkus in der Kinder- und Ju‐ gendliteratur formuliert: Er offeriert ein „Möglichkeitsversprechen“ und „bietet 278 Kirsten Kumschlies vorübergehende Verunsicherungen, die Erprobung und Erkundung anderer Spielregeln, die zeitlich begrenzte Ermöglichung des eigentlich Unmöglichen“ (Fuchs 2019: 40). Während Julian in Spiegelzeit dieses Motiv lediglich als „Umsteigebahnhof “ (Hohlbein 1993: 405) und Übergang in die phantastische Welt nutzt, dient es Stanley Potts in Der Junge, der mit den Piranhas schwamm als Entwicklungs‐ möglichkeit, um sich vom „hageren, dürren Kind“ (Almond 2014: 239) zum mutigen Helden der Geschichte zu verwandeln. So wird das Schwellenmotiv mit jenem der Initiations- und Heldenreise verbunden, und der Text lässt sich daher auch als Initiationsroman lesen, wobei die Motive durch eine überspitze und selbstreferenzielle Erzählweise, welche die Fiktivität der Geschichte explizit zum Thema macht, stets karikiert und ironisch gebrochen werden. Der Waisenjunge Stanley Potts wächst in einem kleinen Hafenort bei seinem Onkel Ernie und seiner Tante Annie auf, mit denen er sich sehr gut versteht. Sie kümmern sich liebevoll um den Jungen, bis ihre kleine Welt plötzlich aus den Fugen gerät, als Ernie seinen Arbeitsplatz in der Werft verliert. Der Onkel ist mit den Nerven am Ende und funktioniert das Zuhause der Familie in eine Fischfabrik um, die den ganzen Raum in Beschlag nimmt. Für Stan ist, in Analogie zu Harry Potter (1997-2007), nur noch Platz im Wandschrank. Doch es kommt noch schlimmer: An Stans Geburtstag schickt ihn seine liebevolle Tante auf den Jahrmarkt. Sie möchte, dass ihr Junge dort einen schönen Tag verbringt und entlässt ihn mit den Worten: „Du hast schon viel zu lange hier im Haus gehockt. Ich wünsche dir viel Spaß da draußen in der Welt, mein Liebling! “ (ebd.: 28) und markiert den Jahrmarkt als Heterotopie, die der freien Entfaltung und Entwicklung dient, aus der bedrückenden Enge des Hauses herausführt. Es erfolgt eine klassische Grenzüberschreitung im Sinne Lotmans (vgl. Lotman 1981). Stan geht auf den Jahrmarkt mit all seinen Freiheiten und unbegrenzten Möglichkeiten, „riesig, lärmend und hell“ (Almond 2014: 31). Er steht als Synonym für „draußen, in der Welt“ (ebd.: 28), wo Stan alle erdenklichen Freiheiten besitzt, die ihm in der Enge der zu einer Fischfabrik degradierten Heimat nicht mehr zustehen. Die Fremde bietet dem Protagonisten den Raum, sich zu entwickeln und von seiner traurigen Kindheit zu lösen: Es ist ein „Ort der Gefahr und Bewährung“ (Abraham 2014: 313). Die (überzeichneten) Negativfiguren Clarence P. Klapp und seine Jungs von der D. O. O. F.-Behörde hingegen betrachten den Jahrmarkt als „Land der Sittenhaftigkeit und Lasterlo‐ sigkeit“ (Almond 2014: 206) und sehen auf das bunte Jahrmarktsvolk herab. Auf dem Jahrmarkt vermischen sich realistische und phantastische Elemente. Stan lernt Dostojewski kennen, den Besitzer der Entenangel-Bude, bei der die Preise traditionell lebende Goldfische darstellen. Der Junge fühlt sich von den Fischen 279 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien beinahe magisch angezogen und handelt mit Dostojewski aus, dass er die letzten 13 verbliebenen Goldfische behalten darf, wenn er die Plastikenten putzt. Sofort entwickelt er eine intensive Beziehung zu seinen Goldfischen und bezeichnet sie als „seine besten Freunde“ (ebd.: 54). So erschüttert es Stan - und mit ihm die Lesenden - massiv, als der wahnsinnig gewordene Onkel Ernie nachts die Fische stiehlt und zur Konserve verarbeitet. Nur der 13. Fisch entwischt ihm. Zutiefst getroffen von der bizarren und bösartigen Tat des Onkels verlässt Stan wortlos mit dem letzten Fisch das Haus und schließt sich Dostojewski und den Jahrmarkt-Leuten an. Fortan arbeitet er in der Entenbude und gehört zu den Schaustellenden: Die Initiation im heterotopischen Möglichkeitsraum beginnt für Stan durch seine Verschmelzung mit dem Fremden. Er tritt in die Schwellenbzw. Übergangsphase seiner Initiation ein, die durch die Abgegrenztheit des Jahrmarkts klar limitiert ist. Der Akt der Transgression hat begonnen. Auf dem Jahrmarkt lernt er viele merkwürdige Gestalten kennen: den Eber‐ mann, Kitzel-Peter, Wahrsager-Rosi, um nur einige zu nennen, vor allem aber Pancho Pirelli, der auf dem Jahrmarkt die Besuchenden damit beeindruckt, dass er mit seinen gefährlichen Piranhas in einem Becken schwimmt. Er bietet Stan einen Ausbildungsplatz an. Zwar fällt ihm die Trennung von Dostojewski und seiner mürrischen Tochter Nitascha schwer, da er die beiden inzwischen liebgewonnen hat. Dennoch nimmt er schließlich Pirellis Angebot an und wird zum Jungen, der mit den Piranhas schwimmt. So erfolgt die nächste Grenzüberschreitung des Protagonisten, der Eintritt in die Angliederungsphase der Initiation. Diese dritte Station ist als explizite Gefahrenzone markiert: das Piranha-Becken. Hier kann Stan seine Persönlichkeit entfalten und wird zum wahren Helden der Geschichte, die der Erzähler zum Schluss als rein fiktiv enttarnt: „Wie auch immer ihr euch entscheidet, es ist bloß eine Geschichte. Clarence P. Klapp existiert nur auf den Seiten dieses Buches und an einem verborgenen Ort: eurer Fantasie“ (ebd.: 242). Hier finden ihn schließlich auch Onkel und Tante wieder, die ihrem Neffen nachgereist sind. Der Verlust war für sie unerträglich, denn „in ihrem Herzen sind sie gut und treu“ (ebd.: 246) - mit diesen Worten schließt die skurrile Geschichte. Die Initiation ist geglückt, was laut Hadassah Stichnothe für die Kinderliteratur aufgrund ihrer didaktischen Ausrichtung ganz typisch ist (vgl. Stichnothe 2017: 52): ein eindrucksvolles Beispiel der Verbindung Heterotopie und Initiationsreise im Jahrmarktsmotiv. Ähnlich wie es Anna Stemmann für die Verschränkungen von Raum- und Zeitstrukturen in Adoleszenzromanen (Stemmann 2019) gezeigt hat, verkoppelt sich der Reifungsprozess des Protago‐ nisten bei Almond mit seiner Bewegung im Raum, wobei dieser dem Wesen der Heterotopie entsprechend von der Außenwelt abgegrenzt ist und diesen eng 280 Kirsten Kumschlies absteckt. Der Jahrmarkt als heterotopischer Handlungsraum steht damit für die innere Entgrenzung der Protagonistinnen und Protagonisten. Indem sie sich dem Jahrmarktsvolk anschließen, verschmelzen sie mit dem Raum und werden so selbst zu einem Teil der Heterotopie. Auf diese Weise vereinigt sich das lokale Motiv mit dem situationalen Motiv des Ausreißens, das auch in prototypischer Weise mit der Bewegung im Raum verbunden ist: „Jemand verlässt einen Ort, um damit einer Situation am Ausgangsort zu entkommen“ (Bernhardt 202: 6), so fasst es Sebastian Bernhardt zusammen, der jüngst einen Sammelband zum Motiv des Ausreißens in der Kinder- und Jugendliteratur herausgegeben hat. Ein zentraler Text, in dem sich ebenfalls die Motive Ausreißen und Jahrmarkt verbinden, ist Theo haut ab (1977) von Peter Härtling. Auch hier geht es um eine Initiation des Protagonisten, die aber nicht mit phantastischen Elementen arbeitet, sondern ganz auf realistische Wirklichkeitserkundung setzt. Der Tra‐ dition des schonungslos-realistischen Erzählens, wie sie für die Kinderliteratur der 1970er Jahre typisch ist, verpflichtet, stellt der Text mit Theo einen Jungen ins Zentrum, der in sehr schwierigen häuslichen Verhältnissen aufwächst. Der Vater ist Alkoholiker und gewalttätig gegenüber Frau und Sohn. In interner Fokalisierung auf den Protagonisten Theo rekonstruiert der Kinderroman vielfach in erlebter Rede, was ihn zum Ausreißen motiviert: Theo will den häuslichen Verhältnissen entkommen, wobei er, so stellt es Bernhardt heraus, „grundsätzlich sieht, dass sein Vater zwar ein beängstigendes Verhalten an den Tag legt, ihn aber dessen ungeachtet liebt.“ (Bernhardt 2021: 15). Gleich nachdem er von zu Hause ausgerissen ist, entdeckt Theo einen Jahrmarkt, der ihn mit seiner Musikkulisse anzieht: Als müßte es so sein, als würde sie ihn locken wollen, ist auf einmal Musik zu hören. Wahrscheinlich probieren sie die Lautsprecher vom Karussell und vom Autoscooter aus. Er geht einfach der Musik nach. (Härtling 1977: 23) Der Jahrmarkt mit dem Karussellbetreiber Papa Schnuff bietet dem Jungen Zuflucht vor dem Trennungskonflikt seiner Eltern. Er nutzt ihn als Ausstiegs‐ möglichkeit und Initialzündung zum Ausreißen. Der Raum des Jahrmarkts ist hier als Gegen-Raum zu der häuslichen Konfliktsituation etabliert, in dem Theo Schutz sucht: Der Duft gebrannter Mandeln mischt sich mit dem von Bratwürsten. Theo fühlt sich wohl. Wenn er die Marken zurückgebracht hat, lehnt er sich gegen die Kassenbude, verfolgt die Fahrt. (ebd.: 31) Aber es zeigt sich, dass es sich um ein flüchtiges Wohlgefühl handelt, das weniger an den Jahrmarkt als Raum gebunden ist als an die mit ihm besetzte 281 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien Figur Papa Schnuff. Als Theo am Ende des Romans erneut ausreißt, weil sein Vater nach einem Entzug einen alkoholischen Rückfall erleidet, trifft der Protagonist auf dem Jahrmarkt nicht den wohlwollenden und stützenden Papa Schnuff, sondern nur den Rummelmitarbeiter Jacky, der ihn zu kriminellen Machenschaften anstiftet. So löst sich der Wunsch-Ort auf und kann dem jungen Ausreißer keinen Halt bieten. Vielmehr glückt die Initiation des Protagonisten erst durch die helfende Mentorfigur Papa Schnuff, die es Theo ermöglicht, am Ende mit seinen Eltern wieder ins Gespräch zu kommen. Der Protagonist gibt das Streben nach der Verschmelzung mit dem heterotopischen Wunsch-Ort Jahrmarkt auf, Theo möchte nun nicht mehr ausreißen, sondern sucht zu Hause im Dialog mit seinen Eltern nach Lösungen, die ihm das flüchtigwindige Jahrmarktsleben nicht hätte bieten können. So lässt der kindliche Protagonist den Budenzauber, wie Stanley Potts, hinter sich und kann damit in einen Prozess der stabilen Ich-Entwicklung eintreten, die nicht mehr an die Flüchtigkeit des Jahrmarkts gebunden ist. Der Rausch des Rummels verpufft regelrecht und die Orientierungslosigkeit, die mit dem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand auf dem Festplatz korrespondiert (vgl. Szabo 2006: 50), weicht dem Erstarken der Identitätsentwicklung. Der Jahrmarkt avanciert so auch zu einem Symbol für Selbstfindung, indem er sowohl Stanley als auch Theo zunächst irritiert, kurzzeitig absorbiert und schließlich gereift und gestärkt in die Individuation entlässt. Konsequenterweise, so kann man fast sagen, ist der Jahrmarkt auf den Covern der Bücher dieser Kategorie nicht abgebildet und steht damit auch paratextuell weniger im Zentrum als in den Texten der ersten Kategorie. Er fungierte als Motiv, das Entwicklung und Reifung ermöglichte und damit hinter sich gelassen werden kann. Didaktische Perspektivierung Die vorangegangenen motivanalytischen Überlegungen seien nun abschließend in didaktischer Perspektive angebunden an ein Modell zur transmedialen Lektüre (vgl. Kumschlies & Kurwinkel 2019). Transmediale Lektüre Die transmediale Lektüre will die intermediale Lektüre nach Iris Kruse ergänzen und erweitern und zielt, in den Kontext der Motivanalyse gestellt, vorrangig auf die mediale Dimension des Motivs. Kruse legt mit der intermedialen Lektüre ein Konzept zur Medienverbunddidaktik in der Primar- und frühen Sekundarstufe I vor, das sie als „ein Unterrichtsmodell und zugleich ein fach‐ 282 Kirsten Kumschlies didaktisches Forschungskonzept, mit dem vor- und außerschulisch medial er‐ worbene literarästhetische Erfahrungen im schulischen Unterricht aufgegriffen und erweitert werden können“ (Kruse 2014: 180) versteht. Das didaktische Potential sieht Kruse in dem „komplexen intermedialen Verweisnetz“ (ebd.) der Medienverbünde, das aus Knotenpunkten bestehe, die bei der intermedialen Lektüre im Fokus stehen: So genannte Wechsel fassen „dichotome Änderungen zwischen Wahrnehmungsmodi, die medienspezifisch bedingt sind“ (ebd.: 181), Übergänge benennen hingegen „die unterschiedlichen Komplexitätsgrade und Anspruchsniveaus“ (ebd.). In diesem Sinne seien Lernchancen innerhalb von unterrichtlichen Medienverbundarrangements als Chancen auf derartige Über‐ gänge zu betrachten - als Übergänge zu stärker herausfordernder inhaltlicher und formbezogener Alterität ebenso wie zu literarästhetischer Komplexität. Eine transmediale Perspektive zielt, an Kruse anschließend, aber auch über ihr Konzept hinausgehend, auf eine Didaktisierung aller Medienverbundtypen, auch jenen, denen transmediales Erzählen eingeschrieben ist. Das Ziel ist eine weit gefasste Erzählanalysekompetenz (vgl. dazu auch Leubner & Saupe 2012). Sie umfasst ein basales Verständnis des Erzählens als solchem, dem einerseits abstrakt eine medienunspezifische, andererseits konkret eine medienspezifische Dimension inhärent ist: Als Kulturtechnik ist Erzählen nicht an ein Medium ge‐ bunden, wird aber im jeweiligen Einzelmedium stets medienspezifisch. Die