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Identitätskonzepte in der Literatur

2021
978-3-7720-5722-9
A. Francke Verlag 
Hermann Gätje
Sikander Singh
10.24053/9783772057229-0

Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig ideologisch vereinnahmt und politisch instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund perspektivieren die Beiträge des Bandes den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Literatur ist seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen. Dies gilt vor allem für Literatur mit regionalem Bezug, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z. B. der Heimatliteratur, entwickelt haben. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Funktion der Konstitution und Stiftung von Identität durch die Literatur. Sie schlagen einen Bogen von den Anfängen eines Identitätsdiskurses bis in die unmittelbare Gegenwart und betrachten Texte mit der Perspektive auf bestimmte Autor*innen, Regionen, Ethnien oder Themenkomplexe.

HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) Identitätskonzepte in der Literatur 06 Identitätskonzepte in der Literatur Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 6 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Identitätskonzepte in der Literatur © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8722-6 (Print) ISBN 978-3-7720-5722-9 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0162-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 13 25 37 51 65 79 93 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Jörg Krappmann Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabienne Gilbertz Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Parr Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der Ruhrgebietsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . Gertrude Cepl-Kaufmann Das Institut „Moderne im Rheinland“ - Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer „Rhetorik der Region“ . . . . . . . . . . . . . . . . Jasmin Grande Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien - Mit einem Fokus auf die Matrix des An-Instituts „Moderne im Rheinland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gerhard Sauder Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikola Keller Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 155 167 179 195 209 229 241 253 265 Michael Steinmetz und Dominik Zink Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz. Die Rolle von Johann Gottlieb Fichtes früher Wissenschaftslehre für Goethes Faust I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahel Stennes Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus bei Berthold Auerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Heidemann Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern: Identitätskrisen in Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik) und Stifters Der Condor . . . . . . . . Lilli Hölzlhammer „Kehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde“ - Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Di Noi Heine und die Folgen: Die gebrochene jüdische Identität im magischen Medium der Sprache. Judentum als Medium der Moderne bei Kafka und Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corinna Schlicht Zur Problematik kulturbezogener Identität am Beispiel von Clara Viebigs Roman Die Wacht am Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Waßmer Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein . . . . . . . . . . Annette Kliewer Deutsche, Französin, Elsässerin, Lothringerin - oder einfach nur Frau? - Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich in Antwort auf die „Kriege der Männer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne-Rose Meyer Identität und Identifizierung national - sozial - global: Ausweise und Pässe in Texten von Anna Seghers - Saul Friedländer - Louis Begley . . . . . . . . . . 6 Inhalt 277 289 305 319 Clemens Fuhrbach Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ . . Nils Lehnert Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Wiegmann „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart - Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 Wie Gesellschaften sich verändern. Andreas Reckwitz im Gespräch mit Thorsten Jantschek. Deutschlandfunk Kultur 8. August 2020. URL: https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ kultu rsoziologe-andreas-reckwitz-wie-gesellschaften-sich.990.de.html? dram: article_id=482007 (zuletzt abgerufen am 9. Oktober 2020). Vorwort Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig vereinnahmt und (tages)politisch instrumentalisiert. Die daraus abgeleitete „Identitätspolitik“ gilt vielen mittlerweile als Chiffre für eine gesellschaftliche Polarisierung und argumentative Kompromisslosigkeit. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat sich in zahlreichen Schriften sachlich mit den gegenwärtigen sozialen Phänomenen beschäftigt, die unter dem Zeichen der Identitätsdebatte stehen: Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY. Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität. 1 Die Beiträge des vorliegenden Bandes perspektivieren vor diesem Hintergrund den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeu‐ tungsdimensionen. Der Fokus auf die Literatur ist hierfür in besonderer Weise geeignet, weil dieser seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen ist. Vor allem der Literatur mit regionalem Bezug kommt in diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z. B. im Hinblick auf das Genre Heimatliteratur, entwickelt haben. Die aktuelle Literaturproduktion belegt, dass die politische Debatte nicht ohne Spuren geblieben ist. Unter den Neuerscheinungen finden sich signifikant häufig Texte, die sich thematisch auf identitätsstiftende Fak‐ toren wie Geschlecht, Generation, Ethnie, soziale Schicht oder geographische Herkunft fokussieren. Indem die Funktion der Konstitution wie der Stiftung von Identität durch die Literatur vergleichend und epochenübergreifend betrachtet wird, werden signi‐ fikante Aspekte und Tendenzen aktueller Diskussionen hinterfragt und vertieft: Wie verhalten sich regionale Identitätskonzepte mit geschlechts-, gruppen- oder generationsbezogenen Entwürfen, die sich in der Literatur nachweisen lassen? Im Hinblick auf die regionale Referenz stellt sich weitergehend die Frage, ob sich gleichermaßen antagonische und analoge Identitätsentwürfe wie „Europäer: in“ oder „Weltbürger: in“ mit der zunehmenden Globalisierung und kulturellen Vernetzung herausgebildet haben und sich in ein literarisches Programm fassen lassen? Weil bereits der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent ist, diskutieren die Beiträge des Bandes darüber hinaus Konzeptualisierungen und Diskursfelder von Identität im Werk einzelner Autorinnen und Autoren. Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Lite‐ raturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im November 2019 nach Saarbrücken eingeladen hat. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank. Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und - nicht zuletzt - den Mitarbeiterinnen und Mitarbei‐ tern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz. Saarbrücken, im Sommer 2021 Hermann Gätje und Sikander Singh 10 Vorwort I. 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts Unknown Worlds - Other Societies - New People. Transcultural Processes in Austrian Future Fiction of the Inter-War-Period, das von der Grantova Agentura der tschechischen Republik (GAČR, Registernummer 20-02986S) gefördert wird. 2 Vgl. das Sonderheft der Zeitschrift für Medienwissenschaft ( Jahrgang 4, 2012, Heft 6, Nr. 1) zum Tode von Kittler, in dem die Habilitationsgutachten veröffentlicht und in den zeitgenössischen Wissenschaftskontext eingeordnet wurden. 3 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800. 1900. München 2003 (Vierte, vollständig überarbeitete Neuauflage), S. 503. Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma 1 Jörg Krappmann, Olomouc Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanaly‐ tisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück. 2 In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart - wie nicht anders zu erwarten - Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümie‐ renden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“. 3 Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktions‐ verhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist 4 Vgl. Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/ Taunus 1986; Renate von Heydebrand: Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945. Ein literaturhistorischer Modell-Entwurf. Münster 1983; Jens Stüben: „Re‐ gionale Literaturen“ und „Literatur in der Region“. Zum Gegenstandsbereich einer Geschichte der deutschen Literatur in den Kulturlandschaften Ostmitteleuropas. In: Regionalität als Kategorie der Sprach- und Kulturlandschaft. Hg. v. Instytut Filologii Germańskiej der Universität Opolski. Frankfurt am Main 2002, S. 51-75. 5 Der Begriff „Böhmische Länder“ schließt an die Terminologie der tschechischen Historiographie an. Mit der Pluralform soll sichtbar gemacht werden, dass sich der um‐ gangssprachlich häufig einfach als Böhmen beschriebene Raum aus drei unterschied‐ lichen kulturellen Einheiten zusammensetzte: Das Gebiet des ehemaligen Königreichs Böhmen, das die westliche Hälfte des heutigen Staatsgebietes der Tschechischen Republik umfasst; die Markgrafschaft Mähren im Osten des Landes, sowie im Nordosten der Teil Schlesiens, der nach den Schlesischen Kriegen im 18. Jahrhundert Bestandteil der Habsburger Monarchie blieb. 6 Manfred Weinberg: Region, Heimat, Provinz und Literatur(wissenschaft). In: Sabine Voda Eschgfäller / Milan Horňáček (Hrsg.): Regionalforschung zur Literatur der Mo‐ derne. Olomouc 2012, S. 52. ungelesen blieben. 4 In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung. Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt, 5 in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturre‐ gion ihren Ausgangspunkt nahmen, 6 ist zum einen der Dichotomisierung zwi‐ schen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgren‐ zungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch 14 Jörg Krappmann 7 Zur genaueren Rekonstruktion vergleiche den von den vier Herausgebern ver‐ fassten Einleitungsteil Literatur- und Forschungsgeschichte einer Region in: Peter Becher / Steffen Höhne / Jörg Krappmann / Manfred Weinberg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart 2017, S. 2-27. 8 Hildegard Kernmayer: Wiener Post-Moderne oder Sehnsucht nach einer großen Er‐ zählung? „Identitätskrise“ als Signatur einer Epoche. In: dies. (Hrsg.): Zerfall und Rekonstruktion. Wien 1999, S. 20. 9 Strobl wurde dann auch der erste Vorsitzende der Reichsschrifttumskammer für Österreich. Ein Amt, das er trotz aller progagandistischen Äußerungen auch dazu ver‐ wendete, um (zum Teil jüdischen) Schriftstellerkollegen in Problemlagen beizustehen. Zudem wurden weite Teile seines schriftstellerischen Oeuvres von den zuständigen Parteigremien als nicht linienkonform eingestuft. Eine an Archivquellen erarbeitete Übersicht zu Strobls Tätigkeit im Dritten Reich findet sich in Marta Maschke: Der über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissen‐ schaft verfügt. 7 Zum anderen war diese Region von jeher von (nicht nur) kulturellen Aus‐ tauschprozessen geprägt. Das liegt zum einen an der interethnischen Konstel‐ lation der Bevölkerung, die neben kleineren Minderheiten auf einem Zusam‐ menleben von Deutschen, Tschechen und Juden beruht. Zum anderen auf einer Mittellage zwischen den lange Zeit preußisch dominierten deutschen Gebieten auf der einen und der Habsburger Monarchie auf der anderen Seite, wobei sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine kulturelle Eigenständigkeit artikulierte. Durch den Aufstieg des Nationalgedankens, der sich am Ende des 19. Jahr‐ hunderts zum hegemonialen Dispositiv des Nationalismus entwickelt hatte, wurden die soziopolitischen Verhältnisse prekär, da eindeutige nationalkultu‐ relle Positionierungen präferiert und landespatriotische oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu. 8 Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf Karl Hans Strobl (1877-1946) ist heute - wenn überhaupt - noch aus zwei Gründen bekannt. Einerseits als früher Vertreter einer deutschsprachigen lite‐ rarischen Phantastik (Die Eingebungen des Arphaxat 1904; Eleagabal Kuperus 1910), andererseits wegen seiner späteren Verstrickung in den Nationalsozia‐ lismus, dem er als auslandsdeutscher Vorzeigeautor galt. 9 Der Beginn seiner 15 Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region deutsch-tschechische Nationalitätenkonflikt in Böhmen und Mähren im Spiegel der Romane von Karl Hans Strobl. Berlin 2003. 10 Für eine eingehendere Analyse des Romans über den hier gesetzten thematischen Schwerpunkt hinaus vgl. Jörg Krappmann: Aus dem Großleben einer Kleinstadt. Karl Hans Strobls Roman Der Fenriswolf. In: brücken. Neue Folge 18/ 1-2 (2010), S. 97-110. schriftstellerischen Laufbahn sah ihn aber - für die österreichische Literatur ungewöhnlich - als engagierten Vertreter einer spezifisch deutschen Moderne unter naturalistischem Vorzeichen. Zu seinen ersten Publikationen zählten Essays über das Kunstprinzip von Arno Holz oder die Integration einer buddhis‐ tischen Weltanschauung in die lebensreformerisch geprägte Modernedebatte. Aus dieser Frühzeit stammt auch sein 1903 erschienener autobiographischer Schlüsselroman Der Fenriswolf, in dem Strobl vier Schriftstellerexistenzen skizzierte und damit vier Lebenswege aufzeigte, wie in einer Kleinstadt der böhmisch-mährischen Grenzregion, in der unschwer Strobls Geburtsstadt Iglau/ Jihlava zu erkennen ist, ein Leben als moderner Künstler möglich werden konnte. Die einzelnen Schriftsteller konnten inzwischen identifiziert werden, so dass diesen Konzeptionen zu einem gewissen Grad empirische Authentizität zugesprochen werden kann. 10 Ein aus Wien zugezogener Autor fungiert zu Beginn der Handlung als Katalysator für die beiden ortsansässigen Schriftsteller. Zu dritt gründen sie den titelgebenden Dichterbund Fenriswolf - der Name entstammt der nordischen Mythologie - auf dessen Zusammenkünften sie thematische Versatzstücke der Moderne um 1900 in die städtische Gesellschaft tragen. Die Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Jens Peter Jacobsen werden diskutiert, die zeitgenössische Kunst und Musik sowie die Problematik des Eros, aber auch die Frauenemanzipation und die sozialen Konsequenzen des neuen darwinistischen Weltbildes. Dadurch geraten sie rasch in Konflikt mit dem Pragmatismus der Stadtbürger, die noch den Werten und Regeln der vormodernen Gesell‐ schaftsformation verpflichtet sind. Alle drei Autoren werden als Außenseiter behandelt, da sie Identitätskonstruktionen anstreben, die zunächst nicht mit der bürgerlichen Norm korrelieren. Im Verlaufe der Romanhandlung ergeben sich daraus wiederum zunächst drei differente Identitätsstrategien, die ich, um von der allzu kleinteiligen Figurenebene des Regionalromans zu abstrahieren, als Modellautoren anspreche: Modellfall 1 beharrt auf der Höherwertigkeit seiner Künstlerexistenz. Er setzt seine moderne Weltanschauung absolut und versteht seinen Weg als Exempel, dem die Bürger folgen sollen. Er wird dadurch vom Außenseiter zum Ausgegrenzten. Trotz eines (einmaligen) Erfolgs in der Fremde bleibt ihm die 16 Jörg Krappmann 11 Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die Herausforderung der bürgerlichen Kultur durch die künstlerische Avantgarde. Zum Verhältnis von Kultur und Politik im Wilhelmini‐ schen Deutschland. In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 424-444. Die Bürger‐ schreck-Attitüde im Selbstverständnis der zeitgenössischen Akteure wird auch nicht durch systemtheoretische Ansätze in Frage gestellt, die eher für einen kontinuierlichen Entstehungsprozess der Avantgarde aus dem (Bildungs-)bürgertum optieren. Vgl. u. a. Georg Jäger: Die Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. In Michael Titzmann (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 221- 244. 12 Christa Wolf / Gerhard Wolf: Ins Ungebundene geht eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa, Essays. Berlin / Weimar 1985, S. 309. lokale Anerkennung versagt. Die Romanfigur stirbt schließlich vereinsamt und zeigt so überdeutlich das Scheitern dieses Weges an. Modellfall 2 ist die autobiographische Referenzfigur von Strobl. Er tritt nicht offensiv als „Herold einer neuen Zeit“ auf wie Modellfall 1, verkriecht sich aber auch nicht in den Elfenbeinturm, sondern erreicht in individuellen Austauschbeziehungen und kulturellen Verhandlungen eine Koexistenz mit dem Bürgertum. Da er die bürgerlichen Lebensentwürfe akzeptiert, wird ihm zugestanden, seine abweichende Identität als Künstler zu verteidigen, falls er sie in Frage gestellt sieht. Dagegen vertritt Modellautor 1 ein emphatisches Künstlerverständnis, das bereits auf die Avantgarde vorausdeutet. Zwar sind die avantgardistischen Bewegungen - noch dazu in der Frühphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht heterogen, aber doch in dem Ziel verbunden, gegen das traditionelle Kunstverständnis des Bildungsbürgertums aufzubegehren. 11 Diese soziale Schicht fällt aber in Strobls Modellkleinstadt aus, womit der Romantext die realen Verhältnisse regionaler Gesellschaften in den Böhmischen Ländern hyperbolisiert. In Bezug auf Karoline von Günderrode, also in gänzlich anderem Zusammenhang prägte Christa Wolf die Formel von einer „Avantgarde im Hinterland“, 12 deren Bildlichkeit aber auch auf die hier beschriebene Situation angewendet werden kann. Während Modellautor 1 sich im ursprünglichen Wortsinn von Avant-garde als Vorhut der Moderne in der Provinz sieht, akzeptiert Modellautor 2 die mangelhaften Voraussetzungen für eine offene Propagierung moderner Ideen und schafft sich neben seiner Künstleridentität auch eine stabile bürgerliche Identität, wodurch er in der Lage ist, die eigenen Ansprüche der Zusammensetzung unterschiedlicher Rezipientengruppen anzu‐ passen. Modellfall 3 ist ein aus der Metropole, in diesem Fall Wien, aufgrund einer Versetzung gleichsam von Amtswegen in die Kleinstadt geratener Dichter. Die Genese zum Künstler erfolgte hier vor der regionalen Fixierung und wird als solche nicht angezweifelt. Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung 17 Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region 13 Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf. Ein Provinzroman. Leipzig / Berlin 1903, S. 73. 14 Vgl. u. a. Alexandra Millner: Transdifferenz. Zur literaturwissenschaftlichen Anwen‐ dung soziologisch-kulturwissenschaftlicher Konzepte auf deutschsprachige Texte von Migrantinnen Österreich-Ungarns. In: dies. / Katalin Teller (Hrsg.): Transdifferenz und Transkulturalität. Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Öster‐ reich-Ungarns. Bielefeld 2018, S. 25-48. kommen somit zur Deckung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen zur Mo‐ dellierung einer künstlerischen Identität zeigt folgender Gesprächsausschnitt, in dem bereits die Anrede eine vorab vorgenommenen Höherwertung des Wiener Autors impliziert: „Bei Ihnen, Herr Doktor, da is was andres … Sie sind ein Dichter … Aber der Klappenbach [d. i. der gescheiterte Modelfall 1], den haben wir doch all Tag g’sehn … und wissen, was er macht. Woher soll er’s denn haben.“ 13 Auf den Wert von interurbanen Migrationsbewegungen für die Literatur und Kultur der Habsburger Monarchie hat zuletzt Alexandra Millner in ihren Studien zu Transdifferenz und Transkulturalität hingewiesen und man könnte auch hinsichtlich Modellfall 3 von einer positiven Integration durch Migration sprechen. 14 Allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens macht der Wiener Dichter, der eine Avantgarde im Hinterland grundsätzlich für ein unsinniges Unterfangen hält, keinen Hehl daraus, dass er die Stadt bald möglichst wieder verlassen wird. Sein manchmal exzentrisches Verhalten wird deswegen als vorübergehender Unterhaltungseffekt für die städtische Gesellschaft verbucht, da eine dauerhafte und dann möglicherweise problematische Integration in das ortsansässige Bürgertum von beiden Seiten nicht angestrebt wird. Zwei‐ tens liefert die Romanhandlung auch einen Modellfall für eine gescheiterte Migration. Der Finanzkonzipist Neumann entpuppt sich nämlich im Laufe der Handlung ebenfalls als Schriftsteller, der versuchte, in Wien Fuß zu fassen, aber sich zwischen Literatencafés und Salonkultur in der Kulturtopographie der Habsburgermetropole nicht etablieren konnte. Nach der Rückkehr des Erfolglosen in seine Heimatstadt erlauben ihm die Schranken des bürgerlichen Wertekanons nicht einmal mehr den Anschluss an den Fenriswolf, sondern lediglich noch das Verfassen von anzüglichen Sketchen für den als Laientheater getarnten Männerverein, der an der künstlerischen Betätigung vor allem die sich anschließenden Saufgelage schätzt. Im Gegensatz zum tödlichen Ende von Modellautor 1 stirbt er zwar nur den geistigen Tod als verhinderter Schriftsteller, aber die daraus hervorgehende individuelle Tragik wird in zwei längeren monologischen Passagen eindringlich aufgezeigt. An dieser Stelle muss die Abstraktionsebene kurz in Richtung regionallite‐ rarischer Kleinteiligkeit verlassen werden. Während Modellautor 1 in Josef 18 Jörg Krappmann 15 Erst aus einer gewissen Altersnostalgie heraus kann Strobl diese letzte Aufenthalts‐ zeit in der Heimatstadt Iglau als „Glück im Winkel“ beschreiben. Karl Hans Strobl: Glückhafte Wanderschaft. Heitere Lebensmitte. Der Erinnerungen zweiter Band. Bud‐ weis / Leipzig 1942, S. 43. 16 Vgl. Heinz Abels / Alexandra König. Sozialisation. Wiesbaden 2010, S. 160-163. 17 Jürgen Belgrad: Identität als Spiel. Eine Kritik des Identitätskonzepts von Jürgen Habermas. Opladen 1992, S. 70. Trübswasser (1867-1902), Modellautor 3 in Egid Filek von Wittinghausen (1874-1949) und Modellautor 2 in Strobl selbst ihre kaum verschlüsselten Vorbilder klar erkennen lassen, scheint Modellautor 4 keine reale Grundlage zu besitzen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Finanzkonzipisten Neumann im Text und Karl Hans Strobl, der kurz vor Abfassung des Romans in derselben Rangstufe in die Gebührenbemessungsstelle der Finanzverwaltung in der Mährischen Landeshauptstadt Brünn eingetreten war. In gewisser Weise deutet Strobl also aus rückschauender Perspektive und räumlicher Trennung vom Handlungsgeschehen die Instabilität seines Identitätskonstruktes an, das durchaus die Gefahr zum Scheitern in sich getragen hätte. 15 Aus Argumentationsgründen kann die narrative Struktur des Romans hier nicht näher dargestellt werden. Ebenfalls nur angedeutet werden kann das erhebliche Potential an Selbstreferentialität des Textes, das u. a. dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Modellautor 1 sich auch durch das Abfassen eines investigativ-polemischen Stadtromans endgültig mit der Bevölkerung vor Ort überwirft. Er schreibt also als Figur des Romans von Strobl genau den Schlüs‐ selroman selbst, in dem er als Figur auftritt. Festzuhalten bleibt aber, dass die in Strobls Roman vorgeschlagene Lösungsstrategie für konkurrierende Identitätsentwürfe nicht in einer Verschmelzung zu einer homogenen Identität besteht, sondern in einer akkumulativen Aneignung und Aufrechterhaltung mehrerer Identitäten. Die dialogischen Auseinandersetzungen im Fenriswolf sind vergleichbar mit den prozessualen Strukturen der Identitätstheorie von Habermas, der in kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Rollentheorie das von Erik Erikson erstellte psychoanalytische Modell in Hinsicht auf eine Theorie der Sozialisation und der Moralentwicklung präzisierte. 16 Nach Habermas gründet die Kompetenz zur Identitätsbildung darin, „auch unter Belastungssituationen Krisen der Ich-Struktur durch Umstrukturierung zu lösen und die Ichorgani‐ sation auf einer höheren Ebene wieder zu stabilisieren“. 17 Das Ziel ist für Habermas der Aufbau einer konsistenten und kontinuierlichen Identität, so dass eine situative Segmentierung bzw. eine „Abschnürung der unvereinbaren 19 Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region 18 Jürgen Habermas: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität aus‐ bilden? In: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt am Main 1976, S. 93. Lebensbereiche“ lediglich als letzter Ausweg akzeptiert werden kann. 18 In Strobls regionaler Sichtweise erscheint aber gerade die Segmentierung als erfolgversprechendste Strategie, weil sie auf die Zielvorstellung einer konzisen Identität verzichtet und die Segmentierung als Akkumulation begreift, die nicht Einschränkung auferlegt, sondern Variabilität verspricht. Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass in Strobls Modell die Künstleridentitäten zwar als krisenhaft wahrgenommen werden können (Modellautor 1, teilweise Mo‐ dellautor 4), es aber die Krise und deren Überwindung nicht voraussetzt. Das - hier freilich nur angedeutete - Modell einer Identitäts-Akkumulierung schwächt sogar die Gefahr identitätskritischer Kollisionen mit Normsystemen anderer sozialer Gruppen ab, indem Mehrfachidentitäten angehäuft werden können, die zu einer Kontrolle der identitätsbezogenen Selbst- und Fremdbilder durch variable Steuerung der eingesetzten Identitätskonstruktion befähigen. Letzteres ist notwendig, da anhand regionaler Kontexte sichtbar wird, dass die Identitätszuschreibungen durch Andere maßgeblich den individuellen Iden‐ titätsbildungsprozess beeinflussen, wenn nicht sogar bestimmen. Das kann noch verdeutlicht werden anhand der Schriftstellerin Marie Knitschke, die im Gegensatz zu den angeführten vier männlichen Modellau‐ toren Strobls in realiter noch die Vorbehalte gegenüber weiblichen Akteuren im Kulturbetrieb Ende des 19. Jahrhunderts überwinden musste. In Erlebtes und Erdachtes (1892) publizierte sie Skizzen und Aphorismen, die in ihrer Modernität weit über das Maß an Exaltiertheit hinausgingen, welches die Einwohner in der Kleinstadt Mährisch-Schönberg, in der sie als Musiklehrerin arbeitete, zu akzeptieren bereit waren. Sie erschrieb sich ihre schriftstellerische Freiheit, indem sie - ähnlich dem vierten Modellautor Strobls - Salonstücke für den örtlichen Damenverein und kleine Dramen sowie Zeitungsartikel zur Heimatgeschichte der Stadt verfasste. Ihrer lokalen Gebundenheit entfloh sie in umfangreichen Briefwechseln mit Persönlichkeiten der modernen Kulturszene: u. a. Gerhart Hauptmann, Anton Bruckner und Edvard Grieg, dem auch ihre Aphorismenbände gewidmet sind. Knitschkes Biographie und Strobls autobiographischer Roman belegen, dass sich künstlerische Ambitionen außerhalb der wenigen anerkannten modernen Metropolen wie Paris, London, Berlin und bereits mit Abstrichen Wien, zu‐ nächst kompensatorisch mit den konkreten Erwartungen des soziokulturellen Umfelds auseinandersetzen mussten. In den Böhmischen Ländern war diese „Anpassungsleistung“ für deutschsprachige Autoren umso drängender, da auch 20 Jörg Krappmann 19 Vgl. Manfred Engel (Hrsg.): Rilke Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2013. Die Verortung Rilkes in der Prager Stadtkultur erfolgt nur unzusammenhängend in den jeweiligen Kapiteln zum Frühwerk. 20 Vgl. Kurt Krolop: Maria René, „für eine Vertreterin des schönen Geschlechtes ange‐ sehen“. Rilkes Anfänge im nordböhmischen Regionalkontext. In: ders.: Studien zur Prager deutschen Literatur. Wien 2005, S. 16f. die Hauptstadt Prag um 1900 keineswegs großstädtische Bedingungen aufwies. Zum Vergleich: Um 1900 lebten in Prag ca. 10.000 nichtjüdische Deutsche und damit etwas weniger als in Mährisch-Schönberg, dem Wohnort Knitschkes. Dazu kamen noch 11.000 Juden, die sich in den amtlichen Zählungen zur deut‐ schen Umgangssprache bekannten, aber auch dadurch werden nicht die 25.000 Einwohner der Kreisstadt Iglau erreicht, in der Strobls Roman spielt. Obwohl der Kulturbetrieb in Prag stärker institutionalisiert und freilich auch vielfältiger war, lassen sich deshalb innerhalb der Prager Literatur dieselben Mechanismen nachweisen, wie sie Strobl paradigmatisch für die Region Mähren beschreibt und selbstverständlich treten auch die vier Modellautoren in Erscheinung. Natürlich fehlen in der Literatur aus Prag auch nicht die heimatgeschichtlichen Referenzen, mit denen Marie Knitschke ihr modernes Schreiben rechtfertigte: von Rainer Maria Rilkes urbane Landschaft und Bevölkerung gleichsam verklä‐ renden Larenopfern und Franz Kafkas Erzählung Das Stadtwappen über Oskar Wieners Alt-Prager Guckkasten und die fiktionalen Stadtreportagen Egon Erwin Kischs bis zu den Romanen Der Stadtpark von Hermann Grab oder Der Golem von Gustav Meyrink. Auch die Autoren Prags unterliegen also den regionalen Identitätsmodellen, aber sie werden - und das ist die Crux, mit der regionalorientierte Ansätze immer noch zu kämpfen haben - von der Literaturwissenschaft nicht ebenso behandelt. Einerseits wird die regionale Verortung bei den Exponenten der sogenannten Prager deutschen Literatur gerne verschwiegen. So bietet das bei Metzler erschienene Rilke-Handbuch als kulturräumliche Kontakte zwar Bei‐ träge zu u. a. Ägypten, Italien, Skandinavien und Spanien an, aber keinen zu den Böhmischen Ländern. 19 Das mag vordergründig damit zu rechtfertigen sein, dass Rilke selbst die frühen Prager Arbeiten aus den entstehenden Werkausgaben redigierte, weil sie nicht den Blick auf die späteren Leistungen trüben sollten. Allerdings bezieht Rilke diese kritische Haltung nur auf die Texte, nicht auf die eigene Stellung im soziokulturellen Kontext der Böhmischen Länder. Seine Un‐ terstützungsanträge bei der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen zwischen 1899 und 1913 erweisen ihn als ebenso interessierten wie kundigen Teilnehmer an den regionalen Debatten. 20 Wird bei Autoren wie Rilke also der Anteil regionaler Phänomene am Prozess der 21 Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region 21 Vgl. Jörg Krappmann: Interkulturelle Einsicht als Bewältigung der Lebenskrise. Ernst Wolfgang Freissler zwischen Joseph Conrad und Ingeborg Bachmann. In: Milan Hor‐ ňáček / Sabine Eschgfäller Voda (Hrsg.): Beiträge zur deutschmährischen Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit. Olomouc 2013, S. 81-105. 22 Vgl. Jan Budňák: Selbstverortungen innerhalb und außerhalb nationaler Identitäten in Brünner Romanen vor 1914. In: Ingeborg Fiala-Fürst (Hrsg.): Prager deutsche, deutschböhmische und deutschmährische Literatur. Eine Neubestimmung. Olomouc 2014, S. 155-180. Künstlerwerdung ausgeblendet, so wird bei denjenigen, die es nicht in den rezenten Kanon der deutschen Literatur geschafft haben, gerade der Teil der literarischen Arbeit überbetont, mit dem sie sich innerhalb eines regionalen Gefüges in ihrer Künstleridentität legitimierten. So führte beispielsweise der im gleichen Maße erfolgreiche wie belanglose Dorfroman Der Glockenkrieg dazu, dass sein Verfasser Ernst Wolfgang Freissler als provinzieller Heimatliterat eingestuft wurde. Wegen dieser minderen Qualifizierung wird dann erst gar nicht in Erwägung gezogen, dass Freissler in anderen Texten einen komplexen Umgang mit fremdkulturellen Sichtweisen hätte entwickeln können, wie sie kulturwissenschaftliche und postkoloniale Lesarten privilegieren. Während Joseph Conrad, dessen Texte durch die Übersetzungen Freisslers erstmals in den deutschen Sprachraum vermittelt wurden, mit der Erzählung Herz der Finsternis zum Paradeautor kulturwissenschaftlicher Forschung aufstieg, fristen die in manchem vergleichbaren Erzählungen und Romane Freisslers ihr Dasein bis auf weiteres in den Tiefen regionaler Literaturbetrachtung. 21 In beiden Richtungen, die Beispiele könnten unschwer vermehrt werden, wird die akkumulative Identitätszuschreibung missachtet, die ich hier thesen‐ haft und vorerst nur als heuristisches Element vorgestellt habe. Die Fälle sollen zeigen, dass die akkumulative Identitätszuschreibung, die in kulturell eigen‐ ständigen Regionen üblich ist, bisher in den gängigen Forschungsparadigmen nur unzureichend anerkannt wird. Aber sowohl in den literarischen Texten als auch in den Lebenswegen der regionalen Akteure ist eine Reflexion über Identitätsstrategien gegeben. Während also divergierende, ambivalente und nicht valide Überzeugungen und Haltungen in der Forschung nachgerade zur Moderne längst anerkannt sind, besteht noch ein Defizit darin, diese als multiple Identitätsvarianten den jeweiligen literarischen Akteuren auch zuzugestehen. Dass Strobls Texte sich für aktuelle Interpretationsansätze - etwa anhand des Theorieensembles von Judith Butler - eignen, wurde bereits nachgewiesen. 22 So scheint es auch lohnenswert, den Fokus von der im Fenriswolf explizit behandelten Modellierung von Künstleridentitäten hinsichtlich allgemeiner Identitätsbildungsmodelle zu erweitern und zu fragen, ob die narratologisch auratisierten Lebenswege der Modellautoren nicht als itinerative Re-inszenie‐ 22 Jörg Krappmann 23 Aus dieser Perspektive startete Jenny Bauer einen Vergleich zwischen den männlichen Identitätskonstruktionen in Thomas Manns Buddenbrooks mit den weiblichen Konterp‐ arten in dem Roman Aus guter Familie von Gabriele Reuter, die ebenfalls nicht über den Status einer Regionalschriftstellerin hinauskam. Vgl. Jenny Bauer: Geschlechter‐ diskurse um 1900. Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion. Bielefeld 2016. rungen gelesen werden könnten, somit ein respektables Spektrum maskuliner role-models zur Zeit der Jahrhundertwende abgeben würden. 23 Das sei aber einer anderen Studie vorbehalten. Aber schon jetzt gilt: Staubmilben aller regionalen Literaturen, hütet euch! 23 Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region 1 Der vorliegende Beitrag knüpft an die Ergebnisse einer an der Universität Luxemburg entstandenen Dissertation an, die 2019 im Universitätsverlag Winter erschienen ist. Fabienne Gilbertz: Wortproduzenten. Literarische und ökonomische Professionalisierung im Luxemburger Literatursystem der 1960er und 1970er Jahre. Heidelberg 2019 [Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 400]. 2 Vgl. Claude D. Conter: Aspekte der Interkulturalität des literarischen Feldes in Luxem‐ burg. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 119-133, hier S. 119: „Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden Texte auf Luxemburgisch, Deutsch und Französisch, und seit den 1960er Jahren kamen Englisch und die Migrationssprachen Italienisch, Portugiesisch und Spanisch dazu.“ Es sei an dieser Stelle präzisiert, dass Luxemburgisch erst seit 1984 offiziell als Sprache anerkannt ist. 3 Vgl. Jeanne E. Glesener: Le multilinguisme comme caractéristique et défi de la littérature au Luxembourg. In: Heinz Sieburg (Hrsg.): Vielfalt der Sprachen - Varianz der Perspek‐ tiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2013, S. 107-142, hier S. 109. Vgl. zu dieser Fragestellung generell ebd., S. 109-111. Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er Jahre 1 Fabienne Gilbertz, Luxemburg Mehrsprachigkeit ist nicht erst seit den Zeiten der Globalisierung ein wesentli‐ ches Merkmal vieler Literatursysteme; weltweit sind literarische Systeme durch ein Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen geprägt. Das Luxemburger Literatursystem ist keine Ausnahme: Seit seiner Entstehung sind Deutsch, Fran‐ zösisch und Luxemburgisch die am meisten verwendeten Literatursprachen. 2 Dabei ist der Sprachgebrauch jedoch nicht, wie in Belgien, der Schweiz oder anderen mehrsprachigen Literatursystemen Europas, an bestimmte Regionen oder Sprachgemeinschaften gebunden. Daraus ergibt sich nicht nur die wesent‐ liche Frage, ob es sich um mehrere Luxemburger Literaturen oder um eine Literatur in mehreren Sprachen handelt; 3 die Luxemburger Schriftsteller: innen sehen sich darüber hinaus immer wieder dazu veranlasst, ihre Sprachwahl zu motivieren, ja zu rechtfertigen. In den 1980er Jahren erklärte der Autor Georges Hausemer in diesem Zusammenhang: „Die Frage nach der Wahl einer 4 Georges Hausemer: Stiefvaterland, Stiefmuttersprache. Zur Situation der Literatur in Luxemburg. In: das pult. literatur, kunst, kritik 69 (1983), S. 4-9, hier S. 5. 5 Vgl. zur Anwendung von Jérôme Meizoz’ Konzept der postures littéraires auch Gilbertz: Wortproduzenten (Anm. 1), S. 77-85. 6 Vgl. Jeanne E. Glesener: The Separateness of Luxembourgish Literatures revisited. Prolegomenon to a History of Literature in Luxembourg. In: Claude D. Conter (Hrsg.): Fundstücke. Archiv - Forschung - Literatur. Trouvailles. Archives - Recherche - Lettres. Mersch 2014, S. 152-167, hier S. 158. 7 Fernand Fehlen: Die Stellung des Französischen in Luxemburg. Von der Prestigesprache zur Verkehrssprache. In: Heinz Sieburg (Hrsg.): Vielfalt der Sprachen - Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2013, S. 37-79, hier S. 47. 8 Vgl. ebd., S. 47f. 9 Vgl. dazu Heinz Sieburg: Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg. Geschichte und Gegenwart. In: ders. (Hrsg.): Vielfalt der Sprachen - Varianz der Perspektiven. bestimmten Sprache kommt für die meisten luxemburgischen Autoren der Frage nach der Liebe gleich: warum und wieso diese und nicht jene, warum die Blonde und nicht die Brünette, wieso der Bärtige anstatt des Langhaarigen? “ 4 Hausemer zufolge haben jeder Autor und jede Autorin je individuelle Gründe, sich für eine und gegen eine andere Literatursprache zu entscheiden. Dieser Aspekt der literarischen Sprachwahl wird dementsprechend im vorliegenden Beitrag nicht eingehender behandelt. Im Folgenden wird vielmehr diskutiert, inwiefern sich die Sprachwahl auf die Identitätsentwürfe - oder, mit Jérôme Meizoz argumen‐ tiert, auf die textuelle und kontextuelle posture - von Luxemburger Autorinnen und Autoren auswirkt. 5 Im Fokus steht dabei die Frage, ob und wie die in literarischen Texten, aber auch in Interviews, Artikeln und Briefen artikulierten Identitätsentwürfe mit der Wahl der Literatursprache zusammenhängen. Die Mehrsprachigkeit der Luxemburger Gesellschaft, die sich im Literatur‐ system als einem gesellschaftlichen Teilsystem spiegelt, führt zu Reflexionen über die sozialen Funktionen und das künstlerische Potential der verschiedenen Sprachen. 6 So stellt der Soziologe Fernand Fehlen ein „klares Prestigegefälle“ 7 zwischen der französischen und der deutschen Sprache bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fest. Dabei kommen dem Französischen als Sprache der Bourgeoisie nicht nur symbolische Funktionen zu: Indem seine Beherrschung eine Voraussetzung für den Zugang zum höheren Dienst ist, gewinnt das Französische ganz konkrete, soziale Relevanz und wird zur Sprache der gesellschaftlichen Eliten. 8 Das Deutsche hingegen ist als Alphabe‐ tisierungssprache die am besten beherrschte Schriftsprache für einen Großteil der Luxemburger: innen, während das Luxemburgische lange Zeit vor allem als mündliche Alltagssprache diente. 9 Obwohl sich diese Konstellation in 26 Fabienne Gilbertz Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2013, S. 81-106, hier S. 93. 10 Vgl. Glesener: The Separateness (Anm. 6), S. 159. 11 Frank Wilhelm: L’écrivain francophone grand-ducal et ses choix linguistique et culturel. In: Revue belge de philologie et d’histoire 79 (2001), S. 883-906, hier S. 886f. Vgl. auch Jul Christophory: Précis d’histoire de la littérature en langue luxembourgeoise. Luxembourg 2005, S. 17: „Le thème de la petite bourgeoisie est mieux abordé dans certains romans écrits en français, tandis que les expériences autobiographiques ayant trait à l’enfance et à la vie dans les villages sont mieux rendues en luxembourgeois (cf. Manderscheid).“ 12 Vgl. Glesener: The Separateness (Anm. 6), S. 159. den letzten Jahren verändert hat (durch eine allmähliche Aufwertung des Luxemburgischen als Schriftsprache, aber auch durch eine stärkere Präsenz des Englischen), haben die soziolinguistischen Verhältnisse einen nachhaltigen Einfluss auf die ästhetische Beurteilung der Literatursprachen: Den drei Spra‐ chen werden je unterschiedliche ästhetische Wirkungsbereiche zugesprochen. 10 So begründet der Literaturwissenschaftler Frank Wilhelm seine These, dass es sich bei der mehrsprachigen Luxemburger Literatur tatsächlich um drei verschiedene Luxemburger Literaturen handele, mit einer angeblichen Affinität zwischen Literatursprache und beschriebenem Gegenstand: Globalement on peut dire que les littératures en langues allemande et luxembour‐ geoise induisent des œuvres proches du vécu de leur public, correspondant à la sensibilité générale, alors que la littérature de langue française, produite par et pour la bourgeoisie, donne des œuvres plus abstraites où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur, mais où l’écrivain peut davantage s’inscrire dans l’universel ou, au contraire, cultiver ses propres lubies. La littérature de langue allemande a peut-être le mieux assimilé la réalité socioéconomique. Même si certains auteurs grand-ducaux s’expriment en deux, voire en trois langues, cela ne veut pas dire qu’ils abordent la littérature sous le même angle. Certains sujets se traitent mieux dans telle langue que dans telle autre. 11 Wilhelm argumentiert, dass sich mit dem Luxemburgischen und dem Deutschen alltägliche Erlebnisse besonders gut ausdrücken ließen, während das Franzö‐ sische einen höheren Abstraktionsgrad ermögliche. Die Literaturwissenschaft‐ lerin Jeanne E. Glesener hat an anderer Stelle bereits dargelegt, dass Wilhelms These als Sprachtypologie nicht haltbar ist: 12 In ihrem Aufsatz The Separate‐ ness of Luxembourgish Literatures revisited erläutert Glesener, dass eine strikt getrennte Betrachtung der Literatursprachen nicht erst seit dem vermehrten Aufkommen mehrsprachiger Texte in den 2000er Jahren wenig sinnvoll er‐ scheint, da eine solche Trennung den Blick für sprachübergreifende literarische 27 Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem 13 Vgl. ebd. 14 Mars Klein: Schreiben in Luxemburg. Skizze zur literarischen Dreisprachigkeit. In: Mi‐ nistère des Affaires culturelles (Hrsg.): Le livre et la lecture au Luxembourg. Vademecum des adresses utiles. Luxembourg 1991, S. 17-30 [Sonderdruck], hier S. 27f. 15 Ebd., S. 28. 16 Das Format der Biennale wird 1969 mit einer Ausgabe der Dichtertage im belgischen Pont d’Oye unterbrochen. Vgl. zur Geschichte der Dichtertage generell Alain Weins: „Kann Poesie die Welt verändern? “ Die Geschichte der Mondorfer Dichtertage. Echter‐ nach 1999. Entwicklungen versperrt. 13 Wenngleich Wilhelms Unterscheidung demnach als generelle Taxonomie nicht funktioniert, trifft sie jedoch auf bestimmte Pe‐ rioden zu, beispielsweise auf die 1960er bis 1980er Jahre. Luxemburgisch wurde lange Zeit von vielen Autor: innen nicht als ernstzunehmende Literatursprache berücksichtigt; dem Literaturwissenschaftler Mars Klein zufolge wurde es „in manchen poetologischen Überlegungen […] als reines Medium für volkstüm‐ liche Unterhaltung vornehmlich in den Sparten Volkstheater und Volkspoesie“ 14 angesehen. Seit den 1970er Jahren - im Zuge der 68er-Bewegung - wurden jedoch vermehrt auch „sozialkritische Stoffe vom Kabarett bis zum Roman, vom Hörspiel bis zum Dokumentartheater“ 15 auf Luxemburgisch verhandelt. Deutsch war ab diesem Zeitpunkt zwar immer noch die zentrale, jedoch nicht mehr die einzige Sprache des literarischen Engagements, der Subversion und des Experiments. Tatsächlich waren es zumeist auch die Schriftsteller: innen, die zunächst auf Deutsch schrieben, die sich in den 1970er und 1980er Jahren der luxemburgischen Sprache zuwandten. Die französischsprachige Luxemburger Literatur dieser Zeit war hingegen von ästhetizistischen und puristischen Tendenzen bestimmt. Diese unterschiedlichen Literaturkonzeptionen, so die These des vorliegenden Beitrags, existierten jedoch nicht nur innerhalb des Luxemburger Literatursys‐ tems, sondern können vielmehr als ein Ausdruck von Tendenzen gedeutet werden, die sich auch außerhalb des Großherzogtums in den deutsch- und französischsprachigen Literatursystemen vollzogen. Besonders sichtbar wurden diese Tendenzen anlässlich der Mondorfer Dichtertage, die zwischen 1962 und 1974 alle zwei Jahre im Luxemburger Kurort Mondorf organisiert wurden und namhafte Vertreter: innen der deutsch- und französischsprachigen Literatur zusammenbrachten. 16 Jede Ausgabe der Dichtertage stand unter einem Motto, so z. B. „Kann Poesie die Welt verändern“ (1966) oder „Deutsche und französische Literatur seit 1945“ (1968). Diese Fragestellungen, die den Diskussionsrahmen definieren und den Austausch zwischen deutsch- und französischsprachigen Autor: innen anstoßen sollten, kehrten jedoch vielmehr die grundlegenden 28 Fabienne Gilbertz 17 H. B. [Henri Blaise]: Mondorfer Dichtertage 1972. In: Luxemburger Wort, 10.10.1972. 18 Dieter Hasselblatt, zitiert nach N. N.: Der Mond von Mondorf. In: d’Letzeburger Land, 21.4.1967. 19 Weins: „Kann Poesie die Welt verändern? “ (Anm. 16), S. 103. 20 Urs Widmer, zitiert nach Tim Reuter: „Vaterland, Unsinn“. Thomas Bernhards (ent-)na‐ tionalisierte Genieästhetik zwischen Österreich-Gebundenheit und Österreich-Entbun‐ denheit. Würzburg 2013, S. 381. Unterschiede zwischen den Sprachgruppen hervor. Dem Luxemburger Autor und Journalisten Henri Blaise zufolge ging es bei der Konfrontation in erster Linie „um moderne und progressive Literatur, um Engagement, um ‚neuen Wein in alten Schläuchen‘, kurz die traditionsbelastete ‚querelle des Anciens et des Modernes‘.“ 17 In einem Beitrag für den Deutschlandfunk fasste der deutsche Autor und Redakteur Dieter Hasselblatt seinen Eindruck, den er bei der Mondorfer Tagung 1966 von seinen französischsprachigen Kolleg: innen gewonnen hatte, folgendermaßen zusammen: Die französischen Kollegen sind zu bewundern: daß sie sich so stark von einer Weltliteratur und deren jüngsten Entwicklungen abzukapseln vermögen, daß sie mit einem so guten Gewissen nichts zur Kenntnis nehmen als sich selbst, und daß sie nicht bemerken, wie sehr sich ihre eigene Gegenwartsliteratur […] um anderthalb literari‐ sche Epochen verspätet. Symbolismus, nichts anderes als was Mallarmé gemacht hat, und wenn die Frage der Veränderung der Welt durch die Literatur diskutiert wurde, vermochten die französischen Schriftsteller und Kritiker sich mit der schönen Gebärde eines selbstsicheren Eskapismus auf die Devise zurückzuziehen „der Schriftsteller wohne zuallererst nicht in der realen Welt, sondern in einer ‚Monde des Mots‘, in einer Welt der Worte.“ 18 Den Luxemburger Kommentator: innen zufolge vertraten die meisten der anwe‐ senden französischsprachigen Autor: innen eine ästhetizistische Literaturkon‐ zeption, während ihre deutschsprachigen Kolleg: innen eine gesellschaftskriti‐ sche, engagierte Kunst forderten. Der Luxemburger Germanist Alain Weins spricht rückblickend von einem in Mondorf zutage tretenden „interkulturellen Mißverständnis“, 19 und dem Schweizer Schriftsteller Urs Widmer zufolge passten die französisch- und deutschsprachigen Autor: innen so gut zusammen „wie Pfeffer und Schlagsahne“. 20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich diese Aussagen in erster Linie auf die Mondorfer Gäste bezogen; es handelt sich um Eindrücke, die anlässlich der Dichtertage entstanden und generelle Tendenzen widerspiegelten. Natürlich existierte damals auch im französisch‐ sprachigen Raum die Idee einer engagierten Literatur - man denke nur an Sartre. Diese in Mondorf sichtbar gewordenen Unterschiede zwischen den 29 Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem 21 In den Interviews, die für die Dissertation Wortproduzenten geführt wurden, betonten einige Akteur: innen des damaligen Luxemburger Literatursystems, dass es in den 1960er und 1970er Jahren kaum Kontakt zwischen den Deutsch und den Französisch schreibenden Luxemburger Autor: innen gegeben habe. Vgl. Gilbertz: Wortproduzenten (Anm. 1), S. 33. 22 Vgl. dazu Gilbertz: Wortproduzenten (Anm. 1), S. 451-462. Sprachgruppen sind für die Beschreibung des Luxemburger Literatursystems in den 1960er und 1970er Jahren insofern relevant, als auch in Luxemburg ein Antagonismus zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor: innen bestand. 21 Wie bereits erwähnt, gilt in der Tat auch für den Luxemburger Kontext, dass die Deutsch schreibenden Autor: innen eine gesellschaftspoli‐ tisch engagierte Literatur vertraten, während ihre Französisch schreibenden Kolleg: innen sich kaum politisch äußerten. Es liegt nahe, das jeweilige Litera‐ turverständnis durch eine Orientierung der Luxemburger: innen an deutschbzw. französischsprachigen Vorbildern zu erklären. Darüber hinaus ist es jedoch interessant, dass sich die Luxemburger Autor: innen je nach Literatursprache unterschiedlich zu ihren ausländischen Vorbildern positionierten: Während viele Französisch schreibende Luxemburger Autor: innen eine größtmögliche Nähe zu ihren französischen und belgischen Kolleg: innen suchten - bis hin zu einer Negierung der eigenen nationalen Identität -, war es den meisten Deutsch schreibenden Luxemburger Autor: innen ein Anliegen, im engen Kontakt mit dem deutschsprachigen Ausland ihre Luxemburger Identität zu betonen. Dieser Unterschied im Verhältnis zur eigenen nationalen Identität sowie zur gewählten Schriftsprache äußerte sich auf mehreren Ebenen, die im Folgenden kurz skizziert werden. In den 1960er und 1970er Jahren thematisierten viele Deutsch schreibende Luxemburger Autor: innen das Land und den Literaturort Luxemburg mehr oder weniger explizit in ihren Texten. Beispielhaft sei Roger Manderscheid genannt, der sich in seinem Frühwerk, von den frühen 1960ern bis zur Mitte der 1980er Jahre, an Luxemburg, seiner Enge und Mentalität abarbeitete und einen spezifischen Begriff des Provinziellen entwickelte. Besonders augenscheinlich wird dies in seinem 1973 erschienenen, ersten Roman die dromedare. stilleben für johann den blinden und dem Drehbuch stille tage in luxemburg, das er im selben Jahr für einen deutschen Fernsehsender schrieb und das aufgrund seines kritischen Blicks auf Luxemburg und seine Einwohner einen kleinen Skandal auslöste. 22 Im Kontrast dazu stand die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur, in der das Großherzogtum als Ort kaum eine Rolle spielte. Frank Wilhelms These, dass die französischsprachige Literatur Werke 30 Fabienne Gilbertz 23 Vgl. Wilhelm: L’écrivain francophone grand-ducal (Anm. 11), S. 886f. 24 Michel Raus, zitiert nach Hausemer: Stiefvaterland, Stiefmuttersprache (Anm. 4), S. 6. 25 Klein: Schreiben in Luxemburg (Anm. 14), S. 20. 26 Vgl. dazu Paul Lanners: La situation de la poésie de langue française au Luxembourg. In: Clierwer Literaturdeeg 1985. D’Texter - Les exposés - Die Referate. Luxemburg 1986, S. 36-43, hier S. 38: „La patrie d’Edmond Dune, c’est la langue française: ‚(Dune) est poète français dans ses ambitions artistiques, dans le choix de ses sujets, dépouillés de tout régionalisme.‘“ produziere, „où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur“, 23 kann für die 1960er Jahre demnach bestätigt werden. In diesem Sinne hielt Michel Raus, einer der prominentesten Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts, für die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur etwas überspitzt fest: „dem französischen Schriftsteller aus Luxemburg geht es vor allen Dingen um formal-ästhetische Perfektion. […] Französische Schreiber sind strenggenommen keine Dichter oder Romanciers oder Dramatiker, es sind ‚hommes de lettres‘, Essayisten, Verfechter von Ideen und Idealen“. 24 Mars Klein zufolge versuchten die damaligen frankophonen Luxemburger Autor: innen „unbelastet von jeder zu direkten sprachlich-emotionalen Eingebundenheit in die nationalen Luxemburger Verhältnisse, […] ihren kosmopolitischen Beitrag zur internationalen Francité zu schreiben“. 25 Als Beispiel für die 1960er Jahre nennt er den Dichter und Dramatiker Edmond Dune, auf den an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird. 26 Das unterschiedliche Verhältnis zur eigenen Luxemburger Herkunft spiegelte sich auch in der Handhabung der gebrauchten Literatursprache. Die franzö‐ sischsprachige Luxemburger Literatur der 1960er und 1970er Jahre war, wie bereits angedeutet, von sprachpuristischen Tendenzen geprägt. Eine besonders prominente Figur des damaligen Literatursystems war Marcel Noppeney, Autor und Präsident der Société des écrivains luxembourgeois de langue française (SELF). Als solcher setzte er sich nicht nur für die Förderung Französisch schreibender Autor: innen ein, sondern führte einen regelrechten Kulturkampf gegen jegliche germanophilen Tendenzen. Dieser Kulturkampf war in erster Linie durch das in den 1960er Jahren noch sehr präsente Erlebnis der zwei Weltkriege bedingt (Noppeney selbst wurde mehrmals von deutschen Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt). Durch die Propagierung des Französi‐ schen, so die Autorin Rosemarie Kieffer, sollte die Luxemburger Identität gegen den deutschen Nachbarn verteidigt werden: L’argument essentiel de ceux qui entendaient encourager et propager l’écriture de langue française chez nous, était vraiment de taille. L’emploi du français, affir‐ maient-ils, nous permettait de conserver et de consolider nos qualités proprement 31 Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem 27 Rosemarie Kieffer: Réflexions sur les écrivains luxembourgeois de langue française. In: Clierwer Literaturdeeg 1985. D’Texter - Les exposés - Die Referate. Luxemburg 1986, S. 9-13, hier S. 10. 28 Klein: Schreiben in Luxemburg (Anm. 14), S. 19. 29 Marcel Noppeney: Complexe d’Ésope. In: Les Pages de la S.E.L.F. 9 (1962), S. 122-131, hier S. 122. 30 Anise Koltz: Über das Glück zwischen den Kulturen zu leben. In: Irmgard Honnef-Be‐ cker / Peter Kühn (Hrsg.): Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg. Esch-sur-Alzette / Mersch 2004, S. 59-66, hier S. 61. 31 Zitiert nach Roger Schiltz: die mondorfer glaswand. In: doppelpunkt 3 (1968), S. 19-24, hier S. 23. luxembourgeoises, et cela en face d’un voisin puissant et dangereux qui menaçait de nous détruire. 27 Mars Klein argumentiert in diesem Kontext, dass Noppeney und dessen Fran‐ zösisch schreibende Kolleg: innen durch „die relative sprachliche Distanz des Französischen zum sprachlichen Alltag - Luxemburg ist ja ‚un faux pays francophone‘, Luxemburg ist richtiger ‚un pays francographe‘ oder besser noch ‚entre autre francographe‘“ zur Überzeugung gebracht worden seien, „in einer schwierigen sprachlichen Diaspora zu schreiben und - über den Weg der (phasenweise übertriebenen) Frankophilie - die räumliche und ideelle Distanz zu Frankreich überbrücken zu müssen.“ 28 Diese Frankophilie äußerte sich nicht zuletzt in einem Sprachpurismus, der vor allem in den Pages de la S.E.L.F. gepflegt wurde. In dieser Zeitschrift publizierte Marcel Noppeney die Rubrik Complexe d’Ésope, in der er seine Landsleute für den falschen Gebrauch von französischen Wörtern und Redewendungen kritisierte, ja bisweilen lächerlich machte. Diese Kritik verstand Noppeney als „intervention […] qui m’est dictée par le respect que Voltaire recommande d’avoir pour cette grande dame qu’est la langue française“. 29 Das Verhältnis der Deutsch schreibenden Luxemburger Autor: innen zu ihrer Literatursprache gestaltete sich anders. Wenngleich auch sie sich um eine möglichst fehlerfreie Beherrschung des Deutschen bemühten, ließen sie jedoch auch Raum für einen eigenen, freien Umgang mit der Sprache. Anise Koltz, eine der bedeutendsten Luxemburger Lyrikerinnen des 20. Jahr‐ hunderts und Organisatorin der Mondorfer Dichtertage, betonte viele Jahre später, dass Luxemburger Autor: innen „sowohl im Deutschen als auch im Französischen Worte zusammen[setzten], die ein Muttersprachler nie zusam‐ mensetzen würde“ 30 und dass dieses besondere Verhältnis zur Literatursprache zu einer gewissen Originalität führen könnte. Diese Ansicht vertrat auch Dieter Hasselblatt, als er anlässlich der Mondorfer Dichtertage 1966 über ein Hörspiel von Roger Manderscheid urteilte, „daß hier jemand in deutscher sprache etwas gesagt habe, was ein deutscher auf deutsch gar nicht hätte sagen können“ 31 . Laut 32 Fabienne Gilbertz 32 Dieser Gedanke äußert sich auch in Anise Koltz’ Gedicht Ich bin Luxemburger: „Ich gehöre nicht / zu Deutschlands Literaten / was kümmert mich / ihre Politik / und unbewältigte Vergangenheit […]“. Zitiert nach Reuter: „Vaterland, Unsinn“ (Anm. 20), S. 344. 33 Brief von Edmond Dune an Jean Vodaine, zitiert nach Edmond Dune: Oeuvres. 4. Teil: Correspondance. Hrsg. von Myriam Sunnen, unter Mitarbeit von Pascal Seil und Doris Feiereisen und unter der Leitung von Claude D. Conter. Soleuvre / Havelange 2021, S. 1126. Ich danke Myriam Sunnen für ihre Hilfe bei meiner Recherche zu Edmond Dune. 34 Brief von Edmond Dune an Paul Palgen, zitiert nach ebd., S. 860. Hasselblatt bedienten sich die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor: innen zwar der deutschen Sprache, doch sie könnten mit dieser anders, vielleicht freier umgehen als die Deutschen selbst. 32 Während die frankophonen Luxemburger Autor: innen also durch ihren Sprachpurismus eine größtmögliche Nähe, ja eine Identität mit der französischen Literatur anstrebten, waren die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor: innen eher daran interessiert, sich an dem en‐ gagierten Literaturverständnis ihrer ausländischen Kolleg: innen zu orientieren, dieses aber kreativ für die eigenen Bedürfnisse im Luxemburger Literatursystem umzusetzen. Schließlich thematisierten einige Luxemburger Schriftsteller: innen ihr per‐ sönliches Verhältnis zu ihrer Luxemburger Nationalität und zur Literatur‐ sprache auch ganz direkt. Als Beispiele können hier die Autoren Edmond Dune für die französischsprachige und Georges Hausemer für die deutschsprachige Luxemburger Literatur dienen. Der Lyriker und Dramatiker Edmond Dune war als Sohn eines Luxemburgers und einer Belgierin Luxemburger Staatsbürger und nahm auch aktiv am Luxemburger Literaturleben teil, indem er beispiels‐ weise die Mondorfer Dichtertage mitorganisierte und in Luxemburger Zeit‐ schriften publizierte. Dennoch pflegte Dune ein sehr distanziertes Verhältnis zu Luxemburg und seiner Literatur. So liest man in einem Brief, den Dune in den 1960er Jahren an seinen französischen Freund Jean Vodaine schrieb: „Je ne veux pas qu’on me traite de poète luxembourgeois! Tu devrais le savoir depuis le temps que tu me fréquentes.“ 33 Tatsächlich erwähnte Dune seine Staatsbürgerschaft fast nie, in Anthologien wurden seine Gedichte zum Teil unter der Rubrik „po‐ ètes français“ publiziert - und dies war auch genau das, was er anstrebte: in einer Reihe mit französischen Autoren zu stehen. Dune negierte aber nicht nur seine eigene Beziehung zum Großherzogtum, sondern darüber hinaus ganz generell die Existenz einer französischsprachigen Luxemburger Literatur. In einem Brief an seinen Luxemburger Kollegen Paul Palgen stellt Dune klar: „À mon sens, la littérature (luxembourgeoise) d’expression française n’existe pas.“ 34 Dune bezeichnet das Label „französischsprachige Luxemburger Literatur“ in diesem 33 Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem 35 Roger Manderscheid in einem Interview mit Georges Hausemer für den Saarländi‐ schen Rundfunk. Archivbestand des Centre national de littérature (CNL L-365, II. 1982-1983-028). Hervorhebung im Original. 36 Hausemer: Stiefvaterland, Stiefmuttersprache (Anm. 4), S. 5. 37 Ebd. Brief als prätentiös, ja gar als Phantom. Die Idee einer spezifischen Luxemburger Literatur weist Dune kategorisch zurück. Dieser Negierung der Luxemburger Identität und dieser kompletten Identifizierung mit der Kultur Frankreichs, die durchaus auch für andere Luxemburger Autor: innen festgestellt werden kann, steht die Haltung einiger Deutsch schreibender Autor: innen gegenüber. Hier sei zunächst Roger Manderscheid genannt, der Anfang der 1980er Jahre in einem Interview über die deutschsprachige Luxemburger Literatur behauptete: „ich glaub schon daß wir als deutschschreibende Luxemburger einen eigenen, unverwechselbaren ton haben, der bis jetzt noch nicht entdeckt wurde“. 35 Dass dieses Unverwechselbare auch in dem komplexen Verhältnis der Luxemburger Autor: innen zu ihren Literatursprachen begründet liegt - Literatursprachen, die damals nur selten identisch mit der luxemburgischen Muttersprache waren -, erläuterte der bereits zitierte und 2018 viel zu früh verstorbene Autor Georges Hausemer 1983 in einer Rede in Mannheim: Demnach wandert der Luxemburger Autor, wie etwa die berühmte Katze um den heißen Brei, stetig am Rand der einen oder der anderen Weltliteratur umher, möchte eigentlich dazugehören und kann sich mit letzter Konsequenz doch nicht von der Scholle lösen, an der er zeitlebens klebt. Kann nicht und will eigentlich auch gar nicht. Wollen Sie nämlich einen deutschschreibenden Autor aus Luxemburg beleidigen, so behaupten Sie ganz einfach, er sei ein deutscher und nicht ein deutschsprachiger Schriftsteller. Diese - einige werden sagen: mimosenhafte - Einstellung hat tieferge‐ hende Wurzeln, politische, historische Gründe, die auch meine Generation, die etwa die Mesalliance Luxemburgs mit dem Deutschen Reich nur vom Hörensagen kennt, nicht vollständig zu überwinden vermag. 36 Hausemer beschreibt das Verhältnis der Luxemburger Schriftsteller: innen zur deutschen Sprache als ein zwiespältiges, als eines, das durch Nähe und Distanz zugleich bestimmt ist. Neben den historischen Gründen, die Hausemer nennt, gibt es sicherlich auch linguistische: Luxemburgisch ist - wenngleich es als eigenständige Sprache politisch anerkannt ist - ein moselfränkischer Dialekt. Diese Nähe erleichtert es vielen Luxemburger: innen, Deutsch zu erlernen und die Sprache einigermaßen gut zu beherrschen; gerade die Nähe ist es vielleicht aber auch, die eine klare Abgrenzung nötiger erscheinen lässt. Hausemer prägte in diesem Kontext den Begriff der „Stiefmuttersprache“. 37 Was das Verhältnis 34 Fabienne Gilbertz 38 Ebd., S. 5. 39 Vgl. dazu auch De Toffolis Essay in der vom Centre national de littérature herausge‐ gebenen Reihe Discours sur la littérature. Ian De Toffoli: Il faut être résolument local pour réussir, littérairement, à porter au jour l’universel. Mersch 2019 [Discours sur la littérature 02]. der Französisch schreibenden Luxemburger Autor: innen zu Frankreich angeht, vermutete Hausemer in seiner Rede, dass es „in dieser ausgeglichenen Relation weniger Animositäten geben“ 38 dürfte. Mit Blick auf die Aussagen Edmond Dunes kann dies eigentlich nur als Euphemismus bezeichnet werden. Eine solche Gegenüberstellung, wie sie in dem vorliegenden Beitrag vorge‐ nommen wurde, kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Was hier be‐ schrieben wurde, sind Tendenzen, die natürlich nicht für alle Luxemburger Autor: innen des Untersuchungszeitraums geltend gemacht werden können. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, die nicht in das hier skizzierte Schema hineinpassen, wie die Französisch schreibenden engagierten Lyriker Phil Sarca ( Jeannot Scheer) und René Welter. Darüber hinaus gab es auch damals schon Schriftsteller: innen, die mehrere Literatursprachen nutzten. Hier kann etwa die Dichterin Anise Koltz genannt werden, die auf Deutsch debütierte und sich erst ab den 1970er Jahren exklusiv der französischen Sprache widmete, ohne ihr Literaturverständnis dafür zu verändern. Dennoch sind die tendenziellen Unterschiede im Sprach- und Identitätsverständnis bei der Auseinandersetzung zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor: innen der 1960er und 1980er Jahre nur allzu augenfällig. Davon ausgehend müsste das Verhältnis der Luxemburger Autor: innen zur eigenen kulturellen Identität - als Teil ihrer posture - eingehender und über einen längeren Zeitraum untersucht werden, um Veränderungen und Einschnitte beschreiben und typisieren zu können - beispielsweise aus einer komparatistischen Perspektive, im Vergleich mit anderen, kleinen und mehrsprachigen Literatursystemen Europas. Für viele junge Luxemburger Schriftsteller: innen des 21. Jahrhunderts scheinen die gewählten Schriftsprachen jedenfalls keine grundlegende Rolle mehr für ihr Literaturverständnis zu spielen. So schreibt Elise Schmitt mit Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen deutschsprachige Kurzgeschichten ohne direkten Luxemburg-Bezug, während Ian de Toffolis französischsprachige Dramentexte ihren soziokulturellen Entstehungsraum durchaus kritisch thematisieren (z. B. L’homme qui ne retrouvait plus son pays oder Tiamat). 39 Samuel Hamen zeigt, dass auf Luxemburgisch über Luxemburg erzählt werden kann, aber nicht muss (der Roman V wéi Vreckt, W wéi Vitesse steht hier dem beim Concours littéraire national 2019 ausgezeichneten und noch unveröffentlichten Roman 35 Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem I.L.E. gegenüber), und Jeff Schinker beweist mit dem Prosaband Sabotage, dass man in mehreren Literatursprachen zugleich (nicht nur) über Luxemburg schreiben kann. Solche Entwicklungen deuten darauf hin, dass nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die literarische Mehrsprachigkeit in stetem Wandel befindlich ist, was sich in der Sprachwahl von Autor: innen ebenso zeigt wie in ihren ästhetischen Positionierungen. 36 Fabienne Gilbertz 1 Vgl. u. a. Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg 1994; Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Aleida Assmann / Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Frankfurt am Main 1998, S. 73-104; Heiner Keupp [u. a.]: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999; Robert Hettlage / Ludgera Vogt (Hrsg.): Identitäten in der modernen Welt. Wiesbaden 2000. 2 Heike Delitz: Kollektive Identitäten. Bielefeld 2018. 3 Dabei beziehe ich mich passagenweise auf Rolf Parr: Wie konzipiert die (Inter-)Dis‐ kurstheorie individuelle und kollektive Identitäten? Ein theoretischer Zugriff, erläutert am Beispiel Luxemburg. In: forum für Politik, Gesellschaft und Kultur (Luxemburg), Nr. 289 (September 2009), S. 11-16. Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der Ruhrgebietsliteratur Rolf Parr, Duisburg-Essen I. Ausgangsüberlegungen Von verschiedenen identitätstheoretischen Ansätzen aus ist für die Moderne und ihre Gesellschaften konstatiert worden, dass man es in aller Regel weder für Gruppen noch für einzelne Personen mit einer einzigen Identität zu tun hat. 1 Vielmehr stehen kollektive 2 neben individuellen Identitäten, wobei einzelne Individuen zugleich mehrere, untereinander durchaus differierende Gruppen- und Individualidentitäten sowohl diachron als auch synchron ausbilden können. Von daher scheint die Vorstellung einer singulären, alle Lebensbereiche und Konstellationen integrierenden Identität in Zeiten zunehmend konstatierter und akzeptierter Diversität eine zu einfache Konstruktion zu sein. Von diesem Befund ausgehend versuche ich im Folgenden zunächst vom Ort der Interdiskurstheorie aus in einem ersten Schritt ein Denkmodell der Ausbildung mehrfacher individueller und kollektiver Identitäten zu entwickeln 3 und zu zeigen, wie Literatur im engeren und Mediendiskurse in einem weiteren Sinne die Ausbildung von Identitäten mal stützen, mal kritisch hinterfragen, 4 Ausführlich dazu u. a. Rolf Parr: Synchrone Manifestationen diachroner Interkultura‐ lität in Ruhrgebietsromanen. In: Eva Wiegmann (Hrsg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg 2018, S. 189-204; Britta Caspers / Dirk Hallenberger / Werner Jung / Rolf Parr: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Stuttgart 2019. 5 Vgl. dazu Jürgen Link: Warum Diskurse nicht von personalen Subjekten ‚ausgehandelt‘ werden. Von der Diskurszur Interdiskurstheorie. In: Reiner Keller [u. a.] (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz 2005, S. 77-99. 6 Jürgen Link: As-Sociation und Interdiskurs. In: kultuRRevolution. zeitschrift für ange‐ wandte diskurstheorie, nr. 38/ 39 (März 1999), S. 13-22, hier S. 19. um dann in einem zweiten Schritt die Identitätskonzepte einiger Texte der Ruhrgebietsliteratur exemplarisch zu analysieren. 4 Diese stellt insofern ein besonders geeignetes Referenzobjekt dar, als das Ruhrgebiet und mit ihm die Ruhrgebietsliteratur konstitutive Merkmale von Globalisierung in der Regio‐ nalität aufweist (eine große, breit über die unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus gestreute Population, mit pluralen Lebensstilen, vielfältigen Migrationskulturen und Transnationalitäten). Die Regionalität des Ruhrgebiets und die seiner Literatur muss daher immer auch als eine Form von Globalität in der Regionalität gedacht werden, was wiederum zahlreiche sich überlagernde Identitäten mit sich bringt. II. Identität (inter-)diskurstheoretisch denken Lässt man die in den Geistes- und Sozialwissenschaften kursierenden theoreti‐ schen Konzepte von Identität Revue passieren, so lassen sich grob zwei Rich‐ tungen unterscheiden. Eine Gruppe von Ansätzen fasst Identität als Ergebnis kommunikativen Handelns zwischen Akteuren auf, die mal stärker als Rollen‐ träger, mal stärker als soziale Divergenzen verhandelnde Partner konzipiert sind. Identität ist dann das Ergebnis eines komplexen Aushandlungs- und Sozialisationsprozesses. 5 Demgegenüber gehen diskurstheoretisch fundierte Ansätze genau umgekehrt „von der Priorität des Diskurses und seines ‚Wir‘ gegenüber“ den „einzelnen Interakteuren“ aus. 6 Als interdiskurstheoretisch arbeitender Literatur- und Kulturwissenschaftler möchte ich auf diesen zweiten Ansatz im Folgenden näher eingehen und zeigen, wie er nach solchen diskursiven Positionen fragt, die Kulturen mit den in ihnen zirkulierenden Interdiskursen bereithalten, nämlich Positionen der (durchaus affektiv besetzten) Attraktivität, denen sich Individuen assoziieren und so einen Sozialkörper mit ‚Zusammenhalt‘ - also auch mit Identitätspotenzial - bilden können. Dazu werde ich den Ansatz der Interdiskurstheorie zunächst in einigen 38 Rolf Parr 7 Vgl. zur ersten Orientierung Jürgen Link / Ursula Link-Heer: Diskurs/ Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 20 (1990), H. 77, S. 88-99; Rolf Parr: Interdiskurstheorie/ Interdiskursanalyse. In: Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich-Johannes Schneider (Hrsg.): Foucault-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Weimar, Stuttgart 2008, S. 202-195. - Die einschlägige Forschungsliteratur verzeichnet: Rolf Parr / Matthias Thiele: Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten ‚Interdiskurs‘, ‚Kollektivsymbolik‘ und ‚Normalismus‘ sowie einigen weiteren Fluchtlinien. Jürgen Link zum 65. Geburtstag. Heidelberg 2005. Grundzügen vorstellen, ihn dann auf die Identitätsproblematik hin spezifizieren und nach den spezifischen Leistungen fragen, die ein solcher Zugriff auf das Phänomen ‚Identität‘ bietet. II.1 Die horizontale Achse der Wissensspezialisierung Wie Michel Foucaults Diskurs-, aber auch Niklas Luhmanns Systemtheorie und Reinhart Kosellecks historische Semantik geht auch die Interdiskurstheorie vom Befund zunehmender horizontal-funktionaler Arbeits- und Wissensteilung seit etwa dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Demnach sind moderne Gesellschaften in verschiedene, relativ autonome Wissensbereiche gegliedert, die jeweils spezifische Formen der Rede, je eigene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft besteht dann in ihrer horizontalen Gliederung aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen sowie kultur- und geisteswissenschaftlichen. Um Verständigung über die von Foucault in den Blick genommenen Grenzen von Diskurs- und Wissensformationen hinaus zu gewährleisten, muss es jedoch auch re-integrierende Diskursformen geben, die den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der eigentlich auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Teilbe‐ reiche sichern. Moderne Gesellschaften und ihre jeweiligen Kulturen haben sich daher nicht nur in Spezialbereiche ausdifferenziert, sondern als kompen‐ satorische Antwort darauf auch solche Verfahren entwickelt, die zwischen den Spezialisierungen wieder neue Verbindungen herstellen, also gleichsam Brücken schlagen. Zu dieser Art von verbindenden, inter-diskursiven Elementen 7 gehören alle Formen von Analogien, Metaphern und Symbolen, aber auch Mythen und Stereotype (einschließlich Klischees) sowie unterhalb der Ebene ganzer Erzäh‐ lungen angesiedelte, wiederkehrende Narrative, wie sie bereits im Alltag (als einem solchen nicht-speziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in der Literatur und auch den verschiedenen (Massen-)Medien anzutreffen sind. In ihrer Ge‐ samtheit bilden sie den allgemeinen Artikulationsrahmen des Diskurssystems einer Kultur. Ganze Interdiskurse (verstanden als Summe solcher Verfahren) 39 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 8 Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse (mit einem Beitrag von Jochen Hörisch und Hans-Georg Pott). München 1983, S. 27. 9 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen. Mit einem Nachwort von Käte Hamburger. Stuttgart 1977, bes. 19. bis 22. Brief, S. 75-92. 10 Ich folge hier Jürgen Link: Zur Frage, was eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturdidaktik „bringen“ könnte. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, nr. 45/ 46 (Mai 2003), S. 71-78. stellen von daher eine Art Reservoir von Anschauungsformen bereit, auf das mit Notwendigkeit zurückgegriffen wird, wenn es gilt, Verständigung über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg zu erzielen. Mittels dieser Ensembles von Anschauungsformen können - dadurch, dass sie kohärent verwendet werden - in konkreten Kontexten nun durchaus verschiedene diskursive Positionen artikuliert werden. Die Gesamtheit der interdiskursiven Verfahren ließe sich dann als die inte‐ grierende Kultur einer Gesellschaft beziehungsweise einer regionalen oder auch lokalen Community verstehen. Das, was den immer wieder thematisierten Zusammenhang einer Kultur eigentlich ausmacht, wird vom Ort der Inter‐ diskurstheorie aus damit materiell greifbar, nämlich als Summe derjenigen Brückenschläge, die „die praktisch geteilte Arbeit“ und Gesellschaft „imaginär in Lebenstotalität“ 8 verwandeln, eine Totalität, die man dann wiederum als jenen kulturellen Zusammenhang erleben kann, der eben auch als Angebot zum ‚Andocken‘ und damit zur Ausbildung von Identitäten dient. Dabei kann es natürlich nicht um vollständige Integration aller gesellschaftlichen Teilbereiche und aller menschlichen Fähigkeiten gehen, wie sie beispielsweise Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen  9 ent‐ worfen hat, sondern nur um einzelne, in der Regel fragmentarisch bleibende Brückenschläge. Sie sind vor allem im Alltagswissen, in den modernen Medien‐ interdiskursen und nicht zuletzt auch in der Literatur zu finden. 10 Doch wie sieht der Prozess des ‚Sich-Andockens‘ von empirischen Indivi‐ duen an interdiskursive Positionen als eine Form von Identitätsbildung genau aus? Für die empirischen Subjekte stellen Interdiskurse und die mit ihnen eingenommenen Positionen Angebote zur Assoziation bereit, das heißt zur Ausbildung von mal eher kurzzeitig gültigen, mal langdauerstabil bestehenden individuellen oder kollektiven Identitäten. Eine solche Assoziation, oder ein solcher Sozius, kommt dadurch zustande, dass Individuen sich an die für sie attraktiven Positionen innerhalb des Diskurssystems der jeweiligen Kultur ankoppeln. Die Einheit oder Identität eines solchen Sozius ist also nichts anderes als eine diskursive (semiotische und vor allem sprachliche) Einheit, durch die Einzelindividuen auf jeweils verschiedene Weise zu ebenso verschiedenen Asso‐ 40 Rolf Parr 11 Vgl. für das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung Rolf Parr: Identity in Difference: Collective Symbols and the Interplay of Discourses in the Two German Unifications. In: Ronald Speirs / John Breuilly (Hrsg.): Germany’s Two Unifications. Anticipations, Experiences, Responses. London, New York 2005, S. 76-100. 12 Link: As-Sociation (Anm. 6), S. 19. 13 Ebd., S. 19. ziationen, das heißt ebenso verschiedenen Sozialkörpern zusammengeschlossen werden; und sie ist nicht zuletzt eine, die zeigt, wie Identität aus Interdiskursen und ihren Elementen entsteht. 11 Das bedeutet aber auch, dass historisch wechselnden Diskurssystemen auch wechselnde individuelle und kollektive Subjektivitätstypen entsprechen, das heißt wechselnde ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Subjekte mit entsprechend wechselnden Identitäten. Dem Prozess des Sich-Ankoppelns, der Bildung einer Assoziation würde dann ein Sozialkörper, ein Sozius, entsprechen, für den es keine im Vorhinein schon bestehende Identitätssubstanz gibt und Identität auch nicht zwischen Interakteuren allererst ausgehandelt werden muss. Um diesen Vorgang etwas anschaulicher zu machen, kann man sich das Funktionieren des Diskurssystems am besten, wie Jürgen Link es vorgeschlagen hat, als eine Maschine zur Reproduktion von Diskursen und der in und mit ihnen eingenommenen diskursiven Positionen vorstellen, als eine Maschine, „die zunächst einmal unabhängig von bestimmten, individuellen Interakteuren ‚laufen‘ kann“. Diese Maschine ‚Diskurssystem‘ hält nun in Form der angebo‐ tenen diskursiven Positionen attraktive Schnittstellen für Individuen bereit. Dabei sind die einzelnen Individuen durchaus austauschbar, denn ihre ‚Eignung‘ resultiert nicht aus ihren mitgebrachten Charaktereigenschaften, sondern aus dem „Grad der Kompatibilität ihrer sprachlichen, diskursiven und subjektiven […] ‚Sozialisation‘“ mit der jeweiligen Diskursposition. „Dieser empirische Vorgang des austauschbaren ‚Eintretens‘ verschiedener und wechselnder Indi‐ viduen in analoge vom Diskurs parat gehaltene Positionen ist nichts anderes als der empirische Prozess der Subjektbildung als ‚Wir‘-Bildung“, also derjenige der Identitätsbildung. 12 Die diskursiven Positionen und die Elemente, die sie ausmachen, sichern die dafür nötige Kohäsion, das heißt, wir haben es in die eine Richtung gedacht mit einem Prozess der Ver-Subjektivierung von Diskurselementen und -positionen zu tun, in der anderen Richtung mit dem Andocken an diskursive Positionen. Noch einmal sei betont: Es besteht keine Vorgängigkeit der Subjekte, „viel‐ mehr bilden sich konkrete Subjekte […] in den ‚Hohlformen‘ allererst heraus, die der Diskurs für Subjekte ‚anbietet‘“. 13 Wer also nach ‚Identität‘ fragt, ist gut 41 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 14 Delitz: Kollektive Identitäten (Anm. 2), S. 29. 15 Link: As-Sociation (Anm. 6), S. 19. - „Die Möglichkeit der Polarisierung von Interdis‐ kursen in gegensätzliche diskursive Positionen muss als wichtige Bedingung ihrer Reproduktionsfähigkeit gesehen werden, weil sie die Kopplung des ‚horizontalen‘ Wissens an ‚vertikale‘ Macht-Kämpfe ermöglicht“ (Link: Warum Diskurse [Anm. 5], S. 97). 16 Jürgen Link: Thesen über Masse und As-Sociation (unveröffentlichtes Manuskript): „Allerdings wird man davon ausgehen müssen, dass eine gute Wir-Subjektivität anthropologisch genauso unabdingbar ist wie eine gute Ich-Subjektivität und dass also der Individualismus als Alternative zum Nationalismus nicht ausreicht.“ beraten, sich mit diesen ‚Hohlformen‘, also den Interdiskursen der betreffenden Kultur, zu beschäftigen. Aus einer soziologischen Perspektive sieht auch Heike Delitz Identitäten als kulturell erzeugte Gegenstände an, als Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogene Artefakte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz. 14 Nun sind moderne Gesellschaften jedoch nicht nur durch Wissensteilung (in Spezialdiskurse), sondern auch durch Macht(ver)teilung gekennzeichnet, zum Beispiel in Form von Klassen, Schichten oder Normalitäten. „Deshalb entwickeln […] sich in ihnen“ neben den assoziativen auch „dissoziierende Tendenzen“, viele kleine Sub-Assoziationen, die zur Identitätsdiffusion führen können. 15 Solche Tendenzen des Auseinanderdriftens „werden entweder erfolg‐ reich unterdrückt“ oder führen zu Friktionen und eventuell sogar Spaltungen der ursprünglichen Assoziation, was in ein unverbundenes Nebeneinander oder auch ernsthaftere soziale Konflikte münden kann. Hinzu kommt noch eine zweite Verwerfung: Moderne Gesellschaften „ten‐ dieren zur ‚Atomisierung‘ (Isolierung und ‚Autonomie‘) ihrer Individuen“. Das führt einerseits zu einer gewissen „Dominanz der Ich-Subjektivität über die kollektive Wir-Subjektivität“, was dann wiederum kompensierende Tendenzen verstärkter Assoziation auf den Plan ruft. 16 II.2 Was leistet der Ansatz? Was kann der skizzierte interdiskurstheoretische Zugriff nun leisten? Er erlaubt es, Identität in zwei Dimensionen zu denken, die sonst eher je separat behan‐ delt werden, nämlich erstens derjenigen der horizontalen Wissensteilung und 42 Rolf Parr zweitens derjenigen der vertikalen Machtteilung. Damit gibt der Ansatz eine spezifische Antwort auf die Frage, wie in modernen Gesellschaften Identität entsteht, wobei er es erlaubt, mehrere kollektive und individuelle Identitäten zugleich anzunehmen. Damit kann er das Nebeneinander der (vielen) Assozia‐ tionen und Sozialkörper, denen ein empirisches Subjekt angehören kann, und zugleich von Friktionen zwischen ihnen denken. Der von der Interdiskurstheorie angebotene Identitätsbegriff ist von daher ein offener, der Vielfalt zeitlich parallel und ebenso im historischen Wandel zu verorten erlaubt. Weiter liegt ein wichtiges Potenzial des Ansatzes darin, einen integrierenden Zugriff auf Texte und Dokumente ganz verschiedener Provenienz zu ermöglichen. Kunstliterarische Texte, Alltagsrede, politische Verlautbarungen, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Rahmen von Nationen-, Regionen- und Europabildern, historisches und aktuelles Material werden über die Analyse der verwendeten Interdiskurselemente aufeinander beziehbar und damit ein Stück weit auch die verschiedenen Prozesse der Identitätskonstruk‐ tion. III. Identitäten in der Ruhrgebietsliteratur Literatur nun - und damit komme ich zu den konkreten Texten aus dem Ruhrgebiet - macht als hochgradig interdiskursiver Spezialdiskurs in vielfäl‐ tiger Weise Angebote zur Ausbildung von Identitäten; dies insbesondere dann, wenn ganze Cluster von interdiskursiven Elementen aus dem Alltag oder aus mediopolitischen Zusammenhängen aufgegriffen, weiterverarbeitet und dabei vielleicht sogar kohärent gewertet werden, sodass diskursive Positionen entstehen, denen sich individuelle wie kollektive Subjektivitäten wiederum assoziieren können. Wie das in einem konkreten Fall aussieht, möchte ich am Beispiel einiger neuerer Texte von Frank Goosen zeigen, die zwischen 2008 und 2012, also rund um das Kulturhauptstadtjahr 2010 („Essen für das Ruhrgebiet“), entstanden sind und damit in einer Zeit, in der Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet Hochkonjunktur hatten. Zu diesen Texten, die sich als eine Art von ‚neuer Heimatliteratur‘ charakterisieren lassen, gehören vor allem die Bände Radio Heimat. Geschichten von zuhause aus dem Jahr 2010, der kurze Reviergeschichten versammelt, der Band Weil Samstag ist. Fußballgeschichten aus 2008 sowie der Roman Sommerfest von 2012, dessen Titel zugleich auf das Kulturhauptstadtjahr 43 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 17 Frank Goosen: Radio Heimat. Geschichten von zuhause. Frankfurt am Main 2009; ders.: Weil Samstag ist. Fußballgeschichten. Frankfurt am Main 2008; ders.: Sommerfest. Roman. Köln 2012. 18 Goosen: Radio Heimat (Anm. 17), S. 23. 19 Ebd., S. 73. 20 Wilhelm Amann: Transformationen von Regionalität in wissenschaftlichen und litera‐ rischen Diskursen. In: Britta Caspers / Dirk Hallenberger / Werner Jung / Rolf Parr (Hrsg.): Theorien, Modelle und Probleme regionaler Literaturgeschichtsschreibung. Essen 2016, S. 31-41, hier S. 39. 21 Goosen: Radio Heimat (Anm. 17), Rückumschlag. wie auch das fußballerische Sommermärchen von 2006 anspielt. 17 Diese Texte sind geradezu darauf angelegt, Schnittstellen, das heißt attraktive Diskursele‐ mente für die Ausbildung von Ruhrgebiets-Identitäten (solchen, die das gesamte Revier umfassen, aber auch solchen, die sich nur auf eine einzelne Stadt, wie Bochum, beziehen) anzubieten und solche diskursiven Identitätsmarker bisweilen geradezu zu akkumulieren. Eine der Erzählungen aus Radio Heimat etwa beginnt so: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, fahre ich in Bochum die Alleestraße stadtauswärts, biege, vorbei an dem Gelände „City West“, wo auch die Jahrhunderthalle steht, oben am Hochhaus der Kruppverwaltung links in die Kohlenstraße, dann, vorbei an den Resten des ehemaligen Heusnerviertels, wieder rechts, wo sich neben dem Ascheplatz des SV Germania die Kleingartenanlage Engelsburg e. V. erstreckt. 18 Und an anderer Stelle heißt es: Das Ruhrgebiet hat viele Vorteile: Es gibt hier keinen FC Bayern, auf je hundert Einwohner kommen mindestens zwanzig Frittenschmieden, und auch wenn der Schrebergarten und die Currywurst in Berlin erfunden wurden, ist die Benutzung des einen und der Verzehr der zweiten in dieser Gegend zum selbstverständlichen Bestandteil der Hochkultur geworden. Das größte Plus für die Lebensqualität […] ist jedoch die „Trinkhalle“ oder „Selter‐ bude“, kurz: die Bude […]. 19 Den äußeren, geographischen Rahmen dafür bilden bei Goosen „herkunfts- und heimatorientierte Regionalitätsvorstellungen“, 20 mittels derer ein Kern-Ruhrge‐ biet zwischen Duisburg und Dortmund als Heimat konstituiert wird, und zwar zunächst einmal durch Abgrenzung nach außen: „Südlich von Hattingen ist für mich Tirol, nördlich von Recklinghausen Dänemark, östlich von Unna beginnt für mich Sibirien und westlich von Duisburg ist die Welt zu Ende und alle fallen ins Urmeer.“ 21 44 Rolf Parr 22 Goosen. Sommerfest (Anm. 17), S. 276. 23 Amann: Transformationen (Anm. 20), S. 41. 24 Goosen: Radio Heimat (Anm. 17), S. 29. Was hier auf engstem Raum als übrig bleibendes Territorium eine ‚Heimat-Mitte Ruhrgebiet‘ konstituiert, das entfaltet der Roman Sommerfest als Rückblick auf das eigene, mit Ruhrgebietsspezifika angereicherte ‚coming of age‘ zugleich als ‚my generation‘ wie auch als ‚my region‘, nämlich als eine Heimat, der gegenüber München und Bayern zur entferntesten Peripherie werden, gleichauf mit New York, Mettmann, Duisburg und Krefeld: „‚Krefeld, Duisburg, alles eine Soße.‘“ 22 Bereits von der Grundanlage der Texte her sind damit regionale, lokale und generationsspezifische Angebote zur Subjektbil‐ dung und mit ihr zum Anschluss an die eine oder andere diskursive Position offen gehalten. Diese geographische Eingrenzung des Territoriums für die Ausbildung einer positiv auf das Ruhrgebiet bezogenen Identität (Heimat) wird in den Texten von Goosen zudem historisiert. So ist die polnische Abstammung von Ruhrgebietsbe‐ wohnern als ein auf frühere Zeiten rekurrierendes Residualnarrativ bei Goosen geradezu Ausweis eines auf mindestens drei Ruhrgebietsgenerationen zurück‐ blicken könnenden und damit regional-kulturell gefestigten ‚Bergmannsadels‘. Wilhelm Amann hat daher konstatiert, dass „die Vorstellung von der Ruhrge‐ bietsregion […] bei Goosen […] eng an die Vorstellung von Herkunft gekoppelt“ ist. 23 Eine der Episoden aus Radio Heimat zeigt förmlich auf, wie der daraus re‐ sultierende Attraktivitätsfaktor einer ‚polnischen Bergmannsgenealogie‘ erfüllt werden kann, um sich der Ruhrgebietsidentität assoziieren zu können: Das Ruhrgebiet ist ja immer auch ein Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten gewesen. Dem Klischee nach stammen wir ja alle von polnischen Püttadligen ab. Dass das dem Namen nach in meiner Familie nicht der Fall zu sein scheint (klingt mehr nach Benelux), muss mein Vater als Manko empfunden haben, weshalb er sich meiner Mutter in der Tanzschule Bobby Linden 1964 als ‚Goosenowski‘ vorstellte […]. 24 Der fälschlich für belgisch, niederländisch oder luxemburgisch haltbare Nach‐ name „Goosen“, der de facto polnischer Herkunft ist, wird zu „Goosenowski“ erweitert, um jeden Anflug von Nicht-Zugehörigkeit zu kompensieren, und zwar schon in der Generation der Eltern, womit zugleich wieder die historische Kontinuität der Ruhrgebietsidentität reproduziert wird. Daraus erklärt sich dann auch, dass eine der in fast allen Texten von Goosen vorkommenden Figuren die der Oma (auf Ruhrdeutsch ‚Omma‘) ist, denn sie ist es, welche die diachrone Spanne von drei Generationen und mit ihr Kontinuität, also ‚Püttadel‘, verbürgt, ohne dass größerer narrativer Aufwand betrieben werden müsste. Von 45 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 25 Goosen: Sommerfest (Anm. 17), S. 7. 26 Böttingers Bücher, Staffel 1, Folge 2 (10. Juli 2017). URL: https: / / www.fernsehserien.de / boettingers-buecher/ episodenguide/ staffel-1/ 37638 (zuletzt abgerufen am 30. August 2019). 27 Goosen: Weil Samstag ist (Anm. 17), S. 25; vgl. auch 10 f. und 13. 28 Goosen: Sommerfest (Anm. 17), S. 18f. 29 Ebd., S. 29. 30 Ebd., S. 173. daher verwundert es nicht, dass im Falle von Sommerfest die Widmung im Buch „Für Omma“ 25 lautet. Am Beispiel der ‚Omma‘ lässt sich zudem zeigen, dass auch die Applikation solcher in der Literatur parat gehaltener Diskursparzellen in reale Lebenszusam‐ menhänge funktioniert. Als nämlich Bettina Böttinger in ihrer WDR-Sendung Böttingers Bücher vom 10. Juli 2017 Frank Goosen in dessen Haus besuchte, nutzte dieser den diskursiven ‚Omma‘-Effekt ganz gezielt und machte die Mo‐ deratorin zunächst einmal mit seiner Großmutter bekannt, die gleichermaßen als ‚Kronzeugin‘ der Karriere des Autors wie auch seiner Verankerung in der Heimat Ruhrgebiet fungierte; es folgten Goosens Fußballkeller und ein Besuch bei der Wirtin in seiner Stammkneipe. Titel der Sendung: Durch die Heimat. 26 Auch in Weil Samstag ist wird nahezu jede dafür geeignete Erzählepisode oder Anekdote mit ‚Omma‘ und/ oder ‚Oppa‘ verbunden, sodass auch Fußball eng mit der Ruhrgebietsgenealogie verknüpft wird: „[…] meine Omma löste während der Spiele Kreuzworträtsel - was meinen Oppa immer wahnsinnig machte. […] / ‚Guck doch dahin! ‘ / ‚Interessiert mich doch nicht! ‘ / ‚Guck trotzdem hin! ‘.“ 27 Für die mit den beiden ersten Verfahren geographisch und historisch konsti‐ tuierte Ruhrgebietsheimat steht bei Goosen auch das Ruhrdeutsch mit seinen - im Text durch Kursivierung hervorgehobenen - transkulturellen Anverwand‐ lungen von Lehnwörtern wie „Schangsen“, „Pafföng“, „Grateng“, „Restorang“ 28 und „Expresso“. 29 „Das sind“, wie es bei Goosen heißt, „so Heimat-Wörter, wie es auch Heimat-Zeitformen gibt, und die typische Heimat-Zeitform in dieser Gegend ist immer das Plusquamperfekt gewesen: Da war ich drinne gewesen. Kannze vergessen“. 30 Benutzt werden diese Wörter in Sommerfest von den für ‚ruhrgebietswürdig‘ und damit für die Ruhrgebietsidentität als assoziationsfähig erachteten Figuren. Schließlich sind ruhrgebietsspezifische Orte, Einrichtungen und Gebäude Attraktoren der Assoziation und damit der Ausbildung von Identitäten. Dazu gehören das Zechenreihenhaus, in dem die Familie seit mehreren Generationen wohnt, der lokale Bolzplatz, auf dem man schon als Junge gespielt hat, der Schrebergarten mit der Gartenlaube, in der man den ersten Sex hatte, und die Trinkhalle, im Ruhrgebietsjargon schlicht ‚Bude‘ genannt. Mit solchen 46 Rolf Parr 31 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frank‐ furt am Main 1981, S. 43f. 32 Jürgen Link: Wie Heimatliteratur am Ruhrgebiet scheitert. Mit einem Blick auf einen autogenen Versuch in narrativer Deterritorialisierung. In: Gerhard Rupp / Hanneliese Palm / Julika Vorberg (Hrsg.): Literaturwunder Ruhr. Essen 2011, S. 71-89, hier S. 72f. 33 Amann: Transformationen (Anm. 20), S. 39. Regionalitäts- und Identifikationsmarkern reichlich ausgerüstet, können die Texte Goosens als Versuche einer - mit Deleuze / Guattari gesprochen - Re-Territorialisierung 31 in Form der Konstitution einer für ruhrgebietsspezifisch angesehenen Heimatliteratur verstanden werden, bei der das Reihenhaus als „eingemauerte Parzelle auf der Erde“ der Region fungiert und der „Fesselung einer identischen Familie an ein Territorium über Generationen“ 32 hinweg dient. Um alle diese diskursiven Schnittstellen bzw. Attraktoren in eine kohärente Narration überführen zu können, werden sie im Roman Sommerfest mit den Charakteren der auftretenden Figuren verkoppelt; vor allem mit der Figur des Protagonisten, der das Ruhrgebiet verlassen hat und jetzt noch einmal ins Revier zurückkehrt. Thematisch ist der Roman damit am Narrativ der Rückkehr des verlorenen Sohnes und der damit verknüpften Aufhebung der Dissoziation der Kernfamilie orientiert. Bei Goosen kommt dieser Sohn namens Stefan Zöllner aus München, wo er „mit mäßigem Erfolg als Schauspieler tätig“ und mit einer ihm fremd gewordenen Frau „aus diesen Kreisen liiert ist“. Er „kehrt im Sommer 2010 in seine Ruhrgebietsheimat zurück, um nach dem Tod des Onkels“ schnell das Elternhaus zu verkaufen, ein typisches Ruhrgebiets-Reihenhaus. 33 Dazu kommt es jedoch nicht. Denn territorial und auch kulturell wieder eingebunden in die alte Heimat, den alten Freundeskreis und zudem neu verliebt in die alte Freundin, rücken München und die dortige Partnerin immer weiter in den Hintergrund und haben letztlich gegen die Heimat ‚Ruhrgebiet‘ in Kopplung mit der neuen alten Liebe keine Chance. In München aus der regionalen Sicht der alten Freunde gleichsam entfremdet lebend, lernt Stefan noch einmal neu, ein Ruhrgebietler zu sein, reflektiert den Sprachgebrauch und schließt sich peu à peu wieder den - von Autor Goosen als eigentlichen Gegenstand seines Romans gepflegten - regionalen Identitätsmarkern (Gartenlaube, Bude, Fußballverein und -platz) an. Das Ganze gipfelt im pseudo-dramatischen Sprung aus dem fast schon nach München fahrenden Zug, also der nicht nur symbolischen Entscheidung für das Ruhrgebiet. Auf diese Weise spielen die Figuren bei Goosen den Prozess der Assoziation an eine (für sie) attraktive Diskursschnittstelle mit Namen Ruhrgebiet sowie denjenigen der Ausbildung der damit verknüpften Ruhrgebietsidentität durch, einen Prozess, den die Leserinnen und Leser als einen der diskursiven Assozia‐ 47 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 34 Goosen: Weil Samstag ist (Anm. 17), S. 7. 35 Ebd., S. 26 und 27f. 36 Ebd., S. 89. 37 Vgl. ebd., S. 7. 38 Ebd., S. 144f. tion mitvollziehen können, wenn vielleicht auch gebrochen durch die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit. Goosens tendenziell ironischer Grundton - stärker in Radio Heimat und Wenn Samstag ist als in Sommerfest - eröffnet dabei die Möglichkeit, zwischen einer emphatischen (das gesamte diskursive Angebot übernehmenden) und einer eher spielerischen Ruhrgebietsidentität (unter Einbezug von Distanzierungen) zu wechseln. Das ist etwa der Fall, wenn der Ruhrgebiets-Fußball auf das Engste mit anderen Bereichen des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens verkoppelt beziehungsweise auf diese anderen Bereiche abgebildet wird: Fußball mit der bevorstehenden Geburt des eigenen Kindes („Legt ein werdender Vater die Hand auf den Bauch seiner hochschwangeren Frau und spürt den Tritt des Thronfolgers, kann er nicht anders, er sagt: ‚Kumma, der flankt! ‘“ 34 ), Fußball mit Sex (die Freundin gibt just kurz vor dem Anpfiff eines wichtigen Spiels endlich dem „Angebot zum verschärften Nahkampf “ 35 nach, so dass der Protagonist in arge Bedrängnis gerät), Fußball mit Medizin („Vor neun Wochen hat sein Arzt ihm eröffnet, dass seine Blutwerte in etwa den gleichen Tabellenstand aufweisen wie der VfL Bochum.“ 36 ), Familie mit Fußball (die Kinder bekommen die Vornamen bekannter Fußballer 37 ) und so weiter. Auf diese Weise gibt es letztlich kaum einen Bereich des Lebens, der nicht irgendetwas mit Fußball zu tun hätte, sodass das Identitätsangebot in Sachen Ruhrgebietsbewohner via Fußball bei Goosen auf die Formel gebracht werden kann: „Fußball ist uns zwi‐ schen Duisburg und Unna, zwischen Recklinghausen und Hattingen ins Genom übergegangen, unsere Doppelhelix besteht nicht aus Aminosäuresequenzen, sondern aus echtem Leder.“ 38 Last but not least übernehmen Goosens Texte strukturell betrachtet (wie zahl‐ reiche andere der Ruhrgebietsliteratur auch) mit ihren Plots vielfach Elemente der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Grenzziehung gegenüber der Fremde nach außen, den punktuellen Gebrauch regionaler sprachlicher Varietäten, den gemeinsamen Vollzug von Ritualen (wie Biertrinken im Schre‐ bergarten) und den Topos der Rückkehr in die Heimat bei gleichzeitiger Aufgabe höherer Ambitionen (Stichwort ‚München‘) sowie die Überlagerung von zwi‐ schenmenschlichen durch weitere Wert-Konflikte; dies alles eingebunden in den Rahmen einer Erzählung von der Selbstfindung als einer Form individueller Entwicklung von einer zunächst attraktiv erscheinenden Außenwelt zurück in 48 Rolf Parr 39 Auf eine solche Rezeption als Heimatliteratur ist auch die Cover-Rückseite der Taschen‐ buchausgabe angelegt, mit dem Romanzitat „Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat“ und auch mit dem Satz aus einer Rezension der tageszeitung: „Er ist der Mann, der die besten Heimatgeschichten des Landes erzählt.“ Und mit dem gleichen Tenor heißt es in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung zu Goosens Weil Samstag ist: „‚Weil Samstag ist‘ ist für Fußballer. Für Freunde. Für Ruhr‐ pottler. Für uns alle.“ (Michael Brandhoff: Weil Samstag ist. In: WAZ (15. August 2008), URL: https: / / www.waz.de/ kultur/ weil-samstag-ist-id1009368.html [zuletzt abgerufen am 30. August 2019]). 40 Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeit‐ alter. Bielefeld 2019, S. 233-248. den engeren Bereich der Herkunft. Als Identitätsangebot für Menschen aus dem Ruhrgebiet scheint das als Selbstvergewisserungs-Narration zu funktionieren. 39 Ist dies das Spektrum der Diskurselemente, die in den Texten von Frank Goosen als Angebote zur Assoziation und damit als Vehikel zur Ausbildung von Identität fungieren, so bleibt allerdings noch die Frage, ob dabei verschiedene diskursive Positionen und dann auch durchaus unterschiedliche Identitäten entwickelt werden können, die jeweils andere/ anderes ein- oder ausschließen. Hier wird man sagen können, dass die mit den literarischen Texten angebotenen diskursiven Andockmöglichkeiten es sowohl erlauben, eine engere regionale Identität ‚Bochumer VfL-Fan‘ auszubilden als auch eine das ganze Ruhrgebiet umfassende des ‚Ruhris‘. Erkauft wird dies durch starke Abgrenzungen nach außen, gegenüber München (als ‚Fußballmarke‘ und bisweilen schon als Ruhr‐ gebietsfußball-Feindbild), aber auch gegenüber all denjenigen, die nicht zu den Nachfahren der ‚püttadligen Ureinwohner‘ gehören. Arbeitsmigranten, Flücht‐ linge und Zugezogene sind bei Goosen daher in konzentrischen Kreisen um den mit den Attraktivitätsmarkern Reihenhaus, Fußballfeld, Omma, Ex-Freundin, alte Kumpels, Schrebergarten und Stammkneipe gespeisten Kernidentität ange‐ legt. Fast noch integriert ist der die Bude führende türkische Schnauzbart; zum griechischen Restaurant in der ehemaligen Bochumer Bäckerei Schmidtmeier muss man schon die Straße als symbolische Grenze überqueren; es folgen - in weiteren konzentrischen Kreisen - ‚Ossis‘, Polen, Ukrainer, Russen, Araber. Was Goosens Texte mit einem solchen Modell von Nähe und Ferne nicht leisten können, das ist diskursive Positionen und damit Angebote für so etwas wie eine interkulturelle Identität anzubieten. Mit Cornelia Koppetschs Unterscheidung in Heimat als Schicksalsgemein‐ schaft, in die man hineingeboren wird, die exklusiv ist und räumlich begrenzt, sowie in Heimat als kosmopolitisches, urbanes Lebensmodell, 40 wären Goosens Texte am Pol der ersteren anzusiedeln. In der Summe der in diesen Texten rea‐ lisierten Diskurselemente bieten sie eine räumlich und kulturell eingegrenzte, 49 Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen 41 Ebd., S. 162. 42 Ebd., S. 165. 43 Vgl. ebd., S. 235. re-kollektivierende „Neogemeinschaft“ 41 mit mühsam konstruierter historischer Tiefe als Angebot zur Assoziation und zur Identitätsbildung an: räumlich, wegen der strengen, ausgrenzenden Beschränkung auf das Kernruhrgebiet rund um Bochum; kulturell wegen der starken Positivsetzung einheitlicher „Traditionen, Werte und Praktiken“; 42 neo, da es die auf diese Weise konstituierte Gemein‐ schaft erst seit dem Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 gibt; historisch wegen der ausgrenzenden Verweise auf die Geschichte von mindestens drei ortsansässigen Generationen. Ihren Schnittpunkt finden diese Elemente der Identitätsbildung in der Rede von ‚Heimat‘. 43 Durch den ironischen und nicht selten auch selbstironischen Grundton bei Goosen sind Identitätsbildungen sowohl in Richtung konservativer Gemeinschaften als auch solche tendenziell kosmopolitischer Art denkbar; gehört der türkische Budenbetreiber doch noch in den engeren Kreis, nicht aber der libanesische Grillbesitzer. 