Un‐ terscheidung dieser Dimensionen führt zu einem grundsätzlichen Verständnis der beiden Ebenen narrativer Texte, der histoire und des discours. Die erste Ebene bezieht sich als Ereignisfolge auf den Inhalt, die zweite als Zeichenfolge auf die Darstellung, die den Inhalt an die mediale Oberfläche transportiert. Abschließend seien konkrete unterrichtspraktische Überlegungen zur Arbeit mit dem Jahrmarkt-Motiv in den höheren Jahrgängen der Grundschule (Klasse 3 / 4) skizziert. Unterrichtspraktische Umsetzung Einstieg: Transmediale Perspektivierung des Jahrmarkt-Motivs; Förderung der subjektiven Beteiligung In einem Einstiegsgespräch geht es um die Perspektivierung des Jahrmarkt-Mo‐ tivs als transmediales Phänomen: Die Kinder erzählen von eigenen Besuchen auf dem Jahrmarkt und werden dann gefragt, ob sie evtl. auch Medien kennen, in denen der Jahrmarkt als Motiv vorkommt Anschließend malen die Schülerinnen und Schüler ein Bild vom Jahrmarkt, um die Vorstellungsbildung und die subjektive Beteiligung am Unterrichtsge‐ genstand, also dem Jahrmarkts-Motiv, zu stärken. Intention ist die Anregung der subjektiven Involviertheit, wie sie in Kaspar Spinners prominenten Aspekten 283 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien literarischen Lernens zentral gesetzt ist. Er beschreibt diese als „affektives Angesprochensein und kognitives Erfassen“ (Spinner 2015: 190) gleichermaßen, wobei eingeräumt sei, dass hier eine gewisse Verkürzung des Aspekts lite‐ rarischen Lernens vorliegt, wie Spinner ihn gebraucht, insofern, als es bei ihm um ein Wechselspiel zwischen subjektiver Beteiligung und genauer Text‐ wahrnehmung geht (vgl. dazu ausführlich Winkler 2015). Es handelt sich bei diesem Arbeitsauftrag im Sinne Iris Winklers um eine Aufgabe, die „Lernende nach eigenen Erfahrungen zum Thema des Textes fragt“ (ebd.: 162) bzw. ihr „Vorwissen in Bezug auf den Text zu aktivieren“ (ebd.). Um die Textbzw. Me‐ dienwahrnehmung in den jeweiligen Ausdifferenzierungen der Einzelmedien geht es hernach in der Phase der Erarbeitung, wenn die Schülerinnen und Schüler die Jahrmarkts-Medien analytisch in den Blick nehmen. Erarbeitung: Analytische Untersuchung des Motivs; Reflexion der ästhetischen Strukturen des Mediums, Förderung des Medienwissens als Facette der Medienkompetenz Im Anschluss übernehmen einzelne Gruppen Patenschaften für je ein Medium, beispielsweise die Serienfolge Peppa Wutz auf der Kirmes, das Hörspiel Benjamin Blümchen auf dem Rummel, die Jahrmarkts-Episode aus dem Buch Pippi geht von Bord und ebendiese aus dem Pippi Langstrumpf-Comic. Die Kinder untersuchen die Struktur des Mediums anhand eines Medienforscherplans: Sie nehmen das Motiv mithilfe eines vorstrukturierten Arbeitsblatts, das sowohl auf die Inhalte des Jahrmarkt-Motivs (histoire) als auch auf dessen Darstellung bzw. medialer Inszenierung abzielt (discours) abzielt, in den Blick: • histoire: Was machen die Figuren auf dem Jahrmarkt? Was erleben sie hier? Welche Fahrgeschäfte und Buden kommen vor? Muss das alles auf dem Jahrmarkt spielen oder ginge auch ein anderer Ort? • discours: Wie wird der Jahrmarkt dargestellt? Was sieht, liest oder hört man von ihm? Wie wirkt die Jahrmarkts-Darstellung auf dich? Wodurch entsteht ein Jahrmarkts-Gefühl? Anhand dieser Fragen erstellen die Kinder Motivplakate, die sie sich in Partner‐ gruppen nachfolgend wechselseitig vorstellen. An die Vorstellungsrunde schließt sich ein szenisches Spiel an: Eine Figur aus einem der Einzelmedien wandert in das Einzelmedium der Partnergruppe und sieht sich dort um: Peppa besucht das Hörspiel, Benjamin Blümchen wandert in den Romantext. Die zuvor erstellten Motivplakate stellen einen Orientierungs‐ rahmen dar, der zeigt, wie das Jahrmarkts-Motiv in den jeweiligen Einzelmedien präsentiert wird. Auf diese Weise wird einerseits der transmediale Erzählprozess 284 Kirsten Kumschlies deutlich, andererseits wird die medienbezogene Reflexionsfähigkeit angeregt. Leitfragen für die Vorbereitung auf das Spiel, die sich an die Figur richten, könnten sein: Was siehst du hier? Was ist in dieser Welt anders als in deiner Welt? Musst du dich anders verhalten? Wenn ja: Wie? Wie gefällt es dir in dieser Welt? Welchen Jahrmarkt findest du schöner? Am Ende verabschiedet sich die Figur und geht zurück nach Hause in ihr Herkunftsmedium. Intendiert ist hiermit die Reflexion der ästhetischen Strukturen der Einzelme‐ dien und damit die Förderung des Medienwissens. Dieses meint in Anlehnung an die im Rahmen der von Norber Groeben und Bettina Hurrelmann modellierten Dimensionen der Medienkompetenz den Erwerb deklarativer Kenntnisse über Gattungen, Genres, medialer Formate mitsamt ihrer ästhetischen Strukturen und ihrer Gestaltungsmittel (vgl. Vach 2010: 8). Abschluss: Auswertung der Medienanalysen, Anschlusskommunikation Ein Abschlussgespräch im Klassenverband konzentriert sich auf die Frage, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Motivdarstellungen liegen. Gerahmt wird das Gespräch durch die Reflexion des szenischen Spiels und der Motivplakate, wobei die Lehrkraft mit Blick auf die Plakate nochmal explizit auf die Unterschiede zwischen histoire und discours hinweist. Gemeinsam mit den Kindern überlegt sie, was sich auf das Was des Erzählens bezieht und was auf das Wie. Hierbei handelt es sich um „Kommunikationen, die über die mediale Rezeption und Produktion hinausgehen und Medieninhalte und Medienerleb‐ nisse zum Gegenstand haben“ (ebd.), die einen Aspekt der Medienkompetenz ausmachen, welche es im Unterricht zu fördern gilt. Eine Erweiterung auf andere - hier vorgestellte - Medien mit Jahrmarkts‐ motiv wäre wünschenswert und im Sinne der unterschiedlichen Inszenierungs‐ formen des lokalen Motivs, wie sie hier gezeigt wurden, produktiv für die Förderung einer Medienanalysekompetenz, auch in höheren Klassenstufen. Literatur- und Medienverzeichnis Filmografie Peppa Wutz auf der Kirmes (UK 2009) Regie: Mark Baker. (DVD) Primärliteratur Almond, David (2014). Der Junge, der mit den Piranhas schwamm. A. d. Engl. von Alexandra Ernst. Ravensburg: Ravensburger. 285 Zum Motiv des Jahrmarkts in Kinder- und Jugendmedien Härtling, Peter (1977). Theo haut ab. Weinheim: Beltz & Gelberg. Hohlbein, Wolfgang und Heike (1991). Spiegelzeit. Wien: Heyne. Lindgren, Astrid (1971). Rasmus, Pontus und der Schwertschlucker. München: Dtv. Schier, Tobias / Schuffenhauer, Tobias (2017). 5 Geschwister - Gefahr auf dem Jahrmarkt. Gerth: asslar. Wolf, Stefan (2009). TKKG - Anschlag auf die Achterbahn. München: CbJ. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2014). „Elementar-Poetisches“ in Raumkonzepten der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Roeder, Caroline (Hrsg.) Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonst‐ ruktionen. Bielefeld, 313-328. Bernhardt, Sebastian (2021). Einleitung: Ausreißen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL). In: Ders. (Hrsg.) Ausreißen in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler, 5-28. Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid G. (1995). Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2., stark überarb. u. erw. Aufl. Tübingen [u. a.]. Foucault, Michel (2005). Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiobeiträge. Frankfurt / M. Frenzel, Elisabeth (2008). Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6. überarb u. erg. Aufl. Stuttgart. Fuchs, Margarete (2019). Hereinspaziert! Die faszinierende Welt des Zirkus. JuLit 45: 2, 33-41. Kruse, Iris (2014). Intermediale Lektüre(n). Ein Konzept für Zu- und Übergänge in inter‐ medialen Lehr- und Lernarrangements. In: Weinkauff, Gina / Ute Dettmar / Thomas Möbius / Ingrid Tomkowiak (Hrsg.) Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption - Hybridisierung - Intermedialität - Konvergenz. Frankfurt / M., 179-198. Kumschlies, Kirsten / Kurwinkel, Tobias (2019). Transmediale Lektüre. 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Spiel als Wahrnehmungsmodus und Motiv, oder: Transmediale Perspektiven auf das Spiel-Motiv in Erzähltexten für Kinder und Jugendliche. In: Kurwinkel, Tobias / Jakobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 89-106. Spinner, Kaspar H. (2015). Elf Aspekte auf dem Prüfstand. Verbirgt sich hinter den 11 Aspekten eine Systematik? In: Lösener, Hans (Hrsg.) Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung. Ausgabe 2, 188-194. Abrufbar unter: http: / / leser äume.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 10/ lr-2015-1-spinner.pdf (Stand: 05 / 05 / 2021). Stemmann, Anna (2019). Räume der Adoleszenz. Deutschsprachige Jugendliteratur der Gegenwart in topographischer Perspektive. Stuttgart. Stichnothe, Hadassah (2017). Der Initiationsroman in der deutsch- und englischspra‐ chigen Kinderliteratur. Heidelberg. Szabo, Sacha-Roger (2006). Rausch und Rummel. 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Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht Die Motivik jugendliterarischer Fantastik aus literaturdidaktischer Sicht Ulf Abraham Abstract: Literarische Motive werden im aktuellen literaturdidaktischen Diskurs selten ausdrücklich thematisiert. Das zu tun, ist eine Antwort auf die Kritik an einer Art Wissensblindheit der Kompetenzorientierung: Literarische Motive zu erkennen, zu benennen und in ihren Funktionen für ein Textganzes zu erklären, setzt Werkkenntnis und Vertrautheit mit einschlägigen literarischen Stoffen in verschiedenen Medien voraus. Am Beispiel der jugendliterarischen Fantastik wird gezeigt, wie Stofflichkeit in ihrer narrativen Struktur in wiederkehrenden Motiven organisiert ist. Nichtrealistische Jugendliteratur ist Genreliteratur, und Genres leben von Motiven; sollen diese im Unterricht als hotspots des poetischen Verstehens zu erkennen und zu nutzen sein, muss das Konzept komparatistisch und intermedial sein. Vorbemerkung Der Duden führt für das Wort hotspot fünf Bedeutungen an: einen Ort mit öffentlichem drahtlosen Internetzugang; einen grafisch oder farblich hervorge‐ hobenen Punkt oder Text auf einer Bildschirmseite, der einen Link markiert ( EDV ); den Bereich eines Gens, an dem besonders häufig Mutationen auftreten (Biologie); die Schmelzregion im Erdmantel unterhalb der Lithosphäre (Geo‐ logie); allgemein etwas mit hohem Konfliktpotenzial oder von großer Brisanz. 1 Es wird sich in Bezug auf drei dieser fünf Bedeutungen herausstellen, dass sie - metaphorisch verstanden - erhellend sein können für Funktionen literarischer Motive. Fachwissenschaftliche Basis und literaturdidaktischer Diskurs „Literarische M. sind bedeutungstragende stoffliche Muster, die die Handlung eines literarischen Werkes maßgeblich beeinflussen. Sie bleiben im zentralen Handlungsverlauf unveränderlich“ (May 2012: 95). Diese Definition aus dem Reclam-Bändchen Literarische Grundbegriffe von 2012 zeigt, wie unsicher das fachwissenschaftliche Fundament ist, auf das Deutschlehrende bauen können: Ersetzt man „Motive“ durch „Themen“, so ist die sich ergebende Definition genauso (wenig) sinnvoll - stoffliche Muster kann man allemal darin erkennen. Mit diesem Lemma bildet Yomb May eine teilweise immer noch diffuse Konturierung des Forschungsgebietes ab. Diesem liegt, nach einer Analyse Hans-Jakob Werlens, ein Dilemma zu Grunde. Die Stoff- und Motivforschung beschreibe nämlich Konstanten und gleichzeitig deren „veränderliche Bedeu‐ tung“ (Werlen 2009: 662). Als literaturwissenschaftlicher Grundkonsens dürfte gelten, was Christine Lubkoll in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band zur Abgrenzung der Begriffe Stoff, Motiv und Thema formuliert: Motive sind „anthropologische Grundsitu‐ ationen“, die zwar historisch variiert werden, aber „in ihrem Kern konstant bleiben“ (Lubkoll 2013: 542). Im literatur-didaktischen Diskurs der vergangenen dreißig Jahre werden lite‐ rarische Motive, Stoffe und Themen selten ausdrücklich thematisiert und dabei doch als Analysebegriffe vorausgesetzt. Es ist, als hätte die Literaturdidaktik im Zeitalter der Kompetenzorientierung ihr fachwissenschaftliches Gedächtnis teilweise verloren, nutze aber weiterhin traditionelle Begriffe des Sprechens über Literatur. Wie ein Bogen zu spannen wäre von der Ebene der Sachanalyse eines literarischen Werkes, die gerade in vergleichender Absicht ohne solche Begriffe nicht auskommt, zu einer didaktischen Analyse, die Kompetenzerwar‐ tungen klären und methodische Zugriffe begründen könnte, erfährt man in der neueren fachdidaktischen Literatur selten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Kinder- und Jugendfilmanalyse von Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim, die das Motiv mit Lubkoll als „kleine bedeutungsvolle Einheit eines Textes“ (Lubkoll 2013: 302) thematologisch fassen und vermittlungsorientiert einsetzen. Die Gründe dafür, dass Motive im fachdidaktischen Diskurs der Gegenwart ansonsten wenig beachtet werden, dürften vielfältig sein. Immer wieder ge‐ äußerte Kritik an einer Art Wissensblindheit des Kompetenzdenkens in den 292 Ulf Abraham Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften weist aber in eine Richtung, die in diesem Beitrag verfolgt werden soll: Motive in literarischen Erzählungen über‐ haupt zu erkennen, zu benennen und in ihren Funktionen für ein Textganzes zu erklären, setzt nicht nur Werkkenntnis voraus, sondern darüber hinaus ein Mindestmaß an Vertrautheit mit einschlägigen literarischen Stoffen in verschie‐ denen Literaturen und Medien. Dass der Unterschied zwischen Motiven und literarischen Themen oder Stoffen Lernenden (auch noch an der Hochschule) oft schwer vermittelbar scheint, hat vermutlich einen trivialen Grund in man‐ gelnder Belesenheit. Nicht ganz unschuldig daran ist aber wohl auch der derzeit dominante Kompetenzdiskurs: Die Rede von der literarischen Kompetenz ist gleichsam auf so etwas einerseits Stofflich-Konkretes, andererseits nur auf der Basis eines Überblicks über Genese und Entwicklung von Gattungen und Genres zu Erkennendes, d. h. Wissensbasiertes, nicht eingerichtet. Motive, intratextuell: ein Jugendroman von Ursula K. LeGuin Kritik an einer „positivistischen Erstellung von Listen von bestimmten Stoffen und Themen in der Kinderliteratur“ hat Emer O´Sullivan (2000: 70) schon vor zwanzig Jahren geübt und eine „poetologisch-komparatistische kinderliterari‐ sche Stoff- und Motivforschung“ gefordert, die Strukturelemente auf ästhetische Funktionen, Darstellungsweisen und intertextuelle Bezüge untersuchen müsse (vgl. ebd.). Diesem Anspruch genügt die Fantastikforschung augenblicklich nur bedingt: Soweit es im Bereich der literarischen Fantastik überhaupt Motivstu‐ dien gibt, sind das Arbeiten zu einzelnen, beispielsweise figuralen Motiven wie Drachen, Hexen, Elfen und anderen fantastischen Wesen (vgl. Bode 2016). Inter‐ textuell wird dabei zwar gefragt, wo das betreffende Motiv in der Literatur- und Kulturgeschichte auftaucht, aber kaum nach seiner konstitutiven Bedeutung für ein fantastisches Genre, seiner Verwobenheit mit anderen Motiven, oder gar intratextuell nach dem Bedeutungsnetz, das ein vorliegenden Text aus einer Reihe von aufeinander bezogenen Motiven webt. An einem älteren Beispiel aus der jugendliterarischen Fantastik möchte ich zeigen, wie dessen Stofflichkeit durch Motive narrativ organisiert ist. Ich wähle dafür bewusst einen weniger bekannten Text, um später die hier gefundenen Motive in anderen, bekannteren Werken wiederzufinden. Es wird sich dann auch zeigen, was es heißt, einen Stoff aus einer Kombination von Motiven zusammenzusetzen, und inwiefern sich daraus ein Genre(-mix) ergibt. Mein Beispiel ist ein Roman von Ursula K. LeGuin, die die Jugendliteratur um eine Behandlung sozialisationsrelevanter Themen im Modus der Fantastik bereichert hat (vgl. Abraham 2016). Meine Wahl fällt auf diese Autorin, weil 293 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht ich an ihrem Beispiel die große Bedeutung fantastiktypischer Motive gerade im Werk einer als ausgesprochen innovativ, ja geradezu genregenerativ geltenden Autorin zeigen kann. Ihren Roman The Beginning Place wähle ich, weil er leichter als vieles andere aus ihrer Feder als Jugendliteratur einzuordnen ist, genauer gesagt als fantastischer Adoleszenzroman. Die deutsche Übersetzung trägt den Verlegenheitstitel Das Wunschtal (2002); the beginning place ist ja kaum titelwürdig einzudeutschen. Aber als Ort, wo es anfängt / wo man beginnen muss / an dem sich der Anfang ereignet ist es die exakte Bezeichnung des ersten der Motive, um die es mir jetzt geht. Nennen wir ihn den (1) Ort des Übertritts: Er verbindet oder trennt zwei Welten - die primäre Alltagswelt und eine sekundäre Welt, in der andere Regeln gelten: Die Zeit vergeht langsamer, die Menschen sind anders, und es gibt unerklärliche Phänomene und ein monströses Wesen, vor dem sich alle so sehr fürchten, dass niemand wagt der Frage auf den Grund zu gehen, warum eine einst prosperierende kleine Stadt Not leidet und alle Straßen anscheinend unpassierbar sind, so dass der Handel zum Erliegen gekommen ist. Das Städtchen inmitten karger Berge ist die erste Siedlung, die man erreicht, wenn man den Ort des Übertritts passiert und durch das eigenartig lichtarme, von immerwährender Dämmerung geprägte Land Ain wandert. Irene, die als einziger Mensch aus der Realwelt dieses Land zu kennen glaubte und den Ort des Übertritt in einem armseligen Wäldchen hinter einem Industriegebiet (Pincus’ Wald) stets wiedergefunden hatte, muss eines Tages feststellen, dass er sich geschlossen hat: Sie kann nun nicht mehr für einige Stunden, in denen Tage verborgen liegen (eine Realnacht entspricht zwölf Ain-Tagen), die Stadt Tembreabrezi aufsuchen, dort wie eine heimkehrende Tochter im Wirtshaus von Sofir und Palizot aufgenommen zu werden und so „zwischen zwei vollkommen verschiedenen Leben“ wechseln (ebd.: 70). Diese Fluchtmöglichkeit ist wichtig für sie, weil sie in der neuen Familie ihrer verwitweten Mutter kein Zuhause mehr findet. Als ihr der Übertritt nach Ain doch wieder gelingt, muss sie feststellen, dass hinter dem beginning place ein Mann in einem Schlafsack campiert. Das ist der gleichaltrige Hugh, der es bei seiner neurotischen und bösartigen Mutter nicht mehr aushält und beim Joggen (er ist adipös) den Ort des Übertritts entdeckt. Das erfahren wir, weil die Erzählperspektive von Kapitel zu Kapitel zwischen Irene und Hugh wechselt. Wir verstehen, dass die zwei einiges gemeinsam haben; beide laufen vor ihrem Alltag davon (vgl. ebd.: 105 f.): Als Hugh dreizehn war, hat sein Vater die Familie verlassen wie etwas Wertloses (vgl. ebd.: 74). Aber Irene will das nicht wissen, sie will den jungen Mann nicht kennen lernen, er soll verschwinden. Nachdem sie in Pincus’ Wald ein „Betreten-verboten“-Schild angebracht hat und dann den Mann trotzdem wieder am Bach antrifft, kommt es zu einem Streit: Dies sei hier kein Nationalpark und 294 Ulf Abraham kein Pfadfinderlager, er kenne die Gesetze dieses Landes nicht und nicht seine Sprache, und es sei gefährlich hier einzudringen (vgl. ebd.: 65). Das ist es tatsächlich. Ich halte aber zunächst fest, dass der Ort des Übertritts die einzige Möglichkeit ist, die Welt zu wechseln, und seine Kenntnis deshalb in der Textwelt als privilegiertes Wissen fungiert. Erst der Übertritt, bei dem eine Figur eine Schwelle über- und / oder ein Tor durchschreitet, führt die „jeweilige Gegenwelt“ ein (vgl. Dangel 2013: 443): „Der Protagonist löst sich von seiner Welt, überschreitet - freiwillig oder nicht - die Schwelle und sieht sich mit den Gesetzmäßigkeiten einer ihm fremden Welt konfrontiert“ (ebd.: 445). Es gibt Menschen, die den Ort des Übertritts finden können, andere können oder (was dasselbe ist) wollen das nicht. Die Auserwählten gelangen in die Sekundärwelt nicht von ungefähr, sondern weil sie dort eine Aufgabe haben; damit sie sich ihr widmen können, ist die Zeit bedeutend verlangsamt (auch Hugh findet das bald heraus): Ich vermerke es hier als das (2) Motiv der manipulierten Zeit. Es ermöglicht erst die abenteuerliche Handlung, die wir jetzt in der Sekundärwelt erwarten dürfen, und die sich aus Versuchen ergibt, diese extrem schwierige Aufgabe gegen den Widerstand einer unbekannten Macht zu lösen. Damit aber sind zwei weitere genretypische Motive eingeführt, nämlich das des (3) bereits erwarteten Retters und eines, das ich (4) das in die Welt geschlüpfte Böse nennen will. Denn als Irene der Übertritt wieder gelungen und sie nach Tembreabrezi gewandert ist, findet sie die Stimmung dort deutlich aufgehellt und erfährt, „er“ sei gekommen (vgl. LeGuin 2002: 96). Natürlich ist es Hugh, in dem man diesen Retter sieht. Nach und nach wird dann klar, wovor das Land Ain gerettet werden soll: Es gebe ein monströses Wesen auf dem Berg, dessen Gegenwart alles Leben lähmt. Hugh allerdings ist davon noch mehr überrascht als die etwas eifersüchtige Irene, die nur widerwillig dolmetscht - denn Hugh versteht in der Tat die Sprache der Menschen nicht und hat bereits vergeblich versucht ihnen klarzumachen, dass sie ihn wohl mit jemandem verwechseln. Wie ein Held sieht der immer noch übergewichtige Hugh ja wirklich nicht aus, aber die Leute von Tembreabrezi wollen das nicht wahrnehmen. Zu sehr sind sie davon überzeugt, dass eine alte Weissagung sich nun endlich erfülle: Von Süden her werde „er“ kommen. Und von Süden ist ja auch Irene gekommen, von dort komme „kein Übel“ (ebd.: 103). Hugh muss zwar zurück (sonst verpasst er den Beginn seiner Schicht im Supermarkt), verspricht aber wiederzukommen, damit sie ihn überhaupt gehen lassen. Die ratlose Irene bleibt etwas länger, macht sich dann aber auch auf den Weg zum beginning place - um festzustellen, dass Hugh ihr wieder entgegenkommt: Das „Tor“ ist geschlossen (vgl. ebd.: 112 f.), und nur mit Irenes Hilfe kann er Ain schließlich verlassen. Es ist, als entwickle die Sekundärwelt jetzt ihren eigenen Willen: Die Heldin und der Held, durch 295 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht Abneigung und Eifersucht entzweit, sollen kooperieren. Denn - und nun wird das vierte Motive deutlicher - nur so können sie die Aufgabe lösen, das in die Welt gekommene Böse in seine Schranken zu weisen. Irene ist gut orientiert, kann sich verständigen, ist aber zu ängstlich für diese Aufgabe, und bei Hugh ist es genau umgekehrt: Er empfindet zwar kaum Angst, ist aber ohne das Mädchen hilflos. In dem mühsamen ersten Gespräch mit den Leuten von Tembreabrezi haben sie noch nicht verstanden, wie angewiesen sie aufeinander sind; erst am beginning place, am „Tor“ also, wird es ihnen klar: Er kann, wie sie jetzt feststellen, immer hinein, sie kann immer hinaus (vgl. ebd.: 114); alles andere ist ungewiss. Als die beiden zum ersten Mal gemeinsam in Tembreabrezi ankommen, stellt sich heraus, dass Hugh auf die „Hohe Stufe“ steigen soll, eine hochgelegene Almwiese, auf der das Böse haust. Mit diesem sei ein „Handel“ zu erneuern, den einst der Urgroßvater des Meisters Sark dort oben abgeschlossen haben soll, was ihm zwar eine verkümmerte Hand eintrug (vgl. ebd.: 138), aber die auch damals unpassierbaren Straßen wieder freimachte. Nun müsse erneut jemand ein Opfer bringen, und das soll Hugh sein, dem der alte Lord Horn eine Belohnung in Form seiner schönen blondlockigen Tochter andeutet. Als der frisch ernannte Held, der - neu eingekleidet und ausgestattet mit einem fein gearbeiteten Schwert - mehr und mehr das Format eines Drachentöters annimmt, fragt, worin die Gefahr bestehe, erwidert Lord Horn etwas, was wörtlich „Wir sind die Angst“ bedeutet und von Irene mit „Wir haben Angst“ übersetzt wird (vgl. ebd.: 143) - unzureichend, wie sich später herausstellt. So oder so ist es keine Antwort auf Hughs Frage. „Wenn ich mich mit diesem Ding auf den Weg mache und Schwierigkeiten suche, werde ich sie sicherlich finden“, erklärt er trocken und steigt damit in Irenes (und der Lesenden) Achtung. Das Drachentötermotiv, bekannt aus der mittelalterlichen und Volks-Literatur (vgl. Krause 2012: 143 ff.) ebenso wie das darin gleichsam eingelagerte Nebenmotiv des zur Aufgabe genau passenden Schwerts (vgl. ebd.: 167 ff.; zu diesem Motiv siehe auch Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 20) ist auf der Ebene der Diegese der Wendepunkt in einer Narration, die jetzt zur abenteuerlichen Handlung mit möglichem happy end wird. Psychologisch betrachtet ist es aber das, was dem an mangelnder Selbstachtung leidenden, jedem Konflikt ausweichenden Scheidungskind Hugh erstmals im Leben eine Aufgabe gibt, an der er sich bewähren kann. (Hugh ist, um ein Wortspiel aus Lubkolls Beitrag aufzunehmen, motiviert s. Lubkoll in diesem Band, S. 37). Irene fürchtet allerdings nicht zu Unrecht, seine Furchtlosigkeit sei eigentlich nur Ahnungslosigkeit, und begleitet ihn, damit er überhaupt den Weg auf den Berg findet. Was folgt, ist ein sehr eigenartiger Kampf gegen das Böse; zwar 296 Ulf Abraham nehmen die beiden Figuren auf dieses als „Drache“ Bezug, aber das wird immer mehr zu einer Metapher, die ihren Gegenstand verfehlt. Sowohl das Motiv des (5) gefährlichen Drachen als diejenigen des (6) Drachenkampfes als Heldentat und des (7) siegreichen Drachentöters erfahren nach der Ankunft der Protagonisten auf der „Hohen Stufe“ eine psychologische Umdeutung. „Es“ ist nämlich kein adap‐ tionstauglich schöner Drachen mit schillernden Schuppen und schwingendem Schweif; „es“ ist doppelt so groß wie ein Mensch, aber unförmig und hässlich; „es“ stinkt süßlich dumpf (vgl. LeGuin 2002.: 172) und stößt klagende Laute aus (vgl. ebd.: 165): „Es“ leidet. Außerdem scheint „es“ blind zu sein, so wie „es“ durch die Gegend stolpert (vgl. ebd.: 169). Kein wohlgestalteter Drache, sondern ein