50 Rolf Parr Das Institut „Moderne im Rheinland“ - Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer „Rhetorik der Region“ Gertrude Cepl-Kaufmann, Düsseldorf Ein Blick in die Geschichte des Instituts „Moderne im Rheinland“ „Identitätskonzepte in der Literatur“, so lautet das Thema der Tagung, auf die sich dieser essayistische Rückblick bezieht. Die Einladung zum Eröffnungsbei‐ trag, den er vermittelt, verdankt sich der spezifischen Erfahrung des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Thema. Meinen Beitrag verstehe ich entsprechend als eine Möglichkeit, ein Institut vorzustellen, dessen Forschungsfeld Identitätsdiskurse quasi immanent sind. Der Fokussierung auf die Literatur in diesem Band möchte ich mit eben diesem Konzept entgegentreten: Rhetorik hatte und hat immer mehr im Blick als eine Sparte, so lehrt uns die Traditionslinie dieses seit der griechischen Antike ausdifferenzierten Systems der Redelehre, das letztendlich mit seinen septem artes liberales zu einem Eckpfeiler des mittelalterlichen Bildungspro‐ gramms wurde und in der Geschichte der Nachkriegszeit mit der Tübinger Rhetorikschule eines Walter Jens seine einstige Bedeutung als Fundierung einer Öffentlichkeitstheorie in Zeiten der Demokratie wiedergewonnen und darüber hinaus differenziert weitergeschrieben hat. Jens’ Anspruch war, wie einst in der - wenn auch retrospektiv idealisierten - attischen Republik ganzheitlich, wenn auch - und hier darf die Literatur sich als prima inter pares verstehen - der Sprachkunst nicht nur eine wesentliche Funktion zukommt, sondern sie zugleich die Substanz ausmacht, die die hohen Ziele eines vir bonus überhaupt erst erreichbar macht. Vir bonus und vir bonus dicendi sind ein wunderbares Synonym - und heute würden wir selbstverständlich noch eines draufsetzen: auf diesen Plan gehört auch die - femina bona dicendi. Mehr an Persönlichkeit ließ sich in der damaligen Gesellschaft nicht erreichen und dass sie an die Kunst 1 Vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann: Der „Bund rheinischer Dichter“ 1926 - 1933. Paderborn 2003. der Sprache gebunden war, das gibt auch und gerade der Literatur und ihrer Wissenschaft bis heute ein hohes Maß an Deutungskompetenz. Gerne sage ich an diesem Ort, der Hauptstadt des Saarlandes, zugleich Grenz‐ region aus Frankreich und Deutschland, dass es der Romanist Ernst Robert Curtius war, der mit seinem 1948 erschienenen opus magnum Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter die Ganzheitlichkeit des kulturtragenden Systems von Sprache und Literatur ebenso einklagte wie die Rückkehr der Hochzeiten einer emanzipativen Rhetorik nach den zwölf Jahren ihrer diktato‐ rischen Unterdrückung gegenüber einer lauten, aber unlauteren Propaganda. Curtius hatte sich schon zu Beginn des Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg in die Konflikte Deutschlands mit dem „Erbfeind“ Frankreich eingemischt. Konkret mahnte er im Kontext der Besetzung des Rheinlandes, genauer, der von Maurice Barrès vertretenen Annektionspolitik der „penetration pacifique“, die Gemeinsamkeiten der Kulturen an, insbesondere gerade der Literatur, der intellektuellen Kultur und europäischen Denktradition in dieser historisch gesättigten Topographie rund um den Rhein. Diese Topographie und ihre Ge‐ schichte gehört zum Gegenstandsbereich des Instituts „Moderne im Rheinland“. Das Saarland ist heute in der mentalen Selbstpositionierung der Zeitgenossen weiter weg vom Rheinland, als es lange Zeit war. Das sollte nicht so sein. Auch auf diesem Wissenschaftsfeld lohnt es, an alternative Vergangenheiten anzuknüpfen. Die Autoren im „Bund rheinischer Dichter“, der zum Gegen‐ standsbereich der Forschungen des Instituts zählt, dachten z. B. vor hundert Jahren wieder einmal ganzheitlich und verstanden das Saarland als Teil der Her‐ ausforderung, die ihre Zeit bereithielt. Sie wollten nach dem Ersten Weltkrieg einen ‚Völkerfrühling‘, der in Gedichten, Manifesten und Reden beschworen wurde. 1 Damit vertraten sie ein Projekt der europäischen Identität, das in unseren Diskurs gehört. Doch zwischen dem Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-El‐ sass, dem sich diese Tagung verdankt, und unserem Institut gibt es schon eine Geschichte, die hier und heute weitergeschrieben wird. Das Symposium zu Yvan Goll, bei dem wir hier, an der Universität des Saarlandes und dem Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, zu Gast sein durften, um diesen Europäer und für beide Institute wichtigen Zeitgenossen der Moderne einmal in den Blick zu nehmen, haben wir als großen Gewinn erfahren. Und so nehme ich den Verweis auf Curtius noch einmal auf und betone die wissenschaftliche, kulturpraktische und, last but not least, die persönliche Bereicherung, die diesen Diskurs möglich machen, auch die Anreicherung, die wir hier einmal mehr 52 Gertrude Cepl-Kaufmann in den gemeinsamen Topf hineingeben. Ich bedanke mich für die Einladung, die Arbeit und das Konzept des Instituts hier vorzustellen und damit eine weitere, nun auf das wissenschaftliche Selbstverständnis des transdisziplinären Diskurses zur Identitätsproblematik zielende Perspektive zu eröffnen. Wir treffen hier zusammen als gelernte Literaturwissenschaftler: innen, und sind doch immer auch Historiker: innen, Medien- und Kulturwissen‐ schaftler: innen. Wir haben uns innerhalb unserer Disziplin bewegt, es hat uns bewegt, wir wurden bewegt. Wo begegnen wir uns aktuell, können wir uns hier und jetzt betreffen lassen? Um das herauszufinden, tauschen wir Erfahrungen aus, lassen uns in die Karten schauen. Ich spreche hier in Absprache und Rollenverteilung mit Jasmin Grande, der stellvertretenden Leiterin des Instituts „Moderne im Rheinland“. Mit ihr habe ich gemeinsam Vieles erarbeitet, zurzeit stehen Reste zum Thema „100 jahre bauhaus im westen“ und das Projekt „Die Bonner Republik. Forschung - Diskurs - Öffentlichkeit“ an. Letzteres ist transdisziplinär, insbesondere auf der Ebene der Philosophischen Fakultät an‐ gestoßen, also im Bemühen, eine fächersprengende Identität in der aktuellen, oft allzu spartengläubigen Universitätslandschaft zu realisieren. Ist das Neuland? Es gibt bekanntlich keine historische „Stunde Null“, die Jasmin Grande für das Projekt „Bonner Republik“ als Narrativ der Nachkriegszeit als Herausforderung angenommen hat, auch nicht für die Forschungen, die uns hier, heute und morgen beschäftigen werden. Und so gibt es auch keine ‚Stunde Null‘ hinsicht‐ lich der Fundierung unserer Beschäftigung mit Regionen. Unsere Antwort auf diese wissenschaftliche Herausforderung ist die „Rhetorik der Region“. Diese theoretische und methodische Leitlinie ist in diesem Diskurs des Instituts seit langem virulent vorhanden. Konkret wurde sie mit der Titelgebung „Rhetorik der Region“. Es handelt sich um einen seit den späten 1990er Jahren vertretenen Forschungsansatz, der uns seither begleitet und natürlich weitergedacht wird. Für uns, das Institut „Moderne im Rheinland“, gab und gibt es Haltepunkte bei der Suche nach Ausdifferenzierung der theoretischen und methodischen Implikationen des Zugangs zur Analyse von Kulturtopographien: 1. Die 1990er Jahre: Die Existenz zweier An-Institute an der Hein‐ rich-Heine-Universität, nämlich analog zum Moderne-Institut das Ei‐ chendorff-Institut, das sich der Erforschung Oberschlesiens widmete, führte zu komparatistischen Blicken auf kultursoziologische und literar‐ historische Zusammenhänge. Schon in diesem Diskurs war das Litera‐ turarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass dabei. Das Vergleichsmoment ergab sich insbesondere mit den literarischen Quellen. Oft sind es poeta minores oder allzu heimattümelnde, ja, bedingt durch die für alle drei Regionen ver‐ 53 Das Institut „Moderne im Rheinland“ 2 Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprä‐ gungen der Moderne. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann / Georg Mölich. Essen 2010 [Düsseldorfer Schriften zur Literatur und Kulturwissenschaft 6]. gleichbaren aggressiven Grenzdiskurse entsprechende Kontexte, durch vergleichbare Herrschaftsdiskurse mit annektionistisch instrumentali‐ sierten Autoren auch ideologisch armierte Texte. Wenn uns nicht dieses kulturwissenschaftliche Interesse geleitet hätte, wäre es uns schlecht ergangen. Jedes methodische, an den Maximen der Werkimmanenz und ihrer Vorliebe für eine rein ästhetisch dimensionierte Höhenkammlite‐ ratur orientierte Programm hätte eine wahre Kassationsorgie zur Folge haben müssen. Der verbleibende Rest an Literatur hätte sehr bescheiden ausgesehen! Noch folgenreicher: Das eigentliche Interesse an Literatur und Kultur in Regionen ließ sich damit überhaupt nicht angehen. Ein paradigmatischer Wechsel in der Fragestellung musste vollzogen werden. 2. Das erste Jahrzehnt in den 2000er Jahren bot weitere Perspektiven mit zwei DFG - Tagungen: „Kulturtheorie und Region“; und „Konstruktions‐ prozesse der Region unter dem Aspekt der europäischen Moderne“ 2 sollten die Forschungen zur Kultur in der Region fundieren. Hier wurde der gezielte Rekurs auf das tradierte und erstaunlich leistungsfähige Element der artes liberales noch ein wenig als Provokation in den Diskurs eingeführt. Doch die Perspektive wurde deutlich herausgearbeitet: Kultur ist, im Denken und der Pragmatik der Rhetorik, Gestus, erkennbar in Strukturen und generell als Transfer von Bedeutung zu lesen: produk‐ tions- und rezeptionsästhetisch relevant. 3. Das zweite Jahrzehnt begann mit einem EU-Antrag im Rahmen des „Seventh Framework Programme“ zum Thema „TRIANGLE - Tri border areas as reality, paradigm and challenge for Europe“. Es führte aus dem Dilemma heraus, jede Region, die historisch als Grenzregion eine spezifische Geschichte mit sich führt, in bipolaren Mustern zu denken, diesseits und jenseits der Grenze Identität und Alterität zu verankern. Genau das, so zeigte sich mit der Ausdifferenzierung der Forschungen zur Erinnerungskultur, über Pierre Nora bis zu Jan und Aleida Assmann, ist zu eng gedacht. 4. In den vergangenen Jahren haben Jasmin Grande und ich eine eigene Forschungsperspektive ausgearbeitet. Sie umfasst die Weiterentwicklung und Anwendung der „Rhetorik der Region“, darüber hinaus hat Jasmin Grande den Diskurs weiterbewegt, wie sich im nachfolgenden Beitrag erkennen lässt. Konstant bleibt dabei das Denkbild Dreiländereck. Das wollten und wollen wir als Paradigma entwickeln, um jeder bilateralen 54 Gertrude Cepl-Kaufmann Versuchung trilateral zu entkommen. Damals war TRIANGLE ein EU-An‐ trag in der dort weitgehend festgelegten Dimension einer „large Chal‐ lenge“. Wir mussten dennoch zugreifen, um das Thema der grenzüber‐ schreitenden kulturhistorischen Forschung zu vertiefen. Konkret musste unser Projekt Mindestkosten von vier Millionen Euro einplanen. Das Geld für die Antragstellung hatte uns das Wissenschafts-Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen zum zehnjährigen Bestehen des Instituts geschenkt. Wir haben den Zuschlag bei einer zu erwartenden Erfolgs‐ quote von 7,5% für EU-Projekt im Bereich Kultur nicht bekommen, aber etliche internationale Diskurse zu Dreiländerecken vom Bodensee bis zur Gemengelage von Kaschuben, Polen und Deutschen in Danzig zu „Konferenzen“ und Kooperationen generiert. Immer im Blick: das Paradigmatische des dreidimensionalen Blicks und die dazu entwickelten methodischen Konzepte: damals in Zusammenarbeit mit u. a. einem sozialwissenschaftlichen Institut in Wien, das mit dem Ansatz der Sozi‐ alkapitalforschung eine Vergleichsebene ausdifferenzierte und für die Untersuchung von nationalen Nachbarschaften fruchtbar machte. Wir haben daraus z. B. eine Möglichkeit entwickelt, solche Nachbarschaften in Dreiländerecken, also komplexe Zusammenhänge vermittels der „Sympa‐ thograhie“ erkennbar zu machen. Diese Form der Analyse der jeweiligen Urteile über den angrenzenden ‚Anderen‘ sind für nationale Literatur‐ diskurse geradezu ideal. In einem der Diskurse, nämlich auf der Suche nach der „Gedächtnistopographie“ waren die Saarbrücker Forschungen beteiligt. Konkret war es das mit der Universität Danzig und dem dortigen Kaschubischen Institut realisierte Symposion „Gedächtnistopographien in trilateralen Räumen“. Es gab viele Fragen: Gibt es Gedächtnis-Identi‐ täten: natürlich und sehr laut und im Blick auf die Literaturgeschichte: ja! Wie begegnen sich die Ebenen? Wo werden sie greifbar? - Für das Institut gab es zu diesem Zeitpunkt eine klare Linie, ja, eine Antwort. Im Bescheidenheitsgestus formuliert: der Versuch einer Antwort. Wie in der Antike eine Vorstellung davon herrschte, dass das Gehirn ein Ort des Gedächtnisses ist, der die Gegenwart analysierbar und sinnvoll strukturierbar macht, lässt sich auch heute noch ein Ort ausmachen, sozusagen das heuristische Land, auf dem die Regeln dieses Systems anwendbar sind: Nennen wir sie: Kulturtopographie. 5. Das Institut Moderne im Rheinland ist dabei, mit diesem Begriff Kul‐ turtopographie kultursoziologische Arbeitsschwerpunkte, z. B. zu litera‐ risch-kulturellen Gruppenbildungen, etwa „Künstlerkolonien“ zu bün‐ deln und auszubauen. Genau genommen vertritt auch das Institut 55 Das Institut „Moderne im Rheinland“ 3 https: / / lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ apokalypse_und_utopie_gehoeren_zusammen? n av_id=8444#comment_2281 (zuletzt abgerufen am 4. August 2020). 4 Die Bonner Republik 1945 - 1963. Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Ge‐ schichte - Forschung - Diskurs. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande / Ulrich Rosar / Jürgen Wiener. Bielefeld 2018; Die Bonner Republik. Band 2: 1960 - 1975 - Aufbrüche vor und nach ‚1968‘. Bielefeld 2020. „Moderne im Rheinland“ selber eine Kulturtopographie. Im Kontext einer Tagung zur Erinnerung an 100 Jahre Sonderbund im Kölner Walraff-Ri‐ chartz-Museum haben wir diese nationale Besonderheit für die Moderne in Deutschland sozusagen für uns reklamiert. Mit dieser Vergangenheit ergibt sich ein Konstrukt und doch auch lebendige Gegenwart, wie hier zu sehen, doch zukünftig auch weiter zu fassen sein würde, z. B. mit Fragen nach dem, was die Bonner Republik zu einer Kulturtopographie macht; und was mit dieser kulturwissenschaftlichen Sicht auf historische Zusammenhänge der Geschichtsforschung überlegen ist, wenn es um das Verständnis der Formate, der leitenden Ideen, der kulturellen Identität geht, die eo ipso den Verlauf der Geschichte lenken. Die Aktualität der Rhetorik Einen Rückgriff auf längst überholt Scheinendes bedarf der Legitimation und Erprobung: Die Rhetorik war in der Antike eine anwendungsorientierte Kulturtheorie und -praxis. Diesen Standpunkt haben wir genutzt und sprechen von der „Rhe‐ torik der Region“. Das Thema impliziert eine Frage: Ist der Begriff „Rhetorik“ nicht schon längst zu eng? Das wollte auch das Wissenschaftsportals L.I.S.A. der Gerda Henkel-Stiftung im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit von regionaler historischer Forschung wissen. 3 Ja und nein: Der Begriff „Rhetorik“ verweist auf eines der tragenden Elemente unserer europäischen Bildungsgeschichte und es wäre ein Fehler, ihn in einem arroganten Akt als überflüssig oder überholt zu streichen. Tatsächlich lässt sich „Rhetorik der Region“ geradezu als Leitfaden, als unerschöpfliche Versicherung lesen für die Stabilität, die in die Streitdiskurse um die Identität von Regionen immer im Spiel ist, und wie man gerade im Blick auf die Streitdiskurse um den realen oder/ und symbolischen Ort im Feld „Hauptstadtregion“, das wir uns gerade im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Bonner Republik“ 4 anschauen, durchaus sehen kann. Der Stabilität, die der Begriff und die Geschichte der Rhetorik in sich tragen, begegnet mit dem Begriff „Region“ ein weitaus weniger leistungsfähiger Referenzort. Einen solchen suchen wir, wenn es um eine „Rhetorik der Region“ gehen soll. 56 Gertrude Cepl-Kaufmann Dennoch: Aus der Erkenntnis der vergangenen und gegenwärtigen For‐ schungsprojekte sollte der Begriff Region durch den Begriff Landschaft nicht getilgt, aber ausdifferenziert werden. Landschaften sind Teil von fluiden To‐ pographien. Sie sind Konstrukte mit hohem Symbolwert, machen Regionen generierbar. Sie bergen die latente Kraft, Veränderungen und Verschiebungen zu suchen, zu fördern, kulturpraktisch (etwa mit der poetischen Version) zu begleiten. Eine Landschaft ist mehr als ein Konstrukt mit geologischen Besonderheiten. Ja, das materiale und zeitlose Phänomen „Region“ zieht als „Landschaft“ einen mehrfachen Schriftsinn an sich. Ein Blick auf den Rhein und das, was darüber geschrieben wurde und wie er in die Politik einwirkte, beweist das. Da geht es z. B. um eine Entwicklung vom ‚romantischen Rhein‘ zum ‚eisernen Rhein‘. Der Blick auf das romantische Herzstück des Rheins zwischen Koblenz und Bingen und die Genese der Seelenlandschaft, die wir damit verbinden und in der Literatur reichlich bedient finden, wandelt sich in den 1920er Jahren zum Ruhrgebietsrhein. Die Industrialisierung spielt eine Rolle, ebenso die politische Landschaft. Beides hat die Autoren im „Bund rheinischer Dichter“ bewegt. Sie verabschiedeten sich von der Romantik, die im Zuge der Genese einer „Politischen Romantik“ die fatale Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland hochgeschraubt hatte, und siedelten sich um Duisburg als zentralem Ort des „eisernen Rheins“ und der kulturellen Mo‐ derne des 20. Jahrhunderts wieder an. Die „Ruhrbesetzung“ lässt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als politisches Ereignis lesen, aber auch als Adaption einer Region für die Literatur. Dieser Wechsel einer Landschaft bestimmte die 1920er Jahre. Ein weiteres Beispiel, das eng mit dieser Bedeutungsverschiebung zu tun hat: Von Westfalen als traditioneller agrarischen Landschaft ging es in dieser Zeit ins Ruhrgebiet. Ein Teil, Ostwestfalen und Schaumburg-Lippe blieben weitgehend in ihrer Identität erhalten, der westliche Teil Westfalens ver‐ bündete sich mit dem Ruhrgebiet. So entstanden das eigentliche „Ruhrgebiet“, die Ansammlung von Städten mit Kohle- und Stahlindustrie, und dem Teil eines „Ruhrgebiet-Westfalen“, das zwischen Industrialisierung und verbleibender und erinnerter agrarisch-stammesbiologisch behaupteter Identität beiden Seiten gerecht zu werden versuchte oder opponierte. Literarische Gruppen wie die „Ruhrland-Gemeinschaft“ haben diesen Landschaftswechsel literarisch aufge‐ griffen. Die Dortmunder Gruppe 61 fundierte in der Nachkriegszeit die erst in den späten 1920er Jahren zögerlich ansetzende Literatur eines Ruhrgebiets, das bereit war, sich über den Begriff „Arbeit“ befragen zu lassen. Fazit: Unser Projekt ist dem Erkenntniswert differenzierter Landschaftskonst‐ rukte verpflichtet. Dabei richtet sich das Interesse auf das Landschaftskonstrukt „Rheinland“ - ebenso wenig mit genauen Grenzen festzuzurren wie der mäan‐ 57 Das Institut „Moderne im Rheinland“ 5 Carl Einstein steht im Fokus der Forschungen des Instituts, insbesondere auch die Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema Landschaft und seiner Herkunft. Vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande: Rheinland - Berlin - Paris. Carl Ein‐ steins messianische und spirituelle Identitätssuche im Kontext seiner biographischen Topographie. In: Carl Einstein und die europäische Avantgarde / Carl Einstein and the European Avant-Garde. Hrsg. von Nicola Creighton / Andreas Kramer. Berlin 2012, S. 13-30. dernde Rhein selbst. Stromlandschaften sind, wie gesagt, fluide Topographien. Solch poltisch-gesellschaftlich geprägte Landschaftskonstrukte, die sich wan‐ deln, sind ein Indikator für Regionen, lassen fragen, wie differenziert und nach‐ haltig (= LVR-Jargon) diese Verschiebung ist und als wie verwandlungsfähig sich dieser Hang zur Identitätssuche erweist. Der wissenschaftliche Zugriff ist die daraus folgende Aufgabe zur Vergewisserung, Auseinandersetzung. Daraus folgt die Frage nach dem Beitrag zur Prägung von Landschaft insgesamt. War die Veränderung eine kulturelle Erneuerung? War sie ein positiver Impuls? War sie oktoyiert, oder auch eine symbolische, wütende Abwehr à la Carl Einstein, dem im rheinischen Neuwied und in Karlsruhe, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankreich aufgewachsenen Schriftsteller und Ästhetiktheoretiker: „Landschaft ist eine archaische Frechheit - zerschlagen wir uns direkt“. 5 Folgt daraus ein ästhetisches Prinzip? Wie vollzieht es sich? Wie z. B. wurde aus der sensiblen Rheinromantik die Rhein-Wein-Lyrik? Wie und wo ist dieser Wandel ablesbar, wird ein Gestus daraus? Eine Menge an Fragen. Aber genau dies macht die Rhetorik aus: Sie ist die Kultur des Befragens. Für solche Befragungen haben wir einen Standpunkt, vertreten die Interessen einer Topographie, wissen um die fluide Topographie und denken immer ein Drittes mit: eine Heterotopie. Doch ein weiteres Element ist in der Titelmatrix des Instituts angelegt: die „Moderne“. Was hat es damit auf sich? Regionen sind abstrakte terrae, geologisch zu vermessen und zu analysieren. Sie werden von politisch wirkenden Kräften verwaltet, ins Spiel gebracht, mal gut und mal schlecht behandelt. Landschaften sind mehr, binden Natur und Kultur zusammen und haben ihre eigene Würde. Sie sind nichts ohne die, die sie erkennen und auf den Punkt bringen, die ihrerseits nicht minder abhängig von etwas sind, was diesen Landschaften offensichtlich zu eigen ist und sich zu einem identitätsbildenden Prozess anbietet. Ein solcher Prozess kommt, wie z. B. gänzlich landschaftsunabhängig scheinende Intellektuelle und Dichter beweisen, da vor, wo wir sie am wenigsten vermuten. Das gilt für die produkti‐ onsästhetische Seite wie für die rezeptionsästhetische. Sie sind vor allem deshalb für eine Kulturwissenschaft, wie sie das Institut „Moderne im Rheinland“ mit 58 Gertrude Cepl-Kaufmann 6 Gertrude Cepl-Kaufmann: Denkbild und Praxis. Zur Rhetorik der Region. In: Konstruk‐ tionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kauf‐ mann / Georg Mölich. Essen 2010 [Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kultur‐ wissenschaft 6], S. 45-79. seiner theoretischen Fundierung mit einer „Rhetorik der Region“ 6 vertritt, von Belang, weil sie sowohl mit ihrer subversiven Kraft überzeugen, als auch wegen ihres Identitätsbegriffs schlechthin unabdingbare Notwendigkeit sind im Diskurs um den Identitätsbegriff schlechthin, den Begriff von „Heimat“. Sie werden geradezu als Zeugen gegen jede Heimattümelei und einen sentimen‐ talen wie rückwärtsgewandten Heimatbegriff auftreten. Sie retten etwas, was als sensus literalis keinen Anspruch auf Rettung haben dürfte, weil ein solcher Anspruch auf Heimat nichts mehr als einen Herrschaftsanspruch, ins Private verabsolutiert, bedeutet. Ihm zur Seite ein Verständnis von Heimat, das nicht mehr zu bieten hat als die Funktion eines Fluchtraumes. Der Identitätsbegriff „Heimat“, im Sinn unserer literarischen Zeitzeugen verstanden, meint dagegen keinen grenzziehenden, markierten und exklusiven Raum, sondern etwas weit Ausstrahlendes, wie bei Einstein, eben jene geistig-historische Landschaft mit ihren markanten Zentren, die wie eine Semiophore mehr verwaltet als ein persönliches Interesse oder Vorrecht. Sie muss quasi ‚dreieckig‘ angeordnet sein: jede ins Absolute drängende Aneignung und Ins-Rechtsetzung gegenüber dem Anderen, nicht Dazugehörenden, würde vom Dritten widerlegt. Nur so lässt sich nach „Moderne“ als dem Verhältnismäßigen fragen, ohne einem populistischen Verdikt zu folgen. Bipolare Seitenwechsel verengen! Die Rhetorik als „Lehre“ zur Identitätsfindung Warum lässt sich von der Region zur Landschaft, nicht aber von der Rhetorik ins Postrhetorische wechseln? Sie, die Rhetorik, hat das Wechseln sozusagen im Blut! Es gehört zu ihren Generierungsregeln: Rhetorik betrachtet die Produktions- und Wirkungsästhetik von Sprache bis zu dem Sprachspielen und materialen Äquivalenten auf der Ebene der Produktion, ebenso aber auch als lebendiges Feld aktiver Rezeptionen und letztlich als Erinnerungskultur, die zu enträtseln und beschreibbar zu machen keine andere Kulturtechnik so geprägt hat wie die Rhetorik. Ihr naiver Ansatz der inventio ist nichts anderes als ein Bild für das kulturelle Gedächtnis. Politik, Kultur, Bildung, nichts existiert davon ohne die Verständigung über das Element Sprache, Bild, Gestus, zugleich auch die Verständigung über die Regeln des Verstehens: Theorie und Methodik als Säulen von Wissenschaft 59 Das Institut „Moderne im Rheinland“ waren hier immer im gemeinsamen Boot, selbst in den Zeiten von Ideologie und intendiertem Nichtverstehen. Es gibt Gründe, für die Rhetorik zu werben: Die Tübinger Rhetorikschule, von der ich gesprochen habe, hat den Zusammenhang von Welt und Gesellschaft als substantielle Faktoren, denen mit der Funktion der Rhetorik erst die Möglich‐ keit einer adäquaten diagnostischen Korrespondenzdisziplin gegeben wurde, eindringlich formuliert. Dort ist auch das Grundgesetz einer demokratischen Rhetorik aufgestellt worden, mit der die Identität von Reden und Wollen festgeschrieben und deren gesellschaftliche Relevanz bewiesen wird. Nicht von ungefähr geht dies zeitgleich mit dem Gadamer / Habermas Diskurs zum Uni‐ versalitätsanspruch der Hermeneutik. Wenn aber zeitgleich das Rhetoriksystem in den Anwendungsbereichen Werbung und Managerschulung ausgeschlachtet wurde, so zeigt dies zwar die konstante, gegenwartsadäquate Leistungsfähig‐ keit, zugleich aber auch die Gefahren einer nur die Oberfläche persuasiver Kommunikation abschöpfenden Anwendung. Dass diese funktionale Beschrän‐ kung nicht notwendig, sondern die Rhetorik in einem viel weiter reichenden Sinn nutzbar zu machen ist, könnte ihr Einsatz in der kulturwissenschaftlichen Forschung beweisen. Rhetorik ist vom Denkbild her geradezu auf das Phänomen Erinnerung fixiert. Sie zeigt aber auch, dass Erinnerung nur dann rezipierbar ist, wenn sie in eine Form gegossen als Kulturträger anzutreffen ist. Nicht zuletzt gibt sie den Weg an, wie sie entstanden ist, also ins Zeichen gefunden hat, und wie sie wieder dechiffrierbar wird. Dazu lässt sich die Theorie der loci hervorragend einsetzen. Begriffe wie „Denkbild“, „Erinnerungskultur“ und deren Varianten, Erinnerungsorte, Memorialia etc., haben hier ihren Platz. Hatten die alten Griechen in anschaulicher Weise nach den Örtern ihres Gedächtnisses gefragt, wenn sie sich auf eine Rede vorbereiteten, lässt sich auch heute noch für jede Form der Mündlichkeit, für jede Rede, aber auch für jede Form der Schriftlichkeit die antike Locus- oder Toposlehre mit Gewinn heranziehen. Ist es das private Gedächtnis, das Auskunft gibt über die loci ad personam, die in einer epideiktischen Rede zu bedenken sind, entsprechen dem die Akten in der Juristerei, die Archivalien in den Geschichts- und Geisteswissenschaften, nicht zuletzt das Wissenschaftssystem, das Träger vieler Schubladen ist, aus denen schriftliche und mündliche Zeugnisse hervorgezaubert werden können, um Erkenntnisse zu reproduzieren. Das Rhetorik-Lehrbuch von Gert Ueding und Bernd Steinbrink bietet einen differenzierten Katalog kritischer Fragen, der nur noch für das anstehende Problem der komparatistischen Regionalforschung 60 Gertrude Cepl-Kaufmann 7 Gert Ueding / Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986, 4. Aufl. Stuttgart 1994; vgl. hier vor allem die „Fundstätten der Beweise (loci, topoi)“, S. 218-235. Hier könnte eine differenzierte Weiterschreibung beginnen. 8 Vgl. dazu Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Hrsg. von Heinz Maus / Friedrich Fürstenberg. Berlin / Neuwied 1966 [Soziologische Texte. Bd. 34]. 9 Vgl. dazu Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Berlin 1990. 10 Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Ge‐ schichtstheorie. Frankfurt a. M. 2016. weitergeschrieben werden muss. 7 Ist es die loci-Lehre, die eine quellenkritische Arbeit und damit die Qualität von Forschung sichert, wird es keine mündliche und schriftliche Äußerung geben können, die ohne negative Konsequenzen auf die Denkbilder der Redeproduktion verzichten könnte. Ihre Phasen der Produk‐ tion folgen ebenfalls nicht nur der Tradition, sondern sind auch einem anthro‐ pologisch und in abendländischer Tradition angereicherten und dem Gedächtnis inskribierten Ablauf unterworfen. Jeder Manager, der eine Rede vor seinen Aktionären hält, jede Werbung, vermittels derer Buttermilch oder Babywindeln verkauft werden sollen, wird diesen Fundus wahrnehmen. Überschreibungen des Gedächtnisses, wie sie die kulturwissenschaftliche Forschung so sprachreich analysiert, hat ohne Kollisionen in dieser antiken Theorie und Praxis Platz. Die in die Kulturwissenschaften drängenden Ansätze der Gedächtnisforschung, etwa durch die Arbeiten von Maurice Halbwachs 8 oder Pierre Nora 9 , geben diesen Vorstellungen ein naturwissenschaftlich begründetes Unterfutter. Achim Landwehr 10 hat mit seinem „Essay zur Geschichtstheorie“ unter dem Titel Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit 2016 eine Fundierung für die Gegenwart vorgelegt. Doch nicht nur unsere Fakultät arbeitet daran: Hier wären die Forschungen und die durchaus offensive Wissenschaftspraxis des Münchner Neurowissenschaftlers Ernst Pöppel von Bedeutung. Als Leiter des Humanwissenschaftlichen Zentrums an der Maximilians-Universität hatte er als einer der Pioniere im Sinne einer „Sinnesphysiologie“ die neurologische Vernetzung zu seinem Thema gemacht. Ganz im Sinne der Rhetorik kommt er zu einem Begriff, der deren Fundierung aufgreift und weiterschreibt. Die Leistung des Gehirns, das eine Fülle von Informationen ungeordnet aufnimmt und sie intern vernetzt, lässt sich in diesem Begriff „Syntopie“ anschaulich machen und damit unserem Bild von „Kulturtopographie“ wie eine Art Skelett oder besser Röntgenaufnahme zur Seite stellen. Pöppel wird mit seiner Syntopie zum Vermittler einer aktualisierten Rhetorik, die zugleich eine Synthese der Wissenschaften, implizit damit der Kulturen und kulturellen Praktiken leistet. Im Interview mit Christiane Fricke hat Pöppel den Begriff „syntopische Land‐ 61 Das Institut „Moderne im Rheinland“ 11 Für eine Überwindung der Teilkulturen. Christiane Fricke im Gespräch mit Ernst Pöppel. In: Kunstforum International 144 (1999), S. 47. Vgl. dazu auch: Ernst Pöppel: Radikale Syntopie an der Schnittstelle von Gehirn und Computer. In: Die Technik auf dem Weg zur Seele. Forschungen an der Schnittstelle Gehirn/ Computer. Hrsg. von Christa Maar / Ernst Pöppel / Thomas Christaller. Reinbek 1996, S. 12-29; Weltwissen - Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild. Hrsg. von Christa Maar / Hans Ulrich Obrist / Ernst Pöppel. Köln 2000. schaft“ umschrieben. In Pöppels Definition sind Bild und Speicher faktisch zwei Seiten eine Medaille: Der Begriff […] ist mit einer personalen Identität verbunden. Wenn man sich fragt, was macht eigentlich mein Ich aus, […] dann stellt man fest, dass es die Bilder sind, die ich aus meiner Vergangenheit in mir trage. Es prägen sich also in mir Bilder ein, die meine Lebensgeschichte erst eigentlich ausmachen, und zwar aus einem abrufbaren bildhaften Gedächtnis. Diese Bilder sind immer mit Orten verbunden. Es sind immer Orte, an denen etwas geschehen ist. Das heißt für mich, dass Syntopie die Grundlage bzw. der Begriff ist, um personale Identität fassbar zu machen. […] Ich vertrete im Übrigen die These, dass die Orte wieder wichtiger werden, weil wir immer virtueller kommunizieren. 11 Die Rhetorik überzeugt bis heute als elaboriertes methodisches Konzept eines systematischen Erfragens. Hier begegnet es sich mit den Aufgaben einer Kul‐ turwissenschaft und macht, wie gezeigt, das gesamte Feld der topoi/ loci-Lehre interessant und aktualisierbar. Dies gilt auch im Verbund mit weiteren Bereichen dieser erkenntnisträchtigen Disziplin. So ordnet sich die topoi/ loci-Lehre in das System der partis artis, der Konzeption der fünfphasigen Bearbeitung jeder Rede ein: Befragt man das System der Rhetorik, so zeigt es sich gerade in dieser Redelehre und den sie anthropologisch stützenden Anweisungen als kompe‐ tenter Partner. Die Leistungen der Rhetorik sind für jede der partes artis von beträchtlichem Wert und können in bemerkenswerter Weise für die wissen‐ schaftlich-analytische Arbeit an einer Kulturgeschichte der Region übertragen und genutzt werden: 1. Die inventio wird weitergeschrieben in einer Theorie der Erinnerung. Sie ist mit dem topoi/ loci-Verständnis der Antike gegeben. Die topoi/ loci-Lehre vermittelt einen Fundus von Zeichen, der sich als Erinnerungs‐ schatz in allen bewahrenden Institutionen und Medien, aber auch der privaten Erinnerung bereithält. 2. Die dispositio prägt den strukturierenden, intentionalen Umgang mit der Erinnerung. Hier setzt die Fundierung der Erforschung von Räumen 62 Gertrude Cepl-Kaufmann und Regionen über die Analyse ihrer unbewussten, intendierten und sub‐ versiven Wirkungsmuster an, z. B. der politischen Programmschriften, in denen sich die planerischen Investitionen zur Erreichung politischer Ziele zeigen, z. B. die offiziellen Vorgaben für die groß angelegten Jahrtau‐ sendfeiern, nach denen sich alle lokalen Ereignisse auszurichten hatten. Texte und Zeichen waren immer auch bewusste Inanspruchnahme des Erinnerungsarsenals. 3. Die elocutio und das darin aufgehobene System des ornatus spielt im kulturellen Feld naturgemäß eine wesentliche Rolle. Hiermit können die literarischen und künstlerischen Zeugnisse in ihre Gestalt- und Zeichenhaftigkeit erkannt werden, z. B. gibt die Veränderung des Lo‐ reley-Mythos bis in die Kompilation von Loreley und Germania ein aus‐ differenziertes Spektrum von Beschreibungsmöglichkeiten. Der Wechsel der Bildsprache etwa, die an die Stelle des üppigen Blondhaares eine Pickelhaube setzt, die sinnliche Nacktheit der mythischen Figur, die durch einen rüstungsstarren Panzer ersetzt wird, lassen Erkenntnisse über die Entwicklungen der regionalen und die impliziten Überschreibungen mit der nationalen Identität zu. 4. Die memoria gibt die Logik und Praxis der Erinnerungskultur ab, denn schon die Alten wussten, dass das Gedächtnis ein vorstrukturierter, ebenso anthropologisch übergreifender Kulturträger ist, dem man nicht entgegen arbeiten kann. So wird die Memorierung der Rede sich an deren Struktur anbinden, wie umgekehrt die Verfertigung der Rede nicht ohne die Beachtung ihrer Vermittlungsregeln sinnvoll möglich ist. So ließe sich die Fülle inszenierter memoria einmal durch eine Feldforschung zur Vernetzung der in jeweiligen Zeiten mit der entsprechenden Kom‐ petenz ausgezeichneten Sammler kultureller Erinnerung - Archive - und der heutigen Struktur regionaler Erinnerungsträger - Archive und Forschung - weiterführen. 5. Die pronunciatio motiviert zu einem Blick auf die Adressaten der kulturel‐ len Produktion bis hin zu den Systemen, derer sie zur Vermittlung bedarf und die sie nutzt. Hier bedarf es einer Fülle von Einzeluntersuchungen, die einfließen in eine Analyse der Medien und Institutionen, die für die Ankunft von Botschaften sensibilisieren - alle Sozialisationsinstanzen von der Wiege bis zur Bahre -, die den Transfer tragen oder unterwandern - von den Zeitungen, Büchern, Rundfunk- und Fernsehanstalten bis zur grauen Literatur, von den großen und kleinen, scheinbar bedeutenden bis unscheinbaren Gruppen, die Abnehmer von Sprache und Zeichen sind. 63 Das Institut „Moderne im Rheinland“ Die Übertragung bzw. Anwendung der Bearbeitungsphasen, der partes oratoris ließen sich auf der Produktionsseite ebenso verfolgen wie auf der der Rezeption und zwar bis in die Strukturierung von Aussagen, z. B. den Texten und der Bildsprache eines Denkmals oder einer Münze. Sie lassen sich darüber hinaus mit dem System der Tugenden sprachlicher Darstellung, den virtutes elocutionis, kritisch prüfen. Auch die Aufgaben des Redners können der Entschlüsselung seiner Ab‐ sichten, aber auch seiner Kompetenz dienen: Als officia oratoris ist in ihnen Logik, Ethos und Pathos zu sichten, somit die intellektuellen und affektiven Muster wahrzunehmen. Auch hier bietet sich ein immenses Anwendungsfeld, beispielsweise in der Ausarbeitung der Gestaltung von Ausstellungen, wie bereits ein flüchtiger Blick auf eine Ausstellung wie die über „entartete Kunst“, mit denen sich die Nationalsozialisten öffentlich machten, beweist. Diese analytische, in der Weiterschreibung und Aktualisierung der Rhetorik fundierte Praxis einer Erforschung von Region/ Landschaft hätte nach dem Prinzip der Evidenz einige Chancen, nicht nur die Stereotype quantitativ und qualitativ herausstellbar zu machen, sondern auch die progressiven Muster, politische Zielvorstellungen und die ihnen zutiefst zugrunde liegenden und eingeschriebenen Humanitätsmuster zu zeigen. Vor allem ist die Rhetorik überaus neugierig. Eine wunderbare, wissen‐ schaftsträchtige Fundierung: Sie macht aus Prinzip neugierig, unsere Regionen zu befragen und sie zu einer komparatistischen Rhetorik von Region und Landschaft weiterführen, Kultur als Gestus ernst zu nehmen. 64 Gertrude Cepl-Kaufmann 1 Vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann: Der „Arbeitskreis zur Erforschung der Moderne im Rheinland“ als An-Institut an der Heinrich-Heine-Universität. In: Jahrbuch der Hein‐ rich-Heine-Universität Düsseldorf 2006/ 2007. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, S. 515-528. 2 Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande / Georg Mölich (Hrsg.): Rheinisch! Europä‐ isch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg. Essen 2013. Die Publikation fand im Rahmen der Ausstellung „1912. Mission Moderne“ zum Centenaire der Sonderbundausstellung 1912 im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud statt. Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien - Mit einem Fokus auf die Matrix des An-Instituts „Moderne im Rheinland“ Jasmin Grande, Düsseldorf 2019 und 2020 jährte sich die Gründung der „Moderne im Rheinland“ als Arbeitskreis ebenso wie als An-Institut zum 30. bzw. 20. Mal. 1 Ausgangspunkt für den ministeriellen Gründungsappell zum Arbeitskreis Ende der 1980er Jahre war der Mangel an interdisziplinärer Forschung zur Region. Mit der Anbindung zunächst an die Aachener Germanistik über den damaligen Lehrstuhlinhaber Dieter Breuer und seit 2001 an die Düsseldorfer Germanistik über Gertrude Cepl-Kaufmann, steht die home base der „Moderne im Rheinland“ in der Germanistik. Ausgehend von einem komparatistischen Wissenschaftsbegriff arbeitet das An-Institut über Regionen und Modernen, insbesondere das Rhein‐ land und dessen Moderne. Über Jürgen Wiener als zweitem Vorsitzenden des Arbeitskreises hat in den letzten Jahren verstärkt eine Anbindung an das Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattgefunden. Die Moderne im Rheinland hat in der Vergangenheit, mit ihrer Befragung der Rhetorik der Region, der Gedächtnistopographien im Vergleich sowie der Arbeit an einer Kulturtopographie der Bonner Republik Schwerpunkte gesetzt, die auf die Relevanz von Ausstellungen für die Region, 2 den Kirchenbau in 3 Vgl. z. B. Jürgen Wiener: Von der Bebauung der Region. Aufsätze zur architekturhis‐ torischen Moderne an Rhein und Ruhr. Hsrg. vom Arbeitskreis zur Erforschung der „Moderne im Rheinland“ e. V. Bielefeld 2019. 4 Vgl. Jasmin Grande: Glasgalaxien 1919-2019 [erscheint 2021]. 5 Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande: Schreibwelten - Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61. Essen 2011 [Schriften der Arbeitswelt 22]. 6 Vgl. z. B. Karin Struck: Klassenliebe. Roman. Frankfurt am Main 1973; dies.: Die Mutter. Roman. Frankfurt am Main 1975; dies.: Trennung. Erzählung. Frankfurt am Main 1978. 7 Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande / Ulrich Rosar / Jürgen Wiener (Hrsg.): Die Bonner Republik (1960-1975). Geschichte - Forschung - Diskurs. Bielefeld 2020. 8 Vgl. hierzu die Tagung „VerOrtung der Moderne. Begriff - Institution - Forschung“ vom 1.-3. Juni 2016, Programm und Konzept unter https: / / moderneimrheinland.files.w ordpress.com/ 2016/ 05/ presseinformationmoderne.pdf (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). der Moderne, 3 den Transfer von Avantgarde im Wissensbegriff 4 oder auch das Spannungsfeld einer regionalen Moderne zwischen Kunst, Literatur, Engage‐ ment und Diskurs aufmerksam gemacht. Mit dem Forschungsschwerpunkt der „Bonner Republik“ gerät insbesondere im Vergleich zur frühen Moderne ein Zeitraum in den Blick, in dem sich die Literatur an ihrem raumbeschreibenden Potential in der Erkundung eines bundesrepublikanischen Profils erprobt hat. Sei es in Form von Schriftstellervereinigungen wie der Dortmunder Gruppe 61, 5 der eine vergleichbar enge Kooperation mit Künstler: innen, wie es 1919 z. B. im „Jungen Rheinland“ oder im Aktivistenbund stattfand, nicht nahe lag. Sei es in Form von poetologischen Strategien, wie Rolf-Dieter Brinkmanns Auseinander‐ setzung mit Köln oder Karin Strucks Texten aus den 1970er Jahren, 6 die in ihrer Arbeit an Unmittelbarkeit und Authentizität einen mentalitätsgeschichtlichen, von der Region her gedachten literarischen Raum der BRD entwerfen. 7 Wo die Anfänge der Moderne ein Plädoyer für das Miteinander der Künste führen, versucht die deutschsprachige Postmoderne die Befragung von Bild und Text über den Text zu lösen. Nicht zuletzt die Position zwischen den Disziplinen und der daraus moti‐ vierten Blickwechsel haben die literatur- und kulturtheoretischen Reflexionen des eigenen Forschungszugriffs motiviert, in die auch wissenschaftstheoreti‐ sche Fragen hineinspielen. Dementsprechend ist das Nachdenken darüber, wann die Forschungsobjekte der Kunst und wann sie der Literatur zugehören, inwiefern dies die Perspektiven auf die Region verändert ebenso wie der Vergleich der theoretischen Positionen der Disziplinen und der divergenten Forschungspraktiken Teil des Diskurses im Institut. Denn bekanntermaßen hat die Ausdifferenzierung der Disziplinen zu Verständigungshürden zwischen den Vertreter: innen der einzelnen Fächer geführt, z. B. in Form divergierender Moderne-Begriffe in der Kunstgeschichte, der Geschichte und der Germanistik. 8 66 Jasmin Grande 9 Christoph König / Eberhard Lämmert (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt am Main 1999, S. 11. 10 Carl Einstein: Arno Waldschmidt [1910]. In: ders.: Werke, 5 Bde., Bd. 1: 1908-1980. Hrsg. von Rolf-Peter Baacke. Berlin [u. a.] 1980, S. 36-40, hier S. 37. 11 Britta Caspers / Dirk Hallenberger / Werner Jung / Rolf Parr: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Stuttgart 2019, S. 14. 12 Ebd., S. 4. 13 Erstmals dokumentiert ist die theoretische Arbeit mit dem Begriff „Kulturtopographie“ am An-Institut „Moderne im Rheinland“ in Europa. Utopisch. Denken. Nutzungskonzept für das Junkerhaus Simonskall im Verbund mit konzeptionellen Überlegungen zur weiteren Entwicklung des Ortes Simonskall vom 20. April 2016, das Gesamtkonzept wurde von Und während im 19. Jahrhundert die „historische Betrachtungsweise“ als ver‐ bindendes Element, „um die kaum noch existierende, aber dringend benötigte Geschichte einer Kulturnation zu rekonstruieren“, 9 eine gemeinsame Wissens‐ identität für die Fächer der Philosophischen Fakultäten ermöglicht hat, so haben bereits die Autor: innen, Theoretiker: innen, Künstler: innen etc. der Moderne auf die Probleme einer historiographischen Systematik hingewiesen: „Es ist notwendig, das Gedankenwerk einer einheitlichen Historie zu zerstören. Jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl.“ 10 In der Literatur- und Kulturhistoriographie der Moderne spielen also neben Fragen nach den disziplinär motivierten Perspektiven eine ebenso große Rolle wie die Frage, wie die Vergangenheitsnarrative angeordnet und konstruiert sind und welchen Erkenntniswert der Anteil der Geschichte darin einnehmen kann. Wie also funktioniert regionale Literaturgeschichtsschreibung im Kontext der Moderne? Eine Antwort auf diese Frage haben unlängst Britta Caspers, Dirk Hallenberger, Werner Jung und Rolf Parr publiziert. Sie arbeiten darin mit dem Konzept der Kulminations-/ Knotenpunke: Auf regionale Literaturgeschichtsschreibung übertragen bedeutet dies, das Hand‐ lungssystem Literatur (auf das die bisherigen Arbeiten zur regionalen Literaturge‐ schichtsschreibung hauptsächlich abheben) mit dem Symbolsystem Literatur (und damit der konkreten Ästhetik der einzelnen Texte) kurzzuschließen. 11 Die Grundlage des Ansatzes bildet ein „interdiskurstheoretischer Zugriff “, der „nach denjenigen diskursiven Elementen [fragt], die Texte und Regionen gleichermaßen zugesprochen werden, […]. Damit aber können Regionen und Regionalitäten […] als ‚Kulturraumverdichtungen‘ begriffen werden […].“ 12 Dem Begriff der Kulturraumverdichtung ähnlich, allerdings stärker im me‐ dialen Arbeitsfeld der Kulturwissenschaften angesiedelt, ist der Begriff der Kulturtopographie, den Gertrude Cepl-Kaufmann für das Forschungsprogramm der „Moderne im Rheinland“ ausdifferenziert hat. 13 Ausgehend von der Be‐ 67 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien der Projektgruppe Simonskall entwickelt, das Wissenschaftskonzept von Gertrude Cepl-Kaufmann und Jasmin Grande. Vgl. außerdem Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande: Das Institut und der Arbeitskreis „Moderne im Rheinland“ bedanken sich bei dem Kollegen Jürgen Wiener. In: Jürgen Wiener. Von der Bebauung der Region. Aufsätze zur architekturhistorischen Moderne an Rhein und Ruhr. Hrsg. vom Arbeitskreis zur Erforschung der ‚Moderne im Rheinland‘ e. V. Bielefeld 2019, S. 203-213. Zur Theorie und Praxis der Erforschung von Regionen als Kulturtopographien vgl. den Beitrag von Gertrude Cepl-Kaufmann im vorliegenden Band. 14 Vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann: Denkbild und Praxis. Zur Rhetorik der Region. In: Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann / Georg Mölich. Essen 2010 [Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft], S. 45-79. 15 Vgl. hierzu die Tagung „Gedächtnistopographien im Grenzraum. Pommern und Rhein‐ land als trilaterale Kulturräume“ im März 2015. Die maßgebliche Vorarbeit zur Befra‐ gung von Dreiländerecken als trilaterale Gedächtnisräume erfolgte im Rahmen einer Antragstellung bei der EU mit dem Projekt „Triangles. Tri Border areas as reality, paradigm and challenge for Europe“ (Gertrude Cepl-Kaufmann und Anne Sokoll). 16 Vgl. hierzu die Aktivitäten der 2016 gemeinsam mit dem Dekanat der Phi‐ losophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf initiierten For‐ schungskreis „Die Bonner Republik“: https: / / www.philo.hhu.de/ forschung/ forsch ungsprojekte-forscherverbuende-graduiertenkollegs-forschergruppen-und-sonderfors chungsbereich-der-philosophischen-fakultaet/ die-bonner-republik.html (zuletzt abge‐ rufen am 1.August 2020) sowie die Einführung in den ersten Band der Schriftenreihe: Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande / Ulrich Rosar / Jürgen Wiener: Zur Kon‐ zeption des Forschungsschwerpunkts. Bonner Republik im Kontext von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert. In: Die Bonner Republik (1945-1963). Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte - Forschung - Diskurs. Hrsg. von denselben. Bielefeld 2018, S. 11-28. 17 2017 wurde aus dem Forschungskreis ein, leider nicht geförderter, Antrag für ein For‐ schungskolleg bei der VolkswagenStiftung eingereicht: Die Bonner Republik als Meta‐ Erinnerungsort. Netzwerke, Akteure, Identitätsstrategien eines westeuropäischen De‐ mokratiemodells der Nachkriegszeit: Ein Theorie-Praxis-Projekt. Antragsteller: innen: Jürgen Wiener (Antragsteller), Christof Baier, Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Volker Dörr, Ulrich Rosar, Ulli Seegers, Guido Thiemeyer. fragung einer Rhetorik der Region, 14 die eine Methode zur Befragung von Ereignissen in ihrer regionenkonstitutiven Relevanz darstellt, rückte zunächst der Vergleich einer Gedächtnislandschaft im Dreiländereck 15 und, daran an‐ schließend, mit dem Forschungsschwerpunkt der „Bonner Republik“, 16 die Frage nach der kulturwissenschaftlichen Verdichtung von Regionenentwürfen als Erinnerungsorten in den Blick und damit der Begriff der Kulturtopographie. 17 Aus einer medien- und kulturtheoretischen Perspektive hat Hartmut Böhme das Thema der kulturellen Topographie bereits 2005 in einem umfangreichen Sammelband bearbeitet, dabei standen allerdings nicht die regionalen Aspekte deutschsprachiger Literatur, sondern vielmehr die raumtheoretischen Lesarten von Literatur im Kontext von Transnationalität im Fokus. Der Band ist damit 68 Jasmin Grande 18 Vgl. Hartmut Böhme: Einleitung (zum Themenkomplex „Die Grenzen und das Fremde“). In: Topographien der Literatur. Hrsg. von ders. Stuttgart 2005, S. 597-602. 19 Toni Bernhart: Literaturgeographie als Literaturgeschichte. Theorien und Modelle. In: Raum - Region - Kultur. Hrsg. von Marjan Cescutti / Johann Holzner / Roger Vorderegger. Innsbruck 2013, S. 45-65. 20 Michael Böhler / Hans-Otto Horch (Hrsg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen 2002. 21 Michael Böhler / Hans-Otto Horch: Vorwort. In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen (Anm. 20), S. 1-9, hier S. 3. dem Forschungsfeld der interkulturellen Literaturwissenschaft zuzuordnen, die nach den Transfers zwischen Fremdem und Eigenem fragt. 18 In der Übertragung von Ereignissen und biographischen Stationen auf Karten, so zeigt Toni Bern‐ hardt anhand der Geschichte der Literaturgeographie, ist dieses Nachdenken über das Verhältnis von Text und Raum vorgenommen worden. 19 Der Schweizer Literaturwissenschaftler Michael Böhler, Co-Leiter und Na‐ tionaler Koordinator des trilateralen Forschungsschwerpunkts der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Österreichischen Fonds zur Förderung der wis‐ senschaftlichen Forschung und des Schweizerischen Nationalfonds zu „Diffe‐ renzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozess der Modernisierung“ arbeitet mit dem Begriff der Kulturtopographien, allerdings ohne ihn methodisch zu klären. 20 Im Fokus des Forschungsschwer‐ punkts stand die Untersuchung von „Vielfalt und Einheit der Literatur im deutschsprachigen Kulturraum unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturtopogra‐ phischen Ordnungsstrukturen und deren Dynamik“. 21 Es ging in insgesamt 35 Projekten um die Frage, welche Karte sich als verbindendes Narrativ für die Glie‐ derungselemente von „deutschsprachig“ und „Literatur“ entwickeln ließ. Neben der Relevanz regionaler Fragestellungen in der Ablösung nationaler Diskurse sowie einer Verschiebung des Fokus’ auf europäische Identitätsfragen, legten die theoretischen Verschiebungen des Literaturbegriffs im Kontext von New Historicism, Diskursanalyse/ Kulturpoetik und Wissenspoetik die Grundlage zur Einrichtung eines trilateralen Forschungsschwerpunkts. Dementsprechend stellt Michael Böhler in seinem eröffnenden Beitrag für die regionale Literatur‐ geschichte fest: Zu den Folgen des Nationalsozialismus und des Abdriftens der Germanistik in eine ‚Deutsche Wissenschaft‘ gehörte in der Nachkriegszeit in unmittelbarer Reaktion darauf der fast völlige Diskussionsabbruch von Fragen um binnenkulturelle Ausdif‐ ferenzierungen des deutschsprachigen Literaturraums in unterschiedliche Kultur- und Literaturlandschaften mit je eigenen Traditionslinien und literarischen Ausprä‐ 69 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien 22 Michael Böhler: Vom Umgang der Literaturwissenschaft mit kulturtopographischen Aspekten der deutschsprachigen Literatur. In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen (Anm. 20), S. 11-44, hier S. 11. 23 Z. B. durch die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, die Josef Nadler für die Disziplin der Germanistik mit seiner in verschiedenen, der jeweiligen politischen Fragestellung angepassten Überarbeitungen Literaturgeschichte der Deutschen Stämme und Landschaften (Regensburg 1912, erste Ausgabe) vornahm. 24 Böhler: Vom Umgang der Literaturwissenschaft (Anm. 22), S. 13. 25 Markus J. Prutsch: Culture, Heritage and European Identity. In: Snapshots on Music and Heritage in Europe. Hrsg. von dem Europäischen Musikrat (2019), S. 24-29, hier S. 24, abrufbar unter: https: / / www.emc-imc.org/ press-news/ publications/ wwwemc-imcorgs napshots-on-music-and-heritage-in-europe/ (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). 26 Vgl. Markus J. Prutsch: European Remembrance Policies. In: Observing Memories. The magazine of the EUROM - European Observation on Memories. Heft 2 (11/ 2018), S. 42-47. 27 Mit der Seite https: / / www.bauhauskooperation.de/ knüpfen die Kerninstitutionen, von denen das Bauhausjahr ausstrahlte, an das 2019 erarbeitete Potenzial an und geben gungen, die Ausblendung jener Fragen also, die im Zusammenhang mit dem National‐ literaturdiskurs des 19. Jahrhunderts, teilweise schon im 18. Jahrhundert, eingesetzt hatten und die in der Folge mit wechselnder Intensität und zu je unterschiedlichen Zeitpunkten in Deutschland, Österreich und der Schweiz diskutiert worden waren. 22 Böhlau zeigt, wie die Frage regionaler Literaturgeschichtsschreibung anfänglich nicht nur an ihrer eigenen Wissenschaftsgeschichte, 23 sondern auch im theore‐ tischen state of the art des Faches, der werkimmanenten Textinterpretation, in den 1950ern scheitert und über die Vorstellung, dass „nur das Mindergeglückte die Spuren seines Herkommens an sich trägt“ 24 die Suche nach einem überge‐ ordneten - nationalen - Narrativ dennoch seine Dominanz behauptet. Dass nun seit 20-30 Jahren die regionale Literaturgeschichtsschreibung wieder an Konjunktur gewinnt, ist sicherlich auch ein Impuls, der aus der Arbeit an der Europäischen Gemeinschaft sowie dem dazugehörigen Nachdenken über ein gemeinsames Narrativ, über das Spektrum geteilter Erinnerungsmomente resultiert: „It is, therefore, not surprising that culture and cultural heritage became an integral element of European political discourse on a collective European identity long before the EYCH, notably since the very beginning of the European project after the Second World War“, 25 so der habilitierte Historiker und Forschungsadministrator im Europäischen Parlament Markus J. Prutsch. Die Suche nach verbindenden Inhalten und Perspektiven zielt dabei weniger auf Vereinheitlichung, sondern auf die Entwicklung eines Begriffs von Diversität, der zugleich verbindend ist. 26 Dies findet aktuell allerdings nicht im Bereich der Literatur statt. So lässt sich das Bauhausjahr 2019, 27 mit seinen zentralen 70 Jasmin Grande der Vielfalt der Kooperationsebenen unter der Matrix #bauhaus100 einen Ort (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). 28 „In a series of site-specific exhibitions, events, and publications that took place between 2018 and 2020, bauhaus imaginista demonstrated to what extent and under which local conditions Bauhaus design debates and Bauhaus-derived pedagogical methods were taken up and further developed. The worldwide circulation of Bauhaus concepts is not understood here as a history of impact and influence, but, rather, as part of a network of international linkages and exchange relationships that were in effect prior to the avent of National Socialism and recommenced after the Second World War’s conclusion.“ (http: / / www.bauhaus-imaginista.org/ [zuletzt abgerufen am 1. August 2020]). 29 Auf der Seite https: / / www.bauhaus-machen.de/ wird das Projekt der Bauhaus Agenten, das sich den Ideen des Bauhauses unter dem Aspekt der transinstitutionellen Vermitt‐ lung widmet, dokumentiert und Material zur Weiterführung bereitgestellt (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). 30 www.lvr.de/ media/ wwwlvrde/ kultur/ berdasdezernat_1/ dokumente_179/ abschlussdok u_1914_inhalt_ansicht.pdf (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). Projekten „bauhaus imaginista“ 28 und den „Bauhaus Agenten“ 29 als ein Versuch verstehen, der, gleichwohl aus Deutschland heraus, an Möglichkeiten eines transnationalen Geschichtsnarrativs gearbeitet hat. Ebenso die Organisation der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs 2014 von Frankreich, England und Nordrhein-Westfalen aus, die u. a. an der Frage nach einer europäischen Geschichte des Ersten Weltkriegs gearbeitet haben. 30 Das Potenzial von Kunst, Literatur und Kulturtheorie als transkulturelle Metanarrative hat Konjunktur und wird als gemeinsames Jahr und Jubiläum inszeniert, so auch im European Year of Cultural Heritage (EYCH) 2018. Mit diesem Appell an die Fassbarkeit von Ambivalenz und Diversität, Gleich‐ zeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, Moderne und Antimoderne haben sich in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zuletzt vor allem die Arbeiten zur Theorie auseinandergesetzt. Für die Literaturwissenschaft kulminiert das in einem erweiterten Textbegriff, den immer auch die Debatte um das Spezifische von Texten begleitet, also das, was z. B. die Germanistik wiederum als Textwis‐ senschaft legitimiert und damit von anderen Disziplinen abgrenzt, so z. B., ausgehend von der Diskurstheorie, über die Befragung von Texten auf ihre Wissensbegriffe, in den darin vermittelten Kultur- und Wissenspoetiken. So gilt es, auch für die regionale Literaturgeschichtsschreibung, Komparatistik, Interdisziplinarität und Textbegriff in ein Verhältnis zu setzen. Einen Differenz‐ ierungsansatz stellt dabei die Frage nach dem Impact dar, den Texte und ihre Wissenschaften auf die außertextuelle und außeruniversitäre Realität haben. Wenn Eberhard Lämmert also auf dem Lateinamerikanischen Germanisten‐ kongress 2003 die Relevanz der Regionalwissenschaft für die Zukunft der 71 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien 31 Eberhard Lämmert: Germanistik global - ein Paradox? Über die Zukunft einer Regio‐ nalwissenschaft. In: Blickwechsel. Akten des XI. Lateinamerikanischen Germanisten‐ kongresses S-o Paulo - Parat - Petrópolis 2003, Bd. 2. S-o Paulo 2005, S. 353-367. 32 Wilhelm Amann: Transformationen von Regionalität in wissenschaftlichen und litera‐ rischen Diskursen. In: Theorien, Modelle und Probleme regionaler Literaturgeschichs‐ schreibung. Hrsg. von Britta Caspers / Dirk Hallenberger / Werner Jung / Rolf Parr. Essen 2016 [Schriften des Fritz-Hüser-Instituts. Nr. 30], S. 31-43, hier S. 36. 33 Ebd., S. 41. Germanistik betont, 31 so zeigt er damit Wege der germanistischen Realitätsre‐ levanz auf und vernetzt das prozessuale Handlungsgeschehen in den Texten mit der außertextuellen Realität, er legitimiert das Fach. Die Beschreibung der Laokoon-Gruppe wird damit raumgestaltend. Wilhelm Amann hat, den Beitrag Eberhard Lämmerts aufgreifend, über die Definition des Begriffs Region in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und der Sozialgeographie u. a. in Verbindung mit dem Begriff der Globalisierung eine methodisch orientierte Definition von Region erarbeitet: Regionen dieses Typs reagieren auf jene Transformationsprozesse, die im Kontext des alten Regionalitätstyps und seiner Fixierung auf Heimat und Nation, auf Familie, Brauchtum, Sprachnormen und vor allem Herkunft nicht mehr bewältigt werden können. Als flexible Rahmungen rechnen sie grundsätzlich mit einer heterogenen Population mit gestreuten Milieus, pluralen Lebensstilen, Migrationskulturen oder Transnationalitäten. Sie kommen also einem Zugehörigkeitsbedarf entgegen, der weniger an überkommenen Traditionen als vielmehr an Routinen und Normalitäten orientiert ist, d. h., sie haben transitorischen Charakter und setzen auch die Austausch‐ barkeit sogenannter regionaler Identitäten voraus. 32 Mit der Befragung zweier Texte - Stefan Thomes Grenzgang (2009) und Frank Goosens Sommerfest (2012) - nach der Übertragbarkeit dieses fluiden Regionen‐ begriffs in die Literatur schließt Amann und zeigt, dass es schwierig bleibt: Den zitierten Vorwurf des Protagonisten [in Frank Goosens Sommerfest], die Kultur‐ hauptstadtkampagne arbeite mit Verklärung, muss sich der Roman selbst gefallen lassen. Dieser performative Widerspruch würde dann auch den Stellenwert von Goosens Roman in einer Literaturgeschichte der Region bestimmen, wohingegen der mit einem ähnlichen Handlungsgerüst arbeitende Roman von Thome unspektakulär über die Kontingenz regionaler Lebensräume erzählt und zu einem zeitgemäßen Verständnis des Regionalen beiträgt. 33 Grundlegend für diesen kritischen Blick auf das Potenzial zweier Beispiele der Gegenwartsliteratur für die regionale Literaturgeschichtsschreibung ist dabei 72 Jasmin Grande 34 „Der Erfolg des Romans beruht darauf, dass er quasi als Nachlese zu den Imagekam‐ pagnen über das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadtjahr 2010 gelesen werden kann und sein Publikum mit entsprechenden Wiedererkennungseffekten versorgt.“ (Amann: Transformationen von Regionalität [Anm. 32], S. 39). 35 Vgl. Jürgen Joachimsthaler: Xenodoxie. Kultur als Praxis. In: Theorie ohne Praxis - Praxis ohne Theorie. Kulturwissenschaften im Spannungsfeld zwischen Theorie, Didaktik und kultureller Praxis. Hrsg. von ders. / Eugen Kotte. München 2009 [Kultur‐ wissenschaft als interdisziplinäres Projekt], S. 143-166. der Literaturbegriff und die Nähe zwischen Forschung und Forschungsobjekt sowie Moderne und Antimoderne. Wo zuvor nach der politischen Relevanz des Faches gefragt wurde, geht es nun um die Realitätsrelevanz des Mediums. Während die Differenzierung von Regionenbegriffen in der interdisziplinären Perspektive abhängig von der Verabschiedung überkommener positivistischer Raum- und Wissensbegriffe ist sowie dem Austausch zwischen den Fächern, steht die Literatur in einem Spannungsverhältnis von Rezeptionsästhetik 34 und Modernität im Sinne ihres Potenzials, zeitgemäß auf den diskurstheoretischen state of the art zu reagieren. Drei Punkte können aus dem Forschungsdiskurs zur regionalen Literaturge‐ schichtsschreibung an dieser Stelle notiert werden: 1. In der Arbeit an einer regionalen Kulturgeschichtsschreibung dominiert die Germanistik. 2. Die Frage nach einer regionalen Literaturgeschichte ist fachkonstitutiv für die Germanistik. 3. Regionale Literaturgeschichtsschreibung stellt in ihrem Bezug auf poli‐ tische und gesellschaftliche Entwicklungen eine Möglichkeit dar, die Sichtbarkeit und Realitätsrelevanz der Forschungsdisziplin und der Lite‐ ratur zu erhöhen. Mit der Titelmatrix der „Moderne im Rheinland“ ist nicht nur der regionale und zeitliche Zugriff vorgegeben - Moderne und Rheinland -, sondern über diese auch die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt, Objekt und Theorie. Ausgehend von dem Verständnis, dass Forschung eine Möglichkeit der Wis‐ sensproduktion ist, wie auch Literatur und Kunst Wissen produzieren, geht es hierbei um Distanz und Nähe. Mit dem Begriffsfeld der Moderne ist die Frage nach der Konstruktion und Auflösung von Spannungsfeldern wie Natur/ Kultur, Anfang/ Ende, Ich/ Wir 35 verbunden. Diesem Denken in Gegensätzen haben die epochemachenden Protagonist: innen z. B. im Monismus widersprochen: Dieser Einheit der Natur entspricht vollständig die Einheit der menschlichen Natur‐ erkenntnis, die Einheit der Naturwissenschaft, oder was dasselbe ist, die Einheit der 73 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien 36 Enst Haeckel: Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen. Berlin 1906, S. 433. Online unter: http: / / www.columbia.edu/ cu/ lweb/ digital/ collections/ cul/ texts/ ld pd_6168561_000/ index.html (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). 37 Vgl. Andreas Langenohl / Ralph J. Poole / Manfred Weinberg: Vorwort. In: Transkultu‐ ralität. Klassische Texte. Hrsg. von denselben. Bielefeld 2015, S. 9-20, hier S. 12. 38 Vgl. Naoki Sakai: The dislocation of the West. In: Naoki Sakai / Yukiko Hanawa (Hrsg.): Traces. A multilingual Journal of cultural Theory and Translation. Specters of the West and the Politics of Translation. Ithaca: Cornell University 2001, S. 71-94; der Artikel schließt den Band Transkulturalität. Klassische Texte, hrsg. von Andreas Langenohl, Ralph Poole und Manfred Weinberg in einer Übersetzung ins Deutsche von Nora Sieverding mit dem Titel Die Verrückung des Westens und der Status der Geisteswissenschaften ab (Bielefeld 2015, S. 299-316). Naoki Sakai: Übersetzung als Filter. Zur Konstruktion eines Innen und Außen von Sprache. Veröffentlicht: https: / / igkultur.at/ artikel/ uebersetzung-als-filter (zuletzt abgerufen am 1. August 2020), die englische Langfassung des Beitrags ist unter dem Titel Translation and the schematism of Bordering zuerst am 25.03.2010 in der Online-Version der Zeitschrift Transeuropéennes. International Journal of Ciritcal Thought erschienen: www.transeuropeennes.eu/ en/ art icles/ 200/ Translation_as_a_filter (zuletzt abgerufen am 1. August 2020). 39 Sakai: Translation and the Schematism of Bordering (Anm. 38). Wissenschaft überhaupt. Alle menschliche Wissenschaft ist Erkenntnis, welche auf Erfahrung beruht, ist empirische Philosophie, oder wenn man lieber will, philosophi‐ sche Empirie. Die denkende Erfahrung oder das erfahrungsmäßige Denken sind die einzigen Wege und Methoden zur Erkenntnis der Wahrheit. 36 Der Monistenbund hat mit Louise Dumont, Hedda und auch Herbert Eulenberg, dem Mitbegründer der Künstlervereinigung „Das junge Rheinland“ wichtige Vertreter: innen, die in der Region lebten und diese gestalteten. Die Rekonstruk‐ tion von Wissensprozessen hat auch in den transcultural studies Relevanz. Dabei verstehe ich Transkulturalität ausgehend von Kultur als differenzthe‐ oretischem 37 Begriff als Möglichkeit, Regionen nicht nur aus dem Kontext ihrer Grenze, sondern in der umgekehrten Denkbewegung, ihres komplexen Miteinanders zu verstehen. So hat der Literaturwissenschaftler und Japanologe Naoki Sakai für die Area Studies einen Forschungsansatz entwickelt, der mit der Matrix der „Filter of translation“ nach den Transferprozessen zwischen Begriffen und Theorien in der Wissenschaftsgeschichte fragt. 38 Ausgehend von der Frage, welche Filter jede Übersetzungsleistung, sei es eine sprachliche, sei es eine regionale, sei es eine zeitliche, einzieht, und welche Inhalte hierbei verloren gehen, zeigt Sakai auf, dass der Begriff des Westens als Trope eine Denkbewegung animiert, die mit dem Westen das meint, was nicht der Rest ist: „The west and the rest“. 39 Der Westen ist ein nur scheinbar geographischer Begriff, denn tatsächlich lässt sich sein geographischer Raum nur über die Abgrenzung zum ‚Rest‘ bestimmen und dieser ‚Rest‘ generiert sich aus der 74 Jasmin Grande 40 Mieke Bal: Kulturanalyse. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Aus dem Engl. von Joachim Schulte. Frankfurt am Main 2006, S. 17. jeweiligen Redesituation, nicht als fester Bestand. Insofern ist Westen eine Trope, die Machtbewegungen konzipiert und die Basis hierfür bildet eine Geis‐ teswissenschaft, die sich selbst im ‚Westen‘ verortet und diejenigen, die nicht Teil dieses Westens sind, im Forschungsfeld der Ethnologie zusammenfasst. In diesem Zugriff besteht ein qualitativer Unterschied darin, dass der Westen die Theorien und Methoden, um über sich selbst zu forschen ebenso entwickelt wie die Methoden, die benötigt werden, den ‚Rest‘ zu erforschen. Während der Westen im Bereich der Geisteswissenschaften also sowohl Subjekt der Forschung als auch Objekt ist, ist der Rest ausschließlich Objekt. Die „spectres of the west“ sind somit z. B. koloniale Selbstverständnisse als Basis in den me‐ thodischen und rezeptionsästhetischen Gedächtnissen sowie Ritualen unserer Geisteswissenschaften. Mit seinem Zeitschriftenprojekt Traces geht Sakai seit 2001 diesen Zusammenhängen nach und lädt neben weiteren Autor: innen auch Künstler: innen ein, sich dem Themenfeld zu nähern. Für das hier skiz‐ zierte Forschungsfeld der regionalen Literaturgeschichtsschreibung erscheint Sakais Ansatz zunächst zu stark im Kontext der amerikanischen Area Studies angesiedelt, die nach 1945 aus der politischen Situation des Kalten Krieges als interdisziplinäres Forschungsfeld aus Wirtschaftswissenschaft, Politikwis‐ senschaft und Kulturwissenschaft gegründet wurden und Herrschaftswissen über andere Regionen und Nationen generieren sollten. Für die regionale Literaturgeschichtsschreibung können bei Sakai jedoch neben der Hantologie die Aushebelung der Distanznahme zwischen forschendem Subjekt und zu erforschendem Objekt übertragen werden; oder anders, die Frage, aus welcher Perspektive der Zugriff auf die Kulturtopographien erfolgt. Wissenschaftstheo‐ retisch ist die Fragestellung brisant, macht sie doch den Transfer von Wissens‐ produktion und -transfer aus der Universität in andere Institutionen und in die Öffentlichkeit, z. B. Wikipedia, sichtbar und findet aktuell z. B. in Ansätzen und Begriffen wie artistic research, ästhetisches Denken, TheoryPractice oder der Transgression im Kontext von Avantgarde statt. In Mieke Bals Trias der Kulturanalyse - „kulturelle Prozesse, Intersubjektivität und Begriffe“ 40 - spiegelt sich die Befragung des Objektes und das notwendige Vermittlungspotential im Begriff der Intersubjektivität wieder. Wenn Gertrude Cepl-Kaufmann ihren Band 1919 - Zeit der Utopien. Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres als „Wimmelbild“ bezeichnet, so zielt sie damit auf eben dieses Miteinander von Theorie und Weiterschreibung ab. Bernhard Siegert hat in seiner Einleitung in 75 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaften im Kontext von Kulturtopographien 41 Bernhard Siegert: Einleitung (zum Themenfeld „Repräsentationen diskursiver Räume“). In: Topographie der Literatur. Hrsg. von Hartmut Böhme. Tübingen 2005, S. 3-11. 42 Ebd., S. 7f. 43 Ebd., S. 8. das Cluster „Repräsentationen diskursiver Räume“ 41 drei mögliche Lesarten von Karten als Topographien gelistet: 1. Eine hermeneutische Lesart, die das Narrativ der Karte befragt. 2. Eine medientheoretische Lesart, die den „subjektkonstituierenden Cha‐ rakter“ 42 der Karte befragt, was sich vielleicht auch mit dem Begriff der Agency verstehen lässt. 3. Ein phänomenologisch-grammatologischer Ansatz, der die Topographie nicht in „die Intentionen eines kulturell prädisponierten Bewusstseins, sondern auf eine Rhetorik [hin übersetzt]. […] Mögliches Handeln schreibt sich immer schon in die Bewegung eines Textes ein, der unab‐ lässig neu gewebt und wieder aufgeknüpft wird.“ 43 Was lässt sich hieraus für die regionale Literaturgeschichtsschreibung ge‐ winnen? Dem hier vorgestellten Forschungsdiskurs zwischen dem Begriff der Kulturtopographie als methodischem Zugriff sowie der Frage nach der Relevanz der Literatur darin und vice versa dem Input in die Öffentlichkeit sind in diesen Perspektiven neue Möglichkeiten gegeben. In einem Selbstverständnis, das dem universitären Forschungsdiskurs neben der Wissensproduktion und -vermitt‐ lung auch die Aufgabe des Wissensmanagements gibt, ermöglichen z. B. die citizen science neue Ansätze der Kartographie. Damit ist nicht nur die Erhebung von Daten gemeint, sondern ein partizipativer Wissenschaftsbegriff, der die regionale Literaturgeschichtsschreibung aus ihren institutionen- und wissen‐ schaftsgeschichtlichen Kontexten lösen kann und den Literaturbegriff mit dem „Kit“ eines transkulturellen Regionenverständnisses aktualisiert. Dazu bedarf es eines Netzwerks der regionalen Literaturgeschichtsschreibung, das sowohl die verschiedenen, z. B. institutionell verankerten Literaturbegriffe - zwischen Li‐ teraturarchiven, Schreib- und Lesezirkeln, Universitäten, Forschungsprojekten und Museen - verbindet als auch regionenvergleichend arbeitet. 76 Jasmin Grande II. 1 Johann Gottfried Herder: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hrsg. von Ulrich Gaier. In: J. G. Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 3. Frankfurt am Main 1990, Stellenkommentar, S. 1484. Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität Gerhard Sauder, Saarbrücken Sprache hielt Herder für das Medium, das Identität verwandelt und sie zu reflektieren erlaubt. Er fühlte sich den Menschen zugehörig, die mit ihm eine Sprache gebrauchten, aber mitten unter ihnen als einmaliges Individuum. Doch eine konstante Sich-Selbst-Gleichheit und Kontinuität einer Person in der Zeit betrachtete er aus der Perspektive seiner Geschichtsphilosophie durchaus kritisch. In zwei „Reflexionsgedichten“ von 1797 hat er sich dem „Ich“ und dem „Selbst“ zugewandt. Das Gedicht Das Ich. Ein Fragment greift in zentralen Argumenten auf Formulierungen zurück, die sich bereits in den Ideen finden. Wie dort gründet er seine geschichtliche Reflexion auf die Naturgeschichte. Ich beschränke mich auf diesen Text. In Selbst. Ein Fragment werden Gedanken variiert, die in Das Ich auftreten - aber das „Selbst“ lässt sich „als die geleistete, aus den Kräften des Ganzen und im Blick auf das Ganze selbstgeschaffene Individualität betrachten, mit der der Mensch sich zum Abbild des göttlichen Selbst und zum Schöpfer seiner selbst macht.“ 1 Das Ich umfasst 147 Zeilen in 14 Strophen von unterschiedlicher Länge - zwischen vier und 25 Zeilen sind in je fünfhebigen Jamben angeordnet. Auffällig ist ein typographisches Mittel, mit dem Herder die Pronomina - v. a. Du, Dich, Dir, Dein - gelegentlich durch Großschreibung akzentuiert. Der verdienstvolle Herder-Forscher Wilhelm Dobbek hielt im Ersten der fünfbändigen Herder-Ausgabe des Aufbau-Verlags diese Hervorhebungen wohl für unbedeutend und verzichtete auf sie. Beide Gedicht-Fragmente sind zuerst in Herders zweiter Gedichtsammlung Gedichte und Reime in der sechsten Sammlung der Zerstreuten Blätter (Gotha 1797) erschienen. Der Herausgeber des Dritten Bandes der Frankfurter Ausgabe, Ulrich Gaier, versammelt Gedichte dieser Art unter „Reflexionsdichtung“. Mit ihren philoso‐ phischen Sujets sind diese langen Gedichte auch typische Lehrgedichte. Ich zitiere zunächst die beiden ersten Strophen und gebe dann Zusammenfassungen der Strophen 3 bis 12; die beiden Schlussstrophen 13 und 14 zitiere ich wieder wörtlich. Willst du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund, Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit. Sie täuschet dich mit Nebelträumen, engt Dir Geist und Herz, und quält mit Sorgen dich, Vergiftet dir das Blut, und raubet dir Den freien Atem, daß du, in dir selbst Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft. Sag’ an: was ist in dir Persönlichkeit? Als in der Mutter Schoß von Zweien du Das Leben nahmst, und, unbewußt dir selbst, An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst, Zum Tier gediehest, und ein Menschenkind (So saget man) die Welt erblicktest; Du Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich, Von deiner Mutter lange noch ein Teil, Der ihren Atem, ihre Küsse trank, Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust Empfindung lernete. Sie trennte dich Allmählich von der Mutter, eignete In tausend der Gestalten Dir Sich zu, In tausend der Gefühle Dich Ihr zu, Den immer Neuen, immer Wechselnden. […] Nach der Kritik an der „Persönlichkeit“, die das „Ich“ mit „Nebelträumen“ täuscht und es „von eigner Luft“ ersticken lässt, wird die Genese der „Persön‐ lichkeit“ aus dem Embryo, der Mutter, der Trennung von ihr, bis zur Erfahrung von „immer Neuen, immer Wechselnden“ Gefühlen erzählt. 3. Weiter geht es mit dem Wachstum des Kindes zum Knaben, Jüngling, Mann und Greis. In jedem Alter ist kein Teil des Körpers noch derselbe. 4. Die „innre Welt / Der Regungen, der lichten Phantasei, / Des Anblicks aller Dinge“ verändert sich in jedem Alter. 80 Gerhard Sauder 5. Die Strophe beginnt mit der Aufforderung „Ermanne Dich. Das Leben ist ein Strom / Von wechselnden Gestalten.“ 6. Will das Ich „einer Wahngestalt / Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn? “ 7. Mit Wiederholung der Aufforderung „Ermanne Dich.“ wird auf das gedankliche Zentrum des Gedichts zugesteuert: „Nein, du gehörst nicht Dir; / Dem großen, guten All gehörest Du.“ „Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug / Des Angesichtes ist ein fremdes Gut, / Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch, / So , immer wechselnd, stets verändert schleicht / Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.“ 8. Was ist von Deinen zahllosen Empfindungen Dein Eigentum? „Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.“ 9. Was willst Du mit Deinem „armen Ich“ der Nachwelt hinterlassen? Deinen Namen? 10. Dein Ich? Wie lange wird die Nachwelt Deinen Namen nennen? 11. Nur wenn über Dein enges Ich hinaus „Dein Geist in allen Seelen lebt“, bist du „Ein Ewiger“. 12. Die kleinliche Persönlichkeit, die man „den Werken eindrückt“, vertilgt den „ewgen Genius, Das große Leben der Unsterblichkeit.“ 13. So lasset dann im Wirken und Gemüt Das Ich uns mildern, daß das beßre Du, Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft Auslöschen, und uns von der bösen Unart Des harten Ich unmerklich-sanft befrein. In allen Pflichten sei uns erste Pflicht Vergessenheit sein selber! So gerät Uns unser Werk, und süß ist jede Tat, Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei Und groß und ewig und allwirkend macht. Verschlungen in ein weites Labyrinth Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz Ein lebend Rad im Werke der Natur. 14. Wenn einst mein Genius die Fackel senkt, So bitt’ ich ihn vielleicht um Manches, nur Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit? Das Kind? Den Jüngling? Oder gar den Greis? Verblühet sind sie, und ich trinke froh Die Schale Lethens. Mein Elysium 81 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 2 Ebd., S. 825-830. 3 Vgl. Joachim Widmann: Johann Gottlieb Fichte: Einführung in seine Philosophie. Berlin / New York 1982, S. 47f. 4 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, II, 27, 17. 5 Ebd., II, 27, 26. 6 Vgl. H. Herring: Art. „Ich“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I-K. Basel 1976, Sp. 1-6, hier Sp. 1. Soll kein vergangner Traum von Mißgeschick Und kleinem, krüpplichten Verdienst entweihn. Den Göttern weih’ ich mich, wie Decius, Mit tiefem Dank und unermeßlichem Vertrauen auf die reich belohnende, Vielkeimige, verjüngende Natur. Ich hab’ ihr wahrlich etwas Kleineres Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab, Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich. 2 Wenn die Zeitgenossen der neuen Ich-Philosophie ein einheitliches und ein‐ zigartiges Ich verherrlichen, so destruiert dieses Gedicht ein Ich, das mit „Persönlichkeit“ gleichgesetzt und als „Individualität“ im Sinne von „Einzigkeit“ verstanden wird. Da es aber der Partikularität, der Fremdbestimmung von Kindheit an und der immerwährenden Veränderung unterworfen ist, kann dieses „Ich“ nicht durch Einzigkeit überzeugen. Das „Ich“ des Gedichts ist ein „Ton / Im Chorgesang der Schöpfung“, in „unermeßlichem / Vertrauen auf die reich belohnende, / Vielkeimige, verjüngende Natur. […] mein armes Ich.“ Herder fühlte sich in seinem Denken über das „Ich“ durch Fichtes Grundthese in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) provoziert: Das seiner selbst bewusste Wesen sei das „Ich“, das ursprünglich sein eigenes Sein als „Tathandlung der Selbstbewusstwerdung“ setze - das Ich setzt sich selbst. 3 Da bereits in der zweiten Zeile die „Persönlichkeit“ erwähnt wird, ist auch eine Anspielung auf den 11. Ästhetischen Brief Schillers möglich, in dem „Person“ und „Persönlichkeit“ eine wichtige Rolle spielen. Es ist die Konsequenz aus einem Denkweg, den die neuzeitliche Philosophie eingeschlagen hatte. Von Locke wurde das „Ich“ das „Selbst“ genannt, das mit Bewusstsein denkende Wesen („Self is that conscious thinking thing“ 4 ), das „Person“ heiße. 5 Es ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Leibniz’ Denken, dass sich jedes Subjekt im Akt des „Ich-denke“ als seiende Substanz begreift. Durch das Vermögen der Selbstreflexion erfassen wir das „Ich“, die Substanz, Seele und Geist. 6 82 Gerhard Sauder 7 Ebd., Sp. 2. 8 David Hume: A Treatise of Human Nature. Reprinted from the Original Edition in Three Volumes edited, with an Analytical Index, by L. A. Selby-Bigge. Oxford 1968, S. 259. Zur Hume-Rezeption Herders vgl. Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Wolfgang Pross. Bd. III/ 2. Kommentar. München / Wien 2002, S. 938 (Index). 9 Renate Böschenstein: Das Ich und seine Teile. Überlegungen zum anthropologischen Gehalt einiger lyrischer Texte. In: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Hrsg. von Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler, Horst Turk. Würzburg 1990, S. 73-97, hier S. 85, 86. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 87. 12 Ebd., S. 85. Hume widerspricht Descartes, Locke und Leibniz mit der These, das „Ich“ / die „Seele“ seien keine fassbaren Gegenstände und deshalb ohne Substanz/ Existenz. Empfindungen, Gefühle und Begriffe sind für Hume „nur Inhalte von Vorstel‐ lungen, die assoziativ verbunden“ sind, ohne dass sie eine „verbindliche Aussage über ein ihnen zugrunde liegendes Subjekt“ zulassen“. 7 Die Identität, die dem Geist des Menschen zugeschrieben wird, sei nur „a fictitious one“. Tis evident, that the identity, which we attribute to the human mind, however perfect we may imagine it to be, is not able to run the several different perceptions into one, and make them lose their characters of distinction and difference, which are essential to them. 8 In der einzigen mir bekannten Interpretation der beiden fragmentarischen Reflexionsgedichte sieht Renate Böschenstein die Destruktion eines einheitli‐ chen und einzigartigen „Ich“ mit „erstaunlich radikalen, Gesichtspunkte des 20. Jahrhunderts vorwegnehmenden Fragen“; die Analyse erfolge mit „prälaca‐ nistischer Hellsicht“. 9 Die Individualität, der „Fetisch der Epoche“, werde unter drei Aspekten als „illusionär“ dargestellt: Stückhaftigkeit, Fremdbestimmung, stete Veränderung. 10 Schließlich werde die vermeintliche Monade „zu intersub‐ jektivem Wirken erlöst“. Die Inkonsequenzen des Gedichts seien Folge der Widersprüche des Individualitätskonzepts: „Der noch nicht klar formulierte Stachel des Gedichts ist die Angst vor dem Narzißmus, welcher der Betonung des ‚Eigenen‘ in der neuen Individualitätsverherrlichung als Gefahr inhärent ist.“ 11 Die scharfsinnige Interpretation arbeitet mehrfach mit Wertungen - Klischees, Redundanz, aufdringlicher didaktischer Ton -, die ohne Nachweise dem Text die „Anerkennung als Kunstwerk“ absprechen. 12 Dem ist entgegenzuhalten, dass es sich ja um ein Fragment handelt, das Herder wohl gelegentlich überarbeiten und vollenden wollte. Die zahlreichen Metaphern (Strom, Triebwerk, lebend 83 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 13 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1989, S. 16 (Werke [Anm. 1], Bd. 6. Künftige Nachweise nach dieser Ausgabe im Text). Rad) deuten die Absicht an, dem Reflexionsgedicht eine höhere Poetizität zu verleihen. Bis in die Rigaer Zeit reichen Pläne Herders zurück, das prekäre „Ich“ der Moderne im Kontext der Wissenschaften und einer Universalgeschichte der Bildung der Welt darzustellen. Er habe nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit gesucht, 13 wo immer er suchen konnte. Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel führet. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, aus dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling, aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabieret habe und buchstabieren werde. (6, 16) In dieser Vorrede zum ersten Band der Ideen zur Philosophie der Geschichte vom 23. April 1784 kündigt Herder seinen Plan an, eine historisch-individuali‐ sierende Betrachtungsweise mit Hilfe der Analogie der Natur zu entwickeln. Sein Verständnis von Natur geht auf Spinoza zurück, den er in dieser Zeit gemeinsam mit Goethe studiert hat: Die Natur ist kein selbstständiges Wesen, sondern Gott ist Alles in seinen Werken: indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öftern Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit genug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name ‚Natur‘ durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit, und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag. (6, 17) In Analogie zu den Veränderungen der Natur erweist sich der Mensch in Herders Entwurf einer Universalhistorie als das sich im Prozess der Geschichte ständig wandelnde Geschöpf, wie er es in seinem Ich-Gedicht dargestellt hat. Herder hat für seine zentralen Einsichten immer wieder Metaphern verwendet. So spricht er in Analogie zur Abfolge von Entwicklungsstufen von den menschli‐ chen Lebensaltern. Die Ideen sind bis heute der umfassendste Versuch, durch weit ausgreifende Lektüre (u. a. von Reisebeschreibungen) alles Wissen vom Menschen, seiner Natur und Geschichte zu einem Gesamtpanorama zu formen. 84 Gerhard Sauder 14 Vgl. Eberhard Berg: Johann Gottfried Herder (1744-1803). In: Klassiker der Kultur‐ anthropologie von Montaigne bis Margaret Mead. Hrsg. von Wolfgang Marschall. München 1990, S. 51-68, hier S. 59, 61. 15 Vgl. Michael Maurer: Johann Gottfried Herder: Leben und Werk. Köln / Weimar / Wien 2014, S. 124f. 16 Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Entwurf zur Philosophie der Ge‐ schichte. In: Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Heiner Reinitzer, Bonn [u. a.]. 1987, S. 340. 17 Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 131. Intendiert war eine systematisch entwickelte Theorie von der Entwicklung des menschlichen Geschlechts im Gang der Geschichte. 14 Der konsequente Rekurs auf Natur und Geschichte bedient sich bei der Wahl von Fakten und Anschauungsmaterial einer geschickt praktizierten Kombina‐ torik. Alles Theologische ist allerdings im Sinne der Suche nach einer minimalen Konsensbasis ausgespart - theologische Reste sind nur bei seinen Überlegungen zur Teleologie noch vorhanden. 15 In einem Entwurf zu der frühen Arbeit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit heißt es: „Glaube an Geschichte - durch Geschichte an Gott.“ 16 Wie Herder die Menschen auf der Erde und in ihrem Sonnensystem positio‐ niert, zeigt der Beginn des Ersten Buches der Ideen mit der Überschrift: „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen“: Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muß man sie zuförderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist. Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält. (6, 21) Diese „Mittelpunktstellung“ des Menschen charakterisiert Herders Versuch, eine Philosophie der Geschichte zu schreiben, die eine Gesetzlichkeit der Ereignisse nachweist: Bemerkenswert an diesen in die Ideen einführenden Gedanken ist die Tatsache, daß Herder die Position der Erde und dann auch des Menschen - im Widerspruch zum modernen Weltbild - als Mitte und schließlich sogar als Mittelpunkt der Schöpfung bestimmt. Antike Gedanken vom Menschen als Maß aller Dinge (Protagoras) und die biblische Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbinden sich, um das zu begründen, was Herder von nun an ‚Humanität‘ nennen wird. 17 85 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 18 Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877-1913, hier Bd. XIII, S. 401. Künftige Nachweise dieser Ausgabe mit Bandangabe in römischen Ziffern im Text. Eine der erstaunlichsten Folgerungen zieht Herder aus dem aufrechten Gang des Menschen und der damit gegebenen Vernunftfähigkeit: Blick’ also auf gen Himmel, o Mensch! und erfreue dich schaudernd deines unermeß‐ lichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt knüpfte. Gingest du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und darnach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit unsichtbar in dich gesenket? (6, 129 f.) Ein Kapitel des II. Buches ist überschrieben: „Zurücksicht von der Organisation des menschlichen Haupts auf die niedern Geschöpfe, die sich seiner Bildung nähern.“ (6, 132) Daraus sei zu schließen: „Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisieret.“ „Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisieret.“ „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.“ (6, 136, 142, 145 f.) Angesichts des Stufengangs vom Menschen, „der zunächst ans Tier grenzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde“, müsse man sich wundern, „welch einen langen Weg die Natur nehmen mußte, um die kleine, aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit in uns organisierend vorzubereiten.“ (6, 147) Unter zwei Aspekten zeichnet Herder seine Anthropologie aus: Zum einen geht es ihm um die Einbindung des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur, was in den vorausgehenden Abschnitten illustriert wurde, zum andern hebt er die Auszeichnung des Menschen, seine besondere Stellung als „Krone der Schöpfung“ 18 hervor. Aber die angenommene Wesensverwandtschaft zwischen Tieren und Menschen bedeutet nicht, dass Herder eine Evolutionstheorie angenommen hätte. Er ist von der Abgeschlossenheit der Schöpfung überzeugt. Herder bemüht das Bild der Pyramide: Im stufenartigen Aufbau der Natur gehe eine stetige Veredelung von der simplen Pflanze über Insekten, Vögel, Fische, Amphibien und große Säugetiere bis hin zum Menschen vor sich. Je mehr sie sich der Stellung des Menschen nähern, verringerten sich die Gattungen, würden aber auch vollkommener. Um den Menschen gruppierten sich alle anderen Lebewesen in konzentrischen Kreisen: „Je näher ihm, desto mehr zog sie [die Natur] Classen und Radien zusammen, um in seinem, dem heiligen Mittelpunkt der Erdenschöpfung was sie kann, zu vereinen.“ (XIII, 71) Für den Menschen ist der ‚Stand der Gesellschaft‘ der Naturzustand. Wenn er auch das 86 Gerhard Sauder 19 Anne Löchte: Johann Gottfried Herder: Kulturtheorie und Humanitätsidee der ‚Ideen‘, ‚Humanitätsbriefe‘ und ‚Adrastea‘. Würzburg 2005, S. 37. 20 Christian Grawe: Herders Kulturanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie. Bonn 1967, 103 f. Meiste allein hervorbringen will, braucht er zur Entwicklung der Fähigkeiten doch die Anderen. ‚Kunst‘ ist ihm natürlich. Es kommt bei ihm alles auf die erlernte Fertigkeit, auf Vernunft und Kunst, an. Sein Selbstwerdungsprozess sei unabschließbar. Er bedarf dabei des Austausches mit seiner Umwelt: „Ohne Cultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.“ (XXII, 310) Abhängig vom Klima, der Beschaffenheit des Landes, dem Vorhandensein von Nahrung, aber auch von Geschichte, Religion, Mythologie und der Sprache eines Volkes und zahlreicher weiterer Faktoren bildet sich „das perspektivische Weltverständnis jedes Individuums“ aus. 19 Wie im Ich-Gedicht kritisiert Herder die These von einer konstanten Menschennatur und vertritt eine Anthropologie des kultur-variablen Menschen. Er kennt nicht nur eine sich wan‐ delnde Geschichte, die den betrachtenden Menschen ein kaleidoskopartiges Schau‐ spiel bietet, deren Akteure aber immer die gleichen bleiben, sondern der Mensch selbst wird in diesen Wandel hineingezogen: er ist das sich in der Geschichte wandelnde Wesen. 20 Aber gleichzeitig wirkt die Natur und prägt dem Menschen ihre Gesetze auf: Wir dünken uns selbstständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten müssen wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andre sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. (6, 627) Erst in den achtziger Jahren benutzt Herder gelegentlich den Begriff „Huma‐ nität“, der in den Ideen sein Zentralbegriff für Wesen und Bestimmung des Menschen werden sollte. In den Büchern 4 und 15 wird er differenzierter dargestellt - in Weimar ist er Zielbegriff seines Denkens. Das I. Kapitel des 15. Buches ist überschrieben: „Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben.“ (6, 630) So oft und in so vielen Kontexten Herder diesen Begriff auch verwendet - seine Semantik ist offenbar nicht präzisierbar. Hans Dietrich Irmscher, der Herausgeber der Briefe zu Beförderung der Humanität in 87 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 21 Werke (Anm. 1), Bd. 7. Frankfurt am Main 1991. Künftige Nachweise nach dieser Ausgabe im Text. 22 Hans Adler erkennt allerdings zweierlei Dimensionen in „Humanität“: Zum einen als Bezeichnung - jeweils nach Ort, Zeit, Gegebenheit, Geschlecht differenziert - für „bestimmte Vorkommens- oder Verhaltensweisen des Menschen. Zum andern als einen „differenzierenden Funktionsbegriff geschichtsphilosophischer Reflexion und als solcher gewissermaßen ‚leer‘.“ Hans Adler: Humanität - Autonomie - Souveränität. Bedingtheit und Reichweite des Humanitätskonzepts J. G. Herders. In: Walter Haug / Wilfried Barner (Hrsg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistentages Göttingen 1985. Bd. 8. Tübingen 1986, S. 161-166, hier S. 161f. der Frankfurter Ausgabe, 21 schlägt vor, den Begriff „als nicht definitionsfähige (und -bedürftige) Idee zu verstehen, geeignet, vielfältige Phänomene […] unter einer Hinsicht zu ordnen.“ (7, 817) 22 Herder sah wohl das Schillernde des Begriffs. Im 27. Brief verbindet er mit „Humanität“: „Menschheit, Menschlichkeit, Men‐ schenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ (7, 147). Zu Beginn des 15. Buches der Ideen heißt es: [B]etrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts höheres, als Humanität im Menschen: denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen. Zu diesem offenbaren Zweck […] ist unsre Natur organisieret: zu ihm sind unsere feinern Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsere zarte und daurende Gesundheit, unsere Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. (6, 631 f.) In zahlreichen Formulierungen umschreibt Herder, was unter Humanität ver‐ standen werden kann. Gelegentlich läuft ein knapper Bestimmugsversuch auf eine Tautologie hinaus. So etwa, wenn das „Hauptgesetz der Natur“ lautet: „Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet! “ (6, 632) Dem Typus der ausführlicheren Bestimmungsversuche ist folgende Formulierung zuzurechnen: [D]en Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte […].(6, 633) Die Natur habe sich den Menschen in mannigfachen Formen auf der Erde einrichten lassen. „Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin und von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr 88 Gerhard Sauder 23 Irmscher (Anm. 17), S. 137. 24 Adler (Anm. 22), S. 162. großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen.“ Für die feinere Ausbildung des Zustandes der Menschheit habe es auch „feinere Völker sanfterer Klimate“ gegeben. „Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt: so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtern Mittelstrich ihren Platz finden.“ (6, 683 f.) In den einzelnen Kapiteln des 15. Buches werden nun „einige dieser Natur‐ gesetze“ erwogen, die „nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen haben“ (6, 636): II. Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen. (6, 636) III. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet. (6, 647) IV. Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern. (6 ,656) V. Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken. (6, 664) Es wäre sinnvoll, die kritischen Erwägungen von Herder selbst zu seinem zentralen Konzept zu sammeln und zu beurteilen. Für ihn ist Humanität immer eine bleibende Aufgabe. Keine historische Realisierung kann etwa als Vorbild angesehen werden - nicht umsonst spricht er häufig vom „Gang der Humanität“, nicht etwa von einem erreichten Zustand. Jede Vollkommenheit ist transitorisch, ein „Höchstes in seiner Art“, in dem sich die „Kultur eines Volks“ als „die Blüte seines Daseins“ „zwar angenehm, aber hinfällig offenbart“. (6, 571) 23 Jeder konkreten Verkörperung von Humanität wird ein „bedingungsloser Vorbildcharakter“ abgesprochen. 24 In den Briefen will Herder über Menschen schreiben, die in ihrem Leben die Humanität auf verschiedene Weise gefördert haben, etwa B. Franklin, Luther, Lessing, Comenius, Fénelon, die Quäker, Montesquieu und Vico. Herder ist in den Briefen besonders der Anwalt unterdrückter, sogenannter wilder Völker. Reisende, die von ihren Erfahrungen berichten, nennt er „Schutzengel der Menschheit“ (Suphan XVIII, 238). Er verurteilt den europäischen Kolonialismus 89 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 25 Löchte (Anm. 19), S. 54 ff. 26 Vgl. Rainer Wisbert: Art. ‚Humanität und Bildung‘. In: Herder Handbuch. Hrsg. von Stefan Greif, Marion Heinz, Heinrich Clairmont. Paderborn 2016, S. 711-723, hier 716. - die Kolonialnationen Spanien, Portugal, England und Holland begingen Ver‐ brechen an der Menschheit, indem sie gewachsene Kulturen zerstörten. Unter dem Humanitätsbegriff wird übrigens nicht nur die Individualität der Kulturen, sondern auch ihr Austausch unter einander verstanden. 25 Aber resignative Züge fehlen in den Ideen nicht: „Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume.“ (6, 187) Es ist befremdend und doch unleugbar, daß unter allen Erdbewohnern das mensch‐ liche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fernbleibt. Jedes Tier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreichts nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist, und er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von außen und innen anfängt. (6, 188) Das Misslingen von Humanität hängt offenbar mit einem „sonderbaren Wider‐ spruch“ zusammen, an dem der Mensch leidet. Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage verfolgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen: für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. (6, 193) Herder rechnet den größten Teil der Menschen zur ‚Tierheit‘. „Zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden.“ (6, 194) Herder hat wohl eher das Individuum als das Kollektiv oder die Nation im Blick, wenn er über die Naturgesetze der Humanität spricht. Aber die eigentlichen Protagonisten des geschichtlichen Fortgangs sind für ihn die Nationen. Doch sie sind nie der höchste Wert, und Bildung reduziert sich bei ihm nie auf nationale Bildung. Das Prinzip ‚Humanität‘ verbiete es ihm, ‚deutsche Bildung‘ ins Zentrum seines Denkens zu rücken. 26 Der Historiker Herder plädiert für das Einreißen von Mauern zwischen den Nationen. Am römischen Reich demonstriert er, was „Reife des Schicksals der alten Welt“ bedeutet 90 Gerhard Sauder 27 Johann Gottfried Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774- 1787. Frankfurter Ausgabe Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1994, S. 31. Künftige Nachweise nach dieser Ausgabe im Text. und was das römische Verknüpfen von Völkern und Weltstrichen bewirkte. 27 Er spricht von den Schwierigkeiten, ein ganzes, lebendiges „Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten“ zu malen! „Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden.“ (4, 32 f.) In mancher Hinsicht sei also jede menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am genauesten betrachtet, Individuell. Man bildet nichts aus als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal, Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlum‐ mernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also, bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, […]. (4, 35 f.) Besonders in seinen Gedanken zur Geschichtsphilosophie finden sich zahlreiche Metaphern aus der organischen Welt - für Völker und Nationen wählt er den Stamm des Baumes; der, „zu seiner größern Höhe erwachsen“, danach strebte, „Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige.“ (4, 31) Aber gerade bei den Baum-Metaphern für Geschichte ist sich Herder der Ambivalenz der Metaphorik bewusst: der Baum verliert bei wachsender Höhe an Festigkeit; der Mensch ist eine „kleine Laubfaser des Baumes“ der Geschichte. (4, 84) Gang Gottes über die Nationen! Geist der Gesetze, Zeiten, Sitten und Künste, wie sie sich einander gefolgt! zubereitet! entwickelt und vertrieben! (4, 88) Eben die Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meiner Blicke, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel meiner Neigungen und Begierden, das Unter‐ liegen meiner Kräfte nur auf das Ganze eines Tages, eines Jahrs, einer Nation, eines Jahrhunderts - eben das ist mir Bürge, daß ich nichts, das Ganze aber Alles sei! (4, 106) In der diffusen Herder-Rezeption der politischen und historischen Terminologie sind ihm immer wieder Positionen zugeschrieben worden, die ihn als einen der Anwälte eines deutschen Nationalismus ausweisen sollten - meist ohne Belege aus seinem Werk. Dabei argumentiert er - v. a. in den Ideen - stets mit humanitären Gesichtspunkten, die eine Überwindung des nur Nationalen implizieren. Dies geht aus seiner Beurteilung der Völker hervor. Den Wert einer Nation misst er daran, welche Leistungen für die Humanisierung der Menschheit ihr langfristig zuzuschreiben sind. So hat auch ‚Vaterland‘ bei ihm nicht etwa die oft unterstellte, nationalistische Bedeutung, sondern meint die Liebe zur Menschheit überhaupt, indem er sich das „Menschengeschlecht“ als eine „Kette fortgehender Glieder, die gegen einander Brüder, Schwestern, 91 Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität 28 Löchte (Anm. 19), S. 85f., 88f. 29 Vgl. dazu den Kommentar zu Bd. 6 (Ideen [Anm. 13]) von Martin Bollacher, S. 1008f. Verlobte, Freunde, Kinder, Eltern sind“ (XVII, 319), vorstellt. In seinem Spätwerk Adrastea warnt Herder wie bereits früher in den Briefen vor den Gefahren eines ‚Nationalwahns‘. „Seine idealisierte Bestimmung einer deutschen Nationaliden‐ tität sollte daher kritisch gesehen, jedoch nicht überbewertet werden.“ 28 Mit welcher Fähigkeit zur Differenzierung Herder bei diesen Fragestellungen arbeitet, zeigt er bei der Frage nach der Existenz von ‚Rassen‘. Man habe einige Völker der Erde ursprünglich nach den Gegenden ihres Lebensraumes oder gar nach Farben charakterisiert. Herder sieht keine Veranlassung zu einer solchen Benennung. „Rasse leitet auf eine Verschiedenheit der Abstammung, die hier entweder gar nicht statt findet oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Rassen begreift. Denn jedes Volk ist Volk: es hat seine National-Bildung, wie seine Sprache.“ Wenn Herder „weder vier noch fünf Rassen; noch ausschließende Varietäten“ gelten lässt, so widerspricht er seinem Lehrer Kant, der in seinem Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) und in der Abhandlung Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) vier Menschenrassen unterscheidet, aber auch die Einheit des Stammes betont, die für Herder Grundlage seiner Argumentation ist. Kurz, weder vier oder fünf Rassen, noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde. Die Farben verlieren sich in einander: die Bildungen dienen dem genetischen Charakter; und im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet. 29 (6, 256) 92 Gerhard Sauder 1 Georg-Michael Schulz: Gesellschaftskritik. In: Julia Freytag / Inge Stephan / Hans-Gerd Winter (Hrsg.): J.M.R.