Monster - nicht Mensch und nicht Tier - wartet auf Irene und Hugh. Rasmus Overthun nennt das Monster „ein meta-anthropologisches Reflexionsmedium im Zeichen des Andern“ (Overthun 2013: 421), und genau das ist „es“. Dass die Einwohner von Tembreabrezi „es“ immer nur so genannt haben, enthüllt jetzt seinen Sinn: Die Angst ist nicht nur blind, sondern namenlos, und auch Abscheu, Scham und Selbstekel haben keine Namen. Denn das ist „es“, was Irene und Hugh auf der „Hohen Stufe“ erwartet hat: eine Art High Noon im Rahmen der Begegnung mit sich selbst. Das ganze Land Ain ist ja eine solche Begegnung gewesen („Wir sind die Angst“, sagte Lord Horn wörtlich). Und nun stellt sich heraus, dass zwei spätadoleszente junge Menschen, die nicht wissen, wohin mit sich, die Angst, die Scham und den Selbstekel endlich überwinden müssen, statt sich immer wieder in die mittelalterlich wirkende Einfachheit und butzenscheibenartige Gemütlichkeit des Wirtshauses von Tembreabrezi zu flüchten. Und sie müssen es zusammen tun, obwohl sie einander anfangs nicht leiden konnten; sie sahen ja in einander nicht nur einen Eindringling in my ain land, sondern das, was sie an sich selber schon unerträglich finden: ein Sichwegducken und eine gewisse Ehrgeizlosigkeit dem Leben gegenüber. Mit vereinten Kräften, neben dem namenlosen Geschöpf auch noch ihren eigenen Würgereiz bekämpfend, locken sie „es“ aus seiner Höhle heraus und töten „es“. Hugh wird verletzt, als die leblose Masse auf ihn fällt (vgl. LeGuin 2002.: 176). Auf der Ebene der Diegese schien „es“ zunächst das freigekommene, erneut in die Welt geschlüpfte Böse zu sein und damit ein klassisches Fantastik-Motiv; aber das Böse ist nicht wie im mittelalterlichen Epos das Fremde, von irgend‐ woher Eingedrungene, es ist das wohlbekannte Eigene, im Sinn Sigmund Freuds Unheimliche: Auf der Ebene der symbolischen Bedeutung war „es“ alles, was die Protagonisten an sich selbst überwinden mussten, um anders in die Realwelt zurückzukehren, als sie sie verlassen haben. Genau das tun sie am Ende des Romans. „Man denkt nie daran, dass man am Drachen vorbeimuss, überlegte Irene. Man denkt nur daran, dass man zu ihm gelangen muss. Aber was geschieht 297 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht 2 Im vorliegenden Fall kommen zu den genannten genuin fantastischen Motive noch einige genreunspezifische hinzu, etwa das des erwachsenen Sohnes, der von der Mutter kontrolliert wird, der zudringlich werdende Stiefvater oder das des Kindes, das in der neuen Familie eines Elternteils als fünftes Rad am Wagen geduldet wird. nachher? “ (Ebd.: 181) Was nachher geschieht, ist wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Motive, intertextuell: ihr Wandern durch die Genres (jugend-)literarischer Fantastik „In den endlosen Kombinationsmöglichkeiten von Motiven lebt der Stoff fort“, so Werlen (Werlen 2009: 664) in einem Überblick über die Geschichte der Stoff- und Motivanalyse. Unterstellen gängige Definitionen, Motive seien „im zent‐ ralen Handlungsverlauf unveränderlich“ (May 2012: 95) so lässt Das Wunschtal, mit weiteren fantastischen Werken abgeglichen, eine differenziertere Sicht auf das Problem zu: Motive sind weder intratextuell unveränderlich (aus dem Drachentöter wird etwas anderes), noch könnte man sagen, sie seien es inter‐ textuell. Ein Stoff besteht nicht nur aus thematisch passend ausgewählten und dann irgendwie zusammengeschraubten Motiven. 2 Vielmehr bedient sich eine Narration der Motive, die sich im Fundus eines Genres oder der Literatur überhaupt befinden, in einer bestimmten Absicht, der sie anverwandelt werden, und zwar nicht nur auf der Ebene der Diegese, sondern auch derjenigen symbolischer Bedeutungen: Hugh und Irene haben einen Drachen getötet, der keiner war, und die Heldentat hat allein darin bestanden, umzukehren und sich dem Leben draußen in der Realwelt zu stellen. Werden Motive eines Genres nicht für einen neuen Text mehr oder weniger verändert, nicht gleichsam mit den Aufgaben der konkreten Narration betraut, so entsteht durch ihr Zusammenfügen etwas, das auf den ersten Blick wie Literatur aussieht, es aber nicht ist. Erst ein intertextuelles Spiel, das vorgefun‐ dene Konnotationen eines Motivs überschreibt mit denjenigen, die die konkrete Narration braucht und hervorbringt, ergibt einen interessanten Text; und erst die Freiheit, ein Motiv bei mehrmaliger Verwendung auch intratextuell unter‐ schiedlich auszulegen, erlaubt jene Dynamik, die Traditionen genretypischer Motive auszeichnen und immer wieder auch neue Genres schaffen. LeGuin ist zwar eine herausragende, Maßstäbe setzende Autorin, aber in dieser Hinsicht kein Sonderfall: Ein abschließender Blick auf andere Texte der literarischen Fantastik, in denen die erwähnten Motive vorkommen, zeigt schnell, dass auch bei weiteren Autorinnen und Autoren, die sie für sich in Gebrauch nehmen, stets die Narration selbst es ist, die Art und Häufigkeit des 298 Ulf Abraham 3 Eine übersichtliche und auf die Geschichte der literarischen Fantastik bezogene Zusam‐ menstellung dieser Motive findet sich im Anhang. Motivgebrauchs regelt, und nicht etwa umgekehrt die Motive zusammen eine Erzählung ergeben: 3 • Den Ort des Übertritts gibt es in den meisten fantastischen ‚Zwei-Welten‘-Texten, und oft wird seine Kenntnis als privilegiertes Wissen gehütet. In Susan Coopers Roman Wintersonnenwende (1977) er‐ scheint Will Stanton an seinem elften Geburtstag ein Tor mit geschnitzten Flügeln, das mitten in der Landschaft steht und nirgendwohin zu führen scheint - bis der Junge hindurchgeht und sich in einer merkwürdig altmodischen Welt wiederfindet (vgl. Cooper 1977: 37 f.). Er wird darüber aufgeklärt, dass er der letzte Nachkomme des Geschlechts der Uralten ist, die bereits darauf gewartet haben, dass er das Alter erreicht, in dem er die magische Gabe entdecken und beherrschen lernen kann, die er braucht, um das Erstarken der die Welt bedrohenden Finsternis aufzuhalten (vgl. ebd.: 48 f.). Will lernt dann auch andere Uralte kennen, die unerkannt in seiner Umgebung leben. Auch in Joanne K. Rowlings Harry Potter-Reihe (1998-2007) gibt es solche unerkannten magisch begabten Menschen und entsprechend privilegiertes Zaubererwissen und -können, und dazu passende Orte des Übertritts; die Muggel haben keine Ahnung, dass sie nicht auf einem gewöhnlichen Bahnsteig stehen. Eine ganz eigene und radikale Lösung für das Problem des Übertritts findet Astrid Lindgren in Bröderna Lejonhjärta (1973): Hier ist es der Sturz aus dem Fenster des brennenden Wohnhauses, der den dreizehnjährigen Jonathan in eine andere Welt bringt, wohin ihm kurze Zeit später auch der todkranke kleine Bruder Krümel folgt. Einmal eingeführt, hilft den Brüdern das privilegierte Wissen um diese Möglichkeit, die Welt zu wechseln, am Ende der Handlung: Sie springen beide mit Absicht in die Tiefe, um von Nangijala nach Nangilima zu wechseln. In der neueren Jugendliteratur wartet Neil Gaimans sehr erfolgreicher, mehrfach adaptierter Roman Coraline (2002) mit einer scheinbar blinden Tür zu einer Sekundärwelt auf, in der das Mädchen „andere Eltern“ vorfindet. • Die manipulierte Zeit umfasst zwar auch das von Roland Innerhofer (2013) behandelte Motiv der fantastischen Zeitreise, erschöpft sich aber darin nicht: Nicht nur, wenn Figuren sich durch die Zeit bewegen, sondern auch wenn sie ihren Lauf verzögern oder gar anhalten, manipulieren sie sie mit fantastischen Folgen. Schuf die Idee der Reise durch die Zeit im 18. Jahrhundert die Zeitutopie und begründete später als Zukunftsreise 299 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht das SciFi-Genre (vgl. H. G. Wells’ The Time Machine [1895]) und als Reise in die Vergangenheit ein kinderliterarisches Genre (vgl. Edith Nesbit The House of Arden [1908]), so ist auch der eigenmächtige Umgang mit der Zeit als Ressource bekannt (vgl. Hermines Zeitumkehrer in Rowlings Harry Potter and the Prisoner of Azkaban [1999]). Und schon früher, bereits in Coopers Wintersonnenwende, spielt die Fähigkeit die Zeit anzuhalten (vgl. z. B. Cooper 1977: 141) und sich beliebig durch sie zu bewegen, eine Schlüsselrolle im Kampf der Uralten gegen die Mächte der Finsternis; das Tor in die Sekundärwelt ist eigentlich ein Zeit-Tor (vgl. ebd.: 59 ff.), das die Uralten nutzen, um sich frei durch die Jahrhunderte zu bewegen - so wie die Gegenseite auch. • Der bereits erwartete Retter ist ein viele fantastischen Narrationen trage‐ ndes Motiv. Schon vor Harry Potter, dem in der Zaubererwelt schon erwarteten Retter vor Voldemorts Machtgier, gehört auch der elfjährige Will in Coopers erwähntem Roman in diese Kategorie: Nur er kann „die Mächte der Finsternis besiegen“ (Cooper 1977: 49). Zum Rettermotiv gehört oft, dass der Retter selbst der letzte ist, der davon erfährt, dass die Welt seiner Rettung harrt. Auch in Bezug darauf gibt es also privilegiertes Wissen, nämlich derjenigen Repräsentanten der sekundären Welt, die ihn bereits kennen oder sogar ausersehen haben. J. R. R. Tolkien (The Hobbit or There and Back again [1937]) hat das Motiv in die Kinderliteratur eingeführt, indem Gandalf ausgerechnet den bequemen, zu Abenteuern gar nicht aufgelegten Bilbo Beutlin für die Heldenrolle ausersieht. Bilbo soll dem Drachen den Zwergenschatz wieder abnehmen, aber nicht im Kampf, d. h. nicht als Drachentöter, sondern als Meisterdieb. • Das in die Welt geschlüpfte Böse wird besonders eindrücklich in LeGuins Der Magier der Erdsee (1979) gestaltet, wo der erst fünfzehnjährige Magierschüler Ged in einem verbotenen Duell mit einem Rivalen eine vor tausend Jahren verstorbene Prinzessin aus dem Totenreich zurückholen will und stattdessen einen Riss in der Welt öffnet, der ein namenloses böses „Ding“ freisetzt, einen dunklen Klumpen von Kindergröße (vgl. LeGuin 1979: 99 f.), der und den Ged viele Jahre lang verfolgen wird. Bei Cooper kommen die Mächte der Finsternis von selber in gewissen Abständen in die Welt und schrecken in Wintersonnenwende nicht davor zurück, eine sibirische Kälte über ganz Südengland zu bringen, die nur für die auf eine harte Probe gestellten Verteidiger des Lichts, die Uralten, als übernatürlicher Herkunft erkannt und bekämpft werden kann (vgl. Cooper 1977: 171 ff.): In beiden Romanen ist das Böse, selbst des Magischen mächtig, nur durch Magie in seine Schranken zu weisen. Der ewige 300 Ulf Abraham Kampf der Weißen gegen die Schwarze Magie kehrt wieder in Rowlings Harry Potter. Dort sind es die Todesser, die dem kaum noch lebensfähigen Voldemort zu neuer Kraft und Stärke verhelfen (genau wie bei LeGuin muss auch hier jemand das Böse zulassen, sei es aus Versehen, aus Eitelkeit oder aus Zorn). • Der gefährliche Drache spielt schon in griechischen Heroenmythen eine Rolle (vgl. Reinhardt 2012: 32 ff.) und speit sich seit dem Mittelalter durch die europäische Literatur (vgl. Rieken 2016) als das „zu bekämpfende Untier“ (ebd.: 46) schlechthin (zum Drachen als figuralem Motiv im mittel‐ alterlichen Epos und im Märchen vgl. Reinhardt 2012: 303 ff.). In die kin‐ derliterarische Fantastik hat er in verschiedenen, teilweise auch positiven Funktionen Eingang gefunden (vgl. z. B. Irina Korschunows Kinderroman Hanno malt sich einen Drachen, 1978). In Rowlings Hogwarts gelten Drachen als unzähmbar, weshalb ihre Aufzucht verboten ist (vgl. Rowling 1998: 252). Christopher Paolonis Eragon-Tetralogie (2003-2011) dagegen nutzt Drachen als Hüter der Magie, die sich durchaus mit den Menschen gegen das Böse verbinden können; auch schon in LeGuins Erdsee-Trilogie (1979) spielen sie eine durchaus amivalente Rolle, mit der wie bei Paolini eine anthropogene Anlage der Figur einhergeht (sie denken, sprechen, handeln). Kinderliterarisch wird das Motiv durch diese Idee der Zähm‐ barkeit dahingehend verändert, dass Drachen zu Helferfiguren werden, die nur noch für den Antagonisten gefährlich sind, etwa bei Michael Ende (Die unendliche Geschichte [1979]) oder Cornelia Funke (Drachenreiter [1997]). In der aktuelleren Kinderliteratur erscheint das Motiv nur noch in stark domestizierter Form. • Der siegreiche Drachentöter ist seit dem Mittelalter der (ritterliche) Held, dem eine Belohnung sicher ist. Der wohl berühmteste Drachentöter, Siegfried, hat in der Vorgeschichte des Nibelungenliedes einen Drachen erschlagen und in dessen Blut gebadet, woher seine Unverwundbarkeit rührt. Die dadurch suggerierte enge Verknüpfung von Drachen und Magie ist der Kern des Motivs geblieben. Der Wikipedia-Artikel Drachen‐ töter nennt (Stand: 11 / 02 / 2020) dreizehn männliche und eine weibliche gegen einen Drachen siegreiche Figur. In LeGuins Der Magier der Erdsee gibt es das Lied von Erreth-Akbe, der von der Urinsel des Reiches aus bis an die äußerste Grenze der bewohnten Welt fährt und dort auf den Drachen Orm trifft, was beide nicht überleben (vgl. LeGuin 1979: 89). Auch in der Kinderliteratur gibt es den siegreichen Drachentöter als Motiv. In Lindgrens Roman Bröderna Lejonhjärta ist das Drachenweibchen Katla sozusagen die Biowaffe des Diktators Tengil, der sich nach dem 301 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht Heckenrosental nun auch noch das freie Kirschtal und damit die gesamte Sekundärwelt untertan machen möchte. Jonathan hindert ihn daran, indem er den Kampf mit Katla aufnimmt und gewinnt, allerdings nicht - wie Siegfried - die Unsterblichkeit davonträgt, sondern eine tödliche vergiftete Wunde. • Daraus ergibt sich das Motiv des Drachenkampfes als Heldentat unmit‐ telbar. In der mittelalterlichen Literatur galt ein Sieg in diesem Kampf für einen ritterlichen Helden als obligatorisch (vgl. Rieken 2016: 33), so dass die entsprechende Interaktion unweigerlich eine kriegerische war und auf Leben und Tod angelegt. Die fantastische Literatur hat die damit verbundene Stereotypie überwunden; so lassen Drachen, die in LeGuins Werk vielfach vorkommen, mit sich reden, wenn sie den menschlichen Angreifer interessant finden, ernst nehmen und gegebenenfalls auch unterstützen würden. Paoloni schließlich führt in Eragon das Drachen‐ weibchen Seraphina nicht als Gegner, sondern als treue und mächtige Verbündete im Kampf des Helden gegen das Böse ein. Resümee und Ausblick Gerade nichtrealistische Jugendliteratur ist Genreliteratur, und Genres leben von Motiven. Sie sind von ihnen durchzogen wie von Sehnen, die ihnen Kraft und Spannung verleihen. Wie meine auf fantastiktypische Motive konzentrierte Analyse gezeigt hat, verhalten sich diese wie eine Art Schmelzregion, die LeGuin mit ihrer Erzählung schafft, sind miteinander vernetzt (verlinkt) und imstande zu etwas anderem zu mutieren. Didaktisch betrachtet bedeutet das: Neuere und aktuelle Titel in didaktischer Intention zu analysieren und für den Unterricht aufzubereiten, ist kaum möglich ohne Kenntnis motivgeschicht‐ licher Zusammenhänge, die in jedem neuen fantastischen Text vorausgesetzt, weiterentwickelt, umgedeutet und immer wieder auch parodiert werden. Eine Kompetenzerwartung wie diejenige der Genussfähigkeit literarischer Werke in verschiedenen Medien ist nicht einholbar ohne entsprechenden Wissenserwerb. Fachdidaktische Literatur, Bildungspläne und -standards gehen davon aus, dass Deutschunterricht neben der Fähigkeit zur Analyse und Interpretation auch diejenige zum Genuss literarischer Lektüre auszubilden habe, und diese Erwartung erscheint insgesamt als wenig kontrovers. Eher stillschweigend unterstellt als wirklich diskutiert wird aber in diesem Zusammenhang die Erfahrung, das Genuss an literarischen Werken und deren medialen Adaptionen wissensfrei kaum möglich ist, denn Texte beziehen sich intertextuell auf andere Texte, kulturell auf Kontexte (vgl. dazu Abraham 2012). 302 Ulf Abraham Von den zwei Ebenen, auf denen Motive eine Rolle spielen - der intra- und der intertextuellen - ist mindestens die letztere für Lesende, die keine Expertinnen und Experten, sondern (relative) Novizen sind, problematisch; Mo‐ tivverkettungen zu erkennen, verlange „von den Textrezipienten (Lesern) einen hohen Grad von komparatistischem Wissen“, schreibt Werlen (2009: 666). Motive sind eben nicht einfach beliebige Inhaltselemente, wie eine Inhaltsangabe sie erfassen könnte, sondern miteinander vernetzt - im individuellen Werk ebenso wie intertextuell innerhalb einer Gattung, eines Genres oder eines Mediums. Aus didaktischer Sicht ist das Auftreten literarischer Motive im Text immer eine Aufforderung, im Lese- und Deutungsprozess neben dem Was auch das Wie zu klären und den Text dabei zu beobachten, wie er Motive entlehnt, verändert und neu mit Bedeutung auflädt. Das Amalgamieren von Motiven ist ein litera‐ risches Verfahren der Nutzung von Intertextualität: Eine der fünf Bedeutungen des Wortes hotspot ist nicht zufällig die Schmelzregion, eine zweite ein (digitale) Vernetzungstechnik, eine dritte (genetische) eine Stelle gehäufter Spontanmutati‐ onen. Besonders die Mutation ist als Metapher produktiv: Der unbeholfene Hugh mutiert zum Drachentöter, aber die traditionelle Bedeutung des Motivs wird dann überschrieben durch eine andere: Es kostet ihn viel Selbstüberwindung um sich einzugestehen, dass er tatsächlich Angst hat, und erst nach längerem Zögern willigt er in die von Irene angebotene Hilfe ein. Als Drachentöter müsste er allein zurechtkommen, aber sein Gegner ist kein fremdes böses Tier, sondern der eigene Mangel an Selbstachtung und -bewusstsein. Gegen einen solchen Feind Sieger zu bleiben, setzt in einer paradoxen Weise das bereits voraus, was man durch einen Sieg zu gewinnen hofft. Mit dieser Umdeutung schafft LeGuin, indem sie uralte Motive nutzt, thematologisch gesagt, eine anthropologische Parabel von großer Eindringlichkeit. Da schließlich Motive immer wieder die Grenzen zwischen Sprachen und Medien überschreiten, sollte ein Literaturunterricht, der Lernende befähigen kann Motive als hotspots des poetischen Verstehens zu erkennen und zu nutzen, nicht nur komparatistisch, sondern auch intermedial angelegt sein. Und er sollte bei solchen literarischen Genres und medialen Formaten ansetzen, die die Lernenden kennen und schätzen. Nur dann besteht eine Aussicht, sie Motive als besonders wichtige, nicht selten symbolisch aufgeladene Elemente eines literarischen oder filmischen Werks verstehen zu lassen. 303 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht Anhang LeGuin Das Wunschtal (2002) Literarische Fantastik (und ihre Vorge‐ schichte) (1) der Ort des Übertritts Lindgren: Bröderna Lejonhjärta (1973) Cooper: The Dark is Rising (1973) Rowling: Harry Potter, alle Bände (1997-2007) Gaiman: Coraline (2002) (2) die manipulierte Zeit Wells: The Time Machine (1895) Cooper: The Dark is Rising (1973) Nesbit: The House of Arden (1908) Rowling: Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (1999) (3) der bereits erwartete Retter Tolkien: The Hobbit or There and Back again (1937) Cooper: The Dark is Rising (1973) Rowling: Harry Potter, alle Bände (1997-2007) (4) das in die Welt geschlüpfte Böse LeGuin: A Wizzard of Earthsea (1968) Cooper: The Dark is Rising (1973) Rowling: Harry Potter and the Philoso‐ pher’s Stone (1997) (5) der gefährliche Drache LeGuin: Earthsea-Trilogie (1968-1972) Korschunow: Hanno malt sich einen Dra‐ chen (1978) Ende: Die unendliche Geschichte (1979) Rowling: Harry Potter and the Philoso‐ pher’s Stone (1997) Paolini: Eragon (2003-2011) Funke: Drachenreiter (1997) (6) der siegreiche Drachentöter Nibelungensage / Nibelungenlied (um 1200) Tolkien: The Hobbit or There and Back again (1937) Lindgren: Bröderna Lejonhjärta (1973) LeGuin: A Wizzard of Earthsea (1968) (7) der Drachenkampf als Heldentat Nibelungensage/ Nibelungenlied (um 1200) Tolkien: The Hobbit or There and Back again (1937) LeGuin: Earthsea-Trilogie (1968-1972) 304 Ulf Abraham Literaturverzeichnis Primärliteratur Cooper, Susan (1977). Wintersonnenwende. A. d. Engl. von Annemarie Böll. München: cbj. LeGuin, Ursula K. (2002). Das Wunschtal. A. d. Engl.. von Hilde Linnert. München: Heyne. LeGuin, Ursula K. (1979). Der Magier der Erdsee. A. d. Engl.. von Margot Paronis. Hamburg: Carlsen. Rowling, Joanne K. (1998). Harry Potter und der Stein der Weisen. A. d. Engl. von Klaus Fritz Hamburg: Carlsen. Rowling, Joanne K. (1999). Harry Potter und der Gefangene von Askaban. A. d. Engl. von Klaus Fritz. Hamburg: Carlsen. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2012). Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule. Berlin. Abraham, Ulf (2016). „Gont ist ein guter Ort“. U. K. LeGuins Erdsee-Trilogie. In: Ballis, Anja / Schlachter, Birgit (Hrsg.) Schätze der Kinder- und Jugendliteratur wiederent‐ deckt. Frühe Lektüreerfahrung und Kanonbildung im akademischen Kontext. Frank‐ furt / M., 49-69. Abraham, Ulf (2021). Literarisches Wissen materialgestützt erarbeiten. 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Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 15-30. 305 Literarische Motive als hotspots poetischen Verstehens im Deutschunterricht Lubkoll, Christine (2013). Artikel ‚Motiv, literarisches‘. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.) Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. 5., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart [u. a.], 542-543. Lubkoll, Christine (2022). Thematologie - Intertextualität - Transmedialität. Theoreti‐ sche Zugänge zu einer Betrachtung des literarischen Motivs. In: Kurwinkel, Tobias / Ja‐ kobi, Stefanie (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen, S. 31-47. May, Yomb (2012). Literarische Grundbegriffe. Stuttgart. O’Sullivan, Emer (2000). Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg. Overthun, Rasmus (2013). 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Anhand von Mutproben-Handlungen in filmischen und schrift‐ literarischen Texten (mit Schwerpunkt auf Varianten von Das fliegende Klassenzimmer [ EA 1933]) kann jedoch gezeigt werden, dass Motive als menschliche Grundsituationen und als kleinste strukturbildende und bedeu‐ tungstragende Einheiten eines Textes Kristallisationspunkte eines zugleich subjekt- und gegenstandsorientierten literarischen Lernens sein können. In einer Progression von der Primarstufe bis in die Sekundarstufe II lässt sich dieses Lernen an literarischen Motiven auch curricular systematisieren. Mit dem Titel „Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie“ begibt man sich auf ein weites Feld. Denn es geht ja zunächst darum, was literarische Motive überhaupt sind und wie sie transmedial wandern und aufeinander verweisen können. Allein das lässt sich (wie die Beiträge in diesem Band zeigen) in einer heterogenen Fülle ausbuchstabieren. Eine Sache ist es, Motive und Motivzusammenhänge zu systematisieren und für Deutungen fruchtbar zu machen, wie dies Tobias Kurwinkel und Stefanie Jakobi aufgezeigt haben (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 15, Kurwinkel & Jakobi 2019). Eine andere Sache ist es, transmediale Motivanalysen auf ihre didaktische Relevanz zu befragen, geht es doch dann nicht mehr darum, wie Philologinnen und Philologen Texte analysieren, sondern darum, was Schülerinnen und Schüler an und über Literatur überhaupt erst lernen sollen und können. Das Feld bedarf also der Eingrenzung und Parzellierung: Nach einer Bestands‐ aufnahme zu den Termini Motiv bzw. Motivanalyse in den Bildungsstandards für das Fach Deutsch und in literaturdidaktischen Grundlagenwerken, entfalte ich das didaktisch meines Erachtens fruchtbare Motiv der Mutprobe. Im Haupt‐ teil über Motive und Motivanalyse als literaturdidaktische Kategorie systema‐ tisiere ich Zielrichtungen des Umgangs mit literarischen Texten, illustriere 1 In der Beispielanalyse pragmatischer Texte wird noch ein sprachliches Leitmotiv identifiziert (vgl. ebd.: 76). Wie das Motiv als Beweggrund einer Figur ist aber auch das Leitmotiv etwas anderes als die hier in Rede stehenden Motive (vgl. zur Abgrenzung auch Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 17). sodann an einem Filmbeispiel das Motiv als Kristallisationspunkt subjekt- und gegenstandsorientierten Textverstehens, skizziere eine „Didaktik des Motivs“ und konkretisiere diese ansatzweise anhand diverser literarischer Mutproben. Ein kurzes Fazit rundet den Beitrag ab. Eine Bestandaufnahme: „Motiv“ bzw. „Motivanalyse“ in den Bildungsstandards für das Fach Deutsch und in literaturdidaktischen Grundlagenwerken Das Motiv oder die Motivanalyse hat in der Literaturdidaktik wenig Konjunktur. In den Bildungsstandards der KMK für das Fach Deutsch in der Grundschule und für die Hauptbzw. Mittelschule ergibt der Suchbegriff Motiv keinen Treffer; für den Mittleren Bildungsabschluss ist einmal die Rede von der „Schwierigkeit des Verständnisses poetischer Bilder und Motive ohne ein historisches Kontext‐ wissen“ ( BS - MBA 2003: 34). In den Standards für das Abitur gibt es einige wenige Fundstellen: Die Schülerinnen und Schüler können für den Umgang mit literarischen Texten relevante Motive, Themen und Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen können, vergleichen und in ihre Texterschließung einbeziehen. (BS-A 2012: 19) In Beispielaufgaben zur vergleichenden Interpretation lyrischer Texte geht es um das „Motiv des Blickes“ (ebd.: 48) oder um den „motivgeschichtlichen Kontext“ und das Motiv der Dämmerung in Eichendorffs Zwielicht (1815), im Vergleich mit Goethes Dämmrung senkte sich von oben (1827) (vgl. ebd.: 138 f.). 