-Lenz Handbuch. Berlin / Boston 2017, S. 333-341, hier S. 339. 2 Dieter Liewerscheidt: J. M. R. Lenz ‚Der neue Menoza‘, eine apokalyptische Farce. In: Theodor Lewandowski / Heinz Rölleke / Wolfgang Schemme (Hrsg.): Wirkendes Wort 33 (1983), S. 144-152, hier S. 147. Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774) Nikola Keller, Freiburg I. Zur Einführung. Lenz’ Neuer Menoza: Nichts ist, wie es scheint? Die Eltern der Familie von Biederling ein Naumburger Ehepaar, der Sohn ein zeitweiliger cumbanischer Prinz, die vermeintliche Tochter eine erst deut‐ sche Bürgerliche, dann spanische Gräfin, die dazu noch zur Schwiegertochter wird, eine scheinbar spanische Gräfin die tatsächliche Tochter. Diese durchaus ungewöhnlichen Familienverhältnisse stellen sich im Handlungsverlauf von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Tragikomödie Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi ein. Nationale Zugehörigkeiten erscheinen als ebenso fluide wie familiäre. Inhaltlich übe das 1774 erschienene Drama, so eine geläufige Forschungsposition, „Zivilisationskritik“ und „Aufklärungs‐ kritik“ 1 und damit Kritik an etwas, das auf einer überindividuellen Ebene identitätsstiftend wirken kann. In das Zentrum des Interesses rückt in diesem Zusammenhang vor allem der Protagonist und titelgebende Prinz Tandi, dem diese gleich einem „Sprachrohr“ in den Mund gelegt werde. 2 Weit seltener werden jedoch dessen Platz in dem benannten Familiengefüge sowie der der anderen Familienmitglieder thematisiert. Der vorliegende Beitrag soll zeigen, dass Lenz es mit seinem Drama keineswegs bei einem einseitigen Kritisieren belässt, sondern unterschiedliche Identitätsentwürfe anbietet und gegeneinan‐ derhält. Dem im Stück verhandelten Familiengefüge der von Biederlings kommt 3 Jakob Michael Reinhold Lenz: Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. In: ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. Bd. 3: Dramen. Dramatische Fragmente. Übersetzungen Shakespeares. Frankfurt am Main / Leipzig 2005, S. 125-190, hier S. 134. 4 Vgl. Mk 4,3-21, Mk 4,26-29 sowie Mk 4,30-34. dabei eine besondere Rolle zu. Exemplarisch beleuchtet wird dies zunächst anhand zweier einschlägiger Dialoge, bevor dann mit dem sich entwickelnden Familiengefüge der Gesamtverlauf der Handlung in den Blick genommen wird. II. Aufklärerische Identitätsentwürfe als (trans-)nationale Gründungsmythen Wie der cumbanische Prinz Tandi zu Beginn der Dramenhandlung erfahren soll, die mit der Rückkehr des Familienvaters von Biederling ins sächsische Naumburg einsetzt, ist er zu einem besonderen Zeitpunkt dort eingetroffen. Bei einer Begegnung mit dem Gelehrten Bakkalaureus Zierau im ersten Akt erhält er - und mit ihm das (Lese-)Publikum - eine Lehrstunde über die dortigen Verhältnisse: Die Verbesserung aller Künste, aller Disziplinen und Stände ist seit einigen tausend Jahren die vereinigte Bemühung unserer besten Köpfe gewesen, es scheint, wir sind dem Zeitpunkte nah, da wir von diesen herkulischen Bestrebungen endlich einmal die Früchte einsammeln, und es wäre zu wünschen, die entferntesten Nationen der Welt kämen, an unsrer Ernte Teil zu nehmen. 3 Es handelt sich, glaubt man den Worten Zieraus, folglich um einen Kulmina‐ tions- und Kondensationszeitpunkt, eine zu erwartende Vollendungsstunde von etwas zwar lange Vorbereitetem, doch erst ‚jetzt‘ zu voller Reife Gekommenem, und damit auch um eine Gründungsstunde. Dieser Beginn wird deutlich mar‐ kiert. Zunächst ist es die Ernte, die zugleich als Abschluss und vor allem als Anbruch von etwas Neuem gefasst wird. Über die Parallelität des Erntens und den Verlauf des Säens, des Wartens auf das Aufgehen der Saat und des Erntens zu einer ganzen Reihe von Gleichnissen im Markusevangelium, etwa dem Gleichnis vom Sämann, dem Gleichnis vom Wachsen der Saat oder dem Gleichnis vom Senfkorn, 4 wird außerdem der Vergleich zur Vervollkommnung des Menschen und zum Reich Gottes aufgerufen. Der Vergleich mit einem weltlichen Reich genügt nicht, um die Außerordentlichkeit des Moments ebenso wie dessen, was gegründet wird, zu beschreiben. In den weiteren Ausführungen Zieraus erfolgt eine doppelte Konkretisierung: 94 Nikola Keller 5 Lenz: Menoza (Anm. 3), S. 134. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Vgl. grundlegend Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000. 9 Lenz: Menoza (Anm. 3), S. 134. Besonders da itzt in Deutschland das Licht der schönen Wissenschaften aufgegangen, das den gründlichen und tiefsinnigen Wissenschaften, in denen unsere Vorfahren Entdeckungen gemacht, die Fackel vorhält und uns gleichsam jetzt erst mit unsern Reichtümern bekannt macht, daß wir die herrlichen Minen und Gänge bewundern, die jene aufgehauen, und ihr hervorgegrabenes Gold vermünzen. 5 Während in der ersten zitierten Replik noch unklar bleibt, um wen genau es sich bei dem formulierten „wir“ 6 handelt, wird nun offenkundig, dass von den Bewohner: innen „Deutschland[s]“ die Rede ist, 7 und damit von etwas, das ei‐ nerseits zumindest als nationalpolitisch-territoriale Einheit zu diesem Zeitpunkt noch nicht besteht, 8 das andererseits zugleich als bestehend vorweggenommen wird. Weiterhin verweist das Aufgehen des Lichts deutlich auf das Fundament für die Neugründung dieses Deutschlands oder die Gründung dieses neuen Deutschlands: die Aufklärung. Im weiteren Fortgang der Szene benennt Zierau auch die Akteure, die als Gründungsväter und Identitätsstifter firmieren: Wir haben itzt schon seit einem Jahrhunderte fast Namen aufzuweisen, die wir kühnlich den größesten Genies unserer Nachbarn an die Seite setzen können, die alle zur Verbesserung und Verfeinerung unsrer Nation geschrieben haben, einen Besser, Gellert, Rabner, Dusch, Schlegel, Uz, Weiße, Jacobi, worunter aber vorzüglich der unsterbliche Wieland über sie alle gleichsam hervorragt, ut inter ignes luna minores, besonders durch den letzten Traktat, den er geschrieben und wodurch er allen seinen Werken die Krone scheint aufgesetzt zu haben, den Goldenen Spiegel, ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben, meiner Einsicht nach sollte er’s den Diamantenen Spiegel heißen. [Hervorhebung im Original, N.K.] 9 Alle Genannten sind Autoren der Aufklärung, Gründungsdokumente sind damit kulturelle Artefakte, zumeist Bücher. Was wird also auf der Basis wovon durch wen für wen be-, respektive gegründet? Mit einem geographischen Ort, Gründungsakteuren, Gründungsdokumenten - und mit Zieraus Narrativ vielleicht sogar einer Form von Gründungserzählung - handelt es sich in der Summe betrachtet um die Gründung einer geistig-kulturellen Gemeinschaft, die nicht zuletzt durch die häufige Verwendung der Personalpronomina ‚wir‘ und ‚uns‘ als Kollektiv inszeniert wird. Parallel zum Schritt der ‚Nationenbildung‘ wird dieses textuell gegründete Deutschland in ein bereits bestehendes Europa 95 Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen 10 So ist von der „europäischen Welt“ (ebd., S. 126) und den „Sitten der aufgeklärtesten Nationen Europas“ (ebd., S. 133) die Rede, von denen angenommen wird, der Prinz wolle sie sich zum Vorbild nehmen und sie in seiner cumbanischen Heimat etablieren. Auffällig sind auch hier wiederum der starke Bezug zur Aufklärung sowie der Konnex von geographischem Ort und Aufklärung. 11 Ebd., S. 141. 12 Ebd., S. 134. 13 Vgl. ebd., S. 135. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 140. integriert 10 und wird auf diese Weise Teil jener Nationen, die es vermeintlich „allen andern Nationen in der ganzen Welt zuvorgetan“ haben. 11 III. Anti-aufklärerische Identitätsentwürfe und anti-(trans-)nationale Gründungsmythen? Parallel zum entworfenen positiven Selbstbild und dem identitätsstiftenden Mo‐ ment einer (Neu-)Gründung wird dies jedoch im Moment des ‚Verkündens‘ einer deutlichen Kritik unterzogen. Bereits im Dialog Zieraus mit dem Protagonisten zeigt sich ein erstes wortwörtliches Infragestellen von dessen Ausführungen. Tandi unterbricht seinen Quasi-Monolog zunächst mehrfach mit der simpel anmutenden Frage „So? “. 12 Auf die Nachfrage, wovon Wielands Goldener Spiegel handle, vermag der Gelehrte nicht präzise zu antworten, sondern flüchtet sich in Weitschweifigkeiten. Nach konkreten, von ihm selbst stammenden Ratschlägen befragt, verstrickt sich dieser schließlich in eine Abfolge von Konditionalgefügen, die sichtbar ins Leere laufen. 13 In einem weiteren Dialog, nunmehr im zweiten Akt und zwischen Tandi und Herrn von Biederling, wird die bislang primär ex negativo deutlich gewordene Konterkarierung des angeblich angebrochenen „Goldene[n] Zeitalter[s]“, 14 zumindest in der Art und Weise wie Zierau es präsentiert, explizit. Dabei finden exakt jene zuvor von Zierau verwendeten Elemente neuerlichen Gebrauch, sodass durch die inhaltliche und zeitliche Parallelisierung von Eigen- und Fremdwahrnehmung eine allzu ‚affirmierende‘ Lesart des Dramas verunmöglicht wird. Der Dialog beginnt programmatisch mit dem Vorwurf des Prinzen: „Ich reise, aber nicht vorwärts, zurück! ich habe genug gesehn und gehört, es wird mir zum Ekel“ und der Protagonist führt weiter aus: „Ich glaubt in einer Welt zu sein, wo ich edlere Leute anträfe als bei mir, große, vielumfassende, vieltätige - - ich ersticke -“. 15 Worauf genau seine Kritik gründet, wird spätestens mit der folgenden Replik offenkundig: 96 Nikola Keller 16 Ebd. 17 Vgl. ebd., S. 133. 18 Ebd., S. 140. 19 Ebd., S. 142. In eurem Morast ersticke ich - treib’s nicht länger - mein Seel nicht! Das der aufgeklärte Weltteil! Allenthalben wo man hinriecht Lässigkeit, faule ohnmächtige Begier, lallender Tod für Feuer und Leben, Geschwätz für Handlung - Das der berühmte Weltteil! o pfui doch! [Hervorhebung durch mich, N.K.] 16 Die Lebendigkeit und die Progressivität, mit der das Zeitalter der Aufklärung im vorigen Dialog beschrieben wurde, werden in dieser und in den weiteren Repliken Tandis ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Erblühen, dem Wachsen, dem Voranschreiten, dem Leuchten und dem Glänzen wird sich im Absterben Be‐ findliches oder bereits Abgestorbenes, Verkommenes und Krankes. Es braucht, um bei den Gleichnissen des Markusevangeliums zu bleiben, im Morast nicht gesät werden, denn die Saat wird nicht aufgehen und es wird folglich auch keine Ernte zu erwarten sein. Europa ist nicht länger Vorbild, sondern wird als ekelerregend, ja sogar als Gefahr empfunden. Anstatt, wie angenommen, die europäischen Sitten nach Cumba zu exportieren, 17 scheint es für den Prinzen geboten, um Cumba „Mauren [sic] herum[zu]ziehn, daß jeder, der aus Europa kommt, erst Quarantäne hält, eh er seine Pestbeulen unter meinen Untertanen vervielfältigt“. 18 Insofern ist von den angeblichen glänzenden Zeiten wenig bis gar nichts zu spüren. Sich „Europäer“ nennen zu dürfen - oder zu müssen - wird nicht zum Qualitätsprädikat, 19 sondern zum Schimpfwort, jedem Anspruch auf Höherwertigkeit wird die Grundlage entzogen. Ob das, worauf sich eine neue Nation zu gründen sucht, eine solide oder überhaupt eine Basis ist, wird massiv infrage gestellt, von der Divinität, mit der sie verbunden wird, bleibt nichts übrig. Die Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von den Angehörigen europäi‐ scher wie außereuropäischer Länder dient, so die gängige Forschungsposition, der Konstituierung einer zumindest geistig-kulturellen deutschen Nationaliden‐ tität. Für Lenz’ Drama scheint eine solche Deutung nicht aufzugehen, denn sein Neuer Menoza erweist sich als Stück, das dem präsentierten Identitätsentwurf, basierend auf der Gründung einer geistig-kulturellen deutschen Nation im Kontext eines progressiven Europas, höchst skeptisch gegenübersteht. 97 Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen 20 Ebd., S. 126. 21 Ebd., S. 132. 22 Ebd., S. 149. 23 Ebd., S. 170. 24 Ebd., S. 172. 25 Ebd., S. 126. 26 Stefan Hermes: Der fremde Sohn. Hybridität und Gesellschaftskritik in J. M. R. Lenz’ interkulturellem ‚Familiendrama‘ Der neue Menoza. In: Michaela Holdenried / Weertje Willms, in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes (Hrsg.): Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012, S. 197-214, hier S. 200. IV. Anstelle nationaler Gründungsmythen: Familie und Weltbürgertum Neben einem solchen (Anti-)Identitätsentwurf offenbart das Stück jedoch noch einen weiteren. Lenz’ Drama belässt es nicht beim bloßen Ausstellen von Kritik, sondern entwickelt eine Alternative, und insbesondere eine Alternative, die Separierungstendenzen und der Formulierung von je nationen- oder kontinent‐ spezifischen Eigenheiten und Höherwertigkeiten entgegensteht. Es mag sich auf den ersten Blick in die zeitgenössisch verstärkte Hinwendung zu Sujets aus dem familiären Umfeld einfügen, dass Lenz die Kritik an dem vorgebrachten Identi‐ tätsentwurf von Deutschem: r beziehungsweise Europäer: in in eine Handlung einbettet, die sich im Kern um das Wieder- und Neufinden wissentlich oder unwissentlich verlorener Familienmitglieder dreht. Bedeutsam ist jedoch vor allem die Art der Familienzusammensetzung. Im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass diese internationaler ist, als es die Verortung des Stücks in Sachsen und der sprechende Familienname von Biederling zunächst erwarten lassen. Ausgerechnet die beiden Figuren, die zunächst als maximal fremd erscheinen, erweisen sich im Verlauf der Dramenhandlung als Kinder der von Biederlings. Der Protagonist Tandi, der zu Beginn seines Aufenthalts seinen Gastgeber gebeten hatte, mit ihm umzugehen „wie mit Ihrem Sohne“, 20 stellt sich als lange vermisster, wenn nicht gar verloren geglaubter Sohn heraus - und das, obwohl ihm zunächst allerlei Herkünfte aus fremden Ländern unterstellt werden. Es ist von ihm im Verlauf des Dramas als „indianische[m] Prinzen“, 21 als „Kalmucke[n]“ 22 oder „Prinz[en] aus Arabien“ die Rede, 23 sein Verhalten wird als „Orientalisch! orientalisch! “ rubriziert, 24 der eigene Vater entfernt ihn als „Prinz aus einer andern Welt“ 25 wortwörtlich vom eigenen Planeten. Dass es mit diesen Bezeichnungen keinesfalls darum geht, den vermeintlich Fremden geographisch zu verorten, sondern sie in erster Linie dazu dienen, Tandi „mit einem Höchstmaß an kultureller Alterität [zu] versehen“ 26 und 98 Nikola Keller 27 Vgl. zu den jeweiligen zugeschriebenen charakterlichen Eigenschaften, die mit den einzelnen geographischen Verortungen des Prinzen verbunden sind, exemplarisch ebd., S. 200f. 28 Im Vergleich zu ihrem Bruder hat die Figur allerdings in der Forschungsdiskussion deutlich weniger Beachtung gefunden. Größtenteils wird sie allenfalls als überzeichnet oder merkwürdig abgetan. Beispielhaft für eine solche Deutung steht etwa Bernhard Sylla: Radikale Europakritik in Lenz’ Der Neue Menoza. In: Jan Papiór (Hrsg.): Eurovi‐ sionen. Bd. 3: Europavorstellungen im kulturhistorischen Schrifttum der frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert). Poznań 2001, S. 387-397, insbesondere S. 389. Koneffke beklagt dieses Desiderat ebenfalls, beschränkt sich jedoch darauf, das ‚unnatürliche‘ Verhalten der Figur psychologisch-psychoanalytisch zu erklären (vgl. Marianne Koneffke: Der „natürliche“ Mensch in der Komödie „Der neue Menoza“ von Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt am Main [u. a.] 1990, S. 154f.), nach der Funktion der Figur für die Dramenhandlung fragt sie hingegen nicht. 29 Lenz: Menoza (Anm. 3), S. 138. 30 Ebd., S. 129. 31 Ebd., S. 138. 32 Vgl. José Manuel López de Abiada: Spaniards. In: Manfred Beller / Joep Leerssen (Hrsg.): Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam / New York 2007, S. 242-248, hier S. 242f., sowie ausführlich Dietrich Briesemeister: Spanien aus deutscher Sicht. Deutsch-spanische Kulturbeziehungen gestern und heute. Tübingen 2004. 33 Verstärkt wird diese Charakterzeichnung noch durch die Benennung der Figur nach der römischen Göttin Diana, die unter anderem als „Göttin der wilden Tiere und der Jagd“ diesen entsprechend als charakterlich ‚minderwertig‘, da barbarisch und wild, zu markieren, hat die Forschung verschiedentlich herausgearbeitet. 27 Nicht weniger fremd erscheint zunächst die Tochter der von Biederlings, die scheinbar spanische Gräfin Donna Diana. 28 Das (Lese-)Publikum lernt die Figur durch Aussprüche wie „[W]as sind wir denn anders, Amme? ich halt mich nichts besser als meinen Hund, so lang ich ein Weib bin. Laß uns Hosen anziehn und die Männer bei ihren Haaren im Blute herumschleppen“ 29 oder durch ihre Reaktion auf einen auf sie verübten Mordanschlag kennen: Wenn ich dem Kerl nur in meinem Leben was zu Leide getan hätte! Es ärgert mich nichts mehr, als daß er mich unschuldiger Weise umbringen will. Hätt ich das gewußt, ich hätt ihm die Augen im Schlafe ausgestochen, oder Sukzessionspulver eingegeben, so hätt er doch Ursache an mir gehabt. Aber unschuldiger Weise - - ich möchte rasend werden. 30 „[E]in Frauenzimmer [] wie andere“ 31 ist sie folglich keineswegs. Gleichzeitig entspricht die Figur damit jedoch dem geläufigen Spanienbild des späten 18. Jahrhunderts. Die Spanier: innen gelten als wild und unzivilisiert, tempera‐ mentvoll und zu Grausamkeit und Brutalität neigend, 32 derart tritt Donna Diana über den gesamten Handlungsverlauf auf. 33 Insofern handelt es sich mit Greiner 99 Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen fungiert ([ohne Verfasserangabe]: [Art.] Artemis, römisch Diana. In: Irène Aghion / Claire Barbillon / François Lissarrague [Hrsg.]: Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, mit 372 Abbildungen. Übersetzung und Bearbeitung von Klaus Fräßle. Stuttgart 2000, S. 66-68, hier S. 66) und die als ‚männerfeindlich‘, rachsüchtig und grausam gilt. 34 Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Inter‐ pretationen. 2., aktualisierte und ergänzte Auflage, Tübingen / Basel 2006, S. 178. 35 Vgl. ebd. 36 Lenz: Menoza (Anm. 3), S. 128. 37 Hermes: Sohn (Anm. 26), S. 199. 38 Ebd., S. 200. tatsächlich um eine „extrem[e]“ und, wenn man so möchte, „übersteigert[e]“ und „unwahrscheinlich[e]“ Figur. 34 Darin ist jedoch kein ästhetischer Mangel zu sehen, den etwa Greiner dieser Überzeichnung zum Vorwurf macht, 35 sondern ein Anhaltspunkt für die Funktion dieser Figur, welche offenkundig wird, betrachtet man Dianas Rolle im Familiengefüge. Nachdem sich herausstellt, dass nicht Diana Spanierin ist, sondern die in allen Szenen als außerordentlich sanft‐ mütig und tugendhaft erscheinende Wilhelmine - ihr Vater spricht von ihr gar als einem über die Maße empfindsamen, zerbrechlichen „Papiergeschöpf[]“-, 36 werden tradierte Vorstellungen von Eigen und Fremd überworfen. Gerade die karikatureske Darstellung der beiden Figuren und der überdeutliche Kontrast zwischen ihnen machen dies umso deutlicher. Die beiden angeblichen Wilden - die vermeintliche spanische Gräfin im europäischen Vergleich sowie der cumbanische Prinz im außereuropäischen Vergleich - sind Kinder der von Biederlings. Zunächst wird damit der Glaube an durch Geburt prädeterminierte Charaktereigenschaften, die den Angehörigen einer Nation zuzuordnen sind, ad absurdum geführt. Gleichzeitig wird durch diese Art der Familienzusammenstellung eine Perspektive aufgeworfen, die über Nationalkulturelles hinausreicht. Hermes führt zunächst mit Verweis auf den Rousseau’schen Contrat social an: „Die patriarchalisch organisierte Familie und ihr näheres Umfeld bilden einen bühnenwirksam darstellbaren Mikrokosmos, anhand dessen sich in allegorischer Weise Aufschlüsse über den sozialen Makrokosmos gewinnen lassen“. 37 Folglich handle es sich bei Lenz’ Neuem Menoza um „eine Art Versuchsanordnung; das private Milieu fungiert über weite Strecken als ein Gemeinwesen in nuce“. 38 Während Rousseau bekanntlich den Zusammenhang von Familie und Staat formuliert, wird bei Lenz die Zusammensetzung der Familie und der Gemeinschaft, für die sie Pate steht, als nicht-nationale Einheit entworfen. Geht man dennoch weiterhin von der dargestellten Familienzusammensetzung als Modell aus, so zeigt sich, dass Lenz an einer Entwicklung partizipiert, die im Laufe des 18. Jahrhunderts 100 Nikola Keller 39 Christoph Martin Wieland: Das Geheimniss des Kosmopoliten-Ordens. In: ders.: Sämt‐ liche Werke. Hrsg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Bd. X./ 30. Hamburg 1984, S. 155-203, hier S. 167f. 40 Vgl. Klaus Manger: Wielands Kosmopoliten. In: Klaus Garber / Heinz Wismann, unter Mitwirkung von Winfried Siebers (Hrsg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. 2. Tübingen 1996, S. 1637-1667, hier S. 1657. 41 Vgl. Sigrid Thielking: Weltbürgertum. Kosmopolitische Ideen in Literatur und politi‐ scher Publizistik seit dem achtzehnten Jahrhundert. München 2000. neuerliche Relevanz gewinnt. Die Dramenhandlung beginnt damit, dass einem Fremden, welcher der Prinz zu diesem Zeitpunkt noch ist, Einlass in das eigene Haus gewährt wird. Mit der erwiesenen Gastfreundschaft wird ein Kernszenario dessen vorgestellt, was als Weltbürgerlichkeit entworfen wird. Und wie Wieland bereits bei dem überaus positiven Selbstbild sowie der Kritik daran eine zentrale Rolle spielte, kann auch bei der Perspektive, die das Drama jenseits von bloßer Kritik eröffnet, erneut auf ihn verwiesen werden. In seinem Aufsatz Das Geheimniss des Kosmopoliten-Ordens (1788) formuliert dieser die Weltgemeinschaft als Familie: Die Kosmopoliten führen den Nahmen der Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist [Hervorhebung im Original, N.K.] 39 Zwar wurde dieser Aufsatz gut zehn Jahre nach Lenz’ Neuen Menoza verfasst, gleichzeitig ist er jedoch auch eine Erneuerung von Wielands Abderiten, die wiederum ebenfalls ab 1774 und damit dem Erscheinungsjahr des Lenz’schen Stücks publiziert wurden. 40 Vor diesem Hintergrund wird mit Lenz’ Familien‐ konstellation im Neuen Menoza eine Perspektive aufgeworfen, die über Natio‐ nales und Nationalstaatlichkeit und über die Hierarchie zwischen Europa und der übrigen Welt hinausreicht. An die Stelle von naivem Patriotismus rückt Weltbürgerlichkeit. 41 Diese wird, im Gegensatz zu den Ausführungen Zieraus, nicht mit dessen unreflektiertem Optimismus vorgetragen, wie zum Abschluss an zwei Beispielen illustriert werden soll. Zunächst kann von Biederling keineswegs als leuchtendes Vorbild für ein Familienoberhaupt bezeichnet werden. Wie sich im Verlauf der Dramenhand‐ lung herausstellt, ist von Biederling selbst verantwortlich für den zeitweiligen Verlust des Sohnes, den er aus Geldnot einem Bekannten der Familie, Herrn von 101 Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen 42 Vgl. Lenz: Menoza (Anm. 3), S. 130f. 43 Ebd., S. 130. 44 Ebd., S. 159. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 160. 47 Ebd., S. 173. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 186. Zopf, anvertraut hatte. 42 Entsprechend wird er von seiner Frau als „Rabenvater“ und „Kindermörder“ bezeichnet. 43 Weiterhin wird kein idyllisch verklärtes Familienbeisammensein inszeniert. Zwar finden in mehreren Szenen Zusam‐ menführungen von einzelnen Familienmitgliedern statt, ein Grund zur Freude sind diese zunächst jedoch keineswegs, auch wenn Außenstehende dies stets vermuten. Im dritten Akt eröffnet Herr von Zopf Tandi: „Es hätte sich nicht wunderlicher fügen können, freuen Sie sich mit uns allen, Sie sind in Ihres Vaters Hause [Hervorhebung durch mich, N.K.]“. 44 In der Folge fordert er Wilhelmine und Tandi auf: „Umarmen Sie sich. Sie sind Bruder und Schwester“. 45 Dass es sich bei dieser Nachricht keineswegs um eine „fröhliche Zeitung“ handelt, zu der Zopfs verwunderte Nachfrage „macht’s Ihnen keine Freude? [Hervorhebung durch mich, N.K.]“ sowie dessen Affirmation „Sie sind Geschwister, das ist sicher“ wenig beitragen, 46 kann zunächst noch auf die Problematik des sich aus dieser Eröffnung ergebenden Geschwisterinzests zurückgeführt werden. Auch bei der nächsten möglichen Zusammenführung von Familienmitglie‐ dern im dritten Akt wird die naheliegende Wiedersehensfreude thematisiert. Nachdem Herr von Biederling nach Leipzig gereist ist, um Tandi nach dessen Flucht zur Rückkehr nach Naumburg und zu Wilhelmine zu bewegen, bittet er den Bediensteten eines Kaffeehauses: „Geht sagt meinem Sohne, ich möcht ihn sprechen“. 47 Ein ebenfalls anwesender Gast bemerkt daraufhin: Ist’s wahr, daß Ihr sein Papa seid? Das wird ihm Freude machen, das wird ihm Freude machen, ich hab Eure Gesundheit trunken, Gott hat mein Gebet erhört. - Sauft Brüder, sauft! wenn mir einer hundert Taler geschenkt hätte, so vergnügt hätte es mich nicht gemacht. [Hervorhebung durch mich, N.K.] 48 Tandi verweigert in der darauffolgenden Szene jedoch zunächst, den Vater zu sehen; es findet also kein Zusammentreffen statt und erst recht kein freudiges. Doch auch nachdem Biederling seinen Sohn zur Rückkehr nach Naumburg überredet hat und Wilhelmine Tandi eröffnet, „Ich bin deine Schwester nicht“, 49 und damit die Inzestproblematik endgültig ausgeräumt ist, wird keine ‚Happy Family‘ ausgestellt. Aufseiten der nunmehr rechtmäßig Liebenden und Eheleute ist die Freude zwar durchaus groß, der Vater stimmt hingegen keineswegs ein, 102 Nikola Keller 50 Ebd., S. 187. 51 Vgl. Albrecht Koschorke [u. a.]: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. Konstanz 2010, S. 31. 52 Greiner: Komödie (Anm. 34), S. 180. 53 Koschorke: Familie (Anm. 51), S. 37. 54 Vgl. ausführlich Willy R. Berger: Das Tableau. Rührende Schluß-Szenen im Drama. In: arcadia. Internationale Zeitschrift für literarische Kultur 24 (1989), H. 2, S. 131-147. sondern rügt diese und fordert sie auf, ins Haus und damit von der Bühne zu gehen: „So kommt herein, kommt herein, schämt euch doch, vor den Augen der ganzen Welt mit seinem Weibe Rebekka zu scherzen, das geht in Cumba wohl an, lieber Mann! aber in Sachsen nicht, in Sachsen nicht“. 50 Das Ergebnis dessen, wodurch die Dramenhandlung geprägt ist, die in der Logik von Wiedererkennen oder Wiederfinden zu erwartende Versammlung aller Familienmitglieder auf der Bühne zeigt das Drama folglich gerade nicht. 51 Weitere Aufeinandertreffen von Familienmitgliedern finden nicht mehr statt. So kommt es am Dramenende zu keiner neuerlichen Begegnung zwischen Mutter und Sohn und auch, dass die vermeintliche Tochter Wilhelmine nicht die eigene Tochter ist, erfährt im Verlauf der Handlung keines der Elternteile. Greiner merkt hierzu an: Dass die Biederlings dann statt der empfindsamen Wilhelmine die männermordende Diana zur Tochter haben […], ist mit der Charakteristik der Eltern so unverträglich, dass Lenz die Handlung abbricht, wo er diese Gruppe zusammenführen müsste. 52 [D]as sentimental-versönliche tableau vivant am Schluss 53 im Stil Diderots bleibt in der Tat aus. 54 Liest man Lenz’ Drama insgesamt jedoch als Auseinandersetzung mit der beginnenden deutschen ‚Nationenbildung‘ und insbesondere den über die Familienzusammensetzung geschaffenen Identitäts‐ entwurf der Weltbürgerlichkeit im Kontrast zum zuvor propagierten national geprägten Identitätsentwurf, so wird offenkundig, dass das Ausbleiben eines sol‐ chen Dramenendes keineswegs als Inkonsistenz zu werten ist. Schließlich wird der Unterschied des lediglich über den Handlungsverlauf hergestellten weltbür‐ gerlichen Identitätsentwurfs zu dem offensiv und didaktisierend vorgetragenen deutsch-europäischen Identitätsentwurf auf diese Weise umso deutlicher. V. Deutsche: r - Europäer: in - Weltbürger: in? Lenz’ Neuer Menoza als „Mischmasch“ unterschiedlicher Identitätsentwürfe Entstanden in der Zeit, die gemeinhin als ‚Gründungsstunde‘ einer wenn nicht politischen, so doch geistig-kulturellen deutschen Nationalidentität gilt, erweist sich Lenz’ Neuer Menoza als ein Drama, das sich einer einfachen Deutung nach 103 Aufklärerische (Anti-)Identitätsentwürfe und (trans-)nationale Gründungsmythen 55 Zakariae Soltani: Orientalische Spiegelungen. Alteritätskonstruktionen in der deutsch‐ sprachigen Literatur am Beispiel des Orients vom Spätmittelalter bis zur Klassischen Moderne. Münster 2016, S. 57. 56 Jakob Michael Reinhold Lenz: Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt. In: ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften. Frankfurt am Main / Leipzig 2005, S. 699-704, hier S. 703. 57 Vgl. Andrea Albrecht: Kosmopolitismus: Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. Berlin / New York 2005, S. 97f. dem Muster Konstitution eines Eigenen in Abgrenzung zum Anderem merklich entzieht. Mit der Trias Deutsche: r - Europäer: in - Weltbürger: in entwirft Lenz’ Stück gleich mehrere, teils durchaus skeptische, sich wechselseitig ergänzende und aufhebende Identitätskonzepte. Wenngleich das Drama zunächst analog zu entsprechenden Tendenzen im Kontext der deutschen ‚Nationenbildung‘, das Eigene zu sakralisieren und absolut zu setzen, „die eigene Identität stabilisie‐ rende kontrastive Oppositionen“ aufzurufen und fortzuschreiben scheint, 55 hält es letztlich denjenigen, die in einer solchen Weise argumentieren, den Spiegel vor. Über den Zusammenhang von Familie und Weltbürgertum wird zugleich ein Identitätsentwurf jenseits der Logik nationaler Eigenheiten geschaffen. Die Familienkonstellation, die das Stück über den Handlungsverlauf entwirft, entspricht damit dem „Mischmasch“, 56 von dem Lenz in seiner Selbstrezension spricht: Die Familie setzt sich letztlich aus Eigenem und Fremdem, Bekanntem und Unbekanntem zusammen. Schwiegertochter Wilhelmine - auf Familien‐ ebene gedacht als lediglich Eingeheiratete das jüngste und ‚fremdeste‘ Famili‐ enmitglied - erweist sich für das Ehepaar von Biederling als das vertrauteste und bekannteste. Der Entwurf von Weltbürgerlichkeit, für den diese Familien‐ konstellation Modell steht, ist nicht derjenige eines elitäreren Zirkels, dessen gelebtes Weltbürgertum nicht über philosophische Reflexionen hinausreicht, 57 sondern inkludiert mit der exzentrischen vermeintlichen Spanierin auch die wortwörtlich lästige und unangenehme Verwandtschaft. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Zufälligkeiten und seiner scheinbaren Unwahrscheinlich‐ keiten kann Lenz’ Neuer Menoza damit einen Identitätsentwurf formulieren, der ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. 104 Nikola Keller 1 Zur Rolle Goethes bei der Berufung Fichtes vgl.: Eckart Förster: „Da geht der Mann dem wir alles verdanken! “ Eine Untersuchung zum Verhältnis Goethe - Fichte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997) 3, S. 331-344, hier S. 332. 2 Vgl. Vorbemerkung des Verlages zur Textgestaltung. In: Johann Gottlieb Fichte: Grund‐ lage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Hamburg 1997, S. XVII-XXVIII, hier S. XXVII. 3 Vgl. Förster: „Da geht der Mann dem wir alles verdanken! “ (Anm. 1), S. 340. - Die ersten Bögen der Grundlage übersendet Fichte bereits am 21. Juni 1794. Vgl. Robert Neumann: Goethe und Fichte. Berlin 1904, S. 12. 4 Vgl. Serenella Iovino: „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist Alles“. Goethe als Leser der Wissenschaftslehre. In: Fichte-Studien 19 (2002), S. 55-94, hier S. 61. Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz Die Rolle von Johann Gottlieb Fichtes früher Wissenschaftslehre für Goethes Faust I Michael Steinmetz und Dominik Zink, Trier I. Goethe und Fichte Johann Gottlieb Fichtes Ruf an die Universität nach Jena als Nachfolger des berühmten Kantianers Carl Leonhard Reinhold wurde auch aufgrund von Bestrebungen Goethes ermöglicht. 1 Der damals erst 32-jährige Fichte hatte von seinem philosophischen Hauptwerk, der Wissenschaftslehre, noch nichts publi‐ ziert. Erst im Zuge der Berufung auf die Professur veröffentlichte er vor deren Antritt die Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, in der er sein philosophisches Programm darlegte. Während seines ersten Semesters 1794/ 95 publizierte er dann in einzelnen Bögen für die Hörer seiner Vorlesung die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), wobei deren letzter Teil, die Grundlage der Wissenschaft des Praktischen, erst im Sommer 1795 gedruckt wurde. 2 Fichte stellte sicher, dass sowohl der Begriff als auch die Grundlage unverzüglich nach Erscheinen zu Goethe gesandt wurden, 3 der sich sogar persönlich um einen Verlag für die Grundlage bemüht hatte 4 5 Wolf von Engelhardt hat die Faksimile-Ausgabe dieses Handexemplars herausgegeben: Wolf von Engelhardt: Goethes Fichtestudien. Faksimile-Edition von Goethes Hand‐ exemplar der Programmschrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre“. Weimar 2004. Obwohl diese Arbeit die Forschung zu Fichte und Goethe enorm erleichtert, weil sie einen Einblick in Goethes Rezeptionsprozess gibt, muss jedoch gesagt werden, dass die dort gefundenen Anstreichungen selbstverständlich nur Indizien sein können. 6 Vgl. Iovino: „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist Alles“ (Anm. 4), S. 86. 7 Vgl. Immanuel Hermann Fichte (Hrsg.): Johann Gottlieb Fichtes literarischer Brief‐ wechsel. Bd. 1 Das Leben. Leipzig 1862, S. 251. Zur Überlieferung dieses Satzes siehe Förster: „Da geht der Mann dem wir alles verdanken! “ (Anm. 1), S. 331. In der Forschung wurde durchaus diskutiert, ob diese Aussage ironisch verstanden werden müsse, es besteht aber Einigkeit, dass dem höchstwahrscheinlich nicht so sei. Was allerdings genau mit „alles“ gemeint sei, muss Gegenstand der Spekulation bleiben. Vgl. dazu neben Förster auch Iovino: „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist Alles“ (Anm. 4), S. 89. 8 Johann Gottlieb Fichte: Brief vom 27. März 1803. J.G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. 3,5. Hrsg. v. Reinhard Lauth / Hans Gliwitzky. Hamburg / Stuttgart/ Bad Cannstatt 1970-84, S. 193-197. 9 Wilhelm von Humboldt: Brief an Schiller. In: Erich Fuchs (Hrsg.): J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen Bd I. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1978-92, S. 150f., hier S. 150. Serenella Iovino zeigt, dass man diese Aussage aus verschiedenen Gründen natürlich nicht für bare Münze nehmen darf. Iovino: „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist und die Schriften Fichtes aufmerksam und mit Interesse rezipierte. Dies belegt z. B. Goethes Handexemplar mit Anstreichungen des Begriffs, das zusammen mit seinem Exemplar der Grundlage im Goethe-Nationalmuseum in Weimar archiviert ist. 5 Eine zeitlich unmittelbare Rezeption von Fichtes Arbeit durch Goethe kann bis 1798 nachgewiesen werden. Goethe las und diskutierte die von 1796-99 von Fichte gehaltene Wissenschaftslehre nova methodo mit W. v. Humboldt und Schiller. 6 Der im Herbst 1798 losgetretene Skandal um den vermeintlichen Atheismus der Fichte’schen Philosophie, der das Ende seiner Karriere in Jena bedeutete, weil er in dessen Zuge den Landesfürsten Carl August Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach beleidigte, ließ Goethe keine andere Wahl, als sich gegen Fichte zu positionieren. Dass dennoch eine gegen‐ seitige Wertschätzung der Arbeit des jeweils anderen erhalten blieb, bezeugen verschiedene Aussagen. Goethe sagte zu Karl Friedrich Zelter am 8. August 1810 in Karlsbad, als sie Fichte vorüber gehen sahen, über diesen: „Da geht der Mann, dem wir alles verdanken! “ 7 Fichte auf der anderen Seite urteilte in einem Brief über Goethes Natürliche Tochter, sie sei ein „unsterbliches Meisterwerk“. 8 Auch dass Goethe trotz seiner bekannten Abneigung gegen die Metaphysik und spe‐ kulative Philosophie einen recht guten Einblick in Fichtes Wissenschaftslehre hatte, bezeugen verschiedene Aussagen, wie z. B. die von Fichte selbst, der laut Humboldt sagte: „Neulich […] hat er [Goethe] mein System so bündig und klar dargelegt, daß ichs selbst nicht hätte klarer darstellen können.“ 9 Besonders 106 Michael Steinmetz und Dominik Zink Alles“ (Anm. 4), S. 69. Dennoch wird dadurch deutlich, dass es von Goethes Seite wahrscheinlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Fichte’schen Philosophie gegeben habe, was es legitimiert, nach Spuren dieser Rezeption in seinem Werk zu suchen. Eine andere in dieselbe Richtung weisende, aber von Goethe selbst verfasste Aussage findet sich in seinem Dankschreiben an Fichte, nachdem dieser ihm den ersten Bogen der Grundlage zugesendet hat: „Für den übersendeten ersten Bogen der Wissenschaftslehre danke ich zum besten, ich sehe darin schon die Hoffnung erfüllt welche mich die Einleitung [d. i. der Begriff] fassen ließ, er enthält nichts das ich nicht verstünde oder wenigstens zu verstehen glaube, nichts das sich nicht an meine gewohnte Denkart willig anschlösse.“ Johann Wolfgang Goethe: Brief an Fichte am 24.6.1794. Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe Bd. 2. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. München 1976, S. 177-178. 10 Johann Wolfgang von Goethe: An Friedrich Schiller. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen IV, 12. Weimar 1887-1919, S. 167. 11 Einen sehr guten Überblick über Datierungsfragen bietet faustedition.net, die On‐ line-Ausgabe der Historisch-Kritischen-Faust-Edition, die von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis herausgegeben wurde. Vgl. hier für den Prolog im Himmel: http: / / www.faustedition.net/ genesis_bargraph? rangeStart=243&rangeEnd=3 53; für Studierzimmer I: http: / / www.faustedition.net/ genesis_bargraph? rangeStart=11 78&rangeEnd=1529 (zuletzt abgerufen am 28. Juli 2020). Vgl. auch: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Hendrik Birus [u. a.]. Frankfurt am Main 1987-2014, Abt. I, Bd. 7.2, S. 704. interessant ist, dass in der Zeit relativ kurz nach Lektüre der Wissenschaftslehre die Wiederaufnahme der Arbeit am Faust beginnt (bezeugt durch einen Brief an Schiller vom 22.6.1797), 10 worunter sehr wahrscheinlich auch die Szenen Prolog im Himmel und Studierzimmer I fallen, die hier besonders in den Blick geraten werden. Das Datum post quem für das früheste Paralipomenon zu den Versen 243-331 aus dem Prolog liegt sogar im Jahr 1795. 11 Der Rückbezug auf Fichte, so die hier zu entwickelnde These, ermöglicht eine Neuinterpretation des Faustischen Strebens. Denn bereits Fichte deutet die Essenz endlicher Existenz als Streben. Dabei zeichnet sich Fichtes Entwurf wesentlich dadurch aus, dass das menschliche Bewusstsein darin als ein irredu‐ zibel paradoxes Phänomen beschrieben wird, insofern das Ziel des Strebens - absolute Selbstidentität - nur in der Überwindung der das Bewusstsein überhaupt erst konstituierenden Differenz bestehen kann. Denn dieses Streben wird begriffen als praktische unendliche Vermittlung des Absoluten, das als Setzung reiner Selbstidentität bestimmt wird, und seiner Negation, d. h. der Inauguration einer bewusstseinskonstitutiven Differenz. Dieser Beitrag wird argumentieren, dass die paradoxe Struktur jener Anthropologie der Endlichkeit, die einen zentralen Übergangspunkt zur Moderne ausmacht, gleichsam das Grundgerüst des Endlichkeitsdramas im Faust bildet. 107 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 12 Eigentlich müsste im hier untersuchten Fall von zwei Textcorpora gesprochen werden, weil sowohl Fichtes frühe Wissenschaftslehre in mindestens drei Texten veröffentlicht wurde (neben der Grundlage und dem Begriff ist noch der Grundriss der gesammten Wissenschaftslehre zu nennen), als auch Goethes Faust-Projekt sich in mehreren veröf‐ fentlichten und unveröffentlichten Schriften manifestiert hat. Obwohl hier der Fokus hauptsächlich auf dem Faust I liegt, wird auch auf das Fragment von 1790, den sog. Urfaust, den Faust II sowie auf die Quellen Goethes für den Stoff, also die Historia des D. Fausten, die Puppenspiele und Marlowes Bühnenstück verwiesen. 13 Vgl.: Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idea‐ listischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, S. 12f. 14 Ebd., S. 12. II. Methode und Forschungsüberblick In einer Untersuchung, die das Verhältnis zweier Autoren zum Gegenstand hat, 12 muss auch die Frage mitverhandelt werden, von welcher Vorstellung, der gegen- oder auch einseitigen Möglichkeit der Beeinflussung überhaupt ausgegangen wird. Dieter Henrich hat in seinem Konstellationenprojekt die immer noch - nicht nur für Jena und Weimar um 1800 - plausible These vorgebracht, dass gerade in einer geographisch wie intellektuell so dicht gedrängten Situation wie der in Jena vor 1800 sinnvollerweise nicht von einer naiven Rezeptionssituation gesprochen werden darf, in der ein Autor einen Gedanken eines anderen rein weitergeben oder überhaupt erst aufnehmen könne. Henrich zeigt überzeugend, dass überhaupt schon die Vorstellung von der abgeschotteten Entwicklung eines Gedankens im Werk eines einzelnen Autors als ein Produkt der idealisierenden Rezeptionsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beurteilt werden muss. 13 Nichtsdestotrotz gibt er die Überzeugung nicht auf, dass es Autoren und Texte gibt, die als unumgängliche Bezugsgrößen im Diskurs zu neuralgischen Punkten werden und deswegen für die philologische, diskursanalytische und hermeneu‐ tisch-ideengeschichtliche Forschung ausgezeichnete Gegenstände sind. Das Verhältnis des Einzeltexts zum sich in ihm manifestierenden Diskurs beschreibt Henrich wie folgt: Trotz der großen Bedeutung persönlicher und freundschaftlicher Verständigung für den Gang des Denkens in dieser Zeit waren zwar die philosophischen Konzeptionen immer Leistungen von Einzelnen. Innerhalb dieser Konzeptionen wirken sich aber viele Faktoren aus, die nur in Beziehung auf das den Konzeptionen vorgängige Kräftefeld eine Erklärung finden können. 14 Für Jena, so urteilt Henrich, ist in der Phase des Frühidealismus kein Autor in dieser Hinsicht dem Rang Fichtes gleichzusetzen: „Mit der Veröffentlichung der Schriften Fichtes des Jahres 1794 war ein Bezugspunkt gesetzt, auf den sich alle 108 Michael Steinmetz und Dominik Zink 15 Ebd., S. 10. 16 Ebd., S. 13. 17 Förster: „Da geht der Mann dem wir alles verdanken! “ (Anm. 1), S. 335. 18 Vgl. vor allem: Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorle‐ sungen. Frankfurt am Main 1989, sowie: Manfred Frank: ‚Unendliche Annäherung.‘ Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1997. 19 Vor allem in der Novalis-Forschung wurden Franks Untersuchungen zu Fichte beson‐ ders fruchtbar gemacht: Vgl.: Bernward Loheide. Fichte und Novalis. Transzenden‐ talphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs. Amsterdam und Atlanta: Editions Rodopi 2000; vgl. auch den Sammelband: Herbert Uerlings (Hrsg.): Novalis. Poesie und Poetik. Tübingen 2004. Doch auch Manfred Frank selbst hatte bereits neben dem Einfluss, den Fichte auf Novalis hatte, gezeigt, dass die Wissenschaftslehre auch intensiv von Friedrich Schlegel rezipiert und in dessen universalpoetischen Konzep‐ tionen eine große Rolle gespielt hatte. Vgl. Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik (Anm. 18); sowie Frank: ‚Unendliche Annäherung‘ (Anm. 18). folgenden philosophischen Theorieversuche einzustellen hatten.“ 15 Der Name Konstellationenforschung, den Henrich für die von ihm entwickelte Interpreta‐ tionsmethode vorgeschlagen hat, verwendet die kosmologische Metapher der Sternen-Konstellation, um deutlich zu machen, dass Texte oder Einzelautoren nicht als „ptolemäisch fixiert[…]“ 16 gedacht werden dürfen, sondern als in einem Kräftefeld eingespannte Elemente, die als Gravitationszentren ein dynamisches Feld wechselseitiger Beeinflussung ausmachen. Obwohl von Eckehard Förster bereits in seiner 1996 gehaltenen und ein Jahr später veröffentlichten Antrittsvorlesung als Desiderat benannt worden ist, dass die Untersuchungen Henrichs die Rolle Goethes unterschätzen, ist dieser Mangel immer noch nicht befriedigend behoben worden. Zwar ist die von Förster im gleichen Atemzug bemängelte „völlige Ausblendung“ 17 der Frühromantiker von Manfred Frank in mehreren sehr umfangreichen und an Henrich anschließenden Publikationen aufgearbeitet worden. 18 Dennoch spielt das Verhältnis von Fichte zu Goethe weiterhin kaum eine Rolle in der Forschung; und das, obwohl die Arbeiten Henrichs den Entstehungskontext von Fichtes Philosophie und komplementär dazu diejenigen Franks die Wirkung von und Reaktionen auf Fichte sehr ausführlich aufgearbeitet haben, wodurch Fichte auch in der Germanistik als ein maßgeblicher Impulsgeber für die literarische Produktion im Jena des ausgehenden 18. Jahrhunderts gesehen wird. 19 Man kann also durchaus sagen, dass Fichte und Goethe - um in der kosmologischen Metapher Henrichs zu sprechen - wahrlich Sonnen in der Jenaer Konstellation sind. Es stellt sich also die Frage, weswegen die Beziehung beider in der Forschung eine so geringe Rolle spielt. Henrichs Untersuchungsinteresse war es, die Vorbedingungen der sich rasant vollziehenden Entstehung des Deutschen Idealismus zu klären, weswegen es von seiner Warte aus nicht unbedingt 109 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 20 Waltraud Naumann-Beyer: Fichte, Johann Gottlieb. In: Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto (Hrsg.): Goethe-Handbuch 5,1. Personen, Sachen, Begriffe A-K. Stuttgart und Weimar 1998, S. 290-292, hier S. 291. Fairerweise muss hier aber dazu gesagt werden, dass die wenigen maßgeblichen Veröffentlichungen erst nach dem Erscheinen von Naumann-Beyers Artikel publiziert worden sind. Nichtsdestotrotz haben die in diesem Standardwerk getätigten Äußerungen natürlich ein gewisses Gewicht. 21 Iovino: „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist Alles“ (Anm. 4). 22 Géza von Molnár: Goethes Einsicht in die „Wissenschaftslehre“. In: Athenäum 7 (1997), S. 167-192. notwendig erscheint, sich mit Goethe auseinanderzusetzen. Nicht verständlich scheint dagegen, dass die Goethe-Forschung so wenig Interesse an Fichte zeigt. Die Forschung zum Verhältnis von Goethe zu Fichte ist denn auch sehr überschaubar; vor allem, wenn man sie im Kontrast zu teilweise sehr intensiv geführten Spezialdebatten in der Goethe-Forschung sieht. Im Goethe-Handbuch wird das Verhältnis der zwei Denker auf etwas mehr als zwei Seiten abgehandelt. Dort wird überhaupt kein inhaltliches Interesse Goethes an Fichte beschrieben, sondern es werden Gründe für Goethes vermeintliche „Distanz gegenüber Fichtes Philosophie“ 20 genannt. Trotz dieses überraschend und ungerechtfertigt geringen Interesses der Forschung lassen sich die Arbeiten, die zu diesem Thema tatsächlich erschienen sind, grob in zwei Kategorien teilen: Die erste dieser Kategorien ist die umfangreichere und umfasst Arbeiten zum Verhältnis von Fichte’scher Philosophie und den naturwissenschaftlichen Schriften und Überlegungen Goethes, wobei meistens die Goethe’schen Einschätzungen des philosophischen Dreiecks Spinoza-Kant-Fichte nachzuzeichnen versucht wird. Der zweite Forschungsstrang beschäftigt sich mit den Spuren der Wissen‐ schaftslehre im Faust. Unter die erste Kategorie fällt die ideengeschichtlich ambitionierteste Arbeit, die sich mit Goethe und Fichte beschäftigt: Serenella Iovinos Aufsatz „Ich ist Nicht-Ich“ = „Alles ist Alles“. Goethe als Leser der ‚Wissenschaftslehre‘. 21 Dort findet sich ein sehr detaillierter Forschungsüberblick bis zum Jahr 2000, weswegen von den dort genannten Arbeiten weiter unten nur die zentrale Arbeit von Géza von Molnár Goethes Einblick in die „Wissenschaftslehre“  22 an‐ gesprochen werden soll. Iovinos These ist, dass Goethe auf der Suche nach einem Prinzip war, das den spinozistischen All-Einheitsgedanken mit der in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft dargestellten Polarität in der Natur versöhnt. Dieses Prinzip, das für Goethe grundlegend für seine Naturvorstellung und im Speziellen für seine Farbenlehre und seine Morpho‐ logie wichtig war, hat er in Fichtes Wissenschaftslehre zu finden geglaubt. Die wichtigste Veröffentlichung nach Iovino zu diesem Forschungsthema war die Ausgabe des Goethe Yearbooks XVIII (2011), das sich mit Goethes Verhältnis 110 Michael Steinmetz und Dominik Zink 23 Neben der Einleitung der Herausgeber ist der Beitrag von Horst Lange, der sich allerdings primär auf Spinoza bezieht, von großem Interesse: Horst Lange: Goethe and Spinoza: A Reconsideration. In: Goethe Yearbook. XVIII (2011), S. 11-33. Den Begriff der Orphik als Naturerkenntnis hat Claudia Schweizer ins Zentrum der Rezeption Fichtes durch Goethe gerückt: Wissenschaft und Orphik als Schlüssel zur Natur: Zu Goethes Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte. In: Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft. 108/ 109/ 110 (2004/ 2005/ 2006), S. 47-65. 24 Wolf von Engelhardt: Goethes Fichtestudien (Anm. 5). 25 Freilich schließen sich beide Forschungsstränge nicht gegenseitig aus, sondern können durchaus komplementär gelesen werden. So reflektiert sich in der im vorliegenden Beitrag behandelten Dialektik von Identität und Differenz im Faust das Verhältnis von Alleinheit und Polarität in der Natur. Es ist jedoch nicht das Ziel dieses Beitrages, beide Interpretationslinien aufeinander zu beziehen, sondern jenem Forschungsstrang, der sich auf Goethes Faust bezieht, überhaupt erst ein ideengeschichtlich hinreichendes Fundament zu geben. 26 Von Molnár sieht erste Parallelen bereits zu Goethes Faust-Projekt bereits in dessen Kant-Studien. Vgl. Molnár: Goethes Einsicht in die „Wissenschaftslehre“ (Anm. 22), S. 168. Er vermutet Goethes Engagement zugunsten Fichtes bei der Besetzung der Jenenser Professur motiviert von der Annahme, mit Fichte jemand in die Nähe zu holen, der ihm bei seinen Fragen zu Kant weiterhelfen hätte sollen. 27 Vgl. ebd., S. 183. zum Idealismus beschäftigt. 23 Auch die Faksimile-Ausgabe des Handexemplars von Goethes Begriff aus dem Jahr 2004 24 wurde als Beitrag zu dieser Forschung geplant und durchgeführt. So ist der Herausgeber Wolf von Engelhardt von Haus aus Geologe und hat wissenschaftsgeschichtlich hauptsächlich zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften gearbeitet. Sein Kommentar hat denn auch einen deutlich naturwissenschaftlichen Fokus. Der vorliegende Beitrag ist freilich der zweiten Goethe-Fichte-Forschungs‐ linie, der zu Fichte und Faust, zuzuordnen. 25 Géza von Molnár, der Herausgeber von Goethes Kantstudien, hat die bis jetzt detaillierteste Untersuchung zu Fichtes Einfluss auf Goethes Faustprojekt vorgelegt. 26 Auch er beginnt mit dem Einfluss, den Fichtes Begriff auf Goethes Farbenlehre hatte, und bespricht in einem close reading einiger zentraler Stellen die Annotationen in Goethes Ausgabe des Begriffs, um dann jedoch in Hinblick auf den Faust die These zu vertreten, dass dieser analog zu Goethes naturwissenschaftlichen Experimenten als ein literarisches Experiment gelesen werden kann. 27 Die in Anlehnung an Fichte in Bezug auf die Farbenlehre von Goethe eingeführten Begriffe Licht und Nicht-Licht werden strukturanalog zu den Strukturmomenten interpretiert, die der Herr und Mephisto im Prolog im Himmel repräsentieren. Die in diesem Beitrag vorgeschlagene Interpretation stimmt mit Molnár in diesem Punkt überein, will jedoch vor allem zeigen, dass die Parallelen zu Fichte noch sehr viel tiefgreifender sind. 111 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 28 Christian Maria Stadler: Johann Gottlieb Fichte und das faustische Streben. Goethes Faust im Lichte der Fichteschen Wissenschaftslehre. In: Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft. 108/ 109/ 110 (2004/ 2005/ 2006), S. 25-45. 29 Ebd., S. 41. Der einzige Aufsatz, der sich exklusiv mit dem Einfluss Fichtes auf Goethes Faust beschäftigt, ist Christian Maria Stadlers Beitrag Johann Gottlieb Fichte und das faustische Streben.  28 Wie der Titel bereits nahelegt, zielt seine These darauf ab, dass es in Bezug auf das Streben, von dem sicher niemand behaupten wolle, es wäre im Faust nicht zentral, Parallelen bei Fichte gibt. Obwohl er eine in der Kürze sehr instruktive Zusammenfassung des Fichte’schen Projekts und auch eine seine These plausibilisierende Darstellung der biographischen Koinzidenzen gibt, beschränkt sich der Teil des Beitrags, in dem die These tatsächlich belegt werden müsste, größtenteils auf das Nebeneinanderstellen von Zitaten. So kommentiert er Fausts Übersetzung der Schöpfungsgeschichte aus dem Johannesevangelium mit dem Satz „Diese Passage ist die kürzeste Fassung der Fichte’schen Lehre, die mir bekannt ist“, 29 ohne jedoch darzulegen, weswegen er zu genau diesem Schluss kommt. Den Behauptungen, die Stadler aufstellt, kann durchaus zugestimmt werden, ihr literaturwissenschaftlicher Mehrwert allerdings ist sehr stark eingeschränkt, weil er lediglich auf Parallelen hinweist, ohne diese inhaltlich aufzubereiten oder gar für eine Interpretation nutzbar zu machen. Das Anliegen dieses Beitrags hingegen ist ein genuin literaturwissenschaftliches: Es soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass die Texte der Wissenschaftslehre tatsächlich wichtige Intertexte des Faust sind, indem deutlich gemacht wird, dass im Faust eine spezifische Deutung des Strebens als Vermittlung von Identität und Differenz entwickelt wird, die bereits bei Fichte vorgezeichnet ist. In einem zweiten und wichtigeren Schritt soll dann anhand des Beispiels der Wetten im Faust gezeigt werden, welche Konsequenzen diese Erkenntnis für die Faust-Interpretation hat. III. Das erkenntnistheoretische Programm der Wissenschaftslehre Um in die für diesen Beitrag fundamentale Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz bei Fichte einzuleiten, wird zunächst das programmatische Anliegen der Wissenschaftslehre skizziert. Dieses entwickelt Fichte in seiner Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre. Darin beschreibt er die Einzel‐ wissenschaften als Systeme, die eines obersten Prinzips - eines Grundsatzes - bedürfen, das die verschiedenen Sätze einer Wissenschaft verbindet und 112 Michael Steinmetz und Dominik Zink 30 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der soge‐ nannten Philosophie. J.G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Reinhard Lauth / Hans Jacob. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1965, S. 114f. - Diese begriffliche Bestimmung des menschlichen Wissens als System ist inspiriert durch Immanuel Kant. Dieser schreibt in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft: „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen […]. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 3. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, S. 538. 31 Vgl. Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (Anm. 30), S. 119f.: „Jede mögliche Wissenschaft hat einen Grundsatz, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern der ihr vorher gewiß seyn muß. Wo soll nun dieser Grundsatz erwiesen werden? Ohne Zweifel in derjenigen Wissenschaft, welche alle möglichen Wissenschaften zu begründen hat.“ 32 Ebd., S. 120f. 33 Gerhard Funke: Abdankung der Bewußtseinsphilosophie? Bonn 1990, S. 43. ihre Gewissheit innerhalb des Systems garantiert. 30 Die Grundsätze der Einzel‐ wissenschaften können ihre eigene Gewissheit jedoch nicht aus dem System schöpfen, welches sie zuerst fundieren sollen, sodass sie selbst eines Ausweises bedürfen. Die Möglichkeit einer solchen Fundierung der Grundsätze der Ein‐ zelwissenschaften sieht Fichte in der Entwicklung der Wissenschaftslehre als einer Wissenschaft der Wissenschaften überhaupt gegeben. 31 Es ergibt sich jedoch das Problem, dass auch die Wissenschaftslehre als System des Wissens überhaupt eines Einheitsgrundes bedarf, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern zum Behuf ihrer Möglichkeit vorausgesetzt werden muss. „Aber dieser Grundsatz kann auch in keiner andern höhern Wissenschaft erwiesen werden […]. Dieser Grundsatz […] ist daher schlechterdings keines Beweises fähig […]. [E]r muß unmittelbar gewiß seyn.“ 32 Einen Grundsatz, der dem Anspruch unmittelbarer Evidenz genügt, findet Fichte - in Anlehnung an die neuzeitliche Subjektphilosophie seit Descartes - in der unmittelbaren Gewissheit des Ich bin. Die neuzeitliche Philosophie kann beginnend mit Descartes in ihrer Gesamtheit als eine um den Begriff selbstbewusster Subjektivität zentrierte Philosophie beschrieben werden. So schreibt etwa Gerhard Funke zur historischen Bedeutung des Begriffs des Selbstbewusstseins, die Neuzeit zeige „in ihrem Gesamtverlauf einen Zug zur Entfaltung des autonomen Selbstbewußtseins, zur Herausstellung der Im‐ manenz des Bewusstseins überhaupt.“ 33 Selbstbewusstsein als das einzig sich selbst ausweisende und letztbegründende Prinzip gewinnt in zunehmendem 113 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 34 Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt a. M. 1986, S. 27 - Vgl. auch Dieter Henrich: Selbstbewusstsein. In: Rüdiger Bubner / Konrad Cramer / Reiner Wiehl (Hrsg.): Hermeneutik und Dialektik. Bd. 1. Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte. Tübingen 1970, S. 257-284, hier S. 257. Auch Henrich schreibt dem Begriff des Selbstbewusstseins die „Hauptrolle“ innerhalb der modernen Philosophie zu und deutet die Geschichte der Philosophie von Descartes bis Fichte als „Prozeß zunehmender Anmaßung und Vermessenheit der Subjektivität“. Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a. M. 1967, S. 8. 35 Vgl. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: ders.: Holzwege. Hrsg. v. Fried‐ rich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 2003, S. 86ff. 36 Manfred Frank sieht in der Vermittlung von Dualismen ein Hauptanliegen der Ent‐ wicklung idealistischer Philosophie nach Kant: „Die Sache, auf die Kants unmittelbare Fortführer reagieren, ist vorgegeben durch den Zustand, in dem sich die Kantische Philosophie mit dem Abschluß der dritten Kritik befindet. Sie ist geprägt durch drei unvermittelte Dualismen: 1. Denjenigen von Sinnlichkeit und Verstand, 2. die darin eingeschachtelte zusätzliche Trennung des Sinnlichen in Ding an sich und Empfindung und 3. den Mangel eines einigen Prinzips zur Unterstellung von Theorie und Praxis (und Urteilskraft) unters Dach einer und derselben Vernunft.“ Manfred Frank: Unendliche Annäherung (Anm. 18), S. 63. 37 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/ 98). J.G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. 4. Hrsg. v. Reinhard Lauth / Hans Gliwitzky. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1970, S. 194: „Nun kann allerdings die Vorstellung von der Selbstständigkeit des Ich, und der des Dinges, nicht aber die Selbstständigkeit beider selbst, bei einander bestehen. Nur eines kann das Erste, anfangende, unabhängige seyn: das, welches das zweite ist, wird nothwendig dadurch, daß es das zweite ist, abhängig von dem ersten, mit welchem es verbunden werden soll.“ Maß die Funktion eines „fundamentum inconcussum alles wahrheitsfähigen Vorstellens.“ 34 Die Fundierung jeglicher Erkenntnis in einem einheitlichen Prinzip ist für Fichte jedoch mit dem fundamentalen Problem verbunden, dass er Erkenntnis grundsätzlich als Beziehung eines vorstellenden Subjekts auf ein vorgestelltes Objekt auffasst. Die Alterität von Subjekt und Objekt ist neben der Fundierung allen wahrheitsmäßigen Vorstellens im Selbstbewusstsein ein weiteres funda‐ mentales Merkmal neuzeitlicher Bewusstseinsphilosophie. 35 Sie implementiert jedoch einen Dualismus an der Wurzel jeglicher Erkenntnis, der - soll der Erkenntnis durch ein einheitliches Prinzip ein sicheres Fundament gegeben werden - überwunden werden muss. 36 Fichte betont im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/ 98), dass die Auflösung des Dualismus von Subjekt und Objekt nur möglich ist, wenn eines seiner beiden Relata als Erklärungsgrund des anderen bestimmt wird. 37 Die Alterität der Erfahrungsmo‐ mente von Subjekt und Objekt muss gemäß Fichtes subjektzentrierter Grund‐ überzeugung also in der Identität des Subjekts fundiert werden. 114 Michael Steinmetz und Dominik Zink 38 Diese Interpretation neuzeitlich dialektischer Philosophie ist angelehnt an Wolfgang Röd. Dieser unternimmt den Versuch, die Dialektik als Lösungsvorschlag des klas‐ sischen epistemologischen Problems zu deuten, wie das Subjekt zu seinem Objekt kommt. So schreibt er, „daß es die dialektische Philosophie ursprünglich mit dem Problem der Erfahrung bzw. der Erkenntnis zu tun hat, d. h. mit der Frage, wie ein erfahrendes, erkennendes Subjekt Gegenstände, die sich ihm als ein Anderes, Nicht-Subjektives darstellen, ungeachtet ihrer Gegen-ständlichkeit erfassen kann, oder wie sich umgekehrt begreiflich machen läßt, daß Objekte von einem Subjekt erfaßt werden können. Um die wunderbarste aller Erscheinungen […] erklären zu können, nahmen die Vertreter der dialektischen Philosophie an, daß der Subjekt-Objekt-Diffe‐ renz, wie sie in jeder Erfahrung bzw. Erkenntnis von Gegenständen erlebt werden soll, eine Subjekt-Objekt-Einheit, d. h. eine geistige Totalität zugrundeliegt, deren unselbstständige Momente Subjekt und Objekt sind.“ Wolfgang Röd: Dialektische Philosophie der Neuzeit. München 1986, S. 15. Wenn auch diese Reduktion neuzeitlich dialektischer Philosophie auf eine epistemologische Fragestellung bei näherer Prüfung problematisch erscheinen muss, so ist sie im Kontext dieses Beitrages als heuristisches Hilfsmittel durchaus hilfreich. Die Genese der beiden Momente der Erfahrung, Subjekt und Objekt, wird von Fichte innerhalb der ersten beiden Grundsätze der Grundlage beschrieben. Da die Position der Subjekt-Objekt-Differenz in der Identität des Ich jedoch auf einen Widerspruch führt, bedürfen beide Grundsätze einer Vermittlung, welche den Widerspruch aufhebt. Diese Vermittlung erfolgt im dritten Grund‐ satz, der eine Dialektik von Subjekt, Objekt und der übergeordneten Totalität der Subjekt-Objekt-Identität inauguriert. Fichte ist insofern ein Exponent neu‐ zeitlich dialektischer Philosophie, als deren Grundanliegen die Vermittlung der widersprüchlichen Annahmen einer Subjekt-Objekt-Differenz und einer Subjekt-Objekt-Identität beschrieben werden kann. 38 IV. Identität und Differenz in der Wissenschaftslehre und im Faust Die beiden Momente des Widerspruchs - Subjekt-Objekt-Identität in einem ein‐ heitlichen Prinzip sowie Subjekt-Objekt-Differenz in der Erkenntnis - werden in den ersten beiden Grundsätzen der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) eingeführt. Obwohl die Genese von Bewusstsein nur in der Einheit der drei Grundsätze beschrieben werden kann, werden die ersten beiden Grundsätze zunächst gesondert dargestellt, um daraufhin Fichtes Verhältnisbestimmung beider Momente explizieren zu können. Daran anschließend können die Prin‐ zipien von Identität und Differenz in Goethes Faust beschrieben werden. Es ist zu zeigen, dass die Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz darin strukturelle Parallelen zur Grundlage aufweist, bevor in einem weiteren Schritt 115 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 39 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794). J.G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Reinhard Lauth / Hans Jacob. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1965, S. 261. - Wilhelm Jacobs erläutert den Ausdruck des Setzens aus dem ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre in seiner Einleitung zu Fichtes Grundlagen‐ schrift derart, dass damit keine creatio ex nihilo gemeint sei. Vielmehr beziehe es sich auf ein nicht weiter zurückführbares Wissen und Wollen. Wilhelm Jacobs: Einleitung. In: Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Hamburg 1997, S. VII-XXVI, hier S. XII. Ähnlich schreibt Dieter Henrich, das Sich-Setzen beziehe sich auf ein Handeln, in dem das Ich nicht als Sein, aber als ein Fürsichsein hervortrete. Auch er spricht sich damit gegen eine Deutung des Setzens als creatio ex nihilo aus. Der Begriff „schlechthin“ betone dabei die Ursprünglichkeit, insofern damit gesagt werde, dass das Setzen nicht durch ein zuvor Gesetztes oder mit Beziehung auf ein solches vollzogen werde. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht (Anm. 34), S. 18. 40 Fichte bezeichnet den ursprünglichen Akt der Selbstsetzung als Tathandlung. Darin liegt eine „ontologische Umdeutung“ (Silvan Imhof: Der Grund der Subjektivität - Motive und Potenzial von Fichtes Ansatz. Basel 2014, S. 82) des Subjekts, sofern dieses nicht mehr nach der ontologischen Maßgabe der Substanzialität vorgestellt wird, sondern seinen Ursprung im reinen Aktgeschehen des sich selbst Setzens hat. Vgl. dazu Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (Anm. 37), S. 199f.: „Der Idealismus erklärt, wie schon oben gesagt worden, die Bestimmungen des Bewußtseyns aus dem Handeln der Intelligenz. […] Es kommt aus dem gleichen Grunde ihr auch kein eigentliches Seyn, kein Bestehen zu, weil dies ein Resultat einer WechselWirkung ist, und nichts da ist, noch angenommen wird, womit die Intelligenz in WechselWirkung gesetzt werden könnte. Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Thätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeutet wird, welchem die Thätigkeit beiwohne.“ Der Begriff Tathandlung unterscheidet das Sich-Setzen auch von den Tatsachen des Bewusstseins, insofern die Tathandlung „unter den empirischen Bestimmungen un‐ seres Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.“ Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 255. Die Tathandlung kann als Konstitutionsbedingung des Bewusstseins selbst nicht Gegenstand des Bewusstseins werden. die Strebensdynamik endlicher Existenz bei Fichte und Goethe nachgezeichnet werden kann. IV.1 Identität und Differenz in den ersten beiden Grundsätzen der Grundlage Das einheitliche Prinzip der Subjekt-Objekt-Identität beschreibt Fichte in seinem ersten Grundsatz: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn.“ 39 Dieses Ich-Bewusstsein ist das einheitliche Fundament des Systems, in dem die Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt noch nicht stattge‐ funden hat. Als Konstitutionsebene, in der Gegensätze wie der des Subjekts und des Objekts fundiert sind, kann die Tathandlung 40 selbst nicht über die Differenz zu einem Anderen bestimmt werden, sondern ermöglicht erst das 116 Michael Steinmetz und Dominik Zink 41 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 261, Anm. - Diese Anmerkung hat Fichte erst in der überarbeiteten Neuausgabe der Grundlage hinzugefügt. Es ist daher nicht gesichert, dass Goethe sie kannte. Insofern es sich dabei jedoch lediglich um eine Explikation zum ersten Grundsatz handelt, ist diese Frage eher sekundär. 42 Ebd., S. 399. 43 Ebd., S. 276. - Loock bezeichnet diese Unvermitteltheit des absoluten Ich auch als „Relationslosigkeit seiner Identität.“ Reinhard Loock: Das Bild des absoluten Seins beim frühen und späten Fichte. In: Fichte-Studien 17 (2000), S. 83-102, hier S. 91. Dieser Ausdruck hat gegenüber der Unvermitteltheit den Vorzug, dass er noch deutlicher herausstellt, dass die Identität des Ich nicht über den Bezug zu einem Anderen gestiftet ist. 44 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 24. 45 Vgl. Wolfgang Janke: Fichte: Sein und Reflexion - Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 96: „Das Ich ist nicht bloß ein Sich-Setzen, sondern ebenso ursprünglich ein Entgegensetzen.“ 46 Vgl. Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 266: „[E]s [das Produkt des Entgegensetzens] ist nicht, was A ist, und sein ganzes Wesen besteht darin, daß es nicht ist, was A ist.“ 47 In diesem Beitrag wird darauf verzichtet, eine genaue Verhältnisbestimmung der Be‐ griffe Differenz, Negation und Alterität bzw. Andersheit vorzunehmen. Um ausufernde reflexive Bewusstsein. „Ich ist nothwendig Identität des Subjekts, und Objekts: Subjekt-Objekt: und dies ist es schlechthin, ohne weitere Vermittellung.“ 41 Sie ist Setzung reiner Selbstidentität und muss daher ohne Bezug auf ein Objekt der Reflexion erfolgen. Das in der Tathandlung gesetzte „absolute Ich ist schlechthin sich selbst gleich: alles in ihm ist Ein und ebendasselbe Ich, und gehört […] zu Einem und ebendemselben Ich; es ist da nichts zu unterscheiden, kein mannigfaltiges, das Ich ist Alles, und ist Nichts, weil es für sich nichts ist, kein setzendes und kein gesetztes in sich selbst unterscheiden kann.“ 42 Das absolute Ich ist insofern reine, unvermittelte Selbst-Identität, die sich ohne Vermittlung über eine Differenz selbst konstituiert. Es ist „keinem andern gleich und keinem andern entgegengesezt, sondern bloß schlechthin gesezt […].“ 43 Nachdem Fichte im ersten Grundsatz die Subjekt-Objekt-Identität im abso‐ luten Ich begründet hat, wird deren Differenz im zweiten Grundsatz behandelt. Fichte muss diesen Schritt gehen, da die Subjekt-Objekt-Relation in seinen Augen ein irreduzibles Strukturmerkmal jeglicher Erkenntnis ist. So gewiss also ein Objekt überhaupt ein Moment des Bewusstseins ausmacht, „so gewiß wird dem Ich schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich.“ 44 Das Entgegensetzen ist kein kontingenter Akt, der zufällig zum Akt des Selbst-Setzens hinzutritt. Vielmehr muss das Setzen eines Nicht-Ich als notwendiges Moment der Ich-Konstitution begriffen werden. 45 Der Begriff des Nicht-Ich bringt zum Ausdruck, dass das Produkt des Entgegensetzens formal lediglich als die Negation des Ich bestimmt ist. 46 Als unbedingt Gesetztes tritt dem Ich mit dem Nicht-Ich ein Anderes gegenüber, d. h., es wird eine bewusstseinskonstitutive Differenz inauguriert. 47 117 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz Bedeutungsanalysen zu vermeiden, orientiert sich dieser Beitrag an einer kurzen Verhältnisbestimmung, die Werner Beierwaltes im Hegel-Kapitel seiner Monographie Identität und Differenz entwickelt: „Für die gegenwärtige Intention halte ich es für gerechtfertigt, Differenz und Andersheit - beide durch dirimierende und Grenze setzende Negation bestimmt - promiscue zu gebrauchen.“ Werner Beierwaltes: Identität und Differenz. Frankfurt a. M. 1980, S. 241. 48 Kant: Kritik der reinen Vernunft (Anm. 30), S. 4. - Vgl. a. Richard Kroner: Von Kant bis Hegel, Bd. 1, Von der Vernunftkritik zur Naturphilosophie. Tübingen 1961, S. 419. 49 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 255. 50 Form verstanden als das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Satz A=A, welche durch den Operator = ausgedrückt wird, Materie verstanden als Sachgehalt der Verbindung von Subjekt- und Prädikat-Begriff. Vgl. Janke, Fichte (Anm. 45), S. 87. 51 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 396. Der zweite Grundsatz entspricht insofern dem Ausgangspunkt der Kantischen Philosophie, welche die Sinnlichkeit bestimmt als das Vermögen, „Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen.“ 48 Das im ersten Grundsatz gesetzte absolute Ich setzt sich gegenüber ein Anderes, durch das es affiziert, d. h. bestimmt wird. Das Verhältnis beider Grundsätze gestaltet sich ambivalent, insofern beide einerseits absolut gesetzt, d. h. voneinander unabhängige Grundsätze sind, andererseits aber beide Grundsätze durch den jeweils anderen bedingt sind. Der erste Grundsatz ist der „absolut-erste[n], schlechthin unbedingte[n] Grundsatz alles menschlichen Wissen[s].“ 49 Weder Gehalt noch Form können also aus einem anderen Prinzip abgeleitet werden. 50 Absolutheit bezeichnet bezogen auf den ersten Grundsatz ein Zweifaches: Einerseits kann das absolute Ich auf keinen weiteren Real- oder Erkenntnisgrund zurückgeführt werden. Eine solche Voraussetzung müsste selbst Gegenstand des Wissens sein und daher in seiner Geltung vom grundlegenderen Wissen des Ich bin abhängen. Die Absolutheit des Ich deutet andererseits aber auch auf den Umstand hin, dass es als das höchste Prinzip jeglichen Bewusstseins alles im Bewusstsein Gesetzte in sich schließen soll. Die Subjekt-Objekt-Differenz, mithin jede Gegenständ‐ lichkeit für das Bewusstsein, muss in der Gewissheit des Ich bin, d. h. der Subjekt-Objekt-Identität fundiert sein: „[I]m Ich soll Alles gesezt seyn; das Ich soll schlechthin unabhängig, Alles aber soll von ihm abhängig seyn.“ 51 Auch die Entgegensetzung des Nicht-Ich erfolgt absolut, jedoch lediglich im ersten genannten Sinn von Absolutheit. Der Akt des Entgegensetzens kann aus keinem anderen Grund abgeleitet werden. Dabei ist der zweite Grundsatz zwar nicht schlechthin (Form und Gehalt), aber dennoch der Form nach unbedingt. So kann ein Satz der Form ‚- A nicht = A‘ nicht aus dem ersten Grundsatz abgeleitet 118 Michael Steinmetz und Dominik Zink 52 Vgl. ebd., S. 265: „Ist denn, und unter welcher Bedingung der Form der blossen Handlung, ist denn das Gegentheil von A gesetzt. Diese Bedingung ist es, die sich vom Satze A = A müßte ableiten lassen, wenn der oben aufgestellte Saz selbst ein abgeleiteter seyn sollte. Aber eine dergleichen Bedingung kann sich aus ihm gar nicht ergeben, da die Form des Gegensetzens in der Form des Setzens so wenig enthalten wird, daß sie ihr vielmehr selbst entgegengesetzt ist. Es wird demnach ohne alle Bedingung, und schlechthin entgegengesezt.“ 53 Vgl. Kroner, Von Kant bis Hegel (Anm. 48), S. 424. 54 Vgl. Jacobs: Einleitung (Anm. 39), S. XIV: „Das Wissen muß sich im Anderen begrenzen, damit es gewußt werden kann. […] Das Setzen verlangt somit das Entgegensetzen, um als Setzen möglich zu sein. […] Die Unmittelbarkeit des Wissens erscheint nur in der Vermittlung durch das Andere.“ Fichte selbst schließt im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre die Möglichkeit eines nicht-reflexiven Bewusstseins aus. Der Akt des Sich-selbst-setzens - heißt es dort - sei gar „kein Bewusstseyn, nicht einmal SelbstBewusstseyn. […] Das Ich wird durch den beschriebenen Act bloß in die Möglichkeit des SelbstBewusstseyns, und mit ihm alles übrigen Bewusstseyns versetzt; aber es entsteht noch kein wirkliches Bewusstseyn.“ Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (Anm. 37), S. 214. 55 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 397. werden, der die Form ‚A = A‘ hat. 52 Die Form des Entgegensetzens kann nicht aus der Form des setzenden Akts abgeleitet werden und gilt Fichte daher ebenfalls als unbedingte Setzung des Ich. 53 Setzung und Entgegensetzung erscheinen so als zwei absolute, jeweils unbedingte Grundsätze des Systems des Wissens, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen. Zugleich zeigen sich beide Grundsätze jedoch als durch den jeweils anderen bedingt. Einerseits bedingt der erste Grundsatz den zweiten, da jener den ne‐ gierten Gehalt, d. h., seine Materie, dem ersten Grundsatz entnimmt. Die Setzung des Ich ist die Möglichkeitsbedingung der Negation des Ich im Nicht-Ich. In anderer Weise ist der erste Grundsatz hingegen durch den zweiten bedingt. Das im ersten Grundsatz gesetzte absolute Ich kann nämlich ohne das ihm als sein Anderes gegenübertretende Nicht-Ich nicht zu Bewusstsein kommen. Ohne Entgegensetzung kann dem Reflexionsgesetz all unserer Erkenntnis (omnis determinatio est negatio) gemäß kein System des Wissens begründet werden. 54 Ohne eine Bestimmung ermöglichende Differenz wäre das Ich des ersten Grundsatzes „Alles in Allem, und gerade darum […] Nichts.“ 55 Erster und zweiter Grundsatz erscheinen vor diesem Hintergrund einerseits als unbedingte Grundsätze, andererseits als unselbstständige, daher aber auch gleichursprüng‐ liche Momente der Strukturganzheit des Bewusstseins, in der erst Intelligibilität möglich ist. Ein weiterer besonderer Aspekt der Beziehung von Identität und Differenz liegt darin, dass Fichte sie trotz ihrer Gleichursprünglichkeit nicht symmetrisch 119 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 56 Gloy beschreibt das Verhältnis beider Grundsätze zwar als eine Dualität „gleichur‐ sprünglicher, gleichuniverseller Momente.“ Dennoch stelle die notwendige Bezogenheit der Momente aufeinander eine „asymmetrische Einheit mit stellenverschiedenen Relata dar.“ Karen Gloy: Fichtes Dialektiktypen. In: Fichte-Studien 17 (2000), S. 107. 57 Vgl. Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 265: „Aber selbst die Möglichkeit des Gegensetzens an sich sezt die Identität des Bewustseyns voraus […]. Mithin ist auch der Uebergang vom Setzen zum Entgegensetzen nur durch die Identität des Ich möglich.“ 58 Nicht nur, dass die Negation von A dieses als ein Gesetztes voraussetzt. Über dieses formallogische Argument hinaus muss transzendentalphilosophisch angenommen werden, dass das setzende und das entgegensetzende Ich identisch sind. Vgl. Janke: Fichte (Anm. 45), S. 96. 59 Kroner betont, dass Fichte ein Setzen ohne Entgegensetzen für möglich hält. Kroner, Von Kant bis Hegel (Anm. 48), S. 437. - Dass der erste Grundsatz den zweiten sogar nicht in derselben Weise erfordern darf, wie der zweite den ersten, belegt ebenfalls Kroner: „Der Widerspruch wird nicht im ersten Grundsatze selbst bloßgelegt, oder dieser entwickelt sich nicht zum zweiten, zu seinem Gegen-satze, sondern der zweite ist ein neuer Beginn, getrennt vom ersten; daß dieselbe Vernunft, die den ersten getan, diesen zweiten Schritt tut; daß sie ihn tun muß, aus einer ihr innewohnenden Notwendigkeit, oder daß der zweite Grundsatz selbst schon ein Moment des ersten ausmacht, darauf reflektiert die W[issenschafts]L[ehre] nicht, und sie darf auch darauf nicht reflektieren: weil sie das absolute Ich frei erhalten will von der Negation, weil der erste Grundsatz keine Synthesis, sondern eine Thesis sein soll, - weil die Dualität der Momente in ihr nur dem endlichen Denken, nicht aber dem absoluten Sichsetzen angehört.“ Ebd., S. 424f. 60 Frank spricht in diesem Kontext sogar von einem „parasitären“ Verhältnis der Negation in Bezug auf die Position. Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 2007, S. 394. ins Verhältnis setzt. 56 So bedarf der erste Grundsatz zwar des zweiten, um zu Bewusstsein kommen zu können. Jedoch setzt der zweite Grundsatz den ersten im Sinn einer Möglichkeitsbedingung seiner selbst voraus. 57 Der zweite Grundsatz ist lediglich der Form nach unbedingt, in seinem Gehalt allerdings bedingt. Insofern in der Negation kein Gehalt gesetzt wird, sondern lediglich der durch den ersten Grundsatz gegebene Gehalt negiert wird, muss der zu negierende Gehalt gesetzt sein, damit überhaupt ein Nicht-Ich entgegengesetzt werden kann. 58 Der erste Grundsatz hingegen hat den zweiten Grundsatz nicht zur Bedingung seiner Möglichkeit. Ein Setzen ohne Entgegensetzen ist grundsätzlich denkmöglich, es kann lediglich nicht zu Bewusstsein kommen. 59 So werden die beiden Momente von Fichte in einer gleichursprünglichen Bezie‐ hung verortet, in der allerdings dem ersten Grundsatz ein Primat gegenüber den zweiten zukommt. Der erste Grundsatz beschreibt mithin das oberste Prinzip allen Wissens, den eigentlichen Urquell, der zweite Grundsatz ist hingegen von diesem abkünftig. 60 120 Michael Steinmetz und Dominik Zink IV.2 Der Herr und Mephistopheles als Repräsentanten von Identität und Differenz Um die These des Beitrags zu belegen, dass im Faust eine von Fichte inspirierte Endlichkeitsanthropologie entwickelt wird, die in einer dialektischen Vermitt‐ lung von Identität und Differenz fundiert ist und in der sich Menschsein als Streben offenbart, wird nun gezeigt, inwiefern die Strukturmomente von Iden‐ tität und Differenz im Faust aufgegriffen und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, bevor in einem weiteren Schritt die dialektische Vermittlung bei Fichte und Goethe im Streben dargestellt wird. Im Folgenden wird zunächst die These belegt, dass die in den ersten beiden Grundsätzen gesetzten Strukturmomente der reinen Selbstidentität und Differenz in Goethes Faust durch die Figuren des Herrn und Mephistos repräsentiert sind, bevor anschließend die Verhältnisbe‐ stimmung von Gott und Mephisto analog zur Grundlage nachgezeichnet wird. Es ist wichtig, den Herrn und Mephisto nur als Repräsentanten dieser Struk‐ turmomente zu verstehen, um das Missverständnis zu vermeiden, ausschließlich Handlungen der beiden Figuren dürften als Wirken dieser Momente aufgefasst werden. Durch ihr Auftreten als dramatis personae erhalten sie eine Stimme und somit die Möglichkeit der verbalisierten Selbstdarstellung. D. h., die Struktur‐ momente wirken nicht nur, indem Herr oder Mephisto handeln, was allerdings auch möglich ist, sondern sie wirken als irreduzible Strukturmomente des Menschseins immer. Sie werden jedoch vom Herrn und Mephisto repräsentiert in dem Sinne, dass die Selbstauskünfte der Figuren und wie sie einander gegen‐ übertreten für die Interpretation des Verhältnisses der durch sie repräsentierten Momente betrachtet werden können. Zunächst soll erst einmal gezeigt werden, dass der Herr und Mephisto überhaupt als Repräsentanten dieser Prinzipien begriffen werden können. Das wichtigste Argument ist, dass ihnen diese Rollen bereits durch die religiösen, kirchen- und geistesgeschichtlichen Traditionen nahegelegt werden, auf die sich Goethe durch ihre Verwendung als Figuren bezieht. In Bezug auf den Herrn ist hier vor allem auf eine der wirkmächtigsten Traditionen in der christlichen Interpretation des Gottesbegriffs hinzuweisen: die des Neuplatonismus. Der anthropomorphe, alttestamentarische Gott, der sich irren, ärgern und rächen kann, ist nicht hauptsächlich durch die Schriften des Neuen Testaments ent‐ menschlicht und von seiner Irrationalität sowie Fehlbarkeit befreit worden, son‐ dern vor allem auch deshalb, weil im neuplatonisch-spätantiken Christentum damit begonnen wurde, in Anschluss an die Philosophie des Platon und des 121 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 61 Einen guten Überblick über die Wirkungsgeschichte der parmenideischen Theoreme in der Rezeption Platons und der Rezeption im frühen Christentum geben die entspre‐ chenden Beiträge im Platon Handbuch von Horn, Müller und Söder. Zu der über Platon vermittelten Seins-Lehre des Parmenides bei Plotin vgl.: Christian Tornau: Spätantike I: früher Neuplatonismus. In: Christoph Horn / Jörn Müller / Joachim Söder (Hrsg.): Platon Handbuch. Stuttgart und Weimar 2009, S. 408-417, hier S. 408-411. Zum parmenideischen Erbe bei Platon vgl.: Michael Erler: Kontexte der Philosophie Platons. In: Christoph Horn / Jörn Müller / Joachim Söder (Hrsg.): Platon Handbuch. Stuttgart und Weimar 2009, S. 61-99, hier besonders das Unterkapitel zu Parmenides: S. 70-73. Zu der frühchristlichen Rezeption vgl.: Christian Tornau: Kirchenväter. In: Christoph Horn / Jörn Müller / Joachim Söder (Hrsg.): Platon Handbuch. Stuttgart und Weimar 2009, S. 421-433, besonders: S. 423. Der Bezug des Identitätstopos auf Platon und Parmenides einerseits, andererseits auf Fichte ist keineswegs zufällig. So stellt Heidegger heraus, dass die Identität bereits bei Parmenides und Platon als Synthese gedacht worden sei. Dieser Aspekt der Identität sei jedoch erst wieder im spekulativen Idealismus aufgegriffen worden: „Bis jedoch die in der Identität waltende, frühzeitig schon anklingende Beziehung desselben mit ihm selbst als diese Vermittelung entschieden und geprägt zum Vorschein kommt, bis gar eine Unterkunft gefunden wird für dieses Hervorscheinen der Vermittelung innerhalb der Identität, braucht das abendländische Denken mehr denn zweitausend Jahre. Denn erst die Philosophie des spekulativen Idealismus stiftet, vorbereitet von Leibniz und Kant, durch Fichte, Schelling und Hegel dem in sich synthetischen Wesen der Identität eine Unterkunft.“ Martin Heidegger: Identität und Differenz. Stuttgart 2008, S. 11f. 62 Ernst Grumach hat eine Sammlung herausgegeben, in der er Paralipomena, Skizzen, Exzerpte und Äußerungen dieser Art gesammelt hat. Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung, 2 Bde. Potsdam 1949. Zu den Neuplatonikern vgl. dort: Bd. 2, S. 815-823. 63 Obwohl Plotin selbst kein Christ war, sind seine Versuche, das Göttliche zu denken, sowohl für die ihn beerbenden christlichen Neuplatoniker als auch für die Kirchenväter maßgeblich. 64 Tornau: Spätantike I (Anm. 61), S. 408. Parmenides Gott als reine Selbstidentität zu verstehen. 61 Da die verschiedenen Schulen, die unter diesem Namen zusammengefasst werden, sich mitunter ganz erheblich voneinander unterscheiden, wird sich die Interpretation an den Autor halten, der für Goethe selbst der maßgebliche Neuplatoniker war. Eine Übersicht, der Skizzen und Notizen Goethes, die sich mit antiken Denkern auseinandersetzen, 62 lässt keinen Zweifel daran, dass dies Plotin ist. 63 Plotins „wichtigste Lehrentscheidungen“, wie Christian Tornau feststellt, „die im späteren Neuplatonismus nicht mehr angetastet wurden“, 64 ist die Ansetzung des höchsten Prinzips, des Einen-Guten, jenseits des Seins und des geistigen Erkennens und die Ineinssetzung des geistigen Seins (des platonischen Ideenkosmos) mit dem es erkennenden Geist im Sinne einer dynamischen Identität, 122 Michael Steinmetz und Dominik Zink 65 Ebd. S. 408f. 66 Vgl. Peter Matussek: Faust I. In: Theo Buck (Hrsg.): Goethe-Handbuch Bd. 2. Dramen. Stuttgart und Weimar 1996, S. 352-390, S. 354. 67 Freilich gibt es auch bereits im Alten Testament Anhaltspunkte für eine solche Deutung, die Gott und das Sein in Eins setzt. Vgl. z. B. Ex 3,14, wo Gott sagt: „Ich bin der Seiende.“ Zur Bedeutung dieser Stelle für die frühchristliche Auseinandersetzung mit Platon vgl.: Theo Kobusch: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität. Darmstadt 2006, S. 138. Der Neuplatonismus nimmt in diesem Kontext allerdings eine herausragende Rolle ein, insofern sich die philosophisch-theologische Annäherung an Gott und die im Neuplatonismus entwickelte negative Theologie darin grundlegend an der Unterscheidung des Einen des Vielen orientiert. Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen. Darmstadt 1983, S. 63f. Dass dieses neuplatonische Problemfeld einerseits im Horizont der umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz steht, andererseits aber auch das philosophische Denken bis hin zum Deutschen Idealismus prägt, behauptet auch Beierwaltes. Beierwaltes: Identität und Differenz (Anm. 47), S. 24. 68 Im Übrigen sei angemerkt, dass Mephistos letzte Bemerkung, es sei vom Herrn „hübsch […] / So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen“, (352 f.) sehr viel eher als ein Argument für einen entmenschlichten als einen anthropomorphen Gott gelesen werden muss. Denn wäre dieser Gott der alttestamentarische Jahve, auf den diese Bemerkung sicherlich auch ironisch anspielt, wäre die menschliche Rede, der er sich für die Rahmensetzung im Prolog im Himmel bedient, keine Ausnahme und müsste auch nicht als solche angesprochen werden. 69 Die Versangaben im Fließtext beziehen sich auf die Online-Faust-Ausgabe faustedi‐ tion.net. Der Text liegt auch in gedruckter Form vor: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Hrsg. von Anne Bohnenkamp / Silke Henke / Fotis Jannidis. Göttingen 2018. die wegen des ihr inhärenten Zweiheitsaspekts das absolut Eine voraussetzt und auf es verweist […]. 65 Goethes erste Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus datiert Peter Ma‐ tussek bereits in die 1760er Jahre und in den Entstehungskontext der Gelehrten‐ tragödie des sog. Urfaust. 66 Lange bevor Goethe also tatsächlich die Gottes-Figur einführt, entwirft er das Drama bereits vor dem Hintergrund neuplatonischer Bibelexegese. Gott wurde in dieser Tradition gedacht als das All-Eine, das selbst nicht unter das Seiende zu rechnen sei, sondern von dem alles Seiende abhängig und abkünftig sei. 67 Diese Vorstellung wiederum setzte sich fort in der scholastischen Lehre von Gott als ens perfectissimum oder ens realissimum, die schließlich auch ein Ausgangspunkt der rationalistisch-philosophischen Gottesbegriffe ist, wie z. B. den des im Jesuitenkolleg ausgebildeten Descartes. Diese ganze Tradition wird expressis verbis durch Goethe aufgerufen, indem er Mephisto erstens sagen lässt, dass Gott - trotz der Bezüge auf die alttes‐ tamentarischen Bücher Hiob und Genesis, die sich im Faust finden, - kein anthropomorpher Gott mehr ist, sondern einer, der sich „das Lachen abgewöhnt“ hat. 68 (278) 69 Zweitens wird im gleichen Sprechakt Mephistos auf diese Tradition 123 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 70 Eine ähnliche Interpretation, die auch von einer Teilhabe am Göttlichen spricht, ohne jedoch auf den Neuplatonismus einzugehen, findet sich bei Peter Michelsen: Im Banne Fausts. Zwölf Faust Studien von Peter Michelsen. Würzburg 2000, S. 44. 71 Tornau: Spätantike I (Anm. 61), S. 412. 72 Zitiert nach Grumach: Goethe und die Antike (Anm. 62), S. 820. Die Stelle ist eine Über‐ setzung von Plotins Enneaden I, 6, 8, wobei die Vorlage, von der Goethe ausgegangen ist, laut Grumach eine lateinische Übersetzung war. 73 Hier bedarf die Interpretation einiger Erläuterungen. Erstens ist es so, dass im Neuplato‐ nismus zwar das Sein und das Denken als identisch gedacht werden (vgl. Tornau: Spät‐ antike I [Anm. 61], S. 410), das Sein und das All-Eine jedoch nicht, obwohl das All-Eine jedoch durchaus Möglichkeitsbedingung des Denkens ist. Hinzukommt, dass christliche Neuplatoniker wie der Kirchenvater Origines aufgrund dieser Differenz zwischen Sein und All-Einem zu einer anderen Interpretation der Schöpfungsgeschichte aus dem Johannesevangelium kommen. Obwohl die Unterscheidung zwischen All-Einem und Sein alles andere als marginal im Neuplatonismus ist, gibt es keine Hinweise darauf, dass Goethe diesen Unterschied in einer Weise rezipiert hätte, die der hier gegebenen Interpretation widerspräche. Tatsächlich schreibt er in einem Brief an F.A. Wolf 1805, dass die „ideale Einheit, auf die er [Plotin] so sehr dringt, mit der realen Einerleyheit zusammen[fällt], an der [er] hier gewaltig zu leiden anfange.“ Zit. nach Grumach: Goethe und die Antike (Anm. 62), S. 816. Es muss davon ausgegangen werden, dass Goethe Plotin also hauptsächlich als Stichwortgeber auffasst. Weder der Bezug auf ihn noch auf andere Neuplatoniker darf deswegen überstrapaziert werden. Hier wird daher lediglich die These vertreten, dass Goethe durch den Verweis auf diese Tradition, Gott zu denken, die Möglichkeit schafft, mit der Figur des Herrn den Identitätspol als Dramenfigur darzustellen. verwiesen, indem die „Vernunft“ als „der Schein des Himmelslichts“ (284 f.) identifiziert wird. 70 Dies spielt auf ein Teilhabeverhältnis zwischen menschlicher Vernunft und göttlichem All-Einen an, das im Neuplatonismus zentral war und das auch bei Goethe an zentraler Stelle in seinen Überlegungen zu Plotin Erwäh‐ nung findet. Christian Tornau fasst den plotinischen Gedanken so zusammen: „So wie es keinen Sehvorgang geben kann, in dem das ihn erst ermöglichende Licht nicht in unthematischer Weise mitgesehen wird, ermöglicht das Eine-Gute jeden Akt geistigen Erkennens und wird in ihm mitgedacht.“ 71 Bei Goethe findet sich eine versifizierte Übersetzung aus Plotins Enneaden: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? “ 72 Die Vernunft als Schein des Himmelslichts zu bezeichnen, kann also durchaus als adäquate Wiedergabe einer maßgeblichen Denkfigur des Neuplatonismus beurteilt werden, in dem wiederum das Göttliche als das All-Eine, als Pol absoluter Identität gefasst wird. Dass die Gottheit auch in der Bibel schon Anknüpfungspunkte für eine Interpretation bietet, die das Göttliche und die Vernunft als (zumindest) wesens‐ verwandt beschreibt, 73 wird sehr deutlich am Beginn des Johannes-Evangeliums, 124 Michael Steinmetz und Dominik Zink 74 Vgl. https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ das-bibellexikon/ lexikon/ sachwort/ anz eigen/ details/ logos/ ch/ 59f473982898683f5f6968c77e0a2cd8/ (zuletzt abgerufen am 2. September 2020). 75 Vgl. ebd. 76 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 255. 77 Dass sich neben der hier vorgeschlagenen Deutung gerade in Bezug auf Mephisto eine Vielzahl von intertextuellen ‚Ahnenverhältnissen‘ aufzeigen lassen, wurde gezeigt von Edith Anna Kunz: Zur Darstellung des Ungreifbaren. Goethes Mephistopheles. In: Colloquium Helveticum 36 (2005), S. 143-164. das Faust nicht zufällig übersetzt. Genauso wenig ist es jedoch ein Zufall, dass er ausgerechnet mit dem Begriff λόγος [logos] Probleme hat, (1225) der in vielen Kontexten die Bedeutung Vernunft haben kann. Davon dass in der Forschung mittlerweile stark davon ausgegangen wird, dass der logos-Begriff in Joh 1,1 die Semantik des aramäischen Begriffs für das Wort memra und nicht die des hellenistischen Begriffs für Vernunft logos meint, 74 kann Goethe natürlich nichts wissen. Und auch wenn er sich bei dieser Stelle an zeitgenössischen Translati‐ onsfragen orientiert haben mag, wie sie z. B. von Herder aufgeworfen wurden, 75 sind doch vier Punkte für die hier gegebene Interpretation entscheidend: Erstens bezieht sich Faust auf genau diejenige Bibelstelle, in der Gott nicht als Person, sondern als logos bezeichnet wird, und die für das oben beschriebene Teilhabe‐ verhältnis am All-Einen zentral ist. Zweitens „drängt’s [Faust] den Grundtext aufzuschlagen“, (1220) weil er hofft, sich vergegenwärtigen zu können, was „im Anfang war“. (1224) Wie Fichte sucht auch er also Aufklärung in einem ersten Prinzip. Drittens gibt - wie bei Fichte - dieses gefundene erste Prinzip mehr Aufgaben auf, als von ihm gelöst werden, denn Faust weiß nicht, wie er den logos begreifen soll. Viertens schließlich wird dieses Prinzip am Ende als „That“ gefasst, (1237) was etymologisch in Bezug auf das Wort logos wenig Sinn ergibt, aber eine umso verblüffendere Nähe zu Fichtes Fassung des absoluten Ich als „Tathandlung“ aufweist. 76 Die Rolle Mephistos als Agent der Differenz oder der Negation scheint sogar noch näher zu liegen als die des Herrn in Bezug auf das Prinzip der selbstiden‐ tischen Einheit. 77 Mephisto bezeichnet sich selbst als „Geist der stets verneint“ (1338) und wird auch vom Herrn unter die „Geister […] die verneinen“ (338) gezählt, wodurch klar wird, dass zumindest unter den himmlischen Figuren im Drama Einigkeit besteht, dass er der Negation beizuordnen sei, die der Einheit entgegengesetzt ist. Es gibt aber auch in Bezug auf ihn wirkmächtige Deu‐ tungstraditionen, die ihn als den Widersacher der Einheit, d. h. als Vertreter der Differenz, begreifen und die sogar sehr viel stärker vom Bibeltext selbst nahe‐ gelegt werden. So ist die etymologische Herkunft des am häufigsten verwen‐ deten alttestamentarischen Namens ןָטׂ ָש [śāṭān] zwar umstritten und nicht ge‐ 125 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 78 Vgl. https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ das-bibellexikon/ lexikon/ sachwort/ anz eigen/ details/ satan-at/ ch/ 608e9833b8fc6f574c26304f9484cdb2/ (zuletzt abgerufen am 2. September 2020). 79 Wilhelm Gemoll / Karl Vretska: Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörter‐ buch. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. München 2006, S. 205. klärt, 78 die griechische Übersetzung διάβολος [diábolos] jedoch geht etymologisch auf das Verb διαβάλλειν [diaballein] zurück, was als Gegenteil von συμβάλλειν [symbállein] - der etymologische Ursprung des Wortes Symbol - unter anderem die Bedeutung auseinanderlegen oder trennen hat. 79 Dass sich Goethe nicht für Satan oder Diabolo sondern für den Namen Mephistopheles entschied, liegt sicherlich daran, dass dieser auch in der Historia, den Puppen‐ theatern und bei Marlowe den Vertragspartner Fausts bezeichnet. Dass die Ety‐ mologie des Namens für den Teufel oder teuflische Figuren als Hinweis auf deren Wesen herangezogen werden kann, wird aber von Faust selbst angespro‐ chen: „Bey euch, ihr Herrn, kann man das Wesen / Gewöhnlich aus dem Namen lesen“. (1331 f.) In dieser Hinsicht ist sehr interessant, dass Mephisto es letztlich schafft, auf die Frage nach seinem Namen nicht zu antworten. Im Gegensatz zur Mephistopheles-Figur in der Historia, die ganz eindeutig einen Teufel unter vielen darstellt, deren Oberster Satan ist, wird bei Goethe dadurch verunklart, ob er einer oder der Teufel ist. Dies kann durchaus im Sinne der hier gegebenen Interpretation als Indiz dafür angeführt werden, dass Goethes Mephisto eher als Repräsentant des Diabolischen, also des negierenden Prinzips, denn als ein be‐ stimmter Teufel zu begreifen ist. Es zeigt sich also, dass sowohl aufgrund der Interpretations- und Rezept‐ ionstraditionen der biblischen Vorbildfiguren von Herr und Mephisto, als auch aufgrund der konkreten Bezugnahme auf diese Traditionen, wie sie im Text vollzogen wird, durchaus plausibel gemacht werden kann, dass sie als Repräsentanten eines Einheitspols einerseits und eines Negations- oder Differenzpols andererseits verstanden werden können. Im Folgenden soll nun ihre Verhältnisbestimmung im Faust nachgezeichnet werden. Dieses Verhältnis reflektiert einerseits die ambivalente Bestimmung beider Strukturprinzipien aus der Wissenschaftslehre als unabhängige Grundsätze sowie als sich gegenseitig bedingende, gleichursprüngliche Momente, andererseits die asymmetrische Verhältnisbestimmung, in welcher der Identität ein Primat vor der Differenz zukommt. 126 Michael Steinmetz und Dominik Zink 80 Obwohl in mehreren Versionen der Puppenspiele böse Geister in einem Prolog (in der Hölle) auftreten, was sicherlich als eine strukturelle Ähnlichkeit zu Goethes Prolog im Himmel zu sehen ist, gibt es für einen Dialog zwischen Gott und Mephisto ebenso wie für das Auftreten des Herrn als Figur überhaupt keine Vorbilder. Vgl. Hans Arens: Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982, S. 49. 81 Vgl: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ das-bibellexikon/ lexikon/ sachwort/ anz eigen/ details/ satan-at/ ch/ 608e9833b8fc6f574c26304f9484cdb2/ #h1 (zuletzt abgerufen am 2. September 2020). Dort besonders Abschnitt 2.1.2. Hi 1,6-12; 2,1-7. IV.3 Verhältnisbestimmung von Herr und Mephistopheles Eine grundlegende Unabhängigkeit der Prinzipien, die vom Herrn und Mephisto repräsentiert werden, lässt sich bereits in dem alles andere als trivialen Fakt erkennen, dass die beiden zwei unterschiedene Figuren sind. Denn die Einfüh‐ rung der Gottesfigur als eine wesentliche Voraussetzung für die Inszenierung von Fausts Leben als Gegenstand einer Wette zwischen Gott und Teufel ist eine wesentliche Neuerung des Faust I gegenüber Goethes Fragment von 1790 und auch eine Neuerung innerhalb der Tradition des Faust-Stoffs. 80 Daraus ergibt sich das entstehungsgeschichtliche Argument, dass das Phänomen des Menschseins, dessen Darstellung (unter anderem) Gegenstand des Faust ist, eben nicht wie in Goethes ersten Versuchen oder in der Historia als alleinige Dynamik zwischen Mensch und Teufel gelingen kann. Der Mensch ist nicht bloß verführbar oder ein immer schon in Versuchung geführtes Wesen, sondern er ist auf paradoxe Weise auf zwei Momente bezogen, die seinen Existenzvollzug strukturieren. Er ist Gegenstand einer Wette zwischen Teufel und Gott. Wobei zu bemerken ist, dass er sowohl Gegenstand in dem Sinne ist, dass sein Verhalten die Wette entscheiden soll, als auch Gegenstand in dem Sinne, dass seine Seele als Wettgewinn Mephisto oder dem Herrn zugeschlagen werden soll. Als Gegenstand im doppelten Sinn ist bereits eine Reflexivität angezeigt, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Für diesen Rahmen, die himmlische Wette, ist es wesentlich, dass Mephisto und der Herr voneinander unabhängig sind, denn dies ist schlicht die grund‐ sätzliche Möglichkeitsbedingung des Wettens. Besonders deutlich wird das in Kontrast zur biblischen Vorbildszene, dem Götterrat im Buch Hiob (Hi 1, 6-12). Denn dort tun sich Gott und Satan zusammen, um Hiob zu testen. Satan erfüllt dort lediglich eine Funktion für Gott. 81 Im Faust allerdings vertreten die Figuren Herr und Mephisto Prinzipien, die nicht aufeinander reduziert werden können, als deren Ort der Vermittlung aber der Mensch ausgemacht wird. Um diese Dynamik zu inaugurieren, ist eine notwendige Voraussetzung, dass Mephisto im Gegensatz zu Raphael, Gabriel und Michael in seinen Zwecksetzungen frei ist. Er kann etwas wollen, was dem Willen des Herrn zuwider ist. Er offenbart 127 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz dies, indem er seinen Wunsch bekennt, dass Faust „Staub […] fressen [soll], und zwar mit Lust“. (334) Er will Faust demütigen und stellt sich hier nicht wie später, wenn er Faust begegnet, als Teil der Kraft vor, die „stets das Böse will und stets das Gute schafft“, (1336) sondern er will etwas schlichtweg Böses. Dies kann Gott nicht, wenn man ihm das essentielle Attribut der Allgüte nicht absprechen will. Dass die vom Herrn und Mephisto repräsentierten Momente aber trotz dieser Unabhängigkeit auch notwendig gegenseitig bedingt sind, drückt der Herr unter anderem in seiner Erlaubnis aus, dass Mephisto im Fall der gewonnen Wette Faust würde demütigen dürfen. Dem Teufel diese Freiheit zu gewähren, ist keine Nachgiebigkeit des Herrn, der dem „Schalk“ (339) Milde angedeihen ließe, sondern erfüllt einen bestimmten Zweck: Denn Mephisto, „der reizt und wirkt, und muß, als Teufel, schaffen“, (342) übernimmt mit dieser Tätigkeit eine Funktion, die die Menschen, die sonst „allzu leicht erschlaffen“, (340) erst zu Menschen macht. Die „ächten Göttersöhne“, (343) die Erzengel, die der Herr direkt im Anschluss anspricht, haben das Zusammenwirken dieser beiden Momente nicht zur Möglichkeitsbedingung ihrer Existenz. Sie brauchen den Teufel nicht. Im Menschen allerdings, soll er tatsächlich als Mensch existieren, fordern sich diese beiden unabhängigen Prinzipen gegenseitig, sind also gleich‐ ursprüngliche Momente der Existenz. Wie oben bei Fichte gezeigt, ist es also auch im Faust: Es wäre eine Welt denkbar, in der es nur Gott und das Göttliche gibt. Das wäre allerdings reines Sein in absoluter Selbstidentität und von keinem Anderen unterschieden. Soll aber eine intelligible Welt entstehen - eine Welt, die menschlicher Erfahrung zugänglich ist -, so muss zum Prinzip der Identität, das der Negation hinzutreten: Das ist Mephistos Prinzip. Damit ist Mephisto unabhängig von Gott - er ist tatsächlich einem anderen Prinzip angehörig. Andererseits ist er auf die Schöpfung Gottes bezogen, denn nur durch die Setzung des Seins hat er Material, das er verneinen könnte. Bezogen auf Mephisto erklärt dieser Doppelstatus der Momente als einerseits unabhängig, andererseits aufeinander bezogen auch die in der Forschung oftmals bemerkte Bezugnahme auf zwei unterschiedliche Traditionen, das Böse zu denken. Mephisto kann, weil er tatsächlich böse Motive hat und die Wetten, die er mit dem Herrn und Faust schließt, auch gewinnen will, als Figur einer manichäischen Vorstellung vom Bösen beschrieben werden, in der das Böse als eigenes Prinzip in der Welt gedacht wird, er kann aber auch im Rahmen einer privativen Lehre vom Bösen interpretiert werden, weil er im Zusammenwirken mit dem Herrn dessen Zwecken dient und darum auch weiß. Diese privationstheoretische Erklärung des Bösen würde besagen, dass es das Böse an sich nicht gibt, sondern das, was böse scheint, nur ein 128 Michael Steinmetz und Dominik Zink 82 Vgl. in Bezug auf die Mephisto-Figur: Alexander von Bormann: Zum Teufel. Goethes Mephistopheles oder die Weigerung, das Böse zu denken. In: Bernhard Beutler / Anke Bosse (Hrsg.); Spuren, Signaturen, Spiegelungen: zur Goethe-Rezeption in Europa. Köln [u. a.] 2000, S. 563-580. - Peter Michelsen vertritt die Meinung, Mephisto sei böse nur im Sinne der Privationslehre. Er interpretiert dementsprechend, dass der Plan, Faust im Falle der gewonnen Wette Staub fressen zu lassen, für diesen in unironischer Weise Lust bedeuten müsse, weil Faust durch Mephistos Führung vom falschen, leidbringenden Vernunftgebrauch erlöst würde. Für Michelsen gibt es daher nur ein Prinzip und eine Substanz, an der es Mephisto als Bösem mangelt. So lesenswert diese Studie ist, so sehr steht sie in Widerspruch mit der hier vertreten These, dass Goethe das Menschsein als ein unauflösliches Verhältnis zweier Prinzipien gestaltet. Michelsen: Im Banne Fausts (Anm. 70), S. 171-191. Auch Peter Matussek interpretiert im Goethe-Handbuch die Mephisto-Figur in privationstheoretischer Hinsicht. Matussek: Faust I (Anm. 66), S. 354. Eine von der privationstheoretischen Perspektive zu unterscheidende, aber in ihrer Stoßrichtung durchaus ähnliche These der Rolle des Mephisto findet sich bei Philippe Forget. Dieser rekonstruiert die Figur Mephistos als Agent des göttlichen Schöpfungs‐ planes, der sich dieser Rolle frei von jeder Selbstreflexivität jedoch nicht bewusst sei: „Méphisto est bien un allié (inconscient et bavard) dans un plan global destiné à sauver Faust (l’homme).