1 Insbesondere scheint es hier darauf anzukommen, dass bei Motivgleichheit die Unterschiede zwischen Texten besonders deutlich hervortreten können. Dies ist ein plausibler Gedanke, er bleibt jedoch randständig. Auch in der Literaturdidaktik ist die Auseinandersetzung mit Motiven kein explizites Thema. In den Aspekten literarischen Lernens, die Kaspar Spinner 2006 vorstellte, wäre eine transmediale Motivanalyse nur bedingt platzierbar, eventuell unter „Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen“ (Aspekt 5) oder „Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln“ (Aspekt 11) (vgl. ebd.). Auch in drei aktuellen Einführungen in die Literaturdidaktik Deutsch taucht das Wort Motiv im Sachregister nicht auf, weder bei Christian Dawi‐ 308 Klaus Maiwald 2 Dort klingt allerdings das Phänomen transmedialer Motive in Beiträgen zu interdis‐ ziplinären Implikationen und Konzepten wie Intermedialität (Maiwald 2019a), Kultur‐ wissenschaft (Volkmann 2019) oder Kulturökologie (Wanning 2019) durchaus an. dowski (2016) noch bei Martin Leubner et al. (2016) noch bei Matthis Kepser & Ulf Abraham (2016). Selbiges gilt für einen von Christiane Lütge 2019 heraus‐ gegebenen, fächerübergreifenden Grundlagenband zur Literaturdidaktik. 2 Man kann die dergestalt eingekreiste Leerstelle als Indiz für eine Inhalte vernachlässigende oder gar wissensblinde Kompetenzorientierung sehen (s. Abraham in diesem Band, S. 292). Andererseits umspannen Bildungspläne und die Literaturdidaktik das sehr weite Feld dessen, was (alle möglichen) Lernenden mit (allen möglichen) Texten tun sollen, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Bereitschaften sie dabei erwerben sollen. Daher ist kaum zu erwarten, eine transmediale Motivanalyse als didaktisch-methodisches Großkonzept oder eine eigene transmediale Motiv-Kompetenz anzutreffen. In diese Richtung soll hier nun aber gerade gedacht werden. Ein Beispiel: Das Motiv der Mutprobe Eine Mutprobe ist das Eingehen eines Wagnisses, bei dem eine Angstschwelle zu überwinden ist. Die Mutprobe kann eher individuellen Zielen dienen, etwa der Abenteuersuche, der Angstbekämpfung, dem Selbstwertstreben, der Erfah‐ rungserweiterung; sehr häufig findet die Mutprobe aber in einem sozialen Kon‐ text statt, wenn es um Ansehen in der Peergroup oder um die Initiation z. B. in eine Clique oder eine militärische Einheit geht (vgl. Wikipedia „Mutprobe“). Die Spannung zwischen der vorsichtigen Selbsterhaltung und dem wagemutigen Sozialbeweis ist in der Pubertät und in der Adoleszenz besonders virulent. Tiere veranstalten keine Mutproben, diese sind etwas elementar Mensch‐ liches. Es nimmt daher nicht Wunder, dass auch in literarischen Texten Mutproben reichlich vorkommen und sehr oft schon in den Titeln direkt annonciert werden. Eine Google-Bilder-Suche zum Begriff Mutprobe präsentiert u. a. Titelbilder aus dem Medienverbund um Der kleine Drache Kokosnuss, dem Roman Die Mutprobe von Carolin Philipps (2016), der Hörspielreihe Arborex und der Geheimbund KIM (seit 1986), einer interaktiven Wickie-Spielgeschichte auf CD - ROM (Tivola 2005) oder der Mädchenbuchreihe Nele (2016). Schon hier wird die von Kurwinkel & Jakobi (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 20) konstatierte Transmedialität literarischer Motive deutlich. Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich zur Mutprobe weitere, sehr heterogene Texte in medialer Trägervielfalt finden: In Schillers Ballade Der Handschuh (1797) steigt ein Ritter hinunter in eine Raubtierarena, um einer Dame einen 309 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie hinuntergefallenen Handschuh aufzuheben. In dem Mini-Buch Findet Nemo. Die Mutprobe (2012) gerät ein kleiner Fisch durch eine leichtsinnige Mutprobe in große Gefahr. Die Geschichte des Bilderbuchs DER CLUB der Mutigen (2017) von Catherine Kuhlmann beginnt mit dem Satz: „Ich wette, du traust dich nicht, auf diesen Baum zu klettern! “ (ebd.). Mutproben finden sich natürlich auch im Film: In dem Kriegsfilm Die Brücke (Wicki 1959) bleibt ein junger Soldat bei einem Tieffliegerangriff trotzig stehen und wird getötet. In dem Adoleszenzdrama Rebel Without a Cause (Ray 1955) steuern zwei junge Männer gestohlene Autos auf einen Abgrund zu - verloren hat, wer als Erster herausspringt. In dem Familienfilm Conni & Co (Buch 2016) nach der gleichnamigen Buchreihe will der beste Freund Paul plötzlich zur Jungs-Clique gehören und unterzieht sich einer „Mann-oder-Memme“-Mutprobe. Ich breche die Reihe der Beispiele hier ab, es gibt gewiss noch viele mehr. Das Motiv der Mutprobe kommt offenbar zahlreich in allen möglichen Medien vor. Mit dem Begriff Motiv lässt sich allgemein „die kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen“ bezeichnen (Lubkoll in diesem Band, S. 37). In der Typologie nach Kurwinkel & Jakobi (2019: 43) wäre die Mutprobe einmal als situationales Motiv aufzufassen, da hier bewusst eine Gefahrenbzw. Bewältigungssituation hergestellt wird; sie ist aber auch den figural-relationalen Motiven zuzurechnen, weil sie durch eine spezielle „Art und Weise der Figurenbeziehungen charakterisiert“ (ebd.) ist: Hier ist die Situation bzw. die Gruppe, die die Mutprobe erfordert oder einfordert; dort ist der Aspirant, der sich ihr unterziehen soll oder will. In Elisabeth Frenzels Lexikon über Motive der Weltliteratur fehlt die Mutprobe - vielleicht deshalb, weil das vor allem jugendliche Figuren betreffende Motiv in der sog. hohen Dichtung weniger anzutreffen ist und Frenzel nur Letztere im Blick hat. Freilich erfüllt die Mutprobe mustergültig, was Frenzel unter einem Motiv versteht: Sie ist ein „Handlungsansatz […], der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt“ (ebd.: VIII ); in ihr manifestieren sich menschliche Grundsituationen bzw. „Grundtypen des Menschseins“ (ebd.: XI ). Auch wäre die Mutprobe im Sinne Goethes zu den „Phänomene[n] des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden“ (zit. nach ebd.), zu zählen. Eine derartige Bestimmung des Motivs weist auch in didaktische Richtungen. Motive und Motivanalyse als literaturdidaktische Kategorie Für eine Annäherung an Motive und Motivanalyse als literaturdidaktische Kategorie sollen zunächst Zielrichtungen des Umgangs mit literarischen Texten umrissen werden. 310 Klaus Maiwald 3 In seiner Darstellung literarischen Lernens auf KinderundJugendmedien.de hat Spinner (2019) auf zehn Aspekte reduziert und „Mit dem literarischen Gespräch vertraut Zielrichtungen des Umgangs mit literarischen Texten Die Bildungsstandards der KMK , an denen sich auch Bildungspläne der Bun‐ desländer ausrichten, sprechen sehr allgemein davon, „mit Texten und Medien um[zu]gehen“ und „literarische Texte [zu] verstehen und [zu] nutzen“ (vgl. z. B. BS - MBA 2003: 13 f.). Die Standards benennen Kompetenzen, die Leserinnen und Leser im Umgang mit literarischen Texten zeigen können sollen. Sie bleiben dabei aber additiv und wirken vielmals „wie eine unverbundene Anein‐ anderreihung von Lernzielformulierungen“ (Spinner 2006: 7), die unklar lässt, weshalb und wozu der Umgang mit literarischen Texten eigentlich stattfinden soll. Um diese grundlegende didaktische Frage nach dem Weshalb und dem Wozu soll es also kurz gehen. Das Augenmerk liegt dabei auf „literarischer Rezeptionskompetenz“ (vgl. Frederking 2019) für Erzähltexte in verschiedenen Medien. Diese Erweiterung ist angesichts der transmedialen Perspektive auf literarische Motive zwingend. Da Texte nicht nur printmedial, sondern in verschiedenen medialen Formen auftreten, muss der Deutschunterricht einem erweiterten Textbegriff entsprechen und „auditive, audiovisuelle und digitale Medienangebote jenseits von reinem Schrifttext und / oder Buch“ sowie „Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund“ integrieren (Maiwald 2019: 59 f.). Unabhängig vom Trägermedium sind literarische Texte mehrdeutige ästhe‐ tische Sinnangebote. Sie stellen Wirklichkeitsmodelle vor, in denen wir probe‐ handeln: Wie würden wir eine bestimmte Situation bewerten? Was würden wir an Stelle einer bestimmten Figur tun? Mit „Denkbildern“ aus anderen Generationen und Kulturen (vgl. Müller-Michaels 1997) fordern literarische Texte unsere Alltagswahrnehmungen heraus: z. B. mit dem Vanitas-Gedanken aus der Barocklyrik und mit dem deterministischen Menschenbild des Natura‐ lismus - oder eben mit verschiedenen Entfaltungsmöglichkeiten der Mutprobe als menschlicher Grundsituation (vgl. Frenzel 2008: VIII , XI ). Für die Auseinandersetzung mit literarischen Wirklichkeitsmodellen und Sinnangeboten lässt sich ein Ineinander eher gegenstandsorientierter und eher leserorientierter Ziele beschreiben. Auf der einen Seite erwerben die Schülerinnen und Schüler Kenntnisse und Fähigkeiten für die sachgerechte Erschließung des Gegenstandes Literatur; auf der anderen Seite wird das literarische Lesen zum Mittel personaler Bildungserfahrungen. Integrieren lassen sich Gegenstands- und Leserorientierung meines Erachtens im Begriff des literarischen Lernens. Maßgeblich für dessen Konzeptualisierung waren die von Spinner erstmals 2006 vorgelegten „Elf Aspekte literarischen Lernens“. 3 311 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie werden“ herausgenommen. Ein sinnvoller Schritt, liegt doch das literarische Gespräch als Methode auf einer kategorial anderen Ebene. 4 Einmal treten zu gegenstandsorientierten Aspekten wie Sprachliche Gestaltung auf‐ merksam wahrnehmen oder Narrative bzw. dramaturgische Handlungslogik verstehen subjektorientierte Aspekte wie Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln oder Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen. Zweitens haben Aspekte wie Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen oder Mit Fiktionalität bewusst umgehen in sich zugleich eine subjekt- und eine gegenstandsorientierte Seite (vgl. Spinner 2006). Obwohl sie von Spinner selbst eher gegenstandsorientiert und als Ergänzung der von ihm propagierten subjektbezogenen Ziele (wie Vorstellungsbildung, Fremdverstehen und Identitätsentwicklung, vgl. Spinner 2001) gemeint waren, scheint mir, dass die Aspekte subjekt- und gegenstandsorientierte Akzente verbinden. 4 In einem Versuch, sie weiterzudenken (vgl. Maiwald 2015a), habe ich literarisches Lernen als didaktischen Integrationsbegriff vorgeschlagen (Abb. 1): Abb. 1: Literarisches Lernen als Integrationsbegriff für gegenstands- und subjektorien‐ tierte Ziele (Maiwald 2015a: 93; gekürzt) 312 Klaus Maiwald Auf die grundlegende Aufgabe der Leseförderung als Vermittlung von Lese‐ freude und prozessbezogenen Lesefertigkeiten gehe ich hier nicht näher ein und schwenke stattdessen sogleich zum Zielpunkt eines literarischen Lernens als Persönlichkeitsbildung an literarischen (Wirklichkeits-)Modellen. Subjekt‐ bezogen geht es darum, vielfältige Wirkungen von Literatur zu kennen und bedürfnisorientiert zu nutzen, Literatur als Angebot fiktionaler, mehrdeutiger Denk- und Handlungsmodelle zu erfahren sowie diese in einen Bezug zu eigenen Selbst- und Weltvorstellungen zu bringen und dabei auch (die eigene) historische und (inter-)kulturelle Relativität zu erfahren. Es sind diese perso‐ nalen Bildungsprozesse, die den schulischen Umgang mit literarischen Texten wesentlich begründen (sollten). Ebenso wesentlich ist jedoch, dass diese Bil‐ dungsprozesse gegenstandsbezogene Aktivitäten erfordern. Auf der Textebene sind dabei Situationsmodelle fiktiver Welten zu (re-)konstruieren, Motive und Themen zu erkennen sowie medienspezifische ästhetische Strukturen in das Textverstehen einbeziehen; im Bereich der Kontexte geht es um Gattungen / Ge‐ nres, intertextuelle und intermediale Zusammenhänge sowie Literatur- und Geistesgeschichte. Hier taucht der Motivbegriff bereits mit auf! Dass er es auf der Seite des Gegenstands tut, würde ich hiermit überdenken wollen. Denn tatsächlich sind Motive eher so etwas wie Kristallisationspunkte eines zugleich subjekt- und gegenstandsorientierten Textverstehens. Das Motiv als Kristallisationspunkt subjekt- und gegenstandsorientierten Textverstehens - am Beispiel der Mutprobe in Die Brücke Bernhard Wickis Kriegsfilm Die Brücke aus dem Jahr 1959 erzählt, wie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges eine Gruppe von Jungen nach nur einem Tag militärischer Ausbildung in der Verteidigung einer militärisch bedeutungs‐ losen Brücke gegen amerikanische Panzer stirbt und im angerichteten Inferno weitere Soldaten und Zivilisten in den Tod zieht. In einer Schlüsselszene wirft sich Sigi, der Jüngste und Kleinste, vor einem entfernt kreisenden Tiefflieger auf den Boden, was seine Freunde mit Spott und Hänselei quittieren. Als der Tiefflieger dann wirklich angreift, bleibt Sigi als einziger stehen und wird tödlich getroffen (vgl. Schöffel 2005: 123). Man kann hier subjektorientiert darauf zielen, die Beweggründe Sigis und die waltenden psychologischen Mechanismen aufzudecken und zu reflektieren. Die Jungen, das macht die Vorgeschichte klar, sind indoktriniert von national‐ sozialistisch-militärischen Tugendformeln - und nun (endlich) selbst Teil dieser Männer- und Heldenwelt. Dadurch hat sich die Fallhöhe für ein ängstliches