“ Philippe Forget: D’un (pauvre) diable à l’autre. Aspects du diabolique dans le Faust de Goethe et Lieutenant Gustl de Schnitzler. In: Colloquium Helveticum 36 (2005), S. 87-110, hier S. 93. Der Teufel erscheine daher als ein armer Teufel, der sich in seinen Zwecksetzungen frei wähnt, in seinem Handeln aber ohne eigenes Wissen immer schon Gott zuarbeitet. Auch eine derartige, simplifizierende Unterordnung Mephistos kann - parallel zum Argument hinsichtlich der privations‐ theoretischen Deutung Mephistos - durch den hier entwickelten dialektischen Ansatz vermieden werden. Mephisto und Gott repräsentieren demnach sowohl Selbstständige als auch aufeinander bezogene, d. h. unselbstständige Strukturmomente intelligibler Wirklichkeit. Recht selten finden sich Studien, die den Manichäismus tatsächlich ernst nehmen. Prominente Ausnahmen sind: Hans Bayer: Goethes „Faust“. Religiös-ethische Quellen und Sinndeutung. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1978), S. 173-224; Albrecht Schöne: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München 1982, bes. S. 143f. und S. 205-16. Mangel an Gutem ist. In der Forschung wurde die Alternative zwischen einer manichäistischen und einer privationstheoretischen Erklärung der Motivation Mephistos zumeist als einander ausschließend betrachtet, weswegen man sich dann gezwungen sah, Mephisto entweder entsprechend der einen oder eben der anderen Theorie zu interpretieren, wobei sich meistens zugunsten der Privationstheorie ausgesprochen wurde, wohl auch wegen der Parallelität zum Buch Hiob. 82 Der Rückbezug auf Fichte erklärt, weswegen das Verhältnis Gott-Mephisto sowohl manichäisch als auch privationstheoretisch interpretiert werden muss, insofern beide Interpretationen ihren Grund im ambivalenten Verhältnis haben, das Identität und Differenz bei Fichte zueinander einnehmen, indem sie einer‐ seits absolut sind, andererseits einander bedingen. Schlüge man Mephisto allein 129 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 83 Dass es Goethe bei seinem Faust-Projekt tatsächlich um die Darstellung einer Zerris‐ senheit als conditio des modernen Menschseins ging, wurde zumindest bereits von den ersten Lesern des Faust-Fragments von 1790 wie Hegel, Schelling oder den Schlegel-Brüdern interpretiert. Vgl. Matussek: Faust I (Anm. 66), S. 357. Die hier vertretene These wäre, dass Goethe diesen Aspekt tatsächlich angelegt hat und durch die Konstellation Herr - Mephisto - Faust versucht hat, weiter auszuarbeiten. 84 Johann Wolfgang von Goethe: Fragment. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen I, 14. Weimar 1887-1919, S. 287. einer Seite zu, bedeutete das eine Glättung seines Verhältnisses zum Herrn und damit in letzter Konsequenz auch eine verkürzende Vereindeutigung des Menschseins. Faust wäre kein wirklich zerrissener moderner Mensch, sondern nur wie Hiob ein auf die Probe gestellter, der letztlich seine Gottgefälligkeit beweist, oder wie sein literarischer Vorgänger aus der Historia ein auf die Probe gestellter, der sich hat verführen lassen und deswegen verdammt ist. 83 Dass es Goethe im Faust tatsächlich darum ging, das Paradoxale auszustellen, deutet auch das um 1800 nach einer Produktionskrise neu entworfene sog. klassische Faust-Konzept an. Dieses besteht laut Goethe darin, die „Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen“. 84 Freilich ist damit die Anforderung verbunden, diese Widersprüche zu vermitteln, ohne den Gegensatz in der Vermittlung aufzuheben. Gott und Mephistopheles können also sehr gut parallel zur Wissenschaftslehre als Repräsentanten der Strukturmomente von Identität und Differenz aufgefasst werden, die eben sowohl absolut, also unabhängig sind, als auch auf einander verweisen. Darüber hinaus hat Fichte Identität und Differenz aber auch in ein asymme‐ trisches Verhältnis gesetzt, insofern beide Momente zwar als gleichursprünglich bestimmt werden, der Identität innerhalb der Strukturtotalität aber ein Primat gegenüber der Differenz zukommt. Es ist leicht zu sehen, dass auch der Herr und Mephistopheles einander nicht als Gleiche begegnen. Der Herr wird direkt zu Beginn des Prologs im Himmel als Schöpfer angesprochen, indem er von den Engeln mit den Worten gepriesen wird: „Und alle deine hohen Werke / Sind herrlich wie am ersten Tag.“ (269 f.) Aber auch in Bezug auf den Menschen, der hier besonders interessiert, ist klar, dass das vom Herrn repräsentierte Prinzip das fundamentalere ist, da es den „Urquell“ nennt. (324) Auch von Mephisto wird dies nicht bestritten, denn er spricht, wie oben schon gesagt - vom Menschen als „kleine[m] Gott der Welt“, (281) charakterisiert die Vernunft als ihn definierende differentia specifica und bezeichnet diese als „Schein des Himmelslichts“. (284) Wie bei Fichte ist das Prinzip der Identität das erste, das überhaupt etwas erschafft, was „der Geist der stets verneint“ (1338) dann in einem zweiten, logisch nachgeordneten Sinn verneinen kann. Das Prinzip, 130 Michael Steinmetz und Dominik Zink 85 Der Terminus limitative Dialektik wurde zur Bezeichnung der Dialektik Fichtes von Janke geprägt. (Vgl. Wolfgang Janke: Historische Dialektik. Berlin 1977, Teil I, Abschnitt 2: „Limitative Dialektik“.) Gloy weist nach, dass die limitative Dialektik speziell beim frühen Fichte zur Anwendung kommt, während er in späteren Ausarbeitungen der Wissenschaftslehre Modifikationen an der dialektischen Methode vornimmt. Gloy: Fichtes Dialektiktypen (Anm. 56), S. 113. Daher die enge Orientierung dieser Arbeit an der Grundlage. das Gott repräsentiert, ist das erste und schlechthin unbedingte, dasjenige, das Mephisto repräsentiert, ist dem Gehalt nach von diesem abhängig und in dieser Hinsicht sekundär. V. Die Vermittlung von Identität und Differenz innerhalb der limitativen Dialektik Eine Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz parallel zu Fichtes Grundlage kann im Faust nachgezeichnet werden. Mit dieser Verhältnisbe‐ stimmung verbunden ist jedoch die Frage, wie Identität und Differenz aufein‐ ander bezogen werden können, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Begrifflich bilden die Dichotomien Identität-Differenz, Affirmation-Negation sowie Selbs‐ theit-Andersheit Gegensätze. Wenn beide als notwendige Strukturmomente des endlichen Bewusstseins bzw. intelligibler Wirklichkeit ausgewiesen werden sollen, muss also eine Vermittlung beider Momente erfolgen, die ihr Zusam‐ menbestehen in der Subjekt-Objekt-Identität ohne gegenseitige Aufhebung ermöglicht. Diese Vermittlung erfolgt in Fichtes Grundlage im Streben, in dem die Endlichkeit des Menschen ihren konkreten Ausdruck hat. Das Streben ist der zentrale Begriff jener Endlichkeitsanthropologie, die - der hier vertretenen These folgend - auch im Faust entwickelt wird. Der Begriff des Strebens ist der Beweisführung der Grundlage folgend jedoch erst das Resultat einer Dialektik von Identität und Differenz, die eine totale Vermittlung aus systematischen Gründen nicht zulässt. Das Streben ist der praktische Ausdruck der paradoxen Aufgabe der Vermittlung von Identität und Differenz im Existenzvollzug - paradox, insofern diese Vermittlung einerseits unbedingt gefordert ist, andererseits unmöglich zu leisten ist. Dieses Paradox bildet den Kern des Endlichkeitskonzepts bei Fichte. Im Folgenden wird auf die spezifi‐ sche Form der dialektischen Vermittlung in der Grundlage mit dem Terminus limitative Dialektik Bezug genommen. 85 Anschließend an eine Darstellung des Zusammenhangs von limitativer Dialektik und Streben bei Fichte wird belegt, dass das Faustische Streben in einer dialektischen Vermittlung von Identität und Differenz fundiert ist, die ihr Vorbild in Fichtes Grundlage hat. Menschliche 131 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 86 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 269. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 270. Existenz wird anhand der Figur des Faust als paradoxe Aufgabe dargestellt: Das Streben soll durch Aufhebung des notwendigen Strukturmoments der Differenz befriedigt werden, ohne diese Befriedigung innerhalb endlicher Existenz jedoch jemals erreichen zu können. Diese paradoxale Struktur des Strebens wird an‐ schließend anhand einer Interpretation der Wetten zwischen Gott und Mephisto sowie Faust und Mephisto ausgewiesen. V.1 Dialektische Vermittlung von Identität und Differenz im Streben - Endlichkeit als Progressus zur Unendlichkeit bei Fichte Ausgangspunkt für die dialektische Vermittlung von Identität und Differenz bei Fichte ist ein Widerspruch, auf den ihre Darstellung in den ersten beiden Grundsätzen führt. Da beide Momente in einem Gegensatzverhältnis stehen, stellt Fichte zu Beginn des §3 der Wissenschaftslehre fest, dass Setzen und Entge‐ gensetzen sich gegenseitig aufheben. Aufgrund des Charakters der Absolutheit des Ich, d. h., sofern alles im Ich gesetzt sein soll, muss das Nicht-Ich zugleich dem Ich entgegengesetzt sowie auch im Ich gesetzt sein. Mithin wäre „Ich = Nicht-Ich, und Nicht-Ich = Ich.“ 86 Sollen beide Grundsätze Geltung beanspruchen können, muss daher eine Vermittlung des Widerspruchs gefunden werden, die nicht in ihrer gegenseitigen Aufhebung mündet. Fichte selbst formuliert diese Aufgabe: „Es sollen […] das entgegengesezte Ich, und Nicht-Ich vereinigt, gleich gesezt werden, ohne daß sie sich gegenseitig aufheben. Obige Gegensätze sollen in die Identität des einigen Bewußtseyns aufgenommen werden.“ 87 Die Lösung der Aufgabe muss also die doppelte Bedingung erfüllen, einerseits den Gegensatz selbst nicht aufzuheben, insofern dieser konstitutiv für Bewusstsein ist, andererseits aber die Subjekt-Objekt-Differenz gemäß der Programmatik der Wissenschaftslehre in der Selbstidentität des absoluten Ich zu fundieren. Fichte sucht diese Lösung darin, dass sich Ich und Nicht-Ich in der Einheit des Bewusstseins gegenseitig einschränken, d. h., die Synthesis erfolgt durch Limitation: „Etwas einschränken, heißt: die Realität deßelben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Theil aufheben. Mithin liegt im Begriffe der Schranken außer dem der Realität, und der Negation noch der der Theilbarkeit […].“ 88 Ich und Nicht-Ich sind durch die Einschränkung in der Identität des absoluten Ich so verbunden, dass sie sich nicht aufheben, sondern lediglich einschränken. Als dritten Grundsatz der Wissenschaftslehre formuliert Fichte 132 Michael Steinmetz und Dominik Zink 89 Ebd., S. 272. 90 Ebd., S. 270. 91 Vgl. Kroner: Von Kant bis Hegel (Anm. 48), S. 434f.: „Erst durch den dritten Grundsatz entsteht ein Bewußtsein: das absolute Ich kann nie Bewußtsein sein; alles Bewußtsein wird durch Thesis und Antithesis nur möglich, durch Synthesis erst wirklich. […] Das konkrete Bewußtsein ist daher eine Dreieinheit: es ist Ich, Nicht-Ich und Identität beider.“ 92 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 386. daher: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.“ 89 Das Ich wird als teilbares, begrenztes, d. h. als endliches Ich gesetzt. Der dritte Grundsatz tritt als notwendiges Komplement des zweiten Grund‐ satzes auf, da nur durch die gegenseitige Beschränkung von Ich und Nicht-Ich der Widerspruch beider vermieden werden kann. Aufgrund dieser formalen Implikation der Synthese durch die Antithese bestimmt Fichte das Verhältnis des zweiten und des dritten Grundsatzes als ein nicht-hierarchisches Verhältnis der Gleichursprünglichkeit. Antithesis und Synthesis sind gleichsam die zwei Seiten ein und desselben Aktes: „[B]eide sind Eins, und eben Daßelbe, und werden nur in der Reflexion unterschieden.“ 90 Erst in der Dreieinheit der drei Grundsätze ist konkretes, endliches Bewusstsein in seinen Konstitutionsbedin‐ gungen beschrieben, insofern der Dualismus von Subjekt und Objekt in der übergeordneten Identität des Bewusstseins fundiert wird. 91 Freilich ergibt sich aus dem Prinzip der Limitation ein Folgeproblem. Zwar kann der unmittelbare Widerspruch von Ich und Nicht-Ich durch die Beschrän‐ kung aufgehoben werden. Es stellt sich nun jedoch die Frage nach der nume‐ rischen und qualitativen Identität des absoluten Ich und des teilbaren Ich. Insofern im absoluten Ich alles gesetzt sein soll, dem teilbaren Ich allerdings ein Nicht-Ich entgegengesetzt ist, können beide nicht identisch sein. Dennoch müssen sie identisch sein, sofern die Subjekt-Objekt-Differenz in der Identität eines ihrer Relata fundiert werden soll. In diesem Widerstreit sieht Fichte die „Haupt-Antithese, die den ganzen Widerstreit zwischen dem Ich, als Intelligenz, und insofern beschränktem, und zwischen eben demselben, als schlechthin geseztem, mithin unbeschränktem Wesen umfaßt […].“ 92 Die Limitation stößt als Prinzip der Vermittlung hier an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, da sie einen unmittelbaren Widerspruch zwar vermitteln kann, denselben Wider‐ spruch aufgrund der fortschreitenden Teilung aber in der Synthese reproduziert. 133 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 93 Einige Jahre später wird Hegel genau jenen Aspekt der durch den Grundsatz der Limitation bedingten Nicht-Abschließbarkeit einer fundamentalen Kritik unterziehen. Das Fichte’sche Ich, so Hegel, „produziert in dem unendlichen Progreß des verlän‐ gerten Daseins endlos Teile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des Sich-selbst-Anschauens als Subjekt-Objekt.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. Frankfurt a. M. 1986, S. 72. Diese Kritik ist beseelt von der Absicht, den spekulativen Gedanken der „Identität der Identität und Nicht-Identität“ (ebd., S. 96) als System zu totalisieren, anstatt sich in einer unendlichen Annäherung zu verlieren. Als Prinzip der Vermittlung kann zu diesem Zweck allerdings nicht mehr die Limitation von Subjekt und Objekt dienen, die in einem absoluten Subjekt vereinigt werden. Vielmehr - so Hegel - müsse nicht nur das Subjekt als Subjekt-Objekt gedacht werden, sondern ebenso das Objekt als Subjekt-Objekt, d. h. das Absolute müsse sowohl als Subjekt sowie als Substanz aufgefasst werden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1986, S. 23. 94 Vgl. Janke: Fichte (Anm. 45), S. 162. 95 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 396. 96 Jacobs betont, dass im praktischen Teil der Grundlage keine Grundlegung einer Rechts- oder Sittenlehre erfolgt, die man hier erwarten sollte. Stattdessen werde darin unter‐ sucht, inwiefern die Vorstellung von praktischen Momenten der Existenz bedingt sei. Jacobs: Einleitung (Anm. 39), S. XXII. Entsprechend konstatiert Kroner, das das praktische Vermögen in der Grundlage als „Vereinigungsmittel“ behandelt wird, dass primär die Funktion der Vermittlung und mithin Totalisierung der widerstreitenden Prinzipien von Identität und Differenz erfüllt. Kroner: Von Kant bis Hegel (Anm. 48), S. 504. Eine Verbindung zu Kant liegt in diesem Fall nah, insofern die Vernunft bei diesem ein Vermögen der Einheitsbildung ist - sowohl in ihrem theoretischen als auch praktischen Gebrauch. Ein spekulativer Abschluss des Systems ist dadurch zugunsten der Idee eines unendlichen Progressus der Vermittlung ausgeschlossen. 93 Genau jener Aspekt erscheint aus der Perspektive einer Anthropologie der Endlichkeit allerdings als besonders fruchtbar, erlaubt er doch, den Kern menschlicher Existenz als paradox zu denken, insofern sie durch die ebenso unbedingte wie unmöglich zu realisierende praktische Forderung nach Vermitt‐ lung zwischen dem Absoluten und dem Endlichen geprägt ist. So erkennt Fichte, dass die Auflösung der Antithese von absolutem und endlichem Ich für die theoretische Vernunft nicht zu leisten ist, da diese notwendig an den Gegensatz von Subjekt und Objekt gebunden ist, ohne den theoretische Erkenntnis nicht möglich ist. 94 Insofern die Identität von teilbarem und absolutem Ich von der theoretischen Vernunft nicht geleistet werden kann, „läßt sich nur sagen, ihre Gleichheit werde schlechthin gefordert: sie sollen schlechthin gleich seyn.“ 95 Die Koinzidenz des Ich mit sich selbst hat also den Status einer absoluten Forderung, die sich in einem spezifischen Tätigsein des Subjekts niederschlägt: im Streben. 96 134 Michael Steinmetz und Dominik Zink 97 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 409. 98 Ebd., S. 396. 99 Vgl. Kroner: Von Kant bis Hegel (Anm. 48), S. 505. 100 Damit ist auf den Begriff des höchsten Gutes bei Kant angespielt, der in der zweiten Kritik als das Unbedingte zum praktisch Bedingten, d. h. als „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“ eingeführt wird. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wis‐ senschaften. Berlin 1913, S. 108. In der Kritik der Urteilskraft rekurriert Kant auf das höchste Gut als „Endzweck, der […] existiren soll“, d. h., die Beförderung des höchsten Gutes ist moralisch unbedingt geboten. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Hier erst wird der Sinn des Satzes: das Ich sezt sich selbst schlechthin, völlig klar. Es ist in demselben gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtseyn gegebnen Ich; denn dieses ist nie schlechthin, sondern sein Zustand ist immer, entweder unmittelbar, oder mittelbar durch etwas ausser dem Ich begründet; sondern von einer Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß, die aber für unser Bewußtseyn unerreichbar ist, und daher in demselben nie unmittelbar (wohl aber mittelbar in der philosophischen Reflexion) vorkommen kann. 97 Das absolute Ich ist nicht ein vom teilbaren Ich unterschiedenes Ich, vielmehr ist es eine regulative Idee, der Fluchtpunkt der menschlichen Praxis, die Ausdruck des Strebens nach Absolutheit ist. Hier sei nochmals auf die Unterscheidung zweier Bedeutungen von Absolutheit bei Fichte hingewiesen. Das absolute Ich ist nicht nur absolut, insofern es von keinem Anderen bedingt sein soll, es ist absolut auch in der Hinsicht, dass alles in ihm gesetzt sein soll: „[I]m Ich soll Alles gesezt seyn; das Ich soll schlechthin unabhängig“ 98 sein. Das endliche Ich strebt danach, nicht nur unabhängig von Anderem (Nicht-Ich) zu sein, sondern es strebt darauf hin, die übergeordnete Subjekt-Objekt-Identität zu sein, in welcher die Subjekt-Objekt-Differenz aufgehoben ist. Die Realisierung dieses Ideals ist jedoch notwendig aufgeschoben, da der Gegensatz innerhalb des endlichen Bewusstseins nicht abschließend vermittelt werden kann. Das Ich ist insofern nicht als in sich ruhendes, vollendetes Prinzip zu deuten, sondern als ein in seinem innersten Kern Wollendes und Tätiges, das sich in der unabschließbaren Dynamik des fortschreitenden Strebens nach reiner Selbstidentität entfaltet. 99 Fichtes Anthropologie zeigt den Menschen als eine tragische Figur, weil sein Wesen darin besteht, ein Ideal anzustreben, das dem endlichen Bewusstsein immer unerreichbar bleibt. War es Kant noch gelungen, den Sinn menschlichen Daseins trotz seiner philosophischen Kritik der Metaphysik durch das praktische Postulat der Existenz Gottes zu retten, 100 135 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz Akademie der Wissenschaften. Berlin 1913, S. 196. Der Endzweck moralischer Wesen unterscheidet sich bei Kant insofern vom absoluten Ich bei Fichte, als die Unmöglichkeit des höchsten Gutes das Sittengesetz selbst in Frage stellt, da dieses die Beförderung des höchsten Gutes vorgibt: „Da nun die Beförderung des höchsten Guts […] ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen.“ Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Anm. 100), S. 114. Die Möglichkeit der Realisierung des Endzwecks wird von der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch also zwingend gefordert und wird bei Kant letztlich durch das Postulat der Existenz Gottes garantiert. 101 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 404. 102 Ebd., S. 397. 103 Ebd., S. 403. rekonstruiert Fichte Mensch-Sein als paradoxes Unterfangen, insofern es not‐ wendig auf die Aufhebung jenes Strebens gerichtet ist, das für das Mensch-Sein konstitutiv ist. Die Endlichkeit des Menschen besteht in genau jenem Paradox, in seinem Streben auf ein Absolutes bezogen zu sein, das er unmöglich realisieren kann: „Das Ich ist unendlich, aber bloß seinem Streben nach; es strebt unendlich zu seyn. Im Begriffe des Strebens selbst aber liegt schon die Endlichkeit, denn dasjenige, dem nicht widerstrebt wird, ist kein Streben.“ 101 Fichte fundiert im Streben nach absoluter Selbstidentität jedoch nicht nur ein praktisches Selbstverhältnis des Menschen. Er erklärt darüber hinaus auch den Objektbezug. Nur durch die Vermittlung des Strebens wird das dem teilbaren Ich entgegengesetzte Nicht-Ich auf die Subjekt-Objekt-Identität des absoluten Ich bezogen. Das Streben ermöglicht also die Vermittlung des Dualismus von Sub‐ jekt und Objekt in einem System des Wissens unter einem identischen Prinzip - dies freilich mit der Einschränkung versehen, dass die Subjekt-Objekt-Identität immer nur eine geforderte, gesollte ist. Das Streben ist insofern Möglichkeits‐ bedingung des Objekts: „Dieses unendliche Streben ist in’s unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt.“ 102 Das Objekt erscheint nun als Hemmung des Strebens nach absoluter Selbstidentität. Nur wenn ein Ich strebt, kann es in diesem Streben gehemmt werden, nur was das Streben hemmt, kann als entgegengesetztes Objekt wahrgenommen werden. Diese Hemmung zu fühlen, ist für Fichte das grundlegende Bemerken von Objekten. Ziel dieses Strebens ist es, durch die Überwindung der gefühlten Hemmung die Subjekt-Objekt-Identität des absoluten Ich zu realisieren. Die Realisierung reiner Selbstidentität wäre allerdings nur möglich, „wenn das Objekt überhaupt wegfiele.“ 103 Die paradoxe Struktur endlicher Existenz repro‐ duziert sich mithin im menschlichen Objektbezug. Von hier aus öffnet sich eine interessante Perspektive auf den Objektbezug, die Fichte selbst allerdings nicht mehr entwickelt. Nur wenige Jahre später zeigt 136 Michael Steinmetz und Dominik Zink 104 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 93), S. 143. 105 So interpretiert etwa einer der einflussreichsten französischen Hegel-Interpreten, Alexandre Kojève, die Begierde. Diese sei „das Begehren, das betrachtete Ding durch eine Tat zu verwandeln, in seinem Dasein […] aufzuheben, es in seiner Unabhängigkeit zu negieren und mir zu assimilieren […].“ Alexandre Kojève: Hegel - Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1975, S. 55. Kojève hat mit dieser Inter‐ pretation großen Einfluss auf die französische Phänomenologie sowie Psychoanalyse ausgeübt. So finden sich daran anschließende Überlegungen zum Verhältnis von Selbst- und Objektbezug bei nicht minder namhaften Autoren als Jean-Paul Sartre, Paul Ricœur oder auch Jacques Lacan. jedoch bereits Hegel in der Phänomenologie des Geistes, dass eine Aufhebung des Objekts im Sinne einer Aneignung des Objekts aufgefasst werden kann. Hegels Begriff der Begierde ist Ausdruck des Versuchs des selbstbewussten Subjekts, sich selbst als den Seinsgrund der gegenständlichen Welt auszuweisen. Der Nichtigkeit des begehrten Gegenstandes gewiss, vernichtet das Ich „den selbstständigen Gegenstand und gibt sich dadurch die Gewißheit seiner selbst als wahre Gewißheit.“ 104 Die Aneignung des begehrten Objekts verspricht, dieses in seiner Selbstständigkeit zu vernichten und seine Andersheit in der Identität des Selbst aufzuheben. 105 Freilich scheitert der Anspruch des Subjekts auf Auf‐ hebung der Differenz durch Aneignung des Objekts auch bei Hegel. Im Versuch, den Gegenstand aufzuheben, macht das selbstbewusste Subjekt die Erfahrung von der Selbstständigkeit seines Gegenstandes, d. h. von seiner irreduziblen Alterität. Diese von Fichte selbst nicht mehr entwickelte, durchaus aber bei ihm angelegte Perspektive auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdbezug wird sich in Goethes Faust ebenfalls niederschlagen. Fichtes Konstruktion der ersten beiden Grundsätze führt aufgrund des Ge‐ gensatzes dieser Grundsätze zum Versuch einer dialektischen Vermittlung, die zunächst durch Limitation erfolgt. Insofern die Limitation als Prinzip der Ver‐ mittlung jedoch keine abschließende Vermittlung von Identität und Differenz leisten kann, wird die Subjekt-Objekt-Identität von Fichte als regulatives Ideal ausgewiesen, das lediglich in einem unendlichen Progressus angestrebt werden kann. Nachdem bereits gezeigt wurde, dass die Strukturmomente von Identität und Differenz im Faust von den Figuren des Herrn und Mephistos repräsentiert sind, gilt es nun zu zeigen, dass auch die Vermittlung von Identität und Differenz im Faust strukturelle Parallelen zur Wissenschaftslehre aufweist. V.2 Die Vermittlung von Identität und Differenz im Faust Die Pointe der Fichte’schen Sicht auf den Menschen, was ein wegweisendes Alleinstellungsmerkmal im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bedeutet, ist, dass der Mensch nicht Ort einer abgeschlossenen Vermittlung der ihn konstitu‐ 137 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 106 Damit ist auch der jüngst von Philipp Resetzki vorgebrachten These zu widersprechen, das faustische Streben sei „letztlich als ‚Streben nach Selbsterhaltung‘, als Vorausset‐ zung der menschlichen Natur“ zu verstehen. Philipp Resetzki: „der Schlüssel zu Fausts Rettung“. ‚Streben‘ und ‚Liebe‘ als spinozistische Motive in den „Faust“-Szenen „Prolog im Himmel“ und „Bergschluchten“. In: Goethe-Jahrbuch 133 (2006), S. 40-48, hier S. 42. Er interpretiert das Streben als spinozistischen conatus, was einerseits sehr nachvollziehbar ist, da der conatus sowie Spinoza insgesamt ein wichtiger Einfluss für Fichte war, was jedoch andererseits aus mehrerlei Gründen auch problematisch ist. Erstens - so soll auch weiter unten gezeigt werden - entwirft Goethe in Anlehnung an Fichte eine Anthropologie, in der der Mensch frei ist, Spinoza hingegen profiliert seinen Begriff des conatus innerhalb einer deterministischen Anthropologie, zum zweiten ist schwer nachzuvollziehen, dass das Ziel des Strebens tatsächlich Selbsterhalt sein soll, denn eine solche Charakterisierung scheint den paradoxen Kern der faustischen Anthropologie eher zu verdecken als zu erklären. ierenden Momente ist, sondern Ort einer ständig sich vollziehenden, niemals abschließbaren Vermittlung. Menschsein wird damit zur unendlichen Aufgabe. Der Mensch ist keine Substanz, sondern Menschsein ist ein Vollzug: Streben. 106 Dieses paradoxe Selbstverhältnis findet sich im Faust wieder in der Konstruktion der beiden Wetten. Bevor sich die Interpretation jedoch diesen Wetten konkret zuwendet und zeigt, dass durch sie die Vermittlung als unendliches Streben konstruiert wird, muss dargelegt werden, dass Herr und Mephisto sich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander befinden, das konstruiert ist wie der Widerspruch zwischen den beiden ersten Grundsätzen bei Fichte. Denn nur aus einer Parallelität der spezifischen Art des Widerspruchs - weil sie die spezifische Art dialektischer Vermittlung bedingt - lässt sich behaupten, dass das Faustische Streben parallel zum Fichte’schen Streben beschreibbar ist. V.2.1 Limitation der Prinzipien im Faust als die des Verhältnisses von Licht und Finsternis Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung ist die oben erarbeitete Einsicht, dass die Frontstellung, die der Herr und Mephisto zueinander einnehmen, teilweise manichäisch, teilweise jedoch auch privationstheoretisch beschrieben werden muss. Das bedeutet, dass der Herr und Mephisto nicht - wie in der rein mani‐ chäischen Vorstellung - miteinander in einem bloßen und unvermittelbaren Widerspruch stehen; es bedeutet jedoch auch nicht, dass die Widersprüche zwischen den beiden nur vermeintliche Widersprüche sind und sich letztlich auflösen ließen, wie die privationstheoretische Interpretation behauptet: Es ist nicht so einfach, als dass sich das göttliche und das diabolische Prinzip aufheben würden. Es ist aber auch nicht so, dass sie nicht in einem Widerspruch stünden. Ganz analog beschreibt Fichte seine Ausgangsituation am Anfang des §3 in der Grundlage: „Der zweite Grundsatz hebt sich auf; und er hebt sich 138 Michael Steinmetz und Dominik Zink 107 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 269. 108 Ebd. 109 Dass Mephisto die Finsternis hier offensichtlich als erstes Prinzip beschreibt, von dem das Licht abkünftig sei, ist kein Gegenargument gegen die in diesem Beitrag vertretene These, dass das Verhältnis von Identität (Licht) und Differenz (Finsternis) im Faust genau andersherum gefasst werden muss, dass also die Identität der Negation gegenüber als logisch vorgängig gedacht werden müsse. Denn erstens wurde diese These mit der Art und Weise belegt, wie Herr und Mephisto sich im Prolog im Himmel zueinander verhalten. Die Darstellung dort hat in der Gesamttextperspektive sicher eine größere Autorität als die Selbstaussage Mephistos, der Faust gegenüber auch einfach lügen könnte. Wichtiger aber noch ist, dass die Möglichkeit der Aussage, welches Prinzip als das grundlegendere oder primäre zu betrachten sei, durch die Art und Weise, wie Mephisto das Verhältnis beider zueinander beschreibt, unterlaufen wird. Denn letztlich entstehen Licht und Finsternis erst dadurch, dass sie voneinander unterschieden werden: durch die Teilung dessen, was zuvor Alles war. Was davor ‚war‘ - und dieses ‚war‘ muss man in Anführungszeichen setzen - das kann man entweder als Nichts oder als Alles bezeichnen. Ebenso geht Mephisto vor: „Die Finsternis, die alles war“. Wenn man festhält, dass die Finsternis das Nichts ist, dann ließe sich sagen: „Das Nichts, das alles war.“ Wenn aber das Nichts alles ist, dann ist auch Alles eben dasselbe wie Nichts. Der Unterschied zwischen Sein und Nichts oder auch Licht und Finsternis fällt eben weg, wenn sie sich nicht mehr unterscheiden, sondern ein Glied der Unterscheidung Alles ist. Hegel verwendet die gleiche Metaphorik zur Beschreibung der Genese der Intelligibi‐ lität aus einem undifferenzierten Absoluten: „Das Absolute ist die Nacht, und das auch nicht auf.“ 107 Er fügt direkt hinzu, dass „es sich auch mit dem ersten nicht anders“ 108 verhält. Fichte braucht den dritten Grundsatz, der die hier beschriebene logische Sackgasse vermeidet. Wie oben gesehen, ist seine Lösung zunächst die gegenseitige Limitation: Ich und Nicht-Ich werden als teilbar gesetzt. Erstaunlich ähnlich beschreibt auch Mephisto, wie das Prinzip, dem er angehört, zusammen mit dem göttlichen bestehen kann, auf das er so sehr angewiesen ist, obwohl er sich selbst doch gleichzeitig in radikaler Gegnerschaft dazu begreift: Ich bin ein Theil des Theils, der Anfangs alles war, Ein Theil der Finsterniß, die sich das Licht gebar, Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht, Und doch gelingt’s ihm nicht, da es, so viel es strebt, Verhaftet an den Körpern klebt. (1349-54) Mephisto erzählt hier einen Ursprungsmythos in der kürzest möglichen Form. Es gibt das „Alles“, auf das hin das Sein (Licht) und das Nichts (Finsternis) be‐ zogen sind, wodurch auch das Verhältnis dieser beiden zueinander beschrieben ist. 109 Nicht weiter verwunderlich ist, dass der Teufel sich selbst der Finsternis 139 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz Licht jünger als sie, und die Unterscheidung beider sowie das Heraustreten des Lichts aus der Nacht, eine absolute Differenz, - das Nichts das Erste, woraus alles Sein, alle Mannigfaltigkeit des Endlichen hervorgegangen ist.“ Hegel: Differenz (Anm. 93), S. 24f. zuordnet. An dieser Passage lässt sich zeigen, dass bei Goethe wie bei Fichte die Vermittlung der beiden Prinzipien, die hier als Licht und Finsternis benannt sind, zunächst über Limitation (Teilbarkeit) geleistet wird, wodurch jedoch kein Abschluss der Vermittlung ermöglicht wird, was in der Folge zu einem unendlichen Streben führt. Was Mephisto hier zeigt, ist exakt der Grund dafür, dass Fichte alle drei Grundsätze aufstellen muss. Denn das Setzen eines Seins des ersten Grundsatzes würde allein ein Sein erschaffen, dass von nichts unterschieden wäre und somit dasselbe wie Nichts. Ein Sein, dem ein Nichts entgegengestellt wird, ist ohne ein Prinzip der Vermittlung nicht denkbar. Dieses Prinzip stellt Fichte im §3 der Grundlage auf und wie im Faust ist es: die Teilbarkeit. Nur indem die erste Unterscheidung eingezogen wird, gibt es Licht und Finsternis. Nur weil es zum Teil Licht und zum Teil Finsternis gibt, nur weil sie einander limitieren, kann es etwas geben, das nicht dasselbe wäre wie das Nichts. Mephisto versäumt es aber nicht, die unabschließbare Dynamik, die durch diese Art der Vermittlung von Identität und Differenz entsteht, als solche zu benennen. Denn das Licht macht, indem „es strebt“, der Finsternis den „alten Rang, den Raum ihr streitig“. Dieses Streben wird jedoch schon direkt als ein unendliches beschrieben. Denn obwohl das Wesen des Lichts in nichts anderem als in der Gegnerschaft zur Finsternis zu bestehen scheint, „gelingt’s ihm nicht“, diese zu überwinden. Der Grund dafür ist laut Mephisto, dass es „Verhaftet an den Körpern klebt“. Was er damit meint, führt er direkt im Anschluss weiter aus: Von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön, Ein Körper hemmt’s auf seinem Gange, So hoff ’ ich, dauert es nicht lange Und mit den Körpern wird’s zu Grunde gehn. (1355-58) Hier sind zwei Dinge zentral: Erstens ist Mephistos Bewertung der Körper ambivalent hinsichtlich dessen, ob sie seinen Zwecken dienen oder diesen entgegenstehen. Zweitens ist im Begriff der Körper eine inhaltliche Doppeldeu‐ tigkeit angelegt, die zum einen Objekt, zum andern Leib meint, wodurch in diesem Begriff Subjektivität mit Weltbezug verschränkt ist. Zum ersten Punkt: Offensichtlich ist es, wenn Mephisto auf die Körper zu sprechen kommt, zunächst so, dass sie ein Hindernis für das Licht darstellen. Sie sind der Grund, warum das Licht die Finsternis nicht überwältigen kann, 140 Michael Steinmetz und Dominik Zink wodurch sie zunächst als Instrumente erscheinen, die Mephisto in seinem Kampf gegen das Licht dienlich sein müssten. Wäre das allerdings alles, was dazu zu sagen wäre, ergäbe es überhaupt keinen Sinn, dass Mephisto den Wunsch äußert, dass die Körper untergehen. Genauso wie seine Hoffnung grundlos wäre, dass mit den Körpern das Licht aufhörte zu existieren. Die Körper scheinen also einerseits das Licht, andererseits die Finsternis zu hemmen. Wie dieser scheinbar widersprüchliche Bezug auf die Körper zu verstehen ist, erschließt sich, wenn man auf den zweiten angesprochenen Punkt blickt: Die Körper sind einerseits als Subjekte, als Menschen, zu verstehen, andererseits als Objekte, als Gegenstände für das Subjekt. Körper - genau in diesem doppelten Sinn - so kann man interpretieren, sind nach allem, was Mephisto hier sagt, die Möglichkeitsbedingung für die Vermittlung von Finsternis und Licht sowie der Ort, an dem diese Vermittlung stattfindet. Der Mensch als Subjekt, der einen Objektbezug hat, ist der Grund dafür, dass Licht und Finsternis zusammen bestehen können, was natürlich zur Folge hat, dass nur auf ihn bezogen die Rede von diesen beiden Prinzipien Sinn ergibt. Es gibt den Unterschied nicht ohne den Menschen und es gibt ihn nur für ihn. Der Text verwendet Licht und Finsternis nicht als ontologische Prinzipien, sondern als Begriffe der Reflexion über die menschliche Existenz. Als Möglichkeitsbedingung des Lichts ist es dadurch zwar nachvollziehbar, dass Mephisto sich wünscht, dass sie zusammen mit dem Licht untergeht, was er im weiteren Verlauf dieses Dialogs auch offen sagt, denn alles, „Was sich dem Nichts entgegenstellt, / Das Etwas, diese plumpe Welt“ (1363 f.) sowie überhaupt „alles was entsteht / Ist werth daß es zu Grunde geht“ (1339 f.). Dennoch bleibt es dabei, dass nur im Gegensatz zu einem Etwas ein Nichts unterscheidbar wäre. So sehr die Körper Möglichkeitsbedingung des Lichts sind, so sehr sind sie, indem sie das sind, auch Möglichkeitsbedingung der Finsternis. Die Körper, als Subjekte und Objekte, sind die Möglichkeitsbedingung für die Vermittlung und damit für das Dasein von Sein und Nichts. Diese Vermittlung ist nun zunächst so gestaltet, dass die Prinzipien sich durch die Körper, also im auf ein Objekt bezogenes Subjekt einschränken, dennoch aber ist sie unab‐ schließbar, was dazu führt, dass sich ein unendliches Streben einstellt. Indem von Mephisto selbst bei seiner Einführung dieses Begriffs behauptet wird, dass es „Das stolze Licht“ (1351) ist, das „strebt“, (1353) wird deutlich, dass auch er in Bezug auf den Menschen, der ja offensichtlich als Ort der Vermittlung der Strebende ist, das göttliche Prinzip des Lichts als primäres begreift. Der Mensch als „kleiner Gott der Welt“, (281) dessen „Urquell“ (324) das göttliche Prinzip ist und dessen differentia specifica der „Schein des Himmelslichts“, (284) also eine abgeschwächte Form des Lichts ist, strebt als Körper (Subjekt) in einer Welt aus 141 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz Körpern (Objekten) auf den Punkt reiner Selbstidentität zu. Er will Gott werden, was das Stück am Beispiel Fausts bereits vor Mephistos Auftreten überdeutlich zeigt, wobei der Text sehr klar macht, dass er in diesen Situationen einer Hybris verfällt. V.2.2 Gott als Fluchtpunkt des Strebens im Faust Als Faust das Zeichen das Makrokosmos betrachtet und die Natur als spino‐ zistische natura naturata erkennt, fragt er: „Bin ich ein Gott? Mir wird so licht! “ (439). Als er den Erdgeist beschwört, der als Erscheinung der spinozisti‐ schen natura naturans interpretiert werden darf, lässt ihn dieser wissen: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir! “, (512 f.) worauf hin er, ob seiner von ihm vorausgesetzten Gottesebenbildlichkeit, in Zweifel gerät: „Ich Ebenbild der Gottheit! / Und nicht einmal dir! “ (516 f.) Dass es sich in Fausts Welterfassungsphantasien um Selbstüberschätzungen handelt, zeigt Goethe, weil bei Spinoza diese beiden hier vorgestellten Naturbegriffe, natura naturata und natura naturans, je nur die Hälfte des Ganzen sind, das als Ganzes bei ihm den pantheistischen Gott ausmacht. Dass die Hybris Fausts jedoch nicht völlig ungerechtfertigt ist, wird dadurch deutlich, dass sein Irrtum nicht darin besteht, Gott sein zu wollen, sondern darin, sich schon für Gott zu halten. Der Wille zur Selbstvervollkommnung, der sich in diesem Streben, gottgleich zu werden, äußert, ist sowohl conditio humana als auch diejenige Eigenschaft Fausts, die der Herr im Prolog selbst als Beleg für seine Gottgefälligkeit angibt, denn von Mephisto auf Fausts Unersättlichkeit angesprochen, charakterisiert er diese als ein Dienen, obgleich es „jetzt auch nur verworren“ (308) ist. Selbst noch der letztlich nicht ausgeführte Suizid ist für Faust verlockend, weil er in der danach folgenden Daseinsweise keine gemischte, sondern eine „reine[…] Thätigkeit“ (705) wähnt, die er als „Götterwonne“ (706) charakteri‐ siert. Der Grund, vom Plan der Selbsttötung abzulassen, ist dann auch eine Besinnung, wenn auch eine unbewusste durch Jugenderinnerungen sich mani‐ festierende, dass der Selbstmord eben keine legitime Form des Strebens nach Gottgleichheit ist. Ausgesprochen wird dies im auf die Erinnerung folgenden Chor der Jünger, in dem das diesseitige Streben als imitatio christi beschrieben wird. Denn Jesus, dem es „[s]chmachtend“ nachzueifern gilt, hat sich „Herrlich erhoben“ und ist in „Werdelust / Schaffender Freude nah“. (788 ff.) Er ist Symbol der Überwindung des Todes, nicht Symbol der Einwilligung in den Tod, was ja gerade im Osterfest gefeiert wird. Schließlich wird deutlich, dass das göttliche Prinzip den Menschen nur teilweise ausmacht, als Faust von Mephisto, fordert, schlichtweg alles zu erleben, „was der ganzen Menschheit zugetheilt ist“. (1770) Denn dieser entgegnet ihm, 142 Michael Steinmetz und Dominik Zink 110 Christopher Marlowe: Die tragische Historie vom Doktor Faustus. Deutsche Fassung, Nachwort und Anmerkungen von Adolf Seebaß. Stuttgart 2008, S. 6. 111 Richard Benz (Hrsg.): Historia von D. Fausten dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Stuttgart 1964, S. 3. dass ein solches Erleben nur einem Gott, nicht jedoch ihm möglich sei. In dieser Verweigerung spricht Mephisto dann auch das wahre Verhältnis aus, dass das göttliche Prinzip der Alleinheit und das diabolische der Verneinung in Bezug auf den Menschen einnehmen. Sie beschränken sich gegenseitig: Glaub’ unser einem, dieses Ganze, Ist nur für einen Gott gemacht! Er findet sich in einem ew’gen Glanze, Uns hat er in die Finsterniß gebracht, Und euch taugt einzig Tag und Nacht. (1780-84) VI. Mensch-Sein als aussichtslose Wette Die Darstellung des Strebens des Menschen als konkrete unabschließbare Ver‐ mittlung der beiden ihn konstituierenden Strukturmomente wird in den beiden Wetten ausgestaltet. In der teuflischen Wette zwischen Faust und Mephisto zeigt Goethe, dass ein unendliches Streben ein paradoxes Unterfangen ist. In der himmlischen Wette zwischen dem Herrn und Mephisto dagegen wird deutlich, dass der Mensch dennoch nicht zum Nihilismus oder Fatalismus verdammt ist. VI.1 Die Wette zwischen Faust und Mephisto Zunächst zur Wette zwischen Faust und dem Teufel: Es ist offensichtlich, dass hier eine andere Situation vorliegt, als in den klassischen Teufelsbund-Ge‐ schichten. Dort - auch in der Historia - verschätzen sich diejenigen, die dem Teufel die Seele verkaufen, denn sie schätzen den Wert der Seele geringer ein, als er tatsächlich ist, und merken dann, dass sie einen schlechten Handel eingegangen sind, da sie das, was sie erringen wollten, durch den Verkauf der Seele verloren haben. Dies wird dann nicht selten als fabula docet in der Lehre kondensiert, wie z. B. im Prolog von Marlowes Die Tragische Historie vom Doktor Faustus. Denn dort heißt es Faustus „übernimmt sich schier / mit Nekromantik und liebt nichts so sehr / wie die Magie, um die er selbst das Höchste: / der eignen Seele Seligkeit verachtet.“ 110 Weswegen die früheren Faust-Erzählungen, wie in der Vorrede der Historia zu lesen, „der ganzen Christenheit zur warnung“ 111 zu dienen, als ihren Zweck angeben. Bei Goethes Faust liegt die Sache anders. Seine Perspektive ist klar: Das Ziel, das seine literarischen Vorgänger zu erhaschen 143 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 112 Matussek: Faust I (Anm. 66), S. 566 113 Ebd. 114 Ebd. wähnen, die Befriedigung höchster Lust oder aller Lüste, hält Faust für nicht erreichbar. Aber auch die Perspektive des Textes ist klar, wenn man den Faust II mit einbezieht: Hier wird keine Warnung ausgesprochen, denn Faust fährt nicht zur Hölle. Die seltsame Situation im Faust ist, dass er gegen sein eigenes Glück wettet. Er geht davon aus, dass er sich nie „beruhigt je […] auf ein Faulbett legen“ würde (1692) und behauptet, dass der Fall, dass er sich „selbst gefallen mag“, (1695) nur dann eintreffen könnte, wenn Mephisto ihn erfolgreich „belügen“ würde. (1694) Faust ist also davon überzeugt, dass es für ihn keine Befriedigung geben könne, und wettet daher mit dem Teufel, dass selbst er mit all seiner Macht nichts daran zu ändern vermöge. Wenn das aber Fausts Einschätzung der Situation ist, was könnte er dann überhaupt gewinnen? Der Teufel hat nur „Speise die nicht sättigt“. (1678) Dass Faust hier auf den ersten Blick wenig nachvollziehbar handelt, ist freilich in der Forschung bereits öfters bemerkt worden. In seinem Artikel im Goethe-Handbuch zum Faust I folgert z. B. Peter Matussek aus der im Text ausgestalteten Situation, die Antwort auf die Frage nach Fausts Motivation müsse „paradox ausfallen: Faust geht die Wette ein, weil er sie just durch das Bemühen, sie zu gewinnen, zu verlieren hofft.“ 112 Matussek meint, dass sich Faust aufgrund seiner Suche nach „Genuß, der nicht falsifiziert werden kann“, mit dem Teufel verbindet, damit der ihm „in abstoßender Trivialität“ hilft, „Bedingtes vorzufinden, das er [Faust] transzendieren kann“. 113 Dieser Ansatz erklärt jedoch nicht, wieso überhaupt diese Wette in Faust die Erwartung oder auch nur die Hoffnung aufkommen lassen sollte, dass es zu einem Transzendieren der bedingten Genüsse hin zu einem „totalen Lebensgenuß“ 114 kommen könne. Hier soll die These vertreten werden, dass in der Wette zwischen Faust und Mephisto ersterer nicht allein als psychologisierte Figur betrachtet werden sollte - dass also die Frage nach dem Motiv allein nicht weiterführt. Eine Interpreta‐ tion, die Sinn ergäbe, wäre zu sagen, dass die Wette die oben aufgezeigte para‐ doxe anthropologische Grundstruktur explizit macht: Mensch-Sein bedeutet, mit dem Teufel eine aussichtslose Wette einzugehen. Fausts Aussage „Die Wette biet’ ich“ (1698) wäre dann nicht nur konjunktivisch zu paraphrasieren als Die Wette würde ich bieten. Sie würde also nicht nur de facto ein Wettangebot meinen, sondern müsste vor allem indikativisch im generellen Präsens, das für einen zeitlosen Sachverhalt verwendet wird, verstanden werden als: Diese Wette biete ich, ich habe sie je schon geboten und so lange ich lebe, biete ich sie! Oder auch: Leben bedeutet nichts anderes, als diese Wette zu bieten. Damit wäre dann gemeint, 144 Michael Steinmetz und Dominik Zink 115 Zusammenfassend zu dieser Diskussion vgl. Matussek: Faust I (Anm. 66), S. 375-377. dass Faust weniger eine neue Wette mit Mephisto eingeht, als dass durch die Wette ein paradoxes Selbstverhältnis expliziert wird. Faust behauptete dann von sich, dass diese paradoxe Wette eine angemessene Beschreibung seines Lebensvollzugs sei. Dies ist gerade vor dem Hintergrund sinnvoll, dass sich am Verhalten und den Motiven Fausts durch die Wette substantiell nichts ändert. Er wurde schon im Prolog als Strebender bezeichnet, der „Vom Himmel […] die schönsten Sterne / Und von der Erde jede höchste Lust [fordert]“, wobei nichts „die tiefbewegte Brust [befriedigt]“ (304-7). Und auch wenn er Mephisto in der Szene Trüber Tag. Feld anklagt, dieser habe ihn korrumpiert und sei an Margaretes Schicksal schuld, macht die Apologie Mephistos „Wer war’s der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du? “ klar, dass dem nicht so war. Begreift man aber das unerfüllbare Streben als den letzten Horizont, auf den hin Mensch-Sein verstanden werden kann, dann ist auch die Aussage nachvollziehbar, zugrunde gehen zu wollen in dem Augenblick, zu dem man sagt „Verweile doch! “ (1700) Denn dies würde ein Erreichen eines Unerreichbaren bedeuten. Es ist zwar der Punkt, in dem man Erlösung wähnt oder vermuten muss, aber das Erreichen wäre eben auch das Ende alles menschlichen Daseins. Dann ist tatsächlich „die Zeit […] vorbei“, (1706) was allerdings auch bedeutet, dass die Struktur menschlichen Daseins aufgelöst würde. Liest man diese Stelle so, kann Faust die Wette weder verlieren noch gewinnen. Sie ist lediglich eine deskriptive Darstellung seiner Situation als Mensch. Auch die in der Forschung zu Goethes Faust breit diskutierte und bereits in der Historia wie in vielen anderen Teufelsdarstellungen angelegte Frage, ob Mephisto eher als eigenständige Figur oder als Seelenaspekt Fausts betrachtet werden müsse, zeigt sich hier in einem neuen Licht. 115 Denn Mephisto einerseits als Partner in einer je schon eingegangenen Wette zu verstehen und andererseits als Repräsentant des Prinzips der Negation lässt ihn zum Scharnier zwischen Ich und Welt werden - ebenso wie bei Fichte die Welt als Nicht-Ich ihren seltsamen Status deswegen hat, weil sie einerseits im Ich als Vorstellung, andererseits eben außerhalb des Ich sein soll, als das, was nicht das Ich ist. Mephisto ist der Teil in Faust, der nicht Faust ist, der aber nötig ist, damit Faust überhaupt Mensch ist. Er ist das Nicht-Ich, das dem Ich entgegengesetzt ist, das aber auch im Ich gesetzt ist. Das Verhältnis von Subjekt-Objekt-Identität und Subjekt-Objekt-Differenz bei Fichte wird hier reproduziert. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf Fausts Verhältnis zu den Objekten, die er begehrt. Bei Fichte ist die Möglichkeitsbedingung des Objektbezugs das 145 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 116 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 397. 117 Ebd., S. 403. 118 Ebd. 119 Ebd. S. 404. 120 Dass dieses Verhältnis im Faust II gerade an Helena noch einmal durchgespielt wird, muss auch als ein poetologischer Kommentar des Textes zur Literaturgeschichte verstanden werden, in der sich der Text selbst verortet. Denn Helena tritt zwar schon in der Historia als Figur auf, bei Goethe wird ihre Rolle aber sehr viel zentraler. Der poetologische Kommentar ist darin zu sehen, dass das Verlangen, Helena zu besitzen, als das Ur-Streben der Dichtung überhaupt gefasst werden kann, wenn man Homer als den Ur-Dichter begreift, denn das Streben nach Helena ist der Anlass für den Streben des Ich gegen das Nicht-Ich: Nur Wesen, die streben, können Objekte für sich konstituieren, denn diese begegnen einem ja als das, was man selbst nicht ist, also als Konkreta des Nicht-Ich. Das „unendliche Streben ist in’s unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt.“ 116 Mephisto präsentiert die Objekte, die notwendig sind, um sich selbst de facto als Strebenden zu entwerfen. Durch die Objekte, die widerstreben, erfährt Faust sich selbst als Strebenden. Dieses Widerstreben zu brechen oder zu überwinden, verspricht dem Ziel der völligen Erlösung näherzukommen, weil es darin bestünde, dass es nichts mehr würde geben können, was dem eigenen Streben widerstünde. Dieses Versprechen jedoch, der Erlösung näher zu kommen, können die Objekte selbstverständlich nicht halten. Denn diese wäre, wie Fichte sagt, nur möglich, „wenn das Objekt überhaupt wegfiele.“ 117 Er fügt hinzu: „es fällt aber nicht weg, außer in einer vollendeten Unendlichkeit.“ 118 Diese aber ist, wie die paradoxe Formulierung deutlich macht, ein nie zu erreichender Punkt, der aber die Dynamik der begehrenden Bezugnahme auf Objekte installiert und instand hält. Fichte hält fest, dass uns „die Idee einer solchen zu vollendenden Unendlichkeit“ vorschwebt und „im Innersten unseres Wesens enthalten“ sei. Er nennt diesen Umstand „das Gepräge unserer Bestimmung für die Ewigkeit.“ 119 Genau deswegen erneuert sich die Wette jedes Mal aufs Neue in jedem neuen Objekt, das Faust begehrt. Immer muss er im Wissen, dass etwas ihn nicht befriedigen wird, Befriedigung in der Aneignung eines Objekts wähnen. Goethe entwickelt über das Aneignungsparadigma eine Form des Objektbezugs, die über Fichte hinausgeht, jedoch bei diesem angelegt ist. Margaretes Fall zeigt sehr deutlich, dass es sich dabei auch tatsächlich um eine Aneignung handelt. „Hör, du mußt mir die Dirne schaffen! “ (2618) verlangt Faust von Mephisto, wodurch von Anfang an gezeigt wird, dass es Faust eben nicht um eine Vereinigung Gleicher, sondern um eine Überwältigung einer anderen geht. Dass es sich bei dieser Inbesitznahme Margaretes, die sich im Faust II mit Helena 120 wiederholt, nicht um ein zufälliges Begehren handelt, sondern 146 Michael Steinmetz und Dominik Zink Trojanischen Krieg, der wiederum Gegenstand der Illias ist. Insofern reiht Goethe seinen eigenen Text in eine Tradition ein, die er gleichzeitig fasst als um genau das Phänomen kreisend, dessen Beschreibungsversuche Literatur als solche überhaupt erst hervorgebracht haben: Menschsein als paradoxes Streben. 121 Die geschlechtertheoretische Problematik, die in der Tatsache liegt, dass der Mensch hier offensichtlich als ein männlicher, die Frau jedoch als das ihn auf ewig unbefriedigt zurücklassende, aber stets lockende Objekt konzeptualisiert wird, ist bereits oft thema‐ tisiert worden. Vgl. z. B.: Ella Buceniece: Goethes „Faust“ aus der Sicht des Feminismus. In: Birgit Christensen (Hrsg): Wissen, Macht, Geschlecht. Philosophie und die Zukunft der „condition féminine“. Zürich 2002, S. 733-740. Hier kann weiter nicht ins Detail gegangen werden, es soll aber dennoch angesprochen werden, dass der Entwurf des Menschseins hier nicht auf einer konstitutiven Ebene mit Geschlecht verknüpft ist, was bedeutet, dass hier zwar Männlichkeit mit Streben und Mensch-Sein in Eins gesetzt wird, dies jedoch nur hinsichtlich der Verknüpfung von Streben und Menschsein notwendig ist. Zum zweiten soll gesagt sein, dass die Objektifizierung Margaretes, die in der Forschung lange und oft auch immer noch - im Gegensatz zu ihrer Benennung im Text, der sie auch Margarete nennt - nur im Diminutiv ‚Gretchen‘ bezeichnet wurde, eher zu einer Kritik an der Rezeptions- und Forschungstradition herausfordern müsste und nicht in erster Linie an einer am Text. Denn dieser kann auch selbst als Kritik an - oder zumindest Offenlegung der Problematik - der Objektifizierung gelesen werden, wenn man Margarete als tragische Figur ernst nimmt und dementsprechend die vom Text bewusst gesetzten Hinweise nicht übersieht, die als kritischer Kommentar sozialer und rechtlicher Praktiken gemeint sind, wie diejenigen, die die als Kindsmörderin hin‐ gerichtete Susanna Margaretha Brandt das Leben gekostet haben, deren Gerichtsakte bekanntlich das teuflische Zitat „Sie war die erste nicht.“ aus der Szene Trüber Tag. Feld entnommen ist. Vgl. dazu Siegfried Birkner: Goethes Gretchen. Das Leben und Sterben der Kindermörderin Susanna Margaretha Brandt. Frankfurt a. M. 1999. dass in dieser Beziehung der wesentliche Selbst- und Objektbezug des Meschen ausgedrückt wird, wird durch die das Drama beschließenden Verse des Chorus Mysticus in den Bergschluchten ausgedrückt: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichniß; / Das Unzulängliche / Hier wird’s Ereigniß; / Das Unbeschreibliche / hier ist es gethan; Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ (12104-11) Die Gegenüberstellung eines Unverfügbaren, das ewig anders ist, das Objekt, das nicht Ich ist, ist Möglichkeitsbedingung für das und gleichursprünglich mit dem Streben, das das Wesen des eigenen Selbst ausmacht. 121 VI.2 Die Wette zwischen Mephisto und dem Herrn Goethes Text zeigt jedoch, dass das Menschsein einseitig und verfälscht darge‐ stellt sein würde, würde man es allein als immer schon eingegangene Wette mit dem Teufel zu fassen versuchen. Denn die Existenz des Menschen ist zwar paradox und eine unlösbare Aufgabe, von der man sich niemals wird abwenden können. Es wird jedoch deswegen keine nihilistische Anthropologie entworfen. Dies konstruiert der Text durch die andere zentrale Wette, bzw. 147 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 122 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 403. 123 Obwohl für die Kantischen und Nachkantischen Philosophen der 1790er und 1800er Jahre nie in Frage stand, dass der Mensch tatsächlich frei sei, wurde sie gerade beim von Goethe verehrten Spinoza anders beantwortet, da dieser von einem Determinismus der Natur überzeugt war, deren Teil auch der Mensch ist. Die Frage nach Spinozas Determinismus war gerade in dieser Zeit wieder in den Brennpunkt philosophischer Aufmerksamkeit gerückt, da Goethes Freund Friedrich Heinrich Jacobi 1785 und dann in zweiter Auflage 1789 sein sog. Spinozabüchlein [Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn] veröffentlicht hatte. Fichte selbst verwendet erstaunlich durch den Gegensatz der Strukturmomente, die das Menschsein bestimmen. Oben wurde bereits gesagt, dass das Streben nicht eigentlich auf das immer enttäuschende Objekt abzielt, als dessen Präsentator Mephisto fungiert, sondern auf den Horizont einer Unendlichkeit, deren Vorschweben als Idee Fichte als „Gepräge für die Ewigkeit“ gefasst hat. Dieser Fluchtpunkt wird ermöglicht durch das vom Herrn repräsentierte Prinzip. Der Teufel präsentiert zwar Objekte, die niemals irgendetwas anderes als Surrogate für eine echte Erlösung sein können, die ursprüngliche Idee von Erlösung muss aber im „Innersten unsers Wesens“, 122 wie Fichte schreibt, schon enthalten sein. Wenn man so will, macht Goethe hier explizit, was immer schon in den Teufelsbundgeschichten implizit enthalten war, die sich als erbauliche Warnungen selbst legitimierten: Denn wenn Verführung eine Irreleitung zu vermeintlicher Erfüllung ist, dann muss es auch die Idee wahrer Erfüllung geben, selbst wenn sie nur ex negativo beschreibbar und nie zu erreichen sein sollte. Es soll hier zunächst die Situation im Faust I analysiert werden, woran im Anschluss mit Blick auf die Grablegung und die Bergschluchten aus dem Faust II argumentiert werden soll, dass die These auch durch die Fortsetzung des Dramas nicht abgeändert werden muss, obwohl sich durch die tatsächliche Erlösung von Faust Fragen bezüglich der beiden Wetten stellen. Die Situation stellt sich wie folgt dar: Mephisto wettet mit dem Herrn, dass er seine Wette mit Faust gewinnt. Gleichzeitig ist aber auch von der Wette zwischen Mephisto und Gott abhängig, ob Mephisto im Falle des Gewinns der Wette gegen Faust, seinen Einsatz - nämlich Fausts Seele - erhalten werde. Das wiederum bedeutet den oben bereits angesprochenen Umstand, dass Faust in doppelter Hinsicht Gegenstand der himmlischen Wette ist, denn er ist es dahingehend, dass sein Verhalten den Ausgang der Wette bestimmt; er ist es aber auch dahingehend, dass seine Seele der Wettgewinn ist. Durch diese Konstruktion gelingt es Goethe, eine Situation zu modellieren, die eine weitere zentrale Parallele mit Fichte offenbart, die bis jetzt nicht im Vordergrund stand: Menschsein wird auf Strukturmomente zurückgeführt und dadurch erklärt, ohne jedoch das Phänomen der Freiheit bzw. des freien Willens zu leugnen. 123 148 Michael Steinmetz und Dominik Zink viel Platz im §3 der Grundlage, um sein System ins Verhältnis zum Spinozismus zu setzen und nennt den theoretischen Teil der Wissenschaftslehre einen „systematische[n] Spinozismus“. Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 282. Im praktischen Teil allerdings, der den Menschen als einen Strebenden und nicht bloß als einen Erkennenden behandelt, setzt er das Ich als absolut, nicht wie Spinoza die Substanz Gottes. 124 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 450. - Fichte behauptet mit der Deduktion des Strebensbegriffs einen theoretischen Beweis für den kategorischen Imperativ Kants geleistet zu haben, den dieser selbst für keines theoretischen Beweises möglich gehalten hatte: „Ein solches praktisches Vermögen der Vernunft war bisher postuliert, aber nicht erwiesen worden. […] Ein solcher Beweiß nun muß für die theoretische Vernunft selbst befriedigend geführt, und dieselbe darf nicht bloß durch einen Machtspruch abgewiesen werden. Dies ist auf keine andere Art möglich, als so, daß gezeigt werde, die Vernunft könne selbst nicht theoretisch seyn, wenn sie nicht praktisch sey.“ Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 399. Das Dasein Fausts in dieser doppelten Weise zum Gegenstand einer Wette zu machen, lässt ihn erscheinen als auf diese Strukturmomente bezogen, jedoch nicht durch sie determiniert. Denn es ist ja sein Verhalten, dass über den Wettausgang entscheiden soll. Die Freiheit, die hier skizziert wird, ist ein Streben, das außer der oben schon analysierten paradoxen Dynamik, auf einen unerreichbaren Punkt zuzustreben, der das Streben selbst auflösen würde, nicht weiter bestimmbar ist. In Fichtes Philosophie wird dieses Selbstverhältnis des Menschen als freier, strebender und doch auf zwei Pole bezogener in seiner Formulierung des kategorischen Imperativs gefasst, die lautet: „Du sollst schlechthin.“ 124 Hier wird sehr deutlich, worin die Vermittlung dieser beiden Prinzipien besteht. Es ist zwar so, dass sie sich gegenseitig in ihrer Einflussnahme auf den Menschen limitieren, aber es ist nicht so, dass sie ihn einfach aufteilen, oder, ohne dass er beteiligt wäre, um ihn kämpfen. Das wiederum bedeutet, die Vermittlung der beiden Prinzipien ist die Aufgabe des Menschen. Er ist deswegen, solange er lebt, Strebender. In Fichtes Formel des kategorischen Imperativs wird auch noch einmal auf eine andere Weise deutlich, inwiefern Menschsein als paradox entworfen wird, denn es ist ein Sollen ohne externen Zweck. Der Mensch erkennt, dass er soll, aber es lässt sich nicht sagen was. Er strebt, aber sein Ziel lässt sich nicht anders angeben, als dass es im Abschluss des Strebens bestehe. Deswegen muss auch der Herr als eine extramundane Figur auftreten, die niemals direkt mit Faust in Kontakt tritt, Mephistopheles hingegen als sein diesseitiger Diener. Mephisto erscheint, parallel zum zweiten Grundsatz in der Grundlage als innig verwoben, geradezu als Kehrseite des dritten Grundsatzes, in dem endliches Bewusstsein wirklich wird, während der erste Grundsatz als Subjekt-Objekt-Identität der praktischen Existenz notwendig entzogen ist. 149 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 125 Fichte: Grundlage (Anm. 39), S. 255. Die Position Gottes, die Selbstvervollkommnung, die abgeschossenene Unend‐ lichkeit, die reine Selbstidentität oder auch das reine absolute Ich, ist eben das, was - wie Fichte bereits auf der ersten Seite der Grundlage schreibt - „unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.“ 125 Der kategorische Imperativ „Du sollst schlechthin“ zeigt durchaus eine Richtung an, da es ein Sollen gibt, was durch den Herrn dargestellt wird, dadurch dass der Herr Fausts Seele als Wettgewinn akzeptiert. Dennoch rückt seine Positionierung im Himmel auch noch einmal ins deutlichste Licht, in welcher Weise das Drama von Erlösung handelt. Obwohl in diesem Beitrag wiederholt von der Erlösung als Fluchtpunkt gesprochen wurde, heißt das natürlich nicht, dass der Faust tatsächlich eine Anthropologie entwirft, die auf eine Erlösung hinausliefe. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Es ist ein Text darüber, was Menschsein bedeutet in einer Welt, in der es zwar noch den Wunsch nach Erlösung und die Notwendigkeit, das Versprechen auf Erlösung ernst zu nehmen, gibt, sie selbst aber nicht mehr. Diese Interpretation ändert sich auch nicht, wenn man die Grablegung und die Bergschluchten einbezieht. Selbst wenn man ignorierte, dass unklar ist, ob nun Faust tatsächlich seine Wette gegen Mephisto verloren hat oder ob er nur über das „Vorgefühl von solchem hohen Glück“ (11585) gesprochen habe, liegt das, was nach seinem Tod passiert, außerhalb seiner epistemischen Erreichbarkeit als Mensch. Man müsste dann geradezu sagen: Trotz der Erlösung seiner Seele - selbst wenn man annehmen würde, einer wie Faust wird erlöst - ändert das nichts an der Zerrissenheit, in die man als Lebender geworfen ist, denn von Erlösung oder Verdammnis weiß Faust nichts. Und auch die Erklärung der Engel zeigt genau dies: „Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen.“ (11936 f.) Wer immer strebend sich bemüht, der tut dies nur, wenn er nicht erlöst ist. Wer immer strebend sich bemüht, zielt immer - so lange er lebt - auf Erlösung und hat sie nie erlangt. Er kann ihr als Mensch nicht teilhaftig werden, denn Mensch-Sein bedeutet eben nach Erlösung streben und damit nicht, sie zu haben. Die Engel tragen daher auch, wie der Paratext sagt „FAUSTENS Unsterbliches“, nicht Faust, den Menschen. Für diesen gilt, so lange er lebt, das Faustische Gesetz: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde.“ (3249 f.) 150 Michael Steinmetz und Dominik Zink 126 In kritischer Abgrenzung gegen Fichte, die sich aber durchaus auch als Weiterentwick‐ lung der Dialektik von Identität und Differenz bei Fichte lesen lässt, verwirft z. B. Hegel jeden Begriff von Identität, der ohne Vermittlung durch eine Differenz gebildet wird, als Abstraktion: „Es ist von großer Wichtigkeit, sich über die wahre Bedeutung der Identität gehörig zu verständigen, wozu dann vor allen Dingen gehört, daß dieselbe nicht bloß als abstrakte Identität, d. h. nicht als Identität mit Ausschließung des Unterschiedes aufgefaßt wird. Dies ist der Punkt, wodurch sich alle schlechte Philosophie von dem unterscheidet, was allein den Namen Philosophie verdient.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Frankfurt a. M. 1986, S. 238. Hegel verweist darauf, dass allein die Darstellung der Identität im Satz der Identität A = A der Identität widerspricht, insofern dieser Satz „einen Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat verspricht.“ Ebd., S. 237. Dass solche Überlegungen auch in der Literatur jener Zeit - auch und gerade im Anschluss an Fichte - eine gewichtige Rolle gespielt haben, zeigt sich daran, dass auch Novalis ein ganz ähnliches Argument gegen einen abstrakten Begriff von Identität entwickelt: „In dem Satze a ist a liegt nichts als ein Setzen, Unterscheiden und verbinden. Es ist ein philosophischer Parallelismus. Um a deutlicher zu machen wird A getheilt. Ist wird als allgemeiner Gehalt, a als bestimmte Form aufgestellt. Das Wesen der Identität läßt sich nur in einem Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische um es darzustellen. - Entweder dis geschieht nur scheinbar - und wir werden v[on] d[er] Einbildungskraft dahin gebracht, es zu glauben […] Oder wir stellen es durch sein Nichtseyn, durch ein Nichtidentisches vor - Zeichen.“ Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hrsg. von Paul Kluckholm / Richard Samuel. Stuttgart 1960, S. 104. VII. Fazit und Ausblick Ziel dieses Beitrages war es, die Grundlagen für eine Interpretation des Endlich‐ keitsdramas im Faust zu schaffen, welche auf einer dialektischen Vermittlung von Identität und Differenz basiert, die bereits in Fichtes Wissenschaftslehre vorgezeichnet ist. Identität und Differenz treten darin als zwei Strukturmomente menschlichen Bewusstseins hervor, die einerseits zwar in einem Gegensatzver‐ hältnis stehen, die ihren Sinngehalt zugleich aber nicht unabhängig vonein‐ ander gewinnen können. Identität und Differenz erscheinen als Reflexionsbe‐ stimmungen, welche die philosophische Reflexion als je schon aufeinander verwiesene Strukturmomente menschlichen Bewusstseins voraussetzen muss. Der praktische Existenzvollzug wird auf dieser Basis als Streben erschlossen, das als praktische Vermittlung die widerspruchsvolle Einheit von Identität und Differenz in der übergeordneten Identität des absoluten Ich zu realisieren sucht. Identität und Differenz können mithin nur als sowohl gegensätzliche als auch aufeinander verwiesene Momente innerhalb des dynamischen Spannungsfeldes endlicher Existenz ihre volle Bedeutung entfalten. 126 Vor dem Hintergrund dieses Gerüsts einer dialektischen Vermittlung von Identität und Differenz muss das Endlichkeitsdrama im Faust gedeutet werden. 151 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 127 Dies zeigten die Arbeiten Manfred Franks: Vgl. Frank: Einführung in die frühromanti‐ sche Ästhetik (Anm. 18); sowie Frank: ‚Unendliche Annäherung‘ (Anm. 18). 128 Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht (Anm. 34). Das Faust’sche Streben dient als praktische Vermittlung der Figuren Gottes und Mephistos, die im Prolog als sich widerstreitende, sich aber zugleich nicht aufhebende, sondern je schon sich aufeinander beziehende Repräsentanten von Identität und Differenz konstruiert werden. Dennoch darf aber Goethes Faust keinesfalls als eine einfache literarische Adaption der Endlichkeitsphilosophie aus Fichtes Wissenschaftslehre begriffen werden. Dies zeigt sich nicht nur an der enormen Themenvielfalt, die im Faust verhandelt wird, in Fichtes Bewusstseinsphilosophie hingegen kein möglicher Gegenstand der Reflexion ist. Auch ist der Mehrwert des Faust nicht lediglich darin zu finden, dass Goethe in der Darstellung des aneignenden Objektbezugs deutlich über Fichte hinausgeht, indem er die Aneignung des Objekts als Irrweg des nach Erlösung strebenden Menschen konstruiert - wenn auch ein solcher Ansatz durchaus an Fichte anschließen kann. Entscheidend ist vielmehr eine spezifische Leistungsfähigkeit des literari‐ schen Ausdrucks gegenüber der diskursiv verfahrenden Philosophie in Bezug auf die Darstellung von Identität und Differenz, die sich im Vergleich der Wis‐ senschaftslehre mit dem Faust-Projekt zeigt. Besonders interessant im Hinblick auf die Fragestellung dieses Bandes nach genuin literarischen Konzepten von Identität scheint es, dass die literarische Form des Dramas, wie es Goethe hier ausgestaltet, als die wesentlich angemessenere Form der Darstellung der Dialektik von Identität und Differenz erscheint. Fichte will erklären, was Voraussetzung für alle Erklärung ist. Dass die diskursiv organisierte Sprache aber keinen Punkt der Voraussetzungslosigkeit kennt, wird erst die Lehre sein, die die Frühromantiker aus seiner Philosophie ziehen. 127 Die These, dass Fichtes immer neu ansetzenden Versuche der Darstellung seiner Philosophie daher letztlich als Ausdruck dieses Problems aufgefasst werden müssen, hat bereits Dieter Henrich aufgestellt. 128 Die Form, die Goethe wählt, ist dagegen dem zu beschreibenden Phänomen deswegen angemessener, weil das Drama als Form immer schon vom Punkt der Anagnoresis her konstruiert wurde. Wenn man an Sophokles’ Oedipus rex und Aristoteles’ Interpretation dieses Werkes denkt, ist damit nicht irgendeine Wiedererkennung gemeint, sondern die Wiederkennung, in der der Held sich selbst erkennt: der Punkt der Identität des Ich mit sich selbst - wenn auch nur in epistemischer Hinsicht. Das Drama ist die Form, die den unerreichbaren Punkt, den Fichte als absolutes Ich beschreibt, formal immer schon in Aussicht stellen muss. Der Vollzug des Dramas - und das gilt für Darstellung sowie für Rezep‐ 152 Michael Steinmetz und Dominik Zink tion - ist ein Streben nach Koinzidenz des Selbst mit sich selbst. Bei Sophokles ist es noch möglich, den Punkt der Selbsterkenntnis zu erreichen, obwohl er sicher für ihn nicht als Erlösung gefasst werden kann, denkt man allerdings an die aristotelische Katharsislehre hat für die Rezipienten die Anagnoresis sicher auch eine eschatologische Dimension. Bei Faust ist der Punkt der Selbstidentität lediglich die regulative Idee, die das Streben inauguriert. Das Drama zeigt sich jedoch genau durch diese Möglichkeit als die angemessene Form, die Spannung darzustellen, die den modernen Menschen ausmacht: Selbstsein wollen und müssen, aber nicht können. 153 Das Faustische Streben als Vermittlung von Identität und Differenz 1 Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1978-2000, Bd. VIII,1, S. 329. Identität und Entität: Zu Annette von Droste- Hülshoffs Novelle Die Judenbuche Sikander Singh, Saarbrücken I. Indem die literarische Landschaft seit der frühen Romantik auch als ein me‐ taphorischer Raum aufgefasst worden ist, in welchem sowohl Fragen von psychologischer als auch poetologischer Signifikanz durch die künstlerisch überformte Repräsentation verhandelt werden, sind zwar in ästhetischer wie programmatischer Hinsicht heterogene Spektren von Sinnzuweisungen zu konstatieren, in der deutschen Literatur ist der literarische Diskurs über den Landschaftsraum jedoch wesentlich auf den Gedanken der Nation bezogen: im ausgehenden 18. Jahrhundert auf den Versuch einer Überwindung des spätzeitlichen Partikularismus des Alten Reiches und im beginnenden 19. Jahr‐ hundert auf die Erlangung einer nationalen Einheit der deutschen Staaten. Auch wurde im Prozess dieser Literarisierung des landschaftlichen Raumes schon sehr bald die Idee des Herkommens, der Heimat und, damit verbunden, der landsmannschaftlichen Zugehörigkeit in den Vordergrund gerückt. In diesem literatur- und auch kulturgeschichtlichen Kontext ist jenes Buch über Westfalen zu verstehen, an dem Annette von Droste-Hülshoff seit den späten 1830er Jahren arbeitete. So berichtet sie in einem Brief an Christoph Bernhard Schlüter aus dem Dezember 1838 von ihrer Absicht, „den Zustand unseres Vaterlands, wie ich ihn noch in frühster Jugend gekannt, und die Sitten und Eigenthümlichkeiten seiner Bewohner zum Stoff meiner nächsten Arbeit zu wählen“. 1 Wie Esther Kilchmann zusammenfasst, war „ein in Inhalt und Form an‐ spruchsvolles Buch“ geplant, „in dem in loser Rahmung topografische und eth‐ nografische Beschreibungen und Beobachtungen, Dokumentationen von Sitten und Gebräuchen, historische Episoden, Sagen und Erzählungen“ Platz finden 2 Esther Kilchmann: Das Westfalen-Projekt. In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Hrsg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin und Boston/ MA, S. 490-497, hier S. 490. 3 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. IX,1, S. 214. 4 Ebd., S. 356. 5 Vgl. hierzu auch die mit Zitaten aus den Schriften Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herders und August Wilhelm Ifflands belegte Definition im Deutschen Wörterbuch: „schriftwerk, worin die sitten eines gröszeren kreises von personen, einer landschaft, einer zeit dargestellt sind“. ( Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1954, Bd. XVI, Sp. 1250) 6 Folgt man den Datumsangaben des Textes, so ergibt sich zudem, dass der Tod des am „Vorabend[] des Weihnachtsfestes“ 1788 (Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe [Anm. 1], Bd. V,1, S. 35) nach B. Zurückgekehrten, im Herbst 1789 erfolgt sein muss. Zum Problem der Datierung vgl. ebd. Bd. V,2, S. 246f. sollten. 2 Das Vorhaben wurde zwar nicht umgesetzt, allerdings entstanden einige Texte im Hinblick auf das Werk, zu denen auch die Die Judenbuche gehört, die Annette von Droste-Hülshoff im Jahr 1842 im Morgenblatt für gebildete Leser veröffentlicht hat. Im März 1841 berichtet die Schriftstellerin, ebenfalls in einer Korrespondenz mit Schlüter: Sie wissen wohl, Professorchen, daß ich jetzt ernstlich willens bin ein ellenlanges Buch im Geschmacke von Bracebridge-Hall [die episodische Romanerzählung des Amerikaners Washington Irving], auf Westphalen angewendet, zu schreiben, wo auch die bewußte Erzählung von dem erschlagenen Juden hinein kömmt? 3 Und in einem auf den 12. September 1842 datierten Schreiben an Levin Schü‐ cking berichtet sie, gegenüber Karl Simrock hervorgehoben zu haben, dass Die Judenbuche nur das „Bruchstück eines größeren Werks“ sei. 4 Wenngleich das Buch über Westfalen nicht realisiert worden ist, bezeugen einzelne Aspekte in der Anlage der Judenbuche die Einbettung der Novelle in den konzeptionellen Zusammenhang des größeren, kulturgeschichtlichen Werkes. So indiziert der Untertitel Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen, der auch nach der im Hinblick auf den Zeitschriftendruck erfolgten Ergänzung der Überschrift durch Hermann Hauff, den Redakteur des Morgenblatts, beibehalten worden ist, den Gedanken, die Lebenswirklichkeit der Landbevölkerung, ihre Gewohnheiten, Bräuche, Gepflogenheiten mit erzählerischen Mitteln darzu‐ stellen. 5 Diese historische Perspektive, welche die Novelle eröffnet, verweist auf ein weiter gefasstes, kulturgeschichtliches Anliegen, das Annette von Droste-Hüls‐ hoff mit dem Westfalen-Werk verfolgte: Die Handlung setzt 1738 (mit der Geburt Friedrich Mergels) ein und endet mit dem Jahr 1789 (mit der Rückkehr und dem Tod Johannes Niemands respektive Friedrich Mergels); 6 sie bildet damit 156 Sikander Singh 7 Ebd., Bd. V,1, S. 3. Vgl. hierzu Ulrich Gaier und Sabine Gross: Herausforderung der Literaturwissenschaft: Droste-Hülshoffs „Judenbuche“. Stuttgart 2018, S. 72-82. 8 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 3. 9 Ebd., S. 4. jene fünf Jahrzehnte vor der Französischen Revolution des Jahres 1789 ab, während derer auch in den deutschen Ländern der Widerspruch zwischen dem politischen Primat der Aristokratie und dem ökonomischen Vorrang des Bürgertums, der Widerstreit progressiver und konservativer gesellschaftlicher Modelle, säkularer und geistlicher Kräfte stetig sich ausweitete und somit bereits auf das nahe Ende des Alten Reiches vorausdeutete. Der progrediente Niedergang der feudalen Ordnung, seiner Normen und Werte wird schon zu Beginn der Novelle hervorgehoben. So betont der Erzähler, dass das Justizwesen während jener Epoche, da die Geschichte Friedrich Mergels sich ereignet hat, Symptome der Auflösung erkennen ließ, indem etwa „die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht“ unter dem Einfluss „höchst einfache[r] und häufig unzulängliche[r] Gesetze[]“ in „Verwirrung gerathen“ seien. 7 Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene that, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubigten Urkunden nachzuschlagen. 8 Die Judenbuche erzählt solchermaßen nicht nur die enigmatische Geschichte dreier ungeklärter Todesfälle; im Hinblick auf das geplante, kulturhistorische Werk thematisiert sie zugleich den Verlust gesellschaftlicher Ordnung und daraus folgend den Schwund individueller Orientierung. Indem das Persönliche in Konflikt mit dem Allgemeinen gerät, indem das „äußere Recht“ gegen das „innere Rechtsgefühl“ in Anspruch genommen wird, 9 wie der Erzähler einleitend (und damit sowohl auf Friedrich Mergel als auch auf Simon Semmler und die Blaukittel-Bande vorausdeutend) formuliert, zeigen jähe Widersprüche, wie das Gegeneinander von Gemeinsinn und Eigensinn, welche die dörfliche Welt der Judenbuche kennzeichnen, die Erosion von Identität. Das Alte Reich, das in der Novelle von der Person des Barons von S. und der von ihm ausgeübten Patrimonialgerichtsbarkeit verkörpert wird, besteht zwar noch fort, seine Institutionen erweisen sich jedoch bereits als ausgehöhlt und nicht mehr in der Lage, angemessen auf die Fehlentwicklungen einer sich verändernden Zeit zu reagieren. Daher vermag die Rechtsordnung dem fortge‐ setzten „Holz- und Jagdfrevel“ nichts entgegenzusetzen, weil diejenigen, die den 157 Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Lars Korten stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der „Vorabend der Französischen Revolution“ ein „ferner Spiegel der sozialen Krisenerscheinungen der 1840er Jahre sein“ kann (Lars Korten: Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen. In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Hrsg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin und Boston/ MA, S. 505-529, hier S. 525). Diebstahl zu verantworten haben, zugleich einen „Sitz in der Gerichtsstube“ haben. 10 Wie die zeitliche Verortung der Handlung auf die Jahre vor der Französischen Revolution auf die gesellschaftlichen Verwerfungen hinweist, die ein Thema des Erzählten bilden, so unterstreicht der Erzähler das exemplarische, über den re‐ gionalen Bezugsrahmen Hinausweisende der Handlung, indem er herausstellt, dass lediglich der „Menschenschlag“, der „unruhiger und unternehmender“ sei „als alle seine Nachbarn“, diese Entwicklungen „weit greller hervortreten“ ließe „als anderswo unter gleichen Umständen“. 11 Aus der Retrospektive der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sind die sozialen und ökonomischen, die wissenschaftlichen und technischen Umbrüche, die in den späten Jahren des Ancien Régime ebenso energisch vor‐ angetrieben wie vehement bekämpft wurden, auch als ein Vorspiel der fortwäh‐ renden Umwälzungen und Meinungskämpfe der eigenen Gegenwart gelesen worden. 12 Im Gegensatz aber zum Heiligen Römischen Reich, das in seiner Endphase die Vorstellung staatlicher Einheit zumindest noch repräsentierte, vermochte der Deutsche Bund in keiner Weise dem - nochmals radikalisierten - Nationalstaatsgedanken der Zeit zu genügen. Die Judenbuche zeichnet daher einerseits ein erzählerisches Bild der Vergangenheit des Fürstbistums Paderborn als Beitrag zu der geplanten Kulturgeschichte Westfalens, andererseits setzt das Werk die erzählte Geschichte in Bezug zu der Gegenwart seiner Entstehungszeit. Mit dieser Denkfigur umkreist die Novelle auch die Frage nach der Funktion staatlicher Verfasstheit und Stabilität für das Bewusstsein einer Gesellschaft und ihrer Glieder. In der Nachfolge der älteren Romantiker, die im Kontext der Koalitionskriege den politischen Diskurs über Heimat und Nation in den Bereich der Literatur überführten, und parallel mit Schriftstellern ihrer eigenen Generation spiegelt sich in dem Buchvorhaben der Annette von Droste-Hülshoff der Anspruch, das „gebirgigte Westphalen“ durch die literarische Darstellung im Gefüge der zeit‐ genössischen Heimat-Debatten zu verorten. Die Judenbuche, die als integraler Bestandteil dieses Werkes entstanden ist, diskutiert daher auch die Frage nach 158 Sikander Singh 13 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 3. dem möglichen Beitrag der Literatur zu dem Problem der Identitätsbestimmung im Spannungsfeld von Region und Nation, Geschichte und Gegenwart. Einleitend wird dieser Aspekt in der Novelle herausgestrichen, indem die Lage des Dorfes, dem Friedrich Mergel entstammt, sowohl in geographischer als auch in soziologischer Hinsicht beschrieben wird: Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte, und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte - kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. 13 Das Ländliche und provinziell Begrenzte kann als ein den Leser und seine Lektüre determinierender Hinweis auf die Mentalität der Bevölkerung gelesen werden, in deren Mitte der Protagonist aufwächst und vor deren Hintergrund sein Lebensweg überhaupt erst verstehbar wird. Und weil der Erzähler die Gleichwertigkeit der Verhältnisse mit denjenigen in anderen deutschen Ländern herausstellt, kann der Abschnitt zugleich im Hinblick auf das zu verhandelnde Thema von Schuld, Gerechtigkeit, Strafe und Sühne gedeutet werden. Diese beiden Lesarten (die soziologische und die ethische), die in der wissenschaftli‐ chen Auseinandersetzung mit der Judenbuche wiederholt erörtert worden sind, haben den Beitrag, den das Werk in Bezug auf Fragen der Identität leistet, in den Hintergrund treten lassen, die hier jedoch ebenfalls verhandelt wird: Denn die zitierte Passage zeichnet ebenso das Bild einer Gesellschaft nach, deren räumlicher wie sozialer Mobilität enge Grenzen gesetzt sind. Indirekt wird damit die Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu jener Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde, betont; während umgekehrt derjenige, welcher, wenn auch nur im geringen Maße („eine Reise von dreißig Meilen“), von Ort zu Ort reist, mit einer (das Kleine und Begrenzte der damaligen Lebenswelt akzentuierenden) Hyperbel mit dem homerischen Helden („Ulysses seiner Gegend“) gleichgesetzt wird, dessen Heimreise von Troja zu einer zehnjährigen Irrfahrt wurde. Die ambivalenten Folgen, die diese gesellschaftliche Organisationsform so‐ wohl für die Verfasstheit des Individuums als auch für die Selbstwahrnehmung der Gemeinschaft zeitigte, werden mit dem Hinweis auf „Mängel[] und Tu‐ genden“ sowie „Originalität und Beschränktheit“ ebenfalls thematisiert. Damit aber formuliert der Erzähler bereits in den ersten Abschnitten der Judenbuche 159 Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 11. ein Thema, das im Verlauf der Novelle fortgeführt und insbesondere im Hinblick auf die Anlage der Figuren variiert wird: das der Identität. II. Das Brüchige, das bei Zuschreibungskategorien wie dörfliche Gemeinschaft oder Heimat sichtbar wird, korrespondiert mit dem Rätselhaft-Unbestimm‐ baren, dem Fragwürdig-Unbestimmten, das in der Gestalt Friedrich Mergels, der zentralen Figur des Erzählwerkes, liegt. Als dieser nach dem Tod des Vaters seinen Oheim Simon kennenlernt, betont die Mutter, er habe „viel“ von diesem. 14 Demgegenüber stellt letzterer jedoch die Ähnlichkeit des Knaben mit dem verstorbenen Schwager wie mit ihm selbst heraus: Simon schien dieß zu überhören; er reckte den Hals zur Thüre hinaus. „Ei, da kommt der Gesell! Vaterssohn! er schlenkert gerade so mit den Armen wie dein seliger Mann. Und schau mal an! wahrhaftig, der Junge hat meine blonden Haare! “ 15 Die Feststellung wird einerseits unmittelbar im Anschluss an diese Figurenrede durch einen Kommentar des Erzählers zurückgenommen, der über Margreths Reaktion berichtet: „In der Mutter Züge kam ein heimliches, stolzes Lächeln; ihres Friedrichs blonde Locken und Simons röthliche Bürsten! “ 16 Andererseits wird geschildert, wie der Knabe gemeinsam mit dem Oheim das Elternhaus verlässt und die Mutter, ihm nachblickend konstatiere, dass „eine große Fami‐ lienähnlichkeit Beider nicht zu verkennen“ sei. 17 An dem Punkt, da Friedrich in den Fokus des erzählerischen Interesses rückt, wird seine äußere Erscheinung zwar im Rahmen eines Figurengesprächs thematisiert und durch den Erzähler kommentiert; der Eindruck, den der Leser hiervon jedoch mitnimmt, bleibt im Ungefähren: Betont Margreth die Ähnlichkeit ihres Sohnes mit ihrem Bruder, um dem Letzteren zu schmeicheln? Haben Friedrich und Simon blonde oder rote Haare? Ähnelt der Knabe seinem Vater oder erweist sich die mütterliche Linie als dominant? Diese Unbestimmtheiten, mit welchen der Leser konfrontiert wird, sind auch deshalb augenfällig, weil ihnen wenige Abschnitte zuvor eine ausnehmend de‐ taillierte Beschreibung der äußeren Erscheinung Simon Semmlers vorangestellt ist („ein kleiner, unruhiger, magerer Mann mit vor dem Kopf liegenden Fisch‐ 160 Sikander Singh 18 Ebd., S. 9. 19 Ulrich Gaier und Sabine Gross: Herausforderung der Literaturwissenschaft: Droste-Hülshoffs „Judenbuche“. Stuttgart 2018, S. 2. 20 „Die Einführung der Figur Johannes Niemand geschieht also ganz aus der Perspektive Margreths, und die zunächst dominante Nullfokalisierung macht einer internen Foka‐ lisierung Platz, mit der der Erzähler dann aber weniger mitteilt als die Figur selbst weiß oder zumindest ahnt: Das ‚dennoch -‘ markiert den Wechsel von erlebter Rede zu direkter Rede in dem Moment, in dem die Zweifel Margreths über die Identität des vor ihr Stehenden einer Gewissheit weichen könnten.“ (Korten: Die Judenbuche [Anm. 12], S. 519). 21 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 13f. 22 Ebd., S. 35. augen und überhaupt einem Gesicht wie ein Hecht“ 18 ). Solche Abweichungen und Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Figurenportraits zeigen somit jene gegenläufigen Haltungen auf, zwischen denen die Erzählhaltung fortwährend alterniert und die Ulrich Gaier und Sabine Gross jüngst als eine den Text kennzeichnende „Dimension von Ungewissheit“ beschrieben haben. 19 Zugleich indizieren sie, dass ein Gegenstand des erzähle‐ rischen Interesses die Frage der Identität ist. Indem, kurz nachdem Friedrich der Obhut des Bruders seiner Mutter über‐ geben worden ist, Johannes Niemand erscheint, der Schweinehirt des Oheims, dessen Ähnlichkeit mit ihrem Sohn sogar Margreth verwirrt und bestürzt, wird dieser Zugang zum Verständnis des Textes zusätzlich hervorgehoben. 20 So heißt es über ihre erste Begegnung mit dem Knaben, die in der Tenne ihres Hauses stattfindet: Margreth stand still; ihre Blicke wurden ängstlich. Der Knabe erschien ihr wie zusammengeschrumpft, auch seine Kleider waren nicht dieselben, nein, das war ihr Kind nicht! und dennoch - „Friedrich, Friedrich! “ rief sie. In der Schlafkammer klappte eine Schrankthür und der Gerufene trat hervor, in der einen Hand eine sogenannte Holzschenvioline, d. h. einen alten Holzschuh, mit drei bis vier zerschabten Geigensaiten überspannt, in der andern einen Bogen, ganz des Instruments würdig. So ging er gerade auf sein verkümmertes Spiegelbild zu, seinerseits mit einer Haltung bewußter Würde und Selbstständigkeit, die in diesem Augenblicke den Unterschied zwischen beiden sonst merkwürdig ähnlichen Knaben stark hervortreten ließ. 21 Die Verwechslung, die der Mutter beinahe unterläuft, ist auch als eine erzähle‐ rische Vorausdeutung auf den Schluss der Novelle zu lesen: Nachdem Friedrich „verschwunden“ ist und „Johannes Niemand, der arme unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit ihm“, 22 nachdem also ungeklärt bleibt, wer für den Tod des 161 Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche 23 Ebd. 24 „Die Identität des Heimkehrenden wird damit über die Entwicklungsstufen [die Genese des Textes] hin immer mehr verwischt, bis nur noch bloße Meinungen über seine Iden‐ tität vorliegen.“ (Hannes Fricke: Verschleierung der Struktur und Auflösung der Person: Nochmals zu Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 32/ 4 [1999], S. 309-324, hier S. 318f.) 25 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 36. 26 Ebd., S. 34. 27 Vgl. ebd., S. 42. Die Frage, auf welche Weise der Baron von S. zu diesem Schluss kommt, wird bei Gaier und Gross auch im Hinblick auf unterschiedliche, in der Forschung diskutierte Ansätze dargelegt. Vgl. Gaier und Gross: Herausforderung der Literaturwissenschaft (Anm. 19), S. 32-34. 28 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 42. Juden Aaron verantwortlich ist, kehrt einer der beiden Entwichenen zwar nach „acht-und-zwanzig Jahre[n]“ in das heimatliche Dorf zurück. 23 Die Identität des Heimkehrers bleibt jedoch unbestimmt. 24 Zunächst wird er „als Johannes Niemand erkannt“ und bestätigt zudem selbst, „daß er derselbe sey, der einst mit Friedrich Mergel entflohen“. 25 Am Ende jedoch glaubt der Gutsherr in dem Leichnam des an der „Judenbuche“ 26 Erhängten Friedrich Mergel zu erkennen. 27 Auch die den Abschluss der Judenbuche bildende Übersetzung der hebräischen Inschrift legt diese Folgerung nahe. Jenseits der Frage nach dem Schuldigen, die für den Baron von S. vorherr‐ schend ist („‚Es ist nicht recht, daß der Unschuldige für den Schuldigen leide […].‘“ 28 ), akzentuiert die Novelle durch diese Momente des Unbestimmten und letztlich auch Unbestimmbaren zwar ihren Charakter als Kriminalgeschichte; zugleich diskutiert sie jedoch das Problem der Integrität des Individuums, das in der Folge der philosophischen Diskurse seit René Descartes auch zu einem Gegenstand literarischer Fiktionen geworden ist: Die Bewusstwerdung seiner Selbst, die sich beim neuzeitlichen Menschen vollzieht, impliziert die gleichzeitige Infragestellung dieser Kategorie. Diese dialektische Denkfigur indiziert die Frage der Bezogenheit auf und grundsätzlicher: der Relation des Subjekts zu der belebten sowie unbelebten Welt. Die Spiegelung, Spaltung oder - je nach Textverständnis - auch Verdopplung Friedrich Mergels verorten die Judenbuche in den Zusammenhang dieses Dis‐ kurses, weshalb Christoph Kleinschmidt über die Novelle konstatiert: Das soziale Individuum bildet den Konvergenzpunkt widersprüchlicher Einflüsse und wird zum Symbol einer zerrissenen Gesellschaft. Dass dabei zwischen Schuld und Sühne kein eindeutiges Kongruenzverhältnis besteht, liegt daran, dass die Judenbuche keine monokausalen Erklärungen abliefern will. Gemeinsam mit den zahlreichen Doppelkonfigurationen des Textes, die wie leichte Verschiebungen funktionieren, 162 Sikander Singh 29 Christoph Kleinschmidt: Literarische Identitätsverhandlungen. In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Hrsg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin und Boston/ MA 2018, S. 625. 30 Korten: Die Judenbuche (Anm. 12), S. 520. 31 Vgl. hierzu Fricke: Verschleierung (Anm. 24), S. 309f. 32 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 5. 33 Ebd. 34 „Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagt haben: ‚Eine Frau, die von ihrem Manne übel behandelt wird, ist dumm und taugt nicht: wenn’s mir schlecht geht, so sagt, es liege an mir.‘ Der Erfolg zeigte leider, daß sie ihre Kräfte überschätzt hatte.“ (Ebd., S. 5f.) wird deutlich, dass der Identitätskomplex in der Erzählung dekonstruktiv gestaltet ist. Anhand der Lebensgeschichte Friedrich Mergels skizziert der Text den Versuch und das Scheitern der Selbstermächtigung des Subjekts. 29 Auch ist Friedrich Mergel bereits durch seinen Nachnamen als eine unsichere, beschädigte Existenz ausgewiesen, da Mergel „eine aus Ton und Kalk beste‐ hende, brüchige Erde“ bezeichnet. 30 Und im Namen seines Doppelgängers und Spiegelbildes tritt ebenfalls das Moment des Zweideutigen hervor, mit dem bereits die Odyssee spielte. 31 III. Die Brüchigkeit personaler Identität wird in der Figur Margreth Semmlers zwar auf andere Weise, aber darum nicht weniger deutlich problematisiert. Ihre Haltung und ihr Charakter unterliegen im Verlauf der Geschehnisse, von denen die Novelle erzählt, einem Wandel, der Widersprüche ihrer Person und Inkongruenzen ihres Wesens in dem Sinne der von Christoph Kleinschmidt aufgezeigten Deutungsperspektive offenlegt: Eingeführt wird sie als eine „brave, anständige Person“, deren in späten Jahren geschlossene Ehe mit dem „armse‐ lige[n] Wittwer“ Hermann Mergel die dörfliche Gemeinschaft überrascht. 32 Indem sie „in ihrer Jugend“ als „eine Dorfschönheit“ galt, indem sie „sehr klug und wirthlich geachtet“ und „dabei nicht unvermögend“ ist, erscheint es, wie der Erzähler betont, „[j]edem unbegreiflich“, warum sie auf die Werbung des heruntergekommenen und - so lautet die von der Erzählinstanz in diesem Zusammenhang wiedergegebene allgemeine Einschätzung - zu „den gänzlich verkommenen Subjekten“ zu rechnenden Mergel eingeht. 33 Auch erweist sich ihre anfänglich selbstgewisse Erwartung, positiven Ein‐ fluss auf das Verhalten und die Lebensweise ihres Gatten ausüben zu können, als vergeblich. 34 Die Haltung, die sie in der Konsequenz einer langen Folge enttäu‐ 163 Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche 35 Ebd., S. 6. 36 Ebd., S. 26. 37 Vgl. etwa Gertrud Bauer-Pickar: The „Bauernhochzeit“ in Droste’s „Die Judenbuche“. A Contemporary Reading. In: Leslie Bodi [u. a.] (Hrsg.): Weltbürger - Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank. Frankfurt am Main [u. a.] 1995, S. 68-93 oder Rieb, Carmen: »Ich kann nichts davon oder dazu tun«. Zur Sylvia Schmitz-Burgard: Überhörtes Leid - ungeahndete Verbrechen. Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“. In: Droste-Jahrbuch 8 (2011), S. 63-103. 38 Vgl. hierzu auch Gaier und Gross: Herausforderung der Literaturwissenschaft (Anm. 19), S. 117. 39 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 37. schender Erfahrungen entwickelt, wird in einem Nebensatz zwar eher beiläufig, aber gleichwohl bezeichnend als „ein Herz[] voll Gram“ gekennzeichnet. 35 Nachdem ihr Mann zu Tode gekommen ist und ihr Sohn unter dem Einfluss ihres Bruders ein ebenso leichtsinniges wie erregbares Naturell entwickelt, verliert sie zunehmend die Kontrolle über ihr Leben: Diese unglückliche Wendung seines Charakters war indessen das Werk mehrerer Jahre, in denen man bemerkte, daß Margreth immer stiller über ihren Sohn ward und allmählig in einen Zustand der Verkommenheit versank, den man früher bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie wurde scheu, saumselig, sogar unordentlich, und Manche meinten, ihr Kopf habe gelitten. 36 Der solchermaßen sich vollziehende soziale Niedergang Margreths und die Veränderung ihres Auftretens kann einerseits, wie in der Forschung wiederholt geschehen, als Folge äußerer Lebensumstände interpretiert werden, 37 anderer‐ seits jedoch als Resultat jener ambivalenten Natur gedeutet werden, die auch in den fragwürdigen Umständen zum Ausdruck kommt, die das Ende ihres Mannes im winterlichen Brederholz begleiten. So lässt der Erzähler die Frage unbeantwortet, ob der Tod Hermann Mergels nicht ein Mord war, der durch die unterlassene Hilfeleistung seiner Ehefrau herbeigeführt oder durch ihr Schweigen verschleiert worden ist. 38 Der Verfall ihrer Person setzt sich, nach dem Verschwinden ihres Sohnes und Johannes Niemands, fort. Der Erzähler berichtet über sie: Margreth hatte länger gelebt, aber in völliger Geistesdumpfheit. Die Leute im Dorf waren es müde geworden, ihr beizustehen, da sie alles verkommen ließ, was man ihr gab, wie es die Art der Menschen ist, gerade die Hülflosesten zu verlassen, solche, bei denen der Beistand nicht nachhaltig wirkt und die der Hülfe immer gleich bedürftig bleiben. Dennoch hatte sie nicht eigentlich Noth gelitten; die Gutsherrschaft sorgte sehr für sie, schickte ihr täglich Essen und ließ ihr auch ärztliche Behandlung zukommen, als ihr kümmerlicher Zustand in völlige Abzehrung übergegangen war. 39 164 Sikander Singh 40 Gaier und Gross: Herausforderung der Literaturwissenschaft (Anm. 19), S. 22-24. 41 Fricke: Verschleierung (Anm. 24), S. 309. Wie in der Gestalt Friedrich Mergels liegt auch in der Figur Margreth Semmlers ein Moment wesenhafter Ambiguität. Außerdem akzentuiert der Erzähler dieses Fehlen von Eindeutigkeit durch unklare Bezüge, polyvalente Schilderungen sowie Aussagen oder Beobachtungen, die nicht aus seiner eigenen Anschauung beigesteuert werden, sondern in der Dorfgemeinschaft verbreitete Einschät‐ zungen oder Hörensagen wiedergeben. 40 Was solchermaßen den rätselhaften Charakter der Kriminalgeschichte, die erzählt wird, hervorhebt, erweist sich vor diesem Hintergrund gelesen zugleich als ein Hinweis auf das Thema der Novelle: die Unmöglichkeit valider Zuschreibungen durch die Erosion von Identität. IV. Die Judenbuche erzählt somit nicht nur von der Auflösung gesellschaftlicher Ordnungen, Bindungen und Strukturen sowie dem daraus resultierenden Zerfall und endlichen Verlust von Identität; in der Ungewissheit über die Person des Protagonisten und seiner Mutter thematisiert die Novelle auch jenen selbstreflexiven, fortwährenden Prozess des Individuums, der spezifisch für die Moderne ist. Annette von Droste-Hülshoffs erzählerischer Beitrag zu dem geplanten Buch über Westfalen ist daher auch als eine Betrachtung über die historisch bedingte, progrediente Abnahme von Identität zu lesen. Bereits Hannes Fricke hat in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass die „Verunklarung der Bezüge“ als „Programm des Werkes“ aufzufassen sei, das sich einer „schlüssige[n] Auflö‐ sung der sich aufdrängenden Fragen“ verweigere. 41 Seine Deutungsperspektive auf die Judenbuche bleibt allerdings weiterhin auf die für die Kriminalgeschichte konstitutive Frage nach der Aufklärung eines Verbrechens bezogen. Das Unbestimmte, und letztlich Unbestimmbare, das im Hinblick auf die handelnden Figuren wie den Handlungsort zu beobachten ist, ist zwar, so hat dieser Beitrag gezeigt, ein Mittel der Spannungssteigerung im Hinblick auf die zu erzählende Kriminalhandlung; in Verbindung mit der dem Werk bei‐ gelegten Gattungsbezeichnung „Sittengemälde“ verweist das Dunkle, Zweifel‐ hafte, Ambivalente aber wesentlich auf das Erkenntnisinteresse der Novelle: Die Judenbuche zeichnet die Verfasstheit einer Region in einer Epoche nach, deren soziale und ökonomische Entwicklung überlieferte Vorstellungen, tradierte Lebensweisen und Rollenmuster hat fragwürdig werden lassen. Im Verlauf der durch den Rationalismus angestoßenen Veränderungen und Dynamisierungen, 165 Identität und Entität: Zu Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche 42 Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 1), Bd. V,1, S. 12. verlieren tradierte Zuschreibungen an Verlässlichkeit und endlich auch an Gültigkeit. Annette von Droste-Hülshoffs Werk diskutiert die Dialektik dieser Entwick‐ lung, indem sie dem Gedanken der Selbstermächtigung des Menschen die Erfahrung des Individuums entgegenstellt, jene personalen wie kollektiven Eigenschaften, Relationen und Zuschreibungen einzubüßen, welche Identität konstituieren. Die solchermaßen bezeichnete Krise des Subjekts spiegelt sich in der Novelle schließlich auch in der Darstellung des Landschaftsraumes. Indem Friedrich Mergel dem Oheim in dessen Haus folgt, verlieren selbst Wald und Feld an Kontur, so dass die Gestalten, die sie durchschreiten, zu Sinnbildern werden für den Verlust jeder Bestimmung: So schritten Beide rüstig voran, Simon mit dem festen Schritt des abgehärteten Wanderers, Friedrich schwankend und wie im Traum. Es kam ihm vor, als ob Alles sich bewegte und die Bäume und den einzelnen Mondstrahlen bald zusammen, bald von einander schwankten. 42 166 Sikander Singh 1 Vgl. Berthold Auerbach: Des Schlossbauers Vefele. In: Berthold Auerbach: Dorfge‐ schichten. Hrsg. von Hermann Bausinger, Tübingen 2011, S. 25-69; Berthold Auerbach: Der Tolpatsch. In: ebd., S. 150-184. 2 Vgl. David Sorkin: The Invisible Community. Emancipation, Secular Culture, and Jewish Identity in the Writings of Berthold Auerbach. In: Jehuda Reinharz / Walter Schatzberg (Hrsg.): The Jewish Response to German Culture. From the Enlightment to the Second World War. Hannover, London 1985, S. 100-119, hier S. 109. 3 Vgl. Anita Bunyan: „Volksliteratur“ und nationale Identität. Zu kritischen Schriften Berthold Auerbachs. In: Martina Lauster (Hrsg.): Deutschland und der europäische Zeitgeist. Kosmopolitische Dimensionen in der Literatur des Vormärz. Bielefeld 1994, S. 63-89, hier S. 64. 4 Vgl. Hermann Bausinger: Ein schwäbisches Dorf wird weltberühmt. Eine Einleitung. In: Auerbach: Dorfgeschichten (Anm. 1), S. 7-24, hier S. 10. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Edward McInnes: Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ and the Quest for German Realism in the 1840s. In: Mark G. Ward (Hrsg.): Perspectives on German Realist Writing. Eight Essays. Lewiston, New York 1995, S. 95-111, hier S. 101. Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus bei Berthold Auerbach Rahel Stennes, Basel Das hinkende Vefele, das sich ihrer Dorfgemeinschaft überlegen fühlt, und der tolpatschige Aloys, der verzweifelt seinen Platz in ebenjener Dorfgemeinschaft sucht und ihn schließlich findet, indem er eine Kopie des Dorfes in Übersee gründet, - beide sind typische Figuren aus Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten. 1 Die Erzählungen konzentrieren sich auf die Darstellung des Kleinen, des Besonderen; 2 ab 1843 episodenweise erschienen, 3 schildern sie das Leben der Bewohner und Bewohnerinnen des schwäbischen Dorfes Nord‐ stetten, in dem der Autor selbst aufgewachsen ist. 4 Seine Erzählungen sollen, obschon sie als Gesamtdarstellungen des einfachen Lebens entworfen sind, weder Hässliches, 5 noch Grausames enthalten, vielmehr sind sie komponiert, Schöpferisches und Gutes zusammenzutragen. 6 Ziel seiner Erzählungen ist 7 Renate Mace: Die Darstellung und Bewertung mündlichen Wissens in Auerbachs Dorfgeschichte „Die Frau Professorin“. In: Paul Goetsch (Hrsg.): Mündliches Wissen in der neuzeitlichen Literatur. Tübingen 1990, S. 37-49, hier S. 39. 8 Ebd. 9 Vgl. Bunyan: „Volksliteratur“ (Anm. 3), S. 67. 10 Vgl. McInnes: Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ (Anm. 6), S. 109. 11 Hans-Joachim Hahn: Nester an der Eisenbahn. Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach. In: Roland Berbig / Dirk Göttsche (Hrsg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin 2013, S. 79-97, hier S. 79. 12 Ebd. 13 Vgl. Sorkin: The Invisible Community (Anm. 2), S. 101-102. 14 Jana Kittelmann: „Das ist der deutsche Wald“. Raum der Natur als Raum der Nation im Werk Berthold Auerbachs. In: Roland Berbig / Dirk Göttsche (Hrsg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin 2013, S. 123-144, hier S. 135. 15 Vgl. Sorkin: The Invisible Community (Anm. 2), S. 116. nicht die „detailgetreue[ ] Abbildung der Realität“, 7 sondern die „Mythisierung des Ortes“. 8 Ebenso wie bei seinen Zeitgenossen ist auch bei Auerbach die Steigerung von Freiheit als liberaler Grundgedanke wesentlich: 9 Seinen Figuren sind allesamt eine gewisse Unabhängigkeit, ein gewisser Eifer und persönliches wie auch gesellschaftliches Verantwortungsgefühl zu eigen. 10 Hierbei treten in den Geschichten immer wieder „zentrale Themen des bürgerlichen Realismus wie etwa das Verhältnis von Großem und Kleinem“ 11 hervor, die darüber hinaus „der Konstruktion und Bestätigung der deutschen Nation“ 12 dienen. In seinen Dorfgeschichten bearbeitet Auerbach das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, von Religiösem und Vernünftigem, von Altem und Neuem. In seinen poetologischen und politischen Schriften Das Judenthum und die neueste Literatur von 1836, Der gebildete Bürger aus dem Jahre 1843 und Schrift und Volk von 1846 entwickelt Auerbach ein Konzept des deutschen Nationalismus, den er wiederum unabdingbar mit der eigenen jüdischen Iden‐ tität verknüpft. Seine kritischen Schriften sind Zeugnis eines emanzipativen Denkens, das durch einen festen Glauben an Fortschritt und an eine deutsche Nation begleitet ist. Hervorgerufen durch seine jüdische Identität, die bei aller Akkulturation in die deutsche Gesellschaft eine wichtige Rolle in Auerbachs Leben einnahm, sind Gedanken über das Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und Minderheitengruppen in seinem Werk allgegenwärtig. 13 Gleichermaßen durchziehen die politischen Diskussionen um die jüdische Emanzipationsbewe‐ gung und die Einheit der deutschen Nation seine Schriften. 14 Die aus diesen Diskussionen entstehenden Werte sind für Auerbachs in seinem theoretischen und schriftstellerischen Werk verhandelten Begriff des Volkes als eine Gemein‐ schaft zentral. 15 Dabei motiviert sein Emanzipationsverständnis sein Konzept 168 Rahel Stennes 16 Vgl. Hans-Otto Horch: Gustav Freytag und Berthold Auerbach. Eine repräsentative deutsch-jüdische Schriftstellerfreundschaft im 19. Jahrhundert. Mit unveröffentlichten Briefen beider Autoren. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 26 (1985), S. 154-174, hier S. 155. 17 Vgl. Sorkin: The Invisible Community (Anm. 2), S. 110. 18 Auerbach: Des Schlossbauers Vefele (Anm. 1), S. 27. von Volk und Nation, sodass sich die Weltsicht einer „gesamtbürgerlichen und menschheitsgeschichtlichen Emanzipationsbewegung“ 16 in seinem Verständnis von der Koexistenz von Judentum und deutscher Nation widerspiegelt. Bei Auerbach sind die Begriffe Emanzipation, Volk und Nation weniger an eine bestimmte Region als eine bestimmte Qualität und Struktur einer Menschen‐ gruppe, eine Gemeinschaft gebunden. Nationalismus und Kosmopolitismus stellen dabei Komplemente dar, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. 17 In seinem theoretischen Werk verdichtet sich sein Verständnis von Judentum und Deutschheit zu einem Konzept der Nation, geschaffen durch individuelle und kollektive Emanzipation, das sich wiederum in seinen Erzählungen aus dem Kleinen der Dorfgemeinschaft entwickelt. Obwohl die Hauptfiguren seiner Dorfgeschichten nicht jüdisch sind, spiegeln sich seine Überlegungen über die Rolle des Judentums und die Frage der jüdischen Emanzipationsbewegung auch in ihnen wider. In meinen folgenden Lektüren wird deutlich werden, dass und auf welche Weise sich die beiden Figuren Vefele und Aloys in einem jeweils sehr unterschiedlichen Emanzipationsprozess bewegen, und wie dieser strukturell Auerbachs Vorstellungen über die Stellung des Judentums und der jüdischen Bevölkerung in der deutschen, nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft gleicht. Wechselwirkungen zwischen Individuum und Dorfgemeinschaft Das Schicksal Vefeles wird in der Erzählung Des Schlossbauers Vefele gleich zu Anfang vorweggenommen. Halb aus Mitleid, halb aus Schadenfreude bemerkte fast jeder, wenn von ihm [Vefele; Anm. RS] die Rede war, es sei eben doch eine ‚Gezeichnete‘, denn es hatte den kurzen Fuß von der Mutter geerbt. Mit dem Ausdruck ‚Gezeichnet‘ verbindet sich ein schlimmer Nebenbegriff; man nennt die Roten, Buckligen, Einäugigen, Hinkenden so und will damit sagen, dass Gott sie damit gezeichnet habe, weil sie gewöhnlich gefährliche und ungutmütige Menschen seien. Weil man nun solche Unglückliche spöttisch und argwöhnisch behandelt, werden sie meist schalkhaft, bitter und hinter‐ listig; das anfänglich ungerechte Vorurteil ruft die Folgen hervor, die man dann als Bestätigung für das Vorurteil annimmt. 18 169 Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus 19 Ebd. S. 25. 20 Vgl. ebd., S. 42, 45, 64. 21 Ebd., S. 40. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 42. 24 Ebd., S. 56. 25 Ebd., S. 54. 26 Ebd., S. 28. Der Erzähler deutet hier an, wie sehr individuelles menschliches Verhalten vom Verhalten der Umwelt konstituiert wird. Das Allgemeine, in diesem Fall die dörfliche Gesellschaft, die in Vefele vor allem den gezeichneten Spross ihres Widersachers sieht, wirkt auf das Besondere, das hinkende, freundliche Mädchen, das wiederum die Tochter des wütenden „alte[n] Zahn[s]“ 19 ist. Das Besondere gelangt wiederum in das Allgemeine, indem Vefele sämtliche Hei‐ ratsanträge, die sie über die Jahre erreichen, ausschlägt. 20 Das Urteil der Umwelt macht die Verurteilte erst zu dem, was ein solches Urteil auch verdient hätte. Das Allgemeine als Ebene über der dörflichen Gemeinschaft bedingt darüber hinaus Vefeles Verhalten in Form einer allgemeinen, religiösen Wahrheit. Da sie davon überzeugt ist, dass Gott „die Sünde der Väter an den Kindern“ 21 ahnde, entschließt sie sich, nicht zu heiraten, vor allem da es „am meisten von einer bösen Ehe“ 22 gelte. Als Vefele sich aber doch entscheidet zu heiraten, ereilt sie das Unglück, das sie wiederum still und duldsam erträgt. Darüber hinaus erkennt Vefele das wahre Gut der dörflichen Gesellschaft erst, nachdem sie aus ihr herausgetreten ist und ihr der Wiedereintritt versperrt wird. Erst als ihr Ehemann Brönner ihr die dörfliche Kleidung verbietet, erkennt sie ihre Zugehörigkeit zum Bauernvolk, das sie vorher als „zu roh“ 23 abgeurteilt hat. Die städtische Kleidung wiederum kommt ihr wie eine Verkleidung vor, in der sie sich nicht wohl fühlt. 24 Durch das Heraustreten aus ihrem Umfeld nimmt sie dieses neu wahr. Zugleich ist sie nicht in der Lage, ihren eigenen Hochmut zu erkennen, und gibt sich auch gegenüber Wendel, dem Knecht der Familie, der wiederum heimlich in Vefele verliebt ist, nach wie vor als höhergestellt, indem sie seine Einwände gegenüber Brönner nicht gelten lässt: „Innerlich aber sagte es sich: ‚Es ist doch grässlich, wie dumm und hartnäckig so ein Bauer ist‘, und es freute sich, darüber hinausgekommen zu sein. -“. 25 Die Wechselwirkung von außen und innen sowie vom Allgemeinem und Besonderem ist in dieser Erzählung auch auf struktureller Ebene eingelöst. Des Schlossbauers Vefele schildert auf der einen Seite gesellschaftliche Prozesse innerhalb der Dorfbevölkerung, in der der Stand einer Person und ihr Verhalten in Verhältnis zueinanderstehen: Des Schlossbauers Verhalten ist schließlich nur Anlass für Ärger, da er selbst kein „Graf[ ], Baron oder Freiherr[ ]“ 26 ist. Nach 170 Rahel Stennes 27 Ebd., S. 53. 28 Vgl. Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel’s. In: Berthold Auerbach: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Marcus Twellmann. Göttingen 2014, S. 7-173, hier S. 79. 29 Ebd., S. 80. 30 Auerbach: Der Tolpatsch (Anm. 1), S. 163. seinem Tode wird „das Schlossgut […] wieder von einem Baron angekauft, und die Bauern bezahlten nach wie vor ohne Widerrede die alten Herrenab‐ gaben.“ 27 So werden einem städtischen Lesepublikum Konfliktlinien in der dörflichen Gemeinschaft nahegebracht, während zugleich in didaktischer Weise auf die Dorfgemeinschaft selbst Einfluss genommen werden soll. Besonders die allgemeine Aussage über die „Gezeichneten“ und Vefeles Schicksal am Ende sind an Auerbachs Konzept der Volkserziehung anknüpfbar. Im Sinne einer Volksdichtung mit der Aufgabe, das aus der Masse hervortretende Individuum in den Blick zu nehmen, 28 wird anhand der Figur Vefele „das freie Individuum mit Welt- und Menschenleben“ 29 dargestellt. Vefele trifft frei ihre Entscheidung über eine mögliche Heirat, trifft diese jedoch zwingend in Beziehung zu ihrer Umwelt. In dieser Erzählung wird die Umwelt allerdings kaum vom Handeln der Einzelnen beeinflusst; das dörfliche und städtische Leben, das Allgemeine geht weiterhin ohne Einschränkung seinen üblichen Gang. Vefele verlässt die Gemeinschaft, tritt jedoch nicht in eine andere ein, sondern verschwindet. Während Vefeles Entscheidungen fast vollständig von ihrer Umwelt beein‐ flusst sind (diese aber gleichzeitig kaum Auswirkungen auf das Dorf haben), ist die Figur des Aloys aus der Dorfgeschichte Der Tolpatsch in der Lage, nach der misslungenen Anpassung freie individuelle Entscheidungen zu treffen. Die Erzählung schildert den Entwicklungsprozess eines Jungen, der sich aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen fühlt und im Bestreben, den Ausschlussgrund zu beheben, sein eigenes Wesen verliert. Nachdem ihm Marannele, die er umwirbt, geraten hat, „ein flinker Bursche“ 30 wie sein Erzfeind Jörgli zu werden, setzt er alles daran, diesem in seinem Verhalten nachzueifern. Zu diesem Zweck passt er sich dem Soldatenleben und -habitus an und lässt sein altes Leben hinter sich. Marannele wiederum erkennt ihn nicht wieder und bricht ihr Versprechen, niemand anderen zu heiraten, bis Aloys wieder zurück in Nordstetten sei. Für Aloys bricht eine Welt zusammen und er entschließt sich, dem Militär den Rücken zu kehren, um nach Amerika auszuwandern und dort ein anderes Mädchen zu heiraten. Auch wenn er dort seine Heimat vermisst und Marannele nicht vergisst, tritt er mit diesem letzten Schritt zum ersten Mal selbstständig und zu eigenem Nutzen aus seiner Situation heraus. Nur durch die vorherrschenden Sticheleien in seinem Dorf und die Worte Maranneles hatte 171 Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus 31 Ebd., S. 182. 32 Ebd., S. 176. 33 Vgl. Berthold Auerbach: Der Brief aus Amerika. In: Auerbach: Dorfgeschichten (Anm. 1), S. 185-200. 34 Vgl. Auerbach: Der Tolpatsch (Anm. 1), S. 183-184. er sich überhaupt entschlossen, sich dem Infanterieregiment anzuschließen. Er hatte, im Glauben, so werden zu müssen, wie sein Konkurrent Jörgli, damit Marannele sich für ihn entscheidet, seine Lebensumstände völlig verändert. Als die erwarteten Umstände nicht eintreffen, revidiert er seine Entscheidung. Erst diese Niederlage macht ihn frei und versetzt ihn in die Lage, herauszufinden, was er wirklich möchte, nämlich den Soldatenstand wieder verlassen: „[D]a verfluchte er seinen Vorsatz, dass er zum Militär gegangen war und sich so noch auf sechs Jahre an die Heimat gebunden hatte. Er wäre gern fort, fort, so weit als es ginge.“ 31 Nachdem nun klar ist, dass er Marannele nicht heiraten wird, hält ihn nichts mehr im Dorf. Durch glückliche Umstände erhält er die Möglichkeit, seinen Heimatort zu verlassen und in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Auerbachs Konzept einer Wechselwirkung zwischen Allgemeinem und Be‐ sonderem wird auch in dieser Erzählung umgesetzt. Das Allgemeine (die Dorfgemeinschaft) wirkt auf das Besondere (Aloys) ein, indem es ihm ein Gefühl der Ausgeschlossenheit und des Handlungsdrucks vermittelt. Das Besondere wiederum wirkt auf die Dorfgemeinschaft ein, indem Aloys sein tolpatschiges Wesen überwindet und nach Niederlage um Niederlage seinen eigenen Weg geht. Die Kinder im Ort erkennen ihn kaum wieder, als er im Heimaturlaub mit seiner Uniform gerade - und nicht tollpatschig - durch das Dorf stolziert. 32 Sein Auswandern nach Amerika hat ebenfalls Auswirkungen auf das Dorf, die in einer weiteren Dorfgeschichte, Der Brief aus Amerika, näher verhandelt werden. 33 Durch sein Heraus- und Wiedereintreten in die Dorfgemeinschaft, das Kennenlernen einer anderen, äußeren Welt gelangt Aloys zu seinem wahren Inneren und wird in die Lage versetzt, freie individuelle Entscheidungen zu treffen. Durch diese Emanzipation aus seinem ursprünglichen Zustand kann er aus der Rolle des „Tolpatschen“ austreten und eine Existenz an einem anderen Ort aufbauen. Zwar wirkt die getroffene Entscheidung auch wie ein letzter Ausweg aus seiner Misere, doch ist er gerade so im Stande, seine Heimat und auch Marannele weiterhin mit Achtung und Liebe in Erinnerung zu behalten. 34 Aloys erkennt durch Maranneles Abweisung, dass er nicht den erwarteten Platz in der Dorfgemeinschaft einnehmen kann und entschließt sich also, diese zu verlassen, um andernorts einen neuen Platz einzunehmen. Wie ihm das gelingt, wird ebenfalls im Brief aus Amerika beschrieben. 172 Rahel Stennes 35 Auerbach: Schrift und Volk (Anm. 28), S. 17. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd. 39 Ebd., S. 23. 40 Ebd., S. 77. Auerbachs Fortschrittsdenken, wie er es in seinen kritischen Schriften aus‐ gearbeitet hat, ist mithin ebenso in seinen Dorfgeschichten erkennbar. Jede einzelne richtet den Blick auf das aus der Masse hervortretende Individuum und setzt es gleichzeitig in Kontext mit dessen direkter und überregionaler Umwelt. Auerbachs Verständnis vom Volk als Menschengruppe, die ihren Blick aus der individuellen alltäglichen Lebenserfahrung und der „unmittelbaren Gegenwart“ 35 auf die innere und äußere Welt richtet, durchzieht seine Konzep‐ tion der Dorfgemeinschaft in seinen Dorfgeschichten. „Die Grundsätze und Ansichten“ 36 Vefeles und Aloys’ sind nicht systematisch verknüpft, sondern „stellen sich als Volksweisheit lose neben einander“. 37 Sie sind nur bedingt in der Lage, allgemeine Kausalzusammenhänge zu erkennen und nachzuvollziehen. 38 Nach Auerbach sind diese Figuren besondere Ausprägungen des Volkstums und sollen in seiner Dichtung realistisch dargestellt werden. Die Bedingung, aus dem eigenen gewohnten Umfeld hinauszutreten, um das Eigene intensiver betrachten zu können, löst Auerbach nicht nur in der eigenen Biographie ein, sondern auch textimmanent, indem Vefele und Aloys durch ihren Austritt aus der gewohnten Gesellschaft und (in einem Fall) Wiedereintritt in dieselbe zu wichtigen und folgenschweren Erkenntnissen über ihr eigenes Wesen und ihren Willen gelangen. Da das Dorfleben bei Auerbach als „lebendiges Abbild der ersten Stufe menschlicher und menschheitlicher Entwicklung“ 39 figuriert, beginnen die Geschichten stets im Dorf, damit sich die Figuren anschließend auf ihrem eigenen Wege selbstbefreiend entwickeln können, oftmals außerhalb des Dorfes, allerdings auf verschiedene Weise wieder in es hineinwirkend. „Ein dichteri‐ sches Werk […] muss vom Boden der gegebenen Verhältnisse aus, von eigener Schöpferkraft getragen, sich über das Vorhandene hinausschwingen und in sich selbst einen Abschluss finden.“ 40 Aloys kann seine eigene Persönlichkeit geltend machen, ohne dass dies auf Kosten der Gemeinschaft geht. Da Vefele ebendiese Bedingung nicht einhalten kann, weil sie ihr Leben nach Brönners Verschwinden nur mit Hilfe anderer fortführen kann, verlässt sie die Gemein‐ schaft des Dorfes und ihrer Familie. Somit schildern Auerbachs Dorfgeschichten eindrücklich die inneren und äußeren Konflikte der dörflichen Gemeinschaft, 173 Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus 41 Ebd., S. 78. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Vgl. Berthold Auerbach: Der gebildete Bürger. Buch für den denkenden Mittelstand. Karlsruhe 1843, S. 88. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 89-90. bilden aber keineswegs eine Aneinanderreihung „bloße[r] Dissonanzen“ 41 . Als politische Poesie verbinden sie „die Regungen des Zeitalters mit dem ewig Menschlichen“, 42 sodass ein „Kunstwerk“ entsteht, „das mehr als ein bloß vorübergehendes Culturmoment“ 43 sei. Emanzipation des Individuums, der Dorfgemeinschaft, der religiösen Gemeinschaft, der Nation Die parallele Darstellung der jüdischen und menschheitlichen Emanzipations‐ geschichte in Das Judenthum und die neueste Literatur, verknüpft mit dem Konzept einer Volksliteratur, die aus dem Volk in das Volk wirken soll, lässt Rückschlüsse auf Auerbachs Ideal einer deutschen Nation zu. Da sich das Volkstum aus dem Besonderen der Individuen und dem Allgemeinen des Volkes zusammensetzt, mit dem Eigenen und dem Fremden gemeinsam wirkt, verwebt sich so ein interdependentes Verhältnis zwischen Außen und Innen, zwischen dem Kleinen und dem Großen zu einer deutschen Nation. Die Liebe zu ebenjener deutschen Nation, 44 die Liebe zur deutschen Sprache und zum deutschen Boden, „der durch die Gebeine unserer Vorfahren, die darin schlummern, geheiligt ist“, 45 bilden dabei wesentliche Elemente ebenjener Vaterlandsliebe. Volkserziehung und Bildung, zwei wesentliche Ziele von Auerbachs Schreiben, können nicht nur als die wichtigsten Bestandteile zur menschheitlichen und individuellen Selbstbefreiung, sondern in gleicher Weise als Teile seines Konzepts der Vater‐ landsliebe gesehen werden. Deutsche Sprache und deutsche Literatur, gespickt mit Wissen und Überlieferungen des Vergangenen sind Kern seines als eman‐ zipatorisch zu verstehenden Nationalismus: Die wahre Kraft und die wahre Bildung muß zuerst von uns selber von einem jeden Einzelnen ausgehen, indem wir uns bemühen, das Beste zu leisten, was wir vermögen, bringen wir die Gesammtheit, das Vaterland, die Nation zu der höheren entsprechenden Stufe, denn die persönliche Tüchtigkeit der Einzelnen wird und muß sich in der Wirksamkeit für das Allgemeine bewähren. 46 174 Rahel Stennes 47 Vgl. Berthold Auerbach: Das Judenthum und die neueste Literatur. Kritischer Versuch. In: Berthold Auerbach: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Marcus Twellmann. Göttingen 2014, S. 177-210, hier S. 178f. 48 Ebd., S. 180. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 183. Beide hier näher beleuchteten Dorfgeschichten sind Erzählungen der individu‐ ellen Entwicklung und Selbstbefreiung auf der Ebene einer Person innerhalb einer Dorfgemeinschaft. Jede dieser eigenständigen Entwicklungen wirkt wie‐ derum auf die Dorfgemeinschaft und deren alltägliche Abläufe zurück. So ist auch die Geschichte des Judentums in Deutschland die Geschichte eines indivi‐ duellen Weges zur Freiheit in Denken und Handeln - immer im Wechsel mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Das Ziel einer individuellen Befreiung aus der sozialen Gemeinschaft heraus, wie es in den Dorfgeschichten narrativ umgesetzt wird, ohne diese Gemeinschaft jedoch vollkommen abzustoßen, nimmt Auerbach in seiner Schrift Das Judenthum und die neueste Literatur von 1836 vorweg. Seiner zunächst entworfenen Teleologie der Menschheitsge‐ schichte ordnet er die Geschichte der jüdischen Emanzipation anschließend bei. Zwar kritisiert er in seiner Rückschau die Aufklärung als zu eng für den menschlichen Geist, 47 doch gesteht er ihr zu, aus der Lebensrealität der Menschen entstanden zu sein und so Wirkung auf dasselbe zu haben. Seinem erklärten Anspruch, ein Gleichgewicht aus Transzendentem und Weltlichem zu bilden, werden für ihn nur die Humanisten mit ihrem Bildungsideal einer „vernünftige[n] Volkserziehung“ 48 gerecht. In der in Deutschland nun neu entstehenden Literatur sollten Dichter und Philosophen, laut Auerbach, „unter das Prisma der höhern Anschauung gestellt, zurückstrahlen aus ihren Gebilden, wenn die Gegenwart ihr von Hoffnung und Schmerz bethräntes Auge darauf richten sollte“. 49 Die neue Literatur sollte sich also, indem sie sich dem widmet, was ist, dem „bethränten Auge“ strahlenden Trost spenden. Dass damit zugleich ein expliziter Fortschrittsgedanke verknüpft wird, liegt auf der Hand und wird verschiedentlich formuliert: [W]ir können nicht mehr zurück, wir müssen vorwärts; es gilt also, die alten Formen zu durchdringen, den neuen Geist mit dem alten zu vermählen, und so nach Gestalt und Gehalt eine je zeitgemäße Reorganisation und frische Wiedergeburt der positiven Religion zu erwirken. Der neue Geist darf nicht in die alten Formen gezwängt werden, der neue Geist schafft sich stets auch eine neue Form, nur muß sein Urgrund in den höheren Gebieten der Geschichte und der menschlichen Natur sich lagern. 50 175 Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus 51 Ebd., S. 184. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 185. 54 Ebd., S. 186 (Hervorhebung im Original). 55 Ebd. 56 Vgl. ebd., S. 202. Altes und Neues soll sich zu einer neuen Form verbinden und die menschliche Gesellschaft auf diese Weise voranbringen. In der Messiasidee des Judentums sieht Auerbach ein „stetiges Durchbilden und Verallgemeinern der religiösen Grundwahrheiten, mit Durchbrechung aller durch Zeit und Ort gegebenen Beschränkungen.“ 51 Daher enthalte das Judentum eine „stetige geschichtliche Fortbildung“. 52 Nach dem Stadium einer bloßen Religionsgemeinschaft, die ein besonderes Verhältnis zur Wissenschaft eingegangen sei, habe sich das Judentum, das in den „Ghetto’s lebendig eingesargt“ 53 war, in die Privatheit zurückgezogen. In der Folge seien religiöse Ausbildung und Wissenschaft im Judentum immer mehr zusammengerückt. Die äußerlichen Schranken mußten also vorerst niedersinken, wenn wahrheitsge‐ mäße erweiterte Intelligenz und Moral dem J u d e n t h u m wieder indicirt werden sollten! Die geknebelte Kraft des J u d e n t h u m s mußte ihrer schmachvollen Fesseln befreit, die Juden aus dem erniedrigenden Stande der Paria’s erlöst werden. 54 Ebendiese Fähigkeit zur Erlösung aus dem unterdrückten, ausgeschlossenen Status spricht Auerbach der neuen Zeit zu, ausgelöst durch Moses Mendelssohn, der das Judentum in diesem Sinne als die „Idee des geoffenbarten Deismus“ 55 erkannt habe. Die Juden sollten nun in das Staatswesen integriert werden und auf diese Weise den tradierten Sonderstatus der Parias hinter sich lassen, wobei die Forderung nach der richtigen Vermischung aus Transzendentem und Vernünftigem eine wesentliche Rolle einnimmt. 56 Auerbachs Vorstellungen über das Verhältnis des Judentums zur neueren Literatur des Realismus ist insgesamt von der Grundannahme geprägt, dass sich die Menschheit in einem sukzessiven Selbstbefreiungs- und Entwicklungspro‐ zess befinde, der sich zum einen an der allgemeinen Geschichte, zum anderen speziell an der jüdischen Geschichte nachzeichnen lasse. Die Besinnung auf das Gewesene in Zusammenhang mit einem klaren Blick auf die Gegenwart befähigt, nach Auerbach, den Menschen zum Fortschritt, zur Entwicklung des Individuums sowie des Kollektivs, wobei die Entfaltung der eigenen Persön‐ lichkeit nicht zu Lasten derjenigen des Kollektivs fallen darf, umgekehrt aber auch das Kollektiv ebenjene persönliche Freiheit fördern muss. Im Sinne einer deutschen Identität, die der jüdischen Identität weiterhin Raum gibt, entwirft 176 Rahel Stennes 57 Auerbach: Der gebildete Bürger (Anm. 44), S. 90. 58 Auerbach: Schrift und Volk (Anm. 28), S. 66. 59 Ebd. er seine Poetik. Das Besondere findet im Allgemeinen seinen Platz, wirkt auf dieses ein, während das Allgemeine das Besondere ebenso neu konstituiert. Die sukzessive Selbstbefreiung, die Emanzipation des jüdischen Volks vollzieht sich aus dieser Perspektive parallel zum menschheitlichen Fortschritt. Ebenso ist Auerbachs Konzept der Literatur aus dem Volk, das er in Schrift und Volk (1846) ausarbeitet, ein besonderes Verhältnis von Individuum und Kollektiv, von eigener und äußerer Welt zu eigen: Literatur aus dem Volk könne nur produzieren, wer aus sich selbst herausgetreten und wieder zurückgekehrt sei. So wie die Aufklärer aus dem Leben heraus und schließlich wieder in es hineingegriffen hätten, greife auch der Volksdichter seinen Stoff aus dem dörflichen Leben heraus und wirke mittels seiner Verschriftlichung wieder in dasselbe hinein. In beiden Schriften spricht Auerbach mithin dem Großen und Kleinen, dem Allgemeinen und Besonderen ein spezielles Verhältnis untereinander zu. Volksliteratur soll ebenjenes Verhältnis am Beispiel der aus der Gemeinschaft hervortretenden Figur zur Darstellung bringen. Das Individuum muss das Bekannte verlassen, um einen Blick von außen darauf erlangen zu können. Mit dem Wiedereintritt in die Gemeinschaft, kann es - ohne dabei die Entwicklung des Kollektivs einzuschränken - seine eigene Person, seinen eigenen Willen entwickeln. Diese Schilderung darf jedoch keine bloße Ansammlung von Un‐ stimmigkeiten im dörflichen Leben sein, sie muss das Schlechte in ästhetisierter Form zeigen und dem Individuum die Möglichkeit geben, sich selbst von außen und im Weltzusammenhang zu sehen und gesehen zu werden. In dieser Denkfigur, die politische und literarische Praxis ins Verhältnis setzt, kann daher ebenso Raum für eine deutsche Entwicklung und schließlich eine menschheitsgeschichtliche Emanzipation entstehen: [D]ie freie und selbstständige Haltung und Ausbildung der Nation wird im großen Ganzen der gesammten Menschheit betrachtet, dann wieder zu einer einzelnen ausge‐ bildeten Persönlichkeit, die in einem fruchtbaren und nothwendigen Wechselverkehr mit anderen Nationen tritt, und die ganze Menschenfamilie steigt immer höher vereint zu ihrem göttlichen Ziele. 57 Volksliteratur hat bei Auerbach überdies eine tradierende Aufgabe, nämlich jene, die „Formen des Volksthums in festen freien Gestaltungen für das nationale Bewußtsein zu erhalten“. 58 Gleichzeitig soll sie von diesem Nationalbewusst‐ sein aus „Anknüpfungen für neue Bildungen“ 59 geben. Somit stehen auch 177 Nation durch Emanzipation: Jüdische Identität und deutscher Nationalismus 60 Auerbach: Der gebildete Bürger (Anm. 44), S. 89. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Siehe hierzu: Sorkin: The Invisible Community (Anm. 2), S. 110. Volksliteratur und Nationalismus in wechselseitiger Verbindung. „Das nationale Selbstgefühl“ 60 wiederum schließt diejenige „National- und Vaterlandsliebe“ 61 aus, die durch Gegenkampf gegen andere Nationen geweckt und genährt werden muß, sondern die gesunde, frische, echtmenschliche, in der wir Deutschen uns als die untheilbaren Glieder des einen und einigen Nationalkörpers betrachten, das ist eine hohe und edle Kraft der Seele; unser Einzelleben gewinnt in ihr eine höhere, sichtbare, allgemeine Vereinigung, aus der die Wohlfahrt des Einzelnen wie der Gesammtheit hervorgehen muß. 62 In seinen Dorfgeschichten gehen genau diese „Einzelleben“ durch „allgemeine Vereinigung“ in der „Gesammtheit“ auf. In Auerbachs Fortschrittsdenken ent‐ wickelt sich die Menschheit aus ihrer Unmündigkeit mittels humanistischer Volkserziehung, Verbindung von Neuem und Altem, von Weltlichem und Transzendentem zu einer freien Gemeinschaft aus Nationen, die allesamt frei und gleichberechtigt nebeneinander stehen. 63 Nation durch Emanzipation, Selbstbefreiung durch Volkserziehung, Volkser‐ ziehung durch Volksliteratur. Die Literatur aus dem Volk und diejenige für das Volk im Sinne Berthold Auerbachs stehen am Anfang einer Entwicklungskette, die schließlich in einem „Nationalkörper“ kulminieren soll, der wiederum aus freien Individuen besteht. Sein universales Verständnis von Emanzipation, die sich am einzelnen Menschen in einer Gemeinschaft, an einer Gemeinschaft in einem größeren regionalen und nationalen Kontext, an einer Nation in der Weltgemeinschaft vollzieht, durchzieht Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten kontinuierlich, die damit zugleich ein Exempel volkserzieh‐ ender Literatur liefern. Das letzte Ziel seiner Volkserziehung stellt allerdings die Bildung eines deutschen Nationalbewusstseins dar, das die regionalen Identitäten einschließt und sich in der Wechselwirkung mit anderen Nationen und Nationalitäten fortentwickelt. 178 Rahel Stennes Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern: Identitätskrisen in Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik) und Stifters Der Condor Gudrun Heidemann, Łódź Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik) von 1846 kann als Paradebeispiel für eine topographisch ausgelöste Identitätskrise gelten. Wenn dem Nebel der Neva ein Doppelgänger des Abschreibers Goljadkin entsteigt, so spiegelt diese Identitätsspaltung wesentlich auch die Ambiguität der damaligen Hauptstadt Petersburg als westlich ausgerichtetes ‚Fenster zur Welt‘. Goljadkin nimmt als Kopist prototypisch einen niedrigen Rang in der strengen Beamtenhierar‐ chie ein; entsprechend sind seine (Ab)Wege in der urbanen Kulissenwelt von Selbstver(un)sicherungen geprägt. Auch cross-mediale Effekte des handschrift‐ lichen Kopierens und Spiegelns sowie die rangüberschreitende Hinwendung zum weiblichen Geschlecht erschüttern als Grenzüberschreitungen die Selbst‐ verortung. In Stifters Der Condor von 1840 löst das Verlassen des heimischen Territoriums in die Höhe eine Identitätskrise aus, die sich in der ebenso individuell wie gesellschaftlich lesbaren Ohnmacht Cornelias zeigt. Die neuen Seherfahrungen aus der Vogelperspektive reflektieren Ansichten aus der Malerei, zitieren Vor‐ gängertexte und können angesichts des weiblichen Blicks, der sich als Über‐ blendung aus der männlichen Froschperspektive Gustavs im Fensterrahmen generiert, als cross-gender betrachtet werden. Nach der (Selbst)Entgrenzung begegnen sich beide zwar auf heimischem Boden in körperlicher Intimität, jedoch medial vermittelt über das gemeinsame Malen, was mit einer optischen Täuschung korrespondiert. Neben Identitätskrisen durch fremdes Terrain sind den Erzählungen mediale Relationen gemeinsam, in denen sich Agens und Patiens - u. a. als Produzent: in und Rezipient: in von (Schrift)Grafiken - abwechseln, was gleichfalls destabili‐ sierend wirkt. 1 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main 1990, S. 476. 2 Vgl. ebd., S. 471. 3 Thomas Macho: Mit sich allein. In: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI. München 2000, S. 27-44; hier S. 43f. 4 Vgl. Lachmann: Gedächtnis (Anm. 1), S. 475. 5 Fedor M. Dostoevskij: Dvojnik. In: V. V. Vinogradov (Hrsg.): Dostoevskij, F. M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Tom 1. Leningrad 1927, S. 109-229; hier S. 109 und Fjodor M. Dostojewskij: Der Doppelgänger. Eine Petersburger Dichtung. Aus dem Russischen von Elisabeth K. Rashin. München 1986, S. 10. In dieser Ausgabe wird der Doppelgänger Goljädkin genannt, in der wissenschaftlichen Transliteration lautet der Name Goljadkin. Selbstkopie und Fremdspiegelung im fremden (Schrift)Raum Als „Schreibtischgespenst“ und „Schreibtischtäter“ 1 bezeichnet Renate Lach‐ mann den Doppelgänger angesichts der russischen Literaturtradition und kon‐ kret in Bezug auf Fedor M. Dostoevskijs 1846 erschienenes Petersburger Poem Dvojnik (Der Doppelgänger), jedoch sieht sie den Doppelgänger nicht nur an das Medium der Schrift gebunden. Schließlich tauche der Doppelgänger in Dostoevskijs Priključenija g. Goljadkina (Abenteuer des Herrn Goljadkin) - so der ursprüngliche Untertitel 2 - auf dem nächtlichen Heimweg auf. Bezeichnen‐ derweise handelt es sich bei dem Titularrat Goljadkin allerdings um einen Kopisten, dessen unbefriedigendes Abschreiben phantasmagorische Erschei‐ nungen heraufbeschwört. Auf dessen Selbstbegegnung beim (Ab-)Schreiben trifft zu, was Thomas Macho konstatiert: „Schreibe deinem Nächsten wie dir selbst. Psychotechniken (‚Meditationen‘ in buchstäblicher Bedeutung) sind Medientechniken (und umgekehrt) [… D]er Schreibende spaltet sich auf in Autor und Adressat seiner Texte.“ 3 Als Titularrat gehört Goljadkin zu den untersten Rängen der strengen Petersburger Beamtenhierarchie. Seine Aufgabe besteht im Abschreiben von Akten, d. h. einem handschriftlichen Kopieren, das bereits auf sein eigenes Verdopplungsschicksal verweist. Die Existenz des Doppelgängers gibt nicht nur den beteiligten Protagonist: innen, sondern bis zur letzten Zeile auch der Leserschaft Rätsel auf. Jedoch existieren einige Anhaltspunkte, die auf das usurpatorische Auftreten des zugleich er- und verwünschten 4 zweiten Ichs hinweisen - darunter Goljadkins Selbstver(un)sicherung in Spiegeln und sein (vermeintlicher) Briefwechsel mit dem zweiten Goljadkin. Bezeichnenderweise setzt Dostoevskijs Poem mit dem allmählichen Erwachen des Helden ein. Zunächst befindet er sich noch eine Weile im Halbschlaf, was seine zunehmende geistige Umnachtung bereits hier ankündigt. Erst die vertraute Umgebung und das „с […] кислой гримасою“ („mit […] einer griesgrämigen Grimasse“) 5 hineinblickende Petersburger Herbstwetter machen ihm bewusst, dass er sich 180 Gudrun Heidemann 6 Ebd. und ebd., S. 10. 7 Vgl. Lachmann: Gedächtnis (Anm. 1), S. 472. 8 Dostoevskij: Dvojnik (Anm. 5), S. 110 und Dostojewskij: Doppelgänger (Anm. 5), S. 10. 9 Vgl. Nikolaj V. Gogol’: Nos. In: Ė. S. Smirnov (Hrsg.): Nikolaj V. Gogol’: Sobranie sočinenij v devjati tomach. Tom 3, Moskva 1994, S. 38-60 und Nikolaj Gogol: Die Nase. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Stuttgart 1997. 10 Dostoevskij: Dvojnik (Anm. 5), S. 110 und Dostojewskij: Doppelgänger (Anm. 5), S. 10. 11 Lachmann: Gedächtnis (Anm. 1), S. 475. 12 Dostoevskij: Dvojnik (Anm. 5), S. 109 und Dostojewskij: Doppelgänger (Anm. 5), S. 10. „в столице“ („in der Hauptstadt“) 6 befindet. Sie assoziiert die mit Puškin einset‐ zende prätextuelle Bedeutung einer „phantasmagorische[n], synkretische[n], in sich gespaltene[n] Stadt als Folie des Spaltungs- und Doppelungsgeschehens“ 7 und einer hiermit einhergehenden omnipräsenten Fremdheit. Nach kurzem Zögern springt der Titularrat aus dem Bett, um sogleich zu einem Spiegel zu stürzen: Вот бы штука была, […] если б я сегодня манкировал в чем-нибудь, […] если б […], например, […] прыщик там какой-нибудь вскочил посторонний (Das wäre ein Ding, […] wenn mir heute irgendetwas fehlen würde, […] wenn sich zum Beispiel […] irgendein fremdes Pickelchen dort gebildet hätte). 8 Goljadkin scheint ein ähnliches Schicksal zu fürchten wie der Kollegienassessor Kovalev in Gogol’s 1836 erschienener Novelle Nos (Die Nase), der beim mor‐ gendlichen Blick in den Spiegel eben seine Nase vermisst. 9 Ihre Abspaltung kündigte sich am Vorabend durch ein Pickelchen an, das Dostoevskijs Titularrat in seinem Spiegelbild nicht entdeckt: „Покамест все идет хорошо.“ („[V]or‐ läufig geht alles gut.“) 10 Noch stimmen - in den Kategorien des Schriftbilds formuliert - abgebildeter Signifikant und abbildendes Signifikat überein, denn, wie Lachmann festhält: Das Spiegel-Double reflektiert eine bestimmte Quelle, fungiert als immer wieder abrufbarer Signifikant für dasselbe Signifikat (d. h., die Spiegelbildbeziehung zu seinem Original ist eine Eins-zu-eins-Beziehung, sie läßt keine Mehrdeutigkeit zu). Der Spiegel entwirft den Betrachter, der Betrachter sieht sich als Betrachter seiner selbst. 11 In der von Goljadkin erwähnten Vorläufigkeit („покамест“) kündigt sich jedoch die bevorstehende Erschütterung seiner Ich-Konstitution bereits an. Noch zeugt die spiegelbildliche Selbstbetrachtung zwar von einer ungebrochenen Selbstidentität, einer Deckungsgleichheit zwischen Ich-Abbild und Betrachter. Allerdings erahnt der „подслеповат[ый]“ („kurzsichtige“) 12 Held schon Ab‐ 181 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 13 Vgl. ebd., S. 142f. und ebd., S. 68ff. 14 Hierzu merkt Christof Forderer in seiner Untersuchung Ich-Eklipsen an: „Goljadkin, in seiner Existenz insgesamt, spürt sich aufgedeckt als ein Wesen, das nichts anderes ist als Anlaß zu Scham, Ekel und Gespött.“ (Christof Forderer: Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800. Stuttgart, Weimar 1999, S. 123). 15 Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm. München 1971, S. 124f. 16 Lachmann ist der Meinung, dass „Goljadkin der Ältere nicht sich selbst - wie Narziß - für seinen Nächsten hält, sondern sich mit der Imago seines Nächsten, desjenigen, der seine sozialen Wunschvorstellungen verwirklicht, eins glaubt“ (Lachmann: Gedächtnis [Anm. 1], S. 475). Laut Forderer handelt es sich dagegen bei dem zweiten Ich um einen „Usurpator, der nicht nur nach seiner beruflichen Stellung greift, sondern ihm auch […] den Platz im eigenen Ich bestreitet. Ein Zustand gänzlicher Undefiniertheit droht“ (Forderer: Ich-Eklipsen [Anm. 14], S. 122). 17 Dostoevskij: Dvojnik (Anm. 5), S. 174 und Dostojewskij: Doppelgänger (Anm. 5), S. 119f. weichungen von dieser Normalität, wovon der indirekte Verweis auf den doppelgängerischen Leidensgenossen in Gogol’s Novelle zeugt. Nach dem Erscheinen seines Doppelgängers im herbstlichen Nebel an der überschwemmten Neva 13 wird Goljadkin in Krisensituationen mehrfach von seinem Spiegelbild getäuscht. In Gefühlszuständen voller Scham und Unsicher‐ heit 14 bemerkt er seine spiegelbildliche Fehlinterpretation dadurch, dass er anstelle von Spiegelglas seinen Doppelgänger in einer Tür erkennt. Auf dieser räumlichen Schwelle 15 verdichtet sich zum einen die psychische Krise, zum anderen spiegelt sie allegorisch und buchstäblich die gebrochene Selbstidentität des Helden wider. Goljadkin ersetzt seinen gespiegelten Signifikanten durch den Doppelgänger. 16 Eine derartige Verwechslung widerfährt dem Titularrat etwa in einem Restaurant, in dem er für elf Pasteten anstelle von einer - seines Erachtens verzehrten - zahlen muss. Goljadkins Verunsicherung klärt sich durch folgende Entdeckung auf: „B дверях в соседнюю комнату […], которые, между прочим, герой наш принимал доселе за зеркало, стоял […] другой господин Голядкин.“ („In der Tür zum Nachbarzimmer […], die unser Held vorhin als Spiegelglas ansah, stand der andere Herr Goljädkin.“) 17 Wenn Goljadkin anschließend in den Händen seines Doppelgängers eine Pas‐ tete bemerkt, schlussfolgert er, dass dieser für das peinliche Missverständnis verantwortlich ist. Eine ähnliche Spiegeltäuschung erlebt Goljadkin, wenn er zu Besuch bei einem Vorgesetzten, also auf fremdem Terrain eine ihm bekannte Person nicht identifizieren kann: „В дверях, которые герой наш принимал доселе за зеркало, […], появился он, - известно кто, […] знакомый и друг господина Голядкина.“ („In den Türen, die unser Held bis jetzt für einen Spiegel angesehen hatte, […] erschien er - wir wissen, wer: der Bekannte und 182 Gudrun Heidemann 18 Ebd., S. 216 und ebd., S. 186. 19 Forderer, der Dostoevskijs Poem unter dem Aspekt der „Doppelgängerspaltung und modernen Lebenswelt“ betrachtet, stellt hierzu fest: „Bei seinem ersten Auftritt im 5. Kapitel ist der Doppelgänger noch ein unheimliches Gespenst nach Muster der Schau‐ erromantik. […] Im 6. Kapitel, am nächsten Morgen, ist der Doppelgänger plötzlich eine sozial genau definierte Figur: er ist ein neu eingestellter Arbeitskollege im Büro, wo Goljadkin als Beamter beschäftigt ist. Von nun an ist er weniger unheimlich als konkret bedrohlich: er tritt auf als Konkurrent, der zielstrebig, ehrgeizig, praktische Raffinesse bezeugend, Goljadkin aus seiner beruflichen Position zu verdrängen versucht. Aus dem Doppelgänger als unfaßbarem Gespenst ist der Doppelgänger als bürgerlicher Arbeitskollege geworden“ (Forderer: Ich-Eklipsen (Anm. 14), S. 110). Dieser Wechsel hängt damit zusammen, dass Dostoevskijs Petersburger Dopplungstext eine Misch‐ form zwischen erzähltem Phantasma und phantastischem Realismus darstellt (vgl. Lachmann: Gedächtnis (Anm. 1), S. 474). Zurückzuführen ist dies zum einen auf den Einfluss der Spätromantik, zum anderen auf den Frührealismus der ‚Naturalen Schule‘. 20 Alexander Wöll verneint zwar die Existenz des Doppelgängers (vgl. Alexander Wöll: Doppelgänger - Steinmonument, Spiegelschrift und Usurpation in der russischen Literatur, Frankfurt/ M. 1999, S. 149), jedoch lässt Dostoevskij durch die mehrdeutigen Erzählerworte und -kommentare meines Erachtens bewusst offen, ob der Doppelgänger nicht doch als zweiter Goljadkin einer gespaltenen Persönlichkeit existiert und damit nicht der ‚bloßen‘ Phantasie entspringt. Dieser Effekt kommt insbesondere durch die narrativen Interferenzen von Erzähl- und Personenrede zustande (vgl. Bachtin: Probleme (Anm. 15); Wolf Schmid: „Die Interferenz von Erzähltext und Personentext als Faktor ästhetischer Wirksamkeit in Dostoevskijs Doppelgänger“. In: Russian Literature 4 (1973), S. 100-113). 21 Tanja Zimmermann: Der Doppelgänger als intermediale Figur - Wahnsinn als interme‐ diales Verfahren. Zu Nabokovs Otčajanie/ Despair. In: Wiener Slawistischer Almanach 47 (2001), S. 237-280. 22 Schmid: Interferenz (Anm. 20), S. 100-113. Freund Goljädkins.“) 18 Sein Doppelgänger taucht damit nicht nur im an die romantische Literaturtradition anknüpfenden Novembernebel auf, 19 sondern entspringt bedeutend mehrfach Spiegelbildern, die sich als Türen entpuppen. Dabei erweist sich die Ich-Projektion im Spiegel als ein Irrtum, aus dem der buchstäbliche Irrsinn des Titularrats, die Entdeckung eines anderen, neuen Signifikanten resultiert. 20 Ausgerechnet das gemeinhin identitätsstiftende Ab‐ bildungsmedium verwandelt sich hierbei in ein Trugbild, das eine Art Kopfkino der Doppelgängerei auslöst. Der Spiegel dient hier als intermediale Ich-Projek‐ tion, die Tanja Zimmermann zufolge „die Verselbständigung des Doppelgängers als Über-setzung bzw. Re-produktion ermöglicht.“ 21 Goljadkins hieraus resul‐ tierende Doppelgängerei wird narrativ insbesondere durch die „Interferenz von Erzähltext und Personentext“, 22 d. h. durch die mehrdeutigen, polyphonen Äußerungen des Helden und der Erzählinstanz gestützt. Bezeichnenderweise tritt Goljadkin mit seinem Doppelgänger brieflich in Kontakt. Dass auch die Existenz dieses Schriftwechsels fraglich bleibt, deutet 183 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 23 Dostoevskij: Dvojnik (Anm. 5), S. 180 und Dostojewskij: Doppelgänger (Anm. 5), S. 129. 24 Ebd. und ebd. 25 Vgl. ebd., S. 175 und ebd., S. 122. 26 Vgl. ebd., S. 181f. und ebd., S. 131f. 27 Vgl. ebd., S. 181 und ebd., S. 131. 28 Ebd., S. 188 und ebd., S. 142. 29 Vgl. ebd., S. 208 und ebd., S. 173. sich zunächst im Verhalten seines Dieners Petruška an, der als Bote fungiert und dessen Name auf eine schrill klingende Kasperlepuppe im russischen Volkstheater des 18. Jahrhunderts hinweist. So schweigt dieser und lacht, wenn er einen an Goljadkins Doppelgänger gerichteten Brief wegbringen soll. Von seinem Auftrag kommt er angetrunken zurück, verleugnet zuerst den Brief „Какое письмо? и не было никакого письма, и не видал я никакого письма“ („Welcher Brief ? Es war ja kein Brief da, ich habe keinen Brief gesehen“), 23 um nach zahlreichen Ermahnungen zu bestätigen: „Отдал его, отдал письмо“ („Ich habe ihn abgegeben, den Brief habe ich abgegeben“). 24 In seinem ersten Brief richtet sich Goljadkin an seinen Namensvetter mit dem Vorwurf, ihm durch die Aneignung von Schriftstücken seines Namens und seiner Person schaden zu wollen. Hierbei belegt Goljadkin seine Signifikanten mit mehreren Signifikaten, wenn er etwa bittet, seinen Brief nicht als Beleidigung aufzufassen. 25 Das erwartete Antwortschreiben kommt als Rücksendung aus der Kanzlei und wurde von einem ehemaligen Nachbarn und Kollegen Goljadkins verfasst. 26 Er verspricht, den vorangegangen Brief an die ‚gewisse Person‘ weiterzuleiten. 27 Dieses Schreiben beantwortet der Titularrat und schreibt später einen weiteren Brief an seinen Doppelgänger, den er selbst einem Kanzleischreiber mit der Bitte um Weiterleitung übergibt. Hierin stellt er die Duellforderung: „Либо вы, либо я, а вместе нам невозможно! “ („Entweder Sie oder ich, aber wir beide zugleich - das ist unmöglich! “) 28 Anschließend nehmen die Wahnvorstellungen des Titularrats derart zu, dass er ein von dem letzten Übermittler zurückerhal‐ tenes Schreiben als Liebesbrief der Staatsratstochter Klara liest, worin eine rangüberschreitende Hinwendung zum weiblichen Geschlecht zum Ausdruck kommt. Kurz darauf entpuppt sich dieses Schriftstück als ein Medizinfläschchen in seiner Tasche. 29 Goljadkins schriftliche Kontaktaufnahme mit seinem Doppel‐ gänger misslingt also, denn er erhält keine Antwort, sondern andere Briefe oder liest seinen eigenen immer wieder mit anderem Inhalt. Im letztgenannten Fall haben wir es mit einer Art Mehrfachbelegung von Signifikanten zu tun, die den Wunsch- und Wahnvorstellungen des Titularrats entspricht. Ebenso wie sich die Spiegel zunehmend als unzuverlässiges Medium der Ich-Projektion ent‐ 184 Gudrun Heidemann 30 Vgl. Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2000, S. 13-26. 31 Aleida Assmann: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Jörg Huber / Alois Martin Müller (Hrsg.): Raum und Verfahren. Interventionen 2. Basel 1993, S. 133-155; hier S. 133. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 155. 34 Clemens Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Berlin 2015, S. 9. puppen, kommen den geschriebenen Worten trügerische Signifikanten zu. Diese Fehllektüre resultiert auch aus Goljadkins Unfähigkeit zur eigenen Schriftpro‐ duktion: Er ist zwar in der Lage, unter Aufsicht Akten zu kopieren, beim selbstständigen Schreiben scheitert er dagegen an Bedeutungszuweisungen. Anders als in der gemeinschaftsstiftenden Amtsstube wird ihm bei der iso‐ lierten (Selbst-)Korrespondenz das ‚Medium der Einsamkeit‘ 30 zum Verhängnis. Metadiskursiv deuten diese schriftbedingten Spiegelbild-Abgründe auf eine weitere Selbstreflexion, die auf Dostoevskijs Schriftstellerei überhaupt und hier insbesondere auf die einzig papierne Existenz des Doppelgängers hinweist. Ablesbar wird dieser Aspekt der Fiktion im Ende des Poems, wenn Goljadkin nach Erhalt des vermeintlichen Liebesbriefes versucht, die Absenderin auf einem Ball zu retten, und aufgrund dieser Kurzschlusshandlung endgültig im Irrenhaus landet. Das selbstreflexive Moment dieser Verselbständigung lässt sich mit Aleida Assmanns Thesen zur Exkarnation beim Schreiben, die sie als „Übersetzung von lebendigen Körpern in abstrakte Zeichen“ 31 versteht, erklären: „Die Schrift zieht um sich eine Grenze, jenseits derer der Körper verbleibt. Die Symbiose von Körper und Sprache wird durch die Schrift zerstört, die auf der Ablösbarkeit der Rede vom Körper des Redenden beruht.“ 32 Seit der Gutenberg-Galaxis, also dem Buchdruck, beschleunigt sich der Übergang von der „Körperschrift“ zum „Schriftkörper“, „von der unablösbaren, inkarnierten Schrift zur erkalteten exkarnierten“. 33 Für die Schriftstellerei bedeutet dieser Medientransfer, dass die schreibenden Körper einerseits in den Buchstaben untergehen, andererseits zugleich die Geburt eines distanzierten literarischen Ichs erfolgt. Der zunehmende Abstand zum Selbst führt schließlich zu einer Enteignung resp. Entfernung. Hiermit einher geht eine Bewusstwerdung wie Gefährdung von Selbstidentität, die gleichermaßen zur Kopfgeburt der Doppel‐ gängerei beitragen, was Petersburg als Großstadt der Fremde noch potenziert. Verkehrte Selbstporträts durch Perspektivenwechsel „Folgen Sie diesem Heißluftballon! “ 34 Mit dieser Aufforderung setzt der Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz im bezeichnenden 185 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 35 Dieser bezieht sich nicht nur auf das Ende ihrer Ausbildung, sondern verweist bereits auf das Romanende, an dem gleichfalls Ballons erwähnt werden (vgl. ebd., S. 1014). 36 Vgl. zum Rahmenverlust und Geschlechterdiskurs bspw. Bettine Menke: Rahmen und Desintegration. Die Ordnung der Sichtbarkeit, der Bilder und der Geschlechter. In: Wei‐ marer Beiträge 44 (1989), H. 3, S. 325-363. Vgl. etwa zur „Wirklichkeitserkundung und Geschlechterkonkurrenz“ das Kapitel zu Stifter in Ulrich Stadler: Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg 2002, S. 267-277. Vgl. auch Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter. Tübingen 2004, S. 185-207 sowie Michael Gamper: Der Ballon als multifunktionale Versuchsanstalt. Stifters Der Condor als erweitertes Experimentalsystem: In: Michael Neumann / Kerstin Stüssel (Hrsg.): Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2011, S. 403-416. 37 Zum Gedankenstrich als Verbindung zwischen Himmelsschrift und Text sowie als „Platzhalter des Nichts“ vgl. Joseph Vogl: Der Gedankenstrich bei Adalbert Stifter. In: Alexander Nebrig / Carlos Spoerhase (Hrsg.): Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Bern 2012, S. 275-294; hier S. 287. 38 Adalbert Stifter: Der Condor, Das Heidedorf. Stuttgart 1966, S. 8. Aufgrund der durch die derzeitige Pandemie eingeschränkten Bibliotheksdienste ist es leider nicht möglich aus der historisch-kritischen Ausgabe zu zitieren. 39 Vgl. ebd., S. 16. Zur Grenzüberschreitung vgl. Monika Ehlers: „Das Weib erträgt den Himmel nicht.“ - Grenzwahrnehmungen in Stifters Condor. In: Michael Minden / Martin Swales / Godela Weiss-Sussex (Hrsg.): History, Text, Value: Essays on Adalbert Stifter. Linz 2006, S. 152-165. Romankapitel Abschluss  35 ein. Unter anderem konnotiert der Ballon, den die Hauptheldin Natalie hier erreichen möchte, Adalbert Stifters Erstlingserzählung Der Condor von 1840, die schon vielfach hinsichtlich der Zusammenhänge von weiblichem (Über)Mut und technisch-medialen Neuerungen untersucht wurde. 36 So erscheint der Grazer Heißluftballon mit der Red Bull-Aufschrift als Pendant zu „Gedankenstrich“, 37 „Kartenblatt“ und „Zeichnung“, 38 als welche bei Stifter der hier noch heimliche Verehrer der mitfahrenden Cornelia den Fessel‐ ballon resp. die Gondel beim Blick durch sein Fernrohr sieht. Unterstrichen wird hierdurch seine medial vermittelte Distanz, während Cornelia im Inneren der Gondel eine buchstäblich atemberaubende Erfahrung zukommt, die zur Ohnmacht führt 39 - einem vermeintlichen Emanzipationshemmnis, aus dem der ältere Begleiter Coloman den bekannten reaktionären Ausspruch: „[D]as Weib 186 Gudrun Heidemann 40 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 16. Dieser Kommentar „verhehlt“ Malte Kleinwort zufolge „seine Ideologie und Dogmatik nicht“ (Malte Kleinwort: Ohnmächtige in Adalbert Stifters Der Condor. In: Ute Holl / Claus Pias / Burkhardt Wolf (Hrsg.): Gespenster des Wissens. Berlin, Zürich 2017, S. 163-170; hier S. 166). Die Bemerkung sei „die Wiederholung einer generellen Einschätzung über die Ohnmacht der Frauen bzw. ihre fehlende Befähigung zur Luftschifffahrt“ (ebd.). 41 Ulrich Johannes Beil: Sterne und Fußnoten. Medialität, Physik und Phantastik in Stifters Der Condor. In: Michael Gamper, Karl Wagner (Hrsg.): Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit. Zürich 2009, S. 187-208; hier S. 193. 42 Zu dieser Anknüpfung im Erstlingswerk Stifters vgl. Gamper: Ballon (Anm. 36), S. 405. 43 So attestiert auch Christian Begemann dem Erzähler eine „‚multiple‘ Instanz“ (Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart, Weimar 1995, S. 138). 44 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 9. 45 Ebd., S. 4. erträgt den Himmel nicht.“ 40 kurzschließt. Zu Recht weist Ulrich Johannes Beil darauf hin, dass [i]n dem Maße, in dem die Unheimlichkeit der Szenerie zunimmt, […] sich der Erzähler von der nüchtern-unbeeindruckten Perspektive der Männer [entfernt] und […] sich die weibliche Sichtweise Cornelias an[verwandelt]. Die auktoriale mit der personalen Perspektive vertauschend, nutzt der Erzähler das Mädchen als eine Art von Medium, indem er sprachlich, vielleicht auch sprachlich-erotisch, in sie eindringt und ihre Wahrnehmungen als seine eigenen adaptiert. 41 Auffällig ist in Stifters deutlich an Jean Pauls Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Im Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappe (1796 f.) und E.T.A. Hoffmanns Nachstücke (1716 f.) anknüpfenden Kapiteln 42 ein Szenenwechsel, der mit einem Wechsel der Erzählperspektive einhergeht. 43 Im ersten Kapitel, dem Nachtstück, haben wir es mit einem Tagebucheintrag zu tun, wie der Beginn des darauf folgenden Tagstücks offenbart: „Der junge Mann, aus dessen Tagebuche das Vorstehende wörtlich genommen wurde, war ein angehender Künstler, ein Maler, noch nicht völlig zweiundzwanzig Jahre alt“. 44 Sein Tagebuch-Ich dialogisiert in dem Nachtstück wiederum mit einem imaginierten Ich, mit dem Hauskater Hinze - nicht Murr -, dessen romantisierter Nachtspaziergang die Erzählung einleitet: „Um zwei Uhr einer schönen Junimondnacht ging ein Kater längs des Dachfirstes und schaute in den Mond.“ 45 Mehr noch am Ende der Dachkante ankommend, [glotzte er …] bei einem Fenster hinein - und ich heraus. Die großen freundlichen Räder seiner Augen auf mich heftend, schien er befremdlich fragen zu wollen: „Was ist denn das, du lieber alter Spiel- und 187 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 46 Ebd. 47 Ebd., S. 5. 48 Vgl. Menke: Rahmen (Anm. 36). 49 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 6. 50 Ebd., S. 8. 51 Ebd. 52 Beil: Sterne (Anm. 41), S. 190. Stubengenosse, daß du heute in die späte Nacht dein Gesicht zum Fenster hinaushältst […]? “ 46 Die Intimität, die er im Zwiegespräch mit Hinze preisgibt, potenziert sich im Tagebuch metareflexiv resp. metamedial, wenn es über den Eintrag heißt: Da aber alles wahr ist, was ich da meinem lieben Freunde Hinze eröffnete, so sehe ich nicht ab, warum ich es nicht auch einem noch liebern Menschenauge eröffnen, dem einst dieses Blatt vorkommen könnte. 47 Dass diese Kalkulation aufgeht, zeigt der Beginn vom Tagstück. Markiert ist damit nicht nur eine Rahmung, die mit weiteren von Bettine Menke bereits ausgemachten korrespondiert, 48 sondern durch diese zudem eine gesteigerte Subjektivität, die durch den in den Mond blickenden Kater außerdem roman‐ tisiert wird. Was das Tagebuch-Ich erwartet, bleibt zunächst verschleiert. So heißt es: „Was ich aber suchte, das erschien nicht.“ 49 Mit den allerersten Mor‐ genstrahlen aber zeichnete sich eine bedeutend große dunkle Kugel, unmerklich emporschwebend - und unter ihr an unsichtbaren Fäden hängend, im Glase des Rohres zitternd und schwankend, klein wie ein Gedankenstrich am Himmel - das Schiffchen, ein gebogenes Kartenblatt, das drei Menschenleben trägt […]. Cornelia, armes verblendetes Kind! Möge dich Gott retten und schirmen! Ich mußte das Rohr weglegen; denn es wurde mir immer grauiger, daß ich durchaus die Stricke nicht sehen konnte, mit denen das Schiff am Ballon hing. 50 Ohne Fernrohr und damit ohne mediale Vermittlung beobachtet das Tage‐ buch-Ich nunmehr den Aufstieg einer „andere[n], aber glühende[n] Kugel“, 51 eine Ersetzung, die für uns heute nicht nur einer filmischen Überblendung gleichkommt, sondern womit weiterhin das vom Dachfenster zugleich auf die Stadt herab- und in den Himmel hinaufblickende Ich als solches ausgeblendet bleibt. Beil weist treffend darauf hin, dass dieses Ich einerseits durch eine „mediale[ ] Distanz“ geprägt ist, wenn durch das Fernglas ein „Gedankenstrich“, ein „Kartenblatt“ zu erkennen ist, andererseits Begriffe wie „Gestirn“, „Welt‐ körper“, „Kugel“ von einer „atemberaubende[n] Teilhabe“ 52 zeugen. Eben diese 188 Gudrun Heidemann 53 Ebd. 54 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 10. Zur „Doppelfunktion“ des Fernrohrs, das ebenso von Gustav wie von den Wissen‐ schaftlern im Ballon verwandt wird, vgl. Ulrich Stadler: Wirklichkeitserkundung und Geschlechterkonkurrenz in Adalbert Stifters Erzählung Der Condor. In: Germanica Wratislaviensia 121 (1998), S. 5-11; hier S. 7. 55 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 10. 56 Ebd., S. 15. 57 Ebd., S. 16. 58 Begemann: Zeichen (Anm. 43), S. 117. 59 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 15. Ähnlich sieht Begemann in der Ballonfahrt eine „Spannung von Selbstverlust, menschlicher Grandiosität und wissenschaftlicher Nüch‐ ternheit“ (Begemann: Zeichen [Anm. 43], S. 110). Ambivalenz „irritiert […] die klassische Subjekt-Objekt-Ordnung der Epoche der camera obscura“. 53 Eingeblendet wird der höchst subjektive Beobachter im Tagstück durch eine Erzählerfigur, die über das Aussehen und den Werdegang des jungen Malers - aus dem Wald in die Stadt gekommen, erstarrt vor einer leeren Leinwand sitzend - berichtet und selbst „das Fernrohr […,] auf der Zeichnung eines Cherubs“ 54 liegend, erwähnt. Sein Herabblick aus dem Dachfenster wiederholt sich ebenso wie seine Blicke gen Himmel, wenn geschildert wird, wie Cornelia gleich ihrer römischen Namensschwester erhaben sein wollte über ihr Geschlecht und gleich den heldenmütigen Söhnen derselben den Versuch wagen, ob man nicht die Bande der Unterdrückten sprengen möge, und die an sich wenigstens ein Beispiel aufstellen wollte, daß auch ein Weib sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der harte Mann seit Jahrtausenden um sie gezogen hatte - frei, ohne doch an Tugend und Weiblichkeit etwas zu verlieren, 55 sich dennoch ohnmächtig verliert, wenn sie nach langem Schweigen angesichts von wolkigen „Leichentüchern“ und eines „schwarze[n] Abgrund[s] […], ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend“ 56 gesteht: „Mir schwindelt.“ 57 Zu dieser emphatischen Reaktion bilden Coloman und Lord Richard durch ihren wissen‐ schaftlichen Experimentiereifer, der sich Christian Begemann zufolge bei dem älteren Forscher durch eine „strenge Diätetik des Blicks“ auszeichnet, 58 einen Kontrast. Indem Cornelia umgekehrt den Blick auf die Erde herab wagt, erkennt sie nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus: in einem fremden goldnen Rauche lodernd, taumelte sie gleichsam zurück, an ihrer äußersten Stirn das Mittelmeer, wie ein schmales, glei‐ ßendes Goldband tragend, überschwimmend in unbekannte, phantastische Massen. 59 189 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 60 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 20. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd., S. 4. 63 Ebd., S. 22. 64 Ebd., S. 26. 65 Ebd., S. 27. 66 https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Caspar_David_Friedrich_018.jpg (zuletzt abge‐ rufen am 10. Juli 2021). Zitiert sind damit Bildikonen wie Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer oder Das Eismeer. Wenn Gutav, dessen Vorname erst im Blumenstück genannt wird, Cornelia nach einer unbestimmten Zeit zur Malstunde aufsucht, dann fürchtet er im Dialog mit ihr, dass „[j]etzt […] wohl die Farben auf dem Bilde gar zu sehr verdorrt sein werden.“ 60 Cornelia errötet, was „nur hinter den Schläfen sichtbar geworden [war], und den tiefen Unmuthsblitz des Auges hatte nur der Spiegel aufgefangen.“ 61 Es handelt sich dabei nicht nur um eine Auf- und Erregung, die die bald folgende körperliche ankündigen, sondern ebenso um bedeutsame Hinweise auf Farben, die letztlich verborgen bleiben oder sich nur spiegeln, wie ganz zu Beginn der Mond in Hinzes Augen aufblitzt. 62 Auch werden kurz vor und kurz nach der intimen Begegnung auffallend Rahmungen erwähnt. Zuerst „trat er an das Fenster und sah hinaus.“ 63 Später „standen auch die Beiden an dem Fenster, so nahe aneinander, und doch so fern.“ 64 Hinzu kommt das Aufblicken zum und zur Geliebten, das den Himmelsblick wiederholt bzw. beide mit der Ballonkugel gleichsetzt. Derart visuell sensibilisiert erscheint Cornelia Gustav, wenn er sich beim Abschied letztmals umblickt, wie eine Porträtierte, da er sie als „liebe theure Gestalt schamvoll neben den Blumen stehen sah.“ 65 Hier kulminiert neben dem Wechsel von Ferne und Nähe auch ein Rollen- oder Blicktausch, der sich in den beiden vorherigen Kapiteln schon ankündigte und in einer Umkehrung von Caspar David Friedrichs Frau am Fenster (vgl. Abb. 1) 66 besteht, insofern - zumindest zunächst - der Mann blickt und die Frau aufsteigt. 190 Gudrun Heidemann Abb. 1: Caspar David Friedrich Frau am Fenster (1818-1822) 191 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 67 Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 27. 68 Ebd., S. 28. 69 Gamper zufolge „[ist] Elektrizität […] in den Mondbildern Gustavs nicht mehr Teil der dargestellten Welt, vielmehr ist sie in den Akt der Darstellung selbst eingegangen.“ Bei dieser Elektrizität handle es sich um ein zugleich „funktional bestimmtes, aber wesenhaft unklares ‚Ding‘“ (Gamper: Ballon (Anm. 36), S. 415). Allgemein zur Bedeu‐ tung des Elektrischen, die in vorliegender Erzählung ihren Anfang nimmt, vgl. Michael Gamper: Stifters Elektrizität. In: Michael Gamper / Karl Wagner (Hrsg.): Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit. Zürich 2009, S. 209-234. Auch Begemann betont, dass Gustavs Bilder „den Prozeß ihrer eigenen Entstehung mit abbilden und so eine selbstreflexive Dimension beinhalten“ (Begemann: Zeichen (Anm. 43), S. 141). 70 Vgl. Stifter: Kondor (Anm. 38), S. 29. 71 Ebd. Bezeichnenderweise sind es dann im Fruchtstück Bilder, die erwähnt werden, und Gemälde, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. So beginnt dieses letzte Kapitel mit der Anmerkung, dass einige Jahre vergangen seien und „[n]ur ein ganz kleines Bild aus späterer Zeit ist noch da, welches ich gerne gebe.“ 67 Und tatsächlich wirkt die geschilderte Szene in der Ausstellung wie eine Einblendung von Bildern, die hier zentral sind, wie ein Heranzoomen zunächst sehr lebhafter, dann stillgestellter Bilder. So wird in den Debatten über die zuerst vorenthaltenen Gemälde gelacht und geschrien. Im Kontrast hierzu steht die Schilderung der beiden Mondbilder: nein, keine Mondbilder, sondern wirkliche Mondnächte, aber so dichterisch, so gehaucht, so trunken, wie ich nie solche gesehen. […] Das erste war eine große Stadt von oben gesehen, mit einem Gewimmel von Häusern, Thürmen, Kathedralen, im Mondlichte schwimmend - das zweite eine Flußpartie in einer schwülen, elektrischen, wolkigen Sommermondnacht. 68 Wir haben es nicht nur mit Bildverdopplungen oder einer bildlichen Doppel‐ gängerei zu tun, sondern auch mit Wiederholungen im Bild, wovon eine sowohl Cornelias als auch Gustavs Vogelperspektive vom Fesselballon resp. vom Dach aus betrifft, die zweite wohl die einzige elektrisierende körperliche Vereinigung des malenden Paares verdichtet. 69 Wenn dann als Quasi-Signatur des Künstlers eine Katze - kein Kater wie Hinze - erwähnt wird, 70 so kann auch hierin ein möglicherweise sogar augenzwinkernder Tausch gelesen werden. Ausgetauscht sind darüber hinaus die Reaktion der Pariser Dame, die nun „ihr Angesicht tief in die Kissen des Sofas drückte“ 71 , was an die unberührten Kissen des Malers im Nachtstück erinnert, und Cornelias einstige Panorama-Aussichten, wenn der 192 Gudrun Heidemann 72 Ebd., S. 30. Den Austausch liest Stadler als „intensive[ ] Begegnung zwischen Cornelia und Gustav, freilich bloß im Medium der Kunst“ (Stadler: Wirklichkeitserkundung (Anm. 54), S. 9), wenn Cornelia von den Mondbildern gefesselt ist. Begemann weist wiederum auf die Kordilleren als hier bedeutsame „Heimat der realen Kondore“ (Begemann: Zeichen (Anm. 43), S. 131) hin. Maler nunmehr in den Anden „wandelte […], um dort neue Himmel für sein wallendes, schaffendes, dürstendes, schuldlos gebliebenes Herz zu suchen.“ 72 Gemeinsam sind Stifters Erzählung und Dostoevskijs Petersburger Poem durch Grenzüberschreitungen zustande kommende Doppelgängerstrukturen, damit einher gehen optische Täuschungen, die an Medien der Wiederholung im visuell-grafischen Raum der Schriftkopie wie des Gemäldes gekoppelt sind, welche wiederum als künstlerische Selbstreflexionen der Autoren lesbar sind. Dostoevskij knüpft durch indirekte Verweise auf seine romantischen Vorgänger wie Nikolaj Gogolʼ an, arbeitet sich hieran aber auch selbst gleichsam doppelgän‐ gerisch ab. Die Romantik-Zitate des Malers Stifter verdichten sich in Metaphern, die teils bildlich realisiert werden wie der Mond. Ihre Figuren lassen beide Autoren aus dem passiven Patiens-Status austreten und zu eigenständigen Akteur: innen werden, was in beiden Fällen als Gesell‐ schaftskritik aufgefasst werden kann - auch und gerade wenn diese durch das Scheitern der Figuren ex negativo erfolgt. 193 Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern 1 Ulla Heine: Psychopathologische Phänomene im Kunstspiegel der Literatur des Realismus. Dargestellt an Werken von Wilhelm Raabe. Marburg 1996, S. 86f., 99; Günther Mahal: J. V. v. Scheffel - Versuch einer Revision. Karlsruhe 1986, S. 179-182. 2 Joseph Victor von Scheffel: Der Trompeter von Säkkingen. In: ders.: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Adolf Steiner. Bd. 2. Frankfurt 1969, S. 32. „Kehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde“ - Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel Lilli Hölzlhammer, München Der lange Kampf um die Stiftung eines nationalen Selbstbildes der Deutschen im 19. Jahrhundert ist etwas, das nicht nur starken Einfluss auf die Literatur dieser Zeit nimmt, sondern im Wechselspiel von dieser auch stark geprägt wird. 1 Sowohl Victor von Scheffel als auch Wilhelm Raabe zeichnen sich dabei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Autoren aus, die mit ihren Texten eben dieses Spannungsfeld bedienen. Dies wird deutlich in der häufigen Behandlung historischer Stoffe, die für die deutsche Geschichte als prägend gelten, aber auch durch eine Abgrenzungsbe‐ wegung zu anderen Nationen, vorzugsweise allem, was als „südländisch“ polarisiert wird. Dabei kommt oft ein als bedrückend empfundenes Epigonentum zum Tragen, das seinen Ausdruck in Scheffels Trompeter von Säkkingen findet: Sind verdammt wir immerdar, den Großen Knochen zu benagen, den als Abfall ihres Mahles uns die Römer hingeworfen? Soll nicht aus der deutschen Erde Eignen Rechtes Blum’ entsprossen, Waldes duftig, schlicht, kein üppig Wuchernd Schlinggewächs des Südens? Traurig Los der Epigonen! 2 3 Wilhelm Raabe: Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen. Berlin 1861. 4 Joseph Victor von Scheffel: Waldeinsamkeit. In: ders.: Werke in zwei Bänden (Anm. 2). Bd. 2, S. 427-448. 5 Zur Bedeutung des deutschen Waldes im 19. Jahrhundert: Klaus Lindemann: In den deutschen Eichnhainen webt und rauscht der deutsche Gott - Deutschlands poetische Eichwälder. In: Joseph Semmler (Hrsg.): Der Wald in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1991, S. 200-239. 6 Zum Fortleben romantischer Topoi im 19. Jahrhundert: Sonja Klimek: Waldeinsamkeit - Literarische Landschaft als transitorischer Ort bei Tieck, Stifter, Storm und Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 53. Berlin 2012, S. 99; A. Gillies: Romanticism and After. In: The Year’s Work in Modern Language Studies 5. Leiden 1934, S. 155. 7 Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 87f. Der Ausschnitt zeigt einen deutlichen Wunsch nach Abwendung vom europäi‐ schen Erbe und das Bedürfnis nach einem eigenen, nationalen Ursprung, der nicht zufälligerweise im Wald erwachsen soll. Eben dieser Wunsch kommt nun auch in Raabes Nach dem großen Kriege  3 (1861) und Scheffels Waldeinsamkeit  4 (1880) zum Tragen, die beide diese Suche nach nationaler Identität nachbilden und gleichzeitig exemplarisch für die Deutschen machen. Obwohl Nach dem großen Kriege noch vor den drei Reichseinigungskriegen verfasst wurde und Waldeinsamkeit aus der Bismarckzeit stammt, weisen beide Texte erstaunliche Übereinstimmungen in ihren Strukturen und Figurentypen auf. Nicht von ungefähr lassen sich beide Protagonisten als Romantiker auf der Suche nach etwas beschreiben, das sich schließlich als nationales Zugehörigkeitsgefühl entpuppt, und nicht von ungefähr ist ein deutscher Wald die Kulisse, vor der sich die Handlung entwickelt. 5 Demnach ist es also durchaus plausibel zu behaupten, dass beide Texte den „Romantiker“ 6 als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ in‐ szenieren und ihn zugleich als exemplarisch für die nationale Identitätsfindung eines deutschen Bürgers entwerfen. Um diese These zu belegen, ist es zunächst notwendig, das Bild des Roman‐ tikers einzufangen, das die beiden Texte entwerfen, da die darin enthaltenen stereotypen Eigenschaften sich als notwendig für die Findung nationaler Iden‐ tität erweisen. 7 Dabei sind vor allem auch die Entwicklung der beiden Figuren zu bedenken sowie die Umstände, unter denen diese stattfindet. Hier spielt wie im Trompeter von Säkkingen der Wald eine Schlüsselrolle bei der Entdeckung der eigenen Wurzeln, wodurch zugleich fremdländischer Einfluss zugunsten einer deutschen Herkunft überwunden wird. Die Frage nach dem Beispielcharakter der Texte findet sich dagegen auf struktureller Ebene: Betrachtet man nun also die Art des Erzählens, findet man Strukturen, die geradezu an den Werther erinnern: Nach dem großen Kriege präsentiert eine Sammlung von Briefen aus der Feder einer einzigen Figur, deren 196 Lilli Hölzlhammer 8 Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 87. 9 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 228. Heine Psychopathologische Phäno‐ mene (Anm. 1), S. 85-100: Raabes Text ermöglicht allerdings durchaus eine konträre Lesart, die eine nationale Identitätsfindung konterkarierenden Elemente betont und die von Heine herausgearbeitet wurden. Dabei darf jedoch nicht das Ende übersehen werden, das zumindest versucht, die Gegenstimmen zu übertönen. 10 Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 87. 11 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 8. 12 Vgl. u. a. Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 11f., 14, 38. 13 Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 87. Schicksal dadurch mit größtmöglichster Nähe geschildert wird. 8 Waldeinsamkeit enthält als Rahmenhandlung die Auffindung einer fragmentarisch gebliebenen Gedichtsammlung eines Försters sowie dessen Liebesgeschichte. Auf diesen Ebenen funktioniert schließlich auch die Einbindung des Lesers, der bei Scheffel direkt mit einer Anleitung zu seiner Lektüre angesprochen wird. Bei Raabe wird der Leser zum Adressat der Briefe, an den sich zuletzt die eindringliche Bitte zur Rückkehr ins Vaterland ebenso zu richten scheint wie an den verschwundenen Severus: „[K]ehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde“. 9 Raabes Protagonist Fritz, mit dem sprechenden Nachnamen Wolkenjäger, 10 wird sowohl über seine eigenen Beschreibungen wie auch über die Wiedergabe von Aussagen seines Freundes und Adressaten Severs geprägt. In diesen fallen bald verschiedene Stichworte, die ihn als Romantiker kenntlich machen, wobei diese Darstellungen stets durch den nüchternen Blick von außen gebrochen werden: Nun ist es Frühling und doch mal' ich mir schon den Winter vor, wo der Schnee fällt und schon hoch liegt, wo die Krähen um die Kirche und das alte Schulhaus fliegen, und ich in dem langen schwarzen Rock - eine etwas größere Krähe - quer über den Platz durch das Gestöber nach der Pforte des Gymnasiums hinsteuere. So bin ich beschaffen; doch das weißt Du ja fast besser als ich selbst, Sever, und erklärst mich darob manchmal für ein „dichterisch Gemüt“, häufiger aber für einen - Narren. 11 Das besagte „dichterische Gemüt“ findet seinen Ausdruck in poetischen Be‐ schreibungen, die die Briefe prägen, wie auch in eingefügten Gedichten und Liedern, die an die romantische Universalpoesie erinnern. 12 Der von Fritz implizierte Blick Severs wiederum bricht wiederholt die idyllische Stimmung und macht aus dem Schwärmer und Dichter einen Narren, wie Fritz auch zugibt, aufgrund seines Wesens von anderen eher belächelt zu werden. 13 Gleichzeitig wird Fritz auch als Suchender inszeniert, der wie der stereotype Romantiker von einem beständigen Wandertrieb heimgesucht wird. So bedauert er schon 197 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 14 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 6. 15 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 32f. 16 Tiecks Drama Kaiser Octavianus besaß im 19. Jh. einen großen Einfluss auf die Wahr‐ nehmung der Romantik, da insbesondere die Verse „Mondbeglänzte Zaubernacht, / Die den Sinn gefangen hält, / Wundervolle Märchenwelt, / Steig auf in der alten Pracht! “ ähnlich wie das Lied des Waldvogels als Kern der literarischen Frühromantik verstanden wurden. Ludwig Tieck: Kaiser Octavianus. Berlin 1828, S. 33; vgl. Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik. Berlin 2003, S. 377; Ernst Halter: Kaiser Octavianus: Eine Studie über Tiecks Subjektivität. Saarbrücken 1967, S. 49. 17 Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 87. im ersten Brief, nicht länger unterwegs zu seiner neuen Anstellung als Lehrer sein zu können („Wie gern hätte ich meinen Pfad um acht Tage, um vierzehn Tage auseinandergezogen“), 14 wie er auch weite Spaziergänge in seiner neuen Umgebung unternimmt, die ihn schließlich auch zur Bekanntschaft mit der Kriegswaisen Anna führen. Die Begegnung, die dazu führt, dass Fritz sich rettungslos verliebt, belebt zugleich die Romantik wieder in Gestalt eines Tieck-Zitats: Nun bin ich eingetreten in diesen Lichtschein wie in einen Zauberkreis, und habe erfahren, wie nahe vor der Nase uns doch das „mondbeglänzte“ Zauberland der Romantik liegt. Ich stehe und werfe in unbekannte weite Welten verwunderte irrende Blicke, - ich kann nicht heraus aus dem Zauberkreis, und - Doch Du fluchst und pfeifst ja auf die Romantik, so will ich Dir denn ganz prosaisch erzählen, wie ich in die schwarze, rußige Werkstatt hinein geraten bin, und was ich darin gesehen habe. 15 Auch hier findet sich ein Umbruch von der Beschwörungsformel der Ro‐ mantik aus dem im 19. Jahrhundert weitläufig bekannten Kaiser Octavianus in nüchterne Prosa. 16 Insgesamt vermitteln die beschriebenen Textpassagen den Eindruck, dass es sich bei den romantischen Zügen des Protagonisten um unerwünschte Charaktereigenschaften handelt, die als tadelnswert dargestellt werden. 17 Diesen Aussagen ist allerdings nicht blindlings zu glauben, da in der ver‐ meintlichen Schwäche des Schwärmertums auch eine entscheidende Stärke liegt: Im Gegensatz zu Figuren wie Sever oder Anna ist Fritz in der Lage, eine positive Zukunft zu sehen und zugleich andere damit zu heilen. In seinem Verständnis werden die traumatischen Kriegserlebnisse zu „großen Mühen“, die zwar erschöpfen, aber Menschen mit wahrer Tatkraft nicht lange zurückhalten: Sever, ich glaube an mein Volk, und Du sollst auch daran glauben. Und Du glaubst auch daran, die Zeit des Halbschlummers nach den großen Mühen nach der gewaltigen 198 Lilli Hölzlhammer 18 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 24f. 19 Ebd., S. 26. 20 Zum Begriff der Waldeinsamkeit und seinem Gebrauch im 19. Jahrhundert: Stefan Ni‐ enhaus: „Waldeinsamkeit“: Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus. In: Walter Pape (Hrsg.): Raumkonfigurationen in der Romantik. Tübingen 2009. 21 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 95. 22 Ebd., S. 95f. 23 Ebd., S. 98f. 24 Ebd., S. 60. 25 Dabei spielt auch das Bergwerksmotiv eine entscheidende Rolle. Heine: Psychopatho‐ logische Phänomene (Anm. 1), S. 95f. Arbeit liegt Dir nur ein wenig schwer in den Gliedern; Du bist nicht dazu gemacht, im Halbschlaf zu liegen, gleich anderen Leuten, die sich über ihre Kräfte angestrengt haben, so wie ich. […] Du schreibst: Du hörest meine Wiegenlieder gern und ich möge weiter singen; Dein Herz bedürfe der Ruhe und es sei Sturm in Dir. 18 In diesem Zusammenhang wird die dichterische Befähigung in Verbindung mit der hoffnungsvollen Einstellung durchaus als erwünscht wahrgenommen. Es wird jedoch auch ersichtlich, dass der Wunsch des Protagonisten nach einem Erwachen seines Freundes nicht mit dessen Empfinden übereinstimmt: Sever nimmt die Briefe als „Wiegenlieder“ auf, die ihm Ruhe schenken. Es fällt an dieser Stelle auf, dass Fritz’ hellseherische Gabe sich auf eine bessere Zeit für die ganze Nation und nicht nur auf ein Einzelschicksal bezieht, wie auch Severs Schwarzmalerei stets das Bild des gesamtdeutschen Schicksals entwerfen. Dies lässt sich im Zusammenhang mit dem Wandern und Suchen sehen, das für Fritz sehr wohl ein Ziel hat, da er bereits im 3. Brief Sachsenhagen als seine Heimat findet („zum erstenmal fühlte ich, daß ich in der Stadt Sachsenhagen mir eine Heimat erworben habe“) 19 . Gleichzeitig befähigen die romantischen Eigenschaften des Protagonisten diesen, bereitwillig zu der Reise aufzubrechen, die ihn und Anna schließlich genesen lässt. Es ist dabei kein Zufall, dass diese ihn ausgerechnet in den Wald führt, denn die Waldeinsamkeit 20 als spezifisch deutsches Gut wird als heilsam für alle Leute entsprechender Nationalität verstanden. Der deutsche Wald wird zum Akteur, der den in ihn Einkehrenden von fremdländischen Einflüssen befreit („Der deutsche Wald gewann sein gutes Recht über den befreiten lateinischen Schulmeister“) 21 und ihm im Falle des Protagonisten die reiche deutsche literarische Vergangenheit vor Augen führt, die ihn bis zum Lied des Waldvogels aus dem Blonden Eckbert bringt. 22 Im Wald nur wird sich Fritz seiner eigenen Gefühle bewusst, 23 nur im Wald kann Annas „zitterndes Herz“ 24 heilen und ihre Vergangenheit enthüllt werden. 25 Es ist dabei bezeichnend, dass beide Figuren hier auch ihre Mehrsprachigkeit ablegen, Fritz das Lateinische und Anna ihre Sprachverwir‐ 199 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 26 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 42, 57, 107. 27 Dieser erzieherische Aspekt der Waldeinsamkeit für die Figuren ist bereits in Tiecks Novellen Der blonde Eckbert und Waldeinsamkeit festgelegt: Heinz Brüggemann: Ent‐ zauberte Frühe? Jugend als Medium literarischer Selbstreferenz in Ludwig Tiecks Novelle Waldeinsamkeit. In: Heinz Brüggemann (Hrsg.): Romantik und Moderne. Würzburg 2009, S. 251. 28 Zur Lichtmetaphorik: Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 96. 29 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 172f. 30 Ebd., S. 208f. 31 Ebd., S. 209. 32 Ebd. rung 26 von Englisch, Spanisch und Französisch zugunsten des Deutschen. 27 Dies geht Hand in Hand mit der Erkenntnis der eigenen Nationalidentität und Heimat als unumstößliche Wahrheit, die sich nur in der Waldeinsamkeit als deutschem Nationalsymbol offenbaren kann. Somit wird im deutschen Wald der Romantiker im Mondschein zum Aufklärer im Sonnenlicht: 28 Was wirst Du sagen, Sever, wenn Du dieses, mein Tagebuch zu Gesicht bekommen wirst? Du wirst nach Deiner Art meine Weise zu denken und das Leben aufzufassen verwünschen; - ich weiß ja, um wie viel Du den hellen, nüchternen Sonnenschein dem magischen, aber verwirrenden, zweifelhaften Lichte des Mondes vorziehst. Ist es nicht seltsam, daß hier, an dieser Stelle, nach solch einem wunderbaren Ereignis, wo mir, mir, dem »träumerischen Narren« eigentlich alles Phantasie und Märchen werden müßte - ist es nicht seltsam, frage ich, daß mir auf der Bank vor der Köhlerhütte, Deine Anschauung von Welt und Leben, als die richtigere, die bessere - die einzige erschien? 29 Dieser Moment des Erwachens ist direkt an den Annas angeknüpft, deren Erinnerung zuvor in einer dunklen Höhle zurückgekehrt ist. Ausgehend davon entwickelt sich nun eine eigene Dynamik, in der die noch verworrene Vergan‐ genheit klar und zugleich identitätsstiftend wird. Fritz erkennt Severs Streben nach Wahrheit als die einzig richtige Lebenseinstellung und seine hoffnungs‐ volle Vorahnung über das Schicksal der deutschen Nation zu Beginn wird ihm zu einer tiefen Erkenntnis, die ihn schließlich zu einem Weckruf gegenüber Sever befähigt: „Ich denke, das ganze neunzehnte Jahrhundert wird wohl noch über die Wehen, welche das deutsche Volk ins Licht der Welt gebären sollen, hingehen […] Wach auf, Severus! “ 30 Dies geht mit einer Vertauschung der Rollen einher. Severs düstere, prosaische Weltanschauung wird als „schädlichste“ 31 und „nutzlose Träumerei“ 32 entlarvt, aus der er ebenso erwachen muss wie zuvor Fritz aus der seinen, zugleich aber wird Severs Pessimismus als „deutsche 200 Lilli Hölzlhammer 33 Ebd., S. 216. 34 Ebd., S. 216f. 35 Ebd., S. 217. 36 Ebd., S. 219. 37 Ebd., S. 216, 220. 38 Ebd., S. 216. 39 Scheffel: Waldeinsamkeit (Anm. 4), S. 427. 40 Ebd., S. 428. 41 Ebd., S. 429. 42 Ebd., S. 429. 43 Ebd., S. 429f. Krankheit“ 33 bezeichnet, deren Genesung Fritz aber prophezeit. 34 Die Sonne schließlich wird zum Symbol dieser Gesundung, wenn sie mit ihrem Licht „ein einiges, starkes, freies Volk auf der germanischen Erde bescheinen wird“ 35 . Fritz und Anna werden schließlich zu vorbildlichen deutschen Bürgern: Anna, die nun „den stolzen Stand einer deutschen Mutter“ 36 ausfüllt, und Fritz nehmen beide, nach Fritz’ Beförderung, 37 als Herr Oberlehrer und Frau Oberlehrerin die symbolische Position von Führungsfiguren für die noch irrenden und suchenden Deutschen wie Sever ein. 38 Scheffels Protagonist wird vom Erzähler persönlich eingeführt als der Förster Waldfreund mit künstlerischer und dichterischer Veranlagung („Vergönnt, daß ich heute von Waldfreund erzähle, / Dem Mann mit der kindlich bescheidenen Seele, / Deß ersten Strichen und Zwickbuchgedanken / Die Einsamkeitblätter ihr Dasein danken.“) 39 Diese deutlichen künstlerischen Eigenschaften sind der erste Hinweis auf seine Charakterisierung als Romantiker, die jedoch zugleich parodistische Züge annimmt, da er die Inspiration als „der Natur abgespickt / Und abgerissen und abgezwickt“ 40 bezeichnet und insofern als Aneignungsprozess sieht. Damit zeigt sich bereits eine bestimmte Einstellung dieser gegenüber, die eher einer kapitalistischen Haltung entspricht als der Romantik. Waldfreunds Kunst wird nun in den Dienst einer Überzeugungsarbeit gestellt, da er seiner Angebeteten Wilhelmina beweisen will, dass sein Revier es ganz mit der inspirierenden Schönheit Italiens aufnehmen kann („Ja man könnt im Revier hier, würd's einer bezahlen, / Ein ganz Belvedere zusammen malen“) 41 , wenn man nur „richtig zu schauen versteh[t]“ 42 . Dieser Streitpunkt begründet den Plan, ein Album mit zwölf Zeichnungen und Gedichten zu verfassen, die die verschiedenen Eindrücke auf einer Waldwanderung sammeln. 43 Dieses Vor‐ haben und die daraus entstandene Sammlung werden wiederum vom Erzähler kommentiert, der die Frage stellt, ob zuerst Zeichnung oder Gedicht entstanden sein könnte, wie er auch eine mögliche Vertonung in Aussicht stellt. Es ist wohl anzunehmen, dass hier eine Anspielung auf die als Lieder konzipierte und oft 201 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 44 Ebd., S. 430. 45 Ebd., S. 429f., 430-446. 46 Mahal: Scheffel (Anm. 1), S. 179. 47 Scheffel: Waldeinsamkeit (Anm. 4), S. 447. 48 Ebd. auch vertonte Lyrik der Romantik zu finden ist, auch wenn die Frage nach der Tauglichkeit der Waldfreundgedichte dem Leser überlassen wird („Vielleicht daß ein Späterer, melodisch beschwingt / Die Waldfreundstimmung in Noten noch bringt. / Doch entscheidet nun selber, die Blätter zur Hand, / Und vernehmt, was geschrieben im Zwickbuche stand.“) 44 Die Mappe selbst exerziert im wahrsten Sinne des Wortes die angekündigten romantischen Topoi durch: verschiedene idyllische Naturszenen, eine Waldein‐ samkeit mit einem verliebten Vogelpärchen, eine Schlossruine, Gewitter, Abend‐ stimmung und Nachtruhe im Mondschein. 45 Zuletzt aber erfolgt die Heimkehr in die eigene idyllische Waldeinsamkeit, in der die Mutter bereits wartet und eine Suppe kocht. Dieser sehr praktische und nüchterne Aspekt einer fürsorglichen Mutter besitzt eine ähnliche Qualität wie Severs Mahnungen zur prosaischen Wahrheit in Nach dem großen Kriege. 46 Als Waldfreund seiner Mutter nun von seinem Werbungsplan mit dem Album für Wilhelmina erzählt, lacht diese und zeigt ihm zwei Briefe: Eine Beförderung zum Bezirksförster und ein Schreiben von Wilhelmina, die bereit ist, ihn zu heiraten. 47 Die nachfolgenden Worte der Mutter stellen eine klare Absage an die romantische Verträumtheit ihres Sohnes dar: Das Mütterlein: „O mein Fantasticus, Was poetisch noch lang nicht Du fertig gemacht, Hab prosaisch ich alles in Ordnung gebracht. Du wärst selig verträumt und selig gestorben - Ich hab frischweg statt Deiner geworben; Ich wußt, es ist besser, ich spar Dir die Reise … Es reut sie schon lang ihre schnippische Weise! “ 48 Die Poesie wird als langsam und unpraktisch beschrieben, während nüchterne Prosa die Werbung um Wilhelminas Hand bereits zu einem glücklichen Ende gebracht hat. Die Reise, die der Waldfreund im Dienst seiner Liebe antreten wollte, hätte zu keinem Ergebnis geführt. Die Aussage geht sogar so weit anzunehmen, dass Waldfreund die Mappe niemals zur Vollendung gebracht hätte und darüber „selig verträumt und selig gestorben“ wäre. Prosa wird somit als das erfolgreiche Mittel dargestellt, das sowohl Wilhelmina als auch Waldfreund zur Besinnung bringt, wobei letzterer seine Dichtkunst zugunsten 202 Lilli Hölzlhammer 49 Ebd., S. 448. Der Text zieht an dieser Stelle ein ähnliches Fazit wie Tiecks eigene Novelle Waldeinsamkeit, indem er romantische Sehnsucht und Melancholie in Ehe, Liebe und Vernunft auflöst: Brüggemann: Entzauberte Frühe (Anm. 27), S. 262. 50 Scheffel: Waldeinsamkeit (Anm. 4), S. 431. 51 Ebd., S. 431. 52 Ebd., S. 433. 53 Ebd., S. 432. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 434f. der Liebe aufgibt und in seinem Album der Romantik in zwei kurzen Versen die Treue kündigt: „‘Fahr wohl und kling aus, Waldeinsamkeit! / Ich freue fortan mich des Waldes selbzweit! ’“. 49 Ganz wie in Nach dem großen Kriege wird auch in Scheffels Waldeinsamkeit ein Romantiker vom Schwärmertum geheilt, bedarf dazu allerdings schon nicht mehr des Waldes, sondern der Fürsorge seine Mutter. Insgesamt lassen sich noch weitere Brüche in der romantischen Stimmung bemerken, die hier aber nicht durch die vorgestellten Einwürfe eines Freundes kommen, sondern in den Albumgedichten selbst zu finden sind. Diese entstehen vor allem dadurch, dass sowohl Waldfreunds Beruf und seine Bildung als auch der Eindruck des Deutschen Reichs mithinein in die Natur genommen werden und an verschie‐ dener Stelle aus den Gedichten hervorbrechen: Waldfreund stellt seine Suche nach Inspiration als Jagd dar („Wohl trag ich die Büchse, doch jag ich kein Wild, / Nur hier und dort eine Stimmung, ein Bild,“), 50 und erinnert sich beim Anblick von Wildenten an die winterliche Jagdsaison. Entsprechend ist seine Haltung der Natur gegenüber sogar während seiner künstlerischen Betätigung die eines Jägers, der sich nimmt, was er braucht. Der Anblick des Moors inspiriert ihn zu naturkundlichen Überlegungen über Verlandung von Seen und ausgestorbenen Tierarten („Wohin bist du verdunstet, vorzeitliche See, / Die hier einst gewogt, und ihr, Riesengethier, / Das hier sich geäst am Ufermorast? / Noch gibt uns Kunde tief unten im Tuff “), 51 während ein Eichenhain ihm Visionen seiner heidnisch-germanischen Vorfahren schenkt. 52 Gleichzeitig findet er in der Natur immer Hinweise auf etwas, das sich wohl als preußische Tugenden bezeichnen lässt, wenn er die Pünktlichkeit der Enten lobt („Pünktlich wie die Uhr / Ein Viertelstündlein der Sonne voraus.“) 53 und ihre Flugformation mit einer Heerordnung vergleicht. 54 Gleichzeitig findet sich sogar in der Waldeinsamkeit selbst ein deutlicher Verweis auf die häusliche Tugend, wenn das Vogelpärchen vom gemachten Nest und baldigem Nachwuchs singt. 55 Daran schließt auch die Ablehnung des als dekadent und fremd empfundenen Rokoko, das den Wald nicht zu schätzen weiß und sich in ihm langweilt („Es denkt anders denn wir und hat Kummer und Leid / Vom geräuschlosen Walten der Einsamkeit / Das 203 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 56 Ebd., S. 436. 57 Ebd., S. 448. 58 Zu den vielfältigen Funktionen, die der Wald von jeher in der deutschen Literatur einnimmt: Inken Frost: Märchenwälder. In: Lars Schmeink / Hans-Harald Müller (Hrsg.): Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 322, 326; Josef Billen: Baum, Anger, Wald und Garten in der mittelhochdeutschen Heldenepik. Münster 1965, S. 29; Peter Wunderli: Der Wald als Ort der Asozialität - Aspekte der altfranzösischen Epik. In: Josef Semmler (Hrsg.): Der Wald in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1991, S. 70, 76; Klimek: Waldeinsamkeit (Anm. 6), S. 125. 59 Vgl. Frost: Märchenwälder (Anm. 58), S. 328; Klimek: Waldeinsamkeit (Anm. 6), S. 125. Gähnen bedeutet die Langeweil’ / Des Vergessenseins“). 56 Es lässt sich demnach sagen, dass die Natur und besonders der Wald auch bei Scheffel nach wie vor zum Dichter sprechen, nur verwendet die hieroglyphische Sprache der Natur inzwischen einen sehr deutschnationalen Dialekt. So gesehen überschneiden sich der Wunsch des Vogelpärchens in der Waldeinsamkeit und die Unternehmung der Mutter durchaus, da aus dieser Perspektive Prosa und Poesie beide auf das erfüllte Liebesglück und zugleich bewusste deutsche Bürgerleben hinarbeiten, auch wenn dies zur Aufgabe des Dichterdaseins führt. Dennoch wird am Ende die Lanze für die Romantik gebrochen, da Editor, Vor- und Nachwortschreiber, Drucker und Verlagsbesitzer sich als Natur- und Waldfreunde erkenntlich geben, wie auch der Text als Ersatz eines Waldspaziergangs im Winter angepriesen wird. 57 Es lässt sich also die Ansicht vertreten, dass beide Texte ein recht ähnliches Bild der Romantik als letztendlich nicht lebensfähige Lebenshaltung ihrer Protagonisten zeichnen, deren negative Eigenschaften vor allem in der Schwär‐ merei und dem beständigen Wandern und Suchen zu sehen sind. Gleichzeitig wird eben diese Einstellung zum Potential des Romantikers, der auf seiner Suche schließlich die deutsche Heimat als Ziel zu entdecken vermag. Der Wald spielt in diesem Zusammenhang als Identitätsstifter und Bewahrer der Vergangenheit eine entscheidende Rolle, 58 ist jedoch nur von transitorischer 59 Bedeutung für die Protagonisten: Fritz, Anna und Waldfreund finden ihr Glück schließlich außerhalb des Waldes, in guter deutscher Gemeinschaft und jeweils einer Beförderung, die zeigt, dass ihre Mühen um deutsche Identität auch von gesellschaftlicher Seite gewürdigt werden. Entsprechend gewinnen Aspekte wie Heimkehr und Identität eine große Bedeutung, die durch die positiven Mutterfiguren in Gestalt von Anna und Waldfreunds Mutter personifiziert werden. Beide stehen dem romantisch veranlagten Protagonisten zur Seite und sind ausschlaggebend für das Vorbestehen der endlich gefundenen Nationali‐ dentität. Dies bedeutet gleichzeitig Abkehr von fremdländischen Gedanken und 204 Lilli Hölzlhammer 60 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 24. 61 Ebd., S. 45. 62 Ebd., S. 32. 63 Zur Stellvertreterfunktionen von Raabes Figuren für bestimmte Geisteshaltungen: Heine: Psychopathologische Phänomene (Anm. 1), S. 94, 100. 64 Raabe: Nach dem großen Kriege (Anm. 3), S. 24. 65 Ebd., S. 93. 66 Ebd., S. 209. 67 Ebd., S. 216. Einflüssen: Anna lernt wieder Deutsch zu sprechen, Wilhelmina wendet sich von Italien ab und beide finden Erfüllung in ihrer Identität als deutsche Frauen. Während dies nun zeigt, in welcher Form die beiden Texte aus dem Romantiker den deutschen Bürger schmieden, stellt sich die Frage, auf welche Weise Textstruktur und Erzähler dazu beitragen, die beschriebenen Einzelschicksale exemplarisch zu machen. Wie zuvor erwähnt, stellt Nach dem großen Kriege einen Briefroman dar, in dem Versatzstücke aus Tagebucheinträgen eingebaut sind. Gerade diese Formen intimster Berichterstattung an einen dazu sehr engen Vertrauten erwecken den Eindruck, die verborgenste Gefühlswelt des Protagonisten sehen zu können. Spontane Ausrufe („aber Du hast nicht recht, Sever! “ 60 „o könnte ich auch zu Dir sprechen! “ 61 ) und abgebrochene Sätze („- ich kann nicht heraus aus dem Zauberkreis, und -“) 62 unterstreichen den Eindruck von der Unmittelbarkeit des Erlebten und der niedergeschriebenen Gedanken. Bei der genaueren Betrachtung des Gegenübers „Sever“, der selbst durch keinen Brief zu Wort kommt, lässt sich dieser auch als entgegengesetzte Kon‐ struktion zu Fritz verstehen. Wie gezeigt wurde, ist Sever ein nüchterner Realist, dessen pessimistische Einstellung jedoch am Ende von Fritz als die schlimmste Form der Träumerei enttarnt wird. Gewissermaßen wird also durch die Figur Severs eine Lesehaltung vorweggenommen, die zunächst Kritik an romantischer Schwärmerei übt, dann aber ins Hintertreffen gerät, da sie im Gegensatz zum romantischen Briefeschreiber nicht zur Erkenntnis der Wahrheit und nationalen Identität gelangt. Sever ist demnach nicht nur der notwendige Adressat der Briefe, sondern zugleich das Konstrukt des kritischen, pessimistischen Lesers, der noch nicht in den sicheren Schoß seiner Heimat zurückgekehrt ist. Aus dieser Perspektive lesen sich die Rufe an Sever als Rufe an eine ganze Schar deutscher Leser, die noch aus düsterem Schlummer geweckt werden müssen: 63 ich glaube an mein Volk, und Du sollst auch daran glauben 64 Komm in den Wald, Sever! 65 Wach auf, Severus! 66 also komm Sever und zeige Dich. 67 205 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 68 Ebd., S. 228. 69 Scheffel: Waldeinsamkeit (Anm. 4), S. 447. Also, Sever, lieber Sever - kehre bald zurück in das Vaterland, Du findest doch nicht das was Du suchst in der Fremde; Ännchen hat's erfahren. 68 Es ist wohl nicht falsch zu vermuten, dass sich hierin auch die Entstehungszeit des Texts wiederspiegelt, da zwar ein hoffnungsvoller Aufbruchston herrscht, in den aber noch nicht alle eingestimmt haben. Entsprechend behandelt der Text ausgiebig die Verarbeitung vorausgegangener Kriegswirren, die am Ende zwar noch nicht restlos gelungen ist, aber auf einem guten Weg zu sein scheint. Identitätsstiftung wird dabei als ultimatives Heilmittel für jedwedes Übel ent‐ deckt: Schwärmer, traumatisierte Kriegswaisen und nach Italien geflüchtete Pessimisten können durch sie zu einem gesunden Volk zusammenwachsen, solange der Einzelne nur bereit ist, im waldigen Schoß seiner Heimat das helle Licht der Wahrheit zu erfahren. Schließlich lässt diese Lesart sogar die Frage zu, ob die Doppeldeutigkeit der Anrede, die einerseits Sever, andererseits aber auch den tatsächlichen Leser anzusprechen scheint, nicht geradezu als selbstreflexiver Moment des Textes zu deuten wäre. Hier wird dem Leser bewusst, dass er Briefe liest, die seine eigenen Empfindungen wiedergeben und vorwegnehmen. Es kommt demnach also zu einem Moment poetologischer Selbstreflexion, in der der Text auf seine Gemachtheit referiert und somit den Leser aus seiner Lektüre aufweckt - wie eine Spiegelung des Weckrufs der deutschen Nation. Waldeinsamkeit verwendet ebenfalls seine Erzählstruktur um dem Leser näher zu kommen, verfährt dabei aber noch direkter als Nach dem großen Kriege, indem die gesamte Rahmenhandlung direkt den Leser adressiert. Eine Erzählerstimme bittet höflich darum, vom Waldfreund erzählen zu dürfen, und schickt eine Geschichte voraus, die die Binnenhandlung begründet. Diese Erzählstruktur ist dabei bekannt aus der Romantik und steht in der Tradition Boccaccios insofern, dass sie einen ausführlichen Rahmen mit eigener Handlung bietet. Zugleich steht sie aber auch in der von Goethes Werther, da sie sich um die Rekonstruktion des Schicksals von Waldfreund bemüht, von dem offenbar nur seine Aufzeichnungen und Bilder verblieben sind, ohne dass eine genauere An‐ gabe gegeben wird. Einzig und allein die Erwähnung der Alpen als Wohngebiet des Försters und eines preußischen Adlersiegels geben Aufschluss darüber, 69 dass die Handlung historisch gesehen nach der Reichsgründung stattgefunden haben muss. Im Gegensatz zum Werther ist das Verstummen des Waldfreunds jedoch durch sein erfülltes Eheleben begründet, das zum Schreiben keine Zeit 206 Lilli Hölzlhammer 70 Samuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria 2. Hrsg. von J. Shawcross. Oxford 1907 [1817], S. 6. 71 Diese Stelle ist allerdings durchaus schon als „peinlich[e] Verlagswerbung“ kritisiert worden, auf deren Basis nicht zuletzt der ganze Text als „schlimme[r] Ausrutscher“ bezeichnet wurde, was das poetologisch Potential der Stelle außer Acht lässt: Mahal: Scheffel (Anm. 1), S. 180. 72 Scheffel: Waldeinsamkeit (Anm. 4), S. 448. 73 Ebd., S. 448. 74 Ebd., S. 448. 75 Ebd., S. 448. mehr lässt. Entsprechend bleibt der Text, ganz in romantischer Tradition, ein Fragment. Nicht zu übersehen ist auch ein gutmütig-humorvoller Ton, der im Vor- und Nachwort vorherrscht, wenn die Naivität Waldfreunds durch die Beschreibung des Erzählers zum Tragen kommt. Wesentlich deutlicher noch als bei Raabe wird hier der Moment der poetologischen Selbstreflexion, wenn der Erzähler sich zu guter Letzt noch als Victor von Scheffel bezeichnet und sich damit mit dem Autor gleichsetzt. Es ist deutlich, dass in diesem Moment die Doppelung von Autor und Erzähler, der vorgibt, nur den Rahmen gedichtet zu haben, zur Irritation und damit zum gründlichen Bruch mit dem führt, was Coleridge „willing suspension of disbelief “ 70 bezeichnet. 71 Das Problem wird offensichtlich, wenn sich der Leser die Frage stellt, wem nun zu glauben sei: Dem Aufdruck, dass dies ein Werk Scheffels ist, oder dem Erzähler, der Waldfreund als reale Person inszeniert. Gleichzeitig verkompliziert sich die Situation durch die Nennung von „Julius Mařak“ und „Eduard Willmanns“, 72 die die eigentlichen Urheber der Gemälde und Kupferstiche in Waldeinsamkeit sind und entlarven die Behauptungen des Erzählers als halbwahres Konstrukt zwischen der Realität des Lesers und der des Textes. Entsteht dadurch nun ein erster Moment der Irritation, so folgt ihm ein zweiter, wenn der Erzähler schließlich dazu übergeht, dem Leser noch Anweisungen zur korrekten Lektüre des Textes zu geben: Er soll weder „des Urbilds Genuß […] beschränken, / Noch die eigenen Schritte vom Waldgang ablenken“ 73 ; in der kalten Jahreszeit aber ist er eine schöne Kaminlektüre, bei der man im Kreis der Familie kraft romantischer Poesie 74 „der Heimat waldeinsame[ ] Pracht“ 75 auch bei starkem Schneefall genießen kann. Es fällt entsprechend auf, dass der Text an dieser Stelle einen bestimmten Typus von Leser voraussetzt, der dem Waldfreund vielleicht gar nicht so unähnlich ist: Er besitzt eine Familie, schätzt Waldspaziergänge und weiß um die Vorteile einer guten Lektüre über die Schönheit der eigenen Heimat. Damit wiederum zeigt sich, dass sowohl Nach dem großen Kriege als auch Waldeinsamkeit einen bestimmten Leser inszenieren, den sie durch ihr Er‐ 207 Der „Romantiker“ als Rohmaterial des „deutschen Volkes“ bei Raabe und Scheffel 76 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Mün‐ chen [u. a.] 1958-1995, Bd. 2, S. 203. 77 Ebd., Bd. 2, S. 171. 78 Ebd., Bd. 2, S. 182f. zählverfahren adressieren. Interessanterweise nutzen dabei beide Momente poetologischer Selbstreflexion, wie sie als Eigenschaft der romantischen Poesie beschrieben wird: Etwas, das „das Produzierende mit dem Produkt“ 76 darzu‐ stellen, was das Kunstwerk in einem Schwebezustand zwischen „steten Wechsel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ 77 hält. Und doch kann auch sie [die Poesie] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. 