In-Deckung-Gehen enorm vergrößert, dadurch schmerzt der Spott der Kame‐ 313 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie raden umso mehr, und deshalb muss Sigi sich nun selbst beweisen und es den anderen zeigen. Dass ausgerechnet „unser Sigi“ der erste Tote ist, motiviert zudem entscheidend die weitere Handlung. Denn die anderen sind nun nicht mehr nur entschlossen, als Soldaten ihre vermeintliche Pflicht zu erfüllen, sondern auch als Freunde Sigis Tod zu rächen. Diese affektive Wucht der tödlichen Mutprobe ist aber auch auf der Gegen‐ standsebene, sprich in der visuellen und narrativen Darstellung, zu erklären. Sigi ist der Kleinste und der Jüngste, er hat das unmännlichste Gesicht und wird bei seinem Kindernamen gerufen. Auffällig stellt der Film ihn wiederholt aus der Gruppe heraus. Beim Kasernenhofdrill hebt er den Kopf; wiederholt wird er von den anderen in die Mitte genommen; er erhält von einem ver‐ wundeten Landser „nochmal Schokolade, bevor du eingemacht wirst“ (Wicki 1959: 01: 14: 40). Ausgerechnet diese Figur, ausgerechnet Sigi, ist der erste Tote. In parallelen Einstellungen blickt die Kamera zuerst auf den Ängstlichen und dann auf den Toten hinab. Dem Tiefflieger hingegen schaut Sigi in Nahaufnahme wild entschlossen in die Kamera entgegen (s. Abb. 2). Die filmische Darstellung lädt ihn zur Identifikationsfigur und seinen Tod mit einem enormen Affekt auf. Suggestiv ist auch die Einstellung, in der die Freunde auf den Toten blicken (s. Abb. 3). Sie schauen fast eine (in einem Film ewige) halbe Minute lang im Halbkreis halbtotal aus der Untersicht in die Kamera und sagen Dinge wie „Unser Sigi … diese Schweine … Denen wird’ ich’s zeigen! “ (ebd.: 01: 19: 05). Sie wirken groß und verschworen, nun zum Letzten entschlossen. Abb. 2 und 3: Filmisch suggestive Gestaltung des Mutbeweises in Die Brücke (Wicki 1959: 01: 17: 56 bzw. ebd.: 01: 19: 14) Das Motiv der Mutprobe wird hier zu einem Kristallisationspunkt subjekt- und gegenstandsorientierten Textverstehens. Das heißt, wir analysieren nicht isoliert Figurenarrangements, Perspektiven und Einstellungsgrößen, sondern wir beschreiben diese als ästhetische Gestaltung eines literarischen Motivs als 314 Klaus Maiwald 5 Für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Film wäre auf der Gegenstandsseite auch der Kontext des bundesdeutschen Nachkriegskinos mitzudenken. Die Brücke hebt sich deutlich ab von den Komödien, Musikfilmen und Heimatschnulzen der 1950er Jahre, die für Vergangenheitsverdrängung und Gegenwartszerstreuung sorgten. Auch Kriegsfilme wie die 1954 beginnende Trilogie 08 / 15 (May) oder Der Arzt von Stalingrad (von Radványi 1958) blieben unpolitisch und allgemeinmenschlich. In Wickis Film werden die Naziverhältnisse hingegen ausgeleuchtet, allerdings bleiben die Naziver‐ brechen auch hier ausgespart (vgl. Schöffel 2005: 123). einer menschlichen Grundsituation. 5 Aus diesem Beispiel möchte ich Ansätze einer Didaktik des literarischen Motivs entwickeln: Ansätze einer Didaktik des literarischen Motivs In der Auseinandersetzung mit literarischen Motiven verbinden sich subjektori‐ entierte und gegenstandsorientierte Zielsetzungen. Daher sind Motive ergiebige Kristallisationspunkte, vielleicht sogar hotspots des poetischen Verstehens, wie dies Ulf Abraham benennt (s. Abraham in diesem Band, S. 303). Eine Thematisierung literarischer Motive kann in der Grundschule beginnen und in zunehmender Komplexität in die Sekundarstufe II fortgesetzt werden. Hier ein Vorschlag: 1. Ein Motiv in einem literarischen Text auf der Ebene der histoire (inhalt‐ lich) erfassen und in der vorliegenden Konkretisierung deuten 2. Ein Motiv in unterschiedlichen medialen Varianten ein und desselben Stoffes auf der Ebene • der histoire (inhaltlich) • der histoire (inhaltlich) und des discours (formal / medial) erfassen und deuten 3. Ein Motiv als transmediales Phänomen kennen und verschiedene Entfal‐ tungsmöglichkeiten in Texten verschiedener Art vergleichend deuten 4. Weitere Motive (z. B. die ungleichen Freunde, das Verwandlungsmotiv) als menschliche Grundsituationen kennen und in unterschiedlichen Ent‐ faltungsmöglichkeiten deuten 5. Motive typologisieren bzw. einer Typologie zuordnen (z. B. Handlungs‐ motive vs. Typenmotive; oder die Typologie bei Kurwinkel & Jakobi 2019: 43) 6. Motive als „kleinste semantische Einheit[en]“ vom Stoff und vom Thema als „abstrahierte Grundidee“ eines Textes unterscheiden (Lubkoll 2013: 542). Dies bedeutete nun nicht, Schülerinnen und Schüler von der Grundschule bis zum Abitur mit motivgleichen Texten zu traktieren („Schon wieder eine 315 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie Mutprobe! “). Mir scheint aber, dass neben die handelsüblichen Gattungen und Epochen als sachstrukturelle Organisationsprinzipien des Gegenstands Literatur gewinnbringend Motive als didaktische Perspektivierungskategorie treten könnten. Denn nicht nur verschmelzen im Fokus auf Motive gegenstands- und subjektorientierte Zielsetzungen, es erweitert sich auch das Verständnis von Literatur über das Printmediale hinaus auf verschiedene mediale Formmög‐ lichkeiten. Hierzu bedarf es Textkorpora, an denen innerhalb oder progressiv über Jahrgangsstufen hinweg Motive in unterschiedlichen inhaltlichen und formal-medialen Ausprägungen wiederkehren - denn in der Tat wird ein Motiv „erst zum Motiv durch Wiederholung, Konventionalisierung und Variation“ (Lubkoll in diesem Band, S. 35). Im Folgenden wird gezeigt, wie mehrere Texte im Deutschunterricht in eine vergleichende Analyse des Motivs der Mutprobe einbezogen werden können. Das Motiv der Mutprobe in einem kleinen Textkorpus für den Deutschunterricht Zugrunde gelegt werden ausführlicher der Roman Das Fliegende Klassenzimmer von Erich Kästner aus dem Jahr 1933 sowie dessen Verfilmungen von 1954 durch Kurt Hoffmann und 2003 von Tomy Wigand. (Ausgespart bleibt die Verfilmung aus dem Jahr 1973.) Kurz gestreift werden der Roman Vorstadtkrokodile (1976) von Max von der Grün und dessen Verfilmung von 2009 (Ditter). Herangezogen wird schließlich noch der Kinder-/ Jugendroman Taubenjagd von Jerry Spinelli aus dem Jahr 1996. Denkbar ist eine Thematisierung dieses Korpus in einer 6. bis 7. Jahrgangsstufe. Erreicht werden damit die Stufen 1 bis 3 in der oben skizzierten Progression. Im Zentrum des Romans vom fliegenden Klassenzimmer stehen ein vorbild‐ hafter Lehrer und seine ihn verehrenden Internatsschüler. Der Text weist aus heutiger Sicht manche Ambivalenz und Fragwürdigkeit auf, z. B. die abgeschlos‐ sene Männerwelt und die allein durch individuelle Rechtschaffenheit herbeige‐ führten Problemlösungen (vgl. Maiwald 2013, 2016). Teil des ambivalenten Stoffs ist eine Mutproben-Handlung, die auf der Ebene der histoire im Roman und in den Filmen im Wesentlichen identisch verläuft: Zu den Schülern gehört das ungleiche Freundespaar Matthias und Uli. Im Gegensatz zu dem starken und unerschrockenen Matthias leidet Uli darunter, klein und zaghaft zu sein. Bei einer Schneeballschlacht nimmt er Reißaus, und als er von Mitschülern aus Jux in einem Papierkorb zur Zimmerdecke hochgezogen wird, hat er genug. Er verschafft sich Gehör, teilt mit, dass er es nicht mehr aushalte, als Feigling zu gelten, und bestellt die Mitschüler für den Nachmittag auf den Sportplatz bzw. den Schulhof. Mit einem Sprung in die Tiefe beweist er seinen Mut und zieht 316 Klaus Maiwald sich dabei einen Beinbruch zu. Der Lehrer missbilligt die Aktion, als „idiotischen Einfall“ (Roman, Film 1954) bzw. als „hirnrissige Idee“ (Film 2003), gibt aber auch zu bedenken, dass ein gebrochenes Bein besser sei, als sich das ganze Leben als Feigling zu fühlen. Zunächst kann im Roman rekonstruiert werden, wie Ulis seelische Not schrittweise eskaliert. Er hat zwar gute Noten, aber keine „Courage“ (Kästner 2002: 42), und schon früh setzt ihm der Freund den Floh ins Ohr, „Etwas ganz Tolles“ zu tun, was „Respekt einjagt“ (ebd.: 43). Bei der Schneeballschlacht wird Uli gehänselt und reißt „wieder einmal“ aus (ebd.: 70). Nachts liegt er wach und überlegt, „wie er endlich einmal Mut beweisen könnte“ (ebd.: 94). Das Mutprobenmotiv zeigt sich hier in reinster Form: Jemand muss sich selbst bestätigen und es den anderen zeigen. Diskussionswürdig ist die ausführliche Nachbesprechung, die die Sache im Roman erhält. Der Lehrer missbilligt den „idiotischen Einfall“, meint dann aber, dass ein Beinbruch weniger schlimm ist, als wenn der Kleine sein Leben lang Angst davor gehabt hätte, die anderen würden ihn nicht für voll nehmen. Ich glaube wirklich, dieser Fallschirmabsprung war gar nicht so blödsinnig, wie ich zunächst dachte. (ebd.: 117) Diese Bewertung darf man - aus heutiger Sicht - fragwürdig finden. Sich dafür, dass die anderen einen „für voll nehmen“, mit einer an sich völlig nutzlosen Tat in Todesgefahr zu bringen, erscheint doch ziemlich „blödsinnig“. Im „Tagesgespräch“ unter den Schülern herrscht indes einhellig die Meinung, der „kleine Simmern sei ein Mordskerl“, dem man eine solche „Tollkühnheit“ nicht zugetraut hätte (ebd.: 120). Bei einem Krankenbesuch will Uli als Erstes wissen, was die anderen sagen. Als Matthias ihm versichert, er selbst spränge nicht für „eine Million“ von der Leiter, glänzt Ulis Gesicht endgültig „vor Freude und Stolz“ (ebd.: 126). Eine launige Ansprache des Lehrers beschließt die Aufarbeitung (ebd.: 127 f.): Man müsse dankbar sein, dass das „Experiment, das der kleine Uli für unerlässlich hielt, […] kein Unglück wurde“; diese Art Mut sollte „nicht etwa Mode“ werden: „Ich bitte alle, sowohl die Tapferkeit als auch deren Mangel so unauffällig wie möglich auszuüben“. Im Roman wird die Mutprobe also ausführlich besprochen und generell positiv bewertet. Der Film von 1954 kürzt zwar den (im Medium der Schriftliteratur besser darstellbaren) Diskurs, behält aber die Wertung bei. Auf dem Gerüst macht Uli keine Ansage, die Bewertung des Fallschirmabsprungs als „nicht so blödsinnig“ unterbleibt, und das „Tagesgespräch“ unter den Mitschülern wird auf den Satz reduziert, dass noch „am Abend [ ] über Ulis Mutprobe leidenschaftlich disku‐ tiert [wurde]“ (Hoffmann 1954: 01: 01: 07). Aber auch hier gilt das gebrochene 317 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie Bein als kleineres Übel gegenüber der Angst, nicht für voll genommen zu werden; auch hier bittet der Lehrer bei einer Ansprache, „sowohl die Tapferkeit als auch deren Gegenteil so unauffällig wie möglich auszuüben“, und legt damit den „Schwamm drüber“ (ebd.: 01: 02: 10); auch hier will Uli wissen, was die anderen sagen, und zeigt - in Großaufnahme - ein Gesicht voller „Freude und Stolz“ (ebd.: 01: 06: 22). Aufmerksamkeit verdienen weiter die genuin filmischen Mittel, mit denen die Mutprobe emotionalisiert und interpretiert wird (ebd.: 00: 57: 40 ff.): Ein sub‐ jektiver, (angst-)getrübter Kamerablick in die Tiefe und zum Publikum hinunter sowie eine Großaufnahme Ulis zeigen die Überwindungsleistung des mit sich ringenden Jungen; sie zeigen auch, dass es einerseits um Uli selbst, andererseits um soziale Anerkennung geht. Wirkungsvoll unterstreicht Musik die Dramatik und die Emotionalität des Geschehens: Die aufgewühlte Orchestersinfonik, die das Heranstürzen der Freunde untermalt, geht in schmelzende Streicher über, als diese sich kümmernd über den Verletzten beugen. Eine acht Sekunden lange Einstellung fixiert in Großaufnahme den betroffenen (und nicht ganz unschuldigen) Freund Matze. Der Film von 2003 geht vielfach andere Wege. Er verlagert das Geschehen in die Jetztzeit des Leipziger Thomaner-Internats, er zeigt statt einer hermetischen Männerwelt aktive und gleichberechtigte weibliche Figuren und er macht aus dem überlebensgroßen Schulmeister einen eher partnerschaftlichen Chorleiter (vgl. Maiwald 2013). Die Mutprobe mit Sturz und Verletzung gibt es auch hier, sie wird jedoch deutlich anders akzentuiert: Beide Jungen müssen sich überwinden, beide Jungen blicken in die Tiefe. Aber wo Uli in dem älteren Film unvermittelt springt und in derselben Sekunde aufschlägt, ist ihm jetzt zunächst ein wunderbarer Flug vergönnt (s. Abb. 4 und 5), indem er mehr als 20 Sekunden lang an zwei großen roten Ballons staunend über die Mitschüler hinwegschwebt. Der mit sachter Musik getönte Flug vor einem zartblauen Himmel zwischen den weißen Gebäuden hat etwas Ästhetisches und Magisches. Uli ist schwerelos, über den Dingen, glücklich. Das Mutproben-Geschehen bleibt im Kern erhalten, wird aber nun leichter inszeniert und auch anders verhandelt. In der Bewertung durch den Lehrer wird vor den Sinn des gebrochenen Beines immerhin ein „Vielleicht“ gesetzt und die Nachfrage „Meinen Sie wirklich? “ wird vielsagend weggelächelt. Es erfolgt weder eine Diskussion unter den Mitschülern noch eine Ansprache des Lehrers, und auch beim Krankenbesuch sind die Mutprobe und ihre Wirkung auf die anderen kein Thema. Vielmehr wird Uli trotz gebrochenen Beins aus dem Krankenhaus entführt und darf bei der Aufführung singen: „Zeig, wer du bist, und lass dich nicht verbiegen“ (Wiegand 2003: 01: 37: 07). 