78 Der Irritationsmoment aber kann so verstanden werden, dass er den Leser motivieren soll, seine eigene Situation anhand des Textes zu reflektieren und sich davon überzeugen zu lassen. Das aber, wovon der Text auf der Ebene der Figuren und der Handlung, aber auch durch seine Art des Erzählers und dem Umgang mit dem Leser überzeugt, ist die Heilsamkeit und das Glück, die in einer gefundenen nationalen Identität liegen. Es lässt sich also behaupten, dass beide Texte, wenngleich sie auch Rücksicht auf ihre jeweiligen historischen Umstände nehmen, darauf hinauslaufen, nationale Identität konstituieren zu wollen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet der Romantiker zur zentralen Figur hierfür wird: Einerseits symbolisiert er das noch zu heilende aber heilbare Andere außerhalb der Nation, das noch eingegliedert werden muss. Andererseits aber wird sein dichterisches Potential als Weck- und vielleicht auch Lockruf für andere inszeniert, die ebenfalls erst noch das Glück einer deutschen Nationalidentität erfahren müssen oder aber sich darin auch weiter bestätigt und angeleitet fühlen sollen. 208 Lilli Hölzlhammer 1 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1985, Bd. 4, S. 92. 2 Klaus Briegleb: Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne. München 1997, S. 53. Briegleb hat eine grundsätzliche Kritik an der bisherigen deutschen Heine-Forschung formuliert, die Heines Judentum von seinem Gesamtwerk abgetrennt habe. Dadurch bleibe Heines Judentum im Pluralismus der Aspekte parzelliert. Brieglebs Anregung ist neulich Regina Grundmann gefolgt, die sich auf ihn offen beruft. Regina Grundmann: „Rabbi Faibisch, was Hochdeutsch heißt Apollo“. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk. Stuttgart 2008. Heine und die Folgen: Die gebrochene jüdische Identität im magischen Medium der Sprache Judentum als Medium der Moderne bei Kafka und Heine Barbara Di Noi, Firenze I. Auftakt: Heines Stellung zwischen Judentum und Moderne In Deutschland. Ein Wintermärchen behauptet Heine, er wolle Engeln und Spatzen den Himmel überlassen und das Paradies schon hier auf der Erde gründen. 1 Hinsichtlich eines solchen Bekenntnisses zur radikalen Diesseitigkeit dürfte man annehmen, das Judentum habe in Heines Werk keine Bürgerschaft. Das Gegenteil ist jedoch wahr: Bereits anhand seiner frühen Texten, der Almansor-Dichtungen (Tragödie und Romanze) und des Fragment gebliebenen historischen Romans Der Rabbi von Bacherach lässt sich eine Thematik fest‐ stellen, die mit der heiklen Frage nach seiner gebrochenen jüdischen Identität verflochten ist. Klaus Briegleb hat die Einstellung Heines zum Judentum als Marranentum bezeichnet, 2 und somit auf jene Tradition hingewiesen, die auf das Spanien des 15. Jahrhunderts zurückgeht, als die jüdischen Gemeinschaften erbarmungslos vor der Entscheidung zwischen Assimilation und Exil gestellt wurden: als Marranen wurden damals jene Juden beschimpft, die in der Hoff‐ nung auf Überleben zum Christentum übergegangen, in ihrem Herzen aber der Religion der Väter treu geblieben waren: Diese wurden von der jüdischen Orthodoxie als Abtrünnige verurteilt, von den Christen immer noch als Hybride 3 Briegleb (Anm. 2), S. 7. 4 Grundmann: Judentum (Anm. 2), S. 183. mit Misstrauen und Verachtung betrachtet. Verrat, konfessionelle Abtrünnigkeit und Assimilation sind jedoch auch aus anderer Hinsicht für Heine wichtig und werden zu den vorzüglichsten Merkmalen der Ortlosigkeit des jüdischen Lebens in marranischer Zeit; 3 in Heines Familiengeschichte, und zwar in dem Gegensatz zwischen dem unschuldigen Vater Simson und dem reichen Onkel Salomon wird die Spaltung des modernen Judentums noch gesteigert. In dem Verrat des unschuldigen Vaters hat Heine die Geschichte der modernen Assi‐ milation nachgemacht und quasi im Brennspiegel der persönlichen Erfahrung reflektiert: Witz, Ironie und Selbstreflexivität von Heines Texten spiegeln die gebrochene Identität des modernen Judentums wider, das immer noch durch die Doppelnatur des Marranentums geprägt ist. Der Reflexionsort präzisiert sich als Leerstelle, wo kein Unterschied zwischen Assimilation und Selbsttreue möglich ist. Anhand seiner idealen Nähe zum Marranentum lässt sich zum Teil erklären, warum das jüdische Thema in Heines frühen Dichtungen und in seinen Schriften der 30er Jahre häufig verbunden mit einer Bildlichkeit erscheint, die sich durch morgenländische und spanische Prägung auszeichnet. Paradig‐ matisch wird in Rabbi von Bacherach die ideelle Verwandtschaft des Judentums mit der spanischen Kultur an der Gestalt Don Isaak Abarbanels exemplifiziert. An diesem Charakter erhält die jüdische Kulturtradition ausgesprochen hedo‐ nistischen Charakter, der sich der Kategorie des Sensualismus unterordnen lässt. An Abarbanel wird es offensichtlich, wie sich der von der religiösen Substanz entleerte jüdische Ritus immerhin auf ästhetische und sogar kulinarische Ebene transponieren und somit in die Moderne übertragen lässt. Der stark emanzipa‐ torische Diskurs der Sinnlichkeit, der bei Heine immer im Zusammenhang mit dem kulinarischen Motiv auftritt, schließt jedoch keineswegs Anspielungen auf das Judentum aus: Ausgerechnet im Rabbi von Bacherach ist die Konstellation von Speise, Genussfähigkeit und Judentum kaum zu überschätzen. Hier bekennt sich Don Isaak Abarbanel zur jüdischen Küche: In seiner Gestalt verbinden sich Marranentum und spanische Ritterwelt: Abarbanel hat zwar wie der getaufte Jude Heine die religiöse jüdische Identität aufgegeben, er hält jedoch am Judentum als kulturstiftendem Element fest. 4 Eine ähnliche Verschiebung von der religiösen zur ästhetischen und kultu‐ rellen Ebene lässt sich in Almansor bemerken. In beiden Werken vollzieht sich auf ästhetisch-poetologischer Ebene ein Umschlag des Marranentums ins Positive. Man darf wohl behaupten, dass das Trauma der Zwangsbekehrung, 210 Barbara Di Noi 5 Ernest A. Menze: Herder und Heine: Reflections on Affinities. In: Heine-Jahrbuch 43 (2004), S. 150-171. Siehe auch Sikander Singh: Heinrich Heine und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Heine-Jahrbuch 39 (2000), S. 69-94. 6 Gerhard Höhn: Heine-Handbuch: Zeit, Person, Werk. Stuttgart 1987, S. 28. 7 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), VI/ 1, 447. Über das Ende der Kunstperiode aus kom‐ paratistischer Perspektive Hans Robert Jauß: Das Ende der Kunstperiode. Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1970, S. 107-143. 8 Gerhard Neumann: Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas „Gleitendes Paradox“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 683-719. das in der jüdischen Vergangenheit verschüttet liegt, in Heines Entscheidung für Synkretismus und Kontamination fortgeschrieben wird. Die Verknüpfung von jüdischen und morgenländischen Elementen lässt sich andererseits durch den Einfluss Herders 5 und der Frühromantik erklären, durch den Zugriff also auf die deutsche Kultur; tatsächlich erscheinen bei dem Dichter Judentum und Deutschtum als zwei Extreme einer Polarität, die dialektisch aufeinander bezogen, ständig wieder voneinander klaffen. Wie Gerhard Höhn sehr gut formuliert: „Sein Judentum und sein kritischer Geist gelten jetzt gerade als Maßstab seiner Aktualität und Modernität“. 6 Immer wieder ist bei Heine vom Ende die Rede; von sich selbst sagt er, er sei der letzte Dichter der Kunstperiode, zugleich aber der erste Künstler einer neuen, noch unbekannten Zeit. Am Anfang der aus der Matratzengruft diktierten Geständnisse unterstreicht der Dichter das eigene Janusgesicht, indem er die Doppelbödigkeit der eigenen Stellung hervorhebt und sein Buch der Lieder als „das letzte Waldlied der Romantik“ bezeichnet. 7 Ende und Anfang knüpfen auch im jüdischen Geschichtsdenken aneinander an. Für die Juden fallen sowohl Ge‐ genwart und Vergangenheit, wie auch Vergangenheit und Zukunft zusammen, ja der Anfang schlägt immerfort in das Ende um; Zukunft und Vergangenheit neigen somit, ineinander zu gleiten: Jeder gegenwärtige Augenblick ist für sie die Tür, aus der der Messias einbrechen kann. Die Figur der Umkehrung ist seit je im Rahmen der jüdischen Geschichtsauffassung geradezu konstitutiv und sollte auch für Kafkas gleitendes Paradoxon eine nicht zu überschätzende Bedeutung annehmen, wie Gerhard Neumann in seiner bahnbrechenden Studie nachgewiesen hat. 8 Dadurch, dass biblische Vergangenheit und Gegenwart für den gesetzestreuen Juden ineinander gleiten, werden die historischen Vorgänge zwar als irreversibel, aber auch als zyklisch wiederkehrend und zumindest in diesem Sinn als zeitenthoben empfunden. An der jüdischen Geschichtsauffas‐ sung kritisiert jedoch Heine, dass die in der Lektüre der Bibel versenkten Juden 211 Heine und die Folgen 9 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), XI, S. 38. 10 Ebd., V, S. 195. 11 Ebd., VIII/ 1, S. 61. sich zu wenig um die Aktualität kümmerten. 9 Diese Nichtbeachtung, die die Aktualität über die mythische Vergangenheit vernachlässigt und total vergisst, kommt im letzten Kapitel des Schnabelewopski zum Ausdruck; hier leistet der winzige Simson eine groteske Nachahmung der heldenhaften Gebärde des mythischen Vorgängers, indem er „mit seinen dünnen Ärmchen“ die Bettsäule statt der Säule des Tempels ergreift und endlich an seiner Wunde stirbt; und im Sterben glaubt er, seine Seele sterbe mit den Philistern. 10 Bei Kafka kehrt die Klage um die eigene Unfähigkeit, historisch zu werden, immer wieder; diese kommt etwa in der räumlichen Stellung des vereinzelten Wächters zum Ausdruck, der am Rande der Geschichte und außerhalb der Gemeinschaft stirbt. I.1 Intertextualität und problematische Identität Das Judentum war für Heine eine über Jahrtausende gewachsene Kultur und als solche die unerschöpfliche Quelle seiner dichterischen Inspiration, wenn auch auf ganz eigentümliche Weise: in Form von Anspielungen, Parodie, Pastiche und sogar Travestie kehrt er im Laufe seiner literarischen Tätigkeit immer auf die eigene jüdische Abstammung zurück. Auch das politische Engagement und die revolutionäre Orientierung der frühen 30er Jahre decken sich zum Teil mit jener stark auf die Zukunft gerichteten Auffassung von Zeit und Geschichte, wodurch sich der jüdische Messianismus auszeichnet. Für die Juden ist in der Tat die Ver‐ gangenheit keineswegs abgeschlossen. Heines Religionskritik steht wie bekannt zur Zeit seiner Umsiedlung nach Paris im Dienste der Revolution; als Religion der Freiheit gilt ihm umgekehrt die saintsimonistische Weltanschauung, die die Rechte der Körperlichkeit gegen die asketische Religion des Schmerzes umsetzen will; eine solche Gegenüberstellung formuliert er in Zur Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland, der Schrift, die er in den ersten Jahren des Pariser Aufenthalts schrieb, und die er auch auf Französisch verfasste: Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Comödien […] Auf Eure censorische Vorwürfe, entgegnen wir euch, was schon ein Narr des Shakespear sagte: meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt geben? 11 Zusammen mit der Traumvision des Schlaraffenlands im Schnabelewopski gehört diese Stelle zu den wichtigsten heineschen Quellen, die im Werk Georg 212 Barbara Di Noi 12 Burghard Dedner: Bildsysteme und Gattungsunterschiede in Leonce und Lena, Dantons Tod und Lenz. In: Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Frankfurt am Main 1987, S. 157-218. 13 Lothar Jordan: Zu der Subversivität der Repräsentativität. Über Heines Schwierigkeit, ein kritischer Schriftsteller zu bleiben. In: Heine-Jahrbuch 37 (1998), S. 5-6. 14 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), VII/ 1, S. 69. Büchners zusammengeflossen sind. 12 Paris gilt Heine als das neue Jerusalem, wo sich die Revolution als gewaltige Sprengung des geschichtlichen Kontinuums verkündigen lässt: Die alte Religion soll nämlich zertrümmert werden, damit ein neuer Glaube der Freiheit deren Trümmer zur Errichtung einer neuen Welt verwendet. Aber ist es wirklich so, dass das Judentum kurzerhand mit dem Christentum und der katholischen Religion von Heine gleichgesetzt und dem körperfeindlichen Asketismus der Nazarener zugeordnet wird? Eigentlich richten sich Heines antireligiöse Angriffe nicht gegen die Religion selbst, sondern vielmehr gegen deren politische Verwendung und ganz besonders gegen die katholische Religion, die im Dienste der Kooperation von Thron und Altar stand. Das geht aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland besonders klar hervor, und aus diesem Grund wurde das Buch von Wolfgang Menzel als subversiv und radikal verurteilt. 13 Bei Heine haben wir ständig mit einer frommen Dialektik zu tun, die immer zwischen einem „einer‐ seits“ und einem „andererseits“ schwankt; so wie seine Kritik an der Religion keineswegs von Haus aus theologisch fundiert ist, und ähnlich betreibt er eine intensive Kontamination der Vorstellung des Judentums mit den politischen und progressiven Idealen einer allgemeinen Emanzipation der Menschheit. Es liegt also auf der Hand, dass Judentum von vornherein im Zeichen von Aufklärung, Haggadah und Assimilation steht. In der Reise von München nach Genua wird die Emanzipation als „diese große Aufgabe unserer Zeit“ bezeichnet. Dabei denkt er jedoch nicht nur an die Emanzipation der Juden, deren Gleichberechtigung einer umfassenderen Bewegung angehört, die zu Emanzipation der ganzen Welt führen soll: Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes. 14 Vorausgreifend läßt sich wohl sagen, dass Heine in gewisser Weise eine ähnliche Stellung einnimmt, wie später Kafka dem Zionismus seiner Zeit gegenüber, obwohl die jeweiligen Einstellungen beider Dichter zur Assimilation aus ge‐ schichtlichen Gründen geradezu entgegengesetzt erscheinen: Kafka betrachtet nämlich den Zionismus als eine Art Selbstghettoisierung; anders als mancher 213 Heine und die Folgen 15 Bernd Neumann: Franz Kafka. Gesellschaftskrieger. Eine Biographie. München 2008, S. 363. 16 Zu Kafkas Tiergeschichten siehe Cornelia Ortlieb: Kafkas Tiere. In: Tiere, Texte, Spuren: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 339-366 und Barbara Di Noi: Kafka’s animals between mimicry and assimilation. In: Ethic & Bioethics (in Central Europe) 2019, 9 (3-4), S. 159-167. 17 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), VIII/ 1, S. 71. 18 Grundmann: Judentum (Anm. 2), S. 176. 19 Ebd., S. 302. jüdische Zeitgenosse, der sich gegen das deutsche Element abschotten wollte, fasste er das Problem der westjüdischen Zeit als Metapher der allgemeinen Obdachlosigkeit des modernen Subjekts auf. Auch in seiner Rede über die jiddi‐ sche Sprache vertritt er die Meinung, das Jiddische sei in der deutschen Sprache sogar aufgehoben und betrachtet das Jüdische und das Deutsche als Glieder einer organischen, nicht mehr zu zergliedernden Einheit. 15 Dem Projekt einer sauberen, fast chirurgischen Trennung zwischen deutschem und jüdischem Element stand er eher misstrauisch gegenüber: Sie waren in seiner Heimatstadt Prag so zusammengewachsen, dass das eine ohne das andere kaum vorstellbar war; auf den Problemkreis der Assimilation hat er mit seinen Tiergeschichten reagiert, die entweder groteske Parabeln einer Assimilation im Zeichen der Ausweglosigkeit sind (Bericht für eine Akademie), oder ein Zwitterding, ein fantastisches Tier exibieren, das aus der Hybridation von Lamm und Katze entstanden ist, wie bei einer Kreuzung. 16 In Zur Geschichte der Religion hatte Heine sogar behauptet, die Juden hätten auch im trüben Mittelalter die Denkfreiheit bewahrt und eine antidogmatische Haltung äußert sich dadurch, dass er den Talmud als Katholizismus der Juden bezeichnet. 17 In seiner Würdigung Mendelssohns nimmt Heine Partei für die Aufklärung. Die Haskalah aber hatte die Verbindlichkeit des jüdischen Rituals stark relativiert, ja hatte zu dessen Abschaffung gewaltig beigetragen. 18 Dem Fragment gebliebenen Rabbi von Bacherach ist Heines Kritik an Hegel leicht zu entnehmen. Die Niederschrift des Werks fällt in die Zeit von Heines Beitritt in den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“; drei Jahre nach dem Beitritt wird sich Heine taufen lassen. Bemerkenswert ist es, daß der Dichter noch 1822 eine eigene Stellung zwischen Assimilation und Orthodoxie sucht. 19 Der Rabbi von Bacherach spielt sich zur Zeit der Judenvertreibung aus Spanien ab. Angesiedelt ist die Handlung im Jahre 1489, einer Phase der Epochenzäsur, die auch mit Humanismus und Reformation zu verbinden ist. Im definitiven Text des dritten Kapitels finden sich Hinweise auf eine Gegenüberstellung von Christentum und Judentum. Hier kritisiert der Rabbi die Taufe Isaaks als falsche Entscheidung. Im Mittelpunkt steht also Don Isaaks Einstellung zum Judentum. Wenn man sich 214 Barbara Di Noi 20 Manfred Windfuhr in: Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), V, S. 591-592. 21 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), V, 591. Fritz Heymann: Tod oder Taufe. Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal im Zeitalter der Inquisition. Frankfurt a. M. 1988, S. 136. 22 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), V, S. 177. 23 Georg Büchenr: Leonce und Lena. In: ders.: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt am Main 2006, S. 129. die biographische Lage Heines vergegenwärtigt, der gleichermaßen zwischen dem jüdischen Kulturverein und der Taufe stand, dann tritt die Funktion Isaaks als Heines Identifikationsfigur völlig ans Licht. 20 Isaak gibt sich nur nach außen als Marrane. 21 Eigentlich bekennt sich er, der die typischen Züge der Mimikry des assimilierten Juden zeigt, zu den alten, heidnischen Göttern und wird deshalb vom Rabbi als Götzendiener apostrophiert. In der fiktionalen Autobiographie Aus den Memoiren des Herren von Schna‐ belewopski hat Heine das jüdische Thema von Exil und Wanderung der revue‐ artigen Lebensgeschichte eines modernen Pikaros zugeordnet. Bemerkenswer‐ terweise stellt auch in diesem Fall Spanien und die spanische Kultur jenes unsichtbare Dritte, das zwischen zwei anscheinend so verschiedenen Werken vermittelt. Spanische Quellen bilden tatsächlich die Vorlage sowohl des Rabbi als auch des Schnabelewopski. Hier erscheint die Narrgestalt als bunter Harlekin wieder; der bunte Harlekin, der „recht faulenzerisch unter einer Trauerweide“ liegt, erscheint hier als geträumte Identifikationsfigur des Ich. 22 Die Makkaroni, die ihm direkt ins Maul hineinfallen, könnten ironisch auf das Manna hinweisen und werden immerhin zum Symbol einer sinnlichen Utopie, in der erotische Sinnlichkeit und gastronomische Delikatessen Requisiten einer Dimension sind, die sich durch das Medium des Traums äußert. Auf die Stelle der geträumten Makkaroni wird Büchner für Valerios kommode Religion zurückgreifen, die am Ende des Lustspiels Leonce und Lena angekündigt wird. 23 I.2 Jüdische Küche und Utopie einer befreiten Sinnlichkeit An unzähligen Stellen bekennt sich Heine zur jüdischen Küche; dabei greift er zu einem zwischen Ironie und Sehnsucht schwankenden Ton. Die Vorliebe für das jüdische Essen ist unter den assimilierten Juden besonders stark, so dass durch die Behandlung des Themas Heine die Überzeugung zum Ausdruck bringt, einige Aspekte des Ritus könnten auch außerhalb der Religion überleben. Es handelt sich also um ein Nachleben des Judentums, das sich der christlichen Gesellschaft angepasst hat; nur durch die Assimilation, das Angleichen an die fremde Kultur konnten sich also die jüdischen gastronomischen Sitten bewahren und aufrechterhalten: „Ja, ich liebe Eure Küche weit mehr als Euren Glauben, es fehlt ihm die rechte Sauçe. Euch selber habe ich nie ordentlich 215 Heine und die Folgen 24 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), V, S. 142. 25 Ebd., S. 143. 26 Ebd., II, S. 31. 27 Ebd. 28 Heine: Prinzessin Sabbath. In: ders.: Hebräische Melodien (Heine: Sämtliche Werke [Anm. 1] III/ 1, S. 128). verdauen können. Selbst in Euren besseren Zeiten.“ 24 So äußert sich Don Isaak im dritten Kapitel des Rabbi mit Bezug auf die nicht jüdische Küche. Ebenso unverdaulich will Schnabelewopski die deutsche Küche erscheinen. Der Abtrünnige Isaak gibt zu, dass die wohlbekannten Düfte der jüdischen Küche ihn mit der Sehnsucht nach der eigenen Jugend erfüllen: Als mich einst der Zufall, um Mittagszeit in diese Straße führte, und aus den Küchen der Juden mir die wohlbekannten Düfte in die Nase stiegen: da erfaßte mich jene Sehnsucht […] und meine Seele schmolz, wie die Töne einer verliebten Nachtigall, und seitdem esse ich in der Garküche meiner Freundin Donna Schnapper-Elle! 25 Als identitätsstiftende Speise der Juden gilt jedoch nach Heine vor allem der Schalet, von dem auch in der Denkschrift an Ludwig Börne die Rede ist: […] die berühmte Schaletspeise, das Gericht, das vielleicht noch egyptischen Ur‐ sprungs und alt wie die Pyramiden ist. Abtrünnige, welche zum neuen Bunde übergegangen, brauchen nur den Schalet zu riechen, um ein gewisses Heimweh nach der Synagoge zu empfinden. 26 Auch in dieser Schrift, die offensichtlich durch polemische Absicht geprägt ist, wird der Zusammenhang zwischen jüdischen Gerichten und Assimilation unterstrichen. Börne habe dem Dichter versichert, „daß die Abtrünnigen, welche zum neuen Bunde übergegangen, nur den Schalet zu riechen brauchen, um ein gewisses Heimweh nach der Synagoge zu empfinden […]“. 27 Der Schalet wird somit zum regelrechten Symbol einer Nationaleinheit, die das jüdische Volk noch in der Zerstreuung der Diaspora zusammenzuhalten vermag. Synagoge und Schalet, Sinnlichkeit und Religion scheinen hier wenn auch nur vorläufig zu Gleichgewicht und Synthese gebracht. So etwa liest man in Prinzessin Sabbath, wo er zum Lobpreis des ältesten jüdischen Gerichts auf Schillers Ode an die Freude zurückgreift und beide zugleich parodiert und würdigt, Schiller und Schalet: Schalet, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium! Also klänge Schillers Hochlied, Hätt’ er Schalet gekostet. 28 216 Barbara Di Noi 29 Céline Trautmann-Waller: Bilder jüdischer Verwandlungen in den Hebräischen Me‐ lodien: Metamorphose, Sublimierung und Verklärung. In: Heine-Jahrbuch 43 (2004), S. 1-11. 30 Grundmann: Judentum (Anm. 2), S. 413-431. Das Schalet wird hier als himmlische Speise gewürdigt und erweist sich als tief verwandt mit den süßen Erbsen von Deutschland. Ein Wintermärchen. Zugleich aber dürfte man wohl diese Würdigung als Vorwegnahme jener himmlischen Nahrung, wonach sich der Hund von Kafkas Forschungen eines Hundes sehnt, verstehen. Deutschtum und Judentum bleiben bei Heine ständig aufeinander bezogen: So stilisiert er den ewigen Juden, Ashaverus, zum Mythos jenes Fliegenden Holländers, auf den sogar Wagner zurückgreifen sollte, wenn auch im Rahmen der starken Umfunktionierung, die ganz und gar der heinischen Ironie ent‐ behrt. Die Ironie Heines besteht u. a. in einer ständigen Schwankung zwischen Deutschtum und Judentum, die jede Trennung und Unterscheidung zwischen beiden Elementen verhindert. 29 Noch wichtiger als der Rückgriff auf bestimmte Stoffe und Motive, erscheint jedoch die Art und Weise, wie diese inhaltlichen Elemente formal erarbeitet werden. Das geschieht wie oben gesagt durch ein intertextuelles Verfahren, das Zeichen und Termini der jüdischen Kultur mit den Erscheinungen der Moderne kontaminiert. Eigentlich stellt Heine in einer reiferen Phase Judentum und Artistik, Judentum und Künstlertum gleich, wie aus seiner Würdigung des Dichters Jehuda ben Halevy deutlich hervorgeht. 30 Aber schon wenige Monate nach seiner Taufe greift Heine 1825 auf ein Bild der jüdischen Tradition zurück, um die Selbstbefreiung des lyrischen Ich auszudrücken. Ich beziehe mich dabei auf das frühe Gedicht Reinigung aus der Nordsee. Erster Cyclus, wo sich die Selbstbefreiung des lyrischen Ich vom Traumbild der Immergeliebten vollzieht und die Vernunft den Sieg über die Schwärmerei davon trägt: Bleib’ du in deiner Meerestiefe, Wahnsinniger Traum, Der du einst so manche Nacht Mein Herz mit falschem Glück gequält hast, Und jetzt, als See-Gespenst, Sogar am hellen Tag mich bedrohest - […] Und ich werfe noch zu dir hinab All meine Schmerzen und Sünden, Und die Schellenkappe der Thorheit, 217 Heine und die Folgen 31 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), I/ 1, S. 388. 32 Ebd., V, S. 187. 33 Helmut Koopmann: Heines Romanzero. Thematik und Struktur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), Sonderheft (Festschrift für Benno von Wiese), S. 51-69, hier S. 66. […] Da kommt der Wind! Die Segel auf! Sie flattern und schwell’n! Über die stillverderbliche Fläche Eilt das Schiff, Und es jauchzt die befreyte Seele. 31 Der bildliche Komplex wird im Schnabelewopski wieder aufgenommen. Hier wird jedoch der Ton der Begeisterung durch eine tiefe Melancholie abgelöst; die Sequenz ist in Schnabelewopski in einen Traum eingebettet: Das Ich sitzt auf dem Verdeck eines Schiffes zu den Füßen Jadvigas und liest der Geliebten die eigenen auf rosige Papierstreifen geschriebenen Gedichte vor. Jadviga wirft mit einem sehnsüchtigen Lächeln die Blätter ins Meer. Auch dem Lächeln kommt häufig in Heine eine jüdische Konnotation zu: Es ist mit einem tieferen, ironischen Wissen verbunden, in dem das langjährige Leid des jüdischen Volks im Licht der Schönheit verklärt erscheint: Aber die schönen Nixen, mit ihren schneeweißen Busen und Armen, tauchten jedesmal aus dem Wasser empor, und erhaschten die flatternden Lieder der Liebe. Als ich mich über Bord beugte, konnte ich ganz klar bis in die Tiefe des Meeres hinabschauen, und da saßen, wie in einem gesellschaftlichen Kreise, die schönen Nixen. 32 Wie später in den Hebräischen Melodien, wo der jüdische Dichter Ben Halevy mit dem antikischen Apollo in Verbindung gebracht und mit ihm sozusagen synonymisch gleichgestellt wird, überlagern sich schon hier „Jüdisches, Helle‐ nisches, Christliches“ wie in einem Vexierspiel, wie Helmut Koopmann sehr trefflich bezüglich des Gedichts Der Apollogott schreibt. 33 Während es dem frühen Heine noch unmöglich erschien, zugleich ein Jude und ein Poet zu sein, und Judentum und Dichtung damals in seinen Augen noch fast die entgegengesetzten Pole der sozialen Welt waren, erfolgt in den späteren Jahren, und schon fast am Anfang des freiwilligen Pariser Exils, eine Annäherung zwischen den Extremen: In den letzten Dichtungen reichen sich sogar die schönen, marmornen Götter der Antike und der jüdische Dichter Halevy über die Jahrhunderte hinweg die Hand. Erst in der Matratzengruft 218 Barbara Di Noi 34 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), III/ 1, S. 134. 35 Grundmann: Judentum (Anm. 2), S. 384-390. 36 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), III/ 1, S. 114. führt also das Erlebnis der Krankheit zu der Aufhebung des Gegensatzes von Dichtertum und Judentum. Halevy, bezeichnet der Dichter als Feuersäule des Gesangs Die Schmerzenskarawane Israels vorangezogen In der Wüste des Exils. 34 In dieser Gestalt, die sich Heine zur Identifikationsfigur wählt, verschmelzen sich exemplarisch künstlerisches Vermögen, diasporische Verfasstheit und Schlemihltum. 35 Die Revision von Heines theologischen Vorstellungen führt zur Zeit der sogenannten Matratzengruft also zur Würdigung des jüdischen Volks, und geht mit einem intensiven Interesse an jüdischen Themen einher, von dem besonders die Hebräischen Melodien zeugen. Den dogmatischen Aspekten der jüdischen Religion bleibt jedoch Heine nach wie vor fremd. Bis zum Tod behauptet Heine seine Stellung außerhalb institutionalisierter Religionsformen: „Keine Messe wird man singen, / Keine Kadosch wird man sagen. / Nichts gesagt und nichts gesungen / wird an meinen Sterbetagen“. 36 Es ist, wenn man so will, schon die große Melodie des Nichts, die Angst als jene Musik des Weltalls, die auch in Kafkas Schweigen der Sirenen ertönen soll. Meistens also gebraucht Heine den jiddischen und jüdischen Wortschatz, um auf allgemein menschliche Werte hinzuweisen. An anderen Stellen jedoch verhält er sich kritisch gegenüber dem Judentum und dem jüdischen Wortschatz. In diesem Fall stellt Heine jüdische Formulierungen in einen ironisierenden Rahmen, indem er die Juden kritisiert; so etwa an der Stelle, wo er sich selbst zur gekreuzten Christusfigur stilisiert. Oder an einer Stelle des Jehuda ben Halevy, wo der große jüdische Dichter als Puppe in einem schönen Futteral aus Pappe erscheint. Das Miniaturbild und die Reduktion zur Ware sollen Benjamin, der die Stelle in seinem Passagen-Werk zitiert, unwiderstehlich angezogen haben: Der Jehuda ben Halevy, Meinte sie, der sei hinlänglich Ehrenvoll bewahrt in einem Schönen Futteral von Pappe Mit chinesisch eleganten Arabesken, wie die hübschen 219 Heine und die Folgen 37 Ebd., S. 150. Heines Zitat befindet sich im ersten Konvolut des Passagen-Werks [Passagen, Magasins de Nouveaute, Calicots]. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. I, S. 99. 38 Heine: Sämtliche Werke (Anm. 1), VIII/ 1, S. 39. 39 Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente. In: Schriften, Briefe, Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Malcolm Pasley und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main 1993, II, S. 320. Bombonnieren von Marquis Im Passage Panorama. 37 II. Engführung: Fliegender Holländer und Kafkas Gracchus als jüdische Revenants In Zur Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland werden die Juden als unsichtbares Volk, als „Volk-Gespenst“ bezeichnet. 38 Das Gespenst hat selbstverständlich mit der Kategorie der Zeit zu tun: Es verweist auf die Vergegenwärtigung eines Unsichtbaren und Abwesenden, hat aber zugleich mit der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu tun, mit dem Nachleben einer ver‐ borgenen, verdrängten und doch immer noch latenten Vergangenheit. Ständiges Wiederholungsspiel ist also das Merkmal der Gespenster: Sie gleiten durch die verschiedenen Epochen hindurch, sie sind immer anders und ständig die Glei‐ chen. Das Exil der Juden ist nicht nur Mangel an einer Heimat in der räumlichen Dimension, sondern vielmehr Unfähigkeit, sich in einer bestimmten Epoche zu verankern und sich in ihr stabil durchzusetzen: Wie der Fliegende Holländer im Schnabelewopski wandern die Juden von einer Epoche zur anderen. Die Diaspora der jüdischen Identität in Raum und Zeit wird durch eine künstliche Identität ersetzt, die aus Tinte und Papier besteht. Wie es bei Kafka der Fall sein wird, sucht Heine eine Heimat, die sich mit den eigenen Schriften identifizieren lässt. Der westjüdische Schriftsteller Franz Kafka kann jedoch im Vergleich zu Heine mit einem noch unbeständigen Boden rechnen; Schreiben identifiziert er mit der Tätigkeit des Grabens und mit einer eigentümlichen Errichtung, die zugleich zerstörend wirkt. Kafka nennt sich selbst einen Schriftsteller ohne Mandat: 39 Unmöglich hätte er sich etwa mit einem repräsentativen Schriftsteller wie Jehudi von Halevy identifizieren können. Der westjüdische Schriftsteller steht jetzt für sich allein und vermag auf keinen Fall das Volk zu vertreten; auch in seinem berühmten Entwurf aus dem Winter 1911/ 12 (Charakteristik kleiner Litteraturen) spricht sich Kafka für eine Literatur aus, die keine großen, repräsentativen Dichter benötigt, und immerhin imstande ist, dem zersplitternden nationalen Bewusstsein den 220 Barbara Di Noi 40 Franz Kafka: Tagebücher. Hrsg. von Hans-Georg Koch. Frankfurt am Main 1990, S. 239 (25. XII. 1911). 41 Ebd., S. 660. 42 Franz Kafka: Briefe an Milena. Hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt am Main 2004, S. 294. nötigen Rückhalt zu bieten. Diese soll nach Kafka das „Tagebuchführen einer Nation sein, wodurch diese sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält“. 40 Was sich im Vergleich zu Heine gründsätzlich verändert hat, ist nicht nur das Verhältnis des Schriftstellers zur Gemeinschaft, sondern die Rolle und Funktion des Schreibens hinsichtlich des Judentums überhaupt: Während Heine noch an seinem schriftstellerischen Beruf festhalten konnte, wird nun für Kafka die eigene Literatur zur Schande, Strafe und Schuld in einem: Schreiben und Artistik bedeuten ihm nunmehr eine verbrecherische, ja nahezu teuflische Tätigkeit, die in einer fast höllischen Tiefe verwurzelt ist und den Abstand von der Ge‐ meinschaft vertieft. Noch verunsichert erlebt Kafka den eigenen Zustand vom assimilierten Juden, der ihn zu einem hybriden, weder ganz menschlichen noch ganz tierischen Wesen verwandelt hat. Isolierung und Vereinzelung kommen häufig in seinen Schriften als Zahlenverhältnisse zum Ausdruck, und lassen sich als Gegensatz gestalten, der den Einzelnen der Menge opponiert: Das ist etwa der Fall in der 1924 entstandenen Erzählung Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse, wo die kleine, unauffällige Künstlerin, deren Gesang gar kein Gesang ist, ihrem völlig unmusikalischen Volk entgegengesetzt wird. Der Gegensatz zwischen dem alleinstehenden Betrachter und der Menge äußert sich in den Tagebüchern jedoch auch als perspektivische Erscheinung einer inneren Dissoziation: Das Ich ist hier nicht mehr imstande, die Zersplitterung des eigenen Inneren zusammenzuhalten: Er lebt in der Zerstreuung. Seine Elemente, eine frei lebende Horde, umschweifen die Welt. Und nur weil auch sein Zimmer zur Welt gehört sieht er sie manchmal in der Ferne. Wie soll er für sie die Verantwortung tragen? Heißt das noch Verantwortung? 41 Die eigene Verantwortungslosigkeit behauptet Kafka auch Milena gegenüber, indem er den eigenen Abstand von den zionistischen Weltverbesserern mar‐ kiert. 42 Was in diesem Zusammenhang besonders auffällt, ist jedoch der Um‐ stand, dass Kafka sich die biblische Bildlichkeit und Tradition aneignet, um den eigenen Zustand vom Schriftsteller ohne Mandat zu veranschaulichen: Anders als seine zionistischen Freunde und Zeitgenossen, anders als Max Brod und vor allem Martin Buber, die die Literatur als Medium der Wiederherstellung des angeblich ursprünglichen jüdischen Mythos benutzten, instrumentalisiert Kafka umgekehrt das Judentum im Dienste der Literatur und des Schreibens 221 Heine und die Folgen 43 Giuliano Baioni: Kafka: letteratura ed ebraismo. Torino 1984, S. 27-62. 44 Über Kafkas umgekehrten Narzißmus und der Wichtigkeit der Kategorie des Nichts siehe Walter H. Sokel: Narzißmus, Magie und Funktion des Erzählens in Kafkas Be‐ schreibung eines Kampfes. Zur Figurenkonzeption, Geschehensstruktur und Poetologie in Kafkas Erstlingswerk. In: Der junge Kafka. Hrsg. von Gerhard Kurz. Frankfurt 1984, S. 133-153. 45 Kafka: Tagebücher (Anm. 40), S. 683. 46 Kafka: Briefe an Milena (Anm. 41), S. 294. 47 Kafka: Tagebücher (Anm. 40), S. 421. überhaupt. 43 Daran liegt sein unvermeidliches, riesiges Schuldgefühl. Sein Judentum ist das Nichts oder die Leerstelle, um die sein ganzes Schreiben kreist. Diese Leerstelle koinzidiert darüber hinaus mit der Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis. 44 Kurz vor der Niederschrift am Schloß hatte Kafka die eigene Literatur als „Ansturm gegen die letzte irdische Grenze“ bezeichnet, die sich leicht „zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala“ hätte entwickeln können; dazu wäre jedoch „ein wie unbegreifliches Genie“ notwendig, „das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allen sich nicht ausgibt, sondern jetzt sich auszugeben beginnt“. 45 Getragen vom gleitenden Paradoxon kehrt hier jene Umkehrung der geschichtlichen Zeitlichkeit zurück, die typisch für das jüdische Denken ist: Der Westjude Franz Kafka, der die Welt keineswegs auf seinen Schultern tragen kann, muss nicht nur die Zukunft, sondern auch das Gewesene jedesmal neu erfinden. 46 II.1 Eine unzusammenhängende Musikalität: Kafka und das Mauscheln In dem äußerst komplexen Spannungsfeld, in dem Kafka lebte, von deutschen und tschechischen antisemitischen Strömungen, jüdischem Selbsthass und gescheiterten Assimilationsversuchen durchzogen, signalisiert das Gespens‐ termotiv nicht so sehr, wie bei Heine, das anachronistische Überleben des Judentums, sondern vielmehr die fragwürdige Lage des Schriftstellers, der tot zur Lebenszeit ist. Das Paradox besteht eben darin, dass er auf dem höchst schwankenden, unbeständigen Boden des Schreibens fortleben und Wurzeln schlagen will. Daraus entsteht die Klage um mangelnden Zusammenhang und die gewichtslose, flatternde Körperlichkeit, die ihm nicht erlaubt, sich gegen die Welt abzudichten. 47 Das Schreiben stellt für Kafka keineswegs einen Beruf oder eine Neigung, eine Vorliebe dar, sondern sogar die Voraussetzung des eigenen Überlebens: Ohne Schreiben könnte er sich das eigene Leben gar nicht vorstellen, obwohl er erst in der letzten Zeit die Büroarbeit ganz aufgegeben hat, um als Schriftsteller zu leben. Das schon von Heine angeschlagene Thema der Seelenwanderung nimmt Kafka wieder auf, er bringt es jedoch in Verbindung 222 Barbara Di Noi 48 Ebd., S. 691. 49 Kafka: Nachgelassene Schriften (Anm.39), I, App., S. 272. 50 Ebd., I, S. 309. 51 Sippurim: Eine Sammlung jüdischer Volkssagen. Erzählungen, Mythen, Chroniken. Prag 1838 52 Franz Kafka: Briefe an Milena (Anm. 41), S. 64: „[…] weißt Du eigentlich daß ich vollständig, in einer meiner Erfahrung nach sonst nicht vorkommenden Vollständigkeit unmusikalisch bin? “ 53 Ebd., S. 108. 54 Ebd., S. 228. mit dem überaus wichtigen Thema der Selbstvergessenheit und des Zögerns vor der Geburt: „Das Zögern vor der Geburt. Gibt es eine Seelenwanderung, dann bin ich noch nicht auf der untersten Stufe. Mein Leben ist das Warten vor der Geburt.“ 48 Am Ende des 1916 entstandenen fragmentarischen Komplexes Der Jäger Gracchus ist der gestrichene Satz zu lesen: „Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden“. 49 Das Schmetterlingsmotiv ist in zweierlei Hinsicht von Belang: Einerseits erfasst es mit der Beweglichkeit und äußersten Leich‐ tigkeit des Flatterns die groteske Unbeständigkeit des Jägers, dessen Zustand zwischen Leben und Tod die Lage des ästhetischen Daseins widerspiegelt. 50 Andererseits aber weist der Schmetterling auf eine Seelenwanderung, die in der vollkommenen Sinnlosigkeit und Selbstvergessenheit geschieht. Zu den Vorlagen des Jäger-Komplexes gehört auch die jüdische Sage Die goldene Gasse, die Kafka aus einer alten Sammlung kannte. 51 Es handelt sich um eine Geschichte, die höchstwahrscheinlich auch Heine kannte: Die einzige Tochter eines am Flussufer lebenden Rabbis verliebt sich in einen Jungen, der ein grünes Jagdwams trägt und mit dem Kahn flusswärts von seinem Schloss gekommen war, um durch die wahre Liebe eines irdischen Mädchens erlöst zu werden. Es bestehen einige offensichtliche thematische Gemeinsamkeiten mit der Geschichte des Fliegenden Holländers, die Heine ebenfalls durch das Theaterstück eines englischen Autors gekannt hatte, und die er in seinen Schna‐ belewopski quasi als ironisches Zwischenspiel eingebettet hatte. Intertextualität ist bei Kafka nie Selbstzweck. Sie steht vielmehr im Dienst einer besonderen existentiellen Problematik. III. Coda: Von Mauscheln, Musik und Mäusen Milena gegenüber hat Kafka die eigene unmusikalische Natur betont; 52 daran soll es liegen, dass er sich mit Grillparzers armem Spielmann identifizierte. 53 An einer anderen Stelle des Briefwechsels schlägt jedoch die Unmusikalität in den engelschen Gesang um, der aus der tiefsten Hölle emporsteigt. 54 Mit Max Brod 223 Heine und die Folgen 55 Franz Kafka: Briefe. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1996, S. 226. 56 Kafka: Tagebücher (Anm. 40), S. 36. 57 Kafka: Tagebücher (Anm. 40), S. 251. 58 Kafka: Nachgelassene Schriften (Anm. 39), S. 100. 59 Kafka: Briefe an Milena (Anm. 55), S. 296. hat der Schriftsteller die apodiktische Behauptung der eigenen Unmusikalität relativiert: „Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann“. 55 Akustische und visuelle Wahrnehmungen bilden bei Kafka eine unzertrennliche Einheit und erweisen sich darin als die zwei Seiten seiner eigentümlichen mimetischen Absicht, wodurch der Schrift‐ steller die Unzulänglichkeit der Sprache und vor allem der psychologischen Be‐ trachtung umgeht, um wenigstens indirekt und gleichnishaft auf das Nicht-Mit‐ teilbare hinzuweisen. Bereits in einer frühen Tagebucheintragung schrieb sich Kafka eine bestimmte „Verwandlungsfähigkeit“ zu, die darin besteht, die fremde Individualität in sich selbst aufzunehmen, so dass diese so deutlich und doch unsichtbar wie ein Vexierbild ist. 56 Bei einer späteren Eintragung bemerkt er, dass der eigene Nachahmungstrieb nichts Schauspielerisches hat. Ihm fehlt vor allem die Einheitlichkeit. 57 Einer solchen Auffassung der Mimesis liegt die Absicht zugrunde, dem Anth‐ ropomorphismus der Psychologie auszuweichen, deren täuschendes Projekti‐ onsverfahren einer Spiegelschrift gleicht. 58 Kafkas Misstrauen der Psychologie gegenüber stellt jedoch nur einen Aspekt der viel umfassenderen Frage nach der Sprachskepsis oder Sprachverzweiflung dar, deren Auswirkungen den philoso‐ phischen und literarischen Diskurs der Jahrhundertwende mitgeprägt haben. Bei Kafka ist dieser Problemkreis einer Reihe Variationen unterzogen von der Rhetorik der Unsagbarkeit seines Erstlings Beschreibung eines Kampfes (1904/ 5) bis zum regelrechten Entzug der Referenz der letzten Werke. Selbstverständlich hat die Unsagbarkeit der Wahrheit wiederum mit dem Problem der eigenen schwer zu fassenden jüdischen Identität zu tun. So liest man in einem der letzten Briefe an Milena: Dieses Wahrreden ist also kein großes Verdienst, es ist ja auch so wenig, ich suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärbares zu erklären, von etwas zu erzählen, was ich in den Knochen habe und was nur in diesen Knochen erlebt werden kann. 59 Von dieser Wahrheit, die man in den Knochen hat, spricht die Erzählung Forschungen eines Hundes. In der Begegnung des einsamen, forschenden Hundes mit den sieben musizierenden Lufthunden kehrt das biographische Ereignis von Kafkas erster Begegnung mit dem jiddischen Theaters wieder, die zehn Jahre 224 Barbara Di Noi 60 Kafka: Nachgelassene Schriften (Anm. 39), I, S. 189. zuvor in der Heimatstadt Prag stattgefunden hatte, als die Schauspielertruppe aus Lemberg im dortigen Café Savoy gastiert hatte. In Kafkas Tagebucheintra‐ gungen des Winters 1911/ 12 sind viele starke Eindrücke von Begeisterung, Mitleid, Würdigung und staunender Einfühlung verstreut, die die armen Ost‐ juden und ganz besonders ihr Theater in ihm hervorgerufen hatten. Auf diese entscheidende Begegnung geht auch die Rede über den Jargon zurück, die Brod unter dem Titel Rede über die jiddische Sprache aus dem Nachlass veröffentlichte; das ist der Vortrag, den Kafka anläßlich des Abschiedsabends der Lemberger Schauspieler im Februar 1912 hielt. Jargon taucht bei Kafka als Motiv auf, das alles - Musik, körperliche Bewegung und Rhythmus - umfasst: Man soll sich vom Jargon ergreifen lassen und die eigene Individualität einfach vergessen; Leichtigkeit und Musikalität sind die beiden Elemente, die Kafka in dem kurzen, aber vielsagenden Vortrag hervorhebt. Ohne es offen zu formulieren, umschreibt seine Rede das erkenntnistheoretische Paradoxon des Westjuden und des einzelnen, isolierten Schriftstellers: Die Wahrheit kann nicht von außen her erkannt oder erreicht werden; man muss die Wahrheit sein oder unmittelbar erleben. In seinem Streben nach der unmittelbaren Erkenntnis der Wahrheit steht das Subjekt sich selbst im Wege: Deshalb denkt auch kein vernünftiger Mensch daran, aus dem Jargon eine Welt‐ sprache zu machen […]. Nur die Gaunersprache entnimmt ihm gern, weil sie weniger sprachliche Zusammenhänge braucht als einzelne Worte. Dann weil der Jargon doch lange eine mißachtete Sprache war. […] Das ist das Wichtigste, denn mit jeder Klage entweicht das Verständnis. Bleiben Sie aber still, dann sind Sie plötzlich mitten im Jargon. Wenn Sie aber der Jargon einmal ergriffen hat - und Jargon ist alles, Wort, chassidische Melodie und das Wesen dieses ostjüdischen Schauspielers selbst. Dann werden Sie ihre frühere Ruhe nicht mehr erkennen. 60 Das Jiddisch ist stets im Fließen; diese Sprache befindet sich in einem Zustand des fortwährenden Wandels und unaufhaltsamer Beweglichkeit; in ihrer stän‐ digen Dynamik ähnelt sie dem ebenso unaufhaltsamen Fluss des Schreibens, der nie zum Stocken kommt. Das Jiddisch setzt sich der Erstarrung und jedem Besitz entgegen. Darin ähnelt sie dem Ich, das sich gegen die Fixierung durch die Mitmenschen aber zugleich gegen sich selbst zur Wehr setzt. Vor allem widerspricht das Jiddisch jedem erstarrten, eindeutigen und endgültigen Identitätsbegriff: als Mischmasch, der aus den verschiedensten Traditionen und Sprachen besteht, bietet es sich als sprachliche Entsprechung von tierischen 225 Heine und die Folgen 61 Ebd. 62 Ebd., II, S. 516. 63 Max Brod, Franz Kafka: Eine Freundschaft. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989, S. 359. 64 In seinem im Mai und Juni 1910 vorgetragenen Essay Heine und die Folgen wirft Kraus dem Stil Heines ein übersichtliches Nebeneinander von Form und Inhalt vor, bei dem es keine Einheit gebe. Heine sei ein tüchtiger Betrüger oder Taschenspieler, bei dem eine gewisse Wehrlosigkeit vor der Form, die typisch für die Franzosen sei, zu bemerken sei. Bei Kraus hat jedoch zwischen 1908 und 1910 mit Bezug auf Heine eine abrupte Umorientierung stattgefunden: Kraus, der sich mit der Schrift Eine Krone für Zion (1899) zur Assimilation bekannt hatte, wäre von einer im Grunde positiven Wertung Heines, zur entgegengesetzten Stellungnahme übergegangen (Eiji Kouno: Heine und die Folgen in performativer Sicht. In: Heine-Jahrbuch 55 (2016), S. 28-55). Hybriden, Zentauren und allerlei Mischwesen, die Kafkas Welt ansiedeln: Der Jargon besteht fast nur aus Fremdwörtern: Alles dieses Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leicht‐ sinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustande zusammen‐ zuhalten. 61 Das Mannigfaltige des Jargons ist hier der Zentralbegriff: Er gilt als Schnittstelle, die zugleich auf die heterogene Struktur des Ich und auf das Disparate und Mannigfaltige an Kafkas Schreiben hinweist. Das Mannigfaltige umfasst seiner‐ seits das musikalische Prinzip der Variationsreihe, das Kafka am Anfang seines letzten Romans in den Tagebüchern programmatisch hervorhebt. 62 1921 greift Kafka indirekt in die Debatte um das Mauscheln ein, die Karl Kraus mit seiner 1910 veröffentlichten Schrift Heine und die Folgen ausgelöst hatte. Das Mauscheln erhebt Kafka zum paradigmatischen Vorbild einer inneren Mannig‐ faltigkeit, die jetzt von der Aufforderung zu einer ausschließlich deutschen oder ausschließlich jüdischen Literatur bedroht wurde. Die Anschuldigung des Mauscheln verwendet Kafka unterschwellig gegen Kraus selbst, der Heine als Feuilleton-Juden der Verderbung der deutschen Sprache angeklagt hatte. Das Mauscheln wandelt Kafka somit aber ins Positive um, um die Aufmerksamkeit auf den Beitrag der deutsch-jüdischen Schriftsteller zur deutschen Literatur zu lenken. 63 Der Sprache des Feuilleton-Juden Heinrich Heine hatte Karl Kraus nämlich einen Mangel an Einheit vorgeworfen. 64 Ohne ihm direkt zu widersprechen, erkennt Kafka ausgerechnet im Prinzip des Mannigfaltigen und Disparaten das Merkmal dieser deutsch-jüdischen Literatur, die besser als an‐ dere Nationalliteraturen der komplexen Struktur der Moderne gerecht werden konnte. Getragen wurde sie von einer Generation deutsch-jüdischer Schrift‐ steller, zu denen selbstverständlich Kafka selbst zählte, deren Vorläufer ohne 226 Barbara Di Noi 65 Franz Kafka: Nachgelassene Schriften (Anm. 39), II, S. 467-469. 66 Thorsten Palkhoff: Der Ort der Musik in Heines Schriften. In: Heine-Jahrbuch 44 (2005), S. 177-187. Zweifel Heine war; diese Generation schrieb jedoch inmitten eines Vakuums; die entwurzelten Schriftsteller zeichneten sich durch eine Körperlosigkeit aus, die an die luftigen Gestalten des jüdischen Theaters erinnert, besaßen aber auch die wunderbare Leichtigkeit und Lebendigkeit der musizierenden Lufthunde, denen die erstaunte Bewunderung des isolierten forschenden Hundes der späten Erzählung gilt. 65 In der Episode der Begegnung mit den musizierenden Hunden fiel die aus dem leeren Raum entstehende Musik wieder in das Nichts hinunter, und wies dabei auf dieselbe scheinbare Leere hin, auf die auch der Landvermesser K. in der Nacht seiner Ankunft im Dorf blickt: Nichts oder Leere sind nach Kafka Herz und Mittelpunkt, um den das Schreiben kreist wie die Krähen, die den Turm des Schlosses umflattern. Leer ist nunmehr für ihn, anders als für Heine, auch der Mittelpunkt der Macht und des Gesetzes, mit denen er das Judentum als negative Instanz identifiziert hat. Auch die Sinnlichkeit kann ihm keinen Ausweg mehr bieten, weil selbst Geschlecht und Lust zum unsichtbaren Gericht des Judentums gehören, das sich vom Machtapparat der westlichen Sozialisation schwer unterscheiden lässt. Auch in dieser Verknotung von Musik und Nichts könnte man eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Kafka und Heine erblicken, und diese steht wiederum im Zeichen des Judentums: In der Spur Hegels begriff nämlich Heine die Musik als Hinwendung zum Abstrakten und als Ausdruck des Verlusts jeder Plastizität und Stofflichkeit der modernen Kunst. An diesem Verlust an plastischem Vermögen bei den Modernen war für ihn vor allem die Hypertrophie des Bewusstseins schuld, was wiederum auf das Kosten vom Baum der Erkenntnis zurückzuführen ist. Schließlich erlischt sogar der Farbensinn, und was übrig bleibt, ist nichts als eine lallende Überschwänglichkeit, in der sich die ganze materielle Welt auflöst. 66 227 Heine und die Folgen 1 Clara Viebig: Die Wacht am Rhein. Zell 2014, S. 16. 2 1940 legt der Paul Franke Verlag eine nichtautorisierte Romanversion von Die Wacht am Rhein auf, die Viebigs Würdigung Heinrich Heines negiert. Die Zitate aus dem Buch der Lieder des von den Nationalsozialisten verbotenen jüdischen Dichters wurden gestrichen und zum Teil durch Friedrich Rückerts Liebesfrühling ersetzt. Mit Rückert wird einer der deutschen Dichter in den Roman montiert, den die Nationalsozialisten als patriotischen Vorzeigeschriftsteller gefeiert haben. Vgl. Rolf Selbmann: Der Dichter und seine Vaterstadt. Die Wirkungsgeschichte Friedrich Rückerts in Schweinfurt. In: Rückert-Studien IV. Hrsg. von Helmut Prang. Schweinfurt 1982, S. 119-139. 3 Bernd Kortländer macht auf das grundsätzliche Spannungsfeld in Viebigs Werk aufmerksam: „Clara Viebig bewegte sich zwischen den Fronten der beiden literari‐ schen Strömungen, zwischen Naturalismus und Heimatkunst, bediente beide Muster gleichermaßen, ohne sich wirklich festzulegen“ (Nachwort. In: ders. (Hrsg.): Clara Viebig Lesebuch. Köln 2015, S. 141-149, hier S. 143). In einer 1906 herausgegebenen Literaturgeschichte findet sich ein Eintrag zu Die Wacht am Rhein, der Roman sei „wieder ein Meisterstück der Milieuschilderung und des Lokalkolorits […] Doch auch hier verriet sich weibliche - ich will nicht sagen Unkunst, aber Minderkunst in der großen Bequemlichkeit des biographischen Rahmens“ (Paul Schlenther (Hrsg.): Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung. Band III: Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Richard M. Meyer. 3. umgearbeitete Auflage. Berlin 1906, S. 756). Es sei die Frage erlaubt, wo einem männlichen Autor die bloße Tatsache, dass sein Werk biographische Züge trägt, der Kunstwert seines Schaffens abgesprochen würde. Gegen Meyers Bewertung als Minderkunst wendet sich Anne Marie Morisse: „[…] so darf Die Wacht am Rhein als ein Werk echter Heimatkunst Zur Problematik kulturbezogener Identität am Beispiel von Clara Viebigs Roman Die Wacht am Rhein Corinna Schlicht, Duisburg-Essen „[D]er Preuße sollte nicht die Oberhand kriegen; am Rhein war es geboren, ein rheinisches Kind sollte das Finchen bleiben! “ 1 Diese Anrufung gilt Josefine Rinke, der weiblichen Hauptfigur in Clara Viebigs Roman Die Wacht am Rhein, der erstmalig 1901 bis 1902 in Fortsetzungen in dem Unterhaltungsblatt Über Land und Meer und 1902 in Buchform erscheint. Der Roman ist ausgesprochen erfolgreich, bis 1929 erreicht er 44 Auflagen. 2 Nicht zuletzt aufgrund von Text‐ stellen wie dem Eingangszitat ist Viebigs Roman als Beitrag zur Heimatkunst verstanden worden. 3 Neben den von der mütterlichen Familienseite wiederholt im Sinne höchster künstlerischer Qualität gewertet werden“ (Die Gestaltung des historischen Stoffes zum Kunstwerk in Clara Viebigs „Die Wacht am Rhein“. In: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn 4/ 5 (1909), S. 105-138, hier S. 116). 4 Viebig: Wacht (Anm. 1), S. 31. 5 Vgl. Caroline Bland: Prussian, Rhinelander or German? Regional and national identities in the historical novels of Clara Viebig. In: Travellers in Time and Space / Reisende durch Zeit und Raum. The German Historical Novel / Der deutschsprachige historische Roman. Hrsg. von Osman Durrani und Julian Preece (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 51). Amsterdam / New York/ NY 2001, S. 383-399; Hugo Aust: Clara Viebig und der historische Roman im 20. Jahrhundert - Eine Skizze. In: Volker Neuhaus / Michel Durand (Hrsg.): Die Provinz des Weiblichen. Zum erzählerischen Werk von Clara Viebig. Bern [u. a.] 2004, S. 77-96; Hermann Gelhaus: Dichterin des sozialen Mitleids: Clara Viebig. In: Karin Tebben (Hrsg.): Deutschsprachige Schriftstel‐ lerinnen des Fin de siècle. Darmstadt 1999, S. 330-350. vorgetragenen, auf den Rhein bezogenen identifikatorischen Angeboten sieht Josefine sich auf der anderen Seite durch ihren Vater mit explizit als preußisch ausgewiesenen Tugenden konfrontiert, die nicht minder auf sie wirken: „Die hatte Ehrgefühl, Gott sei Dank! Die Ehre, die Ehre, nicht früh genug hält man die hoch. Ja, seine Tochter - die war Blut von seinem Blut! “ 4 Die Oppositionsbildung aus protestantischem Preußentum auf der einen und rheinischem Katholizismus auf der anderen Seite strukturiert den Roman, der meines Erachtens eine natu‐ ralistisch-kritische Reflexion des sogenannten Kulturkampfs im 19. Jahrhundert unternimmt und zugleich Heimat- und Patriotismusdiskurse problematisiert. 5 Die folgenden Überlegungen sind von der These geleitet, dass Viebig Vor‐ stellungen kultureller Identität und die Identifikation mit patriotischen Ehr‐ vorstellungen hyperbolisch ausstellt. Geschichte und Politik erscheinen für die Romanfiguren allgegenwärtig und werden nicht abstrakt, sondern anhand von Einzelschicksalen reflektiert. Dies vermittelt sich durch den dramatischen Modus, der sowohl durch die naturalistisch-dialektal geprägten Dialoge als auch durch die Häufung von erlebter Rede erzeugt wird. Die heterodiegetische Erzählinstanz mit wechselnden internen Fokalisierungen sorgt dafür, dass die verschiedenen Standpunkte zu Kultur, Religion, Politik und Krieg an die jeweilige Figurenperspektive gebunden bleiben. Die Polyphonie des Romans ermöglicht eine Pluralität an Perspektiven auf die geschilderten Ereignisse, sodass sich der Roman im Ganzen nicht übergeordnet positioniert oder wertet. Dies bleibt den Rezipient: innen überlassen. Die Wacht am Rhein gliedert sich in drei Bücher mit insgesamt 28 Kapiteln. Handlungsort ist die Stadt Düsseldorf, der Handlungszeitraum erstreckt sich von den 1830er Jahren bis zum Jahr 1871. Damit schlägt Viebig den gleichen historischen Bogen wie Thomas Mann in seinem nur ein Jahr zuvor erschie‐ 230 Corinna Schlicht 6 Vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann / Antje Johanning: Germania übernimmt die „Wacht am Rhein“. In: dies.: Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes. Darmstadt 2003, S. 222-239. Die vierte Strophe lautet: „Und ob mein Herz im Tode bricht, / Wirst du doch drum ein Welscher nicht; / Reich wie an Wasser deine Flut / Ist Deutschland ja an Heldenblut“ (zit. n. Cepl-Kaufmann / Johanning: Mythos, S. 222). nenen Familienroman Buddenbrooks. Während Mann jedoch eine privilegierte Kaufmannsfamilie mit ökonomischer und politischer Macht ins Zentrum setzt, erzählt Viebig eine Geschichte von unten, also aus der Perspektive einfacher Leute, nämlich eines preußischen Feldwebels, der mit einer kleinbürgerlichen Gastwirtstochter in Düsseldorf eine Familie gründet. Viebigs Romantitel ist eine Allusion auf Max Schneckenburgers militaristisches Rheinlied aus dem Jahr 1840, das den Rhein, der die Grenzlinie zu Frankreich bildet, als identifikatori‐ sches Symbol deutscher Einheit darstellt. 6 Im Roman wird aber genau diese chauvinistische Heimatliebe in Frage gestellt, etwa dadurch, dass die Rhein‐ länder sich den Franzosen, die im Lied zum Feind stilisiert werden, wesentlich näher fühlen als den Preußen, die als unliebsame Besatzer wahrgenommen werden. Auch wird der Rhein zwar mit einem starken Heimatgefühl assoziiert, doch gilt er nicht als Grenze, sondern als Verbindungslinie. Anhand der alteingesessenen Düsseldorfer Familie Zilles, in die der preu‐ ßische Feldwebel Friedrich Rinke einheiratet, wird auf vier Generationen blickend zum einen die gesellschaftspolitische Entwicklung Deutschlands nach‐ vollzogen, zum anderen problematisiert der Roman die Frage nach kultureller Identität als Familienkonflikt. Die katholische, sich mit dem Rheinland identifi‐ zierende Familie Zilles lebt und arbeitet in der Düsseldorfer Altstadt, in der Peter und Josefine Cordula Zilles eine Gaststätte betreiben. Ihre Tochter Kathrina hat sich in den protestantischen, aus Berlin stammenden Feldwebel Friedrich Rinke verliebt, der in der Düsseldorfer Kaserne stationiert ist. Die beiden heiraten und bekommen insgesamt sechs Kinder. Ihre Ehe wird zur Zerreißprobe; alles wird zur Frage rheinisch-katholischer oder preußisch-protestantischer Lebens‐ vorstellungen, wobei der Roman auch die Konfrontationshaltung als solche problematisiert. Im Hintergrund agieren Kathrinas Eltern mit ihrer Gaststätte, die den Gegenort zur Kaserne darstellt, in der die junge Familie seit der Hochzeit wohnt. Dass das jeweilige Beharren auf dem eigenen kulturellen Selbstbild vom Roman hinterfragt wird, zeigt sich unter anderem daran, dass beide Figuren nicht eben sympathisch dargestellt werden. Die träge, verwöhnte Kathrina hat sich in die schmucke Uniform Rinkes verliebt und begegnet ihrem Ehemann engstirnig und wenig empathisch. Rinke ist früh verwaist; sein Vater „lag 231 Zur Problematik kulturbezogener Identität 7 Viebig: Wacht (Anm. 1), S. 21. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 22. 10 Ebd., S. 81. 11 Ebd., S. 157. wohl in irgendeinem Massengrab bei Waterloo“, 7 seine todkranke Mutter hat er gepflegt: „Da hatte er gelernt, die Zähne zusammenzubeißen. […] Die Sterbende suchte bei ihm Wärme in ihrer Todeskälte, selbst frierend, preßte er sie in seine Kinderarme.“ 8 Von all dem will seine Ehefrau jedoch nichts wissen: „Es machte sie grausen und verdarb ihr die gute Laune.“ 9 Die im Roman breit ausgestellte rheinische Gastfreundschaft und Lebensfreude reicht nicht über die Ressentiments gegenüber den protestantischen Preußen hinweg; an Kathrina zeigt sich, dass sie ihren Mann gar nicht erst verstehen will. Der Roman fußt einerseits auf einem den Naturalismus prägenden deterministischen Menschenbild. Rinke ist wie Katharina von seiner Umgebung, seinen Erfah‐ rungen und seinem Milieu geprägt. Zugleich deutet der Roman auf den Bereich, der in der Eigenverantwortung des Menschen steht, den Charakter, genauer die Mitmenschlichkeit der Figuren. In gleicher Weise wird Rinkes in seiner Kindheit erlernte Härte vom Roman kritisch ausgestellt. Zum Beispiel schlägt er seinen Sohn Wilhelm erbarmungslos, weil dieser nicht seinen Vorstellungen männlicher Wehrhaftigkeit entspricht. Unerbittlich terrorisiert er seine ganze Familie und verspielt damit seine Chance auf die Geborgenheit, derer er in seiner eigenen Kindheit verlustig gegangen ist. Seine „unwiderstehliche[] Gewalt“ 10 findet sich an verschiedenen Stellen beschrieben; Josefine hält ihrem Vater den Spiegel vor: „Wir - fürchten - dich - alle - ! “ 11 Zwar zeigt sich Rinke erschüttert, doch ändert er sein Verhalten nicht; so gestattet er seiner Tochter keine Liebesehe, weil er nicht will, dass sie einen Mann heiratet, der im militärischen Rang über ihm steht, sondern zwingt sie in eine Ehe mit einem von ihm gewählten Mann. Die Figurenzeichnung Rinkes erscheint ganz im Sinne eines um 1900 erwachenden psychologischen Interesses der Literatur, denn durch die interne Fokalisierung wird deutlich, dass die äußere Strenge einem inneren Mangel an Liebe und Geborgenheit entspringt. Die kulturelle Identitätsproblematik stellt das zentrale Problem des Romans dar, weil es sich um Abstrakta (das Rheinische, das Preußische) handelt, die die konkrete Begegnung von Menschen als Menschen verhindern. Dieser Aspekt von Mitmenschlichkeit bildet das Gegengewicht zu den identifikatorischen Kulturnarrativen. Die Eheleute geben ihre Vorurteile an die nachfolgende Ge‐ neration weiter, wobei sich die Erstgeborene, Josefine, zur Mittlerin entwickelt. Sie ist die eigentliche Hauptfigur. Ihr Bruder Wilhelm, der Zweitgeborene, 232 Corinna Schlicht 12 Ebd., S. 203f. Hervorhebung im Original. 13 Bland: Prussian (Anm. 5), S. 389. 14 Morisse: Gestaltung (Anm. 3), S. 122. 15 Ebd., S. 112. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 113. 18 Ebd., S. 119. bildet dazu den Gegenpol, denn er entspricht nicht dem väterlichen Ideal militärischer Männlichkeit. Einen Höhepunkt des Konflikts bildet Wilhelms Konfrontation mit seinem Vater am 8. Mai 1849, wenn er als Barrikadenkämpfer diesem gegenübersteht. Friedrich Rinke bringt es nicht über sich, den eigenen Sohn zu erschießen, weswegen er die Konsequenz zieht und sich umbringt. Dass er damit seine Identität als preußischer Soldat festschreibt, unterstreicht sein Abschiedsbrief: „Nur wenige Worte, einen einzigen kurzen Satz; aber klar und deutlich stand da, schön wie eine Vorschrift: Über alles die Ehre! So. Das konnten sie gut lesen.“ 12 An seiner Figur zeigt Viebig, wie fatal kulturelle Identitätsdispositive auf ein Subjekt wirken. Entsprechend kommt Caroline Bland zu dem Schluss, „that Rinke becomes a victim of the Prussian principles he has internalised“. 13 Die zeitgenössische Rezeption des Romans liest dies anders. 1909 hält Anne Marie Morisse in der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn ein Referat zu Viebigs Roman. Friedrich Rinke wird von Morisse aufgrund seines „staatlich[en] diszipliniert[en] Preußentum[s]“ als Leitfigur gelesen: „[E]r bleibt Sieger“. 14 Als Hauptgegensatz des Romans liest Morisse den Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich. Für sie kreist der Roman um den „Kern, die deut‐ sche Einheitsidee“, 15 und Viebig erweist sich als Autorin, die „den bleibenden nationalen Gehalt nationaler Kämpfe um nationale Güter“ 16 illustriert. Josefines Bejahung der väterlichen Tugenden wird hier als erzieherische Maßnahme der Autorin verstanden, die anhand ihrer Figur die Assimilation der Rheinländer mit den Franzosen als falschen Weg vorführe. Die „mit absolutistischer Strenge durchgeführte Einwirkung Preußens auf die Rheinländer“ 17 erkennt Morisse als notwendig für die Befreiung und Einigung Deutschlands. Das Preußische gilt Morisse als das „urdeutsche[] Wesen[]“, das „vor völkischer Entartung zu schützen“ sei, wobei diese Entartung während der „Napoleonischen Ära“ dem Rheinland widerfahren sei, als es einer „kosmopolitischen und infolgedessen zugleich im höchsten Grade partikularistischen Denkweise“ verfallen sei; das Preußentum bedeutet in diesem Verständnis gleichsam die Therapie. 18 Kultur‐ geschichtlich ist diese Einschätzung instruktiv, weil sie heutige Rezipient*innen daran erinnert, dass das Verständnis literarischer Texte immer auch durch den Wertehorizont der Rezipierenden geleitet ist. Für Morisse gilt der am Ende des 233 Zur Problematik kulturbezogener Identität 19 Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München / Wien 1996, S. 19. 20 Martin Sellner: Identitär! Geschichte eines Aufbruchs. Schnellroda 2017. 21 Vgl. Enno Stahl: Die Sprache der Neuen Rechten. Populistische Rhetorik und Strategien. Stuttgart 2019. 22 Ebd., S. 54. Romans beschriebene Friedhof voller Soldatengräber als Beleg für tapferen Auf‐ opferungswillen, weshalb sie den Roman für eindeutig in seiner patriotischen Bewertung von Krieg und Soldatentum hält. Teilt man diese außerliterarische Haltung jedoch nicht, kann man das Friedhofsbild und Josefine, die an den Gräbern von Vater, Sohn, Ehemann und zahlreichen gefallenen Bekannten steht, als Abschreckung und als einen Appell für Mitmenschlichkeit und als Ablehnung von Gewalt lesen. Ich komme später noch auf das Schlussbild zurück; zuvor sind einige Ausführungen zum Konzept kultureller Identität notwendig. Meines Erachtens kann Viebigs Roman als eine Gegenerzählung zu einem Konzept kultureller Identität, wie es der Politikwissenschaftler Samuel P. Hun‐ tington 1996 in seinem viel rezipierten Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order entwickelt hat, verstanden werden. Huntington erläutert seinen Ansatz wie folgt: „Das zentrale Thema dieses Buches lautet: Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt.“ 19 Kulturen sind definiert durch ihre geistig-weltanschauliche Dimension, die sich in den gelebten Werten, Normen, Institutionen und Denkweisen, insbesondere in der Religion, zeigt, wodurch die Kulturen - nach Huntington - identitätsbildend wirken. Entscheidend für meine Überlegungen ist Huntingtons Kulturbegriff, der zahlreiche Adepten gefunden hat, zu denen u. a. die Neurechte Identitäre Bewegung gehört, die sich in verschiedenen Ländern Europas in den letzten Jahren formiert hat und die Kulturbegegnung nur als Konfrontation narrativiert. Martin Sellner, der führende Kopf der Identitären Bewegung in Österreich, hat unter dem Titel Identitär! Geschichte eines Aufbruchs  20 das Aktionsprogramm dieser poli‐ tischen Bewegung beschrieben. 21 Die konstatierte eigene kulturelle Identität ist der Ausgangspunkt aller politischen Aktionen, die im Kern darauf abzielen, kulturelle Hegemonie zurückzugewinnen. „Schon das Logo der Identitären Bewegung verweist […] auf einen ‚Kampf der Kulturen‘, die Konfrontation zwischen Abend- und Morgenland.“ 22 Dies ist die für die vorliegenden Überle‐ gungen wohl zentrale Einsicht, dass die Behauptung fester kultureller Identität dazu führt, dass der Kontakt mit anderen kulturellen Identitäten immer nur im Modus der (gegenseitigen) Bekämpfung gedacht werden kann. Heinrich 234 Corinna Schlicht 23 Heinrich Detering: Was heißt hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Stuttgart 2019, S. 34. 24 Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007. 25 Ebd., S. 12. 26 Ebd. 27 Vgl. Benjamin Bauer: Kultur und Rasse. Determinismus und Kollektivismus als Ele‐ mente rassistischen und kulturalistischen Denkens. In: Berliner Debatte Initial 30 (2019), H. 1, S. 15-26. Detering hat in einem Essay konzise herausgearbeitet, welches Wir in den Reden führender AfD-Politiker: innen konstruiert wird, das heißt, auf welche vermeint‐ liche historische Wurzel angespielt wird, die als Ausgangspunkt kultureller Identitätsbestimmung dient. In dem Wir Neurechter Sprecher: innen wird „die ‚kulturelle Identität‘ als die Summe aller angenommenen Wesenseigenschaften des Kollektivsubjekts ‚Deutsches Volk‘“ verstanden, dabei ist es charakteristisch für die Denk- und Redeweisen der Rechten […], diese Identität als eine räumlich und zeitlich stabile, kontinuierliche und mit einem biologischen Substrat verbundene Sache anzusehen. Und es ist leider keineswegs mehr banal, gegen diese Auffassung daran zu erinnern, dass jede Kultur in sich plural ist, mehrstimmig, divergent. 23 Eine Gegenerzählung zu solchen Konzeptualisierungen ‚kultureller Identität‘ bildet nun Clara Viebigs Roman insofern, als er deutlich macht, dass erst die wiederholende Narrativierung kultureller Eigenheiten diese zu einer vermeint‐ lichen festen Größe machen. Kultur wird - dies verdeutlichen die Figurenent‐ wicklungen im Roman - behauptet, performiert, tradiert und dadurch zu einer statischen identifikatorischen Kategorie, die nach innen der Selbstbildung und nach außen im Modus der Abwehr der Selbstkonturierung dient. Was dabei jedoch verloren geht, sind Empathie und Mitmenschlichkeit. Amartya Sen macht mit seiner Streitschrift Identity and Violence: The Illusion of Destiny  24 auf einen weiteren problematischen Punkt aufmerksam, nämlich den „Reduktionismus“, 25 der dem Konzept kultureller Identität inhärent ist, weil der Identitätsbegriff die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen nur singulär denkt. In der gegenwärtigen Debatte um den Kampf der Kulturen wie auch in Viebigs Textwelt wird die Religion zu der einen identitätsbestimmenden Kategorie. Das führt aber zu einer „Verkürzung des Menschen“. 26 Viebigs Roman entlarvt diese Reduktionen innerhalb eines kulturalistischen 27 Identitätskonzepts, indem die Familie Zilles in Rinke nie den Menschen, sondern immer nur den Preußen sieht und umgekehrt klammert sich Rinke geradezu zwanghaft an den Ehrbegriff, an dem er seine ganze Identität misst. Gegen einen Identitätsbegriff, der die 235 Zur Problematik kulturbezogener Identität 28 François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin 2017. 29 Ebd., S. 7. 30 Ebd., S. 42. Hervorhebungen im Original. 31 Ebd., S. 36. 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. 46. 34 Ebd., S. 36. Hervorhebungen im Original. 35 Ebd., S. 90. 36 Ebd., S. 91. 37 Vgl. ebd., S. 36f. 38 Vgl. ebd., S. 58. Hervorhebung im Original. 39 Ebd., S. 83. Schreibweise im Original. (eigene) Kultur als Referenzpunkt behauptet, indem Kultur als Entität und in Abgrenzung zu anderen Kulturen hypostasiert wird, wendet sich François Jullien in Il n’y a pas d’identité culturelle. Mais nous défendons les ressources culturelles.  28 Jullien sieht die Funktion kultureller Identität darin, dass sie einen „Schutzwall“ 29 darstellt. Genau diesen Abwehrmechanismus führt Viebig in ihrem Roman vor, wie bereits das Eingangszitat zeigt. Für Jullien ist der Ansatz, das Kulturelle in den Kategorien von Identität und „Differenz“ 30 zu denken, falsch: „[…] eine Debatte, bei der es um die kulturelle ‚Identität‘ geht, [ist] mit einem Geburtsfehler behaftet“, 31 weil sie auf differenzielle Identifikation setzt und zugleich eine „anfängliche Identität“ voraussetzt, „aus der heraus sich die Diversität der Kulturen entfaltet hat“. 32 Diese Vorannahme erweist sich bei genauer Betrachtung als „hoffnungslos mythologische[] Vorstellung […], es habe irgendwann einmal eine kulturelle Einheit-Identität gegeben, die sich dann, wie durch einen Fluch (Babel) […] diversifizierte“. 33 Jullien schlägt daher vor, nicht von Differenz, sondern von „Abstand“ zu sprechen, um nicht eine kategoriale Unterscheidung, sondern „Entfernung“, und das heißt, Wege zueinander zu erfassen. 34 Es geht in diesem Modell im Kern darum, Kultur „ihren Exklusivitätsanspruch“ 35 zu nehmen; auf diese Weise stehen Kulturen nicht mehr in Konkurrenz zueinander, die allenfalls die Assimilation als Annäherung kennen, sondern sie erkennen im jeweils anderen „Blickwinkel […], was es dort an anderen Möglichkeiten zu entdecken gibt“. 36 Kulturen haben und vermitteln also keine feste Identität, sondern unterliegen prozesshaften Entwicklungen, die sie als Ressourcen  37 erscheinen lassen. Unter Ressourcen versteht Jullien die Inventarisierung kultureller Elemente, die aktiviert werden müssen, um wirken zu können (im Gegensatz dazu wirkt der Identitätsbegriff definitorisch abschließend). 38 Es geht Jullien somit um Verständigung zwischen Kulturen, den „Dia-log“. 39 Das Konzept der Identität verhindert aber die Annäherung, weil es über Differenzkategorien arbeitet, die mit dem Ziel der Identifizierung eine 236 Corinna Schlicht 40 Vgl. ebd., S. 40f. 41 Ebd., S. 47. Hervorhebung im Original. 42 Vgl. ebd., S. 54ff. 43 Ebd., S. 63. Hervorhebung im Original. 44 Ebd., S. 78. 45 Vgl. ebd., S 74. 46 Vgl. ebd., S. 84. Hervorhebung im Original. 47 Viebig: Wacht (Anm. 1), S. 196. abschließende Funktion haben. Das Konzept des Abstands hingegen erlaubt keine abschließenden Definitionen im Sinne von Identitäten, sondern es eröffnet den Raum des Zwischen. 40 Dies ist denn für Jullien auch das Wesen des Kultu‐ rellen, dass es „mutiert und sich wandelt“, das heißt, die „Transformation ist der Ursprung des Kulturellen“. 41 Aus diesem Grund ersetzt Jullien den statischen Begriff Kultur durch den beweglichen des Kulturellen, um das Spannungsfeld zwischen den Kulturen produktiv zu halten, denn im Kern geht es Jullien darum, zwei aus seiner Sicht negativen Entwicklungen unserer Gegenwart ent‐ gegenzuwirken, nämlich der Festigung von Stereotypen und der Hermetik von Gruppen, beides legitimiert sich durch die Behauptung kultureller Identität. 42 Für die Subjektbildung bedeutet dieser Ansatz ebenfalls keine Festlegung auf eine Kultur, sondern „eine Förderung der existentiellen Fähigkeiten des Subjekts, vor allem jener der Loslösung, aus der das Bewusstsein/ Gewissen erwächst“. 43 Damit verabschiedet Jullien die Vorstellung von einer „identitäre[n] Essenz der Kultur“ 44 , denn jeder Rekurs auf so etwas wie den ‚natürlichen‘ Ursprung von Kultur ist ideologischen Ursprungs. 45 Josefine Rinke erscheint nachgerade als Opfer des von beiden Seiten (Mutter und Vater) vorgebrachten Identitätspostulats als Rheinländerin bzw. als Preußin, an dem sie festhält. Anstatt also - mit Jullien gesprochen - die kulturellen Ressourcen, die Josefine von ihren Eltern vermittelt werden, zu analysieren, versucht sie diese zu synthetisieren, 46 woran sie nahezu zerbricht. Von ihrer Umgebung sind ihr die Differenzen der Eltern als kulturelle Unterschiede vermittelt worden und zwar als konkurrierende Identifikationsangebote an sie. Josefine hatte auf ihrem Entwicklungsweg aber immer dann, wenn sie es mit konkreten Menschen zu tun hatte, die sich als Opfer chauvinistischer Kulturidentitäten erwiesen, nicht mehr die Differenz, sondern die Gemeinsam‐ keit mit dem jeweils anderen wahrgenommen und für diese Momente hatte sie den Modus des Kampfes gegen den Modus des Dialogs eingetauscht. Es gibt dazu zwei Schlüsselszenen. 1849 bemitleidet sie einen alten Mann, der beim Barrikadensturm von preußischen Kugeln getroffen wird: „Josefines Blut erstarrt: Die Preußen, die Preußen, die schießen auf wehrlose Bürger - ? ! Pfui! Wie ins Herz getroffen, sinkt sie bei dem alten Mann nieder.“ 47 1871 erkennt die 237 Zur Problematik kulturbezogener Identität 48 Ebd., S. 308. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 311, Hervorhebung im Original. 51 Ebd., S. 312. 52 Ebd. 53 Viebig: Wacht (Anm. 1), S. 319. selbst um ihren Sohn trauernde Mutter in einem schwerverwundeten, jungen französischen Soldaten einen Menschen, der zu bemitleiden ist: „Josefine konnte nicht mehr an sich halten; im ersten Impuls unendlichen Mitgefühls kniete sie nieder und stützte die Elendsten. Blut, Wunden, Kanonendonner, Todesröcheln - es war nichts gegen dies! “ 48 Demgegenüber irritiert nun das Romanende, weil die Figur ihrem Kummer ausweicht und ins Abstrakte flüchtet, um den Schmerz zu sublimieren. Josefine will nach der mitleidvollen Begegnung mit den französischen Soldaten im Winter 1870 „[n]ur Friede! Friede! “ 49 Es folgt der Besuch der Weihnachtsmesse, die Josefine zusammen mit französischen Soldaten feiert und die sie als friedvoll erlebt: „aber ihr Herz schlug warm und lebensvoll und doch voll Ruhe. GLORIA IN EXCELSIS DEO - in ihr war Friede.“ 50 Das nächste Kapitel beschreibt die Kaiserkrönung und endet mit der tatsächlichen Verkündung des Kriegsendes: „Friede! “ 51 Insofern zeigt der Roman, dass die Kriegserfahrungen sein Ende, den Sieg Preußens, die Einheit Deutschlands mit der „alte[n] Märchenkrone“ kollektivpsychologisch wie eine „Erfüllung“ wirken lassen, 52 die sich für Josefine im Schlussbild erfüllt, wenn sie 1871 nach dem Sieg Preußens im Deutsch-Französischen Krieg und den Feierlichkeiten zur Reichsgründung am väterlichen Grab steht: Eine kindliche Liebe ergriff sie heiß zu dem Toten. Sie murmelte: ‚Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre - lieber Vater, ich dank’ dir! ‘ Langsam richtete sie sich auf. Aber dann stand sie doch fest auf ihren Füßen und nahm ihren Knaben an die Hand. Der war nur ihr einziger, ihr letztes Glück - nein, noch ein Glück hatte sie, ein schmerzliches freilich, dem sie auch noch Tränen schenken würde in stillen Stunden, aber es war ein Glück. Sie hatte einmal etwas empfunden, eine Begeisterung, die sie über sich selbst erhoben. Ihr Bestes hatte sie hingegeben für’s Vaterland, so wie der Vater sie gelehrt. Und wenn jetzt der König kam, wie damals in ihrem Traum, und seine Hand ausstreckte: ‚Was gibst du mir? ‘ Dann konnte sie auch ihre Hand ausstrecken und, über das Grab ihres Sohnes weg, weg über Gräber von Tausenden Söhnen, ihm weite, schöne Länder zeigen: das ganze, große geeinigte Deutschland im höchsten Mittagssonnenglanz, - und stolz zu ihm sagen: ‚Das gab ich dir! ‘ 53 238 Corinna Schlicht 54 „Eingedenk des Erlittenen redet sie [ Josefine, C.S.] sich einen ‚Geschichtssinn‘ ein, von dem sie glaubt, daß er ihr etwas gibt.“ (Aust: Clara Viebig (Anm. 5), S. 85). Für Aust stellt Viebig in der Figurenentwicklung Josefines, ihrer existentiellen Verluste durch die Kriege, vor Augen, dass „nationale[s] Pathos“ (Ebd., S. 85) einem therapeu‐ tischen Fluchtreflex entspringt, dass also „die Voraussetzung für die Beruhigung in Angstträumen und anderen traumatischen Erlebnissen liegen“ (Ebd., S. 86). 55 Vgl. Viebig: Wacht (Anm. 1), S. 21. 56 Schon da ist die Mutter Josefine von der Tochter Josefine überstimmt worden. Peter hatte das patriotische Kriegsgeschrei der Soldaten entlarvt: „Un ich - warum muß ich in den Krieg? Wat hab’ ich dann verbrochen? […] ‚Sie freuen sich ja jar nit,‘ murmelte er, ‚sie schreien ja nur hurra! ‘“ (Ebd., S. 274), doch Josefine verlangt von Peter militärische Strenge: „Was der Vater sie eins gelehrt, das gab sie jetzt dem Sohn mit auf den Weg: ‚Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre! ‘“ (Ebd., S. 275). 57 Bland: Prussian (Anm. 5), S. 391. 58 „Josefine is finally able to see these losses in positive terms as worthwhile sacrifices to the nation“ (Ebd.). 59 Ebd. Hugo Aust liest das Romanende so, dass Josefine sich hier einen „Geschichts‐ sinn“ konstruiert, wobei dieser für Aust einen pathologischen Reflex auf individuelle Traumata durch Krieg, chauvinistischen Ehrdiskurs und kultu‐ relle Identitätspolitik der Ab- und Ausgrenzung darstellt. 54 Durch das Schluss‐ bekenntnis Josefines zu Patriotismus und kultureller (preußischer) Identität wird meiner Ansicht nach die Pathologie sogar als solche ausgestellt, denn Josefine agiert hier erstens nicht als erwachsene Frau, sondern sie regrediert zur Tochter. Zudem wiederholt sie den Fehler des Vaters, anstatt Trauer und Mitgefühl in ihr Herz zu lassen, beißt sie die Zähne zusammen  55 und stilisiert das erlittene Leid zu einem Opfer an die Nation. Josefine lenkt durch das Opfernarrativ drittens von ihrer Schuld ab, dass sie ihren Sohn Peter in diesen Krieg getrieben hat, in dem er nicht kämpfen wollte. 56 Anders als Bland, die in ihrer Interpretation zwar einwendet, dass Josefines Schlusswendung „[r]ather implausibly“ 57 sei, die jedoch zu dem Schluss kommt, dass die Figur einen gelungenen Entwicklungsweg vollzogen habe, 58 lese ich Josefines Entwicklung als brüchig. Für Bland synthetisiert Josefine die väterlichen und die mütterlichen Identitätsangebote in ein Drittes: „This underlines the novel’s conclusion that Josefine is finally able to resolve her identity crisis by embracing a German […] identity […]. She has successfully subsumed her divides regional loyalities into an national identity.“ 59 Doch eben diese nationale Identität erscheint in der Figurenentwicklung rather implausibly und kann daher nur pathologisch erklärt werden, sodass jene Narrative, auf die die Figur rekurriert, gleichsam in Frage gestellt werden. Das, was hier nämlich fehlt und was Josefine in den zuvor zitierten Situationen 1849 und mit den französischen Verwundeten zur Kritik am 239 Zur Problematik kulturbezogener Identität väterlichen Nationalpathos preußisch-deutscher Ehre geführt hat, ist der kon‐ krete menschliche Bezug, das Mitleid. Aus der heutigen Perspektive ist der zu Unrecht vergessene Roman insofern lehrreich, als dass er die Konstruktion von chauvinistischen Patriotismus-Narrativen sowie die Herausbildung kultureller Stereotype vorführt und damit zu einer historischen Reflexion gegenwärtiger Debatten um Heimat, Kultur und Identität anregt. 240 Corinna Schlicht 1 Hélène Cixous / Cécile Wajsbrot: Eine deutsche Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt von Esther von der Osten. Wien 2019, S. 33. Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein Johannes Waßmer, Düsseldorf / Osaka Die Literatur: endlos läuft sie an den Mauern entlang und versucht zu dem Spalt zu gelangen, durch den sie auf die andere Seite schlüpfen kann. Hält sich in der Grenzzone auf. 1 René Schickele war Franzose und er war Deutscher, er war Europäer und er war zuerst und vor allem: Elsässer. 1883 geboren und 1940 verstorben erlebt er die po‐ litischen Machtwechsel und den kulturellen Konformitätsdruck, unter dem das Elsass zwischen den drei Kriegen der Zeit steht: die gebietspolitischen Folgen des deutsch-französischen Kriegs von 1870/ 1871, die des Ersten Weltkriegs und die völkisch-rassischen Eroberungsphantasien der Nationalsozialisten. Dieses Spannungsfeld, das die sprachliche, kulturelle und nationalstaatliche Identität Schickeles umfasst, beeinflusst seine politischen Überzeugungen. Standhaft weigert er sich auch in der Zwischenkriegszeit entgegen der Zeitläufte, na‐ tionalen, faschistischen oder kommunistischen, bolschewistischen Parolen zu folgen. Die Ideologieverweigerung Schickeles scheint mir paradigmatischen Charakter zu haben: Seinen europäischen Traum leitet er nicht deduktiv aus rechts- oder linkshegelianischen, moralaffinen oder dezisionistischen politi‐ schen Programmen ab, sondern von der komplexen Identitätskonstruktion der Menschen im Elsass her. Immer wieder arbeitet Schickele sich als Essayist und als Romancier an der Frage nach seiner Identität im elsässischen „Mittelland“ ab, wie ein Landstrich in seinem Roman Benkal, der Frauentröster benannt ist. Schon Schickeles Romanerstling Der Fremde, sein Drama Hans im Schnakenloch und diverse Essays, die programmatische Titel tragen von Geistiges Elsässertum bis hin zur Sammlung Die Grenze, verhandeln die Frage nach nationaler und 2 Eine Übersicht über Schickeles Leben zwischen zwei nationalen Identitäten, sein Œuvre, die Romantrilogie und ihre Handlungsfolge bieten unter anderem Eric Robertson: Writing Between the Lines: René Schickele. ‚Citoyen français, deutscher Dichter‘ (1883-1940). Amsterdam / Atlanta/ GA 1995; Hans Wagener: Europäer in neun Monaten. Gerlingen 2000; Áine McGillicuddy: René Schickele and Alsace. Cultural Identity between the Borders. Bern 2011. 3 René Schickele: Maria Capponi (= Das Erbe am Rhein I). In: ders.: Werke in drei Bänden. Erster Band. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln / Berlin 1959, S. 21-336. regionaler Zugehörigkeit. Die bisherige Schickele-Forschung hat das bereits diskutiert. 2 Die ungewöhnliche, zugleich postmoderne und produktive Art und Weise, in der Schickele in Das Erbe am Rhein Identitätsräume konstruiert, wurde von der Forschung bisher jedoch nicht vollständig ausgeleuchtet. Als Grundfrage durchzieht die Frage nach Lebensräumen Schickeles Leben und als Grundton schreibt sie sich auch ein in seine Romantrilogie Das Erbe am Rhein. In ihrem Zentrum stehen Biographie und Familientableau des elsäs‐ sischen Landadligen Claus Breuschheim. Alle drei Romane spüren dem Einfluss der Zeitfälle um und nach 1900 auf die Menschen im Elsass und deren elsässische Identität nach. Insbesondere die Handlung des zweiten und des dritten Bandes der Trilogie, Blick auf die Vogesen und Der Wolf in der Hürde, verfolgt die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit: Der nationalhoheitliche Wechsel zwingt die Menschen, ihre kulturelle Identität, die sich historisch immer im Grenzland zweier Sprach- und Kulturräume befand, zu vereindeutigen. In der Trilogie erhält das Elsass exemplarischen Rang als europäische Region, weil es als Sprachraum - und damit im sprachorientierten Nationaldiskurs des 19. Jahr‐ hunderts - eine besondere geographische Position innehat: Es liegt zwischen Deutschland und Frankreich, gehöre beiden Nationalkulturen zugleich und damit keiner vollständig an. Die Frage nach Identität umspannt alle drei Romane der Trilogie. Besondere Relevanz erlangt sie im ersten Roman, Maria Capponi. 3 Er steht daher im Zentrum der folgenden Ausführungen. Seine Handlung umspannt etwa die Zeit von 1900 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs. Obgleich Maria Capponi - benannt nach der italienischen Jugendliebe des Erzählers und Protagonisten Claus Breuschheim - zu einem Gutteil nicht im Elsass, sondern in Venedig situiert und das Elsass also gar nicht alleiniger Handlungsort ist, ist der Roman dennoch mit der elsässischen Frage befasst. Mich interessiert der Roman im Besonderen, weil Schickele in ihm der Frage nachspürt, wie Menschen Identitätshorizonte entwickeln, innerhalb derer sie ihr Selbstbild verorten. In der triadischen Ablauflogik einer Zeitroman-Trilogie von historischer Aus‐ gangssituation, Veränderung und Weg in die Zukunft entspricht das dem 242 Johannes Waßmer 4 Quante kritisert den im Hinblick auf Personen unscharfen Begriff ‚Identität‘ und differenziert stattdessen zwischen ‚Personalität‘ und ‚Persönlichkeit‘. Während er ‚Personalität‘ über die Persistenz von Personen herleitet, über ihre Fähigkeit zum Vergangenheitsbezug und zur Zukunftserwartung, spricht Quante von Persönlichkeit im Sinn einer „individuelle[n] Ausgestaltung der Personalität“, die sich vor allem narrativ erweise (Michael Quante: Person. Berlin / New York 2007, insbesondere S. 67, 136, 142). ersten Schritt der Triade: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg durchlebte das Elsass eine Phase relativer nationalpolitischer Ruhe, in der die komplexe elsässische Identität - so legt die Handlung von Maria Capponi nahe - unter einem geringeren Konformitätsdruck steht als zuvor und danach. In diesem historischen Setting erzählt Breuschheim in Rückblenden von seiner Elsässer Kindheit um 1900, von seiner Jugendliebe Maria, von seiner Ehefrau Doris und von deren Tod. Vor allem aber spürt Breuschheim der nie ausgesprochenen, gleichwohl zentralen Frage nach, wie er der wurde, der er ist. Die Darstellung der Komplexität einer solchen Identitäts-Genese gelingt - um ein ästhetisches Urteil anzudeuten - außerordentlich gut, und zwar weil Breuschheim sich in seiner Erzählung auf literarische Mittel besinnt: auf das Verschränken von Traum und Realität, auf das Poetisieren von Alltagsereignissen, auf das Mythologisieren seines Umfelds. Immer wieder werden Grenzräume aufgesucht oder assoziiert, werden Grenzübertritte vollzogen, befindet sich Breuschheim im Zwischen zweier Räume - und genau hieran bildet sich seine Identität. Identität also - so lautet die Kernthese - bildet Breuschheim nicht als eindeutige heran, sondern immer schon im Grenzland verschiedener Räume, deren Verbindung Identität produziert: Identität ist Vielheit. Anhand von drei Argumentationsschritten wird diese These im Folgenden entwickelt. Erstens erstreckt sich der Identitätsdiskurs weniger auf den politi‐ schen Raum des Elsass und etwaige nationale Zugehörigkeitsfragen als auf die in Frage stehende soziokulturelle Identität der elsässischen Bevölkerung, der Individuen; genauer, um mit Michael Quante zu sprechen, auf ihre „Persönlich‐ keit“. 4 Zweitens wird diese Identität immer wieder entlang von Grenzlinien konstruiert, wie sie in der politischen Kartographie der im Titel stehende Rhein darstellt. Diese Grenzlinien sind für Schickele zu überschreitende, da sich Identität - so scheint es mir in Das Erbe am Rhein angelegt - gerade im Grenzland konstituiert, im Reich des Uneindeutigen. Drittens wählt Schickele neue literarische Schreibweisen, die dieser kontinuierlichen Produktion von Identität anhand von Differenzen und ihren Überschreitungen nachspüren. 243 Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein 5 Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London / New York 2004, S. 52. 6 Schickele: Maria Capponi (Anm. 3), S. 200. 7 Ebd., S. 78. I. Vielheit Die Frage nach Identität betrifft das Individuum und nicht das Kollektiv. Schickele schreibt einen Romanzyklus, in dem das historische Panorama zwar kontinuierlich aufgerufen wird, aber nicht im Zentrum der Romanhandlung steht; nicht einmal der Handlungsort bleibt das Elsass: Maria Capponi spielt maßgeblich in Venedig. Das Figurenspektrum um den Protagonisten und Er‐ zähler Claus Breuschheim wurzelt zwar familiär im Elsass, betätigt sich aber weniger politisch als dass es vielmehr sein Leben in der besseren Gesellschaft der Region verlebt. Identität wird nicht als teleologisches Ziel erreicht oder im Stile eines Bildungs- oder Entwicklungsromans herangebildet. Vielmehr leben die Figuren ihre - vielgestaltige - Identität. Schickele verleiht einer Beobachtung literarischen Ausdruck, die Homi K. Bhabha prägnant zusammenfasst: „Cultures are never unitary in themselves, nor simply dualistic in the relation of Self to Other.“ 5 In Maria Capponi wird diese Beobachtung in die zeitgenössische Breite als auch stärker noch in die historische Tiefe dekliniert, die die Breuschheims als ewige Sippe des Elsass ausleuchten. 6 So daß ich, stelle ich mir meinen Urgroßvater am Schreibtisch vor, in seiner sanguinischen Gestalt wie eine Spiegelung den zarten Umriß des schreibenden Erasmus zu erkennen meine. Sollte ich nicht am Ende, wie ich nun selber hier am Schreibtisch sitze, einer durchsichtigen chinesischen Schachtel gleich das Bild meines Urgroßvaters mitsamt dem darin beschlossenen Erasmusschatten enthalten? Wir alle verwahren wohl solche Schutzpatrone im Leib, blutsverwandte und andre, eine Unsumme Geist von längst Verstorbenen, uns Verbündeten und von Widersachern, deren innerste Kraft, durch uns vermehrt oder geschwächt, wir weiterleiten in jene tapferste, jene ohnmächtigste unserer Vorstellungen, die wir voll Selbstbewußtsein Ewigkeit nennen. 7 Die identitätsstiftende Wirkmacht der Vergangenheit resultiert nicht bloß aus familiären praedecessoren, sondern geht auch von den „Widersachern“ aus - ebenso wie von kulturprägenden Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam oder von den Dingen der Kultur; und sei es eine durchsichtige chinesische Schachtel, die zum Gefäß der Identität Breuschheims wird. Das heißt: Schickele unterminiert in Das Erbe am Rhein die Sicherheit, mit der eine vermeintlich substanzontologische, vermeintlich eindeutige historisch-kulturelle Identität zu‐ nächst zugeschrieben und dann aufoktroyiert werden kann. Vielmehr ist Identität Resultat einer „Unsumme Geist“, untergründig, unbewusst, unkontrollierbar. 244 Johannes Waßmer 8 Ebd., S. 24. 9 Ebd., S. 47. 10 Schickele: Das ewige Elsaß (aus: Die Grenze). In: ders.: Werke in drei Bänden. Dritter Band. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln / Berlin 1959, S. 589-620, hier S. 619. 11 Schickele: Gespenstischer Rhein (aus: Himmlische Landschaft). In: ders.: Werke in drei Bänden. Dritter Band. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln / Berlin 1959, S. 565-566, hier S. 565. II. Grenzen Das Verständnis von Identität als Verbindung eines Individuums mit der Kultur-Geschichte geographischer und symbolischer Räume wird schon am Titel der Romantrilogie ablesbar: Das Erbe am Rhein. Konstitutiv für die elsässi‐ sche Identität ist aber nicht die Zugehörigkeit zu Frankreich oder zu Deutsch‐ land, sondern das Grenzland mit dem Rhein als nationaler Trennscheide: „Die elsässische Ebene liegt voll Sonne! Doch zwischen uns und ihr ist noch ein Dunst, der sie verschleiert … Er ist nicht mehr! Das Land links des Rheins, das Land rechts des Rheins atmet ein einziges Lächeln.“ 8 Was hinter dem Schleier zum Vorschein kommt, erinnert Breuschheim nur wenig später: Erheitert fuhr ich in die große Brücke ein, die Deutschland von Frankreich trennt, und betrat meine, in einem tausendjährigen Leben und Lieben mein gewordene, durch viele Schmerzen geheiligte, bittersüße Erde… […] Und als wir das heiße, staubflim‐ mernde Straßburg durchquert hatten, breitete sich unverdorben, unverändert das Paradies, mein reinstes Herz, mein Land, herbstlich bunt und fruchtbeladen, von seinen blitzblanken, blumenfrohen Dörfern durchtanzt. 9 Das „Paradies“ ist das Land des Rheins, der Ort einer „Doppelkultur“ 10 wie Schickele einmal schreibt. Weitaus treffender und metaphorischer in Gespensti‐ scher Rhein artikuliert Schickele, dass im Rheinland „Krähen und Heiden […] natürlich ein Volk“ 11 bilden. Gerade in Maria Capponi wird der Rhein weniger als Grenzfluss, sondern als eigener Raum wahrgenommen, der sich in den Himmel und in die Unterwelt erstreckt: „Die tänzelnde Strömung zwischen den üppigen Ufern wollte uns weiterlocken“, erinnert sich Breuschheim einmal und bezeichnet das enge, beinahe mythisch-erotische Verhältnis der Menschen zu dem Fluss, der die elsässische Landschaft prägt: [W]ir kannten die wilde, verworrene Flußlandschaft, die unvermittelt hier am Rande der Stadt begann und sich, von einem Versteck zum andern, bis an den Rhein erstreckte - ein herrliches Land, nicht auszuforschen, darin sich der Fluß in Windungen erging, die den Himmel umarmten, und in Buchten, auf deren Grund die Wiesen in ein unterirdisch Reich hinabführten, dann wieder ganz schmal, unter überhängenden 245 Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein 12 Schickele: Maria Capponi (Anm. 3), S. 145. 13 Bhabha: The Location of Culture (Anm. 5), S. 53. 14 Ebd., S. 54. 15 Ebd., S. 2. 16 Schickele, Maria Capponi (Anm. 3), S. 222. Bäumen begraben, man mußte sich bäuchlings in den Kahn legen, um hindurch zu kommen! 12 Diese Form der Identitätsproduktion lässt sich mit Homi K. Bhabha als dritter Raum beschreiben: „The production of meaning requires that these two places be mobilized in the passage through a Third Space“ 13 Bhabha geht es darum, dass die „intervention of the Third Space of enunciation […] the structure of meaning and reference“ zu einem ambivalenten Prozess macht und „our sense of the historical identity of culture as a homogenizing, unifying force, authenticated by the originary Past, kept alive in the national tradition of the People“ infrage stellt. 14 Stattdessen möchte Bhabha seine Aufmerksamkeit fokussieren „on those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences. These ‚in-between‘ spaces provide the terrain for elaborating strategies of selfhood“. 15 In diesen Zwischenräumen wird Identität gebildet und zugleich reflektiert, dass sie nie im wörtlichen Sinn fest-gestellt werden kann, sondern fluide bleibt: bei Bhabha wie in Maria Capponi. Im Roman zeigt sich das an zahlreichen Motiven des Übergangs zwischen Welten und kultureller Orientierung, wie dem des Traums. In einem Gespräch erzählt Breuschheim von einem solchen Traum, der seit Jahren regelmäßig wiederkehrte. Nur der Ort wechselte, die andern Umstände blieben sich immer gleich. Einmal war es ein halberleuchtetes Restaurant oder eine Hotelhalle, das andre Mal eine Kirmes unter freiem Himmel, manchmal aber auch eine Kirche, ein tiefer Wald - die letzte Nacht war es der Saal des Herrn Roux gewesen. Ich betrat ihn in erregter Erwartung, wofür ich indes keinen Grund wußte, und wurde von der Musik dreier Kapellen empfangen, von denen jede ein anderes Stück spielte. Melodie und Takt stellten sich als so ungleich heraus wie die Stücke selbst; doch empfand ich eine besondere, schmerzlich lustvolle Harmonie, die, ohne den drei musikalischen Persönlichkeiten im geringsten Abbruch zu tun, mich beglückt an ein großes, dreifach schlagendes Herz hinaufzog. Und gleich darauf war ich die Kirche, der Wald, der festliche Platz und diesmal der Saal der Hostellerie, war ich also, um von der Zufälligkeit des Ortes abzusehn, der intelligente Raum, worin die drei Melodien in mich als ihre höhere Einheit wesenhaft eingingen. In diesem Augenblick höchsten Lustgefühls pflegte ich dann zu erwachen. 16 246 Johannes Waßmer 17 Bhabha: The Location of Culture (Anm. 5), S. 5. Maßgeblich scheint mir erstens, dass an variablen Orten verschiedene Melodien zugleich erklingen und sich durchmischen - und trotz der Interferenzen eine eigentümliche, einzigartige Harmonie entsteht. Zweitens aber wird das träu‐ mende Subjekt - Claus - zum Raum selbst, indem es sich zu einem intelligenten Raum spatialisiert, zu dem einer kulturellen Identität, die als „höhere Einheit“ existert, aber - die Musik spielt - immer schon in Bewegung begriffen ist und nicht stillzustellen. Neben zahlreichen Traumpassagen, anhand derer innere, unbewusste Iden‐ titätsräume erkundet werden, erzählt Breuschheim vom Unterwegssein, vor allem von dem in der Eisenbahn: Die Bahn ist weniger Reisemittel zwischen Elsass und Venedig - das auch -, sondern zentraler Handlungsort des Übergangs zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen von Identität: In der Bahn etwa begegnet Breuschheim der Titelheldin Maria Capponi. Die Eisenbahn hat in ihrer Funktion, Räume zu verbinden, eine gewisse Ähnlichkeit mit Bhabhas Konzeptualisierung von Treppenhäusern: „The stairwell as liminal space, in-bet‐ ween the designations of identity, becomes the process of symbolic interaction, […] it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities.“ 17 Bhabha denkt selbst in Räumen - in Treppenhäusern, Dritten Räumen, Kulturräumen -, deren kulturelle Bedeutung sich nicht stabilisieren lässt, sondern dem unterliegt, was Derrida als différance beschreibt. Maria Capponi allerdings ist ein Roman, der nicht nur einen Kulturraum vorstellt, sondern in dem die Identitätsentwicklung seiner Protagonisten nach‐ verfolgt wird. Bhabha interessiert sich zuerst für den Ort der Kultur und er dekonstruiert die Vorstellung fester kultureller Identitätsräume. Dem raumori‐ entierten Konzept Bhabhas nicht unähnlich ist Michel Foucaults Vorrede zur Überschreitung. Foucault richtet seinen Fokus allerdings stärker auf den Akteur und den Akt der Grenzüberschreitung selbst: Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft; dort, in dieser Schmalheit der Linie, zeigt sie sich blitzartig als Übergang, vielleicht aber auch in ihrem gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung. […] Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen […]. Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig. Doch existiert die Grenze überhaupt ohne die Geste, die sie stolz durchquert und leugnet? Was wäre sie danach und was könnte sie zuvor sein? Und 247 Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein 18 Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung. In: ders.: Schriften zur Literatur, Frank‐ furt am Main 2003, S. 64-85, hier S. 68f. 19 Michel Foucault reflektiert den Zusammenhang von Sprache, Sexualität und Tod ausführlich in der Vorrede zur Überschreitung und auch in Sexualität und Wahrheit („Ab dem Tag, als unsere Sexualität begann, zu sprechen und gesprochen zu werden, hörte die Sprache auf, der Moment der Enthüllung des Unendlichen zu sein; in ihrer Dichte machen wir von da an die Erfahrung der Endlichkeit und des Seins. In ihrer dunklen schöpft die Überschreitung nicht alles aus, was sie in dem Augenblick ist, an dem sie die Grenze überquert und nirgendwo sonst ist als in diesem Punkt der Zeit? 18 Wer sich in Bhabhas liminalem Treppenhaus kultureller Identität bewegt, der läuft gewissermaßen auf einer Penrose-Treppe und findet nicht mehr aus ihm heraus zu einer vereindeutigten Identität. Das muss man aber auch gar nicht. Denn Identität bildet sich - bezieht man Foucaults Überlegungen auf Bhabhas Überlegungen zum dritten Raum - genau dann, wenn sich das Individuum in diesem Treppenhaus aufhält und die Grenze zwischen den Stockwerken immer wieder zugleich durchbricht und markiert. Zurückgebogen auf Maria Capponi heißt das: Identitäten bilden sich im Akt der Grenzüberschreitung - im Traum und im Zug, in den Rheinauen und auf der Rheinbrücke; dabei reproduziert sich in der Differenz die Identität des Einzelnen und indem sich eine Identität bildet, werden die Differenzen, an denen sich die Identität bildet, wieder neu bestätigt. Weil das Elsass einerseits ein kulturelles Grenzland darstellt und andererseits mit dem Rhein eine mächtige geographische Grenzlinie das Land durchfließt, kann es für Schickele zu dem paradigmatischen Ort einer europäischen Identität werden. III. Schreibweisen Sprache, das ist bekannt, steuert Identität. Nicht zuletzt sollen in der Fiktion von ‚Völkern‘ und ‚Nationen‘ aus dem 19. Jahrhundert Sprachräume als Grund‐ lage nationaler Grenzkonstruktionen dienen. Gerade Sprachen werden zur vermeintlichen Vereindeutigung von Identität herangezogen. René Schickele allerdings wählt in Maria Capponi literarische Schreibweisen, die Identität nicht vereinheitlichen, sondern im Gegenteil ihre Vielfalt vor Augen stellen. Er sucht nach Ausdrucksformen, die sich der Grenze des Sagbaren annähern. Ich möchte diese Schreibweisen Schickeles abschließend an der Verbindung von Sprache, Erotik und Tod vorstellen. Sexualität und Tod sind liminale Räume des Sagbaren wie der Sehnsucht nach Einheit und fallen im französischen la petite mort zusammen. 19 In Maria Capponi erschießt sich der russische Fürst Boris, von 248 Johannes Waßmer Bleibe begegnen wir der Abwesenheit Gottes und unserem Tod, den Grenzen und ihrer Überschreitung“, Foucault: Vorrede zur Überschreitung (Anm. 18), S. 84). 20 Schickele: Maria Capponi (Anm. 3), S. 118. 21 Ebd., S. 215. 22 Ebd., S. 58. Breuschheims Tante Donja heißgeliebt. Das Kapitel ist lapidar überschrieben: „Ein Toter liegt auf der Schwelle“. 20 Komplexer stellt Breuschheim das Verhältnis von Tod und Begehren in seiner eigenen Biographie vor. Lange nach dem Tod seiner Ehefrau Doris erinnert er sich sehnsuchtsvoll: Leben und Tod war in ihr, ich erkannte keine Grenze. Als ein Glied fühlte ich mich in einer langen Kette. Die Eimer, aus denen man den Lebensbaum begießt, gingen von Hand zu Hand, […]! Unsere Liebe war Arbeit an unsrer Einsamkeit wie an der Welt, der wir verpflichtet waren, Treue um des Ewigen willen, werktätige Geduld … Und so oft ich die Arme öffnete, um Doris entgegenzueilen, trat, mit einem luftigen Schritt, Maria dazwischen und wollte spielen. 21 Wenn Breuschheim konstatiert, dass er zwischen Leben und Tod „keine Grenze“ mehr sehe, sondern eine Kette empfinde, mit der der Lebensbzw. Stammbaum begossen und lebendig erhalten wird, spürt der Roman den Grenzen der familiären und genealogischen Identitätsräume nach, die das „Erbe am Rhein“ bedingt: der anwesenden Abwesenheit der Toten. An anderer Stelle gewinnt diese sprachlich-literarische Reflexion über Liebe, Leben und Tod seiner Frau Doris gespenstischen Charakter: Vielleicht ist sie wirklich ‚tot‘, dachte ich und erhob mich vom Diwan. Mit leisen Schritten begann ich, im Zimmer auf und ab zu wandern und alles aufmerksam zu mustern, Möbel, Bücher, Bilder. Vielleicht stimmt es. Aber in diesem Fall lebe ich zehnfach mit ihr, der Toten. Ich habe für unser Leben ein Gedächtnis, wie es mir früher völlig abging, ich weiß von ihr in einer Art, daß ich staune. Vielleicht ist sie tot. Aber sie ist da - wie nie zuvor. Wir leben miteinander - wie nie zuvor. Es sei denn, daß ich selber sterbe, in den Tod hinüberschlafe, daß ich mich mit allen meinen werbenden Gedanken beeile, sie trotz ihres Vorsprungs einzuholen … 22 Die körperliche, materiale Präsenz der Einrichtungsgegenstände - „Möbel, Bücher, Bilder“ - stellt die Allgegenwart der Toten nicht infrage, im Gegenteil. Wohl aber bedroht der eigene Tod die Einheit der Liebenden: „Wir leben miteinander […]. Es sei denn, daß ich selber sterbe […].“ Nicht im Nachsterben also, sondern im Nachleben, im Forttragen des Erbes besteht, unter anderem, Identität. Dieses Modell lässt sich von der Familiengeschichte auf eine regionale elsässische Identität übertragen. Es besteht im Anerkennen der Unmöglichkeit, 249 Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein 23 Ebd., S. 28. 24 Auch Doris nimmt zunächst das Potential im Eis-Gefängnis der Gletscherspalte wahr, die Liebe zwischen ihr und Claus partnerschaftlich und erotisch zu festigen. Ausge‐ rechnet auf der Grenzlinie sieht sie die Möglichkeit, die Bindungskräfte ihrer Beziehung zu stärken: „Ich bin vielleicht nicht für die Liebe geschaffen, Claus, es sei denn, daß du meine Art zu lieben schätzen lernst… Sie ist bitter, die Liebe. Es lebt sich schwer mit ihr. […] Siehst du, deshalb wollte ich einmal mit dir allein sein. […] Wenn einen von uns der Teufel reitet, so schwenken wir ab und lassen ihn sich austoben, bis er genug sich zu vereinigen. Damit entspricht dieses Modell Homi K. Bhabhas Erwä‐ gungen zum third space, den er über Derridas Konzept sprachlicher différance herleitet: Kultur lässt sich leben, nicht sagen. Wie sehr Liebe und Tod, Leben und Traum, privates Leben und regionale Identität ineinander verschmelzen, führt zu Romanbeginn jener tragische Unfall auf einer Wanderung vor Augen, der Doris schließlich völlig unterkühlt das Leben kostet: [H]ier auf dem großen, blauweißen Flecken stürzten Doris und ich in eine Gletscher‐ spalte, das heißt, plötzlich sanken wir in den weichen Schnee ein (es war ein heißer Augustmorgen, Föhnwetter), der Schnee sank unter uns, um uns, so fuhren wir in die Tiefe. Zuerst nahmen wir es von der heiteren Seite, denn obwohl wir gut fünfzehn Meter tief gestürzt waren, hatten wir kaum einige Püffe abbekommen, wir waren sogar recht weich gefallen, in Schnee gepackt, der dann unter unseren Füßen irgendwohin wei‐ tergereist war, und standen ziemlich bequem, auf festem Grund, zwischen blaugrünem Eis. Die eine Wand war am Boden ein wenig ausgehöhlt. Im hellen Himmel über uns hingen winzige goldene Tagsterne … Sie erinnerten mich an ein Wappen mit goldenen Bienen auf blauem Grund. Nein, jetzt fiel es mir ein, es war kein Wappen, sondern das Schlafzimmer eines reichen Kaufmanns in Berlin. Wir lachten über die Narrheit, unbedingt in einem Bienennest - schlafen zu wollen. Auch ein Gewitter, das nachmittags mit urweltlichem Getöse über den Gletscher zog, erregte uns mehr, als daß es uns erschreckt hätte. Im Schein eines langen Blitzes, der sich einmal, ein flatternder Flügel, über die Spalte hing, sahen wir uns. Wir standen wie in einem riesigen Spiegelsaal! Entzückt sanken wir einander in die Arme. 23 In dieser Szene findet sich das Programm des Romans in nuce: Die Gletscher‐ spalte ist der Grenzraum, innerhalb dessen sich die - durchaus tragische - Identität und Geschichte Claus Breuschheims als elsässisches Exemplum konstituiert. Hier versinken Doris und er ineinander und ihr Wunsch erfüllt sich, Claus einmal ganz für sich zu haben 24 . Hier sind sie zwar von der Kälte bedroht, 250 Johannes Waßmer hat. Und dann, dann kommen wir wieder und fressen aus der Hand.“ (Schickele: Maria Capponi [Anm. 3], S. 35). 25 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 618-634. 26 Beispielsweise forderte schon 1990 Peter Strasser eine gegen die Idee geschichtlichen Fortschritts gerichtete „Kultur der Mobilität“, die weniger eine liminale Stabilität findet, als vielmehr ins Fluide gleitet: „Eine Kultur der Mobilität, die eine Kultur der Lebens-Kunst wäre - fände sie ihre Vollendung vielleicht darin, den Raum der Geschichte offenzuhalten? Und zwar nicht um eines Fortschritts willen […]. Sondern den Raum der Geschichte offenzuhalten, damit sich in ihm, im ständigen Wechselspiel von Chaos und Ordnung, der Mensch als Nomade des Seins zu etablieren vermag - der stehen aber zugleich „auf festem Grund“ und sind beäugt von den Sternen: von einem blaugoldenen Wappen, dessen Bienen auf die napoleonische Heraldik anspielt und, prosaischer, von einem Berliner Kaufmann - von Frankreich und Deutschland also. IV. Schluss: Die Vielheit des Einen „Das Erbe am Rhein“, es besteht in einer grenzüberschreitenden Identität, wobei nicht nur spatiale, sondern auch historische, kulturelle und familiäre Grenzen überschritten werden. Es ist ein Plädoyer für eine Gesellschaft - und in den weiteren Teilen der Romantrilogie auch für eine politische Kultur -, die Grenzen zwar kennt und in ihrer Unausweichlichkeit anerkennt, sie aber immer schon als zu überwindende versteht: Grenzziehungen eröffnen nicht nur Räume auf beiden Seiten der Grenzlinie, sondern bilden auch Grenzräume. Indem Differenzen einerseits markiert und aber erst durch die Markierung ihrer Grenzen überwunden werden, bildet sich kulturelle Identität: Der Ort von Identität ist immer das Grenzland. Dieses Modell der Grenzraumidentitäten lässt sich in seiner Tiefenstruktur und seiner Dimensionalität deklinieren: Neben Sprach- oder Nationalstaatsgrenzen lässt es sich auch auf Regiolekte und Lokalkulturen anwenden und auf ganz andere Identitätsbereiche von Menschen wie die Teilhabe an Mehrheits- und Subkulturen projizieren. Denn Identität bildet sich als Dritter Raum auf der auch heute noch zu scharfen Kante zwischen allzu fester Inklusion und Exklusion, wie Niklas Luhmann es bezeichnet. 25 So gelesen ist Maria Capponi ein visionärer Roman und Schickeles literarisches Programm von höchster Aktualität. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die nationalistischen Identitätsstiftungen des 19. Jahrhunderts in Europa als metaphysisches Programm dekonstruiert und zunehmend partikularisiert. Nach wie vor werden mobile, nomadische Identitäten gefordert, die prozessual seien, sich entwickelten und anpassten. 26 Eine andere Antwort ist im Romanzyklus 251 Im Grenzland der Identität: René Schickeles Das Erbe am Rhein Mensch auf der Suche nach einem Einverständnis mit der Welt […], im transutopischen Ganz Anderen, von dem für alle Zeiten unwiderruflich gilt: Es gibt es; nicht hier.“ (Peter Strasser: Monaden, Maden, Nomaden - Der dritte Weg. In: Horst Gerhard Haberk / Werner Krause / Peter Strasser (Hrsg.): auf, und, davon. Eine Nomadologie der Neunziger. Graz 1990, S. 159-177, hier S. 177). Das Erbe am Rhein angelegt, eine, die Identitäten nicht auflöst, sondern die den Identitätsbegriff stabilisiert, aber die über nun zwei Jahrhunderte gepflegte Monomanie einer homogenen Einheit ablehnt: Die romantische Sehnsucht nach der Einheit des Vielen wird abgelöst durch die moderne, die postmoderne Vision der Vielheit des Einen. 252 Johannes Waßmer Deutsche, Französin, Elsässerin, Lothringerin - oder einfach nur Frau? - Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich in Antwort auf die „Kriege der Männer“ Annette Kliewer, Mainz / Bad Bergzabern I. Einleitung Der Identitätsbegriff ist den letzten Jahren auf eine neue Art und Weise politi‐ siert worden. Dies liegt vor allem daran, dass Identitätsfindung bei Vertretern der „Identitären Bewegung“ und anderen Vertretern populistischer Gruppie‐ rungen nicht mehr als Prozess gesehen wird, sondern als gegebene Gruppenzu‐ gehörigkeit, die den Einzelnen als Teil eines „Volkes“ oder eines bestimmten „Raums“, einer Abstammung oder einer besonderen „Kultur“ wahrnimmt. Die Vertreter der „Neuen Rechten“ meiden dabei bewusst den Begriff der „Rasse“, um sich nicht angreifbar zu machen, ersetzen ihn aber in der Regel durch den der „Kultur“. Eine statische, ahistorische und homogenisierende Vorstellung von Kultur findet sich unter dem Begriff des „Ethnopluralismus“. Hier werden „naturgemäße“ Bezüge zwischen der Tradition und der aktuellen Identität von Individuen hergestellt. Diese hätten demnach nicht die Möglichkeit, wider‐ sprüchliche Kulturen in sich zu vereinigen, sich im steten offenen Austausch mit anderen Kulturen zu bewegen oder individuelle Akzentsetzungen für die eigene Identität vorzunehmen. Da nur eine bestimmte Interpretation einer Kultur für legitim erklärt wird, führt eine „ethnopluralistische“ Konzeption zu einer Verfestigung von Stereotypen. Dies ist meist mit Abwehr des „Fremden“ verbunden. Der folgende Beitrag untersucht an einem zugespitzten Problemfeld, wie Menschen mit der Infragestellung ihrer Identität in Krisensituationen umgehen. Grundlage sind Texte der Regionalliteratur an der deutsch-französischen Grenze (Marie Hart, Liesbet Dill, Polly Maria Höfler, Lina Ritter, Adrienne Thomas). Die Romane thematisieren alle den Ersten Weltkrieg bzw. seine Konsequenzen für das Leben der Menschen im Grenzland. Bei der Auswahl der Texte wurde in Kauf genommen, dass sie nicht zeitgleich entstanden sind. Zunächst erscheint diese Zuspitzung künstlich und es wären ihre einzelnen Komponenten zu erklären: • Warum Elsass/ Lothringen? Die Menschen in Elsass/ Lothringen sahen sich seit Jahrhunderten in einer widersprüchlichen Doublebind-Situation: War ihre Kultur deutsch, so nahmen sie sich doch bis 1871 politisch als Franzosen und Französinnen wahr. Nach dem deutsch-französischen Krieg wurde ihnen von den deut‐ schen Besatzern dann die deutsche Staatsangehörigkeit aufgezwungen und man meinte, sie mit den Segnungen der deutschen Kultur versehen und alle Reste des französischen Erbfeindes beseitigen zu müssen. Dieser Prozess wurde 1918 umgekehrt, als beide Regionen wieder französisch wurden. Die Menschen dieser Region befanden sich demnach immer wieder vor die Frage gestellt, welche Identität sie denn wählen sollten - die deutsche, die französische oder die elsässische bzw. lothringische? Führte die direkte Konfrontation mit dem anderen zu einer offeneren Identitätskonstitution oder verfestigte sie im Gegenteil vorhandene Iden‐ titätsmuster - in Abwehr des Fremden, um einen sichereren festen Platz in der Welt zu finden? • Warum Schriftstellerinnen? Günter Scholdt hat schon 1996 in seinem Beitrag Romeo und Julia oder Liebe als Landesverrat? Ein Motiv im Spiegel der deutsch-französischen Grenzliteratur herausgearbeitet, welche Rolle den grenzüberschreitenden Liebesbeziehungen, das heißt den Beziehungen zum jeweiligen „Erb‐ feind“ Deutschland oder Frankreich in der Etablierung einer nationalen Identität zukommt. Dabei spielte es für eine Frau eine größere Rolle, wel‐ cher Nationalität ihr Partner angehörte, weil dies auf die Nation verwies, der auch die Frau zu folgen hatte. Deshalb findet sich eine Häufung dieses Motivs in der Literatur von Frauen, die auch mehr weibliche Heldinnen in den Blick nehmen. Natürlich wäre noch speziell zu untersuchen, in welchem Verhältnis Geschlecht und Nation jeweils dargestellt werden. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang sicher auch die sexualisierte Allegorisierung der beiden Länder: Der „deutsche Michel“, der der französischen „Marianne“ in einer widersprüchlichen und kom‐ plizierten Beziehung begegnet, ist ja ein altes Konstrukt, das auch die Autorinnen unbewusst beeinflusst haben kann. • Warum die Zeit des Ersten Weltkriegs? Der Erste Weltkrieg war eine Zeit, die erstmals die Zivilbevölkerung aktiv in das Kriegsgeschehen einbezog. Dadurch wurden auch Forderungen an die Rolle der Frauen für die Nation erstmals deutlich geäußert und 254 Annette Kliewer 1 Vgl. zur Biographie Harts: Emma Guntz. „‘d'Erinnerung an dies, was emol gewenn isch …’. Auf den Spuren der elsässischen Schriftstellerin Marie Hart (1856-1924)“. Allmende 28/ 29 (1990), 95-113. 2 Das erinnert an die aktuelle Diskussion im Elsass, wo aufgedeckt wurde, dass auf franzö‐ sischen Kriegerdenkmälern in den 20er Jahren 50.000 elsässische Namen von Gefallenen französisiert wurden, um zu vertuschen, dass sie für die deutsche Wehrmacht gefallen sind (Vgl. https: / / www.francetvinfo.fr/ culture/ patrimoine/ histoire/ video-11-novemb re-comment-la-france-a-reecrit-lhistoire-des-soldats-alsaciens-lorrains_3698617.html (zuletzt abgerufen am 15. November 2019). es findet sich eine große Anzahl an fiktionaler und nicht-fiktionaler Aus‐ einandersetzung mit diesem Krieg im Schaffen von Schriftstellerinnen. Außerdem hat der Erste Weltkrieg für die Region Elsass/ Lothringen eine entscheidende Bedeutung gespielt, was wiederum zu einem großen Korpus von literarischen Texten zu diesem Thema geführt hat. II. Literaturbeispiele: Zwischen Nationen/ Regionen II.1 Marie Hart: Üs unserer Franzosezit (1920) 1856 als Marie Hartmann in Buchsweiler im Elsass geboren, 1 macht sie 1874 das französische Lehrerinnenexamen und arbeitet zunächst in einem Mädchenpen‐ sionat in Dresden. Während dieser Zeit schreibt sie erste Kurzgeschichten in französischer Sprache. Gegen den Widerstand der Eltern - der Vater war guter französischer Patriot - heiratet sie 1882 den deutschen Offizier Alfred Kurr. Das Ehepaar kehrt 1908 nach Buchsweiler zurück, wo Marie eine Schülerpen‐ sion eröffnet. Im Ersten Weltkrieg wird die Stimmung im Elsass zunehmend deutschfeindlich, nach 1918 werden erstmals „lois raciales“ erlassen, die die Bevölkerung je nach Blutszugehörigkeit in Gruppen von A bis D einteilt - von den „reinen Franzosen“ bis zu den „reinen Deutschen“. Alfred Kurr muss demnach als „D-Gruppenangehöriger“ das Elsass verlassen, und auch Marie Hart zieht 1919 nach endlosen Papierkriegen, Kontrollen und Demütigungen in den Schwarzwald. Dort beginnt sie Üs unserer Franzosezit, wo sie diese Erfah‐ rungen verarbeitet - aus ihrer Verletzung heraus mit viel Zorn und gehässiger Bitterkeit gegenüber den Franzosen und den elsässischen Franzosenfreunden. Dabei besteht der Großteil des Romans aus Geschichten von denen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg ganz plötzlich als Franzosen fühlen 2 - z. B. dem „comité de patriotes“, das sich aus ehemaligen deutschen Soldaten zusammensetzt, von denen jeder nun „üwer Nacht“ entdeckt, 255 Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich 3 Marie Hart: Üs unserer Franzosezit. Stuttgart 1920, S. 65. 4 Ebd., S. 138. 5 Vgl. die beiden Werbeclips, die der Übersetzer Joseph Schmittbiel auf Youtube geschaltet hat: Interessant ist, dass die deutschsprachige Fassung stark von der französischspra‐ chigen abweicht, beide aber regionalistische Positionen vertreten: https: / / www.youtu be.com/ watch? v=NHJbc1hgN3g und https: / / www.youtube.com/ watch? v=eFH-WHndI nQ (zuletzt abgerufen am 10. Dezember 2019). 6 1930, sechs Jahre nach Maries Harts Tod, gibt ihre Tochter eine Auswahl ihrer Texte heraus, wobei sie den Akzent auf den nationalistischen Aspekt legt. daß er e gueter Franzos isch. Es laufe viel so herum hie, un je ditscher se gewenn sin, deschte lüter bruelle se jetzt: ich bin e Franzos! un denke nit, daß anderi Lit au e Gedächtnis han. 3 Neben den Anekdoten über die „Wendehälse“ besteht der Roman vor allem aus seitenlangen Diskussionen der Schwestern über die aktuelle Situation des Elsass, die LeserInnen in ihrer Redundanz heute schnell ermüden. Marie, die nach Besançon verheiratete Schwester, will nicht, dass ihre Schwestern Carlin und Jeanne in die „Bochie“ ziehen und betont daher die „atrocité“ der Deutschen im Krieg. Da muss Carlin mit dem alten Klischee vom deutschen „Kulturvolk“ auffahren: „Un meinsch dü, daß e Volik, wie so schöni Gedicht het, mit so viel Herz und Gemuet, von lüter Barbare un gräujsame Henkerskneecht zammeg’setzt isch? “ 4 Von der französischen Obrigkeit wurde der Roman 1918 verboten, heute ist er ein interessantes Zeitdokument, das 2016 im Kontext regionalistischer Diskussionen gegen die Etablierung der „Région Grand Est“ ins Französische übersetzt und in einer elsässischen und einer französischen Fassung wieder aufgelegt wurde. Auch wenn seine frankophoben Aussagen heute gegen den Zentralismus aus Paris gewendet werden, 5 darf die Aggressivität gegen die Franzosen nicht überschätzt werden. 6 Der Roman ist ein Beispiel für eine extrem einseitige Auseinandersetzung mit der bikulturellen Situation, die sich aus den Verletzungen der Autorin herleiten lässt: In diese aggressive Haltung wurde sie gerade durch die überzogene „Re“-Französisierungspolitik der neuen Regierung gezwungen, die der brutalen Germanisierung von 1870 oft in nichts nachstand und die Ambivalenzen nicht mehr zuließ. Es ist zu betonen, dass dieser Roman sich negativ von den früheren Texten dieser Autorin abhebt, die sehr viel menschlicher und souveräner die Situation im Elsass beschreiben. II.2 Liesbet Dill: Die Spionin (1917) Wie stark die Lebenssituation das Schreiben der Autorinnen bestimmt, zeigt Liesbet Dill. Ihr gelingt es, ihre Erfahrungen des 1. Weltkriegs mit dem Roman 256 Annette Kliewer 7 Vgl. zum Folgenden: Günter Scholdt: Liesbet Dill. In: Peter Neumann (Hrsg.): Saarlän‐ dische Lebensbilder. Saarbrücken 1986, S. 219-243. 8 Ebd., S. 226 9 Vgl. Liesbet Dill: Die Spionin. Leipzig 1917, S. 42ff. Die Spionin von 1917 aus der Perspektive der Feinde darzustellen, ohne diese hasserfüllt zu diskreditieren. Dies mag daran liegen, dass Dill, 1877 als „Tochter aus gutem Hause“ in Dudweiler geboren und in Saarbrücken aufgewachsen, schon früh in den Genuss von Auslandsreisen kam. 7 Mit 26 Jahren zieht sie, mittlerweile zum zweiten Mal verheiratet, nach Berlin und beginnt hier, schrift‐ stellerisch tätig zu werden. Ihr Roman Die Spionin wurde 1916 geschrieben, hier findet sich ein bekanntes Motiv der Frauenliteratur zur Zeit des Ersten Weltkriegs wieder: Die Lothringerin Généreuse Cailleux beklagt, dass Frauen sich nicht am Krieg beteiligen dürfen; in Erinnerung an ihr persönliches und nationales Vorbild Jeanne d’Arc will auch sie sich für das Vaterland nützlich machen. In Brüssel arbeitet sie mit ihrem Onkel gegen die deutsche Besatzung bei der Redaktion der Untergrundzeitung La Vérité, indem sie sich vor den deutschen Soldaten als Deutsche ausgibt, um sie auszuhorchen. Indem sie so ihre Herkunft als Lothringerin ausnützt, begibt sie sich in einen ständigen emotionalen Konflikt: Die Deutschen, mit denen sie Kontakt hat, faszinieren sie und stoßen sie zugleich ab. Sie wird schließlich gefasst und hingerichtet. Der Roman ist ein Schlüsselroman, der auf den Fall der englischen Spionin Miss Edith Cavall anspielt, die 1915 in Brüssel erschossen wurde. Als solcher wurde er auch berühmt - er erreichte 1928 eine Auflage von 50-60 Tausend Exemplaren. 8 Ungeachtet der Tagesaktualität bleibt aber doch interessant, dass mitten im Ersten Weltkrieg eine Feindin in all ihrer moralischen Integrität gezeigt wird, was ja immerhin die nationalistische Propaganda gegen Frankreich in Frage stellt. Die Autorin geht sogar stellenweise so weit, dass sie die Darstellung der deutschen Arroganz, der deutschen Kriegsverbrechen und der deutschen Dummheit, wie sie in den französischen Zeitungen dargestellt wird, zumindest insofern gelten lässt, als sie das Verhalten von Généreuse erklären - die ja von der Autorin als integer dargestellt wird. 9 Dills Verständnis für Généreuse erklärt sich ihrer Meinung nach auch aus ihrer eigenen Grenzlandsituation heraus. In einem Vorwort von 1916 macht sie dies durch folgende Sätze deutlich: Wer an der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen ist, wer diese von nervöser Elektrizität wie geladene Luft mit ihren Spannungen […] als Kind schon eingesogen hat, wer diese Grenze von beiden Seiten kennt, mit ihren unberechenbaren Stim‐ mungen, dem eigenartigen Reiz der geistigen Atmosphäre jener ‚Doppelkulturstraße‘ 257 Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich 10 Ebd., S. 7f. 11 Ebd., S. 99f. 12 Gauverband Westmark (Hrsg.): Lothringische Dichter. Frankfurt: 1941, S. 21 […] kennt ihre Gefahren […]. In dieser Luft der leichteren Lebensauffassung, der Lebenskunst, gedeiht neben dem fanatischsten Chauvinismus ein glühender Patrio‐ tismus, an dem schon die Kinder mit Bewußtsein teilnehmen. 10 Dieser Fanatismus der Kinder steht auch am Anfang ihres Romans. Da kämpfen in den Metzer Fortanlagen die kleinen Franzosen gegen die kleinen „Preußen“ und hier liegt auch einer der Grundsteine für das spätere Verhalten von Généreuse. Sie verrät den Schlachtplan der „Preußen“, den ihr der Nachbarsohn Edgar anvertraut hat, und wird denn auch von Edgar „zum Tode verurteilt“. Ebendieser Edgar ist es, den sie Zeit ihres Lebens liebt und hasst, weil er sie gedemütigt hat. Er ist es auch, gegen den sie als Spionin kämpft, und - wie das Schicksal es will - er ist es auch, der sie am Schluss in Brüssel erkennt und erschießen lässt. Und trotzdem denkt sie: Sie sah ihre Jugend, die Heimat in diesem Manne vor sich auferstehen, das Elternhaus, die Nachbarschaft der feindlichen Familien, (…) Man konnte nicht mit dem einen Freundschaft schließen, ohne des anderen Todfeind zu werden. Es waren zwei Partein, zwei Länder, zwei Welten, die sich dort gegenüberstanden, scharf und unversöhnlich. 11 II.3 Polly Maria Höfler: André und Ursula (1937) Polly Maria Höfler, geboren 1907 in Metz, sieht sich bewusst als Schriftstellerin einer Regionalkultur, hier des Lothringischen, auch wenn sie sich als Deutsche erklärt und deutsch schreibt: In der 1941 vom NS-Gauverband Westmark he‐ rausgegebenen Anthologie Lothringische Dichter deutet sie ihr eigenes Leben als stark orientiert an der Sicht von „Deutschtum“, wie es die nationalsozialistische Ideologie definierte. Schon die Ersten Sätze verweisen auf Deutschtümelei: „ich bin in Metz geboren und ich liebe meine schöne Vaterstadt […] mit solcher Inbrunst, wie nur ein deutscher Mensch seine deutsche Heimat lieben kann“. 12 Nun zum Inhalt: Die Heldin, die Frankfurterin Ursula, ist keine Grenzlandbe‐ wohnerin, wird aber im Laufe des Romans emotional in die Situation gebracht, sich zwischen Deutschland und Frankreich entscheiden zu müssen. Sie findet in den 30er Jahren in dem Nachlass ihres Vaters das Tagebuch eines französischen Soldaten, André Duval, der im Ersten Weltkrieg vor Verdun gefallen sein soll. Beim Lesen seiner pseudo-pazifistischen Gedanken - er will das Ende aller Kriege durch einen letzten Krieg herbeiführen - entschließt sie sich, seinen Verwandten das Buch zurückzuschicken. Auf diesem Wege erfährt sie, dass 258 Annette Kliewer 13 Polly Maria Höfler: André und Ursula. Frankfurt am Main 1948 (1937), S. 93. 14 Ebd., S. 327. 15 Johanna Clausing-Schweers: Polly Maria Höfler - die Bestsellerautorin. In: Rolf Düste rberg (Hrsg.): Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Band 3. Bielefeld 2015, S. 120. der vermeintlich Tote noch lebt, als Arzt arbeitet und sie zu sich auf sein Landgut in Lothringen einlädt. Dort verlieben sie sich ineinander, doch der Abstand zwischen den Völkern scheint so groß zu sein, dass Ursula doch immer wieder zögert, eine Ehe mit André einzugehen und sich für das Leben in dem fremden Land zu entscheiden. Schon vor ihrer Abfahrt wird sie von ihren eher völkisch orientierten FreundInnen gewarnt: Man befürchtet, dass sie sich „selbst verlieren könnte, drüben an den Lockungen der Fremde“, dass sie ihr „eigenes Vaterland über der unwiderstehlichen Anziehungskraft des Fremden, Neuartigen vergessen könnte, den klaren Blick für den Wert der Heimat über dem strahlenden Glanz, in dem gerade ein junger Mensch nur allzugern alles Ungewohnte, Neue sieht.“ 13 Heimweh lässt sie auch immer wieder an ihrer Beziehung zu André zweifeln, wenn auch eine Heimat im engeren Sinne nie genauer beschrieben wird, sondern nur vage Andeutungen zur deutschen Kultur gegeben werden. Als André bei einem Autounfall stirbt, treibt sie das Heimweh und die Erkenntnis zurück, dass sie die Freunde in Frankreich vergessen muss, „da ich ja nicht für sie und mit ihnen, sondern für mein Volk und mit meinem Volk leben werde“. 14 Ein immer wiederkehrendes Thema des Romans ist denn auch die (Un)Mög‐ lichkeit des Zusammenlebens zwischen Deutschen und Franzosen. Gerne werden dazu Klischees von Nationalcharakteren aufgegriffen. Angesichts des neuen Nationalismus der 30er Jahre scheint die Völkerverständigung ihre Grenzen haben zu müssen. Man bedenke, dass der Roman 1937 erschienen ist, schon in Reaktion auf Friedrich Sieburgs Gott in Frankreich (1929), einem ähnlich widersprüchlichen Klassiker zum deutsch-französischen Verhältnis. Dort wird der „Erbfeind“ zwar stellenweise voller Komplexe um seine Leichtigkeit und Lebenslust beneidet, gerade diese Komplexe führen denn aber auch zu einer Überbetonung dessen, was als „deutsch“ gilt. In Höflers Roman kommt es zu keiner klaren Entscheidung der Heldin, die Autorin löst den Konflikt durch den Tod Andrés. Johanna Clausing-Schweers schreibt 2015 daher nicht zu Unrecht, dass es das Ziel von Höfler war, „einerseits für das Regime zu werben und andererseits die Furcht des Lesers vor einem neuen Krieg zu besänftigen.“ 15 Höfler regelt das Loyalitätsproblem also anders als Hart und Dill. Die Utopie ist keine Überwindung der beiden nationalen Zugehörigkeiten, sondern eine 259 Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich 16 Lina Ritter: Grenzen. In: (ohne Herausgeberangabe): Kriegsnovellen. Mönchen-Glad‐ bach [1915], S. 3-23, hier S. 3. 17 Ebd., S. 5. 18 Ebd., S. 9f. friedliche Koexistenz. Damit nähert sie sich letztlich stark einem Modell des Ethnopluralismus. II.4 Lina Ritter: Grenzen ([1915]) Lina Ritter ist 1888 in Village-Neuf (damals noch das deutsche Neudorf) geboren und starb 1981 in Freiburg im Breisgau. Auch sie musste 1918 das Elsass als „Deutsche“ verlassen und übersiedelte dann ins badische Ettlingen. Sie bringt in der folgenden Erzählung Grenzen, die wohl direkt im 1. Weltkrieg entstanden ist, auf erstaunlich offene Weise das elsässische Dilemma auf den Punkt: Grenzen bestimmen das Leben der Elsässer und haben es immer bestimmt, dies prädesti‐ niert sie zu einer Zwischenposition. Für einen in Deutschland erschienenen Text nimmt Ritter damit eine fast revolutionäre Haltung ein: „Grenzen, dieses Wort hatte Grete Hartmann nur als geographischen Begriff kennengelernt - aber seine Schwere war ihr in den Kriegstagen klar geworden.“ 16 Grete verliebt sich bei einem Besuch bei Bekannten in einen französischen Soldaten und verlobt sich mit ihm. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, leidet sie unter dem Gedanken, dass Viktor, ihr Verlobter, und Hanns, ihr Bruder, nun gegeneinander kämpfen müssen. 17 Im Gespräch mit einem Deutschen verteidigt sie die Elsässer. Ich zitiere ausführlicher aus einem Gespräch Gretes mit einem Deutschen: Nicht eine heimliche Vorliebe haben wir Elsässer für Frankreich, n e i n - aber eine ehrlich eingestandene Sympathie, erzählen Sie das heute abend an Ihrem Stammtisch! Wir dürfen das laut sagen, denn wir haben unsere Pflicht dem Land gegenüber, dem wir angehören, in voller Treue getan. Aber lieblos sein ist nicht Pflicht. Unsere Elsässer stehen jetzt für Deutschland in Kampf und Gefahr - sie sind ohne Pathos, aber selbstverständlich und entschlossen mitgezogen, als Deutschland rief. Aber es ist ebenso selbst verständlich und erklärlich, wenn sie nicht mitschimpfen und mithöhnen auf das Land ihrer Väter. Ich für meinen Teil bin auch viel zu überzeugt, dass die Besten im deutschen Land ihren Gegnern Gerechtigkeit genug widerfahren lassen, als dass mich das Gezeter und Mordiogebrüll der anderen abhalten könnte, die Wahrheit zu bekennen! 18 Sie kann mit ihrem Verlobten über eine Basler Freundin kommunizieren und hofft darauf, dass die Franzosen einsehen, dass sie auf der falschen Seite kämpfen, denn nur eine Symbiose beider Völker könne beiden dienen: 260 Annette Kliewer 19 Ebd., S. 13. 20 Ebd., S. 23. Hei, Deutschlands Kraft und Frankreichs Feinheit, die deutsche Gesundheit und die französische Ritterlichkeit - jener wuchtige Tatkraft und dieser übersprudelnde, glutige Zärtlichkeit - das war ein köstlich Spiel zusammen! ! An dem felsenfesten Glauben der Deutschen sollte sich die Liebe der Welschen aufranken - es wäre für die ganze Welt die schönste Erfüllung der Hoffnung auf ewigen Frieden! 19 Schließlich erfährt sie, dass Hanns leicht verletzt im Lazarett liegt und dort Viktor in seiner Sterbestunde begleitet hat. Diese Nachricht befriedigt sie - ist doch ihre größte Furcht, die beiden könnten sich gegenseitig töten, nicht in Erfüllung gegangen. Die letzten Worte der Novelle lauten: „Die Zeit der Grenzen ist für sie vorbei - unsterblich ist ihre Liebe - und grenzenlos - - - - -“ 20 Ritters Text geht demnach unter den untersuchten Texten am weitesten bei dem Versuch, tatsächlich die regionale Sonderrolle von Elsass/ Lothringen hervorzuheben und nicht zu fordern, dass man sich für die eine oder andere Seite oder für beide entscheidet. II.5 Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat (1930) Ganz anders sieht die Utopie der Antimilitaristin Adrienne Thomas aus: Klar als „Antikriegsroman“ deklariert und auch als solcher begeistert aufgenommen, ist ihr Roman Die Katrin wird Soldat, der erst 1930 erschienen ist. Er wurde zu einem Bestseller und ließ Adrienne Thomas 1933 zu einer „verbrannten Schriftstellerin“ werden, zwang sie zur Emigration nach Österreich, Frankreich und in die USA. Adrienne Thomas, eigentlich Hertha Adrienne Strauch, wurde 1897 in St. Avold geboren und verbrachte ihre Jugend in Metz, wo sie zweisprachig erzogen wurde. Wie die Katrin in ihrem Roman siedelte sie während des Ersten Weltkriegs nach Berlin über und arbeitete als Rotkreuzschwester. Der Roman beschreibt die Entwicklung der Cathérine Lentz aus Metz, einem „verwöhnten Püppchen aus gutem Hause“, in Form ihres Tagebuches von 1914 bis 1917. Den Krieg sieht sie von Anfang an mit skeptischen Augen, ist er doch daran schuld, dass ihr Freund Lucien von ihr getrennt wird, weil er in die französische Armee eingezogen wird. Sie, die in einem deutsch-französischen Milieu aufgewachsen ist, sieht auch alle anderen Jungen (und damit ihre Verehrer) um sie herum in den Krieg ziehen, je nach Herkunft in der deutschen oder französischen Armee - manchmal wird das für die LeserInnen nicht ganz klar, und auch für Katrin scheint es keine größere Bedeutung zu haben. Sie wird Sanitäterin wie alle Frauen und Mädchen um sie herum, weil auch sie 261 Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich 21 Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat. Berlin 1930, S. 137. 22 Ebd., S. 319. zeigen will, dass sie „dem Vaterland“ - für sie ist das zufällig Deutschland - dienen kann, wenn auch in einem Krieg, dessen Sinn sie nicht ganz einsieht. In einem Gespräch mit Lucien antwortet sie auf seine Frage „Würdest Du nicht gehen, wenn du ein Junge wärst? “ im Stillen: „Ich kann nicht antworten. Denn ich würde ja auch gehen. Nur als Mann kann man diese grauenhafte Zeit tragen, wenn man weiß: heut ihr - morgen ich. Wer möchte denn jetzt leben? “ 21 Schon hier wird deutlich: „Das Vaterland“ ist ein beliebig ersetzbarer Begriff, für die eine ist es Deutschland, für den anderen Frankreich, für beide aber eine „grauenhafte Zeit“. Der Dienst beim Roten Kreuz im Bahnhof wird von Katrin zunächst sehr humorvoll beschrieben, doch das ändert sich schnell. Sie arbeitet verbissen im Lazarett, ein Briefwechsel mit Lucien zeigt ihr, wie unmoralisch und sinnlos das Kämpfen an der Front ist. Ihre Beschreibung der Arbeit hat nichts Heldenhaftes oder gar Humorvolles mehr, ja, der Zweifel an gültigen Werten lässt Katrin auch an sich selbst zweifeln: Bin ich das wirklich? Cathérine Lentz? Sind das meine Beine in den baumwollenen, gestopften Strümpfen? Ist das meine Brust unter dem rauhen Wollkleid, dem groblei‐ nenen Schürzenlatz? Dieselbe Brust, die Lucien geküßt hat? Bin ich Cathérine Lentz? 22 Adrienne Thomas gelingt es in ihrem Roman, glaubhaft Kritik am Krieg zu üben. Durch die Beschreibung der Entwicklung von Katrin vom naiven Mädchen zur illusionslosen Kriegsgegnerin wird dabei eine Auseinandersetzung mit dem Thema dargestellt, die auf die spezifische Situation von Frauen an der „Hei‐ matfront“ eingeht. Diese Entwicklung zur Pazifistin wird zwar auch dadurch begünstigt, dass Katrin einen Teil ihrer Jugend vergessen muss, der orientiert war an dem französischen Leben ihrer Heimat. Im Vergleich mit Dills Die Spionin wird aber deutlich, dass für Thomas die Darstellung der lothringischen Heimat nicht zu einer bewussten Parteiergreifung für oder gegen die Deutschen oder Franzosen führt, sondern die Grenzlandsituation letztlich nur als Folie für eine persönliche Entwicklung dient, die sich auch an einem anderen Ort im Reich hätte abspielen können. 262 Annette Kliewer III. Abschluss: Michel und Marianne. Ethnopluralismus oder Europäisches Ur-Paar? Welche Antworten gaben Frauen, die sich als Elsässerinnen oder Lothringe‐ rinnen als „zwischen den Fronten“ erleben mussten? Am Beispiel von aus‐ gewählten Romanen wurde untersucht, ob sich Schriftstellerinnen aus dem Grenzland den Nationalstereotypen gegenüber kritischer verhalten haben als ihre deutschen Schwestern. Es wird nicht überraschen, dass der pessimistische Grundtenor überwiegt, handelt es sich doch um Texte, die auf eine Kriegssitua‐ tion reagieren. Das Leben an der Grenze kann hier nicht als Bereicherung gesehen werden. Wie am Anfang betont, stellen die ausgewählten Romane eine Zuspitzung eines Identitätskonflikts dar. Dabei ist aber festzustellen, dass die von mir untersuchten Schriftstellerinnen sich zumindest nicht als „deutscher als die Deutschen“ fühlten, wie dies bei GrenzgängerInnen in Absetzung von den NachbarInnen häufig vorkommt. Allein Marie Hart kommt durch eigene schlechte Erfahrungen zu einem Diaspora-Gefühl, das sie besonders anfällig macht für eine überzogene Identifizierung mit den Deutschen. Ihre Kriegserinnerungen ließen sich einfacher einordnen in eine Heimatliteratur, wie sie von Literaturkritikern wie Josef Nadler oder Adolf Bartels propagiert wurde und die die NationalsozialistInnen später in ihre „Grenzland“-Kultur‐ politik einbauen konnten. Die Texte von Polly Maria Höfler, Liesbet Dill und Adrienne Thomas dagegen spiegeln ein (zwar manchmal vages) Gefühl der Versöhnungsbereitschaft mit Frankreich und setzen sich damit wohltuend ab von dem Tenor der reichsdeutschen Literatur im Kontext des Ersten Weltkriegs. Es scheint diesen Schriftstellerinnen wenigstens ansatzweise zu gelingen, mit ambivalenten Situationen umzugehen, ohne Loyalitätskonflikte vereinfachend zugunsten einer Nation zu entscheiden. Dabei spielt letztlich die regionale Identität keine besondere Rolle, bis auf Lina Ritter ist die Position als Elsäs‐ serin/ Lothringerin nur Katalysator für eine verstärkte Auseinandersetzung mit der nationalen Identität, keine Alternative zu diesen Modellen. Angesichts der Geschlechterkämpfe der Zeit des Ersten Weltkriegs lässt sich aber auch feststellen, dass für die Autorinnen ein Bezug auf eine besondere weibliche Identität gegen die nationalen Zuschreibungen der Männerwelt keine Option darstellte. Jede von ihnen will wissen, zu welcher Nation sie gehört, eine feministische, übernationale Identität interessiert sie nicht. Das hat vielleicht auch mit den dargestellten Plots zu tun, bei denen ja das „Romeo-und- Julia“-Motiv einer grenzüberschreitenden Liebe eine besondere Rolle spielt. Zumindest unbewusst waren aber alle Frauen von den Nationalstereotypen beeinflusst, die sich in dem deutsch-französischen Paar Michel und Marianne 263 Identitätskonzepte deutscher Frauen an der Grenze zu Frankreich 23 Höfler: André und Ursula (Anm. 13), S. 261 24 Ebd. gespiegelt sehen. Der deutsche Michel und die französische Marianne könnten demnach einfach nicht zueinanderkommen, weil sie so unterschiedlich seien. Auch die dargestellten Romane greifen dieses Stereotyp pessimistisch auf: Deutsche und Franzosen haben demnach zwar jeweils ihre Vor- und Nach‐ teile, sie können auch in Liebe zueinander entbrennen, aber ein wirkliches Zusammenleben ist noch nicht möglich. Nur ansatzweise finden sich in den Romanen optimistische Äußerungen, die die Idee einer besonderen Affinität des deutsch-französische Paars propagieren, was schon als Vorbereitung für ein gemeinsames Europa gesehen werden kann. So ähnlich formuliert es etwa André in André und Ursula von Polly Maria Höfler: Deutsche und Franzosen seien die „glücklichste Ergänzung“, 23 und das alte Bild von der deutsch-franzö‐ sischen Ehe als Grundlage eines gemeinsamen Europas entsteht: Einer eurer großen Denker hat einmal die Behauptung aufgestellt, daß Deutschland und Frankreich sich lieben und suchen wie Mann und Weib, daß sie einander aber auch bisweilen mißverstehen und sogar hassen - wie Mann und Weib. Uns bleibt zu hoffen, liebe Ursula, daß aus dieser Haßliebe heraus einmal doch die endgültige Vereinigung des Paares ‚Deutschland- Frankreich‘ entsteht, nicht wahr? 24 264 Annette Kliewer 1 Vgl. John Torpey: The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State. Cambridge 2000, S. 5-25; Jane Caplan / John Torpey (Hrsg.): Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World. Princeton / Oxford 2001; Thomas Claes: Passkontrolle! Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens. Berlin 2010; Andreas Fahrmeir: Staatsangehörigkeit und Nationalität, Rang und Bürokratie. In: Exilforschung 36 (2018), S. 23-34. Erst seit rund zwanzig Jahren sind Pässe und vergleichbare Dokumente Gegenstand einer systematischen historischen und politikwissenschaftlichen Erforschung. 2 Patrice Djoufack: Ausweis, Exil, Flucht und Migration. In: Recherches Germaniques 48 (2018), S. 45-68. URL: https: / / journals.openedition.org/ rg/ 392#bodyftn16 (Abschnitt 28; zuletzt abgerufen am 28. Juni 2021). Identität und Identifizierung national - sozial - global: Ausweise und Pässe in Texten von Anna Seghers - Saul Friedländer - Louis Begley Anne-Rose Meyer, Wuppertal Die Frage danach, wer jemand ist und woher jemand kommt, ist Gegenstand einer administrativen und juridischen Praxis des Bezeugens: Ausweise, Pässe, Visa repräsentieren als Objekte Nationalität und Staatsbürgerschaft, autori‐ sieren Grenzübertritte und Aufenthalte in einem relational auf den jeweils registrierten Wohnort bezogenen Ausland. Solche Dokumente haben insofern realitätserzeugende Kraft, als sie ein Individuum verbindlich einem bestimmten politischen Gemeinwesen zuordnen. Steuerpflicht, Wahlrecht, Wehrpflicht, die Gewährung von Schutz und Unterhalt durch einen Staat, die Zuständigkeit von Gerichtsbarkeiten werden erkenn- und regulierbar durch eine amtliche, schriftliche Registrierung und Nummerierung eines Menschen und dessen Identifikation durch bestimmte äußere Merkmale. 1 Der „Besitz von gültigen Reisedokumenten, mithin die Prüfung oder Kontrolle der Identität durch be‐ hördliche Instanzen“ bildet das, so die Zusammenfassung Patrice Djoufacks, „Moment einer Ökonomie der Herstellung und Wahrung der staatlichen Ord‐ nung“. 2 Menschen sind damit Teil einer Rechtsgemeinschaft, ohne sich dessen im Alltag allzu häufig bewusst zu sein. 3 „Schilderungen wahnsinniger Bürokraten, die mit dem Leben von Menschen spielen, indem sie Pässe willkürlich gewähren, verweigern oder ins Feuer werfen, wurden regelrecht zum Topos der deutschsprachigen Exilliteratur.“ Doerte Bischoff / Miriam Rürup: Ausgeschlossen: Staatsbürgerschaft, Staatenlosigkeit und Exil. Zur Einleitung. In: Exilforschung 36 (2018), S. 9-20, hier S. 16. Pässe, Visa etc. sind zentral u. a. in Erich Maria Remarques Romanen Liebe deinen Nächsten (1941) und Die Nacht von Lissabon (1962), in B. Travens Roman Das Totenschiff (1926), in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen (1949) und in Franz Werfels Exildrama Jacobowsky und der Oberst, entstanden 1941/ 42. Vgl. an Gedichten Hans Sahl: Zwischen Tours und Poitiers. In: Wolfgang Emmerich / Susanne Heil (Hrsg.): Lyrik des Exils. Stuttgart 1997, S. 143; Franz Werfel: Traumstadt des Exils. In: ebd., S. 170; Erich Kaiser: Der Ausweis. In: ders.: Der Mensch muss einen Ausweis haben. Rosdorf 1983, S. 8. Vgl. zu Travens Roman und anderen erzählenden Texten Bischoff: Kriegszustand. Logiken des Militärischen und die Macht der Pässe in literarischen Reflexionen über die Staatsbürgerschaft seit 1918. In: Exilforschung 36 (2018), S. 165-183. Vgl. zur literarhistorischen Entwicklung des Passmotivs Jesper Gulddal: Crossing the Lines: Passports and Borders as Motifs in Contemporary Migration Literature. In: Local et mondial: Circulations 5 (2017), S. 195-204. 4 Frithjof Trapp weist auf die Vieldeutigkeit des Romantitels hin, der sowohl „eine bü‐ rokratisch-juristische, also zeitgeschichtliche“ sowie „eine metaphorisch-symbolische Bedeutung“ habe, die sich im Romanverlauf permanent überlagerten bzw. miteinander abwechselten. (Frithjof Trapp: Zeitgeschichte und fiktionale Wirklichkeit: Transit. In: Es ist vor allem Exilliteratur, die als Archiv fungiert und daran erinnert, dass das Verhältnis von personaler Identität und Staatsbürgerschaft extrem problematisch, ja lebensbedrohlich sein kann. Dies verdeutlichen Ausweispa‐ piere als literarische Motive in Texten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts. 3 Denn das Verhältnis von Identität und Staatsbürgerschaft ist v. a. in solchen Texten zentral, in denen Grenzen in Bewegung geraten. Es wird mittels Ausweispapieren, deren Verlust, (Wieder-)Erlangung oder Fälschung, literarisch inszeniert. Exilliteratur macht exemplarisch erkennbar, dass und wie deren Evidenzkraft in solchen Kriegs- und Krisenzeiten schwindet, in denen Staatsbürgerschaft als Institution destabilisiert wird. Ein erzählerisches Mittel hierfür ist, Ambivalenzen des Passwesens aufzuzeigen. Dieses oszilliert zwischen epistemischer Autorität und Fallibilität. Die essentialistische Idee einer unzweifelhaft und dauerhaft feststellbaren Identität eines Menschen wird dadurch verabschiedet und durch die Vorstellung veränderbarer Referenzen auf nationale, soziale und globale Kontexte ersetzt, wie sich an Beispielen aus dem deutsch- und französischsprachigen sowie aus dem anglophonen Raum mit Blick auf Exilerfahrungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen lässt. Anna Seghers’ Roman Transit, erschienen 1944, ist der Exilroman, der wie kein zweiter beispielhaft und historisch getreu Visumsvergabe und das Spiel mit Identitäten thematisiert. 4 Movens der in Marseille spielenden Handlung ist 266 Anne-Rose Meyer Exil 1 [1993], S. 5-14, hier S. 6f.). Vgl. zur Beurteilung des Romans als Zeitdokument auch Sigrid Thielking: Warten - Erzählen - Überleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers’ Roman Transit. In: Argonautenschiff 4 (1997), S. 127-138. Die besondere literatur- und kulturgeschichtliche Bedeutung von Seghers’ Roman besteht nicht zuletzt darin, die psychischen und physischen Auswirkungen der Bürokratie des Pass- und Meldewesens als erste Autorin ausführlich thematisiert und anhand mehrerer komplexer Gestalten in realistischer Weise verdeutlicht zu haben. 5 Vgl. Anna Seghers: Transit. 6. Aufl. Berlin 2000, S. 49, 67. 6 „Erlauben Sie mir, Sie einzuladen. […] Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ Ebd., S. 5-7. „In dieser sozialen Funktion des Erzählens“ sieht Sonja Hilzinger richtig ein identitätsstiftendes Moment, denn es gestatte, „in der flüchtigen Transit-Welt […] das Alleinsein zu überwinden, Erfahrungen zu vermitteln und zu sich selbst zu kommen.“ Sonja Hilzinger.: Nachwort. In: ebd., S. 283-290, hier S. 290. 7 Vgl. Seghers (Anm. 5), S. 5, 116, 123, 135. Djoufack (Anm. 2) kommentiert: „Der Pass bildet insofern ein zentrales Moment in einem Wissensregime, das zum Zwecke der Etablierung der Ordnung Flüchtlinge akribisch zählt und registriert, über ihre Identität und ihren Aufenthalt genaue Kenntnisse verfügt, die dazu dienen, sie genau zu verorten, und ihrer habhaft zu werden, wenn sie des Landes verweisen [! ] werden sollen. […] Kontrolle dient der Etablierung der Ordnung in einem staatlichen Machtapparat […]. Ordnung wird dadurch überraschenderweise zum Ausdruck von Inhumanität, Staatskontrolle, Machtausübung bzw. -missbrauch.“ (Abschnitt 32). 8 Exemplarisch hierfür Seghers (Anm. 5), S. 203: „So dicht, so ausgeklügelt, so unent‐ rinnbar war dieses Netz aus Fragen, daß dem Konsul keine Einzelheit meines Lebens hätte entgehen können, wenn es nur mein Leben gewesen wäre. […] Alle Einzelheiten stimmten. Was machte es aus, daß das Ganze nicht stimmte? “ der behördliche Zwang, dem tausende Emigranten ausgesetzt sind: nämlich mittels Pässen, Visa de sortie, personalisierten Tickets für Schiffspassagen die eigene nationale wie personale Identität sichtbar-materiell zu beglaubigen, um ausreisen zu dürfen. 5 Exemplarisch gestaltet die Autorin Identität in mehrererlei Hinsicht als diskursives Produkt mit realitätserzeugender Kraft. Ihr namenlos bleibender, homodiegetisch-autodiegetischer Erzähler, ein entflohener, politisch misslie‐ biger KZ-Insasse, richtet seine Rede in dialogischem Gestus an ein nicht näher spezifiziertes Gegenüber. 6 Die suggerierte Gesprächssituation verleiht der Erzählstimme Authentizität und Individualität. Diese kontrastiert mit den Vertretern staatlicher Institutionen, deren Beschreibung auf ihre jeweilige Funktion im Melde- und Passwesen konzentriert bleibt. Sie sind einerseits als le‐ bensbedrohliche Mächte inszeniert, deren Einfluss, Dokumente zu verweigern, Flüchtlinge aus diversen europäischen Ländern in die Verzweiflung oder in den Tod treibt. 7 Andererseits wird die Bürokratie zugleich dadurch ad absurdum geführt, dass die falsche Identität, die der Erzähler angenommen hat, trotz genauer Überprüfungen gar nicht auffällt. 8 Neben politischen, sozialen, psy‐ 267 Identität und Identifizierung national - sozial - global 9 „Die Rarität macht aus dem Pass einen wertvollen Gegenstand, der anerkannt wird, wenn er gut, echt ist. Demgegenüber steht die häufige Erscheinung des Menschen für dessen inflationären Wert.“ Djoufack (Anm. 2), Abschnitt 30. 10 Ebd., S. 103. Vgl. auch S. 207f. Ein namenloser Emigrant erzählt dem Protagonisten, in einer Gegend geboren worden zu sein, die vor dem Weltkrieg zu Russland, dann zu Polen und später zu Litauen gehörte, das dann von Deutschland besetzt wurde. Diese Figurenrede ist paradigmatisch für die oben geschilderten Zusammenhänge. 11 Vgl. hierzu auch Charlton Payne: Der Pass zwischen Dingwanderung und Identitäts‐ übertragung in Remarques Die Nacht von Lissabon. In: Exil 31 (2013), S. 343-354, hier S. 345 u. 350. chologischen, juridischen und epistemologischen Dimensionen von Identität arbeitet Seghers auch noch eine ästhetische in ihren Roman ein. Denn der Ich-Erzähler nimmt die Identität eines verstorbenen Schriftstellers an, dessen Ausweispapiere und Teile eines im Entstehen begriffenen Werkes zufällig auf ihn kommen. Im Romanverlauf zeigt Seghers an diesen beiden Figuren Prozesse der Identitätsver- und -entschleierung auf: Es gelingt dem Erzähler, mittels der falschen Papiere seine Aufenthaltserlaubnis mehrfach zu verlängern. Die epistemische Autorität von Ausweispapieren ermöglicht ihm zu überleben. Zugleich ist der Leser durch die Erzählperspektive über die Identitätswechsel des Erzählers unmissverständlich informiert. So wird er Zeuge, wie diese meto‐ nymische Prozesse begründen: Menschen werden in den Szenen des Romans, die in Amtsstuben spielen, mit ihren Papieren gleichgesetzt, die Hierarchie zwischen Belebtem und Unbelebtem kehrt sich folglich um. 9 Das Individuum objektiviert sich in materiellen Zeichen, in biometrischen Daten, Stempeln, Unterschriften, Siegeln, in einer für die jeweilige Behörde zusammengestellten Sammlung von Papieren. Kontrollen sind nur scheinbar zielführend: Es erweist sich in vielen Fällen als unmöglich, die Identität einer Person referentiell über Pass und/ oder Visum zu beglaubigen: „Bei uns in Europa hat kaum jemand mehr die Staatsbürgerschaft seines Ursprungslandes“ 10 , erläutert der Ich-Erzähler einem seine Papiere misstrauisch prüfenden Konsulatsmitarbeiter gegenüber. Die Bürokratie funktioniert zwar noch, aber mit extrem beweglich gewordenen Grenzen erweist sie sich als nutzlos oder unpraktikabel, um Identitäten durch hochkodierte Dokumente wie Pässe im wahrsten Wortsinn festzustellen. 11 Über die Zeichenhaftigkeit von Identität wird im Romanverlauf ein Spiel mit Zuordnungen initiiert. Die Tätigkeit des Erzählers, der die Identitätsmarker eines anderen auf sich bezieht und diese wiederum auf unterschiedliche natio‐ nale Kontexte, indem er sich bald als aus Schlesien, bald als aus dem Saarland oder dem Elsass kommend ausgibt, erweist sich als wesentlich verwandt mit der seines Alter Ego, des Schriftstellers: Auch ein Autor schafft über Zeichen 268 Anne-Rose Meyer 12 Caroline Delfau kommentiert deswegen richtig: „Die Absurdität dieses Verwaltungs‐ apparates wird durch die ironische Distanz des Ich-Erzählers, der das ganze Prozedere als ‚Spiel‘ begreift, und durch das Prinzip der ‚verkehrten Welt‘ zum Ausdruck gebracht: ein Prinzip, das einem Toten schneller die nötigen Stempel verschafft als den Lebenden.“ Dies.: Zwischen den Welten. Zur Poetik des Transitorischen in Anna Seghers’ Roman Transit und in ihrer Novelle Überfahrt. In: Sabina Becker (Hrsg.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933. München 2010, S. 38-56, hier S. 44. und Kontexte Identitäten, verunklart oder bestätigt diese. Von diesem Punkt aus betrachtet gewinnt der Roman metafiktionales Potential. Pass- und Meldewesen erscheinen bei Seghers als überaus mächtige Institu‐ tionen, die den gesamten Handlungsverlauf und Figurenkonstellationen wie -konstitutionen prägen. In einer Zeit, in der sich kriegsbedingt nationale Grenzen nicht nur verschieben, sondern ganze Staaten annektiert werden, sind Fragen nach Zugehörigkeit und nationaler Zuständigkeit lebenswichtiger denn je, gleichwohl aber immer schwieriger oder vielfach gar nicht zu klären. Anhand von Empathie erzeugenden Figuren und rationalen Nachvollzug erlaubenden Handlungen und Reflexionen zeigt Seghers den Zusammenbruch des Pass- und Meldewesens, das von Fälschern und Schleppern unterwandert und durch Kor‐ ruption destabilisiert ist. Zudem stellt sie den Sinn von Identitätsfeststellungen in Frage, wenn sie schildert, wie zur Ausschiffung bereite Menschen in einem Land festgehalten werden, in dem man sie aber gar nicht haben will, weil ihnen vorgeblich Visa, Gesundheitszeugnisse, Geburtsurkunden, Ariernachweise und Fahrkarten fehlen. 12 Die Schilderungen der langen Schlangen vor den Konsu‐ laten und vor anderen Behörden, die Willkür von Behördenvertretern und die Erfordernis, in Zeiten eines Weltkrieges überhaupt an eine Vielzahl persön‐ licher Dokumente zu gelangen, muten passagenweise absurd an. Nationale Zugehörigkeit ist - so legt es die Figurengestaltung Seghers’ nahe - in Kriegs- und Krisenzeiten kontingent und nur bedingt aussagekräftig hinsichtlich der Identität einer Person. Genau darin aber liegt auch ein Moment der Freiheit: Der Roman endet bekanntlich mit der Entscheidung des Erzählers, künftig unter Franzosen, bei seinen Freunden, zu leben. Zugehörigkeit und nationale Identität erweisen sich also schlussendlich - und dies ist ein versöhnlicher Ausblick - als selbständige Wahl des Individuums. Diese ist mit Urkundenfälschung und Lüge verbunden, mündet aber in Solidarität mit einer neuen Gemeinschaft, in einem - wie der Leser hoffen darf - geglückten Leben. Die selbstgewählte Zugehörigkeit und ein damit verbundenes neues Selbstver‐ ständnis sind elementare Bestandteile vieler Passgeschichten, so etwa auch der Autobiographie Saul Friedländers Quand vient le souvenir… aus dem Jahr 1978. Darin gehen Identitätswechsel mit Namensänderungen und der lebensret‐ 269 Identität und Identifizierung national - sozial - global 13 Saul Friedländer: Quand vient le souvenir… Paris 1978, S. 98. Vgl. auch S. 83. 14 Ebd., S. 189. tenden Konversion zum Katholizismus einher. Ähnlich wie Seghers inszeniert Friedländer eine deutliche Trennung von und Differenz zu der ursprünglichen Identität des erzählten Ich. Der Autor hält diese Distanz offen, indem er Rollen‐ wechsel und die damit verbundene veränderte Selbstwahrnehmung explizit und ausführlich thematisiert: „Paul-Henri.“ Je n’arrivais pas à m’habituer à ce nom. Chez moi, j’avais été „Pavel“ ou plutôt „Pavliček“, le diminutif habituel, ou encore „Gagl“, sans compter une kyrielle de petits noms affectueux. Puis, de Paris à Néris, j’étais devenu „Paul”, ce qui, pour un enfant, était tout de même autre chose. Paul, je me sentais plus exactement comme „Pavliček“, mais „Paul-Henri“ était bien pire encore: j’avais franchi une ligne, j’étais passé de l’autre côté. Paul aurait pu être tchèque et juif, mais Paul-Henri ne pouvait être que français et résolument catholique […]. D’ailleurs, je n’en finis pas là avec mes changements de noms: par la suite, je divins „Shaul“, en débarquant en Israël, puis „Saul“, un compromis entre le „Saül“ qu’exige le français et le „Paul“ que j’avais été. Bref, impossible de m’y retrouver, ce qui, somme toute, me paraît être l’expression adéquate d’une confusion réelle et profonde. 13 Es handelt sich bei Identitätswechseln somit niemals um folgenlose Maskeraden. Der Austausch von Papieren - Pässen, Geburtsurkunden, Taufzeugnissen - ist als gewaltsamer Eingriff inszeniert, der bei Friedländer mit einem Sprach‐ wechsel des erzählenden Ich korrespondiert. Mit diesen Krisenerfahrungen kontrastiert der ruhige, ungebrochene Erzählduktus, wofür das Zitat zur An‐ kunft in Israel exemplarisch ist. 14 Die Erzählweise mag mit dem Erzählen aus der Retrospektive, dreißig Jahre nach dem Krieg, zusammenhängen oder damit, dass Friedländer als Historiker Distanz auch zum eigenen gelebten Leben herstellen kann. Es ist - so die These - aber auch möglich, dass Schreiben ein identitätsstiftender und damit trotz allen erfahrenen Grauens konstruktiver Vorgang ist, der zu einem besseren Selbstverständnis und zu einer neuen gesellschaftlichen Einbettung führt. Auch für Friedländers Autobiographie ist - wie für Seghers’ Transit - eine Thematisierung von Literatur und Erzählen bzw. Schreiben charakteristisch: Les noms de Belzec et de Maidanek me frappèrent particulièrement. Je voulus écrire. […] J’essayais de m’hypnotiser en quelque sorte, de susciter un état second pour qu’enfin jaillissent les premiers mots d’un poème. Mais rien. […] Bien plus tard seulement, en repensant à ces efforts, je compris que ce n’était pas mon talent littéraire qui était en cause, mais bien une certaine capacité d’identification. Entre les 270 Anne-Rose Meyer 15 Ebd., S. 157f. 16 Ebd., S. 189. 17 Vgl. ebd., S. 123 u. 154f. événements et moi, le voile ne se déchirait pas. […] D’où - faut il le dire? - la difficulté immense à écrire ce livre. 15 Die Hinwendung zum neugegründeten Staat Israel und das Bekenntnis zum Judentum stehen am Ende des Buches. Auch dies ein Akt der Selbstdefinition und -ermächtigung, der im idyllischen Anblick des gelobten Landes vom Schiff aus mündet. 16 Gleichwohl enthält die Autobiographie lange Passagen, durch die Vorstellungen eines unglücklichen „Vorher“ und eines glücklichen „Nachher“ verabschiedet werden. Nachdem sich etwa der junge Paul-Henri wieder dem Judentum zugewandt hat, gelingt es ihm nicht, das Christentum zu vergessen und sich einer Glaubensgemeinschaft zugehörig zu fühlen. 17 Während Seghers das Verhältnis von Identität und Passwesen in den Fokus ihres Romans rückt, ist für Friedländers Autobiographie ein fortgesetzter Rollenwechsel zentral, mittels dessen personale und religiöse Identität als nur scheinbar austauschbare Elemente vorgeführt werden. Prozesse der De- und Repersonalisierung ver‐ schränken sich in Friedländers Text, der wie Seghers’ ein Spiel mit Zeichen und Bezeichnetem beschreibt: Namenswechsel und Konversion dienen einer Iden‐ titätsverschleierung, werden aber dem Leser gegenüber transparent gemacht. Die politisch und emotional motivierte Hinwendung zu einem anderen Staat, zu einer anderen Staatsbürgerschaft und - damit verbunden - zu einer anderen, stabilen Identität - in diesem Fall einer jüdisch-israelischen - am Schluss ist eine weitere auffällige Parallele zu Seghers’ Roman. Ein anderes auffälliges Mittel, um Identität und Identitätswechsel zu be‐ schreiben, wird anhand des Romans Wartime Lies aus dem Jahr 1991 von Louis Begley kenntlich. Ein polnisch-jüdischer Junge überlebt den Nationalso‐ zialismus in Polen, indem er mit seiner Tante mehrfach den Wohnort wechselt, immer neue Identitäten annimmt, sich falscher Papiere bedient, zum katholi‐ schen Glauben konvertiert und nach den ersten antisemitischen Pogromen im befreiten Polen mit seiner Familie unter neuem Namen auswandert. Die autobiographischen Parallelen zur Vita des Autors sind unübersehbar, gleich‐ wohl hat Begley - anders als Friedländer - keine Autobiographie geschrieben, sondern explizit „a novel“, wie es im Untertitel heißt. Die bei Begley mit der Konversion verbundenen Gewissensqualen, der Handel mit gefälschten Papieren, das Vortäuschen einer Identität Vermietern, Behörden und Ärzten gegenüber sind im Kontext von Flucht und Exil vertraute Motive. Darüber hinaus zeichnet sich Begleys Roman dadurch aus, dass er 271 Identität und Identifizierung national - sozial - global 18 Vgl. Louis Begley: Wartime Lies. New York 1992, S. 133. 19 Ebd., S. 134. 20 Vgl., ebd., S. 76. Vgl. auch ebd., S. 133f. 21 Ebd., S. 77. immer wieder den Körper - Stimme, Penis, Gesichtsschnitt - als identitäts‐ markierend, invariant und dadurch potentiell gefährdend beschreibt. Zwar können Name, Religionszugehörigkeit und Familienstand - wie exemplarisch an der Erzählerfigur und deren Tante vorgeführt - erfolgreich und zeitweise auch ohne größere Probleme in den Ausweispapieren gewechselt werden. Eine körperliche Mimikry ist für den beschnittenen Neunjährigen aber nur eingeschränkt möglich. Er muss - anders als ein Mädchen - beim Wasserlassen Angst vor Entdeckung haben. Mit der Unveränderlichkeit des männlichen Körpers kontrastiert die Vir‐ tuosität, mit der Tante Tania ihre Rollen wechselt, sich mimisch, gestisch und sprachlich an die Erfordernisse der jeweiligen Umgebung anpasst. Das beschriebene Verhalten erinnert nicht zufällig an ein theatrales Rollenspiel, das Verkleidung, Verstellung und Maskierung erfordert. Etwa wenn Tania ihr Ge‐ sicht schwärzt, ihr Haar bedeckt und die Bewegungen einer alten Frau imitiert, um bei der anstehenden Deportation nach Auschwitz nicht vergewaltigt zu werden. Der Verkleidung als alte Frau entspricht die gegensätzliche Aktion, sich selbst und den Jungen in der Gruppe der zu Deportierenden kurz vor dem Aufbruch zu kämmen, mit dem letzten Rest Wasser zu säubern, Lippenstift aufzutragen, um sich von einer „soot-smeared old woman“ in eine „dignified and self-confident young matron“ zu verwandeln: 18 Unlike the day before, she was not hanging back, trying to lose us in the crowd; she pushed her way to the outside row and, holding my hand very tight, to my horror, led me away from the column so that we were standing, completely exposed, in the space on the platform between the rest of the people and the train. Despite my panic, I began to understand that Tania was putting on a very special show. 19 Tatsächlich gelingt es Tania, den Anschein zu erwecken, sie und ihr Neffe gehörten nicht zu der für Auschwitz bestimmten Menschengruppe. Verkleidung und Rollenspiel wirken noch in anderen Situationen lebensrettend, etwa bei der Anfertigung von Fotos für falsche Ausweise. 20 Begley beschreibt nüchtern und sehr genau die Folgen der Identitätswechsel, derer sich Tante und Neffe mehrfach während des Handlungsverlaufs unter‐ ziehen. 21 Der Erzähler muss bald als Sohn Tanias agieren, bald den Katholiken geben oder versuchen, in den Augen der Öffentlichkeit gar vollständig zu 272 Anne-Rose Meyer 22 Ebd., S. 181. verschwinden, etwa wenn seine Existenz in einer unter falschem Namen angemieteten Wohnung verschleiert werden soll. Von entscheidender Bedeutung für den Wechsel von Identitäten erweist sich die Sprache. Was Friedländer und Seghers unkommentiert lassen - dass näm‐ lich perfektes Französisch die Voraussetzung dafür ist, in einem katholischen Internat unentdeckt zu bleiben (Friedländer) bzw. in Marseille zu überleben und Frankreich als neue Heimat annehmen zu können (Seghers) - ist bei Begley explizit Thema; etwa wenn es der Tante gelingt, sich und den neunjährigen Erzähler vor der Deportation nach Auschwitz zu retten, indem sie sich vor einem Hauptmann der Wehrmacht erfolgreich als Deutsche ausgibt. Der Umstand, dass das Erzähler-Ich sich nicht seiner Muttersprache Polnisch bedient, sondern in der Retrospektive des amerikanischen Englisch, zeugt von einem neuerlichen Identitätswechsel. Dieser wird im Roman nicht mehr vertieft, das Ende ist offen. Die Zeit nach der Auswanderung aus Polen ist nicht mehr Thema. Angesichts der autobiographischen Parallelen zur Autorenvita aber kündet der Sprachwechsel davon, dass sich der Erzähler von seinem Geburtsland abgewendet und als US-amerikanischer Staatsbürger integriert hat. Mit dem offensichtlich letzten Ortswechsel ist folglich wieder ein Rollenwechsel verbunden. Eine Kontinuität des jungen und des älter gewordenen Erzählers wird verneint: „And where is Maciek now? ”, fragt der Erzähler ganz am Ende des Romans, Distanz zum eigenen Selbst durch das Erzählen in der dritten Person signalisierend: He became an embarrassement and slowly died. A man who bears one of the names Maciek used has replaced him. Is there much of Maciek in that man? No: Maciek was a child, and our man has no childhood that he can bear to remember; he has had to invent one. And the old song is a lie. 22 Faktuales und fiktionales Erzählen, Aufrichtigkeit und Lüge werden abschlie‐ ßend miteinander kontrastiert, ebenso wie dies bereits am Anfang des Romans geschieht, wo Begley das Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Ge‐ schichtsschreibung mit intertextuellen Verweisen auf antike Literatur skizziert. Erfindungen, Lügen werden zu Voraussetzungen, um überhaupt über die Kind‐ heit schreiben zu können, kontrastieren aber mit den realistisch anmutenden, historisch getreuen Schilderungen über das Leben im Nationalsozialismus im Romanverlauf. Wer ist der Erzähler ‚eigentlich‘? Erzählt er ‚die Wahrheit‘? Das Verhältnis von Fakt und Fiktion ist durch die zahlreichen Identitätswechsel instabil geworden. Begleys Roman mündet folglich - anders als die Texte 273 Identität und Identifizierung national - sozial - global 23 Der Roman schließt etwa damit, dass der Erzähler traurig seinen einzigen gleichaltrigen Freund in Warschau zurücklassen muss, ohne diesem mitteilen zu können, unter wel‐ cher Identität er künftig in einem nicht näher spezifizierten Ausland leben wird; denn angesichts der antisemitischen Ausschreitungen in Polen sollen für die Auswanderung der Familie falsche Papiere beschafft werden. Vgl. ebd., S. 180. 24 Delfau betont: „Vor allem […] stellt die lebensbedrohliche Situation der Flucht eine Bedrohung der eigenen Integrität dar.“ Delfau (Anm. 12), S. 45. V.a. Begleys Text zeigt, wie stark mit Heimatverlust und Flucht einhergehende Identitätskrisen Menschen dauerhaft belasten und verändern. Seghers’ und Friedländers - nicht in einer neugewonnenen Identität und Stabilität, sondern in der Verunsicherung des Lesers über den Status des Erzählten. Fakt oder Fiktion - Lüge gar? Es ist nicht letztgültig zu entscheiden. Ideale von Aufrichtigkeit und Authentizität, die von Seghers und Friedländer ausschließlich mit Blick auf die Gefühlslage des erzählenden, sich verstellenden Ich thematisiert werden, rücken bei Begley bereits durch den Romantitel in ihrer moralischen Dimension in den Fokus. Die Vortäuschung von ‚Identität‘ im eigentlichen Wortsinn, verstanden als Kontinuität desselben in der Zeit, ist etwas, das bei Begley zwar dem Überleben dient, aber gleichwohl zwischen‐ menschlichen Kontakt erschwert. 23 Ihre Rechtfertigung finden die Wartime Lies darin, Erzählen überhaupt zu ermöglichen: einmal dadurch, dass Lügen das Überleben sicherten, es überhaupt noch einen Erzähler gibt, der seine Geschichte erzählen kann, und dann dadurch, dass Lügen eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus sicherer emo‐ tionaler Distanz, in der Fiktion, erlauben. Der, der erzählt, ist nicht mit dem identisch, über den erzählt wird, obwohl es sich um dieselbe Person handelt. Im Bereich literarisch-autobiographischen Erzählens ist dies nur scheinbar paradox. Eine Annäherung des Erzählers an sich selbst ist dadurch möglich, ebenso wie eine Distanzierung. Über Gattungs-, Epochen- und Sprachgrenzen hinweg erweist sich - so könnte ein vorläufiges Lektürefazit lauten - in den hier vorgestellten literarischen Bei‐ spielen ‚Identität‘ als komplexer Begriff, dessen unterschiedliche Dimensionen die Autoren ausloten und auf unterschiedliche Weisen zur Darstellung bringen. Gleichwohl lassen sich auffällige Gemeinsamkeiten feststellen: Auch wenn die von der Mitte des 20. Jahrhunderts an erschienenen Bücher letztlich Geschichten geglückter Rettungen, Überlebensgeschichten sind, zeugen sie doch von Iden‐ titäts- und Rollenwechseln als extremen Krisenerfahrungen. 24 Dies hängt nicht nur mit den lebensbedrohlichen Situationen zusammen, die Juden bzw. als poli‐ tisch missliebig diskriminierte Menschen im Nationalsozialismus zu gewärtigen hatten, sondern damit, dass Identitätswechsel immer verbunden sind mit der 274 Anne-Rose Meyer 25 Vgl. hierzu auch Payne (Anm. 11), S. 353. Auslöschung, dem Verlust von Identität: Damit Mimikry funktionieren kann, müssen Erinnerungen an frühere Existenzen möglichst soweit getilgt sein, dass sie das im jeweiligen Kontext erwünschte, normale Verhalten der Verfolgten nicht konterkarieren. Prozesse der De- und Repersonalisierung führen alle drei Texte in jeweils unterschiedlicher, aber immer beeindruckender und bedrü‐ ckender Weise vor. Der Pass als portables und veränderbares Identitätszeichen ist das Objekt im Text, anhand dessen die prekäre Situation der Verfolgten verdeutlicht wird. Mit dem Beschreiben von Mimikry erscheint Literatur unterschiedlicher Gattungen, Entstehungszeiten und kultureller Kontexte als multifunktionales Gebilde, das erstens als Archiv begriffen werden kann, in dem Erinnerungen an die physischen und psychischen Folgen von Identitätswechseln bzw. Identi‐ tätsverlusten bewahrt sind und emotional wie rational nachvollziehbar gemacht werden. 25 Zweitens ermöglicht es Literatur, über den unscharfen, facettenreichen Begriff ‚Identität‘ zu reflektieren, indem über den Akt des Erzählens eine sprachliche Fixierung und damit Nachvollziehbarkeit der unterschiedlichen, angenommenen Identitäten und deren Beschreibung gegeben ist. Die redukti‐ onistischen, unzureichenden und teils arbiträren Identitätszuschreibungen im Pass- und Meldewesen werden durch individuelle Erzählerstimmen entlarvt und durch ausführliche Selbstdarstellungen ergänzt. Die Offenlegung der un‐ terschiedlichen Identitäten von Figuren und deren Konstitution im literarischen Text geht dabei einher mit einer metafiktionalen Ebene, auf der Schreiben und Erzählen als soziale Akte fungieren, mittels derer die ‚wirkliche‘ Identität des er‐ zählenden Ich dem Leser gegenüber beglaubigt und erläutert bzw. wie bei Begley auch stark problematisiert wird. Identität erscheint folglich in den untersuchten Texten als ein dem Individuum externes, es fremdbestimmendes Phänomen in globalen bzw. nationalen Kontexten, festgeschrieben in Dokumenten, zugleich aber auch als ein der Selbstbestimmung des Individuums unterliegendes und diese auch bedingendes Phänomen. Literatur zeigt, dass und wie ‚Identität‘ in mehr oder weniger großem Maß selbst gestaltet werden kann und ganz wesentlich soziale Beziehungen innerhalb des dargestellten Figurenensembles sowie die Autor-Leser-Kommunikation bestimmt. 275 Identität und Identifizierung national - sozial - global 1 Durch die Schreibeweise mit einfachen französischen Anführungszeichen wird nach‐ folgend die abstrahierende Konstruktion hervorgehoben, während die einfache deut‐ sche Version zur Hervorhebung des Zitatcharakters auf begrifflicher Ebene dient. 2 Böll selbst hat sich z. B. in den Frankfurter Vorlesungen als „gebunden an Zeit und Zeitgenossenschaft“ bezeichnet. - Vgl. Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe [KA], in 27 Bänden, herausgegeben von Árpád Bernáth u. a. Köln 2002-2010, hier Band 14, S. 139. - In der Böll-Forschung wird der Begriff aufgegriffen, z. B. deskriptiv bei Ralf Schnell oder programmatisch bei Jochen Schubert. - Vgl. Ralf Schnell: „Ich will das Haar, das vom Haupt gefallen ist“. Zeit und Zeitgenossenschaft bei Heinrich Böll. In: Dieter Lamping (Hrsg.): Heinrich Böll zum 100. Geburtstag. Marburg 2018, S. 23-54. - Und: Jochen Schubert: Heinrich Böll. Paderborn 2011, hier insbesondere: S. 39-41. 3 Vgl. dazu z. B.: Dieter Lamping: Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit. In: Lamping (Hrsg.): Heinrich Böll zum 100. Geburtstag (Anm. 2), S. 5-22. Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ Clemens Fuhrbach, Köln I. Einleitung Als Literaturwissenschaftler: in hat man es dieser Tage nicht leicht, wenn man mit dem Thema ‚Heinrich Böll‘ 1 in die Öffentlichkeit tritt. Den bürgerlichen Dis‐ kurs über den verstorbenen Autor und sein literarisches Erbe bestimmen zwei Tendenzen. Einerseits trifft man noch immer auf eine Vielzahl der sogenannten ‚Zeitgenossen‘. 2 Andererseits wird Böll in den jüngeren Jahrgängen kaum noch gelesen. 3 Im ersten Fall ist der Name ‚Heinrich Böll‘ ein selbstreferentieller Ausgangspunkt zur gemeinsam erlebten Zeitgeschichte. Der Intellektuelle ver‐ gangener Tage trat als kontroverse Persönlichkeit auf und gesellschaftlich in Erscheinung. Zugleich war er einer der erfolgreichsten Autoren der deutschen Nachkriegszeit. Spätestens mit der Verleihung des Nobelpreises 1972 wurde der Schriftsteller weltweit bekannt. Innerhalb des bundesdeutschen Publikums findet man bis heute gleichermaßen Fürsprecher wie Gegner des kritischen Kölners, kaum aber solche, die ihre eigene Biographie ohne Berührungspunkte mit dem Autor schreiben oder - ehrlicherweise - schreiben könnten. Wer seinerzeit nicht wenigstens ein oder zwei Texte Bölls gelesen hatte, kannte 4 Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. 4., durchgesehene Auflage. Tübingen 2017 (2000), S. 28. - Hervorhebung im Original. 5 Ebd. 6 Vgl. Ralf Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. Köln 2017, S. 9ff. 7 Dafür plädiert z. B. Lamping: Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit (Anm. 3), S. 11. 8 Begleitet wird die Frage von der selbstreferentiellen Ebene des situativen „Wer spricht? “ auf der Textebene der hier vorgetragenen Darstellung. ihn aus der Tagespresse, dem Radio oder dem Fernsehen und teilte - neben der gemeinsamen Sprache - nicht zuletzt den Rucksack der gemeinsamen Erfahrung in der frühen Bundesrepublik. Die Erinnerung an diese Zeit verliert zwar zunehmend an Resonanz, sie dauert dennoch bis heute an - auch in literaturwissenschaftlicher Betrachtung. In der juristischen Sprache würde man in so einem Fall vielleicht von Befangenheit sprechen. Doch der zu machende Punkt ist in diesem Fall nicht das Aufzeigen eines Interessenkonflikts, sondern die Kenntnisnahme der subjektiven Bedingtheit der sprachlichen Rede. Es zeigt sich darin nichts anderes als der „individuelle bias“ 4 , der sich - Peter V. Zima zufolge - auch im Alltag der wissenschaftlichen Sprache grundsätzlich niederschlägt. 5 Auch als aus heutiger Perspektive sprechendes Subjekt wird man diese persönliche Färbung im Sprechen nicht verhindern können. Aber Kontexte ver‐ ändern sich. Den Vorsprung gemeinsamer Biographie und Zeitgeschichte wird man langfristig kaum wettmachen. Doch gerade diese veränderte Konstellation verbirgt notwendigerweise eine neue Distanz zur Sache. Sie bietet die Chance der Aufarbeitung bestehender Stereotype und Klischees sowie zur Erneuerung der wissenschaftlichen Perspektive abseits eben jener überkommenen Muster. 6 Eine solch kritische Aktualisierung der Lesart der Autorschaft Heinrich Bölls bedarf allerdings der intensiven Auseinandersetzung mit der Sprache und Literatur in historischer Perspektive und in rezenter Bedeutungsermittlung. Es ist eine - an dieser Stelle zu betonende - Selbstverständlichkeit: Wir müssen Heinrich Böll neu und noch einmal in der gesamten Breite lesen, um ‚ihn‘ wis‐ senschaftlich zu aktualisieren und theoretisch neu zu erschließen. 7 Nun scheint aber eine zentrale Frage der Erneuerung darin zu liegen, wen oder was wir mit dem Personalpronomen ‚ihn‘ überhaupt aktiv bezeichnen. Wann sprechen ‚wir‘ 8 von einer historischen Person, wann von einem empirischen Autor, wann über eine individuelle Konstruktion des lesenden Publikums und wann über eine Diskursfunktion. Eine abschließende Antwort auf diesen Fragenkomplex kann und will dieser Beitrag nicht liefern. Aber er tritt ein in einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung und zielt darauf, durch die Beschreibung des Autors als ‚Figur‘ eine Annäherung zu formulieren. 278 Clemens Fuhrbach 9 Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin / New York 2004, S. 9. 10 Ebd. 11 Grundlegend dafür sind für Jannidis: kulturelles Wissen, ein mentales Modell der Textwelt, das sprachliche Codewissen, die Kommunikationssituation und die in ihr gültigen Regeln sowie das Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen - Jannidis: Figur und Person (Anm. 9), S. 7ff. und insbesondere auch S. 11. 12 Ebd., S. 237. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. - Dort: „Der narrative Leser ist der Zuhörer des Erzählers und akzeptiert die vom Erzähler entworfene Welt als wahr, soweit dieser nicht unzuverlässig ist. Der auktoriale Leser, gleichsam das Gegenstück des impliziten Autors, weiß um die Fiktionalität der Kommunikation.“ 16 Jannidis merkt an, dass diese Unterscheidung einerseits unterkomplex ist, andererseits gebe es eine Vielzahl von Einzelstudien zur Figur. - Ebd., S. 1f. II. Der Autor als ‚Figur‘ „Es gehört zu den Binsenweisheiten der Literaturwissenschaft“, 9 schreibt Fotis Jannidis in seiner Studie zu Figur und Person, „daß die Figur etwas kategorial anderes ist als eine Person in der lebensweltlichen Wahrnehmung. Gleichzeitig ist bekannt, daß für die Figurenkonstitution epochen- oder auch autorenspe‐ zifische […] Konzepte wichtig sind […].“ 10 Er plädiert deshalb nicht für ein codezentriertes, sondern ein inferenzbasiertes Modell der Erschließung. 11 Die „Instanz des realen Autors“ 12 wird „stärker integriert“. 13 Als ‚impliziter Autor‘ oder als ‚Autorintention‘ läßt sich eine Textebene mit dem Wissen über die Person des Autors in Beziehung setzen. Die Person ‚Autor‘ bildet gleichsam einen Brückenkopf in der zeitgenössischen Semantik; von hier aus werden Selektionen vorgenommen, finden Verschiebungen und Variationen statt. 14 Der „auktoriale Leser […] weiß um die Fiktionalität der Kommunikation“ und ist - in Abgrenzung zu Faktualität und Realität - zur kritischen Differenzermitt‐ lung fähig. 15 Jannidis entwickelt damit ein Modell zur narratologischen Texter‐ schließung der Figurenebene. Er nutzt dazu den Autor als einen Ausgangspunkt zur Erschließung der literarischen Figurenkonstruktion. Im Folgenden soll die Brücke in die andere Richtung beschritten werden. Die ‚Figur‘ dient dann der technisch-rhetorischen Autorkonstruktion. Dazu müssen wir noch einmal einen Schritt zurücktreten. Im literaturwissenschaftlichen Alltag bezeichnet man mit dem Begriff der ‚Figur‘ in der Regel entweder eine rhetorische Figur, also eine sprachliche Wen‐ dung, oder man bezieht sich auf die Figurenebene eines literarischen Textes. 16 279 Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ 17 Duden (online): „Figur“, URL: www.duden.de/ node/ 47233/ revision/ 47269 (zuletzt abge‐ rufen am 30. März 2020). 18 Langenscheidt, Lateinisch-Deutsch (online): „figura“, URL: https: / / de.langenscheidt.co m/ latein-deutsch/ figura (zuletzt abgerufen am 30. März 2020). 19 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (online), URL: http: / / w ww.woerterbuchnetz.de/ DWB? lemma=figur (zuletzt abgerufen am 30. März 2020). 20 Der Text ist nur an solchen Stellen gegendert, an denen die Ebene der Abstraktion verlassen wird. An allen anderen Stellen wird das generische Maskulinum verwendet. 21 Damit einher geht die kollektive Erschließung eines individuellen Subjekts. 22 Auf Gemeinsamkeiten mit Hannah Arendt und Jürgen Habermas sowie auf Unter‐ schiede der verschiedenen Positionen kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Zima grenzt seine Theorie von Habermas ab. - Vgl. Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 4), S. 36f. Wenn wir im Alltag das Wort ‚Figur‘ gebrauchen, können damit sehr unter‐ schiedliche Dinge bezeichnet werden. Von der körperlichen Gestalt angefangen, reicht die Reihe der unterschiedlichen Verwendungen bis hin zur geometrischen Figur. 17 Das Lateinische ‚figura‘ steht für die Gestalt, das Gebilde, die Idee oder auch für die Erscheinung, die Anspielung oder die (Rede-)Wendung. 18 Das Deutsche Wörterbuch unterscheidet vier dem sehr ähnliche Bedeutungsebenen: Erstens (1) bezeichnet das Wort ein individuelles Subjekt in seiner physischen Gestalt und in der sozialen Wahrnehmung. Zweitens (2) ist die Figur als Objekt die konkrete Repräsentation eines Subjekts oder einer Erscheinung. Drittens (3) kann das Wort eine abstrakte Ebene der Bedeutungs- oder Sinnkonstruktion bezeichnen. Schließlich wird viertens (4) die sprachliche Ebene aufgeführt. 19 Alle vier Ebenen ermöglichen es, den Begriff des ‚Autors‘ dem der ‚Figur‘ zuzuordnen. Zunächst ist der Autor als (1) physische Person und soziales Subjekt eine empirische Gestalt. Als Autorname, Peritext oder zum Beispiel als Marke ist ‚er‘ 20 bereits (2) eine objektivierte, partielle Repräsentation eines individuellen Selbst. 21 Dem schließt sich die (3) metatheoretische Verhandlung der Autor-Funktion als abstrahierender Diskurs wesentlich an. Schließlich sind (4) alle diese Ebenen durch die Sprache verbunden. Wenn im Folgenden vom Autor als ‚Figur‘ gesprochen wird, so erfolgt dies im Bewusstsein dieses Paradigmas und als dialogische Konstruktion. Alle vier Ebenen sind dabei grundsätzlich als gleichzeitig zu denken und als gleichberechtigt zu betrachten. III. Der Begriff der Polyphonie Die Konstruktion des Autors als ‚Figur‘ basiert im Ansatz auf einer dialogischen Subjekt-Theorie, wie sie unter anderem von Hannah Arendt oder Jürgen Habermas entwickelt worden ist. 22 Peter V. Zima hat in seiner Theorie des 280 Clemens Fuhrbach 23 Ebd., S. 31. 24 Vgl. Boris Previšić: Polyphonie und Stimmung: Musikalische Metaphern zur Aktuali‐ sierung der Literatur- und Kulturtheorie. In: Wolf Gerhard Schmidt (Hrsg.): Faszinosum ‚Klang‘. Anthropologie - Medialität - Kulturelle Praxis. Berlin / München / Boston 2014, S. 120-135. - Und: ders.: Autorität und Autor, Kanon und kontrapunktische Polyphonie in der Moderne. In: Colloquium Helveticum, 41 (2010), S. 187-202. 25 Vgl. dazu: Christa Baumberger: Resonanzraum Literatur. Polyphonie bei Friedrich Glauser. München 2006, S. 19ff. 26 Previšić: Polyphonie und Stimmung (Anm. 24), S. 123f. - Previšić bezieht sich auf: Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman [1934]. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von ders. und Sabine Reese. Frankfurt am Main 2015 (1979), S. 154-300, hier S. 166 u. 168. 27 Vgl. Rainer Grübel: Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin, in: ebd., S. 21-78. 28 Previšić: Polyphonie und Stimmung (Anm. 24), S. 129. 29 Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 4), S. 16. Subjekts gezeigt, wie man das sprachliche Individuum als „polyphones Subjekt“ 23 beschreiben kann. Dazu überträgt er den Begriff der ‚Polyphonie‘. Im Bereich der Musik bezeichnet dieser Terminus eine kontrapunktisch akzentuierte Mehr‐ stimmigkeit. 24 In der Übertragung auf den Bereich der Literatur hat Michail Bachtin gezeigt, dass die literarische Sprache im Roman ebenfalls ein Ort der Vielstimmigkeit ist. 25 Die Pluralität liegt allerdings nicht allein in dem Auftreten unterschiedlicher Figuren(stimmen) oder Erzählinstanzen begründet, sondern sie geht gerade darüber hinaus. Polyphonie bedeutet bei Bachtin mehr als „Redevielfalt“. Sie impliziert „das nicht direkte Sprechen“, die „Organisation“, ja genauer, die „Orchestrierung“ der Themen in verschiedenen „Sprachen“, in verschiedenen „Soziolekten“. 26 Die kleinste Einheit der sprachlichen Vielheit ist für Bachtin das dialogische Wort. 27 In diesem Sinne ist der Autor als ‚Figur‘ zunächst schlichtweg ein Ort der sprachlichen Vermittlung. Diese erfolgt auch durch die reale Autor-Person und durch das soziale Außen entlang von chronologisch fortlaufenden Kontexten des Sprechens. Als aktiver Diskurs ist die wörtliche Semantik eines heterogenen Autorbegriffs zunächst die Repräsentation dieser Interaktion. Boris Previšić hat für die literarische Polyphonie zwei Ebenen hervorgehoben, die auch für ein polyphones Autormodell relevant sind: Einerseits muss man Polyphonie über den (a) syntagmatischen Zusammenhang als Prozess begreifen. Andererseits muss man sie gleichzeitig als (b) konkrete Disposition auffassen. 28 Nun ist bereits der Begriff ‚Soziolekt‘ gefallen. Dieser umfasst in Zimas Definition - und in Anlehnung an Pierre Bourdieu - eine (1) lexikalische Ebene, eine (2) Ebene des Codes sowie die (3) Ebene diskursiver Strukturen. 29 Das individuelle Subjekt nutzt diese Ebenen gleichermaßen als Bedingung 281 Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ 30 Ebd., S. 17. - Hervorhebung im Original. 31 Ebd. 32 In der Perspektive Zimas ist ‚Identität‘ das Ergebnis aus der dialogischen Vermittlung individueller Subjektivität. Sie resultiert aus der sprachlichen Interaktion ursprünglich differenter Individuen. Im Sinne eines programmatischen Selbstbewusstseins bildet sie einen substantiellen Bestandteil des individuellen Subjekts. Essentielle Grundlage ist die soziale Interaktion: „[Man] könnte […] Subjektivität als Synthese von Individualität und Identität auffassen, weil erst derjenige, der eine psychische, soziale und sprachliche Identität erworben hat, als führendes, sprechendes und handelndes Subjekt erkannt wird. Der narrative Prozeß der Identitätsbildung hat also reflexiven Charakter […].“ - Ebd., S. 25. - Hervorhebung im Original. 33 Im Prinzip handelt es sich bei einem dialogischen Verfahren um einen Modus der subjektgebundenen Rekursion. 34 Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 4), S. 31. - Hervorhebung im Original. - Dort: „Das Subjekt der Dialogischen Theorie steht auf dem Standpunkt, daß es als theoretisches Subjekt nur überleben kann, wenn es sich immer wieder dem anderen, dem fremden Soziolekt stellt und sich von ihm in Frage stellen läßt. Dadurch definiert es sich selbst als dialogisches, als polyphones Subjekt. Weit davon entfernt, die Vielfalt auszuschließen, lebt es von ihr als Einheit des Vielen, als mehrstimmige Erzählung.“ 35 Ebd. der Selbstkonstitution und als Zugang zur eigenen Wirklichkeits- und Welt‐ konstruktion. Wer sich zwischen Systemtheorie (Luhmann) und Universal‐ pragmatik (Habermas) entscheidet, begründet damit nach Zima eine „andere Subjektivität“. 30 Man „entscheidet sich zugleich für eine bestimmte politische, ethische und wissenschaftliche Identität, die nicht ‚[die] eigene‘ ist“. 31 Aus der sprachpsychologischen Wirklichkeitsbewältigung geht aus diesem Prozess ein dialogisches Subjekt hervor, dem eine polyphone Identitätskonstruktion als individuelle Disposition des Selbst grundsätzlich möglich ist. 32 Der Autor als ‚Figur‘ bezeichnet dementsprechend einen sprachlichen Zu‐ stand. Dieser ist immer temporär gebunden und bedarf daher der progres‐ siven Ermittlung im Sinne einer sich erneuernden Wiederholung. Die dyna‐ mische Konstruktion ist als grundsätzlich unabgeschlossene Entwicklung zu betrachten. Das Verfahren betrifft gleichermaßen die (1) Ebene der natürlichen Person, die (2) Ebene der Repräsentation, die (3) Ebene der Abstraktion sowie die (4) Ebene der Sprache. 33 Seinen Anfang nimmt das Verfahren im Prozess der individuellen Selbst- und Weltkonstruktion. Den Ausgang einer jeden nächsten Beschreibung bildet ein dialogisches Subjekt als Ort der Figurenkonstruktion. Sie ist teilweiser Bestandteil der bewussten Selbstdurch Fremdvermittlung und als solche eine existentielle Differenzerfahrung. Im Zustand der Polyphonie bleibt die singuläre Identitätskonstruktion ambivalent und sozial gebunden. Das polyphone Subjekt ist „[w]eit davon entfernt, die Vielfalt auszuschließen“ 34 und „es lebt von ihr als Einheit des Vielen, als mehrstimmige Erzählung“. 35 282 Clemens Fuhrbach 36 Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): In Sachen Böll. Ansichten und Einsichten, 7. Auflage, basierend auf der erweiterten 6. Auflage von 1977. München 1980, zuerst: Köln / Berlin 1968. 37 Ebd., S. 286. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. dazu auch den Verlagstext (o. A. der: s Verfassers: in): „Bölls Literatur verweist in ihrer Sonderstellung über sich hinaus.“ - Ebd., S. 1. 44 Ebd., S. 286. - Hervorhebung C. F. 45 Ebd. Als Ergebnis vermittelter Sprache ist der Begriff der ‚Figur‘ somit polyphon angelegt. Im Folgenden wird in einigen Beispielen die Figurenkonstruktion des Autors als Fremdkonstitution der Selbstkonstitution gegenübergestellt. Offensichtlich zutage tritt dabei eine Differenzierung der ‚Figur‘ des Autors. IV. Beispiele der sprachlichen Differenzierung des Autors als ‚Figur‘ IV.1 ‚Heinrich Böll‘ aus Perspektive von ‚Zeitgenossen‘ Vor gut einem halben Jahrhundert schreibt der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, In Sachen Böll  36 sei „kein einheitliches Bild des Schriftstellers“ 37 zu erwarten. Ferner „[wäre] [e]in homogenes oder gar harmonisches Porträt […] mit Sicherheit ein falsches gewesen“. 38 Erklärtes Ziel des Herausgebers ist ein „kritisches Plädoyer für Heinrich Böll, der dem Amt des Schriftstellers in Deutschland eine neue Würde zu verleihen mochte“. 39 Ebenso ist es Ziel der von Reich-Ra‐ nicki versammelten Aufsätze, ein stellvertretendes „Bekenntnis zur Toleranz in Sachen Literatur“ 40 zu formulieren. Böll habe zwar „nichts Vollkommenes geschrieben“ 41 und „doch ist er in jedem seiner Werke vollkommen zu finden“. 42 Mit seiner wertenden Anmerkung zur Literatur des Kölner Schriftstellers ver‐ weist Reich-Ranicki einerseits auf die Feststellung eines qualitativen Defizits auf der literarischen Textebene, andererseits auf eine ambivalente Verquickung von Person, Autor und Autorschaft auf Ebene der Sprache. 43 Die Zusammenstellung verweist dementsprechend auf „verschiedene Möglichkeiten […] , ‚sein‘ Werk zu sehen und zu begreifen“. 44 Die dialogische Konzeption des Bandes wird in diesem Sinne durch „Divergenzen, Gegensätze und Widersprüche“ 45 der subjektiv geprägten Beiträge gezielt verstärkt. 283 Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ 46 Hermann Kesten: Eine epische Figur. In: ebd., S. 240-242. 47 Ebd., S. 240f. 48 Ebd., S. 240. 49 Ebd., S. 241. 50 Ebd., S. 242. 51 Ebd., S. 243. Dabei übersteigt ein persönlich argumentierender Beitrag wie Eine epische Figur  46 von Hermann Kesten sehr deutlich die analytische Perspektive in der Darstellung und einer rein literarischen Beobachtung: Heinrich Böll, ein scharfäugiger Zeitgenosse, ein deutscher Autor, ist mir zuweilen fremd, mit gewissen Thesen und Argumenten, mit seinen Konflikten und seinem Glauben, mit manchen Figuren und Fabeln, und doch gefiel mir der Autor Böll, schon auf der ersten Seite, die ich von ihm kurz nach dem Krieg las. Er fiel mir auf, wie wenige unter den neuen deutschen Kriegs- und Nachkriegserzählern. Mich zog seine naive Aufrichtigkeit an, diese Originalität eines leidensfähigen mitleidenden jungen Mannes, der von sich und den moralischen Enttäuschungen sowie der Fühllosigkeit seiner Zeitgenossen wie zu sich selber spricht, wenn er dem Leser Geschichten erzählt, die lauten, als hätte er sie eben von seinen Lesern erfahren. 47 Kesten beschreibt seine eigene dialogische Selbst-Ermittlung in Abgrenzung zu einer Figur des Anderen. Dieser ist ihm „zuweilen fremd“. 48 Er beobachtet ‚ihn‘ auf Textebene als dialogisches Subjekt, das „zu sich selber spricht“ 49 und dessen Sprachhandlung in Abhängigkeit der sozialen Welterfahrung steht. Er konstru‐ iert seinen Autor ‚Heinrich Böll‘ damit als polyphone Figur, deren Sprache sich in selbstbewusster Interaktion mit der sozialen Bezugswelt vermittelt. Kesten sieht Böll in „Opposition, zu sich und seiner Gesellschaft, an der er hängt, wie er auch Vertrauen zu sich hat“. 50 Aus dieser spezifischen Wahrnehmung erwächst die sprachliche Figur ‚Heinrich Böll‘, die Kesten in seiner Darstellung erfasst: Böll ist selber eine epische Figur, wie von ihm erdacht und beschrieben. Er trägt die Tracht seiner Figuren, erleidet ihre Konflikte und lebt ihr Schicksal. Er beschreibt seine Zeitgenossen in der Bundesrepublik Deutschland und hadert mit ihnen wie mit sich. […] Er spricht ihre Sprache in einem Maß, als schrieben seine Figuren für ihn ihre Geschichten. 51 Man muss vielleicht einschränkend festhalten, dass die Stimmen der Zeit‐ genossen anlässlich des fünfzigsten Geburtstags des Autors Heinrich Böll seinerzeit nicht mit literaturwissenschaftlichem Anspruch vom Herausgeber zusammengestellt wurden. Gleichwohl zeigt sich am Beispiel des Textes von Kesten und auch bei Reich-Ranicki eine allgemeine Tendenz der Figurenkon‐ 284 Clemens Fuhrbach 52 Vgl. Lamping: Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit (Anm. 3). 53 Ebd., S. 6. 54 Die Kritik gilt auch für diese Darstellung, da die Literatur hier letztlich im Hintergrund steht. 55 Lamping: Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit (Anm. 3), S. 8. 56 Ebd. - Hervorhebung C. F. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 9. 59 Ebd. - Hervorhebung im Original. struktion, die sich in vergleichbarer Form in Bölls literarischen Texten findet und die sich bis in die Form der wissenschaftlichen Darstellung innerhalb der Forschungsliteratur der jüngeren Gegenwart fortschreibt. In seiner Ermittlung von Heinrich Bölls Gegenwärtigkeit  52 stellt Dieter Lamping im Böll-Jahr 2017 fest: „Er war zweifellos eine Persönlichkeit. Sein Wort hatte Gewicht.“ 53 Dies bezog sich zu oft aber gar nicht auf die Literatur. 54 Er wurde von einem Teil der eigenen Zeitgenossen bereits zu Lebzeiten als „Erzähler Böll“ 55 und als Schriftsteller „zu einer letztlich provinziellen Figur erklärt“. 56 Mit „Bezeugungen des Respekts für den engagierten Böll […] entzog man ihm die literarische Autorität“ 57 und verkannte darin, dass „[s]eine öffentlichen Einlassungen […] ihre Beachtung wesentlich dem Umstand [verdankten], dass er ein höchst erfolgreicher Schrift‐ steller war, der sich als Bürger zu Wort meldete“. 58 Lamping betont ebenfalls die dialogische Qualität auf Ebene seiner Autor-Konstruktion: „Die Eigenart Bölls besteht gerade darin, dass er als Autor eine öffentliche Figur war: Bürger und Künstler zugleich“. 59 Indem er die Individualität des Subjekts in der existentiellen Gleichzeitigkeit und Gleichberechtigung differenter Bezugsebenen hervorhebt, kennzeichnet er den so beschriebenen ‚Heinrich Böll‘ implizit als polyphone Figur. IV.2 Heinrich Böll als Autor-‚Figur‘ in der Selbstkonstruktion Nun sind Aussagen wie die Kestens oder Lampings keine zum Gemeinplatz aufgestiegenen Idiosynkrasien, sondern Ergebnisse der sozialen Vermittlung. Böll selbst hat zu Lebzeiten seine eigene Figur öffentlich als eben solche wahr‐ genommen und über die Literatur hinaus auf die kollektive Herausbildung der eigenen öffentlichen ‚Identität‘ eingewirkt. Ihre Authentizität gewinnen seine Aussagen dabei gerade in der praktischen Infragestellung solch subjektiver Konstruktionen: 285 Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ 60 Heinrich Böll: Ein Deutscher trotz allem. Interview von Markus M. Ronner (1985). KA 26, S. 456-462, S. 457. 61 Peter Bruhn und Henry Glade: Heinrich Böll in der Sowjetunion (1952-1979). Einfüh‐ rung in die sowjetische Böll-Rezeption und Bibliographie der in der UdSSR in russischer Sprache erschienenen Schriften von und über Heinrich Böll. Berlin 1980. 62 Heinrich Böll: Geleitwort zu Peter Bruhn / Henry Glade. „Heinrich Böll in der Sowjet‐ union 1952-1979“ (1980). In: ebd. und in: KA 21, S. 371-372. Ich bin, bei mir und anderen, gegenüber den als autobiographisch erklärten Texten sehr mißtrauisch. Es wird immer verschwiegen und verstellt. Jeder macht aus sich selber eine Kunstfigur. 60 In dieser Formulierung wird - sehr ähnlich wie bei Kesten - die dialogische Vermittlung des Selbst gegenüber sich und der sozialen Umwelt herausgestellt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle zudem, dass Böll zwar vom literarischen Kon‐ text ausgeht, aber auf den Zusammenhang und ein darüber hinausreichendes, allgemeines Phänomen hinweist. Wie weitreichend die Herausbildung dieser vielschichtigen Figur ‚Heinrich Böll‘ ist, die aus dem sprachlich-ökonomischen Literaturbetrieb öffentlich entsteht und sich vom individuellen Subjekt entfernt, bemerkt Böll in kritischer Distanz zu sich selbst. In seinem Geleitwort zum Band Heinrich Böll in der Sowjetunion  61 stellt er fest: Ich habe das, was Henry Glade und Peter Bruhn erarbeitet haben, mit einer Art Spannung gelesen, die fast nichts mehr mit meiner Person zu tun hatte; der junge, der nicht mehr ganz so junge, der älter gewordene Autor, der da an seinem Schreibtisch, der über seiner Schreibmaschine gesessen hat, soll sich da zwischen Brest und Wladiwostok, zwischen Archangelsk und dem Kaspischen Meer noch als Person wiederfinden, als „Eroberer“ besonderer Art, dessen „Armee“ aus ein paar Bleistiften, einer Schreibmaschine, Papier, Farbbändern und ein bißchen Phantasie bestand? Ich müßte sein, was ich nicht bin: ein Übermensch, eine Art Napoleon, um mich als P e r s o n da in allen Bücherregalen, Kiosken, Buchhandlungen, Redaktionen - und in den Köpfen und Gehirnen, in denen da möglicherweise etwas an- oder ausgerichtet wurde - zu sehen; ich bin „nur“ ein Mensch, außerdem gehöre ich der merkwürdig-umstrittenen Kategorie „Deutscher“ an und in beiden Eigenschaften freue ich mich über diese „Eroberung“, deren Ausmaß Henry Glade und Peter Bruhn in diesem Buch abgesteckt haben. […] 62 Böll setzt sich in Bezug zur dargestellten Autor-‚Figur‘ und verweist zugleich darauf, dass diese seine eigene Person übersteigt. Einerseits ist er Urheber des sprachlichen Ausdrucks und der Literatur, die zur Grundlage der Darstellung der Rezeption seiner Werke in der Sowjetunion dient. Andererseits führt die Kon‐ frontation mit den sozialen Auswirkungen seines Schreibens zu einem Zustand 286 Clemens Fuhrbach 63 Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 4), S. 31. - Hervorhebung im Original, vgl. Anm. 34. des Kontrollverlustes. Er stellt sich in Opposition zu seiner Figur ‚Heinrich Böll‘, die einerseits auf den Ursprung der eigenen Autorschaft verweist, andererseits aber das Ergebnis der Verbreitung und Übersetzung von Literatur ist. Durch Rezeption und Kritik entwickelt sich so eine unabhängige Eigendynamik, die das persönliche Handeln des Autors als Person übersteigt. Auch er erklärt sich deshalb als dialogisches Subjekt und durch die sprachliche Begegnung mit dem unbekannten Anderen. Das Ergebnis dessen ist die eigene ‚Figur‘ des Autors, deren Charakter die „Einheit des Vielen, als mehrstimmige Erzählung“ 63 im Sinne der Theorie Peter V. Zimas ist. 287 Polyphone Identitätskonstruktion am Beispiel der Figur ‚Heinrich Böll‘ 1 Hermann Gätje / Sikander Singh: CFP: Identitätskonzepte in der Literatur, Saarbrücken. In: H-Germanistik vom 6. Februar 2019. URL: https: / / networks.h-net.org/ node/ 79435/ d iscussions/ 3674133/ cfp-internationale-konferenz-identitätskonzepte-der-literatur (zu‐ letzt abgerufen am 8. Juli 2021). 2 Vgl. grundsätzlich zu Wilhelm Genazinos Romanfiguren auch Nils Lehnert: Wilhelm Genazinos Romanfiguren. Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung. Berlin / Boston 2018. 3 Johann Blöckenwegner / Michaela Aiglesberger: Identität. In: Online Lexikon für Psycho‐ logie und Pädagogik. URL: https: / / psychologie.stangl.eu/ definition/ Identitaet.shtml (zuletzt abgerufen am 8. Juli 2021). 4 Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman. München 2005, S. 88. Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos Nils Lehnert, Kassel Da „der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent“ ist, sind neben den naheliegend(er)en Untersuchungen regionaler, nationaler, ethnischer Identitätskonzepte „auch psychologische, philosophische und kulturhistorische Ansätze [zu] diskutieren“. 1 Im vorliegenden Beitrag rekurriere ich vor diesem Hintergrund auf „bestimmte“ „Figuren(typen)“, welche „eine besondere Affi‐ nität zu Konzeptualisierungen von Identität aufweisen“: diejenigen Wilhelm Genazinos. 2 Dafür ist es erforderlich, den ambigen Begriff anzuspitzen und Identität in der psychologischen Verwendung „als ‚Selbst‘ erlebte innere Einheit einer Person“ 3 zu definieren (vgl. I.). Im Gegensatz zu eher systemisch oder diskursiv verfah‐ renden Analysen, soll hauptsächlich der (vereinzelte wie vergesellschaftete) einzelne Mensch im Zentrum stehen. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Genazinos äußerst men‐ schenähnlichen, realistisch gezeichneten und letztlich in hohem Maße mit Psychizität ausgestatteten Romanfiguren wird schnell sinnfällig, dass kein psychologisch Unbeleckter die mechanische Schreibmaschine bedient hat. Denn die Figuren weisen sich allenthalben direkt - „In einem meiner Nebenberufe bin ich auch Laienpsychologe“ 4 - oder indirekt als kenntnisreich aus, etwa 5 Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman. München 2001, S. 56. 6 Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman. München 2009, S. 153 f. 7 Andrea Bartl: „The kindness of strangers“. Das Motiv der Fremdheit in ausgewählten Romanen Wilhelm Genazinos. In: dies. / Friedhelm Marx (Hrsg.): Verstehensanfänge. Das literarische Werk Wilhelm Genazinos. Göttingen 2011, S. 69-84, hier S. 71 f. Abschaffel heißt die Hauptfigur in Wilhelm Genazinos Romanen: Abschaffel. Roman. Reinbek 1977; Die Vernichtung der Sorgen. Roman. Reinbek 1978 und Falsche Jahre. Roman. Reinbek 1979. Warlich ist die Hauptfigur in Genazino: Glück (Anm. 6); Rotmund in: Mittelmäßiges Heimweh. Roman. München 2007. 8 Genazino: Falsche Jahre (Anm. 7), S. 501. 9 Vgl. Wilhelm Genazino: Fremde Kämpfe. Roman. Reinbek 1989, S. 211. 10 Vgl. Genazino: Falsche Jahre (Anm. 7), S. 503f. 11 Vgl. Wilhelm Genazino: Die Ausschweifung. Roman. Reinbek 1981, S. 244. 12 Vgl. Genazino: Liebesblödigkeit (Anm. 4), S. 70. 13 Vgl. Genazino: Fremde Kämpfe (Anm. 9), S. 201-204. wenn sich der Protagonist aus dem Regenschirm-Roman selbstanalysiert: „Ein Psychiater wird von starken desintegrativen Ich-Störungen reden, von einer depressiven Irritation mit psychotischer Symptomatik, von einem wahnhaften paranoiden Verfolgungserleben.“ 5 Gerhard Warlich schließlich fährt weitere Geschütze auf, die seine (und metaleptisch gedacht: Genazinos) ‚Vorbildung‘ in Sachen Psychologie offensiv beglaubigen: Es ist gleichgültig, ob wir unser Problem eine unipolare Depression, eine mittel‐ schwere Melancholie, eine bipolare Störung, ein autistisches Syndrom, eine akute Angstneurose oder sonstwie nennen. Dr. Adrian nimmt Remergil, Serotonin, Norad‐ renalin und, wie ich, Cipralex. Er klagt über Hemmungen, Antriebsschwäche und Weinerlichkeit. 6 Bartl schlussfolgert demgemäß: In das Werk Genazinos sind sicherlich an mehreren Stellen psychologische Theorien eingeschrieben, was die detailliert geschilderten psychiatrischen und psychosomati‐ schen Therapien der Figuren Abschaffel und Warlich […] oder die spürbare Ausein‐ andersetzung mit Freud und der Methode der Psychoanalyse in manchen Essays andeuten. 7 Von Zwangshandlungen und Fixierungen im Roman Falsche Jahre  8 über man‐ gelnde Sozialkompetenzen, Panikanfälle, Verfolgungswahn in Fremde Kämpfe  9 und Klaustrophobie (wiederum) in Falsche Jahre  10 hin zu Depersonalisation und Depression (vgl. III.) in der Ausschweifung  11 sowie der Liebesblödigkeit  12 und bipolaren Persönlichkeitsstörungen inklusive manischer Phasen in Fremde Kämpfe  13 tummeln sich Beschwerden. 290 Nils Lehnert 14 Vgl. Franz Breuer (Hrsg.): Abseits? ! Marginale Personen - prekäre Identitäten. Münster 1999. 15 Vgl. Lehnert: Wilhelm Genazinos Romanfiguren (Anm. 2), S. 180-184. 16 Vgl. für einen interdisziplinären Überblick der Identitätsforschung Jörg Zirfas / Ben‐ jamin Jörissen: Phänomenologien der Identität. Human-, sozial- und kulturwissen‐ schaftliche Analysen. Wiesbaden 2007. 17 Vgl. Béatrice Katharina Meißner: Vulnerabilität. Verwundbare Figuren in der deutsch‐ sprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2019. In den Fokus rücken sollen hier die Themenkreise von prekärer Identitätskon‐ struktion, -aufrechterhaltung und -krise, 14 die der unlängst verstorbene Wilhelm Genazino so schmerzhaft deutlich wie kaum ein anderer Gegenwartsautor verhandelt hat: Sei es, dass er in seinen 21 Romanen die (Post-)Moderne als heillose Überforderung für das zerbröckelte, zerfaserte, multiple Figurenselbst herausstreicht, sei es in der psychologisch seismographischen Nachzeichnung von Dissoziationserscheinungen oder auch in Form mannigfacher Handlungs‐ strategien, um dem Kohärenzbestreben einer Ich-Identität nachzukommen (vgl. IV. & V.). Trotz oder gerade aufgrund einer gewissen Zeitlosigkeit seiner Romane 15 trifft er den Nagel damit immer noch auf den Kopf: Denn das (post-)moderne Subjekt hat noch längst nicht die drei großen ‚klassischen‘ Kränkungen über‐ wunden (vgl. II.): Kopernikus machte es avant la lettre transzendental obdachlos, Darwin zum Affenverwandten, Freud degradierte es zum bloßen Mitbewohner in einem psychodynamischen Gebäude, dessen Hausherr das Unterbewusste ist. Nach diesen drei Selbstverständisverletzungen ist Identität ein rares Gut, das nicht mehr als gegebenes, sondern als zu produzierendes zu verstehen ist. Im Folgenden werden - subjektphilosophisch, sozial- und persönlichkeits‐ psychologisch sowie soziologisch fundiert 16 - die Identitätsnarrative im Genazi‐ no’schen Romanuniversum schraffiert. Dabei fokussiert der Artikel in folgender Reihenfolge: 1. auf den schmerzhaften Spielraum, den jede/ r Einzelne allzumal in Zeiten des Selbstinszenierungszwangs aufgebürdet bekommt; 2. auf den Zerfall des multiplen postmodernen Selbst bei Genazino; 3. auf das ungebrochen vorhandene Kohärenzbestreben seiner vulnerablen Figuren. 17 4. Werden abschließend einige widerständige, aber auch problematische Strategien und Verhaltensweisen der Genazino-Figuren diskutiert, um unter diesen schwierigen Umständen Ich-Identität wahren bzw. her‐ stellen zu können. Zuvor aber, ganz bieder bei I. beginnend, ein begrifflicher Einstieg. 291 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 18 Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. 4., durchges. u. erw. Aufl. Tübingen 2017, S. 3. 19 Vgl. grundlegend dazu auch Wilhelm Genazino: Melancholische Renitenz. Bamberger Vorlesungen I. In: ders.: Idyllen in der Halbnatur. München 2009/ 2012, S. 31-44. 20 Klappentext von Heinz L. Arnold (Hrsg.): Wilhelm Genazino. München 2004. 21 Bartl / Marx: Wiederholte „Verstehensanfänge“. In: dies.: Verstehensanfänge (Anm. 7), S. 7-20, hier S. 12 f. 22 Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 18), S. 3. I. Individuum? Subjekt? Selbst? Es gibt wenige schwieriger zu fassende Konzepte als dasjenige mit ‚Selbst‘, ‚Individuum‘, ‚Ich‘, ‚Subjekt‘, ‚Persönlichkeit‘ oder anderen Signifikanten be‐ zeichnete. Es ist wesentlich entweder nur intradisziplinär in Abhängigkeit vom Fach - Philosophie (besonders: Subjektphilosophie, Existenzialismus), Psychologie (Psychoanalyse aber auch Persönlichkeitspsychologie), Soziologie (Goffman, Elias, Weber) etc. - näherungsweise eingrenzbar oder aber - so Peter V. Zima - „nur im interdisziplinären Kontext, in dem Philosophie, Soziologie, Semiotik, Psychologie und Literaturwissenschaft zusammenwirken, konkret zu erfassen“. 18 Diese Problematik soll nicht leichtfertig übergangen werden, doch wird hier vorzugsweise vom ‚Selbst‘ als der ‚internsten‘ Möglichkeit zu sprechen sein, wohingegen ‚Individuum‘ und ‚Subjekt‘ in dieser Reihenfolge abstraktere Stufen bezeichnen. 19 Dass es in der Genazino-Forschung keine diesbezügliche Einheitlichkeit gibt, sollte nicht weiter verwundern. So spricht der Paratext auf der Buchrückseite des TEXT+KRITIK-Bands zu Genazino vom ‚Individuum‘ - „Wilhelm Genazinos Romane […] zeichnen sich durch minutiöse Analysen des […] vereinsamten, neurotischen Individuums […] aus“ 20 -, wohingegen etwa Bartl und Marx den Terminus bzw. das Konzept ‚Subjekt‘ favorisieren: Genazinos Texte variieren immer wieder die Frage nach dem Subjekt und skizzieren dessen „Zerbröckelung“, „Zerfaserung oder Ausfransung“. Hier verbinden sich phi‐ losophische Reflexionen über das Subjekt mit dem Interesse am Randständigen, Abseitigen und mit psychologischen Fragen: Genazinos Figuren sind Grenzgänger; sie leben beständig im Interim von Normalität und Abweichung und suchen und finden damit ihre spezifische Lebensform erneut in der „Unentschiedenheit“. 21 Diese Pole berufen sich in gewisser Weise auf die im Begriff der Subjektivität enthaltene Dopplung von Bedeutung: „Subjekt ist, etymologisch betrachtet, ein zweideutiges Wort, das sowohl Zugrundeliegendes (hypokeímenon, subiectum) als auch Unterworfenes (subiectus = untergeben) bedeutet“. 22 292 Nils Lehnert 23 Ebd., S. 4f. 24 Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1916. II. Zwei Modernen, drei Kränkungen, vier Selbstbehauptungsräume Das Individuum als individuelles Subjekt, das eigene Meinungen äußert, Verantwor‐ tung trägt, Dissens anmeldet und autonom handelt, hat es nicht immer gegeben. In archaischen Gesellschaften ging und geht der Einzelne im kollektiv praktizierten Mythos, in der von Durkheim beschriebenen mechanischen Solidarität auf, die von der Ähnlichkeit der Stammesmitglieder lebt. Auch im Feudalismus denkt, spricht und handelt er im kollektiven Kontext der religiösen Gemeinschaft, der Gilde, der Sippe. 23 Der Schwund an wichtigen Fixpunkten des gesellschaftlichen Lebens markiert eine erste Trendwende hin zur Subjektivität, die zugleich als erste Krise des Selbst verstanden werden kann: Wurde ehedem der Sohn eines Handwerkers idealiter Handwerker, war für andere aufgrund äußerlicher Erkennungsmerk‐ male (Habitus, Kleidung, Diktion etc.) leicht und zweifelsfrei als solcher zu identifizieren und konnte seine Stellung in der Gesellschaft mit (wenigen) Rechten und (vielen) Pflichten klar angeben, macht - in diesem Beispiel - erst der Wegfall der ständischen Ordnung das permanente Sich-selbst-Behaupten und mithin Selbst-darstellen in seiner Gänze nötig: sobald das Individuum überhaupt sichtbar aus der Gruppe heraustritt. Das Fin de Siècle kennt dann nicht nur Individualitätsexzesse, sondern bereits eine (zweite) Krise des Selbst, die etwa Lukács 1916 (1914/ 15 verfasst) in seiner Theorie des Romans  24 verarbeitet hat; die Kunst der Moderne hält Einzug und weicht die Vorstellung einer kohärenten Identität in Folge zunehmender Psy‐ chologisierung und welterschütternder Forschungsergebnisse (Einstein, Planck uvw.) weiter auf. Es gibt objektiv keine ‚Wahrheit‘ und keine Einheit mehr, das autonome Subjekt verliert als Konzept an Glaubwürdigkeit. Die Literatur reagiert ab 1900 mit interner Fokalisierung, Ich-Perspektive, stream of cons‐ ciousness ( Joyce, Proust, Schnitzler) - der allwissende Erzähler stirbt dieserhalb so langsam aus: Wenn das Subjekt die Welt nicht mehr fassen kann, misstraut man auch einer diese Fähigkeit suggerierenden Erzählinstanz. Aber nicht nur die ‚klassische Moderne‘, auch die ‚zweite‘ (Beck) bzw. Postmoderne stellt die Vorstellung vom Selbst als unverbrüchliche Einheit „radikal in Frage“. Laut Zima „zeigten uns“ „die Junghegelianer[] und Nietzsche, […] Surrealisten und Modernisten, schließlich […] nachmoderne[] Denker[] wie Foucault, Deleuze, Derrida und Vattimo“ 293 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 25 Zima: Theorie des Subjekts (Anm. 18), S. 3f. 26 Anja Hirsch / Genazino: Interview am 9. Februar 1998. In: Anja Hirsch: „Schwebeglück der Literatur“. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Heidelberg 2006, S. 280f., hier S. 280. 27 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Berlin 1986. 28 Vgl. Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1992. 29 Vgl. Herbert Willems / Martin Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einfüh‐ rendes Handbuch. Opladen 1998. 30 Freilich ist zu ergänzen, dass andere Philosophen - etwa Plessner - ganz andere Subjekt‐ entwürfe favorisieren. 31 Ernst-Dieter Lantermann: Selbstbehauptung in unübersichtlichen Zeiten. Unveröffent‐ lichtes, unpaginiertes Skript zur Vorlesung am 7. Dezember 2009 im Rahmen der Vorlesung „Psychologie der Selbstinszenierung“ im WiSe 2009/ 2010 an der Universität Kassel. die Kehrseite der idealistischen Medaille und faßten das subiectum nicht als Zugrun‐ deliegendes (fundamentum), sondern als Unterworfenes oder Zerfallendes auf: als Produkt von Machtkonstellationen oder Ideologien, als Spielball von unbewußten, libidinösen Impulsen, als Opfer von Diskontinuität und Kontingenz. 25 Es scheint, als seien Genazinos Figuren weder über die erste (‚transzenden‐ tale Obdachlosigkeit‘ etc.) noch die zweite (Multioptionalität etc.) moderne Selbst-Krise hinweggekommen und Genazino zeigt sich unter dem Eindruck der Nachkriegsgeneration noch mit Blick auf die Milleniumswende davon überzeugt, dass „das Subjekt am Ende des Jahrhunderts einfach ein durch und durch neurotisches Subjekt“ sei. 26 Verschiedene Versuche liegen vor, postmodernen westeuropäischen Gesell‐ schaften mit einem Schlagwort beizukommen, um diesen unterschiedlichen Bedrohungen des Selbst gerecht zu werden: Risikogesellschaft (Beck 1986), 27 Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992), 28 Inszenierungsgesellschaft (Willems / Jurga 1998). 29 Alle 30 teilen sich - bei unterschiedlicher Akzentsetzung, unterschied‐ lichen Graden an Opti-/ Pessimismus, unterschiedlich ausgeprägten Schuldzu‐ weisungen und Handlungsanregungen etc. - die Beobachtung, dass mit Indivi‐ dualitätszwang, Überkomplexität, Globalisierung etc. eine stabile Identität der Individuen einer schweren Prüfung unterzogen werde. Lantermann formuliert diesbezüglich folgende Frage: „Wie gelingt es Menschen in einer keinerlei Gewissheiten mehr liefernden modernen Gesellschaft, ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten, die Kontinuität ihres Selbstkonzeptes, ihres Bildes von sich selbst, zu wahren und gegen alle vorgeblichen Zwänge zur ‚Selbstauflösung‘ zu behaupten? “ 31 Diese einer Auflösung des Selbst möglicherweise entgegenste‐ henden Dimensionen lauten: Kommerzialisierung des Alltags, Ästhetisierung des Alltags, Vergegenwärtigung der Lebensführung, und - gewissermaßen als 294 Nils Lehnert 32 Vgl. ebd. Vgl. zur literarischen Bearbeitung insbesondere Vincent Kaufmann / Ulrich Schmid / Dieter Thomä (Hrsg.): Das öffentliche Ich. Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext. Bielefeld 2014; sowie Ulrich Fülleborn / Manfred Engel (Hrsg.): Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne - Ein internationales Symposion. München 1988. 33 Lantermann: Selbstbehauptung (Anm. 31). 34 Ebd. 35 Vgl. Nils Lehnert: „Bitte nicht so laut, bitte nicht so schnell, bitte nicht zuviel“. Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino. In: Yvonne Nilges (Hrsg.): Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur. Wissensordnungen im Wandel. Göttingen 2021, S. 97-123. 36 Meißner: Vulnerabilität (Anm. 17), S. 13. Quintessenz -: Zwang bzw. Drang zur (Selbst-)Inszenierung. 32 Als Resümee hält Lantermann fest: Im Trainingscamp unserer radikalisierten Moderne lernen wir, dass die geschickte Selbstdarstellung wichtiger für den Erfolg und für das schöne Leben sind als alle an‐ deren Fähigkeiten und Kompetenzen. Zur Selbstinszenierung als Mittel und Medium der Selbstbehauptung gibt es keine Alternative. 33 Fraglich ist nur, in welchem Maß das Individuum dazu bereit ist, und zu welchem Grad es dem Individuum tatsächlich gelingt, „sein Selbstbild und seine Identität im Fluss der Ereignisse aus[zu]bilde[n] und [zu] behaupte[n]“. 34 Genazinos Figuren erwecken den Eindruck, prima vista das ‚Trainingscamp‘ zu negieren, scheinen - zum Teil ‚frühvergreist‘ - aus der Zeit gefallen 35 und ob der Anerkenntnis des prekären Gefühls, in der (Post-)Moderne verloren zu sein, resigniert. „Neue Freiheiten bergen neue Zwänge und Anforderungen. Aber auch eine vorgeblich sehr große Zahl an Handlungsoptionen […] schafft Verunsicherungen und stellt als ungünstiger Umwelteinfluss einen entschei‐ denden Risikofaktor in der Vulnerabilitätsanalyse dar.“ 36 Exemplarisch lassen sich Manifestationen dessen bei Genazino im mehr oder weniger metaphori‐ schen Umkreis des ‚Auseinanderfallens‘ (~ Dissoziation) ansiedeln. III. „Zerbröckelung“, „Zerfaserung“, „Ausfransung“: Depersonalisation und Dissoziation bei Genazino Laut DSM-5 (2013), einem der beiden Standardwerke, wenn es um die Dia‐ gnose bzw. Klassifikation von psychischen Störungen geht, charakterisieren eine Depersonalisation „Erfahrungen von […] Loslösung, oder wie die eines 295 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 37 [Depersonalisation]. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. URL: https: / / de.wikipedia.o rg/ wiki/ Depersonalisation#Diagnostische_Kriterien_nach_DSM-5_.282013.29 (zuletzt abgerufen am 8. Juli 2021). 38 Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Roman. München 2016, S. 39. 39 [Depersonalisation] (Anm. 37). 40 [Dissoziation]. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. URL: https: / / de.wikipedia.org/ w iki/ Dissoziation_(Psychologie) (zuletzt abgerufen am 8. Juli 2021). 41 Genazino: Außer uns (Anm. 38), S. 139. 42 [Dissoziation] (Anm. 40). außenstehenden Beobachters der eigenen Gedanken, Gefühle, des Körpers“, 37 was bei Genazino etwa im Roman Außer uns spricht niemand über uns nahezu idealtypisch in die Worte des Ich-Erzählers gegossen lesbar ist: „[D]ann stand ich plötzlich wieder neben mir und schaute auf die rätselvollen Splitter einer sich nicht zusammenfügenden Existenz.“ 38 Diese „rätselvollen Splitter“ sind nicht diejenigen eines ‚nur‘ ‚multiplen Ichs‘, die sich aus Rollenbestandteilen o. Ä. zusammensetzen ließen, sondern solche, die sich eben nicht mehr - zumindest subjektiv - als Bestandteile eines Individuums erfahren lassen. Mehr noch: Sie sind „rätselvoll[]“, also nach ICD-10, dem zweiten maßgeblichen Klassifikationssystem, wahrgenommen als „fremd, nicht ihr eigen, unangenehm verloren“, 39 und nähern sich damit dem Befund der Autoskopie, der „Sicht (ohne Spiegel oder Kamera) auf den eigenen Körper wie von außen“ an. 40 In Außer uns spricht niemand über uns heißt es etwa: Ich würde in der Stadt umhergehen und ganz langsam, verteilt über die Zeit, Stück für Stück, Teile meines Lebens und meiner Erinnerung verlieren, bis sie in dem großen Container des Vergessens verschwunden waren und von niemandem mehr gesucht wurden, auch von mir nicht. Wenn ich im ICE unterwegs war, würde ich mir einen Fensterplatz suchen und die Erinnerungsreste auf vorübereilende Felder […] verteilen. 41 Dieser Selbstzerfall, namentlich in Bezug auf die Erinnerungen, spielt hier virtuos mit der als desiderabel vorgestellten Dissoziativen Amnesie: Bei einer solchen „fehlen der betreffenden Person ganz oder teilweise Erinnerungen an ihre Vergangenheit, v. a. an belastende oder traumatische Ereignisse.“ 42 An das Vergessen anknüpfend liefert der Protagonist aus Ein Regenschirm für diesen Tag den Beweis dafür, dass eine gestörte Ich-Identität bei Genazino allgegenwärtig ist: Nachmittags findet eine Art Zerbröckelung meiner Person statt, gegen die ich wehrlos bin, eine Zerfaserung oder Ausfransung. Ich vergesse dann, daß es im Leben 296 Nils Lehnert 43 Genazino: Regenschirm (Anm. 5), S. 39. 44 Genazino: Glück (Anm. 6), S. 85. 45 Vgl. Lehnert: Wilhelm Genazinos Romanfiguren (Anm. 2), S. 38-71. 46 Bartl / Marx: Wiederholte „Verstehensanfänge“ (Anm. 7), S. 12. 47 Jost Schneider: Einführung in die Roman-Analyse. 3., aktual. Aufl. Darmstadt 2010, S. 57. 48 Genazino: Glück (Anm. 6), S. 85. Hauptsachen und Nebensachen gibt, weil irgendeine Nebensache in mich eindringt und mich nicht mehr freigibt. 43 Hierbei an ‚Entbettung‘ (Giddens) oder ‚Entfremdung‘ (nicht nur Marx) auf‐ grund äußerlicher Einflüsse zu denken, die in Verkleidung „irgendeine[r] Nebensache in“ die Figurenpsyche „eindringt“, ist nicht nur möglich, sondern sicherlich sogar plausibel. Einerseits immer noch bildlich, andererseits konkreter im Sinne eines visuell-sinnlich wahrnehmbaren Zerfalls, lesen sich Passagen, in denen die Hauptfiguren ihrer physischen Bestandteile verlustig gehen: „Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich sehe sie zurückbleiben, während ich gehe.“ 44 Obwohl klarer metaphorisch als in Mittelmäßiges Heimweh kon‐ zipiert, wo der Ohrverlust eben nicht entscheidbar (un-)zuverlässig erzählt ist, 45 wirkt die Vorstellung doch sehr plastisch-realistisch. Für letztgenannten Roman konstatieren Bartl und Marx bezogen auf eine ähnliche Szene: In „der seltsamen Krankheit des Körperteilverlustes […] manifestiert sich zudem die allgegenwärtige Auflösung des Ichs.“ 46 Auch hinsichtlich der Erzähltechnik sind dissoziative Strukturen untersuchenswert, die sich bspw. in häufigeren Switches vom ‚Ich‘zum ‚Er‘-Erzählen niederschlagen: Hier liegt laut Schneider der Fall vor, dass […] Ich-/ Er-Wechsel […] in ihrer Wirkung verschärft werden, wenn ihre Moti‐ vation rätselhaft bleibt, weil sich auf der Erzählerund/ oder Figurenebene keine klar konturierte Bewusstseinsinstanz identifizieren lässt, der die alternative Perspektive auf die mal in der ersten und mal in der dritten Person erscheinende Figur zuzuordnen wäre. Ein solcher ‚verschärfter‘ Ich-/ Er-Wechsel ist […] [ein] gestalterisches Äquiva‐ lent eines modernen bewusstseinsphilosophischen, identitätspsychologischen oder rollensoziologischen Problembewusstseins […]. 47 Das Abhandenkommen bzw. Abhandengekommensein der Ich-Identität er‐ scheint sowohl auf Histoirewie Discours-Ebene wie eine Signatur der Gena‐ zino-Protagonisten: „In einem Meer ichfremder Augenblicke drohe ich unter‐ zugehen. Ich schäme mich und warte darauf, daß ich sofort sterbe.“ 48 Genazino 297 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 49 Heribert Tommek / Christian Steltz: Vom Ich erzählen. Identitätsnarrative in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Vom Ich erzählen. Identi‐ tätsnarrative in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2016, S. 7-25, hier S. 7. Vgl. auch Christopher Busch / Till Dembeck / Maren Jäger (Hrsg.): Ichtexte. Beiträge zur Philologie des Individuellen. Paderborn 2019. 50 Aus der hier gewählten Theorieperspektive. Andere nehmen eine stärkere Wahlfreiheit an. 51 Vincent Kaufmann / Ulrich Schmid / Dieter Thomä: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Das öffentliche Ich (Anm. 32), S. 7-9, hier S. 7. 52 Vgl. Lothar Laux / Karl-Heinz Renner: Theater als Modell für die Persönlichkeitspsy‐ chologie. In: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissen‐ schaften. Tübingen 2004, S. 83-110. 53 Vgl. sowohl zum Streben danach, kohärente Selbstentwürfe als Erzählung zu konzi‐ pieren, als auch dazu, dabei widersprüchliche Informationen einzuflechten: Claudia Holler / Martin Klepper (Hrsg.): Rethinking Narrative Identity. Persona and perspective. Amsterdam / Philadelphia/ PA 2013. schreibt seine Figuren damit in eine moderne Tradition ein. Diese ist laut Tommek und Steltz von einem Dissoziationsprozess geprägt. Dieser greift die Identität, die autonome Selbstbegründung des Subjekts, im Innersten an, setzt sie heteronormen Bestim‐ mungen aus und erklärt schließlich das Ich zur ‚unrettbaren‘ Kategorie, wie es Ernst Mach […] ausgeführt und Hermann Bahr […] auf die griffige Formel gebracht hat. 49 Obschon zweifelsfrei festgehalten werden kann, dass das (post-)moderne Selbst - sowohl in der Theorie 50 als auch bezogen auf Genazinos Figuren-Basistypus - ein zerstückeltes, fragmentiertes, ja geradezu ‚unrettbares‘ ist, mithin „das Ich ziemlich viel von seiner dank Descartes, Kant und Fichte erworbenen Selbständigkeit [hat] einbüßen müssen“, 51 gibt es nun einmal einen immer stärkeren Druck und Zwang, dem Selbst nach außen eine intakte Hülle zu geben und diese möglichst selbstwertdienlich zu vermarkten (s. o.). In der Inszenierungsgesellschaft, in der wir leben, ist es einerseits bekannt, dass wir verschiedene Rollen und Facetten haben, diese sind aber andererseits auch erst performativ zwingend durch die Simulation eines größeren Rahmens einer Selbstinszenierung nach außen wieder kohärent zu machen. 52 Genazinos Figurenromane loten immer wieder diese Ich-Identität aus, sehnen sie, obwohl final verloren, herbei. 53 IV. Kohärenz(bestreben) Wieder habe ich ein bißchen Angst vor Morgenthalers Party. Ich werde viel zuviel reden und auch noch voller Eifer. Schon nach einer Stunde werde ich mir total 298 Nils Lehnert 54 Genazino: Liebesblödigkeit (Anm. 4), S. 130 f. 55 Alois Hahn / Herbert Willems: Zivilisation, Modernität, Theatralität: Identität und Identitätsdarstellung. In: Willems / Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft (Anm. 29), S. 193-213, hier S. 202. 56 Ebd., S. 209; vgl. Laux / Renner: Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie (Anm. 52). 57 Wilhelm Genazino: Ein Auftrittstreppchen fürs Ich. In: ders.: Idyllen in der Halbnatur. München 2009/ 2012, S. 185-189, hier S. 189. Vgl. dazu auch Matthias Hoffmann: Gesellschaftskritik in Wilhelm Genazinos Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten. Frankfurt am Main 2015, S. 105-145. Hoffmann verdanke ich auch den Fund dieses Zitats. unauthentisch vorkommen. Ich lese und höre immer wieder, daß die Menschen heute ein multiples Ich haben und daß es völlig normal ist, wenn wir heute ein anderes Ich haben als gestern und vorgestern. Insofern müßte ich mich über meine Nichtauthentizität nicht beunruhigen. Das Problem ist nur, daß ich die vielen Ichs gar nicht haben möchte, im Gegenteil. Ich beharre darauf, daß ich heute genau derjenige bin, der ich schon gestern war und der ich übermorgen wieder sein werde. Ich strenge mich manchmal sogar an, mir selbst möglichst geschlossen und widerspruchsfrei zu erscheinen. 54 Die hier nicht näher ausgeführten, aber offenbar unternommenen ‚Anstren‐ gungen‘, um als zeitlich stabiles Ich aufzutreten, lassen sich mit Hahn und Willems auf den Punkt bringen: Immer wieder beanspruchen wir im Alltag, nicht nur für einen Moment das zu sein, als was wir implizit erscheinen. Wenn auch mit knappen Zeichen, durch einige handlungsbegleitende Worte, Gesten oder Arrangements verweist der Handelnde absichtlich auf situationsübergreifende Selbstbezüge. Er macht ein Ich geltend, das über das Hier und Jetzt, sei es als dessen Fortsetzung, sei es als dessen Gegensatz, Bestand hat. 55 Darin lässt sich mit Goffman „[i]m Gegenteil zu zahlreichen Literaten, So‐ ziologen und Sozialphilosophen“ „weniger ein Identitäts- oder Sinnproblem als eine Kombination von Freiheitsgewinnen mit den Notwendigkeiten eines strategisch-dramaturgischen Informationsmanagements“ 56 lesen - aber weder Genazino noch seine Figuren überzeugt das: „Wir müssen mit einem Ich zu‐ rechtkommen, das uns dreist unsere Bruchbudenhaftigkeit zeigt - die wir dann auch noch als Vorteil erleben sollen.“ 57 Die Absage an Goffman, Lantermann und Zima könnte deutlicher nicht ausfallen. Aber es hilft nichts, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen: „Zeitlich gesehen, ist das Ich keineswegs starr. Schon körperlich sind Menschen einem Wandel unterworfen. Forscher betrachten es daher als Meisterleistung des 299 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 58 Claudia Wüstenhagen: Ich-Bewusstsein. Die Ich-Perspektive. In: ZEIT Wissen vom 10. April 2012. URL: www.zeit.de/ zeit-wissen/ 2012/ 03/ Das-Ich-Serie-Teil-2/ komplettansic ht (zuletzt abgerufen am 8. Juli 2021). 59 Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal. Roman. München 2014, S. 115. 60 Hahn / Willems: Zivilisation, Modernität, Theatralität (Anm. 55), S. 208; Herv. N. L. 61 Genazino: Falsche Jahre (Anm. 7), S. 461; vgl. ebd., S. 478. Gehirns, einem das Gefühl zu vermitteln, stets dasselbe Ich zu sein.“ 58 Aber wie gehen die Figuren Genazinos mit diesem Zwiespalt um? Offensichtlich lässt die eigene Arbeit am Selbstentwurf, lässt die „Meisterleistung des Gehirns“ es zu, die Differenzen zu glätten, um handlungsfähig zu bleiben: Am stärksten beeindruckte mich das Wort Romanhaftigkeit. Es bedeutete nicht, dass das Leben wie ein Roman niedergeschrieben werden musste. Die Betonung lag auf der inneren Gestalt, die ein Mensch von sich selber erfand, indem die Zustände der Romanhaftigkeit wie ein schöpferischer Anhauch durch ihn hindurchzogen. 59 Dazu noch einmal Hahn und Willems: Biographie wird ein zunehmend von Individuum zu Individuum verschiedener und in seiner Folge schwer zu prognostizierender einzigartiger Wechsel von Teilidentitäten. Früher, insbesondere im Entwicklungsroman wurde die Identität des Helden […] als eine in sich verständliche Entwicklung erfahren. Der alte Mensch ist zwar anders als der junge. Aber zwischen diesen Polen lassen sich sinnvolle Beziehungslinien zeichnen. Erst sehr spät, eigentlich erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, scheint hier ein fundamentaler Wandel einzutreten. Die Phasenfolge, in die sich die Biographie zerlegt, erscheint als zufällige Sukzession, der auch ex post kein Sinn abzugewinnen ist. Die diachrone Einheit der Persönlichkeit löst sich auf. Auch die literarische Darstellung spiegelt diesen Tatbestand. 60 Genazino demgegenüber liebäugelt just mit dem Gedanken, ein Mensch könne „die dem Handelnden vielleicht zunächst inkompatiblen Fragmente seines Daseins zum Roman“ „fügen“ - dadurch dass er „romanhaft“ eine „innere[] Gestalt“ erfindet. Selbsterzählungen übernehmen damit eine kohärenzstiftende Funktion, die allerdings auch bis ins Romanhafte im Sinne des nicht unbedingt ‚Wahren‘ gehen kann: „Er hatte überhaupt nur mit erfundenen Geschichten eine Person sein können.“ 61 Hirsch bekräftigt diese Sicht: In diesem Sinn hat Sprache bei Genazino Bestand: Als Selbsterzählung eines un‐ überschaubar komplexen, auseinander gefallenen Ichs, an dessen Fassbarkeit auch Genazino längst nicht mehr glaubt - wohl aber treibt er die Annäherung an diesen ‚Nullpunkt Ich‘ voran und hält das Gespräch über sich selbst, über das Selbst seiner 300 Nils Lehnert 62 Hirsch: „Schwebeglück der Literatur“ (Anm. 26), S. 257. 63 Gerhard Stemmler / Dirk Hagemann / Manfred Amelang / Dieter Bartussek: Differen‐ tielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. 7., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart 2011, S. 427. 64 Ebd., S. 427f. 65 Genazino: Glück (Anm. 6), S. 152 f. Figuren, in Gang. Beständig prüft er, was denn Wert hat für die Identität - ein viel zu großes Wort schon. Die Erinnerung? Wahrheit? Die verlässliche Wiederholung des Alltäglichen - wenn schon nichts anderes das Ich im Innersten zusammenhält? 62 Es gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage, wer man ist, beziehungsweise darauf, „was denn Wert hat für die Identität“, was „das Ich im Innersten zusammenhält“: Die Psychologie antwortet darauf in der ihr eigentümlichen Pragmatik: „Für den Aufbau und die Entwicklung des Selbstkonzepts stehen nach Filipp (1979) fünf Quellen selbstbezogenen Wissens zur Verfügung (s. auch Markus & Cross, 1990).“ 63 Salopp die wichtigsten zusammengefasst kann man sein eigenes Verhalten beobachten („Ich komme zu Verabredungen immer pünktlich, also bin ich zuverlässig“), wird von anderen explizit charakterisiert („Mein[e] Freunde sagen immer wieder, dass ich geizig sei; also bin ich wohl ein sparsamer Mensch“), leitet aus Interaktionen ab („Meine Kommilitonen fragen mich immer wieder um Rat bei Herzensangelegenheiten, also bin ich wohl ein einfühlsamer Gesprächspartner“). Herauszustreichen ist für Genazinos Romanfiguren der Vergleich mit an‐ deren Personen im Rahmen einer „komparativen Prädikatenzuweisung (‚Im Vergleich mit meinen Geschwistern habe ich mehr Freunde, also bin ich wohl beliebter‘)“. 64 Mannigfaltig sind nämlich die Anknüpfungspunkte zu Genazinos Romanfiguren, wenn etwa der (soziale) Vergleich als Quelle der ‚Selbst-Be‐ stimmung‘ im Netz der verfügbaren Referenzsubjekte wirksam wird: „Rastlos beobachte ich, was andere Menschen um mich herum tun und was ich nicht tue. Es beruhigt mich, Details zu entdecken, die zwischen mir und den anderen liegen. In der Wahrnehmung dieser Differenz lebt mein Ich.“ 65 Damit ist aber zugleich die Tür ins Problematische aufgestoßen. Als ein probates Mittel - abschließend werden auch weniger problematische diskutiert -, um „in einer keinerlei Gewissheiten mehr liefernden modernen Gesellschaft […] die Kontinuität ihres Selbstkonzeptes zu wahren und gegen die ‚Selbst‐ auflösung‘ zu behaupten“, hat sich für Genazinos Figuren die komparative Prädikatenzuweisung erwiesen: In der Abgrenzung zum ‚anderen‘ wird das fragmentierte Selbst zur stimmigen Identität geschweißt, dies aber häufig auf Kosten eines fragwürdigen Fremderlebens von Ethnizität, sexueller Orientie‐ rung etc. erkauft. 301 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 66 Astrid Schütz: Assertive, Offensive, Protective, and Defensive Styles of Self-Presenta‐ tion: A Taxonomy. In: The Journal of Psychology 132 (1998), S. 611-628, hier S. 615. 67 Genazino: Falsche Jahre (Anm. 7), S. 425. 68 Genazino: Sorgen (Anm. 7), S. 282. 69 Genazino: Regenschirm (Anm. 5), S. 69. 70 Genazino: Außer uns (Anm. 38), S. 38. 71 Ebd., S. 125. 72 Vgl. Genazino: Fremde Kämpfe (Anm. 9), S. 24. 73 Vgl. Genazino: Falsche Jahre (Anm. 7), S. 550 u. Fremde Kämpfe (Anm. 9), S. 93. 74 Genazino: Liebesblödigkeit (Anm. 4), S. 12. V. (Problematische) selbstbehauptende Verhaltensstrategien Im Handlungsrepertoire der Figuren findet sich nämlich auch der Hang zu Hohn, Hochmut, Spott und Häme, um selbst positiver dastehen zu können. As observers usually judge by comparison, one means of achieving a more positive evaluation is to make others with whom one is compared look less positive (Heider, 1958). Wills (1981) has termed such behavior ‚downward comparison‘ [~ abwärts gerichteter sozialer Vergleich; N.L.]. 66 Mit der Grenzziehung wird anderes, werden andere in eine Out-Group ab‐ geschoben, mit der Genazinos Figuren nichts mehr zu tun haben (wollen/ müssen): „Aber die anderen, die Gastarbeiter, die Arbeitslosen und Umsiedler, die Türken und die Pakistani, gingen ins Woolworth.“ 67 Mitunter vollzieht sich im Lektüreakt selbst ein grenzwertiges Fremderleben, wenn der Rezipient von „diese[n] Südländer[n]“, 68 einer „bärenartig tumb vorgetragene[n] Zufrieden‐ heit“ eines Menschen mit Down-Syndrom, 69 einer „Art Clownsnummer“ einer Frau im Rollstuhl, 70 klischeebehafteter asiatischer „Klingel-Klangel-Musik“, 71 Kugelschreiber-klauenden Ausländerkindern 72 oder immer wieder auch das ‚N‘-Wort 73 lesen muss. Zu religiöser oder sexueller Orientierung äußern sich die Figuren ebenfalls abfällig: „Tatsächlich schaue ich mir den Film über Mischehen an, obwohl mich das Problem sowenig interessiert wie die Eifersucht schwuler Männer.“ 74 Bis zur Pöbellaune, bis zu Wut, Zorn und Hass können sich die Figuren versteigen, um in Gewaltfantasien und rassistisch, misogyn oder homophob zu nennenden Entgleisungen zu gipfeln - die Kehrseite der Medaille allerdings ist Einheit in der Differenz. Wilhelm Genazinos Antihelden haben Ecken und Kanten, strotzen vor (psychischen) Makeln, Marotten und Merkwürdigkeiten. Um Diskrepanzen zwischen Selbst- und Idealbild, aber auch (gemutmaßte) Inkongruenzen von Selbst- und Fremdbild zu minimieren, oder schlicht, um ihre Ruhe zu haben, 302 Nils Lehnert 75 Genazino: Abschaffel (Anm. 7), S. 39. 76 Genazino: Liebesblödigkeit (Anm. 4), S. 158. 77 Ebd., S. 22. 78 Genazino: Regenschirm (Anm. 5), S. 123. kultivieren Genazinos Figuren etwa - seit Laslinstraße - zudem die mehr oder minder ‚kleine Lüge‘: „Als Kind hatte Abschaffel überhaupt nur durch Lügen weiterkommen können. Es war nichts zu kriegen, noch nicht einmal bloße Ruhe, wenn er nicht etwas vorzulügen in der Lage war.“ 75 Dass die Figuren dabei nicht nur gesellschaftlich akzeptierte Schmiermittel in Form geduldeten Verhaltens an den Tag legen, sondern auch in deviante und delinquente Fahrwasser geraten, ist mit dem hier eingenommen Blick immer noch im Dienste der Selbstsicherung zu werten. ‚Borderline‘-ähnlich findet der namenlose Ich-Erzähler aus der Liebes‐ blödigkeit zu sich selbst: „In angegriffenen Situationen hilft mir das Mitnehmen von kleinen oder nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner Überforderung auszuhalten“, 76 gibt der Protagonist unumwunden zu. Aber Genazinos Figuren zeichnen sich auch durch unverwechselbare und weniger ‚bedenkliche‘ Details aus, die im Dienste der Identitätsbildung stehen. Immer wieder finden bspw. Gegenstände und Kleidung als Selbst-Klammer Erwähnung: „Die Hose beginnt in diesen Augenblicken, mir meine eigen‐ artig zusammengewürfelte/ zusammengehauene/ zusammengeklumpte Lebens‐ geschichte zu erzählen.“ 77 Nur ein Gegenstand, der die nötige ‚Trägheit‘, damit aber auch die Konstanz hat, ein Leben ‚miterlebt‘ zu haben, kann alle wandel‐ baren Stufen eines Subjekts (von außen) überblicken. Auch alle mit Flucht, Versteck(en) und Verschwinden in Beziehung stehenden Verhaltensstrategien lassen sich lesen als das Selbst sichernde Maßnahmen, gibt es doch keine Figur Genazinos, die nicht aus dem Fokus der Fremdbeobachtung herauszutreten bestrebt ist. Es sind dies wichtige Faktoren in einer Gleichung, an deren Ende ein Minimum an Aufmerksamkeit stehen soll. Gesteigert finden sich Auflösung und Unsichtbarkeit als postulierte Wunschzustände, die Ausdruck des protektiven ‚Nicht-geschaut-werden-Wollens‘ sind. Das Selbst kann nicht evaluiert oder beschädigt werden. „Dahinter steht vermutlich der mich bis heute erstaunende Mechanismus, daß sich neue Identität dann bildet, wenn einem jemand zu nahe tritt“ 78 - was es aus Sicht der Genazino-Protagonisten tunlichst zu vermeiden gilt oder wie oben skizziert über abwärtsgerichtete soziale Vergleiche und Ausschlusskriterien vonstattengeht. Im Gegensatz zu den problematischen selbstbehauptenden Verhaltensstra‐ tegien begegnen bei Genazino auch solche von hoher Subtilität, die den Sym‐ pathiewert heben. Etwa wenn sich die Figuren an der Konversationskultur des achtzehnten Jahrhunderts orientieren und - wie seinerzeit per Konversa‐ 303 Lost in (post-)modernism: Prekäre Identität(en) im Romanwerk Wilhelm Genazinos 79 Wilhelm Genazino: Die Liebe zur Einfalt. Roman. Reinbek 1990, S. 111. tionslexika für Salongespräche - für erwartbare Kommunikationssituationen rüsten: „Isolde durfte auf keinen Fall bemerken, daß ich zum Sprechen kleine Spickzettel benötigte. Denn ich wollte direkt und spontan und vor allem unerschöpflich sein“, 79 sagt ‚William‘ Genazino in der Liebe zur Einfalt. Ein Anachronismus im an Anachronismen reichen Werk, das neben dem Genuss feinster Komik auch tiefe Einblicke in ein gebeuteltes, vulnerables Individuum mit veritabler Identitätsproblematik erlaubt, welches auf die überlebensgroßen Anforderungen einer unerbittlichen Postmoderne mit eindruckssteuernden Verhaltensstrategien antworten muss, um nicht völlig verloren zu gehen. 304 Nils Lehnert 1 Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise. 17. Aufl., München 2012, S. 17. 2 Irmgard Honnef-Becker: Empathie und Reflexion: Überlegungen zu einer interkultu‐ rellen Literaturdidaktik. In: dies. (Hrsg.): Dialoge zwischen den Kulturen. Interkulturelle Literatur und ihre Didaktik. Baltmannsweiler 2007, S. 201-236, hier S. 205. 3 Peter Conzen: Die bedrängte Seele. Identitätsprobleme in Zeiten der Verunsicherung. Stuttgart 2017, S. 11. 4 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Micheal Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000, S. 62. „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten Eva Wiegmann, Düsseldorf Der Populärphilosoph Richard David Precht betitelt einen seiner Streifzüge durch die Philosophiegeschichte Wer bin ich und wenn ja, wie viele? . Diese Frage, schreibt er, hänge „wie ein Leitspruch über der modernen Philosophie und Hirnforschung im Zeitalter fundamentaler Zweifel am ‚Ich‘ und an der Kontinuität des Erlebens“. 1 Die existentielle Frage „Wer bin ich? “ sowie die Ausweichbewegung in „die Fremde“ als einem „Raum der Identitätssuche“ sind häufig aufzufindende Motive in der Literaturgeschichte. 2 Und schon im Kontext des Umbruchs zur Moderne wird der Ich-Zerfall vermehrt zum Thema. In Mi‐ grationsgeschichten der Gegenwart gewinnt die Identitätsfrage aber eine neue Dimension, in der die Frage nach dem Ich eng verklammert ist mit kultureller Identität. Die „Krise des postmodernen Selbst“ 3 findet hier gewissermaßen ihre interkulturelle Zuspitzung, „in der kulturelle Entfremdung und die Ambivalenz psychischer Identifikation sich einander annähern“. 4 I. Das fremde Ich im Spiegel. Psychologische Identitätsbildungsprozesse im Kontext von Migrationsbewegungen Das psychische Konzept der Ich-Identität ermöglicht die Integration hetero‐ gener Erfahrungsgehalte und Empfindungen in ein kohärentes Selbstbild. 5 Heiner Keupp: Identität. In: Gerd Wenninger (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Hei‐ delberg 2000. https: / / www.spektrum.de/ lexikon/ psychologie/ identitaet/ 6968 (zuletzt abgerufen am 16. März 2020). 6 Vgl. Jacques Lacan: L’aggressivité en psychanalyse (1948). In : ders. : Écrits : Paris 1966, S. 101-124. 7 Zum Ansatz einer „narrativen Identität“ vgl. Kenneth J. Gergen / Mary M. Gergen: Narrative and the self as relationship. In: Advances in experimental social psychology 21 (1988), S. 17-56; Paul Ricœur: Narrative identity. Philosophy Today 35 (1991), S. 73-81; Norbert Meuter: (1995). Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricœur. Stuttgart 1995; Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler 2000; Jürgen Straub: Das erzählte Selbst: Konturen einer interdisziplinären Theorie narrativer Identität. Ausgewählte Schriften (3 Bände). Gießen 2019. 8 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. In: ders.: Schriften I. Hrsg. von Norbert Haas. Frankfurt a. M. 1975, S. 61-70, hier S. 67. 9 Conzen: Die bedrängte Seele (Anm. 3), S. 24. 10 Vgl. Lacan: Das Spiegelstadium (Anm. 8), S. 66. Vgl. auch Heiner Keupp [u. a.]: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek 1999, S. 28. 11 Lacan: Das Spiegelstadium (Anm. 8), S. 66. Das Identität stiftende Imago vom Ich, das „[trotz äußerer Wandlungen] eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit in der Wahr‐ nehmung der eigenen Person“ 5 erlaubt, konstituiert sich gleichsam in dem selbstobjektivierenden Spiegelbild, in dem das Ich - im Sinne Jaques Lacans, der hier Rimbaud zitiert - als „ein Anderer“ erscheint. Dieses Ich im Spiegel ist zum einen die Repräsentation des Selbst, zum anderen zeigt es ein Idealbild des Ich, dem das Selbst sich anzunähern versucht. 6 Diese idealisierte Imagination des Ich ist allerdings weniger eine visuelle als eine narrative Konstruktion. 7 Das Bild vom Ich wird „entscheidend als Geschichte projiziert“, 8 die allerdings nicht nur von der singulären Perspektive eines Ich-Erzählers bestimmt ist. „Menschliche Identitätsbildung“ ist vielmehr „ein grundlegend dialogisches Geschehen, ein ständiger Austausch- und Konstruktionsprozess an der Schnittstelle zwischen innerpsychischem Erleben und äußerer sozialer Wirklichkeit“. 9 Das generierte Selbstbild stellt dabei „eine Beziehung […] zwischen dem Organismus und seiner Realität“ her „- oder, wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt“. 10 Insofern manifestiert sich im identitätsbildenden „Spiegel‐ stadium“ eine „räumliche[ ] Befangenheit“. 11 Berücksichtigt man die Dialogizität und Raumgebundenheit von individuellen Identitätskonstruktionen kann eine befriedigende Antwort auf die Frage „Wer bin ich? “ nicht auf solipsistische Selbstvergewisserung hinauslaufen. Sie schließt immer auch die Verortung des 306 Eva Wiegmann 12 Homi K. Bhabha hat versucht dieses Problem mit seiner Konzeption des ‚dritten Raumes‘ zu lösen, der eine Verortung des Selbst im „Zwischenraum“ erlaubt (Bhabha: Verortung der Kultur [Anm. 4], S. 10). 13 Benjamin Marius: Ohne Rückkehr. Vorwort. In: Ian Chambers: Migration - Kultur - Identität. Deutsche Übersetzung von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl. Mit einem Vorwort von Benjamin Marius. Tübingen 1996, S. IX-XII, hier S. IX. 14 Ian Chambers: Migration - Kultur - Identität. Deutsche Übersetzung von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl. Mit einem Vorwort von Benjamin Marius. Tübingen 1996, S. 13. 15 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, S. 45. 16 Ebd., S. 46. 17 Bhabha: Verortung der Kultur (Anm. 4), S. 61. 18 Chambers: Migration (Anm. 14), S. 3. Ich in der Welt mit ein. Mit der „De-Plazierung“ beziehungsweise Entortung der Person im Kontext von Migrationsbewegungen wird diese jedoch zum Problem. 12 In der „Migration“ verliert „[d]ie Welt im Kopf “, wie Benjamin Marius schreibt, „ihre[] festen Halt- und Angelpunkte: kein Ursprung - kein Zentrum - kein Ziel.“ 13 Grundlegende Pfeiler des Ich-Narrativs kommen ins Wanken und der Ich-Erzähler wird zum unzuverlässigen Erzähler, der Diskrepanzen und Widersprüche nicht auflösen kann. In Migrationsgeschichten ist „der Status des Erzählens selbst, […] von Zweifel und Entortung gekennzeichnet.“ 14 „Identität“ ist nach Andreas Reckwitz „als eine spezifische Form des Selbst‐ verstehens, der Selbstinterpretation zu begreifen“, 15 die an kulturell präfigurierte Deutungsmuster gebunden ist. Im Kontext sich teilweise überschneidenden, teilweise widersprechenden kulturellen Deutungswissens wird eine kohärente „Selbsthermeneutik“, 16 die das Selbst als konstantes Ich verstehen kann, er‐ schwert. Vor dem Hintergrund divergierender Deutungsfolien zerfällt das Ich in unterschiedliche Facetten. Zu dem ursprünglichen Spiegel, vor dem sich - im Lacanschen Sinne - das Ich als einheitliches erfahren kann, gesellt sich mindestens ein weiterer. Identitätsbildung vollzieht sich insofern nicht mehr dialogisch, sondern polylogisch. In einem solchen Spannungsfeld unter‐ schiedlicher Spiegelbilder des Selbst erscheint das Ich jedoch unweigerlich als Vexierbild. Vor dem Hintergrund divergierender Wissensordnungen wird „die soziale und psychische Repräsentation des menschlichen Subjekts“ gestört. Das Spiegelbild „ersteht […] nicht als Behauptung des Wissens […], sondern“, wie Homi Bhabha schreibt, „als rätselhafte Fragestellung.“ 17 Denn die Entortung des Subjekts und die Pluralisierung der sozialen Räume erlauben keine einheitliche Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich? ‘. Identität im Kontext von Migrationsbe‐ wegungen „nimmt die Form einer rastlosen Hinterfragung an, die ihren eigenen Bezugsrahmen auflöst, weil der Ausgangspunkt auf dem Weg verlorengeht.“ 18 307 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten 19 Mario Erdheim: Migration und Psyche. Aufbrüche und Erschütterungen. In: Psychoso‐ zial 93 (2003), S. 81-87, hier S. 82. 20 Conzen: Die bedrängte Seele (Anm. 3), S. 117. 21 Heiner Keupp: Diskursarena Identität. Lernprozesse in der Identitätsforschung. In: ders. / Renate Höfer (Hrsg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M. 1997, S. 11-39, hier S. 11. Vgl. auch Heiner Keupp: Ermutigung zum aufrechten Gang. Tübingen 1997. 22 Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. 7. Aufl. München 2018, S. 258. 23 Vgl. ebd., S. 109. Das Ich diffundiert gewissermaßen in der Migrationsbewegung. Das Selbst kann nicht mehr eindeutig interpretiert werden und das Identität stiftende Ich-Narrativ wird unglaubwürdig. Es muss im Spannungsfeld der Kulturen neu erzählt werden. II. Das Motiv der Ich-Spaltung in Migrationsgeschichten der Gegenwart Ein Grundthema des Migrationsdiskurses ist „das Gefühl, in zwei Welten zu leben“, das im Kontext des kulturwissenschaftlichen Transkulturalitätsdis‐ kurses gerne mit einem euphemistisch akzentuierten Begriff von Hybridität belegt wird. Aus psychologischer Perspektive zeigt sich indes, dass dieses Gefühl des Dazwischen bei Migranten nicht selten zu einem „innere[n] Riss“ 19 führen kann, zu einer „offenen oder unterschwellig empfundenen Gespaltenheit der Identität.“ 20 Die migrationsbedingte Identitätsverwirrung geht dabei deutlich über die von Heiner Keupp beschriebene postmoderne „Patchwork-Identität“ 21 hinaus, da vor der Folie divergierender Deutungsmuster die Teil-Selbste kaum mehr als kohärent erlebt werden können. In diesem Sinne heißt es in Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf (2010): „Es sei wohl das Schlimmste, weder das eine noch das andere, noch etwas drittes zu sein.“ 22 Dieser Roman verdeutlicht das Moment der Ich-Spaltung in einer erzählerischen Verdopplung, die die Innendurch eine Außenperspek‐ tive ergänzt. An zentralen Stellen des Romans kommt es zu einer narrativen Selbstobjektivierung der aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz immigrierten Ich-Erzählerin Ildiko. Sie spricht dann von sich zugleich in der ersten und der dritten grammatischen Person Singular. Dabei tritt jeweils eine andere Perspektive auf die Situation und vor allem auf das Selbst und seine handlungsleitenden Emotionen zu Tage: „ich werde das tun, um das Mondial aus einer anderen Perspektive zu sehen, ein amüsanter Gedanke, ein erschreckender Gedanke, […] ich, [….] ärgere mich, über sie, die ich bin.“ 23 Die hinzutretende Perspektive der dritten Person wird partiell auch durch 308 Eva Wiegmann 24 Ebd., S. 215f. 25 Bhabha: Verortung der Kultur (Anm. 4), S. 59. 26 Konrad Köstlin: Kulturen im Prozeß der Migration und die Kultur der Migration. In: Carmine Chiellino (Hrsg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 365-386, hier S. 370f. 27 Abonji: Tauben fliegen auf (Anm. 22), S. 19. 28 Ebd., S. 6. 29 Ebd., S. 19. 30 Conzen: Die bedrängte Seele (Anm. 3), S. 117. Großschreibung oder Kursivierung hervorgehoben, wobei jedoch - parallel zur polylogischen Ich-Konstruktion - keine einheitliche Konzeption erkennbar ist. Im Rückblick auf die Ausreise in die Schweiz umgreift die initiale Verdopplung der Perspektive in der narrativen Aufspaltung in erste und dritte Person Plural auch die Schwester Nomi: Wir haben uns ins Auto gesetzt, Sie sassen in unserer Mitte, haben Ihre Hände in den Schoss gelegt, […]. Am Busbahnhof hat Nándor uns die Fahrscheine gekauft, er hat dem Busfahrer beim Verladen unserer Gepäckstücke geholfen und Ihnen beim Einsteigen in den Bus, Nándor, der uns schmatzende Küsse gegeben hat, uns mit seiner lauten Stimme gesagt hat, wir sollten bald wieder kommen, und als der Bus losfuhr, haben wir ihm gewinkt, und dann haben Sie eine Packung aus Ihrer Handtasche gezogen, und wir haben an den Salzstangen geknabbert, wie junge Mäuse, haben Sie gesagt und Sie haben nochmals nachgeschaut, ob Sie die Papiere dabei haben, […]. 24 Dieses Gefühl der „Spaltung“ wird ergänzt durch das Moment der „De-Plazie‐ rung“, 25 indem eine „territoriale Bindung“ von Kultur virulent wird, die „als Fremdbild und als Selbstbild […] mit bestimmten Regionen assoziiert“ 26 wird. Das Heimatgefühl verbindet sich bei Ildiko nicht mit einer abstrakten nationalen Konstruktion, sondern mit der sinnlich erfahrbaren „Atmosphäre“ ihrer „Kind‐ heit“: 27 mit den Bäumen beziehungsweise der „Luft zwischen den Bäumen, die man genau sehen kann“, 28 dem „weiche[n] Singsang“ der Großmutter, dem „nächtliche[n] Gequake der Frösche“, dem „aufgeregte[n] Gegacker eines Huhnes, bevor es geschlachtet wird, d[en] Nachtviolen und Aprikosenrosen“, der „unerbittliche[n] Sommersonne und dazu de[m] Geruch nach gedünsteten Zwiebeln“. 29 Der Verlust der Heimat, als eines sinnlich erfahrbaren Ortes, entspricht aus psychoanalytischer Sicht dem Verlust eines mütterlich-bergenden Objekts. Heimat als „Mutter-Repräsentanz, verbindet sich“ - wie Peter Conzen schreibt - „mit frühen Eindrücken der Kinderzeit, Bildern, Klängen, Gerüchen, die lebenslang an Gefühle urtümlichen Vertrauens rühren.“ 30 Insbesondere wenn die Emigration nicht selbstgewählt ist, verursacht der Verlust der Heimat „eine 309 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten 31 Ebd. 32 Abonji: Tauben fliegen auf (Anm. 22), S. 13. 33 „Denn das Bild als Bezugspunkt der Identifikation bezeichnet den Ort der Ambivalenz. Seine Repräsentation ist immer räumlich gespalten - es macht etwas präsent, das doch absent - und zeitlich verschoben - ist“, so Bhabha (Bhabha: Verortung der Kultur [Anm. 4], S. 75). 34 Meral Kureyshi: Elefanten im Garten. Berlin 2017, u. a. S. 140. 35 Ebd., S. 38f. 36 Ebd., S. 102. 37 Ebd., S. 98. 38 Ebd., S. 96. 39 Ebd., S. 131. unterschwellige Traurigkeit, ein Verlustgefühl“, das die Identität „belastet“ und das umso mehr, „wenn sich aufgrund traumatischer Flucht das innere Objekt Heimat angesichts Verfolgung, Vergewaltigung und Genozid in ein alptraumhaftes Phantom verwandet hat“. 31 Aber auch unabhängig von politi‐ schen Veränderungen und Kriegsfolgen bleibt die Zeit in der alten Heimat nicht stehen. Sie verändert sich und entspricht zunehmend nicht mehr dem frühkindlichen Introjekt. Im Falle Ildikos löst das eine existentielle Angst aus, die sich am „Erkennen“ von „immergleichen Gegenständen“ 32 zu beruhigen sucht. Der Lauf der Zeit verfremdet die Heimat, die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zunehmend entrückt wird. Dadurch löst sie sich als Kohärenz stiftende Identifikationsmöglichkeit zunehmend auf. 33 Meral Kureyshis Roman Elefanten im Garten (2015) macht das zur De-Plazie‐ rung hinzutretende Verblassen der Erinnerungen zum zentralen Thema. Das Schwinden identitätsstiftender Gedächtnisinhalte verdichtet sich hier zu dem refrainartig wiederkehrenden Satz „Es war einmal, es war keinmal“, 34 mit dem der Roman auch schließt. Die Erinnerung an die Welt des Herkommens wird im Romanverlauf zunehmend zu einer unauflöslichen Mischung von Dichtung und Wahrheit, in der die innere Repräsentation des Vergangenen und der Welt des Herkommens zunehmend von Imaginationen bestimmt wird. Sein Symbol findet das imaginative Ersetzen schwindender Erinnerung in dem zunehmend verfallenden Haus der Großeltern in Prizren: „Fatma sagt, das alte Haus müsste natürlich renoviert werden, alles würde langsam kaputt gehen, da niemand mehr da sei, der das machen könnte.“ 35 In der Imagination der Ich-Erzählerin wird aus der profanen Wirklichkeit eine phantastische Welt des Herkommens mit „Elefanten im Garten“. 36 Die verzweifelten Versuche, das wirkliche Ich im „klaren Spiegel“ 37 zu erkennen, scheinen „vergeblich“: 38 „Der ganze Saal ist leer, mit Spiegeln ausgestattet. In den Spiegeln sehe ich hundert Frauen in einem schwarzen Kleid mit Sonnenbrille auf der Nase.“ 39 Während der Vater noch 310 Eva Wiegmann 40 Ebd., S. 135. 41 Ebd., S. 140. 42 Silke Schwaiger: Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf: Märchenhafte und fantas‐ tische Elemente als literarische Stilmittel in Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf. In: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi - Studien zur deutschen Sprache und Literatur 30 (2013), S. 147-163, hier S. 148. 43 Julia Rabinowich: Spaltkopf. 2. Aufl. Wien 2009, S. 8. 44 Ebd., S. 39. unentwegt versucht, die uneinheitliche Lebensgeschichte mit der Videokamera zu dokumentieren und in ein Bild zu integrieren, gibt die Ich-Erzählerin letztlich jeden Anspruch auf realistische Erinnerung auf: „Ich erfand Geschichten für mein erwachsenes Ich. Geschichten, die ich mir ausgedacht hatte, als wären sie wahr. […] Wenn ich aufgeschrieben habe, was wirklich geschehen war, habe ich die Seiten herausgerissen und in den Müll geworfen.“ 40 Es ist die Freiheit eines poetischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit, die den „schweren Körper plötzlich leicht“ macht „wie ein Wort.“ 41 Diese Leichtigkeit wird trotz aller Bemühungen jedoch immer wieder durch aus den Abgründen des Unbewussten auftauchende diffuse Erinnerung an scheinbar traumatische Erlebnisse durchbrochen. In diesem Zusammenhang liest sich der märchenhaft scheinende Refrain „Es war einmal, es war keinmal“ dann wie ein Bannspruch gegen die Geister einer Vergangenheit, die ebenso ambivalent und in sich gebrochen scheint wie die von Migration geprägte Erfahrungswelt. Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf (2008) trägt das gespaltene Ich schon im Titel. Die Autorin, die wie die Protagonistin Mischka in den 1970er Jahren mit ihrer Familie von St. Petersburg nach Wien migrierte, war „lange Zeit im Rahmen von Psychotherapie- und Psychiatriesitzungen als Dolmetscherin für Flüchtlinge tätig.“ 42 Die in diesem Zusammenhang gewonnenen Einsichten sind dabei unzweifelhaft in die Romangestaltung eingegangen, die in besondere Weise die langwierigen psychischen Folgewirkungen von De-Plazierung und Entortung reflektiert. Die zu Beginn des Romans formulierte „Lektion 1“ lautet „Wer jetzt verrückt wird, wird es lange bleiben.“ 43 Und an anderer Stelle heißt es: „Die Emigration ist ein langwieriger Prozess, der widersprüchlich, nämlich abrupt, beginnt, wie der Ausbruch einer Krankheit“. 44 Damit wird die Entwurzelung des Ich, seine Trennung vom Ort des Herkommens in unmittelbaren Zusammenhang mit seelischer Erkrankung gestellt. In diesem Sinne ist der Handlungsverlauf der hier erzählten Migrationsgeschichte von der Pathogenese der Protagonistin Mischka durchzogen. Dabei spiegelt sich die Zerrissenheit des Ich in einer fragmentarischen Erzählweise der Ich-Erzählerin, in narrativen und formalen Brüchen, im Wechsel der Erzählperspektive und des Stils. Der Ton wechselt 311 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten 45 Hinzu treten jedoch Aspekte adoleszenter Identitätsverwirrung und eine in der Fami‐ liengeschichte verdrängte jüdische Identitätsproblematik, auf die ich hier wegen ihrer eigenen Komplexität jedoch nicht näher eingehen kann. 46 Ebd., S. 173. 47 Ebd., S. 7. 48 Ebd. 49 Lacan: Das Spiegelstadium (Anm. 8), S. 66. 50 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 9. zwischen ironisch distanzierter Sachlichkeit, märchenhaftem Erzählstil und kursiv gesetzter gefühlsbetont innerer Zwiespältigkeit. Ausgelöst wird diese sich im Erzählstil niederschlagende krisenhafte Ich-Ver‐ wirrung unmittelbar durch die Emigration. 45 Die Aussiedlung aus der UdSSR, die Mischkas Eltern ihr bis zur Ankunft des Fliegers in Wien verheimlichen, wird hier als radikale Entwurzelung erlebt, die einen „Riss quer mittendurch“ 46 erzeugt. Dabei verhindert der irrtümliche Glaube, man würde lediglich in den Urlaub nach Litauen fahren, konstant jede Möglichkeit des Ankommens in der neuen Heimat. „Ich mache also eine Reise. Ich bin eigentlich nie angekommen, […]. Die Reise nimmt kein Ende und der Urlaub ist lang. Ich werde mich weigern die Reisespesen zu begleichen.“ 47 Die unvermittelte De-Plazierung des Ich, der Verlust der märchenhaft geschil‐ derten Kinderwelt in St. Petersburg, das Mischka bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr betreten kann, wird dabei auf körperlich-mentaler Ebene als eine Art Amputation erlebt: „Abgebissen fühle ich mich […], denn das Land, aus dem ich kam, hängt nicht an mir und ich nicht an ihm. Keine Fasern verbinden mich mehr damit.“ 48 Dieser körperlich erlebte Ich-Verlust in der En‐ tortung wird zunächst überkompensiert in einer Fettsucht, die dem Ich sichtbare Substanz verleihen soll, es dabei aber bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hinzu kommt eine „heteromorphe Identifikation“ 49 durch übersteigerte Mimikry: Ich bin bereit, ein besseres Deutsch zu sprechen als meine Klassenkollegen. Ich bin bereit, freiwillig in den katholischen Religionsunterricht zu gehen, während die türkischen Kinder früher heimgehen können. Ich bin bereit, Gebete, deren Worte mir anfangs nicht klar sind, nachzuäffen. Später werden es andere Dogmen sein. […] Das Anrüchige einer kleinen Immigrantin ist nicht mal mit Chanel abzuwaschen. Ein Verlust ist sofort - instant - wieder gut zu machen. Diese Leere darf nicht einen wahrnehmbaren Moment lang aufklaffen. Ich kaufe ein, als mein Vater stirbt. 50 Die Überanpassung an Sprache, Normen und Werte im Immigrationsland hat jedoch keinen identitätsstiftenden Effekt. Der Tod des Vaters entlarvt die Strategie der Mimikry als oberflächlich tarnende „Maske“, hinter der sich - 312 Eva Wiegmann 51 Bhabha: Verortung der Kultur (Anm. 4), S. 130. 52 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 9. 53 Vgl. ebd., S. 125. 54 Ebd., S. 167. 55 Lacan: Das Spiegelstadium (Anm. 8), S. 64. wie Bhabha schreibt - „keine Präsenz oder Identität“ verbirgt. 51 Stattdessen bewirkt sie eine weitere Selbstentfremdung. Mit dem Verlust des Vaters als symbolischem Verbindungsglied zur märchenhaften Kinderwelt im russischen St. Petersburg, tritt die hinter der Maske der Überanpassung verborgene Iden‐ titätsverwirrung als offene Wunde zu Tage: die Protagonistin „mutier[t]“, wie es heißt, „kurzfristig zu einer Gemischtwarenhandlung sämtlicher Neurosen“. 52 Mit dem Wegfall des Vaters als Repräsentanten der alten Ordnung und relativ konstantem Spiegel des kindlichen Ichs, bricht die Identitätskrise voll aus. Sein Tod wird erlebt als vollständiger Ich-Verlust, der die Protagonistin in Grenzerfahrungen aller Art und an den Rand der Gesellschaft treibt. In der Folge entwickelt sie eine zwangsgestörte „Spiegelsucht“: Sie blickt nicht nur in alles, was ihr Angesicht im Vorbeigehen reflektiert, sondern führt auch einen kleinen Taschenspiegel mit sich, in dem sie permanente Selbstvergewisserung sucht. Hinter der Spiegelsucht verbirgt sich die Sehnsucht nach dem wahren Ich, einer konstanten Ich-Identität, die den Kern des Selbst repräsentiert und unabhängig von allen äußeren Zuschreibungen existiert. Dieses Begehren ist verknüpft mit der Märchenmotivik aus Alice im Wunderland, mit dem Wunsch, dem weißen Kaninchen folgend, 53 „durch den großen Spiegel“ der „Kindheit“ 54 gehen zu können und dahinter das eigentliche Selbst zu finden. Es ist die Sehnsucht, die eigene Ohnmacht durch den Blick in den Spiegel zu bannen und wieder handlungsmächtig zu werden. Bezogen auf die frühkindliche Ich-Bildung heißt es bei Lacan: Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes durch ein Wesen, das noch ein‐ getaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege, wie es der Säugling in diesem infans-Stadium ist, wird […] in einer exemplarischen Situation die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem anderen und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt. […] von besonderer Wichtigkeit ist gerade, daß diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann. 55 313 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten 56 Die Figur der Baba Yaga ist in vielen Märchen und unter unterschiedlichen Namen im gesamten slawischen Sprachraum anzutreffen. In ihrer Ambivalenz unterscheidet sie sich maßgeblich von den eindeutig bösen Hexenfiguren in deutschsprachigen Märchenerzählungen wie sie etwa in Grimms Märchen zu finden sind (vgl. Petra Schönbacher: Das Feuer der Baba-Jaga. Matriarchales Urwissen als Chance … oder die geheimen Botschaften in russischen Märchen. Wien 2006, S. 113). 57 Petra Schönbacher sieht in ihr das „Abbild der Großen Göttin“, beziehungsweise eine „Erbin“ der ostslawischen „Göttin Mokoš“ als „große[r] Mutter des Menschen“, die nach dem Verblassen ihrer mythologischen Bedeutung als Märchenfigur überlebt (Schönbacher: Das Feuer der Baba-Jaga (Anm. 56). S. 60; 109). 58 „Die Baba-Jaga ist eine mythische Figur mit matriarchalen Zügen eine kultische Mutterfigur, die in ihrer Ambivalenz eine Einheit von Schöpfung und Vernichtung verkörpert. […] Sie zeigt sich als Wächterin über das Totenreich und als Beherrscherin sowohl der Natur als auch des Kosmos.“ (Richarda Becker: Die weibliche Inititation im ostslawischen Zaubermärchen. Ein Beitrag zur Funktion und Symbolik des weiblichen Aspektes im Märchen unter besonderer Berücksichtigung der Baba-Jaga. Berlin 1990, S. 162). 59 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 18. 60 Ebd., S. 19. Diese Sehnsucht nach einem von äußeren Bedingungen und Identitätszuschrei‐ bungen unabhängigen, bei sich selbst beheimateten Ich spiegelt sich auch in dem leitmotivisch auftretenden russischen Märchenkomplex der Baba Yaga beziehungsweise ihres Häuschens auf Hühnerbeinen. 56 Die Hexe Baba Yaga ist eine überaus amivalente, naturmystisch inspirierte Figur, 57 die für Tod und Wiedergeburt zuständig ist. 58 Sie lebt in einem Häuschen auf Hühnerbeinen, das im russischen Volksmärchen als Hütte ohne Eingang beschrieben wird. Nur mit einer bestimmten Wortmagie lässt sie sich öffnen. Diese Märchenfigur einer mächtigen alten Frau, die ihre sichere, für andere unzugängliche Heimstatt überall mithinnehmen kann, repräsentiert für Mischka, eine Art Ideal-Ich, eine Wunschvorstellung einer sicheren Ich-Identität und eines handlungsmächtigen Selbst. Das titelgebende Märchen vom „Spaltkopf “, das entgegen der Behauptung im Text kein fester Bestandteil der russischen Mythologie, sondern vollständig fiktiv ist, wird dagegen zum Symbol der existentiell erlebten Identitätskrise. Zu Beginn des Romans wird den Kindern mit dem Spaltkopf gedroht, wenn sie nicht ins Bett wollen. Er wird beschrieben als ein körperloser, unsichtbarer Geist, der sich über seine Opfer stülpt, ihre Gedanken frisst und „Seelen aus[saugt]“. 59 Als die Mutter von ihm erzählt, erscheinen im Schein der Kerze „ihre Züge“ unheimlich „[verzerrt] zu etwas anderem, Unbekannten“. 60 Das metaphorische Märchen vom Spaltkopf, der Seelen frisst und die Züge der von ihm Erzählenden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, repräsentiert den 314 Eva Wiegmann 61 Ebd., S. 185. 62 Schönbacher: Das Feuer der Baba-Jaga (Anm. 56), S. 62. 63 Eugen Drewermann: Nur Liebe führt zum Glück - Eugen Drewermann über Märchen, Psychoanalyse und Pädagogik, (08. April 2013), https: / / www.swp.de/ unterhaltung/ kultur/ nur-liebe-fuehrt-zum-glueck-eugen-drewermann-ueber-maerchen_-psychoana lyse-und-paedagogik-18314377.html (zuletzt abgerufen am 18. März 2020). 64 Schönbacher: Das Feuer der Baba-Jaga (Anm. 56), S. 62. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 95. 67 Lacan: Das Spiegelstadium (Anm. 8), S. 67. 68 Ebd. inneren Zustand der Ich-Erzählerin. Sein Erscheinen am Schluss des Romans visualisiert Mischkas Identitätsverwirrung: Aus dem spiegelnden Fensterglas blickt mich ein seltsames Gesicht an. Halslos, gasförmig, flächig und viel größer als mein eigenes, das ich durch es hindurchscheinen sehe. Ich erkenne ihn sofort. Der Spaltkopf. Die Strudel, die in seiner gallertartigen Hülle träge auf und niedersteigen, haben die Farbe des Weißenachthimmels. Er besitzt keine erkennbaren Züge. Sein Inneres ist in ständiger Umschichtung begriffen. Ein Wabern, das um meinen Kopf herum pulsiert und mich überlagert. 61 Aus psychoanalytischer Sicht stellt die Wunsch-Identifikation mit der Figur der „enorm kraftvollen“ 62 Baba Yaga eine regressive Rettungsphantasie dar. Nach Eugen Drewermann „beschwören“ Märchen „geradewegs, dass wir mit uns selbst einig sind, heil sind - im Wissen, dass alle Konflikte da draußen dann erst beginnen.“ Ganz in diesen Sinne bildet der Märchenkomplex Baba Yaga „eine umgreifende Klammer des Schutzes“, 63 die alle ambivalenten Erfahrungsgehalte in ein geschlossenes Narrativ integriert. Zugleich ist die Märchenwelt der Realität entzogen und hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Baba Yaga des russischen Märchens gehört explizit zu „einer anderen Welt“. 64 Sie ist „Herrscherin der Jenseitswelt“, 65 wacht über das Reich der Toten und ist „die Herrscherin über die Naturkräfte“. 66 Sie symbolisiert mithin im psychoanalyti‐ schen Sinne die Urgewalt des ungezügelten Es. Auch der regressive Rückzug in die Struktur des Es kann dabei als neurotischer Versuch der Wiederherstellung eines einheitlichen Selbst gelesen werden. Dementsprechend weist auch Baba Yagas Haus auf Hühnerbeinen „Strukturen einer Befestigungsanlage“ des Ich auf. 67 In diesem Sehnsuchtsbild zeigt sich - im Lacan’schen Sinne - „das Subjekt verstrickt […] in die Suche nach dem erhabenen und fernen inneren Schloß, dessen Form […] in ergreifender Weise das Es symbolisiert.“ 68 Insofern markiert der Symbolkomplex Baba Yaga keine tragfähige Identifikationsmöglichkeit, 315 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten 69 Ebd., S. 68. 70 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 19. 71 Conzen: Die bedrängte Seele (Anm. 3), S. 24. 72 Ganz ähnlich richtet sich die Ich-Erzählerin Ildiko in Tauben fliegen auf an einer Transitstrecke häuslich ein und blickt durch ein unverhangenes Fenster „unverfroren“ auf die davorliegende Welt im Wandel (Abonji: Tauben fliegen auf [Anm. 22], S. 303). 73 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 185. 74 Conzen: Die bedrängte Seele (Anm. 3), S. 21. sondern steht für „Mechanismen der Inversion“, die Lacan „der Zwangsneu‐ rose“ 69 zuschreibt. Die Möglichkeit, sich selbst wieder als handlungsfähiges Ich zu erleben, ergibt sich nicht durch die regressive Weltflucht, sondern erst dadurch, dass die im Unbewussten eine Ichspaltung verursachenden Mechanismen bewusst gemacht werden. Wie die Mutter zu Beginn des Romans erklärt, ist die einzige Möglich‐ keit, etwas gegen den unsichtbaren Spaltkopf zu unternehmen, ihn sichtbar zu machen: „Wenn du ihn sehen kannst,“ sagt sie, „hat er keine Macht mehr über dich.“ 70 Das Sichtbarwerden des Spaltkopfes im spiegelnden Fensterglas am Schluss des Romans, kann insofern als Ergebnis eines psychoanalytischen Prozesses interpretiert werden. Indem das eigene Gesicht durch das Gesicht des Spaltkopfes hindurchscheint, wird die neurotische Spaltung des inneren Wesenskerns von äußeren Faktoren der Identitätsbildung aufgehoben. Statt eines konstanten Bildes, erscheint im spiegelnden Fensterglas Identität als kon‐ tinuierlicher Prozess, als ein „ständiger Austausch- und Konstruktionsprozess an der Schnittstelle zwischen innerpsychischem Erleben und äußerer sozialer Wirklichkeit“. 71 Das ins Bild Treten unbewusster Mechanismen der Ichbildung nimmt dem Spaltkopf seine Bedrohlichkeit. Er erscheint plötzlich nicht mehr nur furchterregend, sondern wegen seiner großen schwarzen Augen auch kleinkindhaft und niedlich. Statt durch den Spiegel zu gehen und sich in einem inneren Wunderland zu verschanzen, lehnt die Ich-Erzählerin ihre Stirn an die spiegelnde Scheibe und öffnet dabei ihren Blick für die dahinter sichtbare Welt mit ihren Möglichkeiten: 72 „Ich nähere mich ihm [dem Spaltkopf, E.W.] vorsichtig, bis Nase und Stirn die kühle Scheibe berühren und ich durch ihn in die St. Petersburger Hinterhöfe tauche und nur noch die Häuser ringsum zu sehen sind.“ 73 Insofern handelt es sich bei Spaltkopf um einen psychologischen Entwick‐ lungsroman, der aus der ohnmächtig erlebten Identitätskrise in eine Befähigung des Subjekts mündet, „in einem Ensemble von Selbsten“ souverän „die Führung [zu] übernehmen, ohne sich an vorgefertigte Schablonen und autoritäre Zwänge […] anzupassen.“ 74 Der Roman erzählt dabei aber nicht nur den individuellen Entwicklungsverlauf der Figur Mischka, sondern entwirft mit ästhetischen Mit‐ 316 Eva Wiegmann 75 Ebd., S. 19. 76 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 39 77 Die starke Fixierung auf Autorenbiographien spiegelt sich auch in den analytischen Zugriffen auf sogenannte Interkulturelle oder Migrationsliteratur von Carmine Chiel‐ lino u. a. (vgl. Carmine Chiellino [Hrsg.]: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007). 78 Rabinowich: Spaltkopf (Anm. 43), S. 185. 79 Trinh T. Minh-ha: Woman, Native, Other. Bloomington / Indianapolis 1989, S. 35 (zit. nach Chambers: Migration [Anm. 14], S. 12). teln eine alternative Antwort auf die im Migrationskontext virulent werdende Identitätsfrage. Indem Identität nicht mehr essentialistisch verstanden wird, sondern als prozesshaftes Geschehen, wird ein Selbstverständnis möglich, das kulturell präfigurierte Deutungsmuster souverän integriert, ohne sich ihnen auszuliefern. Dann bedeutet die Entortung des Selbst nicht mehr „automa‐ tisch Zersplitterung und Beliebigkeit, sondern [impliziert] die Chance, jenseits überkommener Zwänge oder modischer Suggestionen einen eigenständigen, selbstverantwortlichen Lebensentwurf zu stricken.“ 75 Es gibt hier also „zwei Möglichkeiten“, die migrationsbedingte Infragestellung der Identität zu inter‐ pretieren: In der retrospektiven Reflektion erscheint sie primär als Verlust und „wie der Ausbruch einer Krankheit“, in der prospektiven Reflektion als „Zeugung“ 76 oder Geburt des souveränen Selbst. Womöglich aber ist das eine nicht ohne das andere zu haben. Darüber hinaus hat die Lösung der individuellen Identitätskrise der Figur Mischka aber auch eine poetologische Dimension: Die Öffnung des Blicks von der (neurotischen) Ich-Zentrierung in die Welt lässt sich dabei als Abschied von der für die sogenannte Migrationsliteratur häufig charakteristischen Bindung an Autorenbiographien 77 lesen. Diese poetische Freiheit verbindet sich im Bild des Spaltkopfes, der „keine klar erkennbaren Züge“ hat und in dessen „Innere[m]“ sich die unterschiedlichen Deutungsmög‐ lichkeiten „überlager[n]“, 78 mit der Erkenntnis des poetischen Potentials, das ein freies interkulturelles Spiel mit Überlieferungsbeständen birgt. Es ist ein selbstbewusstes Bekenntnis zu einem Schreiben, das auf kulturelle Eindeutigkeit verzichtet und Mehrdeutigkeit nicht nur zulässt, sondern - im Sinne des Poetischen - zum Prinzip erklärt. Denn Schreiben ist wie ein Spiel, […], ein fortwährender Prozeß, von dem man sagen könnte, daß er bemüht ist, nicht ein ‚Ich-Objekt‘ in die Sprache einzufügen sondern eine Öffnung zu schaffen, in der das ‚Ich-Objekt‘ verschwindet, während ‚Ichs‘ endlos kommen und gehen, so wie die Natur der Sprache es verlangt. 79 Damit verbietet es sich, den Text als Schlüsseltext für die Migrationserfahrung der Autorin zu lesen. Diese ist lediglich der Ausganspunkt einer Entwicklung zu 317 „Ich ist ein Anderer.“ - Identitäre Krisen im Kontext von Migrationsgeschichten einer ganz eigenen Art des Schreibens, die im Spannungsfeld unterschiedlicher Erzähltraditionen eine individuelle Stimme findet. Die Migrationsbewegung wird dabei in ein Schreiben übersetzt, in dem die Stimme der Ich-Erzählerin unfixierbar zwischen unterschiedlichen literarischen Äußerungsformen und Bedeutungshorizonten oszilliert. 318 Eva Wiegmann 1 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 1979, S. 329. 2 Ebd. Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart - Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019) Hermann Gätje, Saarbrücken Die Gattung der Heimatliteratur ist eng verknüpft mit dem jeweils verbreiteten und sich temporär wandelnden Bild, das man von dem Begriff Heimat hat. Das Genre ist wegen seiner zahlreichen populären Erscheinungsformen so sehr mit dem Stereotyp der Trivialliteratur behaftet, dass dies im Diskurs immer mitschwingt. Von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur definiert Hei‐ matdichtung und Heimatliteratur zunächst als „wertungsfreie[n] Oberbegriff für alles lit. Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, der Landschaft und ihrer Menschen sowie des ländlichen Gemeinschaftslebens im weitesten, nicht nur rein stofflichen Sinne als allg. Grundlage der Welterfahrung.“ 1 Doch schließt von Wilpert den Artikel mit einer Wertung: „Für die Gegenwartslit. ist die H. weitgehend belanglos, da sie zum Großteil lit. unbedeutend ist, auf den überkommenen Positionen stagniert, nach Erschöpfung der vorhandenen po‐ sitiven wie negativen Möglichkeiten sich nur noch in sprachlicher Hinsicht vervollkommnen kann und e. sinnvolle Weiterentwicklung der Richtung sich nicht abzeichnet.“ 2 Dieses Verdikt findet sich in der Auflage von 1979 und es stellt sich heute aus der zeitlichen Distanz die Frage, ob von Wilperts Urteil richtig war. Die folgenden Darstellungen sind von der Grundthese geprägt, diese Einschätzung zu widerlegen. Ich will aufzeigen, dass es relevante zeitgenössische Texte gibt, auch wenn diese sich vielleicht allenfalls unter Anführungszeichen dem Genre Heimatliteratur zuordnen lassen, die aktuelle Diskussionen und Stimmungen um das Thema Heimat und Identität in literarisch ansprechender, zeitgemäßer, treffender Form zum Ausdruck bringen. Die Thematisierung von Heimat ist eine Konstante in der deutschen Literatur, doch das Genre hat sich in seinen konkreten Ausführungen immer eng an den jeweils dominierenden Denkmustern orientiert und erwies sich durch seine inhärente subjektive Komponente als besonders ideologieanfällig. Da der Begriff der Heimat eine ausgeprägte emotionale Bindung des Menschen an einen geographisch-kulturell umgrenzten Raum impliziert und hervorhebt, gibt es entsprechend kaum eine andere literarische Gattung, die in solcher Weise mit dem Begriffskomplex der Identität verbunden ist wie die Heimatliteratur, wobei sowohl kollektive wie persönliche Faktoren eine Rolle spielen. Der überschaubare Raum der persönlichen Lebenswelt ist der Ort, an dem es im Wesentlichen zu den unmittelbaren Erfahrungen des Einzelnen kommt. Möglicherweise spielt dieser in der Wahrnehmung durch den Kontrast mit einer von zunehmenden Medien und wachsender Globalisierung unübersichtlicher werdenden Welt eine veränderte Rolle. Er evoziert Authentizität und gewinnt in der aktuellen politischen Diskussion an Bedeutung. Ein Erklärungsansatz des gegenwärtigen Identitätsdiskurses ist es, dass mit dem Eindruck des Verlusts der Überschaubarkeit, einem Gefühl des Nichtmehrverstehens der Welt viele Menschen psychisch nicht zurechtkommen. Daher werde der Raum der Heimat zu einem Ort der Kompensation gegenüber den Kräften der Globalisierung stili‐ siert. Diese Entwicklung ist nicht erst seit gestern zu verzeichnen. So formierten sich seit den 1970er Jahren verstärkt Bewegungen, die das Heimatgefühl im Kampf gegen Großprojekte wie Kraftwerke oder Autobahnen mobilisierten, die nationalen Interessen dienten, deren Lasten aber einzelne Regionen tragen mussten. Literarische Texte über die Heimat können somit ein ganzes Spektrum an Aussagen verbinden, indem sie die diametralen und konträren Ausprägungen entsprechender Identifikationen spiegeln. Das Genre des „Antiheimatromans“ orientiert sich an dem tradierten Negativstereotyp des Heimatromans, das zum einen durch die verinnerlichte Kopplung von Heimat und Kitsch, zum anderen durch die Akzentuierung des Themas in der reaktionären Heimatkunstbewe‐ gung und der Blut-und-Boden-Literatur verursacht ist. In der Folge der 1968er Bewegung setzte in der Literatur ein neues Setting des Heimatbegriffs ein, das engstirnigen Provinzialismus zwar kritisierte, aber die Bewahrung der Natur und regionaler Eigenarten als Identifikationsfolie umspannte. Aus dieser Entwicklung und in ihrer Fortsetzung erscheint vor dem Hinter‐ grund der heutigen maßgeblich vom Begriff der Identität geprägten Diskussion 320 Hermann Gätje 3 Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Stuttgart 2019 (E-Book). 4 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. Frankfurt am Main 2019 (E-Book). 5 Zur Rezeption vgl. die Regesten der Rezensionen in der überregionalen deutschsprachigen Presse: www.perlentaucher.de/ buch/ raphaela-edelbauer/ das-fluessige-land.html (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2021). 6 www.fischerverlage.de/ autor/ reinhard-kaiser-muehlecker-1006098 (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2021). die Frage nach Schreibweisen der literarischen Thematisierung von Heimat von Interesse. Um möglichst zeitnah Aspekte des Diskurses zu fassen, habe ich für diesen Beitrag zwei Romane ausgewählt, die 2019 erschienen sind. Da beide auf eine relativ große Resonanz gestoßen sind, kann man davon ausgehen, dass sie wesentliche Momente eines kollektiven Denkens und Fühlens widerspiegeln. Zugleich sind die Texte daraufhin zu untersuchen, wie sie generelle Paradigmen und Strömungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufnehmen, um daraus typologisch Elemente der aktuellen literarischen Verhandlung von Heimat und Identität zu skizzieren. Es handelt sich um Raphaela Edelbauers Roman Das flüssige Land, 3 erschienen im August 2019, und Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman Enteignung, 4 der bereits im Februar desselben Jahres veröffentlicht wurde. Beide stammen aus Österreich, wo bekanntermaßen eine lange Tradition und ausgeprägte Affinität zu dem Sujet Heimat besteht. Kaiser-Mühlecker und Edelbauer repräsentieren zwei sehr unterschiedliche Temperamente und Autorentypen der Gegenwartsliteratur. Während Kaiser-Mühlecker sich und sein Werk knapp auf einer schlichten Website vorstellt, ist Edelbauer in den sozialen Medien sehr aktiv und präsentiert sich auf einer graphisch aufwendig gestalteten Homepage. Sowohl die Texte als auch die öffentlichen Auftritte signalisieren, dass Edelbauer eher extrovertiert, Kaiser-Mühlecker eher intro‐ vertiert ist. Das flüssige Land ist das erste Buch von Raphaela Edelbauer (geb. 1990) und die Autorin gelangte damit gleich auf die Shortlist des deutschen Buchpreises. Diese Entscheidung der Jury wurde zwar von einigen Kommentatoren kritisiert, das Buch fand jedoch überwiegend positiven Anklang. 5 Der acht Jahre ältere, 1982 geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker hingegen ist ein bereits arrivierter Autor. Alle seine Texte kreisen um das Thema Heimat und Identität. Die Vita auf der Website seines Verlages S. Fischer unterstreicht mit einem sinnfälligen Zitat von ihm den programmatisch-organischen Charakter seines Schreibens: „Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen - einem, der sie nicht kennt.“ 6 Enteignung ist 321 Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart 7 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald. Frankfurt am Main 2016 (E-Book). 8 Kaiser-Mühlecker: Enteignung (Anm. 4), S. 151. Kaiser-Mühleckers mittlerweile siebter Roman und zeugt von der Entwicklung eines Autors, der sein Konzept zunehmend verdichten, perfektionieren, verfei‐ nern und fokussieren möchte. Man erkennt das in diesem Roman im Vergleich zum Vorgänger Fremde Seele, dunkler Wald von 2016 recht markant. 7 Dort wird die Ambivalenz in zwei Brüder projiziert, deren Unterschiede und Lebenswelten in verschiedenen Perspektiven, Schicksalen und Erzählsträngen gespiegelt werden. Während dieser Text ein Panorama verschiedener Aspekte, Personen und Handlungsorte ausbreitet, wirkt Enteignung gedrängt und konzentriert auf das Thema Identität und Heimat. Der homodiegetische Erzähler, ein Journalist, kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, dem er in einem ambivalenten Verhältnis gegenübersteht. Als Kind wurde er früh Waise, und seine in dem Dorf lebende Tante nahm ihn auf. Nach Jahren bei überregionalen Zeitungen und im Ausland schreibt er nun für das Lokalblatt der nahen Stadt. Er beginnt eine Affäre mit der Lehrerin Ines und arbeitet auf dem Hof des Mastbauern Flor, der sich mehrfach behördlicher Willkür ausgesetzt sieht. Die Handlung entfaltet sich vor einem verwickelten Beziehungsgeflecht. Flor hat ebenfalls eine sexuelle Beziehung zu Ines, während der Ich-Erzähler Jan eine Affäre mit Flors Frau Hemma beginnt. Zu der vermeintlich kühlen, abweisenden Frau entwickelt er eine bis an die Abhängigkeit reichende sexuelle Leidenschaft, was in den inneren Kämpfen zwischen Ratio und Gefühl bei Jan kulminiert, als sie ihm gewissermaßen ‚mehr‘ verspricht, wenn er den Baubeauftragten der Gemeinde, der Flor und sie offensichtlich schikaniert, beseitigt. Der Romanablauf ist von tragischen Ereignissen gezeichnet, die in ihrem genauen Ablauf rätselhaft bleiben, doch in ihren Andeutungen verschiedene schlüssige Perspektiven eröffnen. Die Figur erinnert in der Anlage an Albert Camus’ „Fremden“, sein Verhalten ist von Gleichgültigkeit geprägt. Dass dies im Grunde einer Blockade entspringt, zeigt sich darin, dass er seine Gefühle nur seiner Katze entgegenbringen kann. Dass diese gegen Schluss des Romans überfahren wird, bildet ein Initial und eine Station seines inneren Reifeprozesses. Jan verbirgt auch im Dorf seine eigentliche Identität, so stellt er sich bei seinem ehemaligen Mitschüler Flor, der ihn aber nicht mehr zu kennen scheint, unter dem falschen Namen Walter vor. Der Text evoziert, dass die Ursache von Jans prekär-hybrider Identität in der Gefühlskälte der Tante begründet ist, die ihm den Umgang mit den Dörflern - „vulgäre Leute“ 8 - verbot und ihm dies, vor seinem inneren Auge als Geist erscheinend, immer wieder einredet. Er leidet darunter, nirgendwo heimisch 322 Hermann Gätje 9 Ebd., S. 127. 10 Ebd., S. 50. 11 Ebd., S. 57. zu sein, was in der Erzählung seines Besuchs in der Redaktion einer Berliner Zeitschrift zum Ausdruck kommt: Zugleich haftete dem Ganzen auch etwas Befremdliches an, zumal ich mich, mit den Stunden sogar immer mehr, als etwas Exotisches betrachtet sah. Zunächst war es wohl nur etwas Banales: der Akzent, den ich hatte und den ich trotz aller Bemühungen meiner Tante, die in ihrem Haus keinen Dialekt duldete, nie loswerden konnte, was zur Folge hatte, dass meine Sprache immer etwas eigentümlich klang, für den einen künstlich, für den anderen, als finde ein Schlüssel nicht ins Schloss, und vermutlich deshalb war ich nicht nur einmal in meinem Leben nach meiner Muttersprache gefragt worden. 9 Den Begriff Heimat verwendet der Autor in diesem Kontext nicht, doch der Begriff des Fremden taucht bei ihm in unterschiedlichen Derivationen sehr häufig auf, wie im angeführten Zitat „Befremdliches“. Der Ich-Erzähler spricht von der „mir so fremden Lebenswelt“: 10 „[I]n mir selbst kam mir alles fremd vor. Als lebte ich in einem Land, das mir, obwohl direkt vor meiner Haustür, fremder als alle war, die ich bisher kennengelernt hatte.“ 11 Besonders signifikant ist in dieser Hinsicht der Titel von Kaiser-Mühleckers Enteignung vorhergehendem Roman Fremde Seele, dunkler Wald. Am Schluss des Textes bleibt vieles in der äußeren Handlung im Dunkeln. Die Lehrerin Ines, angeblich bereits todkrank, stirbt auf nicht beschriebene Art und Weise, vermutlich Selbstmord. Der korrupte Baubeauftragte kommt zu Tode, vermutlich von Ines kurz vor ihrem Tode aus Liebe zu Flor vergiftet, was aber nur der Erzähler zu erkennen glaubt. Die Polizei geht von einem natürlichen Tod aus, der Erzähler kann sich bis zum Schluss nicht überwinden, seine Beobachtung der Polizei zu melden. Denn er spürt auf der Beerdigung, dass Ines und Flor sich wirklich, aufrichtig selbstlos geliebt haben, was er beneidet und gleichzeitig bewundert. Es wird angedeutet, dass Flor und Hemma sich um die zwei Kinder von Ines kümmern, da der leibliche Vater spurlos verschwunden ist und eine angebliche Großmutter gar nicht zu existieren scheint. Der Protagonist erkennt, zu welch tiefen Gefühlen Flor und seine Frau, auf die er - von seiner Tante konditioniert - verinnerlicht herablassend geschaut hat, in der Lage sind. Man erkennt, wie der spektakuläre und melodramatische Verwicklungen andeutende, aber nicht auflösende Plot subtil stereotype Topoi und Handlungsmuster des Heimatromans dekonstruiert. Einem oberflächlichen Pathos von Liebe und heiler Welt wird ein diffiziles Psychogramm von Schmerz 323 Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart 12 Edelbauer: Das flüssige Land (Anm. 3), S. 307. und zugleich tiefer Menschlichkeit gegenübergestellt, das jedoch ein positives Bild vom Menschen generiert. Während Kaiser-Mühleckers Schreiben geprägt ist von einem lako‐ nisch-sachlichen Stil und einem realistischen Paradigma, greift Edelbauer auf Elemente des Surrealen und Fantastischen zurück. Die Physikerin Ruth, Ich-Erzählerin des Romans, erfährt, dass ihre Eltern bei einem Autounfall verstorben sind. Sie haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit bestattet zu werden. Dieses Groß-Einland haben sie schon früh verlassen. Ihre Tochter Ruth ist dort nie gewesen und kann sich nur vage an Erzählungen ihrer Eltern erinnern. Diese werden zu den einzigen Anhaltspunkten für Ruths Anreise, denn es stellt sich heraus, dass die Gemeinde auf keiner offiziellen Karte verzeichnet ist. Ruth gelingt es nur unter merkwürdigen Umständen und scheinbaren Zufällen, dorthin zu gelangen. Der Ort ist von der Außenwelt abgeschottet und erscheint geheimnisvoll. Ruth stößt bei den Nachforschungen über ihre Eltern, die ohne ihr Wissen den Ort öfters besucht haben, zunächst auf eine Mauer des Schweigens; Auskünfte und Dokumente werden ihr als von außen Kommender vorenthalten, was auch einen im Roman nie ganz aufgedeckten Verdacht hinsichtlich des dubios erscheinenden Unfalltods der Eltern aufkommen lässt. Eine abgeschottet in einem Schloss über der Stadt residierende mysteriöse Gräfin führt in Groß-Einland ein feudales Regiment und die Bewohner scheinen sich dieser Herrschaft und Isolierung furchtsam und doch verschworen zu unterwerfen. Je mehr Fragen Ruth stellt, desto vehementer bekommt sie den Widerstand der Bewohner zu spüren. Es eröffnet sich ihr in Schritten, dass der Ort von einem riesigen Hohlraum unterlegt ist, der zugleich ein Geheimnis birgt und das Leben der Menschen bestimmt. Ebenso stößt Ruth bei ihren Nachforschungen auf dunkle Stellen aus der Vergangenheit, dass KZ-Häftlinge ermordet und die Leichen in dem Hohlraum vergraben wurden. Auch ihre Eltern schienen in dieser Sache Nachforschungen angestellt zu haben. Es lässt sich immer weniger verbergen, dass dieses Loch die Statik des gesamten Ortes bedroht, denn die Zahl der Erdrutsche und Einstürze nimmt dramatisch zu. Doch wird Ruth zugleich von dem Ort unterbewusst stark angezogen, sie vergisst nach und nach ihr eigentliches Leben in Wien. Sie entwickelt Heimatgefühle für den Ort, der dem Leser jedoch als falsches Idyll erscheint. „Ist es nicht ironisch, dass ich gerade dort so schnell eine Heimat gefunden habe, wo sie im Boden zu versinken droht? “ „Man kann eben dort am besten Wurzeln schlagen, wo vieles im Boden verrottet“, sagte der Maskenhändler und kicherte. 12 324 Hermann Gätje 13 Ebd., S. 314. Nach einiger Zeit wird Ruth zu der Gräfin bestellt und diese stellt sie, weil sie Physikerin ist, ein, um einen Weg zu finden, die drohende Katastrophe zu verhindern. Auch wenn Ruth immer wieder konzediert, Fachfrau einer völlig an‐ deren Disziplin der Physik zu sein, nimmt sie die Stelle an. Sie beschließt, länger zu bleiben. In einer Mischung aus Realität und Einbildung, grotesk-surreal anmutend werden Ruths Erlebnisse geschildert. Der Text erzeugt eine beklem‐ mende Atmosphäre, oszilliert zwischen Gegenständlichkeit und Fantastik. Er erinnert an Texte des magischen Realismus. Die Beschreibung des Schlosses der Gräfin spielt auf Kafkas Schloß an, die Gestaltung des Ortes als Zwischenreich und die Anspielungen auf die Toten weisen Ähnlichkeiten mit Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom auf. Der geheimnisvolle Maskenhändler ist dem Videospiel Majora’s Mask aus der The Legend of Zelda-Reihe entlehnt, in dem es auch um einen mysteriösen, vom Untergang bedrohten Ort geht. Zunächst scheint Ruth bei ihrer Arbeit ziellos zu bummeln, dann entdeckt sie einen Stoff, der das Loch füllen kann. Doch bei einer versuchsweisen lokalen Anwendung stellt sich heraus, dass dieser hochgiftig ist und letztlich sämtliches Leben vernichten würde. Ruth verschweigt daher ihre Entdeckung. Erst kurz bevor der völlige Zusammenbruch sich unmittelbar ankündigt, öffnet sie sich. Ihre Mitar‐ beiterinnen und Mitarbeiter, ihre vermeintlich gewonnenen freundschaftlichen Bindungen im Ort, verübeln ihr daraufhin das lange Schweigen. Die Gräfin jedoch beschließt nun, die Füllung des Lochs trotz allem durchzuführen und diese als Volksfest und touristische Attraktion, also eine großangelegte Öffnung des Ortes für Außenstehende, zu arrangieren. Es bleibt im Ungewissen, wohin das alles führt, denn die Erzählerin verlässt nach Beginn der Festlichkeiten und vor dem zeremoniellen Akt der Einfüllung, zu dem sie auch eine Rede halten soll, heimlich Groß-Einland. Der als Abschnitt gesetzte letzte Satz „Nichts, was im Unklaren verblieben wäre.“ 13 bringt den Schluss auf den Punkt, wenn man Ironie idealtypisch so deutet, dass das Gesagte das Gegenteil des Gemeinten bedeuten soll. Beide Romane spiegeln literarisch die aktuelle Diskussion um Heimat, indem sie tradierte Muster aufgreifen, verarbeiten und zugleich die wesentlichen Aspekte der aktuellen Diskussion um Identität thematisieren und sie in Bezie‐ hung setzen zu aktuellen Problemen wie Umweltverschmutzung, Klimawandel, Existenzangst, Entfremdung. In Enteignung spielen die Krise der Landwirtschaft und der Bau von Windkrafträdern eine zentrale Rolle. Die Texte stellen keine eindeutigen Affirmationen oder Verdammungen dar, sie vertreten Positionen, die sie dialektisch reflektieren, indem sie Widersprüche in ihre Figuren und 325 Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart 14 www.raphaelaedelbauer.com/ fl%C3%BCssigesland.html (zuletzt abgerufen am 30. Au‐ gust 2019). 15 Edelbauer: Das flüssige Land (Anm. 3), S. 276. ihre Handlungen projizieren. An den beiden Texten lässt sich zeigen, dass sie tradierte Paradigmen und Topoi der Heimatliteratur aufgreifen und variieren, aktuelle Aspekte einarbeiten und zugleich eigene Gedanken und innovative Schreibformen entwickeln. Die aktuelle Instrumentalisierung und Ideologisierung des Identitätsbegriffs durch die Neue Rechte spielt bei beiden eine Rolle. In Edelbauers Roman erscheint keine explizite Erwähnung irgendeiner Partei oder ideologischen Bewegung, doch verweist die Autorin in einem Paratext auf den unmittelbaren Bezug des Romans zur politischen Gegenwart: Das Aufkommen der Identitären Bewegung sowie die Tendenz zu rechtsradikalen Politpositionen in Europa haben die Fragestellung des Buches für mich unumgänglich gemacht. Heimat- und Identitätsbegriffe werden wieder stärker in den medialen Fokus gerückt und zum ersten Mal seit ’45 wieder in stolzer, unreflektierter Weise verwendet. 14 Das Themensetting von Edelbauer reagiert auf die bei der politischen Rechten geläufige Auffassung, dass die Jahre des Nationalsozialismus nur eine Episode in der sonst stolzen Geschichte Deutschlands bzw. Österreichs seien. Edelbauer greift fokussiert die Frage der verdrängten NS-Vergangenheit auf. An einer Stelle nimmt sie auf ein weitverbreitetes Denkmuster Bezug: „[…] Vergessen wir bei dem ganzen Gerede über die Toten nicht auch oft die Lebenden? “ Anita war mir mit einem Mal fremd geworden. „Mord verjährt nicht“, sagte ich trotzig. 15 Das Loch ist die Leitmetapher, in dieses wird alles Verdrängte, Unangenehme geworfen, ohne im Vorfeld die langfristigen Konsequenzen zu bedenken. Ir‐ gendwann lässt sich die unmittelbare Gefahr nicht mehr ignorieren, man sucht nach einer Lösung. Die von der Protagonistin entwickelte Füllmasse schiebt den Kollaps möglicherweise kurzfristig hinaus, führt schließlich aber zu einer noch größeren Katastrophe. Edelbauer verweist mit dieser Metaphorik auch auf die drängenden ökologischen Probleme der Gegenwart. In der Allegorie des Lochs und der giftigen Füllung verknüpft sie übertragene und eigentliche Bedeutungen, das geistige Klima und das tatsächliche Klima. Das Loch ist durch unsachgemäßen, der Gier nach Reichtum entspringenden Bergbau ent‐ standen, doch wird es von den Bewohnern mystifiziert, es ranken sich Sagen und Legenden darum, die es in den Bereich des Schicksals und der höheren 326 Hermann Gätje 16 www.raphaelaedelbauer.com/ fl%C3%BCssigesland.html (zuletzt abgerufen am 30. Au‐ gust 2019). Gewalt verlagern. Auch diese Referenz parallelisiert ein verdrängendes Deu‐ tungsmuster, das die NS-Herrschaft zu einem Schicksal, einer höheren Gewalt stilisiert, um jegliche persönliche Schuld und Verantwortung zu relativieren. Der Roman komponiert ein Gleichnis: Die verdrängte, ignorierte Vergangenheit erscheint als eine menschengemachte Naturgewalt und zerstört eine Heimat, deren Identität auf Verleugnung basiert. Edelbauer bringt dies in einer weiteren Selbstäußerung zu dem Roman auf den Punkt: Kann unsere Heimat jemals wieder neutral oder gar authentisch sein? Gibt es eine Kol‐ lektiverinnerung, die in unaufmerksamen Momenten in unseren Gehirnwindungen erwacht? Und kann die Vergangenheit jemals nichts mit uns zu tun haben? 16 Edelbauers Thematisierung der NS-Zeit in dem Roman spielt auf die Affinität der NS-Literatur zur Heimat an. Damit schlägt sie einen Bogen zur ideologischen Besetzung und Instrumentalisierung von Heimat und Identität durch die Neue Rechte. In ihrem Roman dekonstruiert sie diesen Anspruch, indem sie parabel‐ haft formuliert, dass diese Ausrichtung eine Identität evoziert, deren Falschheit früher oder später hervortritt. Auch Kaiser-Mühlecker greift den Aspekt des Aufstiegs der politischen Rechten auf. Bei ihm geschieht dies im Gegensatz zu Edelbauer zwar explizit im Roman, doch nur in zwei Passagen. Scheinbar beiläufig, aber treffend pointiert wird die Virulenz rechter politischer Strömungen thematisiert. Eine Passage ist unmittelbar am Beginn des Romans und skizziert knapp und präzise das Umfeld und die Hauptfigur. Der Protagonist arbeitet in der naheliegenden Mittelstadt bei der Lokalzeitung: In die Redaktion fuhr ich lediglich, wenn es sich nicht anders machen ließ. Zum einen war es in der Stadt noch drückender, zum anderen ging mir Parker [der Chefredakteur] seit einiger Zeit auf die Nerven. In einem fort versuchte er zu rechtfertigen, dass er jetzt mit der Rechtspartei zusammenarbeiten musste - seit der letzten Wahl, die noch nicht sehr lange zurücklag, stellte sie den Bürgermeister in der Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt. Ich hatte den Eindruck, er rechtfertige sich vor allem vor mir, weniger den anderen Kollegen, dabei hatte ich ihm bereits mehrfach gesagt, dass er das nicht brauche, denn es war mir vollkommen gleichgültig, was er tat. „Sie gefallen mir nicht“, sagte ich, „und sie werden mir nie gefallen. Aber du bist der Chefredakteur, und du kannst es ja halten, wie du willst.“ 327 Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart 17 Kaiser-Mühlecker: Enteignung (Anm. 4), S. 2. „Du verstehst es nicht“, sagte er. 17 Diese Stelle ist bezeichnend für die Lakonie von Kaiser-Mühleckers Stil, zugleich gibt sie ein prägnantes Bild des Charakters seines Protagonisten und verweist expositorisch auf die soziale und politische Stimmung des ländlichen Umfelds, in dem der Roman spielt. Beide Texte folgen einem Denkmuster, das vor allem durch die Filmreihe Heimat seit den 1980er Jahren geprägt wurde. Heimat wird weder verkitscht positiv verklärt noch verdammend als spießig und provinziell abgetan, sondern realistisch betrachtet. Die Texte tragen in vielem Merkmale, die vom postmo‐ dernen Paradigma inspiriert sind. Sie spielen mit den trivialen Stereotypen des Genres, Intertextualitäten tauchen auf, die Ironie wird zu einer tragenden Sprechweise. Bei allen Unterschieden greifen beide Romane Muster der Unter‐ haltungsliteratur auf und variieren sie spielerisch. Edelbauers Roman enthält viele Elemente der Mystery-Literatur. Die Ich-Erzählerin entspricht dem Typus der Figur, die einer ungeheuerlichen Wahrheit auf der Spur ist und von den anderen für vollkommen paranoid gehalten wird. Der Text changiert subtil zwischen Realismus und Fantastik. Kaiser-Mühlecker spielt mit Mitteln des Melodrams und des Krimis. Er versteht es, Spannung zu erzeugen und die Neugier des Lesers zu wecken, entzieht sich jedoch der in dem Genre üblichen Auflösung. Besonders die klassischen spezifischen Topoi des Heimatromans werden aufgegriffen. Das Motiv des störenden Eindringens eines Fremden in die abge‐ schlossene dörfliche Welt wird in beiden Texten variiert. Bei Kaiser-Mühlecker besonders ausgeprägt ist die für die Heimatliteratur typische Einbettung des Jahreskreises in den Handlungsablauf, die im traditionellen Genre den in den ewigen Lauf der Welt und die Schöpfung eingespannten Menschen prononciert. Kaiser-Mühlecker bricht dieses ursprünglich affirmative Moment jedoch, denn eine Störung dieses Kreislaufs tritt hervor. Die Schilderungen verweisen sehr dezidiert auf die Auswirkungen der Klimakrise, z. B. die zunehmenden unge‐ wohnt heißen Sommer und das Ausbleiben der Zwischenjahreszeiten. Die Themen Heimat und Identität werden in beiden Romanen ambivalent und nicht einseitig verhandelt. Die Hauptfiguren wirken zerrissen in ihrer Entfremdung und zugleich in ihrer Sehnsucht nach Heimat. Damit akzentuieren die Texte das natürliche Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit, sie stellen keine Ästhetisierung des Außenseitertums dar. Die Legitimität und der anthropologisch-psychologische Kern des Wunsches nach Heimat werden von beiden nicht in Frage gestellt. Sie greifen sehr dezidiert die im zeitgemäßen 328 Hermann Gätje 18 Edelbauer: Das flüssige Land (Anm. 3), S. 101f. 19 Ebd., S. 304. Heimatdiskurs ausgeprägte Kopplung von Heimatbzw. Identitätsverlust mit der Zerstörung der unmittelbaren Lebenswelt durch Industrie und Umweltver‐ schmutzung auf. Edelbauer spiegelt dies sinnbildlich in dem doppeldeutigen Gleichnis des „Loches“. Kaiser-Mühlecker, der selber Landwirtschaft studiert hat, skizziert sehr subtil den Einbruch der modernen Industrie und des Speku‐ lantentums in die dörfliche Gegenwart. Beide Romane formulieren ein zwiespältiges Verhältnis zwischen Heimat und Identität. Edelbauer formuliert die inneren Vorgänge der Erzählerin: Mich verbanden keine Gemeinsamkeiten mit den Menschen in Groß-Einland - ganz im Gegenteil -, stattdessen begann ich, in die Natur um die Gemeinde einzuschmelzen. Schon nach wenigen Tagen fand ich mich intuitiv zurecht, später, nach Wochen, war mir der Wald eine Erweiterung meines eigenen Körpers geworden, kurz gefasst, es war lange gesuchte Zugehörigkeit, eine Identifizierung, die mich zusehends mit der Landschaft verband. Ich würde fast sagen: Ich fand eine Heimat. 18 Die Romanheldin verlässt den Ort, dessen Verheißung sich als Illusion entpuppt hat: „Alle Wehmut, das Verlassen des einzigen Ortes, den ich jemals als Heimat empfunden hatte, lag längst hinter mir.“ 19 Auch Kaiser-Mühleckers Protagonist verlässt das Dorf, aber nicht ganz. Er nimmt zwar eine Stellung bei einer Zeitschrift in Berlin an, lebt aber nur eine bestimmte Zeit im Monat dort. In diesem Schluss spiegelt sich das hybride Verhältnis des Protagonisten zu seiner Heimat. 329 Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart Passagen herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje Die am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes herausgegebene Reihe eröffnet Perspektiven auf die deutsche Literatur im europäischen Kontext. Weil das literarische Kunstwerk im Dialog mit literarischen Texten anderer kultureller Überlieferungen entsteht, tragen intertextuelle, komparatistische sowie kulturvergleichende Studien wesentlich zu einem vertieften wissenschaftlichen Verständnis des Wechselspiels der Literaturen und literarischen Traditionen bei. In diesem Sinne befragen die Sammelbände und Monographien der Reihe die Literaturen Deutschlands auf ihren Bezug auf andere europäische Literaturen. Bisher sind erschienen: Band 1 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne 2017, 214 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-7720-8606-9 Band 2 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Grenze als Erfahrung und Diskurs Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen 2018, 227 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8638-0 Band 3 Hermann Gätje / Sikander Singh Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler 2018, 186 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8658-8 Band 4 Ralf Georg Bogner / Sikander Singh (Hrsg.) Theobald Hocks Schönes Blumenfeldt (1601) Texte und Kontexte 2019, 490 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8678-6 Band 5 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert 2020, 178 Seiten €[D] 69,90 ISBN 978-3-7720-8703-5 Band 6 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Identitätskonzepte in der Literatur 2021, 329 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8722-6 ISBN 978-3-7720-8722-6 Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig ideologisch vereinnahmt und politisch instrumentalisiert. Die Beiträge des Bandes perspektivieren den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Literatur ist seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen. Dies gilt vor allem für Literatur mit regionalem Bezug, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z. B. der Heimatliteratur, entwickelt haben. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Funktion der Konstitution und Stiftung von Identität durch die Literatur. Sie schlagen einen Bogen von den Anfängen eines Identitätsdiskurses bis in die unmittelbare Gegenwart und betrachten Texte mit der Perspektive auf bestimmte Autor: innen, Regionen, Ethnien oder Themenkomplexe. PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT www.narr.de