318 Klaus Maiwald Abb. 4 und 5: Unterschiedliche Inszenierung der Mutprobe in Das Fliegende Klassen‐ zimmer 1954 und 2003 (Hoffmann 1954: 00: 58: 30 bzw. Wiegand 2003: 01: 28: 56) Damit aber hat die Mutprobe hier nicht nur eine andere Ästhetik, sondern auch einen anderen Begleitdiskurs. Im Roman von 1933 und beklemmend werktreu in einer Verfilmung, die mehr als 20 Jahre, eine Diktatur und einen Weltkrieg später entstand, wird die Mutprobe innerhalb eines bestimmten Denkrahmens verhandelt. Darin ist eine spezielle Art von Tapferkeit und Tollkühnheit ange‐ sehen und angesagt, wird ihr Fehlen als Feigheit verspottet, was zu Scham und Verzweiflung führt. Dieser Denkrahmen bleibt unhinterfragt. Tun wir das also: Warum hält Uli es nicht mehr aus, als Feigling zu gelten? Warum gilt er überhaupt als Feigling? Warum hält er den Sprung „für unerlässlich“ (Kästner 2002: 127)? Warum braucht es diese lebensgefährliche und an sich nutzlose Tat, damit die anderen „unheimlichen Respekt“ kriegen (ebd.: 126)? Besser wäre es doch, wenn Respekt nicht nur für körperliche Stärke und tollkühne Taten gezollt würde und man nicht in psychische Not und soziale Nötigung geriete, weil einem diese Art Mut fehlt. Diese bessere Möglichkeit scheint in dem Film von 2003 zumindest auf, womit der Denkrahmen des Romans und des älteren Films überschritten wird: Die Mutprobe selbst wirkt weniger martialisch, sie hat etwas Leichtes und Erhebendes, für Uli vielleicht sogar etwas Epiphanisches. Der Diskurs über Feigheit und Tapferkeit ist deutlich zurückgebaut und abwägender: „Vielleicht“ ist ein Beinbruch besser - vielleicht aber auch nicht. Wieweit Uli nun vor den anderen anders dasteht, ist kein Thema. Und sobald man Ulis abschließenden Satz ernst nimmt und sich „nicht verbiegen lässt“, braucht es auch keine hirnrissigen Mutproben mehr. Eine Variation des Mutproben-Motivs findet sich in von der Grüns Roman Vorstadtkrokodile (1976) und dessen Verfilmungen aus den Jahren 1977 (Becker) bzw. 2009 (Ditter). Anders als im Fliegenden Klassenzimmer geht es hier darum, in eine Bande aufgenommen zu werden, indem man auf ein Dach steigt. In dem Film von 2009 sorgt die Darstellung für eine erhebliche Dramatisierung 319 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie und auch Glorifizierung dieses Geschehens. Allerdings wird die Mutprobe hier und auch im Gegensatz zum Film von 1977 durch weibliche Vernunft in Frage gezogen. (Ich gehe darauf nicht weiter ein; das Beispiel ist bei Maiwald 2015b: 41 ff. näher ausgeführt.) Blicken wir abschließend noch auf eine andere Ausformung bzw. Abwand‐ lung des Mutproben-Motivs. Spinellis Roman Taubenjagd (1997) spielt in einer US -amerikanischen Kleinstadt. Dort findet einmal im Jahr als öffentliches Spektakel ein Taubenschießen statt, bei dem die zehnjährigen Jungen die Aufgabe haben, Tieren, die nur angeschossen wurden, den Hals umzudrehen. Im Zentrum des Romans steht Palmer, der zu seinem zehnten Geburtstag von den Größeren einen Spitznamen und eine schmerzhafte Feuertaufe erhält. Er gehört nun, wie seinerzeit schon sein Vater, auch dazu. Nicht nur aber hat er nichts mit dem Taubentöten und seinen grobschlächtigen Kumpels am Hut, er freundet sich unerhörterweise auch noch mit einer Taube an, die er Picker nennt. Als der Taubentag naht, versucht Palmer vergeblich, Picker aus der Stadt zu schaffen. Die Taube fliegt aber über dem Schießplatz ein und landet vor aller Augen auf Palmers Kopf. Nachdem sie von dort verscheucht und angeschossen worden ist, wirft Palmer sich schützend über sie. Das Spektakel kommt zum Erliegen: Der Schütze hatte sein Gewehr abgesetzt. Palmer stand auf, ohne die blutigen Federn zu beachten, die sein Gesicht verklebten. Er drückte Picker an sich. Wie er dort stand, bis zu den Knöcheln in Federn, empfand Palmer einen Frieden, eine Leichtigkeit, die er nie zuvor gekannt hatte. Als wären Gurte gerissen, die ihn festgehalten hatten. Er hatte das Gefühl zu schweben. Für einen Augenblick, als seine Fingerspitzen das Jagen von Pickers eichelgroßem Herz ertasteten, glaubte er tatsächlich fliegen zu können. Durch ein Taubenauge sah er auf das Feld hinab, auf tausende nach oben gewandte Gesichter, und er sah keinen Grund zur Furcht. Also streckte er die Arme aus, hielt seine Taube den Menschen entgegen, drehte sich langsam im Kreis, damit alle es sahen, damit alle es wussten. (Spinelli 2002: 204) Hier haben wir also auch eine Figur, die - wie Uli im Klassenzimmer-Film von 2009 - Leichtigkeit empfindet, zu schweben und zu fliegen meint. Und auch hier ist dies das Resultat einer großen Selbstüberwindung. Jedoch geht es nicht um einen an sich sinnlosen Akt lebensgefährlicher Tollkühnheit mit dem Ziel sozialer Anerkennung. Vielmehr rettet der Junge furchtlos ein Leben, stellt sich damit gerade gegen die Menge und macht sich mutig zum Außenseiter. Hier ist jemand, der - im Sinne Ulis - zeigt, wer er ist, und der sich nicht verbiegen lässt, bzw. sich wieder geradebiegt. Hier erweist sich ein anderer, vielleicht wahrer Mut. 320 Klaus Maiwald 6 Das Motiv der ungleichen Geschwister tritt schon in der Geschichte von Kain und Abel auf, ebenso in Schillers Drama Die Räuber (1781) oder in dem Jugendroman Simple (2004) von Marie-Aude Murail. Weitere Belegtexte wären das Melodram East of Eden (Kazan 1955), die Märchen vom Dummling, vom Aschenbrödel und von Goldmarie und Pechmarie; Tennessee Williams’ Theaterstück A Streetcar Namend Desire (1945) (verfilmt 1951 von Kazan); Astrid Lindgrens Roman Bröderna Lejonhjärta (1973); die Zwillingskomödie Twins (Reitman 1988). Auch die ungleichen Geschwister sind offenbar eine allgemein menschliche, transmedial wandernde und variierte Grundsitu‐ ation. Fassen wir zusammen: Die Mutprobe ist gerade für Heranwachsende eine anth‐ ropologisch bedeutsame Grundsituation. Das Motiv tritt in unserem Textkorpus Fliegendes Klassenzimmer - Vorstadtkrokodile - Taubenjagd in verschiedenen inhaltlichen und medialen Varianten auf. Dabei wird das Motiv inhaltlich (auf der Ebene der histoire) auch durch das jeweilige Zeicheninventar (auf der Ebene des discours) formatiert (s. Kurwinkel & Jakobi in diesem Band, S. 17). An den un‐ terschiedlichen Mutproben-Modellen lässt sich ergründen, was Mutproben sein können und wozu sie absolviert werden; es lässt sich zeigen, dass Mut abhängig von wandelbaren Normen und Werten unterschiedlich definiert werden kann (z. B. nicht nur als militärische, sondern auch als Zivilcourage); und natürlich lässt sich die (bevorzugt von Jungen inszenierte) Mutprobe auch grundsätzlich hinterfragen. Bei alledem sind auch medienspezifische Möglichkeiten in der Gestaltung eines Motivs zu erhellen. Dies kann elementar damit beginnen, dass ein Roman-Erzähler sagen kann, dass jemand „mit sich und der Welt zufrieden“ ist (Kästner 2002: 126), während ein Film so etwas zeigen muss (bzw. sollte); oder dass ein Film durch Musik ein Geschehen zusätzlich mit Bedeutung aufladen kann. Was in dem Textkorpus auch erfahrbar wird, ist der Zusammenhang von Texten im medienkulturellen Geflecht der Literatur. Mit dem analysierten Textkorpus können in der 6. bis 7. Jahrgangsstufe die Stufen 1 bis 3 der oben skizzierten Kompetenzprogression erreicht werden. Ab Stufe 4 müssten weitere Motive ins Spiel kommen - ein ergiebiger Kandidat wäre meines Erachtens das Motiv der ungleichen Geschwister. 6 Fazit Motive betreffen menschliche Grundsituationen, die in literarischen Texten je nach Entstehungskontext und Medialität verschiedenartig entfaltet werden können - und interpretiert werden müssen. Wie unsere Beispiele gezeigt haben, erfordert der Blick auf Motive a) eine wenigstens medienvergleichende, wenn nicht transmediale Perspektive b) über den hochliterarischen Kanon hinaus. Eine „Didaktik des literarischen Motivs“ als Großkonzept propagieren zu wollen 321 Transmediale Motivik als literaturdidaktische Kategorie schiene mir überzogen. Dennoch bergen literarische Motive ein Lernpotenzial, für das sich durchaus verschiedene Komplexitätsstufen systematisieren lassen. Die Erschließung von Motiven aktiviert subjektorientierte Erträge des Umgangs mit Literatur und bedarf doch stets gegenstandsorientierter Klärungen. In dieser Kristallisation subjekt- und zugleich gegenstandsorientierten Textverstehens liegt ihr besonderer Gewinn für eine Persönlichkeitsbildung an literarischen (Wirklichkeits-)Modellen. Literaturverzeichnis Filmografie Das fliegende Klassenzimmer (D 1954). Regie: Kurt Hoffmann. Nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner [1933]. (DVD) Das fliegende Klassenzimmer (D 2003). Regie: Tomy Wigand. Nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner [1933]. (DVD) Die Brücke (D 1959). Regie: Bernhard Wicki. Nach dem gleichnamigen Roman von Gregor Dorfmeister [1958]. (DVD) Vorstadtkrokodile (D 1977). Regie: Wolfgang Becker. Nach dem gleichnamigen Roman von Max v. d. Grün [1976]. (DVD) Vorstadtkrokodile (D 2009). Regie: Christian Ditter. Nach dem gleichnamigen Roman von Max v. d. Grün [1976]. (DVD) Primärliteratur Grün, Max v. d. (2006). 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José Fernández Pérez Justus-Liebig-Universität Gießen Otto-Behaghel-Str. 10 B Raum B 215 35 394 Gießen Prof. Dr. Carsten Gansel Justus-Liebig-Universität Gießen Otto-Behaghel-Straße 10 B Raum 208 35 394 Gießen Julia Goldlust Stiftung Universität Hildesheim Institut für deutsche Sprache und Literatur Raum LN 312 Lübecker Straße 3 31 141 Hildesheim Dr. Elisabeth Hollerweger Universität Bremen Fachbereich 12: Erziehungs- und Bildungswissenschaften Raum GW 2, B 2.140 Universitäts-Boulevard 11 / 13 28 359 Bremen Dr. Stefanie Jakobi Universität Bremen Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften Raum GW 2, B 3.690 Bibliothekstraße 1 28 359 Bremen Dr. Kirsten Kumschlies Universität Trier FB II Germanistik Grundschuldidaktik Deutsch Raum A 420 Universitätsring 15 54 286 Trier Prof. Dr. Tobias Kurwinkel Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Campus Essen; Raum R11 T06 D41 Universitätsstraße 12 45 141 Essen www.kurwinkel.de 326 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Christine Lubkoll Friedrich-Alexander-Universität Department Germanistik und Komparatistik Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur mit historischem Schwerpunkt Raum 408 Bismartckstr. 1 B 91 054 Erlangen Prof. Dr. Klaus Maiwald Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Universität Augsburg Universitätsstr. 10 86 159 Augsburg Sophie Müller Bremen Dr. Volker Pietsch Institut für deutsche Sprache und Literatur Stiftung Universität Hildesheim Universitätsplatz 1 31 141 Hildesheim Mag. Peter Rinnerthaler Wien Dr. Philipp Schmerheim Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften Fachbereich „Sprache, Literatur, Medien I“ ( SLM I) Institut für Germanistik Überseering 35, Postfach #15 22 297 Hamburg www.schmerheim.de Dr. Anna Stemmann Universität Bremen Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften Raum GW 2, B 3.260 Universitäts-Boulevard 13 28 359 Bremen 327 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Sabrina Tietjen (M. Ed.) Universität Bremen Fachbreicht 12: Erziehungs- und Bildungswissenschaften Raum GW 2, A 2.220 Universitäts-Boulevard 11 / 13 28 359 Bremen Melanie Trolley (M. A.) Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Campus Essen; Raum R11 T06 C29 Universitätsstraße 12 45 141 Essen 328 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Literarische Motive - vom Motiv des Schwimmbads über das Schwert bis hin zum Spiel - sind zentrale Bausteine in Kinder- und Jugendmedien und somit Gegenstand der literatur- und medienwissenschaftlichen wie der literaturdidaktischen Betrachtung. Trotz dieser Bedeutung fehlte bis dato ein motivanalytisches Modell, das zum einen für die literaturwissenschaftliche Analysepraxis tragfähig, zum anderen für die didaktische Auseinandersetzung geeignet ist. Dieser Band stellt ein solches Modell vor, leitet dieses von einem trennscharfen und operationalisierbaren Motivbegriff her und verankert es in aktuellen literatur- und medientheoretischen Diskursen. Weiterhin etabliert der Band eine Typologie, die es ermöglicht, Motive und ihre konstellativen Verbindungen abzubilden. Exemplarisch werden Begriff, Typologie und Modell in Einzelanalysen relevanter Motive zur Anwendung gebracht. Der Band versteht sich damit als Beitrag zu einer theoriegeleiteten Motivforschung. ISBN 978-3-7720-8708-0 Kurwinkel / Jakobi (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Tobias Kurwinkel / Stefanie Jakobi (Hrsg.) Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch