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30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa

2022
978-3-7720-5723-6
A. Francke Verlag 
Wolfgang Müller-Funk
Jan Budnák
Aleš Urválek
Tomáš Pospíšil
10.24053/9783772057236

Ende 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei. Im vorliegenden Band wird dies zum Anlass genommen, die Geschichte der politischen, kulturellen und literarischen Grenzziehungen und Nachbarschaften im Zentraleuropa des 20. Jahrhunderts neu zu sichten. Die Überblicks- und Fallstudien lassen mit großer Deutlichkeit die zentraleuropäische Interkulturalität hervortreten - als Korrektiv des scheinbar durch Nationalismen und Eiserne Vorhänge getrennten Jahrhunderts. Durch paradoxe Wendungen wie "erträgliche Unzufriedenheit" (Lukás Fasora) oder "sensible Beziehungen" (Oliver Rathkolb) auf den Punkt gebracht, wird in den Beiträgen die Koexistenz von Grenzlinien und Grenzüberschreitungen bei zentraleuropäischen "Konfliktgemeinschaften" (Jan Kren) vorgeführt. Präsentiert werden Fallbeispiele aus österreichischer und tschechischer, aber auch im weiteren Sinne (post-)habsburgischer Geschichte und Literatur.

Literatur, Kultur und Geschichte K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 27 Wolfgang Müller-Funk / Jan Budňák / Tomáš Pospíšil / Aleš Urválek (Hrsg.) 30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa 30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Clemens Ruthner, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Band 27 • 2022 Kultur - Herrschaft - Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind). Kultur - Herrschaft - Differenz is a double-blind peer-reviewed series. Wolfgang Müller-Funk / Jan Budňák / Tomáš Pospíšil / Aleš Urválek (Hrsg.) 30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa Literatur, Kultur und Geschichte DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057236 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8723-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5723-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0151-2 (ePub) Umschlagabbildung: Red heart and signature. Memorial to Czech president Václav Havel on the square near the national theater, Prague, Czech Republic - May 26, 2020; rudnitskaya_anna, Stock-Foto ID: 1774651409 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 15 39 53 75 101 127 143 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenze und Nachbarschaft Wolfgang Müller-Funk Zeitliche und räumliche Grenzlinien. Zwei Essays zwischen Literatur und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lukáš Fasora Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“. Tschechen und Deutsche in der späten Habsburgermonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Rathkolb Sensible Beziehungen. Österreich und die Tschechoslowakei (1918/ 1938/ 1945-1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Michael Newerkla Sprachen trennen und verbinden. Sprachliche und kulturelle Konvergenz in den linguistischen Arealen der ehemaligen Habsburgermonarchie . . . . . Zentraleuropäische Geschichte(n) im Medium der Literatur Alfrun Kliems Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa (Radka Denemarková, Reinhard Jirgl, Szczepan Twardoch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexandra Millner Gedächtnis, Schuld und Sühne. Zur weiblichen Auseinandersetzung mit deutsch-jüdisch-tschechischen Schicksalen nach 1938 in den Romanen von Radka Denemarková . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gertraude Zand Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen. Bohumila Grögerová und Friederike Mayröcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 185 201 215 251 273 293 313 Repräsentationen von Grenzen Milka Car Zur Darstellung von Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zdeněk Mareček Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne. Karl-Markus Gauß und Beppo Bayerl an der Grenze von Staaten und Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen in ‚Mikrokosmen‘ zentraleuropäischer Regionen Marijan Bobinac Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Polleroß Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Lyčka Ort - Unternehmen - Menschen. Die Geschichte der liechtensteinschen Tonwaren- und Ziegelfabrik in Unterthemenau/ Poštorná . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Trajektorien und Netzwerke Michaela Kuklová „Bei uns in Reichenberg.“ Autobiographien der deutschsprachigen Komiker Paul Hörbiger, Max Böhm und Fritz Eckhardt als Verhandlungsorte der Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Budňák Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker der Zwischenkriegszeit in lokalen und translokalen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aleš Urválek Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen. Europäische Memoiren von Richard Coudenhove-Kalergi und Karl Anton Rohan zwischen Österreich und der Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Im November/ Dezember 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag der Samtenen Revolution (Sametová revoluce) in der damaligen Tschechoslowakei. Die epochemachenden Ereignisse wurden damals nicht nur von politischen und diplomatischen Repräsentationen der Nachbarländer wahrgenommen und begrüßt, sondern sie brachten auch einen Wendepunkt in der Entwicklung der Grenzregionen mit sich. Der Eiserne Vorhang (Železná opona) fiel nicht nur als Sinnbild einer scheinbar unerschütterlichen Weltordnung, nicht nur als eine geopolitische Dominante, sondern auch als ein konkretes ‚Bauwerk‘, eine reale, vor kurzem noch unüberwindbare Trennlinie. Auch in dieser Sphäre der Begeg‐ nung, der unmittelbaren Kontaktzone wurde der Eiserne Vorhang überraschend schnell von Grenze und Nachbarschaft abgelöst. Ein konkretes Beispiel, eines von vielen, sei hier genannt: Bereits Ende November 1989 fanden die ersten Solida‐ ritätsveranstaltungen in der niederösterreichischen Grenzregion Drosendorf- Langau statt. Studentinnen und Studenten aus dem südmährischen Brünn/ Brno, aber auch Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft lernten zum ersten Mal nach Jahrzehnten ihre Nachbarn im österreichischen Waldviertel kennen. Im Rahmen der Waldviertelakademie wurde das Veranstaltungsformat Grenze und Nachbarschaft ins Leben gerufen. In zahlreichen Symposien kamen Wis‐ senschaftler_innen aus beiden Ländern zusammen, und es entstand ein breiter, grenzüberschreitender Austausch, der von Sprachkursen und Ausstellungen bis zu literarischen, sportlichen und filmischen Aktivitäten reichte. Die heute in beiden Ländern lebenden Generationen blicken auf diese Ereig‐ nisse bereits zurück wie auf eine Geschichte, die sie selbst nicht erlebt haben. Mit dem EU-Beitritt Österreichs und später auch Tschechiens (und der Slowakei) hat sich der Charakter von Grenze und Nachbarschaft weiter modifiziert und so kann mittlerweile zu Recht gefragt werden, ob sich die beiden Länder in den drei Jahrzehnten näher gekommen sind, wie ‚normal‘ unsere Beziehungen sind, welche Rolle dabei das europäische Projekt spielt und was uns heute trennt. Der Band Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa. Literatur, Kultur und Geschichte strebt eben einen solchen reflektierten Rückblick auf die genutzten, sowie die versäumten Möglichkeiten in dieser Nachbarschaft an. Der Tradition der einstmaligen Symposien Grenze und Nachbarschaft folgend, wurde vom 5. bis 7. Dezember 2019 aus Anlass des 30jährigen Jubiläums von 1989 ein transdisziplinäres, wissenschaftliches Symposion veranstaltet, das Grenze und Nachbarschaft in verschiedenen Bereichen (Literatur, Sprache, Kultur, Politik, Zeitgeschichte, Region) sowie Epochen und Perioden themati‐ sierte. Die historische Dimension, die über das kurze 20. Jahrhundert hinaus‐ greift, war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil an ihr deutlich wird, dass sich Phänomene wie Grenze, Nachbarschaft, Zugehörigkeit und Identität ändern. Die universitären Kooperationspartner der Veranstaltung waren die Univer‐ sität Wien (Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literatur‐ wissenschaft, Institut für Slawistik) und die Masaryk-Universität Brünn/ Brno (Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik), die lokalen Mitveran‐ stalter waren der Waldviertler Heimatbund, die Waldviertel-Akademie, die Stadtgemeinde Drosendorf-Zissersdorf, der Kulturverein KuKUK und der Film‐ club Drosendorf. Die Tagung wurde maßgeblich vom Land Niederösterreich unterstützt. Die Ergebnisse der Tagung werden im vorliegenden Band in fünf Blocks mit eigenen thematischen Schwerpunkten präsentiert. Dem ersten Block Grenze und Nachbarschaft, der vier Studien synthetisierenden Charakters enthält, steht der Beitrag Wolfgang Müller-Funks (Wien) „Zeitliche und räumliche Grenzli‐ nien. Zwei Essays zwischen Literatur und Geschichtsphilosophie“ voran. Der Verfasser nimmt das berühmte Wort Václav Havels vom „Leben in der Wahrheit“ zum Ausgangspunkt und untersucht die Parallelitäten zu dieser - erst recht angesichts totalitärer politischer Systeme - durchaus anspruchsvollen, subver‐ siven Existenzform in Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Jiří Grušas Buchessay Beneš als Österreicher. Der zweite Abschnitt des Beitrags Müller-Funks, der zweite Essay (Untertitel, im Folgenden UT), zieht den Schluss, dass im zentraleuropäischen Kontext „eine offene Gesellschaft auf Grund der Geschichte des Halbkontinents nur europäisch ausgestaltet werden [kann]. Das ist die eigentliche Botschaft einer Revolution, die eine Korrektur einer fehlgelaufenen Geschichte gewesen ist, aber noch nicht ein Projekt, das sich nicht zuletzt auch dadurch auszeichnen würde, dass seine transnationalen Akteure gelernt haben, angemessen mit Grenzen umzugehen.“ Der Umgang mit tschechisch-österreichischen Grenzen und Nachbarschaften in historischer Perspektive des ‚langen 20. Jahrhunderts‘ wird in den Beiträgen von Lukáš Fasora (Brünn) und Oliver Rathkolb (Wien) durch eine Reihe paradoxer Formu‐ lierungen ins Auge gefasst. Das nationale Zusammenleben von ‚Tschechen‘ und ‚Deutschen‘ in der späten Habsburger Monarchie wird von Fasora durch die Formel einer „erträglichen Unzufriedenheit“ charakterisiert, Rathkolb spricht wiederum im Hinblick auf die österreichisch-tschechoslowakischen Nachbar‐ schaft zwischen 1918 von „sensiblen Beziehungen“. In der Tat aber zeigen beide Beiträge, dass der „integrale Nationalismus“ (Fasora), d.h. ein nationales 8 Vorwort Identitätsangebot, das „alle anderen überlagerte“, eine historisch begrenzte Geltung sowie eine erhebliche Variabilität aufweist. Die österreichisch-tsche‐ choslowakische bzw. tschechische Nachbarschaft erscheint in diesem Lichte als ein Prozess, der voll von kon- und divergierenden Tendenzen, voll von Dis- und Kontinuitäten ist, die es konkret zu untersuchen gilt. Im letzten Beitrag des ersten Blocks über „Sprachliche und kulturelle Konvergenz in den linguis‐ tischen Arealen der ehemaligen Habsburgermonarchie“ (UT) werden von Stefan Michael Newerkla (Wien) die Ergebnisse einer breit angelegten Analyse von lin‐ guistisch-kulturellen Kontakträumen in der Habsburger Monarchie vorgelegt. Diese werden als ein „linguistisches Areal“ (van Gijn/ Muysken) betrachtet und zeichnen sich durch weitreichende sprachlich-kulturelle Konvergenzen in Lexik und Syntax, in Standard- und Substandardvariäteten des (österreichischen) Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Yiddisch, Ungarisch usf. aus. Die Menge der von Newerkla aufgezeichneten Konvergenzen ist schier unendlich; sie allein straft den teleologischen, oft rückwärtsgewandten Anspruch vieler nationalkultureller Narrative Lügen. Im zweiten Block folgen Analysen von zentraleuropäischer Geschichte bzw. zentraleuropäischen Geschichten im Medium der Literatur. Alfrun Kliems (Berlin) und Alexandra Millner (Wien) gehen von den Romanen Radka De‐ nemarkovás aus, um die hauting memory des Holocaust und des Krieges (Kliems) bzw. die Tabus der männlich dominierten Geschichte der totalitären Regimes in Zentraleuropa (Millner) anhand von literarischen Repräsentationen zu untersuchen. Kliems hält in den Werken von Denemarková, Jirgl und Twardoch mehrere literarische Figuren fest, die die Latenz transgeneratio‐ neller Traumata aufscheinen lassen: montierendes Schreiben, sprachkryptische Ausdrucksweisen („Nach-Auschwitz-Sprache“), posthumanes Erzählen. Dem‐ gegenüber konzentriert sich Millners Analyse von Denemarkovás Romanen stärker auf den tschechischen Kontext: Von den kollektiven Verdrängungen, die Denemarkovás Texte deutlich machen und aufbrechen wollen, beleuchtet Millner nicht ‚nur‘ die ‚nationalen‘ (z.B. die Vertreibung), sondern deutet diese auch als genderspezifische Gewalt und Verdrängung. Gerade in diesem Aspekt erblickt Millner mit Recht das größte subversive Potential der Autorin. Literatur bedeutet aber nicht nur subversives Schreiben, sondern stellt im günstigen Fall auch Beziehungen zwischen Menschen her. Für Friederike Mayröcker, die leider unlängst (4. Juni 2021) verstorben ist, und die tschechische Autorin und Übersetzerin Bohumila Grögerová, hat sich diese günstige Situation vor bzw. im ‚Prager Frühling‘ der 1960er Jahre ergeben. Ihre durch Literatur zustande gekommene und in Literatur festgehaltene Freundschaft wird zum Abschluss des zweiten thematischen Blocks von Gertraude Zand (Wien) rekonstruiert. 9 Vorwort Der dritte und vierte Block des Bandes befassen sich mit Repräsentationen von Grenzen bzw. mit deren realer historischer Erscheinungsform in ‚Mikro‐ kosmen‘ einiger zentraleuropäischer Regionen. Milka Car (Zagreb) arbeitet die ausweglose, schließlich ins Groteske umstülpende Grenzlage eines zentraleu‐ ropäischen Intellektuellen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken (Veliki meštar sviju hulja) aus, dessen Grenzerfahrung in den Kontext einer nicht realisierbaren gesellschaftlichen Wandlung eingesetzt und mit dieser konfrontiert wird. Zdeněk Mareček (Brünn) befasst sich in seinem Beitrag mit zwei literarisch-essayistischen ‚Grenzgängen‘: Karl-Markus Gauß‘ Texten zum Thema Grenze und Peripherie, insbesondere der Anthologie Buch der Ränder, deren Vorwort und Konzept, und der Brünner Essay Der Regen von Brünn, und Beppo Beyerls literarisiertem Wanderbericht Achtung Staatsgrenze. Auf den Spuren des Eisernen Vorhangs. Bei beiden Autoren diagnostiziert Mareček eine Korrelation zwischen dem sozialkritischen Ansatz und dem ‚Unterwegssein‘ an der Grenze und in Grenzregionen, dem Interesse für Grenz- und Randlagen; er führt allerdings auch vor, wie schwierig es ist, die eigene Optik, die bei beiden Autoren und den Protagonisten ihrer Texte von der einen Seite der Grenze kommt, offen zu halten. Bewegungen entlang der Grenze, aber auch über sie hinaus werden auch in den als regionale case studies angelegten Beiträge im vierten Block des Bandes fokussiert. In allen drei Fällen wird die jeweilige spezifische Interkulturalität der jeweiligen Region bzw. deren Wandlungen und Paradoxien ins Zentrum der Betrachtung gestellt. Marijan Bobinac (Zagreb) führt die kulturelle und sprachliche Vielfalt einer Region am Beispiel der Stadt Rijeka/ Fiume vor, Friedrich Polleroß (Wien) geht den Migrationswellen und Kontakten, die in beiden Richtungen über die Grenze verlaufen, von Waldviertler und südmährischen Juden im 17. bis 20. Jahrhundert nach, und Daniel Lyčka (Brünn) rekonstruiert schließlich die wahrhaft zentraleuropäische Geschichte der liechtensteinischen Tonwarenfabrik im südmährischen Unter‐ themenau/ Poštorná, die im industriellen Milieu alle Wendungen der bewegten Geschichte Österreich-Ungarns und der Tschechoslowakei von der geographi‐ schen Grenz- und Randlage her mitgemacht hat. Im letzten Block des Bandes werden schließlich drei Beiträge versammelt, die Laufbahnen und Trajektorien international und oft auch mehrsprachig agierender Intellektueller und kultureller Persönlichkeiten nachzeichnen, in denen Beispiele für verschiedene intellektuelle und künstlerische Netzwerke der Zwischenkriegszeit erblickt werden können. Michaela Kuklová (Wien) rekonstruiert anhand von Schauspielerautobiographien deren internationalen Trajektorien zwischen Zentrum und Provinz, die bis zum Zweiten Weltkrieg in der Regel so verliefen, als dass sie auf einen Staat oder eine Sprache begrenzt 10 Vorwort wären. Jan Budňák (Brünn) und Aleš Urválek (Brünn) gehen schließlich den Laufbahnen zentralbzw. gesamteuropäisch wirkender Intellektueller nach, die einmal im linken, einmal im geistesaristokratischen Segment eher rechter Prägung des politisch-intellektuellen Spektrums angesiedelt sind: an Beispielen von Theodor Hartwig und den internationalen proletarischen Freidenkern bzw. von den Europäischen bzw. Paneuropäischen Bewegungen, gruppiert um Karl Anton Rohan bzw. Richard Coudenhove Kalergi, wird nochmal deutlich, wie stark grenzübergreifend Ideen und Impulse zirkulieren und produktiv umgesetzt werden können, solange die Nachbarschaft gefördert und nicht, wie bis 1989, durch eiserne Vorhänge gehindert wird. Wolfgang Müller-Funk, Jan Budňák, Tomáš Pospíšil, Aleš Urválek Brno und Wien, Mai 2022 11 Vorwort Grenze und Nachbarschaft Zeitliche und räumliche Grenzlinien Zwei Essays zwischen Literatur und Geschichtsphilosophie Wolfgang Müller-Funk Abstract In the first part of the paper, three texts by Czech authors are used as “com‐ passes” for orientation in the country’s literary landscape: Milan Kundera’s novel Nesnesitelná lehkost bytí (1984, The Unbearable Lightness of Being), Václav Havel’s essay Moc bezmocných (1978, The Power of the Powerless) and Jiří Gruša’s book essay Beneš jako Rakušan (2011, Beneš as an Austrian). In Havel’s essay, the moral claim to live in truth is asserted and made the basis of a protest that wants to tear off the mask of a mendacious and repressive system. In Kundera’s work, “living in truth” is based on an aesthetic focus and does not give rise to a political project, but rather a longing for existential honesty against oneself, which of course ultimately brings an ethical maxim of life into play. In Gruša’s essay, the nationalistic state of mind, the sacro egoismo, stands in the way of the categorical imperative to live in truth, not only in case of Beneš himself, but for the entire community. The second part of the article describes the European prehistory of ‘velvet revolutions’ of 1989 in Central Europe and points to the obstacles that threaten the consequences of this democratic development through divi‐ sive nationalisms. The history of the continent teaches us that an open society can only be shaped in a European way. This is the real message of a revolution that has been a correction of a history gone wrong, but not yet a project that would too be characterised by the fact that its transnational actors have learned to deal with borders accordingly. This skill is, however, crucial for the possibility of mutual respect and openness. Keywords essayism, Central Europe, 1989, borders, nationalism, Milan Kundera, Václav Havel, Jiří Gruša In der Wahrheit leben: Václav Havel, Jiří Gruša, Milan Kundera. Drei Lektüren Der Verfasser dieses Aufsatzes nimmt für diesen Beitrag drei Texte zur Hand, wieder zur Hand. Das Wunderbare an einem Leben mit Literatur besteht nicht zuletzt darin, Bücher wiederholt in die Hand zu nehmen. In der Wiederholung tritt eine spezifische Differenz zutage, wie uns eine wiederholte Lektüre zen‐ traler Schriften von Jacques Derrida nahelegt. Man kann die erwähnten Texte zum Beispiel als jemand in die Hand nehmen, der berufsmäßig literarische Texte liest, oder als ein Intellektueller, der sich durch das Medium des Literarischen über Außerliterarisches verständigt und schließlich als Kulturwissenschaftler, der diese Texte auch als Formate studiert, die zu klären helfen, wo wir uns gegenwärtig historisch und kulturell befinden. Ein literarischer oder auch ein essayistischer Text lässt sich wie ein Kom‐ pass verwenden, der einem hilft, sich in der Landschaft einer bestimmten Gesellschaft, einer konkreten Kultur zu orientieren. Dabei wurden drei Texte ausgewählt, die aufgrund ihrer Verschiedenheit ein differenziertes Bild des nördlichen Nachbarlandes ergeben, das seit 1918 Tschechoslowakei und seit 1994 Tschechien heißt. Beginnen wir mit dem berühmtesten, jenem von Milan Kundera, bei dem manche seiner Landsleute längst bezweifeln, dass er noch ein Tscheche sei, weil er seit Jahrzehnten in Frankreich lebt und seit geraumer Zeit auf Französisch und nicht mehr auf Tschechisch schreibt, was ihm bekanntlich den Argwohn nationalistischer Kreise in unserem nördlichen Nachbarland eingetragen hat. Exilanten sind nur selten beliebt bei den Zuhause-Gebliebenen, denen der Vorwurf der Fahnenflucht leicht über die Lippen geht. Nesnesitelná lehkost bytí (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins) erschien im Westen und so auch in Deutschland im Jahr 1984, zu einem Zeitpunkt, als niemand davon ausgehen konnte, dass in fünf Jahren der absurd reale Sozialismus zu Ende sein würde. Der Roman des Autors, der sich eine Zeit lang federführend an der Diskussion über Mitteleuropa beteiligt hatte, lässt sich aus heutiger Sicht als ein Schluss-Strich unter das Kapitel Sozialismus, als ein unwiderruflicher Abschied von diesem, lesen. Sein epochaler Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wurde vom Verfasser dieser Zeilen mehrmals gelesen und oft in der Hand gehalten. Kundera ist ein Autor, der polarisiert, entweder man mag ihn oder man lehnt ihn ab - vielleicht und gerade wegen der Leichtigkeit, zu der der Roman, ein zwiespältiges Verhältnis unterhält. 16 Wolfgang Müller-Funk Der Prager Frühling von 1968 bildet die gar nicht so heimliche zentrale narrative Achse dieses Romans, das Schlüsselereignis, um das das Geschehen kreist. Es sind insgesamt vier Protagonistinnen und Protagonisten, die dabei ins literarische Spiel kommen, die bildende Künstlerin Sabina, der angesehene Chirurg Tomas, seine Geliebte und Frau Teresa, eine Photographin, und ein österreichisch-französischer Arzt namens Franz, die einzige Figur außerhalb des tschechischen Kosmos. Er repräsentiert aus dem tschechischen Blickwinkel seiner zeitweiligen Geliebten Sabina das Andere des östlich-post-stalinistischen Europas. Sabina, die zuvor auch eine der vielen Geliebten von Tomas gewesen ist, funktioniert im Roman wie letzterer als Fokalisator-Figur, die über weite Strecken mit Perspektiven der Erzählinstanz koinzidiert. Von den vier Hauptfi‐ guren werden verschiedene Perspektiven auf das politische und zugleich private Geschehen entworfen. Der Titel trägt ein verstecktes Narrativ in sich, das bis heute wirksam ist. Denn eine merkwürdige Reaktionsform auf das symbolische Ende des Sozialismus und der Energien und utopischen Kräfte, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfachte, ist in diesem musikalisch komponierten Werk die angesprochene Leichtigkeit. Sie bildet gleichsam das Leitmotiv, dem alle Per‐ sonen unterworfen sind - manche wehren sich gegen diese und manche surfen in dieser neuen Zeitströmung. Sabina, die als weibliche Gegenfigur zu Tomas, als skeptisches alter ego zu ihm, fungiert, ist dadurch charakterisiert, dass sie mit der Emigration in die Schweiz, nach Frankreich und schließlich nach Amerika all den ideologischen und dramatischen Ballast abwirft. Sie ist aufgeklärt über jene Form von Aufklärung, die sich historisch mit dem Sozialismus verabschiedet. Für Tomas hingegen, der nach einem kurzen Intermezzo im Schweizer Exil nach Prag zurückkehrt, weicht durch den Eintritt der ernsten Teresa in sein Leben und auch mit den russischen Panzern anno 1968 die Leichtigkeit einer Schwere, die stärker wiegt als russische Panzer. Die Pointe von Kunderas skeptischem Befund besteht darin, dass sowohl die Leichtigkeit als auch die Schwere letztendlich unerträglich sind. Was unerträglich an der geschichtlichen Situation ist, das ist nicht zuletzt jene Leere, die das in diesem Milieu antizipierte Ende der großen Erzählung des Sozialismus hinterlässt. Desillusionierung macht nicht glücklich und sie führt bei Kundera nicht zu einem zweiten politischen Leben nach dem Kommunismus. Das ist die Bürde, die jene Figuren, die im Roman keinen Platz haben, die Chartisten von 1977 und dann von 1989, ganz unfreiwillig und wohl auch übersehen, mit sich schleppen. Sie machen Geschichte nach dem Ende der Geschichte im pathetischen Sinn jener Moderne, für die es mehrere zeitliche Anfänge gibt. Régis Debray hat einen auf das Jahr 1348, als Petrarca in 17 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 1 Vgl. DEBRAY 2020: 7. Für die hier einschlägigen Passagen vgl. PETRARCA 1995: 5-9. Für Debray ist das Gegendatum zu 1348 übrigens das Jahr 1969, als mit Neil Armstrong der erste Mensch den Fuß auf den Mond setzte. 2 ULS: 7. Die Sigle ULS bezieht sich auf folgende Ausgabe: KUNDERA, Milan (1984): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. München: Carl Hanser. 3 Ein vergleichbarer Roman aus dem ungarischen Kontext und mit ganz ähnlichen Motiven ist: ESTERHÁZY, Peter (1982): Ki szavatol a lady biztonságáért? . Budapest. Deutsch (1986): Wer haftet für die Sicherheit der Lady? Salzburg: Residenz. einem sinnbildlichen Akt den Mont Ventoux bestieg, datiert. 1 Als ganz andere, aber konstitutive Anfangsdaten scheinen 1789 und 1917 gleich zu Beginn des Romans, im essayistischen Vorspiel auf, wenn die von Nietzsche reaktivierte Figur der Wiederkehr des Gleichen das große lineare Narrativ vom Fortschritt, vom Langen Marsch Maos durchkreuzt: Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robespierre, der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robespierre, der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken. 2 Was der Roman plastisch vorführt, ist die paradoxerweise ebenfalls große, postmoderne Erzählung vom Ende der großen Erzählungen, die in dem intel‐ lektuellen Milieu, das Sabina und Tomas repräsentieren, schon vor 1968 zutage tritt. Dieses sozialistische, so bürgerliche wie antibürgerliche Milieu ist dadurch charakterisiert, dass es die fehlende Freiheit durch freizügige Lebensformen ersetzt. 3 Tomas ist ein Don Juan, der damit prahlt, 200 Frauen sexuell ‚besessen‘ zu haben, weniger aus Lust, sondern vielmehr aus der Getriebenheit der Neu‐ gierde für den kleinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Sabina, die nackt und nur mit Melone am Kopf vor ihren Liebhabern posiert, ist sein Pendant. Am Ende trennen sich ihre Wege, ihre Positionen treten auseinander. Sabina wird eine erfolgreiche Künstlerin im gelobten Westen, in US-Amerika, die ihre Heimat vergessen will, während Tomas in der Normalizace seinen Beruf verliert und sein betriebsames Liebesleben in seinem neuen Beruf als Fensterputzer fortsetzt. Am Ende kommen Teresa und er durch einen absurden und sinnlosen Zusammenprall mit einem Lastwagen ums Leben. Versuch in der Wahrheit zu leben lautet der deutsche Titel des zweiten Textes. Er stammt von Kunderas Antipoden Václav Havel, ein wichtiger programmati‐ scher Essay aus dem Jahre 1978, der die intellektuelle Befindlichkeit zwischen Charta 77 und der Samtenen Revolution freilegt. Der tschechische Buchtitel lautet etwas anders, nämlich Moc bezmocných, (Die Macht der Machtlosen). Der Zusammenhang zwischen den beiden Titeln ist indes evident. Denn die Macht der machtlosen Dissidenten gründet sich auf deren moralischem Anspruch, 18 Wolfgang Müller-Funk 4 WL, §3, S. 14. Die Sigle WL bezieht sich auf folgende Ausgabe: HAVEL, Václav (1978): Versuch in der Wahrheit zu leben. Reinbek: Rowohlt. 5 WL § 3, S. 14f. 6 WL § 3, S. 15. in der Wahrheit zu leben. Moc bezmocných ist eine ethische Kritik an der Zerstörung des privaten und des politischen Lebens. Obgleich niemand mehr an die schwülstigen Formeln des staatlich verordneten ‚Marxismus‘ glaubt, läuft das Programm dieser absurd gewordenen und deshalb verlogenen Erzählung wie eine Endlosschleife weiter. Die poststalinistische Gesellschaft verkörpert das Leben in der Unwahrheit. Sie ist eine in jeder Hinsicht kleine, aber hinter‐ hältige Erzählung. In den Körpern ihrer Mitglieder ist diese Falschheit zutiefst verankert, in den Verhaltensweisen, im Denken und in den Gefühlen. Havel macht seine Sicht der Dinge an einem Tableau plastisch, das auch von Roland Barthes stammen könnte. Der Leiter eines Gemüseladens platziert im Schaufenster seines Geschäftes zwischen Zwiebeln und Karotten das Spruch‐ band „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “ 4 In einer semiotischen Analyse, die ein wenig an Roland Barthes’ semiotische Methode in den Mythologies erinnert, legt Havel den Hinter-Sinn dieser Manifestation des Gemüsehändlers frei. Gewiss, dem Gemüsehändler ist dieser Spruch völlig gleichgültig, aber er hat eine Meta-Bedeutung, die Havel freilegt: Die Parole hat die Funktion eines Zeichens. Als solches enthält sie eine zwar versteckte, aber ganz bestimmte Mitteilung. Verbal könnte man sie etwa so formulieren: Ich, der Gemüsehändler XY, bin hier und weiß, was ich zu tun habe, ich benehme mich so, wie man es von mir erwartet; auf mich ist Verlaß, und man kann mir nichts vorwerfen; ich bin gehorsam und habe deshalb das Recht auf ein ruhiges Leben. Diese Mitteilung hat selbstverständlich einen Adressaten. Sie ist ‚nach oben‘ gerichtet, an die Vorgesetzten des Gemüsehändlers und ist zugleich ein Schild, hinter dem sich der Gemüsehändler vor eventuellen Denunzianten versteckt. 5 Dieser wahre Sachverhalt, den auszusprechen subversiv wäre („Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos gehorsam“), muss versteckt werden. Das Plakat ist ein „Schleier, mit dem der Mensch seinen ‚Existenzverfall‘, seine Verflachung und seine Anpassung an die Lage verschleiern kann.“ 6 Denn sie würde die Bedeu‐ tung des Plakats im gegebenen gesellschaftlichen Kontext einer posttotalitären Gesellschaft als politischen Kitsch, als Mythologie des ‚realen Sozialismus‘ oder als Ideologie entlarven, als eine Ideologie, an die freilich die Mehrheit der Men‐ schen schon anno 1978 nicht mehr glauben. Es ist im Nachhinein erstaunlich, dass Havel von der intakten ideologischen Macht des posttotalitären Systems eigentlich überzeugt ist, welches das Maß des Menschlichen so unerträglich 19 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 7 ULS: 239. 8 KUNDERA 1990: 152. herabsenkt und beschädigt. Totalitäre Systeme haben es in sich, dass sie alle zu Mittätern machen und sich in den Köpfen und Leibern der ihnen unterworfenen Menschen einnisten. Die Unterschiede zwischen Kundera und Havel sind gewaltig, zwischen dem Tableau mit dem Gemüsehändler und, wie wir noch sehen werden, Sabinas Abgestoßen-Sein von den nämlichen Parolen am Ersten Mai besteht indes ein überraschender Zusammenhang. In Havels Essay wird gegenüber dem Leben im Falschen der moralische Anspruch, in der Wahrheit zu leben, und damit anders zu leben als die vielen Gemüsehändler, geltend und zur Basis eines Protestes gemacht, der einem verlogenen und repressiven System die Maske herunterreißen will und in dem der moralische Einspruch gegenüber der Gesellschaftskritik ins Zentrum rückt. Kunderas Befund des politischen Kitsches ist sehr viel vorsichtiger, er basiert auf einem ästhetischen Fokus und es entsteht aus ihm kein politisches Projekt, sondern die Sehnsucht nach existentieller Aufrichtigkeit gegen sich selbst, womit freilich am Ende doch eine ethische Lebensmaxime ins Spiel kommt. Was bei Kundera subversiv sein mag, ist, dass seine zumeist in Kunst und Bohème angesiedelten Figuren auf ihrem Eigenleben beharren. Kitsch und Ideologie gibt es nicht nur in dem absurden Sozialismus der verlassenen Heimat, sondern auch in der schönen neuen Welt des Westens, wie Sabina in den USA erfährt, wenn sie einen hochrangigen Politiker bei Wahlveranstaltungen begleitet, der andauernd irgendwelche Kindergesichter küsst. Diese Situation ruft ihre Erinnerungen an den realen Sozialismus wach: Auf seinem Gesicht lag nämlich genau dasselbe Lächeln, das kommunistische Staats‐ männer von ihrer Tribüne herab auf die Bürger richten, die im Umzug vorbeiziehen und ebenfalls lächeln. 7 Kunderas Roman hält in seiner Suche nach der Wahrheit des Lebens die Option zwischen Leichtigkeit und Schwere in einer raffinierten Balance. Die Wahrheit des Essayisten ist nicht zuletzt Redlichkeit gegenüber sich selbst und auch deshalb entgehen seiner Protagonistin Sabina weder die Tartüfferien der liberalen Demokratie noch der große Schwindel des Konsumismus, die Gegenstand späterer Romane Kunderas sind. In dem 1990 erschienenen Roman Die Unsterblichkeit (Nesmrtelnost) wird das „Zeitalter der Tragödie“ durch die „Revolte der Frivolität“ beendet, in der ein neues Parfum mit Trakten aus Beethovens Neunter vermischt wird. 8 20 Wolfgang Müller-Funk 9 ULS: 109. Die falsche Totalität des realen Sozialismus bedeutet im Gegensatz zur west‐ lichen Frivolität indes die Zerstörung aller positiven humanen Möglichkeiten und Ressourcen. Um diese Zurichtung der Menschen durch ein totalitäres System dreht sich Havels Essay, in dem im Gegensatz zu Kundera die Hoffnung anklingt, es könnte einen gesellschaftlichen Zustand nach dem Kommunismus geben, in dem ein Leben in der Wahrheit möglich ist, jenseits der falschen ideologischen Schwere und der problematischen Leichtigkeit eines Lebens, das in seiner Struktur eskapistisch ist wie jenes von Sabina und auch jenes von Tomas, bevor er Teresa trifft, die Frau, das Findelkind, das zu ihm gekommen ist wie das kleine Moses-Kind, ein Vorläufer Jesu, zur Tochter des Pharao. Festzuhalten bleibt, dass bei beiden Autoren die Formel, in der Wahrheit zu leben, eine ganz zentrale Rolle spielt. Sie führt bei Havel nicht bloß, ganz in der Tradition des Essayismus, zur Sehnsucht nach Redlichkeit, sondern zu einem neuen politischen Projekt einer menschenrechtlich liberalen Gesellschaft, die alle Formen von Autoritarismus und Nationalismus hinter sich lässt. Kundera nimmt etwa im ersten Drittel des Romans Kurs auf diese Formel und benennt auch jenen Prager Autor, der sie, übrigens nach Novalis, in Umlauf gebracht hat: Das ist auch eine Formulierung, die Kafka in seinem Tagebuch oder in einem Brief verwendet hat. Franz kann sich nicht mehr genau erinnern, wo. Die Formulierung hat ihn gefangengenommen. Was heißt das, in der Wahrheit leben? Eine negative Definition ist einfach, es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu verstecken, nichts zu verheimlichen. Seit Franz Sabina kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt seiner Frau von einem Kongreß in Amsterdam, der nie stattgefunden, von Vorlesungen in Madrid, die er nie gehalten hat, und er hat Angst, mit Sabina in den Straßen von Genf spazierenzugehen. Es amüsiert ihn zu lügen und sich zu verstecken, denn er hat es sonst nie getan. 9 Franz, der den gleichen Vornamen trägt wie der berühmte Prager Autor deut‐ scher Zunge, beschließt diesem unwahren Leben ein Ende zu bereiten und seiner Frau die Wahrheit zu sagen, um sodann ein ‚wahres‘ Leben mit Sabina zu beginnen. Aber dazu kommt es nicht. In einer ironischen Volte verlässt ihn die bislang heimliche Geliebte. Denn für die antibürgerliche Sabina wiederum wäre ein Leben im bürgerlichen Hafen der Ehe kein Leben in der Wahrheit. Während sie den Geliebten leidenschaftlich umfängt, hat sie für sich beschlossen, den Mann zu verlassen, um ein Leben in ihrer Wahrheit fortzuführen. 21 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 10 Vgl. ebd.: 168-193. 11 Ebd.: 238. 12 Ebd.: 238-239. Auch Tomas kommt der Imperativ, in der Wahrheit zu leben, gleichsam in die Quere. Aus dem kurzen Exil aus Zürich zurückgekehrt, sieht er sich mit der Forderung konfrontiert, einen kritischen Essay, den er seinerzeit geschrieben hat, zu widerrufen, andernfalls würde er seine privilegierte Stelle als Chirurg verlieren. Zunächst gibt er sich nachgiebig, zumal ihm der aus der Zeit gefallene, völlig inaktuell gewordene Text gleichgültig geworden ist. Als es aber darum geht, sich öffentlich zum Regime der Normalizace zu bekennen, verweigert er die von ihm abverlangte Reue- und Loyalitätsbekundung und beschließt, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Fortan bestreitet der Akademiker und Schrift‐ steller sein Leben als Hilfsarbeiter - das war eine jener perfiden Strafen, die sich das totalitäre Regime für jene Intellektuellen ausgedacht hatte, die es immer schon gehasst hatte. Dessen Charakter kommt auch in den Verhörmethoden zum Tragen, die strukturell noch immer dem stalinistischen Kalkül folgen, dass der Verhörte seinem Peiniger recht geben soll. 10 In Kunderas Roman gibt es noch eine weitere Variation zum Thema des ‚wahren‘ Lebens. Und das ist der Kitsch, der im Gefolge von Hermann Brochs Überlegungen zu diesem Thema - für Kundera ist Broch ein großes Vorbild - als eine besonders prekäre Form von Unwahrheit angesehen wird. Im Unterschied zu Broch, der den Kitsch als ethischen Skandal angeprangert hat, ist für Kunderas Protagonistin der Kitsch ein zunächst ästhetisches Phänomen: Sabinas erste innere Auflehnung gegen den Kommunismus war nicht ethischer, son‐ dern ästhetischer Natur. Was sie als abstoßend empfand, war weniger die Häßlichkeit der kommunistischen Welt (die in Kuhställe umgewandelten Schlösser), als die Maske der Schönheit, die sie sich aufgesetzt hatte, anders gesagt, der kommunistische Kitsch. Das Modell für diesen Kitsch ist die Feier des Ersten Mai. 11 Die Unwahrheit des Kommunismus wird an dieser Stelle existentialistisch gewendet, nämlich als falsche Affirmation des Gegebenen: Die Feier des Ersten Mai wurde aus dem tiefen Brunnen des kategorischen Einver‐ ständnisses mit dem Sein getränkt. Die ungeschriebene, unausgesprochene Parole des Umzugs lautete nicht ‚Es lebe der Kommunismus! ‘, sondern ‚Es lebe das Leben! ‘ Die Stärke und die List kommunistischer Politik lagen darin, sich diese Politik zu eigen gemacht zu haben. 12 Kitsch, das wäre dieser Lesart zufolge die falsche Beschwörung des Positiven, die Ausklammerung der dunklen Seiten des Seins, der buchstäblichen wie 22 Wolfgang Müller-Funk 13 Ebd.: 246. der metaphorischen Scheiße, die das Leben mit sich bringt. Der Kitsch hat viele Seiten, es gibt ihn kommunistisch wie faschistisch, aber auch in der Propaganda demokratischer Parteien vor allem aber auch in der Religion. Der Kitsch ist integraler Bestandteil des Seins, seine Stärke liegt darin, dass er das unerträgliche Moment des Seins mildert bzw. kompensiert. Der Gauchist Franz, der zeitweilige Geliebte jener Frau, die den Kitsch durchschauen will, um in ihrer Wahrheit leben zu können, ist, wie es heißt, kein übermäßig kitschiger oder sentimentaler Mensch, aber seine intellektuelle Befindlichkeit ist wie im Falle vieler westlicher linker Intellektueller in den späten 1970er oder frühen 1980er Jahren noch immer von einem kitschigen linken Narrativ getragen, das in Kunderas Roman einigermaßen gründlich verabschiedet wird: Die Vorstellung des Langen Marsches, von der sich Franz berauschen läßt, ist der politische Kitsch, der die Linken aller Zeiten und aller Richtungen vereinigt. Der Lange Marsch, das ist der großartige Weg vorwärts, der Weg zur Brüderlichkeit, zur Gleichheit, zur Gerechtigkeit, zum Glück und noch weiter über alle Hindernisse hinweg, denn Hindernisse muß es geben, damit der Marsch ein Langer Marsch ist. 13 Ironisch und bis heute unsichtbar ist die nur auf den ersten Blick absurde Situation, dass diese Erzählung im westlichen Teil Europas noch immer zum kul‐ turellen Archiv von Erzählungen zu gehören scheint, während sie im östlichen Teil des Halbkontinents jegliche legitimatorische Kraft eingebüßt hat. Darin besteht die politische Bedeutung von Kunderas Roman, dass er das Ende des So‐ zialismus im Medium der Literatur antizipiert und die Tiefenstrukturen, die ihm zugrundelagen, freigelegt hat. Längst haben sich die einstigen Kommunisten in stramme Nationalisten verwandelt. Denn auch die alten wie neuen nationalen und nationalistischen Rituale und Gesten sind Kitsch im Sinne Kunderas und Brochs, auch wenn der tschechische Romancier diesen nationalistischen Kitsch nicht ins Blickfeld gerückt hat, weil wohl kaum einer mit der Wiederkehr des Nationalismus gerechnet hat. Apropos Wiederkehr: Das skeptische Denken im Roman schließt eine solche Wiederkehr nicht aus. Ganz im Gegenteil, wie der Anfang des Romans unmissverständlich deutlich macht. Dieses Narrativ ist schrecklich und deprimierend, aber zugleich ein Korrektiv zum linken Kitsch des Langen Marsches, einer Erzählung, die noch dem schlimmsten Ereignis eine positive Wendung geben kann, als ein Umweg auf dem Langen Marsch in die Zukunft. 23 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 14 Tschechisch: GRUŠA 2011. Deutsch: GRUŠA 2012. 15 GRUŠA 2011, S. 24. Deutsch: GRUŠA 2012, S. 31. Die Formel, in der Wahrheit zu leben, lässt sich auf das dritte hier zu diskutierende Werk beziehen, Jiří Grušas streitbaren Essay Beneš jako Rakušan, Beneš als Österreicher. Pikant an diesem Helden vieler Tschechen ist, dass er, wie sein kritischer Porträtist vermerkt, amtlich als Eduard geboren worden ist. 14 Mit ein wenig Zufall hätte aus ihm auch ein Deutschnationalist werden können, ein Nationalist für bzw. auf alle Fälle. Der psychohistorisch konturierte Text geht weit darüber hinaus, ein nationales Monument seines Landes zu stürzen, das Denkmal eines durch und durch nationalistischen Politikers, der nicht nur der Architekt des Odsun, der gewaltsamen Vertreibung von Millionen von Menschen, sondern auch der Kopilot jenes totalitären Systems war, unter dem die Tschechoslowakei mehr als vier Jahrzehnte zu leben hatte. Dass der Mit- und Gegenspieler Masaryks noch immer im Pantheon der Nation steht, ist für den streitbaren Landsmann Symptom eines ungebrochenen Nationalismus, der im Kühlschrank der kalten kommunistischen Kultur erhalten wurde. Das Unwahre an dieser Erzählung, die Beneš noch immer als einen vorbildlichen Staatsmann preist, ist, dass sie am Selbstbild des unschuldigen Opfers festhält und jedes Eingeständnis von Täterschaft leugnet. Viel wichtiger ist aber vielleicht, dass sie die Abgründe des Nationalismus, des eigenen wie des fremden, unterschlägt. Zum Kitsch des Nationalismus gehört jenes lichtumflorte Selbstbild des Kollektivs, das Kunderas Figur Sabina im Roman anprangert. An diesem Punkt haben die nationalen Aufmärsche mit dem linken Kitsch des Ersten Mai sehr viel zu tun. Aber es geht bei dem provokanten Essay, der Beneš als Geistesverwandten und kulturellen Nachbarn von Hitler vorführt („der gescheiterte Student in Linz als auch der Streber aus Südwestböhmen“ 15 , nicht nur um die sogenannte kritische Aufarbeitung der jeweils eigenen Vergangenheit, sondern auch darum, dass mit der nationalistischen Sturheit etwas ins Spiel kommt, was einem redlichen und freundschaftlichen nachbarschaftlichen Umgang oder anders formuliert dem transnationalen europäischen Gedanken im Wege steht. Die nationalistische Befindlichkeit, der sacro egoismo, das Ich zuerst steht dem lebensphilosophischen kategorischen Imperativ, in der Wahrheit zu leben, unübersehbar, unüberhörbar im Weg. Und so schließt sich vielleicht der Kreis der Lektüre. Der post-kommunisti‐ sche Nationalismus, der scheinbar unerwartet aus den Untiefen der Archive aufgetaucht ist, lässt sich auch als ein Kompensat für jene Leere begreifen, die der reale Sozialismus schon zu seinen Lebzeiten hervorgebracht hat. Insofern 24 Wolfgang Müller-Funk 16 Bei diesem Textteil handelt es sich um eine wissenschaftlich überarbeitete und erweiterte Version eines Aufsatzes, der in der Wochenendbeilage Album der Wiener Tageszeitung Der Standard am 21. 9. 2019 erschienen ist: MÜLLER-FUNK 2019. 17 NEGT 1976: 466. ist, wenn man die Texte der drei tschechischen Autoren übereinanderlegt, der Nationalismus des Ostens die Antwort auf jene unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die Kundera so unnachahmlich ausgelotet hat. Als Neubewohner in Frankreich hat er diese unerträgliche Leere auf andere Weise kennengelernt, etwa in der Welt von Konsum und Mode, wenn das neue Parfüm mit der Musik Beethovens angepriesen wird. Auch wenn der Nationalismus unserer Tage nicht mehr jenes schwere Gewicht besitzt wie noch zu Zeiten Beneš´ und seines Widersachers, so verspricht er neben Sicherheit auch einen Ernst, der in der Welt nach der Erzählung vom Langen Marsch abhandengekommen ist. Das Ende des realen Sozialismus und das neue Europa. Besichtigung der Jahre 1968 und 1989 und Lektüren 16 Der Prager Frühling 1968, der für die heutigen jungen Tschechinnen und Tschechen ein fernes und verschwommenes, eigentlich unbekanntes Ereignis ist, das mehr an eine alljährliche Gartenschau als an eine historische Wegmarke in der Geschichte ihres Landes erinnert, ist das verdeckte, vergessene und verdrängte Datum in der Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts. Es ist zweifach verschattet, von Paris 68 und von der Sametová revoluce, der Samtenen Revolu‐ tion im November 1989. Eine Erinnerungsspur führt zurück an eine Straßenecke im Frühjahr 1968, an der ein ganz junger politisierter Mensch (der Autor dieses Textes) mit zwei anderen über die Hoffnungen eines demokratischen Sozialismus sprach als des unmöglichen Dritten zwischen den damaligen Frontlinien des Kalten Krieges. Jahre später schrieb Oskar Negt, seit 1968 eine Leitfigur eines libertären Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland: Bloch hat gegen die Lukács‘sche Feststellung, der schlechteste Sozialismus sei immer noch besser als der beste Kapitalismus, mit Recht eingewandt, daß der schlechteste Sozialismus eben kein Sozialismus sei - durch ihn würden nämlich die Idee der sozialistischen Demokratie und ihre Moral politisch insgesamt korrumpiert. 17 Was die Neue Linke in Westeuropa von den Reformern im östlichen Teil des Halbkontinents trennte, war ganz offenkundig die Reihenfolge. Der Titel von Negts Aufsatzsammlung (Keine Demokratie ohne Sozialismus) suggeriert, dass Demokratie ohne Sozialismus leer und unbefriedigend bleiben muss, 25 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 18 HAVEL 1978: 16. während der Prager Frühling doch ganz offenkundig unter der Prämisse stand, gegen einen Sozialismus aufzustehen, der ganz offensichtlich ohne Demokratie auskam. In diesem Spalt, der sich zwischen beiden Parolen auftut - keine Demokratie ohne Sozialismus/ kein Sozialismus ohne Demokratie - ist offen geblieben, ob Sozialismus und Demokratie überhaupt kompatibel sind und wenn schon, dann auf welche Weise. Das ist bis heute eine eher verdrängte Frage geblieben, die aber im Hinblick auf mögliche postkapitalistische Zukünfte ganz erheblich ist. Im Sinn einer alternativen Weltgeschichte sei es gestattet, sich zu überlegen, was geschehen wäre, wenn damals in Moskau statt Breschnew ein Politiker von Typ Gorbatschow regiert hätte und der Prager Frühling sein Reformprojekt hätte ungehindert realisieren können. Die Welt - und vor allem Europa - würde heute anders aussehen. Die Transformation der Wirtschaft war von den damaligen Reformern, überwiegend gemäßigten Linken, viel behutsamer ins Auge gefasst geworden als in den Jahren nach 1989. Der ökonomische Abstand beispielsweise zwischen Österreich und seinem nördlichen Nachbarn war seinerzeit unerheblich. Stattdessen lebten Österreichs nördliche Nachbarn noch eine weitere Ge‐ neration in einem Regime, das Kafkas Welt mit einer abstoßenden Version eines geistig eingerosteten Marxismus-Leninismus verband. Von Dissidenten abgesehen, hat er kaum etwas zu einer kreativen Weiterentwicklung Marxscher Ideen beigetragen. Auf dieses soziale und symbolische Gemisch antwortete Václav Havel mit dem Anspruch, in der Wahrheit zu leben. Wenn man so will, dann wurde der Sozialismus mit menschlichem Antlitz nicht in den realsozialistischen Obrigkeitsregimen jenseits des Eisernen Vorhangs, sondern ironischerweise im Österreich Bruno Kreiskys und im Schweden Olof Palmes oder auch im compromesso storico der italienischen KP im Geiste der von den meisten linken Intellektuellen verschmähten Sozialdemokratie verwirklicht. 1978, also fünf Jahre nach Enrico Berlinguers Parole vom historischen Kompromiss, schrieb der wieder einmal von Inhaftierung bedrohte Dramatiker Václav Havel in dem schon erwähnten Essay Moc bezmocných (Die Macht der Ohnmächtigen): Zwischen den Intentionen des posttotalitären Systems und den Intentionen des Lebens klafft ein Abgrund. Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithi‐ sche Einheit. 18 26 Wolfgang Müller-Funk 19 KUNDERA 1984. 20 KUNDERA 1968. Zitiert nach: REINISCH 1986. Havels außerordentlich optimistische Sicht des menschlichen Lebens, das einer Utopie innerer und äußerer demokratischer Verfasstheit sehr nahe kommt, hat das Lebensgefühl vieler Menschen in der realsozialistischen Staatsgesellschaft literarisch formatiert und zum Ausdruck gebracht, und zwar mehr als zehn Jahre vor der kläglichen Implosion des Regimes. Deutlich skeptischer gibt sich 1984 Václav Havels literarischer Kollege und Antipode, der im Pariser Exil lebende Milan Kundera: Ein Skandal ist etwas, das uns schockiert; jeder spricht über die schockierenden Methoden der Bürokratie und des kommunistischen Systems, die den Gulag, politische Prozesse und stalinistische Säuberungsaktionen hervorgebracht haben. Das alles wird als politischer Skandal bezeichnet. Aber man vergißt die öffentliche Tatsache, daß ein politisches System nie mehr ausrichten kann als die Menschen, die in ihm leben: Wären die Menschen unfähig zu töten, könnte kein politisches System einen Krieg führen. 19 Zum Beleg für Kunderas Befunde und seine skeptische politische Anthropologie ließe sich übrigens auch Havels fiktiver Gemüsehändler anführen, der am 1. Mai in seinem Untertanengeist eifrig seine Loyalität für das Regime bekundet und damit nicht seiner Überzeugung folgt, sondern wie die vielen Anderen seiner Angst entsprungenen Unterwürfigkeit Ausdruck verleiht. Es hat freilich zweier Jahrzehnte bedurft bis der Abgrund, von dem Havel 1978 sprach, das verlogene System zum Einsturz gebracht hat, der fingierte Gemüsehändler seiner verlogenen Loyalität überdrüssig geworden ist und sich jene pathetische Formel erfüllte, die Milan Kundera am 19.12.1968 in der Wochenzeitung Listy beschworen hatte: Ein Volk mit solchen Fähigkeiten hat das volle Recht, mit großem Selbstbewusstsein in die Unsicherheit des nächsten Jahres zu treten. Am Ende des Jahres hat es darauf mehr Recht als je zuvor. 20 Im November 1989, über zwei Jahrzehnte später, befand sich der Autor dieses Textes in Begleitung seiner Frau auf der Fahrt von der kleinen Waldviertler Stadt Drosendorf an der Thaya (die in Franz Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende über den Machtkampf zwischen Habsburgern und Przemysliden Eingang gefunden hat) nach Brünn/ Brno. Es war kurz nach dem Beginn der späten kollektiven Unbotmäßigkeit der Tschechen, der mit dem 17. November begann und mit der Bestellung Havels zum Staatspräsidenten zur Jahreswende 27 Zeitliche und räumliche Grenzlinien endete. Die ortsunkundigen Gäste der Geschichte parkten das Auto am Stadt‐ rand, stiegen in die Straßenbahn um und ließen sich zum Streikkomitee an der Universität bringen. Solch manifesten und sichtbaren Revolutionen, die Ereig‐ nisse und nicht Prozesse sind, wohnt ein ungeahntes Beschleunigungspotenzial inne. Binnen kürzester Zeit organisierten wir zusammen an der österreichischtschechischen Grenze, in dem Grenzort Langau eine Solidaritätsveranstaltung mit einigen hundert Beteiligten. Drei Kilometer weiter nördlich, in Schaffa (Šafov) wurde übrigens 1889, also hundert Jahre vor der Sametová revoluce der Schriftsteller und Publizist Ludwig Winder geboren, ein Freund Kafkas und Mitglied des Prager Kreises, dessen psychologische Gesellschaftsromane, die um das Thema Macht kreisen, heute verdientermaßen eine breite Leserschaft finden. Kurze Zeit später saßen Studenten in einem österreichischen Gasthaus an der Grenze und lauschten wie gebannt den Worten ihres frischgebackenen Präsidenten, der vor noch gar nicht langer Zeit ihr prominentester Gefangener gewesen war. Das war die Zeit überschwänglicher Hoffnungen. Wie in allen Re‐ volutionen sollte die ‚Hochzeit‘ nicht anhalten. Der Alltag mit seinen Problemen und Querungen sollte sich nur allzu schnell einstellen. Über die Euphorie dieser Tage ist viel geschrieben worden und doch kamen diese Ereignisse für nicht wenige überraschend und ungelegen. Schon damals begann sich der Niedergang der demokratischen Linken im Westen wie im Osten am historischen Horizont abzuzeichnen, er wurde aber offenkundig durch die Ereignisse von 1989 beschleunigt. Damit komme ich noch einmal auf das Jahr 1968 zurück, in dem nicht zuletzt alte und neue Linke in Westeuropa wie gebannt auf die Ereignisse von Prag blickten, während ihnen, von Ausnahmen abgesehen, um einen so berühmten wie prekären Satz von Karl Kraus zu bemühen, zu 1989 nichts einfiel. Nicht verschwiegen werden soll, dass die Revolutionäre von 1989 nur wenig mit ihren linken Vorgängern von 1968 anfangen konnten. Die neue weltge‐ schichtliche Situation, das war und bleibt das Ende des realen Sozialismus, der von einem dogmatischen Marxismus getragen wurde. Das Scheitern des posthistorisch gewordenen realen Sozialismus lag schon vor 1989 auf der Hand, wie die Transformation des Partito Communista Italiano in eine mehr oder minder sozialdemokratische Partei zeigt, die sich programmatisch vom Erbe der Oktoberrevolution lossagte. In England machte sich eine konservative Politikerin erfolgreich daran, den von Labour geschaffenen Sozialstaat einzu‐ stampfen. Bis heute fällt es schwer, die Umwälzungen von 1989 philosophisch zu deuten, etwa unter Zuhilfenahme des theoretischen Bestecks eines Karl Marx. Der 28 Wolfgang Müller-Funk 21 Vgl. ASH 1990: 454-455. 22 Ebd.: 456. 23 Ebd.: 457. britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash, einer der wenigen westlichen Tatzeugen und Interpreten der samtenen Revolutionen und runden Tische, hat 1990 davon gesprochen, dass ein Jahrhundert abgewählt wurde, und betonte damit die epochale Bedeutung dieser Ereignisse. Er stellte die Ereignisse in eine bemerkenswerte Traditionslinie, indem er zwischen 1848 und 1989 eine mehr oder minder direkte Linie zog. 1989 war - im Gegensatz zu 1968 - die Rückkehr zu jenen bürgerlichen Revolutionen, deren Format und Rahmen anno 1848 ein neues Gebilde war: der Nationalstaat. Was dem russischen post-imperialen Spätstalinismus 1989 abgerungen wurde, war - freilich unter völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen - das Glück der eigenen, selbstgenügsamen Staatlichkeit, die nach so vielen Irrungen und Wirrungen dem narrativen Prinzip Umweg gemäß endlich Wirklichkeit geworden war: 1989 als die Erfüllung der politischen Träume von 1848. 21 Ash spricht an einer Stelle von der überra‐ schenden Ähnlichkeit zwischen den Akteuren von 1989 und 1848 und erwähnt dabei die intellektuelle und akademische Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche oder des Slawischen Kongresses in Paris im Revolutionsjahr 1848 und fügt hinzu: Wie 1848 war der gemeinsame Nenner ideologischer Art. Die innere Geschichte dieser Revolutionen ist geprägt von Ideen, deren Zeit gekommen, und von Ideen, deren Zeit vorbei war. Auf den ersten Blick mag diese Aussage überraschen. Hat denn die Ideologie nicht schon viele Jahre früher gezeigt, daß sie keine wirksame Kraft ist? Glaubten die Machthaber selbst noch ein Wort all ihrer Phrasen, oder erwarteten sie etwa noch von ihren Untertanen, diese Phrasen zu glauben, oder sogar daran zu glauben, daß ihre Machthaber noch daran glaubten? 22 Aber obschon Ash diese rhetorisch gestellte Frage verneint, betont er mit Blick auf Zensur und Medienmonopol, dass auch die zutiefst beschädigte Ideologie des realen Sozialismus noch immer eine gewisse Bedeutung besaß: „Was diese Revolutionen uns aber ex post facto zeigen, ist, wie wichtig der zerschlissene ideologische Deckmantel noch immer war.“ 23 Die mit den Revolutionen von 1989 verbundene nationalistische Hypothek hat Ash in seinen Reportagen und Essays aus den 1980er Jahren, wie andere freilich auch, grob unterschätzt, etwa wenn er 1990 schreibt: 29 Zeitliche und räumliche Grenzlinien 24 Ebd.: 468. 25 MARX 1971: 742. Es war ein Frühling der Nationen, nicht unbedingt aber des Nationalismus; ein Frühling der Gesellschaften mit dem Wunsch, Zivilgesellschaften zu sein. Vor allem aber war es ein Frühling der Bürger. 24 Der britische Historiker beschreibt in seinem Buch zu den Umwälzungen im Osten Europas den Eifer des jungen Victor Orban, der so schnell wie möglich aus dem Warschauer Pakt austreten will, er erwähnt gewisse nationalistische Tendenzen, aber die Rückkehr zu einer nationalistischen Politik eines sacro egoismo hat er nicht voraussehen können. Wie denn auch? Waren doch die Helden dieser Revolution wie Havel, Michnik oder Konrad urbane liberale Intellektuelle, die mit dem Chauvinismus ihrer späteren, oft post-kommunis‐ tischen Nachfolger gar nichts zu tun hatten. Sie erlebten für einen ganz kurzen Moment ihren Kairos, ein Momentum, das sie in die Lage versetzte, das unrühmliche Ende des Regimes einzuläuten, ohne übrigens wirklich ein Konzept für eine Transformation einer autoritären Staatseigentumsgesellschaft von Taschengeldbeziehern in eine - soziale - Marktwirtschaft zu besitzen. Im Gegensatz zu den sozialistischen Reformern anno 1968 verfügten sie über keine ausgereifte Strategie einer gesellschaftlichen Transition, die insbesondere die Zentralität des Ökonomischen und, damit verbunden, des Sozialen ins Zentrum des Blickfeldes rückte. Hinter dem Pathos einer friedlich errungenen neuen Demokratie und dem Fall der sichtbaren Grenzen verbergen sich bis heute all jene explosiven Altbe‐ stände und neuen Probleme, die sich nicht nur durch revolutionäre Ereignisse, sondern vor allem auch durch langwierige Prozesse verschieben und verändern lassen: der schlummernde Nationalismus und die wilde Transformation des Wirtschaftssystems, die zurückblickend eher an Marx’ ursprüngliche Akkumu‐ lation des Kapitals erinnert als an einen überlegten Übergang in eine sozial und ökologisch gerahmte marktkapitalistische Ökonomie. Der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus beschreibt die ursprüng‐ liche Akkumulation als den „historischen Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel“. Das „Kapitalverhältnis“ setzt Marx zufolge dabei „die Schei‐ dung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbe‐ dingungen der Arbeit voraus.“ 25 In seinen Überlegungen hat Marx selbstredend die Feudalgesellschaft im Auge, die auf den ersten Blick kaum etwas mit der kommunistischen Staatseigentumsgesellschaft gemeinsam zu haben scheint. Nichtsdestotrotz sind deren Abhängigkeitsstrukturen eklatant und ebenso die erzwungene etatistische Einheit von „Produzent und Produktionsmittel“. Der 30 Wolfgang Müller-Funk Sozialismus, der sich zuerst in Stalins Plan- und Zwangswirtschaft auskristalli‐ sierte, war demnach - und das unterscheidet ihn wiederum vom historischen Feudalismus - eine krude Mischung von vormodernen Gesellschaftsstrukturen und durchaus modernen Herrschaftstechniken. Er bedeutete eine Anknüpfung an vormoderne Herrschaftskonzepte unter historischer Umgehung einer kapi‐ talistischen Ökonomie. Diese Form einer repressiven, anti-individualistischen Vergemeinschaftung war der missliche Ausgangspunkt, von dem aus die Länder der Revolutionen von 1989 gestartet sind. Die anhaltende, nicht bloß ökonomische Ungleichheit zwischen Ost und West, aber auch innerhalb der nachkommunistischen Gesellschaften bildet einen idealen Nährboden nicht nur für die erfolgreichen Karrieren kommunis‐ tischer Kader in der postkommunistischen Ära, sondern auch für die autoritären Tendenzen in Ländern wie Ungarn, Polen und eben auch den beiden Ländern, die aus der Tschechoslowakei entstanden sind: Tschechien und die Slowakei. Aus dieser Schieflage speist sich der erstaunlich hartnäckige, mittlerweile ideologisch verfestigte anti-europäische und anti-linke Affront in den Visegrád- Staaten. Der neue Nationalismus wurde indes schon bald nach den unschuldigen Anfängen der Revolutionen im Osten Europas sichtbar, etwa in Gestalt von Figuren wie Vladimír Mečiar oder später Václav Klaus. Was Ash übrigens vollkommen ausspart, aber was doch in das Panorama von 1989 gehört, ist der Zerfall nicht nur der Tschechoslowakei sondern auch - ungleich bedeutsamer - jener Jugoslawiens. Die Anknüpfung an die Nationsbildungsprojekte von 1848 setzte einen nationalen Revisionismus in Gang, der im Europa der EG/ EU, die sich als transnationales Projekt, als ein work in progress verstand, wenigstens programmatisch nicht vorgesehen war. Zum Pathos der revolutionären Umwälzungen von 1989 gehört auch der Fall der sichtbaren Grenzen, der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs. Deutschland und Europa sollten nach 50 oder gar 70 Jahren Trennung wieder zusammenwachsen. Verdächtig ist an dieser Formel im Nachhinein nicht nur die organische Metaphorik, sondern auch die durch nichts belegbare Behauptung, dass dieser Raum vor dem Kalten Krieg harmonisch gewachsen war. Ganz im Gegenteil war Zentraleuropa in einem ungeahnten Ausmaß und vielleicht nur mit dem Dreißigjährigen Krieg vergleichbar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Schlachtfeld von Toten, Vertriebenen und Ermordeten - nicht zuletzt angetrieben von jenem Nationalismus, den das nach 1945 erschöpfte Europa zu überwinden trachtete und der nunmehr in der EU wieder unfröhlich einkehrte, so als wäre nichts geschehen. 31 Zeitliche und räumliche Grenzlinien Die sichtbaren Grenzen sind gefallen, die ehemaligen Warschauer-Pakt- Staaten Teil der mittlerweile heillos zerstrittenen europäischen Familie ge‐ worden. Aber der Friede nicht nur des Kalten Krieges sondern auch des europäischen Projektes beruht auf dem fast magischen Verbot, Grenzen zu verändern. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die friedliche und einvernehmliche Scheidung der Tschechoslowakei und der blutige Zerfall Ju‐ goslawiens haben in einem gewissen Sinn Grenzen verändert. Sie haben die staatlichen Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten beseitigt und sie haben neue staatliche Grenzen auf dem Gebiet der einstigen Tschechoslowakei und des ehemaligen Jugoslawien aufgerichtet. Die Rückkehr zum verdeckten Datum von 1848 hat zu einer Renaissance eben jenes Nationalismus geführt, der sich dadurch auszeichnet, dass er strikte Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen ziehen möchte. Was schon bald nach 1989 aufgebrochen ist, das ist das Erbe von Postimperialismus, Nationalismus und - nicht weiter verwunderlich - von autoritären Bestrebungen. Es wäre unfair, darin nur einen erfolgreichen Export von Ost nach West zu erblicken, hat doch jede der heutigen autoritären Nationalismen in Europa seine eigene Geschichte. Im Hinblick auf das Thema Grenze lässt sich konstatieren, dass all diese Regime darauf abzielen, Grenzen vielleicht nicht geographisch zu verändern (obschon etwa der Nationalismus in Ungarn damit spielt), wohl aber zu stärken, um sich gütlich und ungestört im eigenen Post-1848er-Nationalstaat einzurichten. Biedermeier im Modus der Aggression. Fein sein, beinander bleiben, heißt es in einem einschlägigen deutschen Liedgut. Mit der Rückkehr nach Europa, das die Intellektuellen in Warschau, Budapest und Prag im Sinn hatten, hat das kaum etwas zu tun, eher mit der Abkehr. Die jüngsten europäischen Krisen, der Finanzkrach von 2008, die Migration von 2015 und die Corona-Pandemie von 2020 haben diese Entwicklungen begünstigt und verschärft, auch wenn absehbar ist, dass die Dimension dieser Probleme und ihrer Nachwirkungen eine Lösung im nationalen Rahmen als völlig illusionär erscheinen lässt. Die West-Deutschen und die nach 1945 geschwächte grande nation waren wie geschaffen für den Aufbau jenes Europas, dessen Idee schon in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreicht und das nun durch die vielfältige Katastrophe von 1945 plötzlich eine ungeahnte Chance erhielt. Dass der musi‐ kalisch mit Haydns österreichischer Kaiserhymne unterlegte Text der deutschen Nationalhymne Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt - ein Dokument von 1848 - nach Hitler, einem verheerenden Weltkrieg und der Shoah eigentlich ausgedient hatte, war ungeachtet des Nachtrauerns über verlorene Größe und Reputation nach 1945 eigentlich klar. Insbesondere für die Bundes‐ republik, das geteilte Land, wurde die Europäische Gemeinschaft zum Ersatz 32 Wolfgang Müller-Funk 26 Vgl. BIEBER 2020: 47-48. 27 Vgl. MÜLLER-FUNK 2021: 9-19. für den verlorenen Nationalstaat und die Einbußen an realer und symbolischer Macht. Insofern bedeutet 1989/ 90 einen Einschnitt: die Wiederherstellung eines ‚normalen‘ Nationalstaates unter Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete und selbstredend ohne Österreich, das sich nach 1945 und 1955 zunächst behutsam und vorsichtig auf den Weg zur eigenen Staatlichkeit machte und heute in vielen Bereichen (Ökonomie, Kunst und Wissenschaft) zunehmend unter dem Einfluss seines großen westlichen Nachbarn steht. Insofern lässt sich behaupten, dass sich dadurch die europäische Dynamik und Machtkonstellation nachhaltig verändert hat. So verständlich die Freude über den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik (und nichts anders war es doch und ganz gewiss nicht die Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten), auch sein mag - selbst am Wiener Rathaus ließ Bürgermeister Zilk gar die deutsche Fahne hissen - , so hat dieses Ereignis vielleicht unbeabsichtigt der Renaissance des Nationalen im Osten wie im Westen des Halbkontinents zum Durchbruch verholfen. Denn schon damals im Jahr 1989 schillerte der deutsche Begriff des Volkes (Wir sind das Volk), der bekanntlich das Subjekt der Demokratie, demos, meint, aber auch auf ethnos, das unverzichtbar Essentielle alles Nationalen, verweist. Diese Doppeldeutigkeit war auch vor dem sich abzeichnenden Zerfall Jugoslawien zum Greifen nah, philosophisch und gewiss verkürzt gesprochen bedeutete es den Sieg Herders über Montesquieu und Rousseau. 26 Es waren avantgardistische Dichter, die sich bei den legendären Schriftstellertreffen im slowenischen Vilenica - auch das eine autobiographi‐ sche Episode - für die unverwechselbare Entität Sloweniens und schon viel weniger für eine liberale Demokratie einsetzten, während ihr ehemaliger Freund Peter Handke sichtbar abseits stand und im Grunde genommen Slobodan Milošević für den legitimen Erben Titos hielt. Die unsichtbaren Grenzen sind indes hier wie dort geblieben, momentan wachsen sie sich - nachgetragenes Stichwort Corona - sogar aus, bekanntlich auch zwischen der alten DDR und der alten BRD. Fälschlicherweise nehmen wir nämlich an, dass Grenzen vornehmlich sichtbar sind. Ihren Ursprung haben Grenzen indes nicht so sehr und vor allem nicht ausschließlich in sichtbaren territorial wirksamen Grenzlinien, sondern in jenen sozialen Prozessen, in denen Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit wirksame Momente sind. 27 Diese unsichtbaren Grenzen sind Erblasten der Vergangenheit, die nicht enden will und die auf das Ende des Ersten Weltkriegs, auf den Nationalsozia‐ 33 Zeitliche und räumliche Grenzlinien lismus und die Shoah, aber auch auf die vielen Vertreibungen danach verweist, die doch nur ein Ziel verfolgten: die betreffenden Staaten ethnisch und sprach‐ lich möglichst vollständig homogen zu machen, zu ‚reinigen‘. Zu den unsichtbaren Grenzen gehört auch, dass 1968 in West und Ost vollständig verschieden stattgefunden hat, ich meine damit nicht nur den gescheiterten Prager Frühling, sondern eben auch jene westliche Kulturrevolu‐ tion, die in der westlichen Hemisphäre Lebensstil und Lebensformen weiter Schichten, aber auch das Verhältnis der Geschlechter, das Selbstverständnis der Menschen radikal und nachhaltig verändert hat. Die einen wollten ein bleischweres System abwerfen, die anderen verabschiedeten eine eher konser‐ vative Nachkriegskultur und etablierten eine neue im Geist eines hedonistischen Individualismus, von der wir heute wissen, dass sich ihr Lebensstil prächtig mit einer geschmeidigen kapitalistischen Ökonomie verträgt. Wir haben es im nicht bloß sprachlich und politisch heterogenen Europa mit Erfahrungen zu tun, die womöglich inkompatibel sind. Erfahrungsprozesse lassen sich nicht einfach nachholen, sie sind aber in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft bis heute wirksam - produktiv und öfters problematisch. Die Beliebtheit der Popmusik der 1970er Jahre in unseren Nachbarländern, konser‐ vativere Lebens- und Geschlechtermodelle oder hierarchischere Strukturen sind Symptome für einen sublimen Unterschied der Kulturen, von dem unsicher ist, wie er sich weiter entwickeln, ob er sich vertiefen oder verwischen wird. Ungeachtet positiver Konjunktursignale ist die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den alten und den neuen Mitgliedsstaaten unübersehbar und spiegelt sich in eindimensionalen und fatalen Wanderungsbewegungen von Ost nach West und in einem noch immer erheblichen Wohlstandsgefälle. Dies führt zu unsichtbaren Grenzen, die fast automatisch Distanz erzeugen, zumal es nur eine unzureichende Bereitschaft gibt, dieses Problem transnational zu diskutieren und anzugehen. Denn ein völlig unterschätztes Motiv all der Umwälzungen von 1989 war die Hoffnung der Menschen in den kommunistischen Ländern, durch den Systemwechsel baldmöglichst zu ähnlichem Wohlstand zu gelangen wie die westlichen oder südlichen Nachbarn. Go West. Die Enttäuschung über all diese Asymmetrien treibt die Menschen in die Hände derer, die Grenzen als Schutz und Sicherheit für die Nation verkaufen und die suggerieren, sie wären imstande, aus eigener Kraft Land und Leuten zu Wohlstand zu verhelfen. Der Nationalismus der Ärmeren und der Wohlhabenderen stehen sich dabei gegenüber, vereinigen sich aber im Unbehagen an Europa. Zu den verzwicktesten Begriffen des marxistischen und postmarxistischen Diskurses über die Moderne gehört die Kategorie der Ungleichzeitigkeit, die vielleicht eine Metapher für jene unterschiedlichen Zeitzonen ist, die mittler‐ 34 Wolfgang Müller-Funk 28 SCHMIEDER 2017. 29 Vgl. BIEBER 2020: 187-212. weile Teil eines spezifisch europäischen Disputs sind. 28 Die Ungleichzeitigkeit, von der hier die Rede ist, hat aber nicht nur mit dem quantitativen Zeitunter‐ schied zu tun, sondern geht auch von einem unauflöslichen Nebeneinander unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen aus. Ungleichzeitigkeit bedeutet mittlerweile ein Nebeneinander verschiedener Zeit‐ ordnungen. Ein solches liegt zweifelsohne auch dreißig Jahre nach jenen Revolutionen, durch die Europa zusammenwachsen sollte, vor. Diese Ungleich‐ zeitigkeiten betreffen die Binnenstrukturen der jeweiligen Mitgliedsstaaten als auch ihr Verhältnis zueinander. Für den Zusammenhalt Europas bedarf es eines offensiven und alternativen Projektes gegen die neuen und in gewisser Weise alten nationalen Grenzziehungen. Diese haben sich infolge der Krisen seit 2008 (Finanzkrise, Migration, Corona-Virus) sichtbar verhärtet und gefestigt, obschon die Gegner der Europäischen Union und der mit ihr verbundenen Grenzpolitik (weiche, aber sichere Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten, nachbarschaftlich ausgehandelte mit ihren Anrainern), über kein zielführendes Projekt verfügen, das über die Erosion, Schwächung und Zerstörung der Euro‐ päischen Union und die Restitution des Nationalstaates hinausweist. 29 Für eine transnationale Politik sind indes die unsichtbaren Grenzen und die oben skizzierte Ungleichzeitigkeit eine Herausforderung. Um noch einmal auf Ash zurückzukommen: Die tiefere Ursache für die Ungleichzeitigkeit liegt im Charakter der Revolutionen von 1989, die sich als nachholend beschreiben lassen. In dieser Nachholung liegt das eigentliche Problem. Die Aufgabe, der sich Revolutionäre, die mit Blick auf die Negation des Sozialismus auch, ganz wertneutral, Konter-Revolutionäre waren, gegenübersahen, war eine doppelte und eigentlich schwer miteinander zu verbinden: Sie wollten und mussten eine demokratische Gesellschaft in einem nationalen Rahmen etablieren, einem Rahmen, der fast zur gleichen Zeit in einen europäischen Kontext überführt werden sollte. Dass sich all diese Länder, mit Ausnahme der Slowakei, weigern, in den gemeinsamen Währungsraum einzutreten, ist ein gutes Beispiel für ihre Verfasstheit, für ihr vertracktes Verhältnis zum obskuren Objekt ihrer Begierde, der Nation. Dieses ist zwar auch in den westlichen Ländern nicht vollständig verschwunden, sondern verfügt über ein durchaus stattliches Potenzial, vor allem wenn man die sezessionistischen Bewegungen in das Panorama Europas mit einbezieht. Die oben skizzierten Erfahrungen und Identitätslagen, die mit der Ungleichzeitigkeit verbunden ist, unterscheiden sich doch beträchtlich. Und vergessen wir nicht eines: Die realsozialistischen Länder waren, um einen 35 Zeitliche und räumliche Grenzlinien Ausdruck von Lévi-Strauss in Anschlag zu bringen, ‚kalte Kulturen‘, die im Gegensatz zum Fortschrittspathos ein geringes Veränderungspotenzial besaßen. Die Erbschaft dieser Zeit ist in diesen Gesellschaften noch dreißig Jahre nach dem ‚Sozialismus‘ in sie und in die Körper der Menschen eingeschrieben. Auch das beschreibt eine Ungleichzeitigkeit, die die urbanen und offenen Gesichter der Akteure von 1989 verdeckten. In Tschechien war es vor allem Václav Klaus, der ganz unfreiwillig die mit dieser Ungleichzeitigkeit verbundene Zumutung in den Satz goss, dass Brüssel das neue Moskau sei. Für ihn, seinen polternden Nachfolger, aber auch für viele Tschechen ist es klar, für bzw. gegen welche Option sich das Land entscheiden soll, vor allem gegen eine zunehmende europäische Integration, die die 1989 errungene nationale Selbstständigkeit bedroht. Dass dies neuerdings mit pro-russischen Sympathien einhergeht, ist mit Blick auf Ungarn befremdlich, aber systemlogisch. In seinem Buch, einer Kollektion von Berichten und Essays, stellt Ash nicht nur die Frage, wie der Westen den neuen Nachbarn im Osten helfen könnte, vielmehr wollte er seinerzeit von sich und seiner Leserschaft wissen, welchen Beitrag diese für den Westen leisten könne. Mit Blick auf die schon erwähnten Akteure ruft er wiederum eine kollektive Erfahrung auf, die den Menschen im Westen erspart geblieben ist, jene mit autoritären und totalitären Regimen. Mit dem schon bald einsetzenden Verschwinden der Akteure von 1989 - die Revolution frisst auch hier ihre Kinder - hat sich das ebenso verändert wie die politische Rhetorik. Vergessen wir nicht, dass sich Havel in seiner ersten, berühmt gewordenen Neujahrsansprache für die gewaltsame Vertreibung der deutschsprachigen (eigentlich altösterreichischen) Bevölkerung aus der Tsche‐ choslowakei entschuldigt hat. Das war eine transnationale europäische Geste, für die er schon sehr bald im eigenen Land heftig attackiert worden ist. Seither findet der Dialog unter den Nachbarn eher verschwiegen und im Stillen statt. Er passt nicht zu einer nationalen Gemütlichkeit, die wir auch in Österreich kennen, die aber nicht bestimmend für einen europäischen Stil sein kann, für den Grenzen etwas sind, das zum Teilen und Mitteilen einlädt. (Fortwährende) Ungleichzeitigkeit, das bedeutet auch, dass die Menschen West‐ europas niemals in jenem absurden Kommunismus sowjetischen Stils gelebt haben; für jene im östlichen Teil des Kontinents besitzt der Wandel Westeuropas in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht den Status einer eigenen Erfahrung: Das Versprechen von Europa als einer post-nationalen Ordnung oder das globale Kulturspektakel von 1968 mitsamt ihrer grünen Wendung. Für die Mehrheit der Bevölkerung im östlichen Teil ist das Leben in einem demokratischen Nationalstaat, den man nun am Ende für Europa aufgeben soll, völlig neu. Die selbstkritischen Diskurse sind vielen fremd und über die jeweilige 36 Wolfgang Müller-Funk 30 PATOČKA 1988: 162. 31 Vgl. BENJAMIN 1974: 255. Vergangenheit will man schon gar nicht wirklich reden. Europa begreift sich fast seit der Gründung der EWG auch als ein gemeinsamer Raum, in dem die Wunden, die Nationalismus, Faschismus und Stalinismus geschlagen haben, in Worte gefasst werden können. Dieses Unmögliche leistet vor allem die Literatur, die in diesem Vortrag zumindest genannt werden soll. Ich denke an das Werk von Péter Esterházy, von Péter Nádas, von Slobodan Šnajder, von Ingeborg Bachmann oder von Francesca Melandri. In vielen ihrer Romane wird nicht zuletzt die Kehrseite jenes Nationalismus offenbar, der heute wieder als obszönes und obskures Objekt der Begierde politisch feil gehalten wird. Von der „Solidarität der Erschütterten“ hat der Philosoph Jan Patočka gesprochen 30 , das hat, zumindest vom subjektiven Ausgangspunkt, eine gewisse Ähnlichkeit mit jener Erschütterung, die Walter Benjamin mit dem Aufruf seiner wohl berühmtesten Figur im Sinne hatte, der des Engels der Geschichte, der vom Blick auf die Trümmer der Vergangenheit in die Zukunft getrieben wird. 31 Das schließt einen unverzichtbaren Akt der Hoffnung ein. Dieser ist - gegen eine unmäßige Inanspruchnahme von Kritik - umso wichtiger, insofern als jene politischen Kräfte, die 2015 wie 2020 die Errichtung dichter Grenzen anpeilen, zwei bemerkenswerte Schwachstellen haben. Wie alle Nationalisten können sie nicht gut und nicht lange miteinander kooperieren. Vor allem aber fehlt ihnen jegliche Perspektive. Ihre Anhänger sind nicht hoffnungsfroh, sondern resigniert und verzweifelt. Eine offene Gesellschaft kann auf Grund der Geschichte des Halbkon‐ tinents nur europäisch ausgestaltet werden. Das ist die eigentliche Botschaft einer Revolution, die eine Korrektur einer fehlgelaufenen Geschichte gewesen ist, aber noch nicht ein Projekt, das sich nicht zuletzt auch dadurch auszeichnen würde, dass seine transnationalen Akteure gelernt haben, angemessen mit Grenzen umzugehen. Diese sind nicht zuletzt die Bedingung der Möglichkeit von wechselseitigem Respekt und von Offenheit. Wie Europa nach 2022 aussehen wird und welche vor allem auch unsichtbaren Grenzlinien den Halbkontinent strukturieren werden, lässt sich beim besten Willen nicht vorhersagen. Literatur ASH, Timothy Garton (1990): Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleu‐ ropas 1980-1990. München: Hanser. BENJAMIN, Walter (1974): Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. BIEBER, Florian (2020): Debating Nationalism. The Global Spread of Nations. London: Bloomsbury Academic. 37 Zeitliche und räumliche Grenzlinien DEBRAY, Régis (2020): Das Grüne Zeitalter. 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The author emphasizes the importance of the Great War in terms of the transformation of the Czechs’ relationship to the Habsburg Empire. The sharp decline in loyalty was linked not only to the high casualties on the fronts and the overall suffering of the war, but also to the fact that the degree of state consideration for the interests of individual nationalities and the overall quality of freedoms and representative democracy in the empire declined dramatically. Keywords integral nationalism; tolerable dissatisfaction; Habsburg Empire; IWW 1 PERZI / SCHMOLLER / KONRÁD / ŠMIDRKAL 2019 / 2020. 2 DIE PRESSE 2009. Die überwältigende Zunahme an Kontakten zwischen tschechischen und ös‐ terreichischen Historikern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs führte zu einem regen Meinungsaustausch über kontroverse Fragen der gemeinsamen Geschichte und zu einer nachvollziehbaren Abschwächung einiger extremer Interpretationen, die in Vergangenheit auf beiden Seiten erklungen waren. Das Projekt Nachbarn - Sousedé der Ständigen Konferenz der österreichischtschechischen Historikerkommission der Außenministerien der Tschechischen Republik und Österreich bescherte den Lesern nicht nur zwei interessante Publikationen 1 , in denen die gemeinsame Geschichte zusammengefasst und den Lehrern eine Anleitung zu ihrer Interpretation zur Verfügung gestellt wird, sondern leistete auch mit interessanten Erfahrungen aus begleitenden Debatten einen wichtigen Beitrag - einerseits innerhalb des Autorenteams, andererseits während öffentlicher Debatten auf beiden Seiten der gemeinsamen Grenze. Diese Debatten offenbarten, dass es nicht viele Themen gab, bei denen die tschechischen und österreichischen Meinungen auseinandergingen oder sich zumindest erheblich unterschieden. Obwohl die Historiker von den Debattierenden aus den Reihen der Öffentlichkeit ein wenig dazu gedrängt worden waren, bei der Erarbeitung der gemeinsamen Publikation Kontroversen zu präsentieren, war dann schließlich auf der Seite der Öffentlichkeit eine gewisse Enttäuschung zu spüren 2 : Dreißig Jahre intensiver Zusammenarbeit beider historischer Gemeinden brachten reiche Debatten und das Abbröckeln extremer Standpunkte hervor, nicht immer völlige Übereinstimmung, aber dennoch eine markante Annäherung. Einige äußerst kontroverse Themen blieben offen, erwähnenswert sei hier die Frage nach der Auslegung der Rolle der österreichischen Bevölkerung im NS-Regime, die Frage zur Aussiedlung bzw. Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den böhmischen Ländern oder die unterschiedlichen Standpunkte in der Energiepolitik beider Länder seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Überraschenderweise enthielt die kurze Liste der Kontroversen keine Themen in Zusammenhang mit dem Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in der späten Donaumonarchie, hier wurde in den letzten Jahren besonders intensiv geforscht, und die Forschungsergebnisse wiesen eher auf eine Annäherung von Interpretationen als umgekehrt hin. Obgleich das Thema der nationalen Frage in der Habsburgermonarchie im Begriff ist, seine ehemals zentrale Position in der historischen Forschung allmählich zu verlieren, und sich das Forschungsinteresse weg von den historischen Ereignissen des vorletzten 40 Lukáš Fasora 3 HALL 1993; NOLTE 1965; HROCH 1985; JÁSZI 1961; SKED 1989. Jahrhunderts hin zur Zeitgeschichte verlagert, gehört es trotzdem nach wie vor zu den zehn häufigsten Themen der tschechischen Geschichtswissenschaften. In Österreich ist die Situation diesem Trend etwas weniger gewogen. Wenn ich versuche, den aktuellen Kenntnisstand über die nationale Frage in Cisleithanien und insbesondere zwischen Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern kurz zusammenzufassen, dann ergeben sich für mich zwei grundsätzliche Interpretationen der Situation in der Spätzeit dieses alten Reiches, d. h. ungefähr in den Jahren 1890-1914. Befürworter beider Interpre‐ tationsrichtungen respektieren sich gegenseitig, hören sich die Argumente der anderen an, und ihre Positionen unterscheiden sich nicht diametral, auseinan‐ dergehen sie eher in der Bedeutung und dem Gewicht, die sie den einzelnen historischen Ereignissen beimessen. Die Wurzel der Nicht-Übereinstimmung ist wahrscheinlich in dem Verhältnis des Autors zum Paradigma zu suchen, ob und wie es möglich war und auch in der heutigen Zeit möglich ist, dass ein funktionierender Staat auf dem multinationalen Prinzip aufgebaut sein kann, eine Frage, die in Anbetracht der derzeitigen politischen Situation in Europa und der Perspektiven der Europäischen Union an Aktualität nichts verloren hat. Das alte Österreich war ein solcher Staat und wurde aus der Sicht von Personen, die an die Überlegenheit des Prinzips Nationalstaat glaubten, bereits zu seiner Zeit als überholt angesehen, als perspektivlos und ungenügend im Erfüllen wichtiger Schlüsselrollen eines Staates. Sympathisanten der multiethnischen Staatlichkeit suchen sich aus den historischen Ereignissen im alten Österreich eher Ereignisse aus, die die These von der Funktionsfähigkeit eines solchen Staates stützen, Opponenten das Gegenteil. Bei Historikern fällt die Argumen‐ tation gewöhnlich sachlicher aus als bei Journalisten oder Laien, die sich an der Debatte beteiligen, da sie auf der Kritik von Quellen basiert, trotzdem mangelt es ihr nicht an einer grundlegenden paradigmatischen Auffassung. Gleichzeitig sind sich beide Lager sehr wohl der Grenzen ihrer Argumentation bewusst. Das multiethnische Österreich fiel auseinander, die von ihm repräsentierte Lösung der nationalen Frage ist somit gescheitert. Der tschechoslowakische Nationalstaat der Zwischenkriegszeit, resp. österreichische, scheiterte freilich auch in den Jahren 1938-1939, bzw. 1992-1993 in der Lösung von nationalen Fragen. Für ein besseres Verständnis der Beziehung zwischen beiden Nationalitäten in Österreich ist der Begriff „integraler Nationalismus“ von Bedeutung. 3 Dieser wird von Historikern zur Bezeichnung der Entstehungsphase der sog. National‐ frage in der österreichischen Monarchie verwendet, ein brennendes Problem 41 Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“ 4 KLEČACKÝ 2018. 5 Vgl. ŠTAIF 2020: 298-302. seit dem Jahr 1848. In den als integraler Nationalismus bezeichneten Zustand gerieten Tschechen und Deutsche in Österreich ungefähr in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die nationale Identität, basierend vor allem auf der Sprache und einem gemeinsamen Verständnis von Volkskultur, Charakter, Territorium und Geschichte, zu einem Phänomen geworden war, das alle übrigen Probleme überlagerte, mit denen Einzelpersonen, Personengruppen oder ganze Gesell‐ schaftsgruppen und Schichten zu kämpfen hatten, d. h. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Probleme, usw. Der integrale Nationalismus schloss definitiv die Möglichkeit aus, dass der Habsburgerstaat de facto und nicht nur de iure eine österreichische Staatsidentität zu entwickeln vermocht hätte. Im Gegenteil: Ein Großteil der Mitglieder des Staatsapparats, die bis dahin noch zu einer österreichischen Staatsidentität inkliniert hatten, ließ von dieser zur genannten Zeit ab und verstand sich in weiterer Zukunft vielmehr als Zugehöriger seiner Nationalität im Dienste der Habsburgermonarchie, jedoch nicht als österreichi‐ scher Beamter. 4 Der Staat übernahm nun vielmehr die Rolle eines Schlichters von Beziehungsproblemen zwischen den Nationalitäten, insbesondere zwischen den kulturell, wirtschaftlich und politisch hoch entwickelten Nationalitäten. Besonders markant war es zwischen Nationalitäten, die sich in kultureller, ökonomischer oder politischer Hinsicht auf einem ähnlichen Niveau befanden, so wie es im Falle von Tschechen und Deutschen, resp. Polen gewesen ist. In Angelegenheiten nationale Beziehungen betreffend mischte sich die Staatsau‐ torität mit dem Ziel ein, die elementare innere und äußere Sicherheit zu wahren, hier konnte der Staat mit der Unterstützung nationaler Vertretungen rechnen. Aber bei Entwicklungsmodernisierungsprojekten (Schulwesen, Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, usw.) stellte sich der Staat Schritt für Schritt in den Hintergrund und wartete die Abmachungen der einzelnen nationalpolitischen Vertretungen ab. Der Habsburger Staat ließ von Gewaltlösungen ab, die oft in der Vergangenheit ihren Einsatz gefunden hatten, und ging zu einer einvernehmlichen oder zumindest kompromissbereiten Politik über. 5 Dabei behielt er jedoch grundlegende Funktionen bei. Hierzu gehörte der Schutz der Außengrenzen und das Sicherstellen von solcherart diplomatischen Beziehungen mit den Nachbarn, die wirksam Kriegskonflikte verhinderten oder zumindest deren Risiko verminderten. Das Reich erlebte einen fast 40 Jahre andauernden Frieden. Österreich-Ungarn wünschte sich keinen Krieg, es war sich seiner eigenen Schwäche sehr wohl bewusst - knüpfte somit an seine Rolle in der Metternich Ära an, als es die Leitung über politische Verhandlungen zur 42 Lukáš Fasora 6 Vgl. RUMPLER 2016: 202-204; vgl. PÁSZTOROVÁ 2019: 151-158; vgl. ŠEDIVÝ 2010: 201-203. 7 Vgl. LUFT 2012: 9-15. 8 Vgl. URBAN 1982: 499-517. 9 Vgl. ebd.: 506-517. 10 Vgl. KAZBUNDA 1995: 224-234; Vgl. HLEDÍKOVÁ / JANÁK / DOBEŠ 2007: 307. Lösung von europäischen Konflikten übergehabt hatte, mit dem Ziel, in Europa Frieden zu stiften. 6 Seiner Bevölkerung garantierte Österreich einen funktio‐ nierenden Polizeiapparat und Rechtsstaat, eine funktionierende Justiz und Bürgerrechte auf einem Niveau, das mit westeuropäischen Staaten vergleichbar war, die damals Musterdemokratien darstellten. Was das Garantieren von so‐ zialen Rechten betrifft, gehörte Österreich gemeinsam mit Deutschland und der Schweiz zur Weltspitze. Nicht zuletzt garantierte Österreich wirtschaftlichen Fortschritt und wirksame Modernisierungsmethoden, angepasst an den Zustand des Landes und die Bedürfnisse der Bevölkerung. Es ist nicht von Zufall, dass in der tschechischen Historiographie oft vom tschechischen Wirtschaftswunder dieser Zeit gesprochen wird. Kritiker hatte das österreichische System viele. In der Regel erschien pax aus‐ triaca denjenigen als nicht geeignet, die meinten, dass sie sich dank ihrer Stärke, eine bessere Position erkämpfen könnten. Diejenigen, die in Kämpfen um Positionen und Macht im Feld der Geschlagenen gelandet waren, riefen den ös‐ terreichischen Staat ex post gegen die Dominanz der Sieger um Hilfe, obwohl sie das österreichische System noch vor der Schlichtung des Streits kritisiert hatten. Nach jahrzehntelangem Zögern und vielen verpassten Gelegenheiten begab sich das habsburgische Regime auf den Weg der Demokratisierung des Wahlrechts, hauptsächlich mittels Reformen in den Jahren 1896 und 1907. 7 Wegen des langen Zögerns wurde die Habsburgermonarchie (Cisleithanien) mit Recht kri‐ tisiert. 8 Das Regime knüpfte erhebliche Hoffnungen daran, dass Interessen der unteren Bevölkerungsschichten der Staatsführung dabei behilflich sein würden, chronische nationale Konflikte, die typisch für bürgerliche Parteien waren, zu unterdrücken oder abzuschwächen. 9 Der integrale Nationalismus hatte damals jedoch bereits alle Gesellschaftsschichten durchdrungen, und aufgekommene Hoffnungen auf Reformen gingen deshalb nicht wirklich in Erfüllung. Fälle von Uneinigkeiten zwischen den nationalen Vertretungen in Österreich nahmen zu, selbst was grundlegende Angelegenheiten betraf, die für den Gang des Staates oder autonomer Verwaltungsgebiete erforderlich waren. Deshalb übernahm die staatliche Exekutive einige Machtbefugnisse der Gesetzgebung und versuchte somit, eine Grundfunktionalität aufrechtzuerhalten. 10 Der Staat war in vielen umstrittenen Fragen bereit, durch Gewähren von Zusammenarbeit zu einer 43 Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“ 11 Vgl. HANISCH 1994: 209-241. 12 Vgl. ebd.: 220-232. 13 Vgl. RUMPLER 2016: 140-149. 14 Vgl. ŠTAIF 2009: 261-264. 15 BRANDES 2002; SUPPAN 2002. 16 Vgl. MALÍŘ 1996: 270-284; vgl. RUMPLER 2016: 136-139. 17 Vgl. PERZI / SCHMOLLER / KONRÁD / ŠMIDRKAL 2019: 62. Lösung zu gelangen, wagte es jedoch nicht, strategische Entwicklungsprobleme ohne Zusammenarbeit mit den nationalen politischen Vertretungen oder sogar gegen deren Willen zu lösen - was einerseits von Schwäche des österreichischen Staates zeugte, andererseits Beweis für seine Demokratiefähigkeit war. 11 Vertretungen von Nationen in Österreich gelang es immer seltener, sich zu einigen. 12 Bei manchen spielte die von mit Österreich-Ungarn benachbarten Nationalstaaten ausgehende Anziehungskraft eine Rolle (Italien, Rumänien, Serbien), die heute für gewöhnlich als ausreichende Berechtigung für die Skepsis dieser Nationalstaatenvertretungen gegenüber dem österreichischen multiethnischen Konzept angesehen wird. 13 Die österreichischen Tschechen und Deutschen waren der Idee eines multiethnischen Österreichs nicht gänzlich abgeneigt. Für Tschechen war Österreich bis zum Jahr 1914 immer noch die bestmögliche politische Ordnung. Vorstellungen von einem großen slawischen Reich unter russischer Führung als Alternative sind nicht ernst zu nehmen, es handelte sich hierbei vielmehr um einen Ausdruck der Unzufriedenheit mit Österreich als um ein seriöses staatsrechtliches Konzept. 14 Bei den öster‐ reichischen Deutschen war die Situation kompliziert, offensichtlich waren hier Frustrationsgefühle vorhanden, die in der Zwischenkriegszeit an Stärke gewonnen hatten und mit verschiedenen Faktoren in Zusammenhang standen; der Einflussverlust auf den Prozess der deutschen Einigung und Umstände, die mit der erzwungenen Staatlichkeit einhergingen, gehörten zu diesen Faktoren, oder die Tatsache, dass sie als heimatlose Nation bezeichnet wurden. 15 Trotz all dem präferierte wohl die Mehrheit der österreichischen Deutschen bis zum Jahr 1914 Österreich als den für sie am besten geeigneten Staatsrahmen, denn die Alternative - das Deutsche Kaiserreich - erschien insbesondere aus wirtschaftli‐ chen und religiösen Gründen als wenig attraktiv. 16 Bei allen Nationalitäten kann von einer erträglichen Unzufriedenheit gesprochen werden, die in den letzten Vorkriegsdekaden des Bestehens von Österreich beinahe zu einer Staatsdoktrin geworden war. 17 Die überwiegende Mehrheit war sich dessen bewusst, dass das Beziehungsgeflecht zwischen den Nationalitäten des Habsburgerreichs so dicht und nutzbringend ist, dass seine Zerstörung durch Veränderungen des staatsrechtlichen Rahmens mehr schaden als nützen würde. 44 Lukáš Fasora 18 Vgl. KENNAN 1979: 3; MOMMSEN 2002. 19 BAUER 1924: 3 20 MZA C12. 21 Vgl. FASORA / MALÍŘ 2020: 1038. 22 Vgl. RUMPLER 2016: 202-204. 23 Vgl. GALANDAUER 1988: 141-145; vgl. RUMPLER 2016: 667-670, 1082-1094. Der fragile pax austriaca zwischen den Nationalitäten des Habsburgerreichs wurde durch den Ersten Weltkrieg verletzt und zerstört - spricht man von der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. 18 Wie Otto Bauer, der führende sozialisti‐ sche Denker seiner Zeit, im Jahre 1924 schrieb, fiel Österreich-Ungarn dem antikapitalistischen Radikalismus der Massen zum Opfer, der durch den Krieg aufgewühlt worden war: „Denn, der Krieg hat die Massen aufgerüttelt, aufge‐ wühlt, sie glauben schon nicht mehr an den Kapitalismus. […] Die kapitalistische Welt hat ihre Stabilität, ihre Beständigkeit verloren. Alles ist in Gärung.“ 19 Otto Bauers Einschätzungen werden von der bemerkenswerten Aufzeichnung über die Vernehmung des Dienstmädchens Marie Dilencová bekräftigt, die in Zu‐ sammenhang mit ihrer Beteiligung an den großen Hungersunruhen des Jahres 1917 auf dem Polizeipräsidium in Brünn durchgeführt worden war. Dilencová soll laut Anklage gemeinsam mit der Menschenmenge gerufen haben: „Wir wollen Frieden! “; „Wir wollen keinen Militarismus, wir wollen eine Republik! “; „Wir haben Hunger, gebt uns Essen“; „Wir wollen keine Regierung, wir wollen keine Armee, wir wollen eine Republik! “ 20 Das Verhör zeigte, dass das ungebil‐ dete Dienstmädchen unter dem Begriff Republik eine friedliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft verstand, eine anarchistische Utopie, ohne Polizei, ohne Armee, ohne Reiche und ohne Unterdrückung, sie verstand darunter eine Ordnung, in der es zum Erzielen von Gerechtigkeit Entscheidungen benötige, die von einer Volksregierung mithilfe direkter Handlungen ausgeführt würden. Wie Tausende von anderen wurde auch dieses blutjunge Dienstmädchen vom Hunger und der insgesamten Ausweglosigkeit ihrer persönlichen Situation zur Teilnahme an dieser Manifestation getrieben. 21 Die österreichische Kultur der „erträglichen Unzufriedenheit” wurde durch das Regime der Habsburger militärisch-bürokratischen Diktatur der Jahre 1914- 1916 22 und die Tatsache zerstört, dass das Entscheiden über das Schicksal Österreichs und seiner Nationalitäten zunehmend in die Hände ausländischer Staatsmächte verlagert wurde. Im Falle eines weiteren tschechisch-deutschen Zusammenlebens hauptsächlich nach Berlin, Paris und Washington. 23 Die Som‐ mermonate des Jahres 1914 haben große Bedeutung im Hinblick auf die Kultur des Zusammenlebens beider Völker und im Hinblick auf die Entscheidungsfin‐ dung bei strittigen Themen. Herrschte noch bis zum Jahr 1914 das Bewusstsein 45 Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“ 24 Vgl. BROKLOVÁ 1999: 45. 25 Vgl. GALANDAUER 1988: 15-19; vgl. ŠEDIVÝ 2014: 35. 26 BRÜNNER MONTAGSBLATT 1925; MZA C57. vor, dass es notwendig sei, bei Schlüsselfragen eine einvernehmliche Lösung zu finden, wenn auch die Suche nach einer Lösung von vielen Problemen begleitet wurde, oft halsbrecherisch wirkte und eher in Mähren als im vom Nationalismus stärker erfassten Böhmen erwünscht war, so setzte sich hingegen mit Kriegsbeginn eine von Konfrontationen geprägte Machtkultur durch. Von einem Großteil der deutschen (und auch ungarischen und polnischen) Öffent‐ lichkeit wurden der Krieg und die Erfolge der österreichischen und deutschen Waffen gefeiert, 24 die Reaktion der tschechischen Seite war hingegen Entsetzen und Angst vor einer negativen Entwicklung der Situation, denn die Siege der österreichischen und deutschen Armee wurden als Erfolg des alldeutschen Programms verstanden. 25 Ebenso wichtig sind jedoch die ersten Monate der Regierungszeit von Kaiser Karl, der dringend nach einem Ausweg aus der prekären Situation seines Reiches während des Ersten Weltkriegs suchte. Der deutsche radikale Nationalist Rudolf Jung (1882-1945) bewertete im Jahre 1925 die Rolle des Ersten Weltkriegs für das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen als klarer deutscher (d. h. keineswegs österreichischer) Versuch, den wachsenden tschechischen Chauvinismus zu stoppen. Der Beginn des Endes von Österreich als für den Deutschen glaubwürdiges Projekt bestand darin, dass die Wiener Regierung mit ihren Schritten in den Jahren 1917-1918 überhaupt das Entstehen eines tschechischen Nationalstaates ermöglicht hatte, und deswegen müssten sich die Deutschen im Inland wie im Ausland mit Folgendem befassen, mit der berühmten Methode, wie es in diesem Staate üblich ist und wie man das so nennt, zu ‚reformieren‘. Wenn uns nämlich etwas wegnimmt, so heißt es immer eine Reform. Nun sind mehr als sechs Jahre verflossen, daß dieser Staat […] gegründet worden ist. Und Jahr für Jahr hat sich das Gewaltsystem, das damals aufgerichtet wurde, vergrößert und auf allen Gebieten ausgetobt 26 . Jung zufolge sei vom tschechoslowakischen Staat nichts anderes als Gewalt und Unterdrückung der deutschen Bevölkerung zu erwarten gewesen. Die Tschechoslowakei war kein vollwertiger Staat, sondern bloß eine Marionette in den Händen Frankreichs, des Hauptfeindes der Deutschen. In seiner Rede in Krnov/ Jägerndorf verglich Jung die Tschechoslowakei und Frankreich mit einer Orgel und einem Orgelbalg, in Zusammenhang mit dem anwachsenden Machtverlust von Frankreich konstatierte er, dass, wenn dem Balg einmal die Luft ausgegangen sein wird, dies auch das Ende für die Orgel bedeuten 46 Lukáš Fasora 27 Vgl. KUBA Bruntálský deník: 2015. 28 Vgl. FASORA 2017: 126. 29 FASORA 2017: 77; HYBEŠ 1956: 354-355. 30 Vgl. KOLÁŘ 1998: 177. werde. 27 Jung glaubte, dass es für die deutsche Bevölkerung der böhmischen und österreichischen Länder nur eine einzige Lösung gibt, nämlich die Vereinigung in einem Staat, sprich in Deutschland. Soweit Jung einhergehend mit den Maßnahmen der Wiener Regierung im Jahre 1917 dieses Jahr als Wendepunkt in der Loyalität der Deutschen in Österreich erlebt haben mag, betrachtete auch Josef Hybeš (1850-1921), sozial‐ demokratischer Abgeordneter des Reichsrates, das Jahr 1917 als Wendepunkt in seinem Leben. Im Gegensatz zu Jung, der zu dem Zeitpunkt 35 Jahre alt gewesen ist, war Hybeš damals mit 67 Jahren gerade im Begriff, seine Karriere zu beenden, und blickte auf zwei lange Jahrzehnte zurück, in denen er auf einem Reichratssitz verbracht hatte. Hybeš war sehr vom Modell der bolschewistischen Revolution in Russland beeindruckt, sah darin den Weg zum Erzielen einer universellen Gerechtigkeit unter den Nationen, zum Erreichen des Guten und sozialen Frie‐ dens ohne kapitalistische Ausbeutung. Die Russischen Bolschewisten wiesen Hybeš den Weg. 28 Neben dem Projekt der Bolschewisten wirkte der österreichische Wohlfahrts‐ staat für Hybeš wie ein erbärmliches Spiel mit dem Ziel, die ungeheuerlichsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Rückblickend betrachtet empfand er ange‐ sichts der Ereignisse im Jahre 1917 sein parlamentarisches Wirken und seinen bedeutenden Beitrag an der österreichischen Politik als bloße Rolle eines Volkstribünen, d. h. als Wiedergutmachung zumindest kleiner Ungerechtig‐ keiten durch die Interpellation von Ministern. Als seine wichtigste Aufgabe im Reichsrat bezeichnete er die Tatsache, dass seine parlamentarischen Reden nicht von der Zensur kontrolliert werden durften und es somit möglich gewesen war, einige kontroverse Texte und Ansichten zu veröffentlichen. Nichts weiter, denn von Beginn bis zum Ende seiner langen politischen Karriere habe er nicht an den gesamten Parlamentarismus und das österreichische System des Vermittelns zwischen nationalen Interessen geglaubt und habe geahnt, dass „es bei ihnen [d. h. bei der Bourgeoisie; Anm. des Autors] mit gutem Zureden nicht funktionieren werde“ 29 . Alois Naegle (1869-1932), Rektor der Deutschen Universität in Prag, ein eher konservativ-nationalistisch orientierter Akademiker, 30 fasste im Jahre 1930 die Veränderung der tschechisch-deutschen Beziehung in der Nachkriegszeit sehr treffend zusammen. Er hob im Zusammenhang mit dem Streit um das Verhältnis der Prager Universitäten die nach einem Konsens strebende Politik des alten 47 Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“ 31 NÁRODNÍ ARCHIV, Ministerstvo školství a národní osvěty. 32 KALISTA 1997: 552. 33 Vgl. KALISTA 1997: 447, 520. Österreich hervor. Die Staatsführung des untergegangenen Reiches soll ein Interesse daran gehabt haben, die Abkommen zwischen den Nationalitäten zu mäßigen, so wie im Jahr 1882, als die Prager Karl-Ferdinand-Universität seiner Meinung nach gerechterweise in zwei eigenständige Hochschulen mit eigener, d. h. tschechischer, resp. deutscher Unterrichtssprache geteilt worden war. Im Gegenteil dazu soll laut Naegle das tschechoslowakische Gesetz aus dem Jahr 1920 das Zusammenwirken beider Schulen als institutionelle Symbole tschechisch-deutscher Beziehungen in Böhmen „idealistisch schwer beschädigt haben“, da es sich von der historischen Fiktion hatte leiten lassen, dass rein ausschließlich die tschechische Universität geeigneter Nachfolger der mittelal‐ terlichen Karlsuniversität sei. In der gesamten Politik des tschechoslowakischen Staates wären in dieser Agenda laut Naegle „typische momentane Machtver‐ hältnisse zum Tragen gekommen“ 31 . Die Einstellungen tschechischer Radikaler der postrevolutionären Zeit werden in den Memoiren des Historikers Zdeněk Kalista veranschaulicht, der die Exzesse und Fehler der damaligen Zeit oftmals mit dem verständlichen Radikalismus der Jugend entschuldigte. Laut Kalista war es nicht verwunderlich, dass junge tschechische Radikale zur Zeit von 1918/ 1919 in Erwartung großer Veränderungen bei politischen, nationalen und sozialen Fragen „voraus ge‐ flogen sind, mit dem Unvermögen, weder das Ziel noch die Mittel abzuschätzen, mit denen es möglich gewesen wäre, Veränderungen herbeizuführen! “ 32 Kalista meinte, der links-nationale tschechische Chauvinismus der damaligen Zeit wäre auch als Konzeption eines Aufstands zu entschuldigen gewesen, der sich zuerst gegen die überhebliche Gesellschaft des alten Österreich-Ungarns erhoben hatte und später dann gegen die träge geistige Bequemlichkeit des tschechischen Kleinbürgers, der glaubte, dass es damit getan sei, wenn er sich einige gut klingende Phrasen des 28. Oktobers zu eigen mache und anstelle einer Büste von Franz Josef I. eine Büste von T.G. Masaryk im Arbeitszimmer aufstelle. 33 Aus dem habsburgischen Österreich wurde einhergehend mit dem Ersten Welt‐ krieg ein Staat, den die loyalen Tschechen (aber auch Rumänen oder Italiener) bis dahin nicht gekannt hatten. Errungenschaften der Demokratie und Pluralität, aber auch wirtschaftliche Erfolge und die von Toleranz geprägte Kultur der vorangegangenen Jahrzehnte, das alles war plötzlich verschwunden, was sich 48 Lukáš Fasora 34 Vgl. FASORA / MALÍŘ 2020: 1034-1036. weitgehend im Polizeibericht widerspiegelte. 34 Eine gegenseitige Entfremdung zwischen Tschechen und österreichischen Deutschen, ins Schwanken geratene Beziehungen, waren die dramatische Wende dieser Zeitepoche, die zugleich einen Katalysator für weitere Missverständnisse im 20. Jahrhundert darstellte, obwohl die Traumata aus dem Ersten Weltkrieg später durch Traumata aus dem Nazismus, dem Zweiten Weltkrieg oder der Trennung beider Nationen durch den Eisernen Vorhang überschattet wurden. 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Österreich und Tschechien setzen Historikerkommission ein. https: / / www.die‐ presse.com/ 507117/ osterreich-und-tschechien-setzen-historikerkommission-ein (8. 2. 2020). 51 Das Ende der „erträglichen Unzufriedenheit“ Sensible Beziehungen Österreich und die Tschechoslowakei (1918/ 1938/ 1945-1989) Oliver Rathkolb Abstract After the collapse of the Austro-Hungarian monarchy and the establish‐ ment of Czechoslovakia and the Republic of (German) Austria, bilateral relations were not tied and developed ambivalently even under the common threat of National Socialism. The mutual prejudices from the monarchy persisted despite numerous family relationships and a strong Czech minority in Vienna, and only slowly did closer cultural and, above all, economic collaborations begin. The National Socialist terror and the expulsion of the German-speaking minority from Czechoslovakia after 1945 as well as the establishment of a communist dictatorship from 1948 had an even more negative impact on the relations. Even in the détente phase in the Cold War and during the “Prague Spring”, the contacts mostly remained tense and did not develop as intensely as, for example, between Austria and Hungary. Only after the “Velvet Revolution” should the relations become closer and, above all, the civil society exchange moved into a more positive and intensive direction. Individual areas of conflict such as the compensation debate for expelled Germans and the use of atomic energy could no longer stop the trend towards closer economic and cultural long term projects. However, there has not yet been closer political cooperation within the EU between the Czech Republic and Austria. Keywords Bilateral diplomatic relations Austria-Czechoslovakia/ Czech Republic after 1918 until the 1990s, economic relations Austria-Czechoslo‐ vakia/ Czech Republic after 1918 until the 1990s, cultural relations Austria- Czechoslovakia/ Czech Republic after 1918 until the 1990s, Austria, Cze‐ choslovakia, Czech Republic, neighboring States 1 Bei der Besetzung berief man sich auf die Bestimmungen des Waffenstillstandes der Entente mit Österreich-Ungarn. Gemäß Punkt 4 der Bestimmungen hatten die Truppen der Entente und die alliierten und assoziierten Mächte, zu denen auch die Tschechoslowakei gehörte, das Recht zur freien Bewegung auf den Straßen und Eisenbahnen Österreich-Ungarns sowie das Recht der Besetzung strategisch wichtiger Punkte. Dies war auch der Grund, warum Deutschösterreich von einer militärischen Intervention absah und auf die Friedenskonferenz hoffte. 2 Die Besetzung war bis Ende Dezember 1918 abgeschlossen, wobei es mit Ausnahme der blutigen Auseinandersetzung von Most/ Brüx zu keiner größeren Gegenwehr kam. Vereienzelt kam es noch zu Kämpfen in Südmähren. 3 Vgl. PERZI 2019: 117-118. Bereits in der Staatensukzession nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie gegen Ende des Ersten Weltkrieges gab es eine tiefgreifende Auseinanderset‐ zung zwischen der Republik Deutschösterreich und der Tschechoslowakei: Die Provisorische Nationalversammlung in Wien hatte den Anspruch auf deutschsprachige Gebiete im Norden und Südosten sowie auf einige Sprach‐ inseln und die damit verbundene Integration von mehr als drei Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen Böhmens und Mährens in ihren Staatsver‐ band erhoben. Diese Forderung vertrat die Regierung, bestehend aus Sozial‐ demokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen unter Staatskanzler Karl Renner ebenso nachhaltig wie die Forderung des Anschlusses des gesamten Staatsgebietes Deutsch-Österreichs an den neuen demokratischen deutschen Staat. Die tschechoslowakische Regierung lehnte diese Forderung von allem Anfang an ab und besetzte die umstrittenen Sprachgebiete ab 1. November 1918 unter Einsatz tschechischer Truppen, 1 wobei es auf deutscher Seite rund 20 Todesopfer 2 gab. Proteste gegen das Verbot der Teilnahme an den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung führten am Tag der Eröffnungs‐ sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung Deutschösterreichs am 4. März 1919 zu einer weiteren Eskalation der Gewalt in der Tschechoslo‐ wakei, wobei 54 Demonstranten in einigen Zentren der deutschsprachigen Gebiete ums Leben kamen. 3 54 Oliver Rathkolb Der Aufbau der Republik Deutschösterreich und des heuten Österreich - ein Vergleich. © Postmann Michael, Public domain, via Wikimedia Commons. Erst mit dem Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 wurde seitens der Alliierten und Assoziierten Mächte klargestellt, dass es kei‐ nerlei Gebietsansprüche Österreichs in den böhmischen Ländern gab. Auch der nachfolgende Wechsel in der Führung der Außenpolitik von Otto Bauer zu Karl Renner entspannte die bilateralen Beziehungen. Während Bauer nicht nur den alternativlosen Anschluss an Deutschland forcierte und gleichzeitig den Zerfall der Tschechoslowakei aufgrund der Klassen- und Nationalitätenkonflikte pro‐ gnostiziert hatte, blieb der 1870 in Unter-Tannowitz/ Dolní Dunajovice (Mähren) geborene Renner eher Realpolitiker trotz seiner Anschluss-Begeisterung. Selbst ein überraschender Besuch von Renner in Prag noch im Jänner 1920 bildete in weiterer Folge nicht die Basis für eine engere politische Allianz zwischen den beiden Nachbarstaaten. Zumindest wurde aber in Prag zwischen Edvard Beneš und Renner sowie in weiterer Folge zwischen dem österreichi‐ schen Bundespräsidenten Michael Hainisch und Präsident Tomáš Garrigue Masaryk auf Schloss Lana (Lány) am 15. Dezember 1921 zum Widerwillen deutschnationaler Politiker die Grundlage für eine positive wirtschaftliche 55 Sensible Beziehungen 4 NAUTZ 1992: 545. und kulturelle bilaterale Zusammenarbeit gelegt. So gehörte beispielsweise die Tschechoslowakei zu den Garanten der Völkerbundanleihe. Präsident Michael Hainisch (li) bei der Konferenz mit dem Präsidenten Tomáš G. Masaryk (re) (Mitte Dezember 1921 auf Schloss Lana) betreffend wirtschaftliche und politische Fragen zwischen Österreich und der ČSR. Eines von vielen Beispielen der nach wie vor funktionierenden kulturellen Interaktionen im zentraleuropäischen Raum sind die zahlreichen Bauten Jože Plečniks (1872-1957), einem Schüler von Otto Wagner und Absolventen der Akademie der bildenden Künste in Wien, der als Architekt slowenischer Her‐ kunft in Wien, Prag und Laibach baute (Prager Burg, Zacherl Haus). Selbst die wirtschaftlichen Kontakte entwickelten sich deutlich besser als die politischen, da Österreich nach wie vor, wie das Projekt einer gemeinsamen Zoll‐ union um 1931 zeigte, in Richtung Deutschland blickte, und die Tschechoslowakei ihrerseits diesem großdeutschen Block gegenüber höchst negativ eingestellt war. 4 56 Oliver Rathkolb 5 HEISS 2003. Verteilung des österreichischen Außenhandels Hingegen funktionierte der kleine Grenzverkehr sehr gut, und es existierten enge familiäre Beziehungen, nicht nur zwischen Wiener Tschechen und Tsche‐ chinnen, sondern durchaus quer durch die ostösterreichische Bevölkerung hindurch mit Verwandten und Freunden in der Tschechoslowakei. Besonders kreativ war die tschechisch-österreichische Filmkooperation, wie der Film-Aufreger Ekstase beweist. 5 57 Sensible Beziehungen Ekstase mit Hedy Kiesler, später Hedy Lamarr und Aribert Mog, 1933. Foto: Nationales Filmarchiv Prag Überdies stand die erfolgreiche und bekannte Österreichische Kulturzeitschrift Die Bühne im Eigentum einer tschechischen Gruppe um Emil Oplatka und dem tschechoslowakischen Außenministerium (1926-1938) - als Teil der Vernay AG mit 600 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (Der Wiener Tag, Der Sonntag etc.). 1927 hatte Die Bühne eine verkaufte Auflage von über 20.000 Exemplaren und wurde vom Prager Außenministerium als gewinnbringendes Werbemedium und nicht als politisches Propagandainstrument angesehen. Es war eine kaleidoskopische Auswahl von Berichten und Geschichten über Film, Mode, Kunst, Musik, aber auch Sport und zunehmend mit sehr erfolgreichen Preisworträtseln versehen. Die Zerschlagung der Demokratie mittels Verfassungsbruch nach einer Ge‐ schäftsordnungskrise 1933 durch den christlichsozialen Bundeskanzler Engel‐ bert Dollfuß und die Etablierung einer Kanzlerdiktatur zerstörten letztlich jede Chance auf eine gemeinsame Anti-Hitler-Koalition zwischen Österreich und der Tschechoslowakei ab 1933. Überdies belastete nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 die Flucht von rund 2000 Sozialdemokraten - unter ihnen die Füh‐ rungspersönlichkeiten Otto Bauer und Julius Deutsch - in die Tschechoslowakei und die Errichtung einer Exilorganisation in Brünn und Prag (das Auslandsbüro österreichischer Sozialisten, Alös) die bilateralen Beziehungen - auch unter dem 58 Oliver Rathkolb 6 Vgl. RATHKOLB 2015: 519. Nachfolger des von Nationalsozialisten ermordeten Engelbert Dollfuß, Kurt Schuschnigg. Dieser suchte in einem Ausgleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland, die Unabhängigkeit der österreichischen Diktatur zu retten. Sah sich aber selbst als Kultur-Deutscher und klerikal geprägter autoritärer Führer. Bereits spätestens Ende 1937 machte der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler in streng geheimen Vorträgen klar, dass sowohl der Anschluss Österreichs als auch die Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei die Grundvor‐ aussetzung für einen totalen Aggressionskrieg waren - durch die ‚Einverleibung der Tschechoslowakei und Österreichs‘ sollte Nahrung für fünf bis sechs Millionen Menschen gewonnen und drei Millionen Menschen in die Emigration vertrieben werden sowie zwölf neue Divisionen aufgestellt werden können. Nationalsozialistisches Terrorregime Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf dem Gebiet des heutigen Öster‐ reich zwischen 1939 und 1945 insgesamt 757.000 ausländische Zivilarbeiter und Zivilarbeiterinnen in der Kriegsindustrie und Landwirtschaft eingesetzt, unter ihnen seit 1939/ 40 zunehmend hohe Anteile von zwangsrekrutierten Arbeits‐ kräften - vor allem aus Polen, der Sowjetunion und rund 80.000 Menschen aus dem besetzten „Protektorat Böhmen und Mähren“, weiters rund 150.000 Kriegsgefangene und 85.900 KZ-Häftlinge und ungarische Juden und Jüdinnen. 6 Rund 15.000 Österreicher und Österreicherinnen jüdischer Herkunft wurden in das deutsche Konzentrationslager Theresienstadt (Terezín) in Nordböhmen aus Wien verschleppt, 4100 von ihnen wiederum wurden weiter in das Vernich‐ tungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Drei Nationalso‐ zialisten aus Österreich - Siegfried Seidl, Anton Burger und Karl Rahm - waren im Rahmen der SS Lagerkommandanten von Theresienstadt. In Wien wiederum setzte der neue Gauleiter Reichsleiter Baldur von Schirach auf enge wirtschaftsstrategische Zusammenarbeit mit dem besetzten ‚Protek‐ torat Böhmen und Mähren‘. Nach Vorgesprächen Schirachs in Prag mit dem Reichsprotektor Freiherr von Neurath fand im Dezember 1941 eine große Ta‐ gung der Südosteuropa-Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft der Wirt‐ schaft in Böhmen und Mähren statt. Reichswirtschaftsminister Walther Funk, der Stellvertretende Reichsprotektor SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich und Reichsleiter Baldur von Schirach eröffneten dieses Netzwerktreffen. Auch Staatspräsident Emil Hácha und Mitglieder der ‚Protektoratsregierung‘ nahmen an der Veranstaltung im Spanischen Saal in der Prager Burg teil. 59 Sensible Beziehungen 7 RATHKOLB 2020: 183. 8 Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte, Universität Wien, Gaupressearchiv Wien (GPA), Karton 5.-7.1942 (1942, KW 23), vgl. auch: Völkischer Beobachter, Wien, 2.5.1942, 7. 9 RATHKOLB 2020: 183-184. Nach dem tödlichen Attentat auf Heydrich beschuldigte Reichsstatthalter Schirach öffentlich bei einer Rede vor Mitgliedern der Deutschen Arbeitsfront am 6. Juni 1942 die „Hamsterer und Lebensmittelschieber“, dass sie die wirt‐ schaftlichen militärischen Erfolge gefährdeten, und attackierte dann ganz kon‐ kret: „Asoziale aller Stände und Schichten unseres Volkes haben sich an diesen Schiebungen beteiligt, in erster Linie aber jüdische und tschechische Elemente“. 7 Und er wurde noch deutlicher: Als ich im Jahre 1940 hierher kam, habe ich unserem Führer gesagt, dass ich meine Hauptaufgabe darin sehe, diese Stadt judenfrei zu machen. Ich kann Ihnen an diesem Abend sagen, dass wir noch im Herbst dieses Jahres 1942 werden wir das Fest eines judenreinen Wiens erleben. (Lange anhaltender tosender Beifall). Was nun die Tschechen in dieser Stadt anbetrifft, möchte ich Ihnen folgendes erklären: Die Kugeln, die unseren Kameraden Heydrich getroffen haben, haben auch uns verletzt, denn diese Kugel galt uns allen. Ich erteile deshalb den mir nachgeordneten Dienststellen des Staates und der Partei den Befehl, nach der erfolgten Evakuierung der Juden sämtliche Tschechen zu entfernen (Das letzte Wort war dem Stenografen in dem einsetzenden lange anhaltenden tosenden Beifall unverständlich). Ich weiss nicht, wen sich diese Mordbuben als nächstes Opfer auserkoren haben. Vielleicht haben sie nun mich dazu ausersehen. (Rufe: Pfui! ) Ich kann Ihnen nur Mitteilen: Mich kann man nicht vernichten, denn ich bin eine Generation (Stürmischer Beifall) und so wie ich diese Stadt judenfrei machen werde, so werde ich sie auch tschechenfrei machen! (Lange anhaltender stürmischer Beifall). 8 Einen Tag später wiederholte er bei einer Sitzung der Wiener Ratsherrn diesen Deportationsvorschlag. Diese öffentliche Debatte über die geplante Deportation von Wiener Tschechen und Tschechinnen wurde aber rasch vom Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann und auch Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels untersagt, und es wurden alle Gauleiter angewiesen, die ‚Tschechenfrage‘ weder in internen Veranstaltungen noch in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Noch 1939 - ein Jahr nach dem ‚Anschluss‘ an das nationalsozialistische Deutschland - gaben 56.284 Wiener und Wienerinnen trotz der extrem deutsch-völkischen rassistischen Propaganda um die nationalsozialistische Volksgemeinschaft Tschechisch als Mut‐ tersprache an und 13.500 bekannten sich sogar zum tschechischen Volk. 9 60 Oliver Rathkolb 10 Die Kapitel 1945-1989 beruhen auf einem kontrollierten und korrigierten Text des Autors aus: KOMLOSY, Andrea (hrsg.) (1995): Kulturen an der Grenze. Wien, S. 79-84. 11 Ebd. 12 KUČERA 1992: 241. Demgegenüber weist Emilia Hrabovec darauf hin, dass einige Politiker trotz gegenteiliger Behauptungen und Schuldzuweisungen an „untergeord‐ nete“ Organe von den wilden antideutschen Exzessen wussten, sie duldeten, mit ihrem Ausbruch bereits im Exil bzw. im Untergrund gerechnet und sie in ihre innenwie außenpolitische Strategie einkalkuliert hatten, vgl. HRABOVEC 1993: 57. 13 Vgl. dazu STANĚK 1991; Češi - Němci - odsun. 1990; LUFA 1964. Nachbarschaft zwischen Kontakten und Konfrontationen: Österreich und die Tschechoslowakei 1945-1948 10 Noch ehe erste Nachkriegs-Verbindungen zwischen der Provisorischen Staats‐ regierung Renner in Wien und dem Prager Nationalausschuß bzw. der Kaschauer Regierung hergestellt wurden, war längst das erste zentrale Problem für die bilateralen Beziehungen beschlossen worden: die Aussiedlung der gesamten deutschsprachigen Minderheit. Nach den zunehmenden Repressionen und Greueltaten des NS-Regimes im ‚Protektorat‘ seit 1942 war es, so der tschechi‐ sche Historiker Jaroslav Kučera, „für keine politische Kraft, die zukünftig mit‐ bestimmen wollte, mehr möglich, in dieser Frage einen anderen, sei es auch nur etwas differenzierten Standpunkt“ 11 einzunehmen. „Verhängnisvoll war jedoch die Tatsache, daß weder die Regierung noch die politischen Parteien effektive Mittel besaßen, die erregte antideutsche Stimmung zu kontrollieren. Der Grund dafür war nicht nur die Absenz eines funktionierenden Staatsapparates vor allem in den Grenzgebieten, sondern auch die Tatsache, daß jede Partei auf einen Fehler der anderen wartete“ 12 . Im Folgenden kann nicht exakter und umfassender auf die Problematik der Vertreibung oder des ‚Transfers‘ bzw. des ‚Abschubs‘ (so die tschechischen Diktionen) eingegangen werden, 13 sondern es soll primär deren Auswirkung auf das bilaterale Verhältnis thematisiert werden. Auch die punktuellen Kontakte zwischen österreichischen Exilantenorganisationen bzw. Einzelpersönlichkeiten in den USA und vor allem in England während des Zweiten Weltkrieges bleiben hier unberücksichtigt, da sie keinerlei konkrete Folgen für die zwischenstaatlichen Beziehungen nach 1945 hatten. Bereits vier Wochen nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee und zwei Wochen nach Etablierung der Provisorischen Staatsregierung fürchtete Leopold Figl, der Landeshauptmann Niederösterreichs, dass neben den tausenden Vertriebenen noch weitere Hunderttausende Ausge‐ wiesene sein Bundesland überfluten würden. Zu diesem Zeitpunkt, dem 12. Juni 1945, gab es große Probleme mit der Lebensmittelversorgung der bisher eingetroffenen Flüchtlinge, und Figl forderte die sofortige Sperre der Grenze 61 Sensible Beziehungen 14 KNIGHT 1988: 91. 15 Vgl. ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV, Archiv der Republik: 1945: 68/ 118.146. 16 Vgl. LINSBICHLER 1991: 11. 17 KRÁL 1964: 564-565. 18 Ebd. durch sowjetische Truppen, um die sudetendeutschen Flüchtlinge nach Deutsch‐ land abzudrängen, denn, so seine Argumentation, "alle deutschsprechenden Menschen in der Tschechoslowakei haben für Deutschland optiert“ 14 . Ein anderer Konfliktlösungsvorschlag, der ebenfalls diskutiert wurde, betraf einen möglichen Bevölkerungstausch, d.h. ‚Wiener Tschechen‘ gegen Staatsbürger deutscher oder österreichischer Herkunft. In Verhandlungen mit einer tschechoslowakischen Delegation lehnte aber Staatskanzler Renner diese Idee ab und forderte seinerseits Ersatz für die von den Flüchtlingstrecks verursachten Schäden und die Versor‐ gung der Flüchtlinge in provisorischen Lagern. Dieses Memorandum an den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Zdeněk Fierlinger vom 15. Juli 1945 blieb jedoch unbeantwortet. 15 In der ersten Phase dieser ‚wilden Vertreibungen‘, die voll von Brutalität gewesen waren und zahlreiche Todesopfer verursacht hatten, kamen nach offiziellen Statistiken rund 150.000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei nach Österreich. 16 Noch im August 1945 versuchte die Regierung Renner, eine ‚Rück‐ übernahme‘ der ‚deutschsprachigen tschechoslowakischen Staatsbürger‘ bzw. zumindest Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen zu deren Versorgung auszuhandeln. Der Rechtsstandpunkt des tschechoslowakischen Außenminis‐ teriums hingegen ging davon aus, dass alle „Deutschen, welche nach dem 5. Mai 1945 die tschechoslowakisch-österreichische Grenze überschritten“, als „reichsdeutsche“ Staatsangehörige eingestuft wurden. 17 Überdies unterstellte die tschechoslowakische Diplomatie, dass ein erheblicher Teil der Deutschen, welche nach dem 5. Mai die tschechoslowa‐ kisch-österreichische Grenze überschritten, sie freiwillig im Bewußtsein der schweren Frevel überschritt, die in der Zeit des nazistischen Okkupationsregimes […] begangen wurden […]. Die Zahl der aus Südmähren Geflüchteten ist deshalb so hoch, weil dort einer der Hauptbrennpunkte der antitschechischen Agitation schon in der Vor- Münchener Periode bestand. 18 Selbst die ‚wilden‘ Vertreibungen durch die ‚Nationalausschüsse‘ (národní vý‐ bory) wurden als ‚begreifliche revolutionäre Reaktion‘ auf die Gewalttätigkeiten Deutscher während der NS Zeit qualifiziert. Ebenso wenig wurde auf die anfangs in Prag angewendeten Unterscheidungen zwischen österreichischen 62 Oliver Rathkolb 19 Zur Entspannung der Flüchtlingssituation trugen auch die „Repatriierungsmaß‐ nahmen“ mit Zielort Deutschland bei. Rund die Hälfte der nach Österreich vertriebenen Deutschen aus Südböhmen und -mähren wurden ab Mitte Jänner 1946 in Sammellager (z.B. Melk) konzentriert und dann vor allem in die amerikanische Zone nach Deutsch‐ land gebracht. Insgesamt betraf dies 156.577 „repatriierte Volksdeutsche“ (PAPE 2000: 104). 20 Vgl. RATHKOLB 1993: 483. und deutschen Staatsbürgern (per Stichtag 12. März 1938) Rücksicht genommen. Die Abschiebungen waren für die tschechoslowakische Seite endgültig. Als sich nach den ersten Monaten die alliierten Siegermächte darüber geeinigt hatten, dass die Sudetendeutschen großteils in die deutschen Besatzungszonen transferiert wurden, und sich die Flüchtlingssituation der nach Österreich gelangten Vertriebenen langsam entspannte, 19 gab es am Ballhausplatz kein Interesse mehr, diese Frage weiter zu thematisieren. Offensichtlich hatte die Regierung Renner nicht die Absicht, den moralisch-politischen Hintergrund der Vertreibungen weiter zu diskutieren und als Anliegen im nationalen Interesse Österreichs zu vertreten. Dies war bereits im Zusammenhang mit der ‚Affäre Marek‘ ziemlich deutlich geworden. Der österreichische Gesandte bis 1938 in Prag, Ferdinand Marek - er war 1938 vom Deutschen Außenamt nicht übernommen, sondern mit gekürzten Bezügen pensioniert worden -, hatte bereits am 12. Mai 1945 das ehemalige ös‐ terreichische Gesandtschaftsgebäude in der Jungmannova 9 in Prag ‚okkupiert‘ und eine Provisorische Österreichische Gesandtschaft (Rakouské velvyslanectví ad interim) errichtet. Er schaffte es, zumindest zeitweise beim Prager Nationalaus‐ schuss eine unterschiedliche Behandlung von Österreichern und Deutschen bei den Beschlagnahmungen und Ausweisungen zu erreichen. Tausende wurden aus Lagern der tschechischen Milizen befreit und mit Lebensmitteln versorgt, überdies zwei Bahntransporte in Richtung Österreich durchgeführt. Bis zum heutigen Tag ist ungeklärt, warum Marek nach einer Vorladung beim sowje‐ tischen Stadtkommandanten inhaftiert und in die Sowjetunion verschleppt wurde. Er wurde zwar 1993 politisch rehabilitiert - mit dem angeblichen Sterbejahr 1948 -, ohne dass jedoch die entsprechenden russischen Dokumente freigegeben worden wären. 20 Nach wie vor deutet der Verfasser die vorliegenden Dokumente eher dahingehend, dass Mareks Aktivismus die rigorosen Beschlag‐ nahmungen und Vertreibungen durch tschechische Nationalisten im Umkreis des Nationalausschusses störte und er auch bei der Ausgabe von ‚Österreicher- Bescheinigungen‘ durchaus fallweise ‚Reichsdeutsche‘ einschloss. Inwieweit die von František Svátek auf einer Tagung der Akademie der Wis‐ senschaften in Wien 1994 referierte Zeugenaussage einer Sekretärin Mareks, 63 Sensible Beziehungen 21 Vgl. ebd.: 484. 22 Vgl. ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV, Archiv der Republik: 1945: 1.532. 23 KRÁL 1964: 585. dass er während der deutschen Okkupation mit deutschen Dienststellen Kontakt gehabt und beschlagnahmtes tschechisches Vermögen bzw. Wirtschaftsbetriebe erworben bzw. verwaltet habe, diese Beurteilung ändert, werden weitere Quellenstudien zeigen. Jedenfalls ließ Staatskanzler Renner, obwohl er direkt brieflich mit Marek in Verbindung stand, diesen sofort nach der Verhaftung fallen und ernannte dessen Stellvertreter Alois Vollgruber zum ‚österreichischen bevollmächtigten Vertreter in Prag‘. Auch die tschechische Seite wollte den „Fall Marek“ sofort vergessen machen und anerkannte Vollgruber binnen weniger Tage - sogar unter „Zusicherung der Exterritorialität“. In Wien gab es zu diesem Zeitpunkt nur ein „Repatriierungsreisebüro“, geleitet von Wiener Tschechen. 21 Volle diplomatische Beziehungen wurden erst im September 1946 aufge‐ nommen, nachdem der „Bevollmächtigte“ František Bořek-Dohalský sein im Juli 1946 ausgestelltes Beglaubigungsschreiben überreicht hatte. Das Desinteresse seitens der Provisorischen Staatsregierung Renner, die Frage der „Vertreibung der Sudetendeutschen“ zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Österreich und der Tschechoslowakei zu machen, wurde dadurch unterstrichen, dass schon im September 1945 von Unterstaatssekretär Karl Gruber erste Wirt‐ schaftsverhandlungen in Prag aufgenommen wurden. Präsident Beneš signali‐ sierte dabei, dass durchaus die Möglichkeit bestand, die Verstaatlichungsmaß‐ nahmen, die auch „österreichisches Eigentum“ betroffen hatten, zu reduzieren. Doch bei der Gelegenheit zeigte sich schon ein deutlicher Unterschied zwischen der Atmosphäre bei den Gesprächen mit Beneš bzw. dem besonders Österreichfreundlichen Außenminister Jan Masaryk und dessen kommunistischem Stell‐ vertreter, Staatssekretär Vladimír Clementis, der betont kühl und unfreund‐ lich die innenpolitische Entwicklung Österreichs kommentierte. 22 Tatsächlich wurde als Ergebnis dieses Besuches ein Wirtschaftsabkommen unterzeichnet, um die Kohleversorgung Österreichs sicherzustellen. Die privatwirtschaftlichen Kontakte entwickelten sich ebenfalls relativ gut, sodass 1946 rund zwei Drittel des Osthandels Österreichs mit der Tschechoslowakei abgewickelt wurden. 1946 wurde in Österreich sogar die Idee geprüft, eine Zollunion mit der ökonomisch wesentlich stärkeren Nachbarrepublik einzugehen, doch 1947 sank - trotz Umsatzsteigerung um das Dreifache - der bilaterale Handel, verglichen mit anderen osteuropäischen Wirtschaftskontakten. Gruber sollte als Außenminister in der Folge massiv und deutlich „die Frage der Sudetendeutschen […] als eine rein innenpolitische Angelegenheit“ 23 charakterisieren. Konträr zu seiner minderheitenfreundlichen Südtirol-Politik 64 Oliver Rathkolb 24 Ebd. 25 Vgl. TUMA 1989: 234-247. 26 Vgl. ebd.: 254-255, 274. 27 DEUTSCH 1960: 399. wandte er sich strikt gegen Versuche in Österreich, Material über die Vertrei‐ bungen zu sammeln oder die antitschechische Stimmung in den Grenzgebieten zu steigern. Wörtlich erklärte Gruber zu seiner Einschätzung der Sudetendeut‐ schen: „Es waren Leute, die Ihnen immer Schwierigkeiten bereitet haben und sie jedem bereiten würden. Es ist natürlich, dass Sie sie loswerden wollen. Ich versichere Ihnen, dass ich und unsere gesamte Regierung dieses Problem in gleicher Weise beurteilen“ 24 . Im Unterschied zur Situation nach 1918 hatten Grenzfragen vorerst keine Rolle gespielt, trotz Zeitungsberichten, die eine Erweiterung des tschechoslo‐ wakischen Brückenkopfs bei Preßburg/ Bratislava ebenso forderten wie die Schaffung eines „slawischen Korridors“ durch Gebietskorrekturen im March‐ feld und bei Nikolsburg/ Mikulov, Grenzbegradigungen bei Neubistritz/ Nová Bystřice, Weitra/ Vitoraz, Litschau und Zwettl/ Světlá sowie Gebietsstreifen östlich von Passau/ Pasov und Grenzberichtigungen entlang der Thaya/ Dyje. 25 Erst am 2. Juli 1946 sondierte das tschechoslowakische Außenministerium in einer streng vertraulichen Verbalnote an den Ballhausplatz die Möglichkeit, österreichisches Staatsgebiet entlang der Thaya und zur Erweiterung des Preß‐ burger Brückenkopfes mittels Kompensationslieferungen zu erwerben; auch ein Gebietsabtausch wäre denkbar gewesen. Die österreichische Bundesregierung lehnte jedoch ab, da sonst der Donau-Oder-Kanal niemals in die Nähe Wiens kommen könnte. Zwar wurden diese und weitere Forderungen offiziell - mit grundsätzlicher Kompensationsbereitschaft - auch während der Londoner Konferenz 1947 angemeldet, jedoch von der tschechoslowakischen Seite nicht wirklich intensiv vertreten. 26 Hinsichtlich der grundsätzlichen geopolitischen Orientierung der beiden Nachbarn im sich abzeichnenden ‚Kalten Krieg‘ wurde Ende 1946 deutlich, dass selbst auf Ebene der jeweiligen sozialistischen Parteien die SPÖ einen pro-amerikanischen Kurs unterstützte - oder zumindest, wie Julius Deutsch, für ‚Äquidistanz‘ zu den beiden großen Nachkriegssystemen eintrat. Die tsche‐ choslowakische Schwesterpartei, auf der Tagung vertreten durch Fierlinger, erwartete sich aber nur im Osten Schutz vor einem möglichen erstarkten und ag‐ gressiven Deutschland. Fierlinger schlug auf der Konferenz der sozialistischen Parteien der Tschechoslowakei, Polens, Ungarns, Bulgariens und Österreichs vor, die diskutierte Wirtschaftsdonauföderation unter „die Protektion Sowjet‐ rußlands zu stellen“ 27 . 65 Sensible Beziehungen 28 Vgl. RATHKOLB 1993: 489. 29 ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV, Archiv der Republik: 1947: 5/ 107-480 pol. 47. 30 Ebd. 31 Ebd. Auf außenpolitischer Ebene wurde der prowestliche Kurs Österreichs, der vor allem ab 1946 sichtbar wurde, auch vom tschechoslowakischen Außenministe‐ rium kritisiert. Da die Tschechoslowakei aber stärker die sowjetischen Inter‐ essen mitberücksichtige, komme es immer mehr zu einer Auseinanderentwick‐ lung der beiden Nachbarn. Konkret zeigte sich die geopolitische Divergenz bei der Abstimmung über die Südtirolfrage auf der Pariser Friedenskonferenz 1946, als Außenminister Masaryk die österreichischen Interessen unterstützen wollte, sich aber letztlich aufgrund der erhofften sowjetischen Hilfe bei den eigenen Gebietsansprüchen gegenüber Ungarn und dem Desinteresse der Sowjetunion an der österreichischen Südtirol-Politik zu einer Umkehr seines Abstimmungs‐ verhaltens genötigt sah. 28 1947 vergrößerte sich die Kluft in geopolitischer Hinsicht, sodass der Generalsekretär im Prager Außenamt, Heidrich, Österreich vorwarf, „sich zu einem Protektionskind Amerikas entwickelt“ zu haben. 29 Hierbei sollte aber angemerkt werden, dass der innertschechische Diskurs über die geopolitische Ausrichtung keineswegs linear verlief, die Außenminister Masaryk im selben Jahr unter Hinweis auf das tschechisch-russische Verhältnis folgendermaßen klassifiziert: Er [Masaryk, Anm. d. Verf.] legte den Akzent auf den Unterschied in der Mentalität der beiden Völker. Aus diesem Unterschied sei es auch zu erklären, daß der Kommunismus in der ČSR eine andere Entwicklung nehme als in der Sowjetunion. ‚Wenn man von mir verlangt, dass ich mir nur Symphonien moderner russischer Komponisten anhören soll, oder dass ich Rilke nicht lesen darf, weil er ein Deutscher ist, oder dass ich Zwetschkenknödel essen muss, die ich hasse, dann tue ich nicht mit‘ 30 . Daher hoffte er aus ordnungspolitischen Gründen auf enge Beziehungen zwi‐ schen den beiden Nachbarstaaten, „da ja letztlich jeder von uns noch eine Tante in Österreich“ 31 habe. Latente Konflikte trotz Nachbarschaftspolitik 1948-1958-1967/ 68 Mit dem Prager Putsch 1948, der Besorgnis bezüglich Vorbildwirkung in Öster‐ reich hervorrief, endete die Phase der ‚gemischten‘ nachbarschaftlichen Gefühle und Kontakte und wurde Teil der propagandistischen Konfrontation im Kalten Krieg. Die nächsten Jahrzehnte sollten in erster Linie von wechselseitigen Pressepolemiken bestimmt werden, dominiert von anti-kommunistischen bzw. 66 Oliver Rathkolb 32 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1958. 33 Vgl. SIEGLER 1973: 148. 34 Vgl. BIELKA 1983: 224-225; in amtlichen Unterlagen des Bundesministeriums für Aus‐ wärtige Angelegenheiten ist einmal von 50.000, dann wieder von 60.000 Anmeldungen die Rede, wobei letztere Zahlen offensichtlich ehemalige „Sudetendeutsche“ und nach 1945 österreichische Staatsbürger miteinschlossen - vgl. KREISKY-ARCHIV 1960/ 1. kommunistischen Hardlinern. Die diplomatischen Akten dieser Jahre quellen über vor Beispielen für Debatten über Grenzverletzungen, den Eisernen Vor‐ hang und die radikale Pressepolemik. Die wechselseitigen Perzeptionen dieser späten 1940er- und 1950er-Jahre werden von klaren Kalten Kriegs-Feindbildern bestimmt - mit Ausnahme der unkritischen Einschätzungen der KPÖ durch tschechoslowakische Ebenen bzw. der ČSSR durch KPÖ-Organe und -Institu‐ tionen. Derartige Nischen-Vorstellungen waren aber nicht maßgebend für die großen Mehrheiten in der Bevölkerung. Es gibt zwar bis heute keine Unter‐ suchungen zu diesem Perzeptionsthema, aber Meinungsumfragen nach 1989 lassen den Schluss zu, dass die Kalte Kriegs-Propaganda eher das Tschechen-Bild der Österreicher negativer werden ließ - aufbauend auf Fremdeinschätzungen aus der Monarchie, Zwischenkriegs- und NS-Zeit bzw. den ersten Nachkriegs‐ jahren (‚Vertreibungssyndrom‘). Im Juni 1958 versuchte der tschechoslowakische Außenminister Viliam Široký, die auf dem ‚Nullpunkt‘ dahindämmernden Beziehungen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei zu entkrampfen und zu verbessern. Seit 1948 dominierten meist Zwischenfälle an der gemeinsamen Grenze die diplo‐ matischen Kontakte. Široký signalisierte Interesse an einer gemeinsamen Politik zur Etablierung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa und unterstützte einen entsprechenden Plan des polnischen Außenministers Adam Rapacki. 32 Bundeskanzler Julius Raab zeigte sich zu konkreten Entspannungsschritten bereit, erklärte aber gleichzeitig, dass etwa die Handelsbeziehungen nur dann ausbaufähig seien, würde die Frage des österreichischen Vermögens in der Tschechoslowakei gelöst. 33 Im Unterschied zu den anderen kommunistischen Staaten gab es vielschichtige Vermögensansprüche und Kapitalbeteiligungen aus der Zwischenkriegszeit, und die Republik Österreich beharrte auf einer Lösung dieser „schwebenden Frage“, d.h. der Entschädigung der rund 40.000 Alt-Österreicher (österreichische Staatsbürger vor dem „Anschluss“ im März 1938), die von den Enteignungen nach 1945 betroffen waren. 34 Das Bundesmi‐ nisterium für Finanzen schätzte 1960 den Wert dieses beanspruchten Vermögens auf rund 480 Millionen Dollar, woraus bereits klar wurde, dass die Entschädi‐ gung realistischerweise weit darunter liegen würde. 67 Sensible Beziehungen 35 Vgl. SVOBODA 1993: 126. 36 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1960/ 2. 37 MEIER-WALSER 1988: 351-352. Wie nachrangig jedoch diese Annäherungsversuche von der österreichischen Bundesregierung eingestuft wurden, zeigte die interne und öffentliche Diskus‐ sion über die Abhaltung des „Sudetendeutschen Tages“ in Österreich. Nur der konservative Unterrichtsminister Heinrich Drimmel versuchte, dieses Vor‐ haben zu Fall zu bringen, indem er auch das VII. Weltjugendfestival unter Hinweis auf zu geringe Unterbringungsmöglichkeiten sozusagen im Junktim verhindern wollte. 35 Der „Sudetendeutsche Tag“ am 16./ 17. Mai 1959 in Wien zerstörte - trotz diplomatischer Interventionen hinter den Kulissen, die die revanchistischen Töne dieser Veranstaltung zurückdrängen sollten - die dünne Gesprächsbasis. Offensichtlich wagte es keine große politische Gruppierung in Österreich, durch eine Absage ein scheinbar wichtiges Wählersegment zu vergrämen, wobei sich die ÖVPSpitzen Figl und Raab in dieser Frage sehr en‐ gagierten. Erst im Juni 1960 sollten bei einem Besuch des tschechoslowakischen Vizeaußenministers Antonn Gregor konkrete Vorschläge zur Vermögensfrage diskutiert werden, ohne in der komplizierten Frage des ‚kleinen‘ und ‚großen Vermögens‘ der ‚Altösterreicher‘ Einigung zu erzielen. Zumindest am Rande konnten einige Abkommen konkretisiert werden (auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet). Das grundsätzliche politische Problem hinter all diesen - technisch lösbaren - Vermögensfragen basierte auf der unterschiedlichen Einschätzung der „Alt‐ österreicher“. Die tschechoslowakische Seite wollte von allem Anfang an die „Neuösterreicher“, d.h. die 1945 und danach aus der ČSR vertriebenen und in Österreich eingebürgerten Personen, von Vermögensansprüchen per se ausschließen, da sie als „sudetendeutsche Revanchisten“ eingestuft wurden. 36 Noch im Jahr 1966 bezeichnete der tschechoslowakische Außenminister David die „Volksdeutschen in Österreich [...] als faschistische Spione, die einen Angriff auf die Tschechoslowakei vorbereiten wollen, Leute, die in einem nicht zu ver‐ tretenden Ausmaß von Österreich unterstützt würden“ 37 . Seit 1945 wurden aber auch die Forderungen dieser Neuösterreicher von der Republik vertreten, was die Verhandlungen letztlich auf relativ niederer Ebene permanent blockierte. Zwar gab es eine Reihe von punktuellen Entspannungsversuchen seitens der tschechoslowakischen Regierung durch relative Liberalisierung des Reise‐ verkehrs, diverse Messebesuche von österreichischen Regierungsmitgliedern sowie einen mehrtägigen Besuch des stellvertretenden Ministerpräsidenten Otakar Šimůnek, ohne aber die Grundprobleme der bilateralen Spannung zu lösen. 1967 verschärfte sich die Situation noch durch die Tötung eines DDR- 68 Oliver Rathkolb 38 Vgl. ebd.: 352. 39 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1968/ 1. 40 Vgl. SCHENZ 1984: 74-75. 41 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1968; vgl. STANEK 1985: 92-93. Flüchtlings - angeblich auf österreichischem Staatsgebiet - durch tschechoslo‐ wakische Grenzorgane. 38 Zwar wurden die Vermögensverhandlungen 1967 auf Beamtenebene fortge‐ führt und auch der Grenzübertritt wurde einfacher, aber der Einmarsch des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei machte erste ‚Annäherungen‘ zwischen Außenminister Kurt Waldheim und seinem Amtskollegen Jiří Hájek in einem Gespräch in Preßburg/ Bratislava am 21. Juni 1968 rasch wieder zunichte. 1968-1976/ 77: Von der Eiszeit zur reservierten Normalisierung Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei überraschte die österreichische Regierung und führte zumindest kurzfristig zu fast panikartigen Reaktionen und zu einer Reihe von psychologischen und militärstrategischen Fehlleistungen, die an der Grenze besonders stark registriert wurden. Erst als deutlich wurde, dass der militärische Vormarsch nicht auch österreichisches Staatsgebiet miteinschließen würde, beruhigte sich die Situation allmählich. Zwar nahmen die Luftraumverletzungen durch sowjetische Flugzeuge nördlich der Donau - verglichen mit den ersten Grenzverletzungen im grenz‐ nahen Bereich - zu, doch seit 1. September 1968 hörten nach Interventionen des österreichischen Botschafters in Moskau die Luftraumverletzungen, die als Auf‐ klärungsflüge interpretiert wurden, auf. 39 Da trotz des Einmarsches die Grenzen der Tschechoslowakei vorerst nicht gesperrt wurden, konnten Emigranten mittels eines Visums - so sie über einen Pass verfügten - nach Österreich ausreisen. Da der österreichische Botschafter in Prag, der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, eine Weisung aus Wien missachtete und weiterhin mit allen verfügbaren Kräften Sichtvermerke ausstellte, 40 gelangten viele tschechoslowa‐ kische Staatsbürger nicht nur aus den jeweiligen Urlaubsländern Jugoslawien oder Ungarn als Flüchtlinge nach Österreich. Bis zum 17. September 1968 wurde in 93.653 Fällen für tschechoslowakische Staatsbürger, die aus der ČSSR nach Österreich kamen, Quartier und Verpflegung zur Verfügung gestellt. Dazu kamen im Zeitraum von 12. August bis 23. Oktober 1968 noch rund 66.000 Menschen, die vorwiegend aus Jugoslawien eingereist waren. In diesem Zeitraum stellten aber nur 2248 Personen Asylanträge. 41 Über 129.000 Personen reisten aber schließlich doch noch in ihre Heimat. Nur zweibis dreitausend tschechoslowakische Staats‐ bürger und Staatsbürgerinnen blieben in Österreich, alle übrigen wanderten in 69 Sensible Beziehungen 42 PRAVDA, Bratislava/ Pressburg, 7.1.1971. 43 RUDÉ PRÁVO 1972. 44 RUDÉ PRÁVO 1977. andere Länder aus. Obwohl Außenminister Kurt Waldheim die bilaterale Situation nach dem Einmarsch 1968 auch in internationalen Erklärungen vor der UNO nicht verschärfen wollte, blieben die sporadischen Presseberichte über Österreich grundsätzlich negativ eingestellt. Zwischen Entspannungsversuchen, stetigen Wirtschaftskontakten und Auseinandersetzungen um die Menschenrechte 1970-1989 Diese Pressepolemik nahm in den 1970er-Jahren seitens tschechoslowakischer Medien noch zu - unter anderem wurde Kreisky beschuldigt, Ideen Großeu‐ ropas ähnlich jenen Adolf Hitlers zu vertreten und sich „verleumderischer Ausfälle gegen das čsl. Volk und die KPČ“ schuldig gemacht zu haben. 42 Immer wieder explodierten Beispiele von Spionageaffären bzw. Neonazi-Ak‐ tivitäten bzw. Verbindungen Österreichs zur NATO im Verteidigungs- und Nachrichtendienstbereich. Es würde die Grenzen des Artikels sprengen, auf diese Argumentationslinien im Einzelnen einzugehen, doch wird deutlich, dass besonders Kreisky, der eigentlich sehr enge persönliche Beziehungen zur Tschechoslowakei hatte - sein Vater stammte aus Böhmen, seine Mutter aus Mähren -, besonders heftig attackiert wurde. Dabei wurde immer wieder seine jüdische Herkunft - sozusagen als subkutaner antisemitischer Untergriff - pointiert erwähnt. Im Zusammenhang mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurde überdies sein Vorschlag, das Nahostproblem auf die Tagesordnung zu setzen, vehement abgelehnt. Kreiskys Versuche, einen Brückenschlag zwischen EFTA und EWG im Sinne einer großen Freihandels‐ zone herzustellen, galten in dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei der ČSSR Rudé právo (3.3.1972) als Verletzung des Staatsvertrages (Verbot des Anschlusses an Deutschland). 43 Als auch Kreisky - ähnlich wie Raab 1959 - die Abhaltung des "Sudetendeutschen Tages“ nicht verhinderte, wurde er wie‐ derum in einer auch in Rudé právo (6.5.1977) abgedruckten Rede des Sekretärs des ZK Jan Fojtík als „Rechts-Führer der Sozialdemokratie“ bezeichnet und in‐ direkt auch als Bestandteil einer neuen „antikommunistischen Heiligen Allianz“ attackiert, die unter der „Rauchblende des sogenannten Kampfes zum Schutz der Menschenrechte“ eigentlich die „Destabilisierung der Gesellschaftsordnung der sozialistischen Länder“ anstrebe. 44 So war es nicht verwunderlich, dass das erste Treffen auf hoher Entschei‐ dungsträgerebene erst am 30. Juli 1975 am Rande der KSZE-Konferenz in Hel‐ 70 Oliver Rathkolb 45 KREISKY-ARCHIV I 975/ 30. Juli. 46 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1976/ 1. 47 KREISKY-ARCHIV 1978/ 1, Besuchsmappe: 13. 48 Ebd. sinki zwischen Präsident Husák und Bundeskanzler Kreisky stattfand, nachdem am 19. Dezember 1974 endlich der Vermögensvertrag abgeschlossen war und normale diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden, womit auch die Gesandtschaften in den Rang von Botschaften erhoben wurden. Kreisky hoffte, dass Gustav Husák „so großzügig wie möglich bei allen Fragen der Grenzüberschreitung“ sein sollte, denn in unmittelbarer Grenznähe zur ČSSR lebten mehr als 4 Millionen Österreicher, die außerordentlich reiselustig seien. 45 Zwischen 1974 und 1975 hatten sich die österreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen zusehends entspannt, sodass der erste Besuch eines österreichi‐ schen Bundeskanzlers am 16./ 17. Februar 1976 stattfinden konnte. Kreisky blieb jedoch seiner Devise treu, auch Menschenrechtsfragen im Bereich humanitärer Fälle zur Sprache zu bringen, was primär die österreichische Volksstimme kritisierte, die ebenso gegen ein Reisedelegationsmitglied, den FPÖ-Obmann und ehemaligen SS-Angehörigen, Friedrich Peter, Stimmung machte. Unter anderem war ein Besuch des Konzentrationslagers Theresienstadt vorgesehen, in dem enge Verwandte Kreiskys umgekommen waren. Der Hintergrund dieses Besuches wurde aber in erster Linie von ökonomi‐ schen Fragen und der Erleichterung des Grenzübertritts geprägt. Es war kein Zufall, dass erste Besuche nach dem August 1968 und in der Ära Kreisky jeweils von den Handelsministern (Otto Mitterer bzw. Josef Staribacher) absolviert wurden. 1974 erreichten die österreichischen Exporte nahezu 3 Milliarden, die Importe rund 3,1 Milliarden Schilling. Die ČSSR rangierte unter den österreichi‐ schen Handelspartnern an 13. Stelle (innerhalb der COMECON-Handelspartner an dritter Stelle), Österreich war unter den westlichen Handelspartnern der ČSSR der zweitgrößte und rangierte in der gesamten Außenhandelsbilanz am neunten Platz. 46 Das bilaterale Verhältnis blieb aber besonderen Empfindlichkeiten unter‐ worfen, wobei das aktive Engagement Kreiskys zugunsten der Charta 77-Bewe‐ gung Anfang 1977 heftige Reaktionen in tschechoslowakischen Medien hervor‐ rief, der bereits fixierte Gegenbesuch von Ministerpräsident Lubomír Štrougal kurzfristig abgesagt und auf die „Ausfälle offizieller österreichischer Stellen“ 47 hingewiesen wurde. Die Verleihung des österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur 1977 an den Schriftsteller Pavel Kohout bezeichnete der tschechoslowakische Vizeaußenminister als „unangebrachte politische Geste“ 48 . Die Konfrontationen setzten sich auch im Zusammenhang mit anderen Dissi‐ 71 Sensible Beziehungen 49 RUDÉ PRÁVO 29. 1. 1979. 50 Vgl. KREISKY-ARCHIV 1982/ 1, Besuchsmappe: 23. 51 Vgl. AUßENPOLITISCHER BERICHT 1989: 635. denten fort. Der „Sudetendeutsche Tag“ 1977 dürfte bei dieser Absage nicht wirklich eine Rolle gespielt haben. Es gab nur Anfang 1979 eine kurze Phase - vor allem im Zusammenhang mit dem Madrider Folgetreffen der KSZE, auf dem Kreisky die tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen besonders positiv hervorgestrichen hatte -, in der die Beziehungen aus Prager Sicht so gut wie nie seit 1918 bezeichnet wurden. 49 Zunehmend wurden auch Fragen des Betriebs von Kernkraftwerken in Grenznähe ein Thema für Expertengespräche. Je intensiver sich Kreisky gegen Wiederaufrüstungsbestrebungen der USA unter Reagan und der NATO aussprach, umso besser wurde die Gesprächsbasis auf höchster Ebene (etwa mit Štrougal), obwohl es hier Schwankungen gab. Nach der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen wurde eine Abkühlung in den Beziehungen zu Österreich immer wirksamer und erreichte mit der Spionageaffäre Josef Hodic, der - als Chartamitglied getarnt - in Österreich eine Stellung in einem Forschungsinstitut gefunden hatte, einen absoluten Tiefpunkt, sodass der Besuch von Staatspräsident Husák verschoben werden musste. 50 Ende 1981 signalisierten tschechoslowakische Stellen jedoch Entspannungsinteresse, und 1982 konnte zu‐ mindest der geplante Husák-Besuch durchgeführt werden. Auch im ökonomischen Bereich waren Stagnationen zu verzeichnen, die vor allem seit 1978 österreichische Exporte betrafen; die Importe verlangsamten sich erst 1981, da Österreich den Bedarf an Erdölerzeugnissen, Holz und Kohle decken musste. Immer wieder kam es in den 1980er-Jahren zu Grenzzwischenfällen. Heftige Reaktionen löste die Erschießung eines tschechoslowakischen Flüchtlings auf österreichischem Staatsgebiet durch ČSSR-Grenzsoldaten aus. In den folgenden Jahren blieb diese Spannung bestehen, die sich immer wieder bei Grenzzwi‐ schenfällen entlud und auch bei langwierigen bis schikanösen Behandlungen im Grenzverkehr spürbar war. Insgesamt gab es eigentlich bis 1989 zwar eine stetige Entwicklung in den bilateralen außenpolitischen Kontakten zwischen der ČSSR und der Republik Österreich, doch im Unterschied zu den Beziehungen zu Ungarn oder Jugosla‐ wien waren die Sensibilitäten und die Bereitschaft zur Konfrontation extrem hoch. Noch im Februar 1989 reagierte das Prager Außenministerium auf eine Intervention Österreichs zugunsten des neuerlich verurteilten Václav Havel und anderer Bürgerrechtsaktivisten auf der Basis des KSZE-Schlussdokuments mit einer Intervention im Zusammenhang mit dem Vorgehen der Polizei bei der Wiener Opernballdemonstration. 51 Im November/ Dezember 1989 wurden die Grundlagen für ein völlig neues Beziehungsgeflecht zwischen den beiden 72 Oliver Rathkolb demokratischen Nachbarn in der Mitte Europas gelegt, das sich wesentlich von allen bisherigen historischen Entwicklungen seit 1945 unterschied. Selbst der Zeitraum 1945 bis 1948 war im Zuge des Kriegsendes, aufgrund der innertsche‐ chischen Politik der Vertreibung und Beschlagnahme ‚deutschen‘ Vermögens, wovon auch österreichische Interessen nachhaltig betroffen waren, und wegen des Kalten Krieges von anderen Rahmenbedingungen geprägt. Literatur BIELKA, Erich (1983): Österreich und seine volksdemokratischen Nachbarn. In: Ders. 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Wien. 74 Oliver Rathkolb Sprachen trennen und verbinden Sprachliche und kulturelle Konvergenz in den linguistischen Arealen der ehemaligen Habsburgermonarchie Stefan Michael Newerkla Abstract This paper deals with conditions that make analysing linguistic and cultural contact areas in the former Habsburg monarchy, as the result of pluridimensional, polycentric convergence phenomena, a real challenge. First, it features linguistic traces of Slavic-speaking population, especially of Czech migrants in Vienna, in Austrian German. Then it demonstrates why we must investigate further into the contribution of specific groups of people to the emergence of certain domains in order to gain a better understanding of linguistic areas, especially in Central and East-Central Europe. Furthermore, it postulates that in the context of the Habsburg monarchy, it seems more appropriate to speak of polycentric rather than pluricentric convergence phenomena. In the end, we can see from the example of their different evolution and history, that sign languages are not so closely tied to the spoken languages of a region, but rather to concrete places, catchment areas or social strata. This fact makes the concept of linguistic areas appear even more vivid and dependent on social interaction rather than on the specific characteristics of the languages in contact. Keywords linguistic area; language contact; convergence phenomena; Habsburg state; Austrian German; Czech; Yiddish; sign languages; polycentricity; pluricentricity; historical sociolinguistics 1 VAN GIJN / MUYSKEN 2016: o. S. 2 Vgl. THOMASON 2000: 311. 3 Vgl. VAN GIJN / MUYSKEN 2016: Abs. 1. 1. Vorbemerkung Schon mehr als ein Jahrhundert lang verwendet die Sprachwissenschaft in unterschiedlichen kulturellen Kontexten den Begriff linguistisches Areal, um damit Sprachen zu bezeichnen, die durch geografische Nähe und Sprachkontakt gemeinsame Merkmale entwickelt haben. Rik van Gijn und Pieter Muysken definieren diese Gebiete als soziale Räume, in denen Sprachen aus verschie‐ denen Familien sich gegenseitig erheblich beeinflussten, was zu auffälligen und oft bemerkenswerten strukturellen Ähnlichkeiten über genealogische Grenzen hinweg geführt habe. 1 Trotzdem gibt es, wie Sarah Grey Thomason 2 treffend bemerkt, immer noch wenig Konsens über die allgemeine Natur dieses Phäno‐ mens, obwohl es zahlreiche wertvolle Studien zu bestimmten Sprachgebieten und zu Besonderheiten innerhalb bestimmter Areale gibt. Dies ist sicherlich auf die Komplexität der jeweiligen Situation zurückzuführen. Nicht nur unter‐ scheidet sich jedes linguistische Areal von jedem anderen, sondern es variieren in großen Gebieten zwangsläufig auch die Kontaktbedingungen zeitlich und räumlich. Mit anderen Worten sind solche Konvergenzbereiche Diffusionsge‐ biete mit unterschiedlichen Sprachkreuzungen und keine einheitlichen, nur sprachlich, sozial oder historisch fassbare Phänomene. Da bislang die Ansätze zur Untersuchung der Verteilung sprachlicher Merk‐ male zumeist struktureller oder historischer Natur waren, wurde das Konzept eines linguistischen Areals im engeren Sinne stark kritisiert. In Verbindung mit einem besseren Verständnis der psycho- und soziolinguistischen Mechanismen und Szenarien, die zu linguistischen Arealen führen, gewinnt die räumliche Perspektive wieder an Gewicht, wenn es darum geht, zu erklären, wie Sprachen tatsächlich konvergieren und welche Mechanismen diese Art von Konvergenz fördern oder blockieren. Sprachen konvergieren ja nicht von selbst, sondern es ist vielmehr das Handeln oder unbewusste Verhalten der sie Sprechenden, das diesen Effekt bewirkt. 3 2. Linguistische Areale und die Habsburgermonarchie Wenn wir nun einen Blick auf Ostmitteleuropa werfen, sehen wir uns mit verschiedenen Kontaktgebieten germanischer Sprachen mit baltischen, finno‐ ugrischen und slawischen Sprachen konfrontiert. Etwa seit dem 6. und 7. Jahrhundert hatten Slawen die Länder Mittel- und Osteuropas einschließlich 76 Stefan Michael Newerkla 4 Diesbezüglich vgl. NEWERKLA 2012a; 2013a; 2013b. 5 Auch SAE-Sprache genannt, auf Deutsch wörtlich Standard-Durchschnittseuropäisch. 6 Vgl. KURZOVÁ 2019: 261-289. Für die detaillierte Beschreibung der Sprachen dieses Areals jenseits von Strukturmerkmalen und Lehnwörtern vgl. BLÁHA 2015 und JANUŠKA 2017. eines großen Teils des heutigen Deutschlands und Österreichs besiedelt, von wo die Germanen vor den Hunnen und ihren Verbündeten geflüchtet waren. Merkmale dieser Siedlung können wir heute in vielen Ortsnamen östlich der Linie von Elbe und Saale finden. In den folgenden Jahrhunderten wurden östlich dieser Linie zum Schutz der Grenze sogenannte Marken eingerichtet, von denen aus eine Kolonisation nach Osten in slawisches Gebiet begann. Die anschließende Expansion der Magyaren sowie die Bavarisierung des Gebietes des heutigen Österreich trennte zudem die Nordwest- und Südslawen. Ihr Einfluss auf die Sprachen der Menschen zumindest in der Osthälfte Österreichs ist seither jedoch intakt geblieben und hat sich im Zuge der großen slawischen Migrationswellen nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert wieder verstärkt. 4 Zugleich haben die große Nord-Süd-Ausdehnung des Deutschen und seine Ausbreitung über mehrere Länder zu dem weithin akzeptierten Schluss geführt, dass es eine plurizentrische Sprache sei. So weist es nicht nur charakteristi‐ sche Merkmale des sog. Standard Average European  5 auf, sondern umfasst auch mehrere Unterscheidungsmerkmale in verschiedenen Kontaktgebieten mit baltischen, finnougrischen und slawischen Sprachen. Als Konsequenz erscheint es daher gerechtfertigt, nicht nur von einem linguistischen Areal in Mittel- und Ostmitteleuropa zu sprechen, sondern von mehreren, unter‐ schiedlich ausgeprägten und sich überschneidenden Sprachkontaktgebieten. Wie Isoglossen, die in der Dialektologie bestimmte Dialektgebiete voneinander trennen, unterscheiden gebündelte linguistische Kontaktphänomene bestimmte Kontaktgebiete von anderen. In diesem Zusammenhang ist auch die weitere Erforschung der Rolle des Jiddischen für die Entstehung und das Verständnis dieser sprachlichen Konvergenzgebiete nach wie vor ein dringendes Desiderat. Ein wichtiges Sprachkonvergenzgebiet in Ostmitteleuropa, aber eben nur eines von mehreren linguistischen Arealen, ist nun jene Kontaktzone auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie mit Deutsch, Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch als Fokussprachen sowie Polnisch, Slowenisch, Kroatisch, Serbisch und Bosnisch als nur teilweise am Rande involvierte Varietäten. 6 Auch im heu‐ tigen Österreich lassen sich noch unmittelbare Folgen dieses mehrsprachigen Raumes erkennen. Es gibt sieben offiziell anerkannte Minderheitensprachen, die Sprachen der so genannten sechs autochthonen Volksgruppen, die durch das 77 Sprachen trennen und verbinden 7 Bundesgesetz vom 7. Juli 1976 über die Rechtsstellung von Volksgruppen in Österreich (Volksgruppengesetz). StF: BGBl. Nr. 396/ 1976 (NR: GP XIV RV 217 AB 299 S. 30. BR: AB 1557 S. 354.). 8 Vgl. etwa die entsprechenden Kapitel in GOEBL / NELDE / STARÝ / WOELCK 1996- 1997 und die Bibliographie in NEWERKLA 2011: 619-710. 9 Die letzte umfassende Studie ist jene von STEINHAUSER 1978. 10 Vgl. z. B. ERNST 2008, MASAŘÍK 1998, NEWERKLA 2009, POHL 1999; 2007, ZEMAN 2009. 11 Vgl. z. B. GRÜNER / SEDLACZEK 2003, SCHEER 2019, SCHUSTER / SCHIKOLA 1996, SEDLACZEK 2007; 2011 oder WEHLE 1980; 1996; 1997. Volksgruppengesetz (VoGrG) 7 offiziell anerkannt sind: Burgenlandkroatisch, Slowenisch, Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch und Romani. Hinzu kommt die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS). Das 20. Jahrhundert brachte aber auch einen klaren Bedeutungswandel der verschiedenen ethnisch-slawischen Min‐ derheitengruppierungen und ihrer Sprachen in Österreich mit sich. Während etwa der Einfluss des Tschechischen und Slowakischen zurückging, nahm die Bedeutung anderer Sprachen - etwa Polnisch, vor allem aber Serbisch, Kroatisch und Bosnisch - in der zweiten Jahrhunderthälfte parallel mit dem Anwachsen der türkischstämmigen Bevölkerung zu. Die Menge an Literatur zu deutsch-slawischen Sprachkontaktphänomenen füllt längst Bibliotheken. 8 Vor diesem Hintergrund war die Gründung des For‐ schungszentrums für Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (FZ DiMOS) im Jahr 2014 als wissenschaftlicher Einrichtung der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften (SLK) der Universität Regensburg eine vielverspre‐ chende Bemühung, der fragmentierten Forschergemeinde zum Deutschen der betroffenen Regionen ein gemeinsames Forum zu geben. Vorrangige Ziele sind die Analyse und Dokumentation der deutschen Sprache in den betroffenen Ländern unter Berücksichtigung der historischen und gegenwärtigen Situation der Mehrsprachigkeit dieses Raumes sowie die enge Zusammenarbeit mit Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen vor Ort. Demgegenüber sind die sprachlichen Einflüsse und Kontaktphänomene zwischen den slawischen Sprachen (einschließlich ihrer Varietäten) und dem österreichischen Deutschen (einschließlich seiner Varietäten insbesondere in Ostösterreich) vergleichsweise wenig systematisch sowie bislang kaum empi‐ risch erforscht worden. Neuere Studien zu diesem Thema sind selten 9 oder heben nur bestimmte Aspekte hervor. 10 Seit den 1980er Jahren sind jedoch immer wieder populärwissenschaftliche Beschreibungen veröffentlicht worden, die sich in der breiten Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen. 11 Zum Teil tradieren sie jedoch althergebrachte Einschätzungen bzw. landläufige Annahmen und tragen durch ihre Ausrichtung mitunter zur Ausbildung von Sprachmythen bei. 78 Stefan Michael Newerkla 12 BUDIN / ELSPAß / LENZ / NEWERKLA / ZIEGLER 2018; 2019. 13 Vgl. z. B. KIM 2020, KIM / NEWERKLA 2018, KIM / PROCHAZKA 2019, KIM / SCHARF / ŠIMKO 2020, PROCHAZKA 2019, PROCHAZKA / BREUER / KIM 2019, SCHINKO 2020 und SCHINKO / KIM / ENGLEDER 2019. 14 Insbesondere NEWERKLA 2007a; 2007b; 2011; 2017; 2020a. Im Jahr 2016 erhielt ein Konsortium, bestehend aus Alexandra Lenz, Gerhard Budin und Stefan Michael Newerkla von der Universität Wien, Stephan Elspaß von der Universität Salzburg und Arne Ziegler von der Universität Graz, vom österreichischen Fonds zur wissenschaftlichen Forschung (FWF) einen Spezial‐ forschungsbereich (SFB) zum Thema Deutsch in Österreich. Variation - Kontakt - Perzeption (F 60-G 23). Der SFB umfasst dabei das gesamte Spektrum der Va‐ riation und Varietäten des Deutschen in Österreich und führt Expertise aus den Bereichen der Variations- und der Kontaktlinguistik, der Mehrsprachigkeitsfor‐ schung sowie aus der soziolinguistisch fundierten Sprachwahrnehmungs- und Einstellungsforschung zusammen. 12 Unser für einen Zeitraum von acht Jahren konzipierte Projektteil Deutsch und die slawischen Sprachen in Österreich. Aspekte des Sprachkontakts soll zu einem detaillierten Überblick über kontaktinduzierte slawische Einflüsse auf die Varietäten des Deutschen in Österreich führen, wobei der Schwerpunkt auf der exemplarischen Situation im Einzugsgebiet von Wien liegt. Während der eine Teil der Forschung auf die historische Dimension des Sprachkontakts abzielt, in der das Tschechische die dominierende Kontaktsprache war, behandelt der andere Teil die gegenwärtige Situation, in der Serbisch, Kroatisch, Bosnisch und Polnisch diese Rolle übernahmen. Auf diese Weise lassen sich Parallelen und Kontraste zu früheren Situationen erkennen. Erste Teilergebnisse wurden bereits von meinen Projektmitarbeiterinnen Agnes Kim, Katharina Prochazka und Maria Schinko präsentiert. 13 Im Folgenden werde ich zunächst aber einige Schlüsse eigener Forschungen rekapitulieren. 14 Einerseits können wir eine klare Konvergenz der in Altösterreich gespro‐ chenen Vokabulare, insbesondere des Tschechischen, Slowakischen, Ungari‐ schen und Deutschen, feststellen. Es gibt viele Lehnwörter in diesen Sprachen, die von Wörtern abgeleitet sind, die noch immer oder zumindest ausschließlich in der österreichischen Variante des Standarddeutschen verwendet werden. Andererseits haben viele slawische, ungarische und auch romanische Lexeme ihren Weg ins altösterreichische Deutsch gefunden und damit den typischen Charakter des österreichischen Standards weitgehend mitgeprägt. Nicht wenige von ihnen wurden über das österreichische Deutsch wieder an andere Spra‐ chen des Habsburgerreiches weitergegeben, z. B. Adjunkt, Automatenbuffet, Bartwisch, Biskotten, Buchtel, Busserl, Bussi, Chauffeur, Dekagramm, Evidenz, 79 Sprachen trennen und verbinden 15 Für die Äquivalente im Tschechischen, Slowakischen und Ungarischen siehe NE‐ WERKLA 2011: 76-86. 16 Vgl. JAKOBSON 1938: 52. 17 HYMES 1974. 18 Vgl. THOMAS 1997: 341-349. 19 Vgl. SKÁLA 1998: 217. Fasching, Fauteuil, fesch, Garçonnière, Hetz, Karfiol, Klobasse, Kukuruz Lavoir, lizitieren, Malter, Matura, Palatschinke, paprizieren, Plafond, Pogatsche, Ribisel, sekkieren, Semmel, Trafik, Werkel, Zeller, Zipp und andere mehr. 15 Dies steht im Einklang mit einer Beobachtung von Roman Jakobson, 16 der auf die Tatsache hinwies, dass Grenzen von sprachlichen Konvergenzerschei‐ nungen offenbar mit den Grenzen der physischen und politischen Geogra‐ phie zusammenzufallen scheinen. Damit nahm er spätere Erkenntnisse des amerikanischen Soziolinguisten Dell Hymes 17 vorweg, der behauptete, dass verschiedene Sprachen unter bestimmten politischen Einflüssen und sozialen Bedingungen eine Sprachgemeinschaft ausbilden können. Der kanadische Sla‐ wist George Thomas wiederum untersuchte die Rolle der deutschen Lehnwörter in den slawischen Sprachen des Habsburgerreichs unter Berücksichtigung des Tschechischen, Slowakischen, Slowenischen und Kroatischen. Seine Ergebnisse zeigen unter anderem die wichtige integrierende Funktion des damaligen öster‐ reichischen Standarddeutschen, indem er eine Liste der in allen analysierten Sprachen gemeinsamen deutschen Lehnwörter liefert, während die einzelnen slawischen Äquivalente nur in 16 % der ermittelten Fälle übereinstimmen. 18 Viele der gebräuchlichsten deutschen Lehnwörter im Tschechischen finden wir daher auch in den anderen Sprachen Altösterreichs, insbesondere in ihren umgangssprachlichen Varietäten. Emil Skála 19 erwähnt in diesem Zu‐ sammenhang Ausdrücke wie Gesindel (tschech. ksindl, ungar. kszindli) oder Schwindel (tschech. švindl, ungar. svindli). Sicherlich hat Skálas Bemerkung ihre Berechtigung, aber ich denke, er verkennt die eigentlichen Vorgänge, wenn er die wichtige Tatsache übergeht, dass die Konvergenzprozesse in mehrere Richtungen verliefen und dadurch zu vielen Übereinstimmungen bei der Ver‐ teilung der semantischen Inhalte führten. Infolgedessen sind sich diese Sprachen semantisch ähnlich geworden, während sie phonetisch deutlich unterschieden blieben. Solche konvergenten Prozesse werden noch deutlicher offenbar, wenn wir uns nicht nur auf deutsche Lehnwörter beschränken, sondern gemeinsame sprachliche Phänomene als solche betrachten, z. B. die Verwendung von Präpo‐ sitionen im österreichischen Deutsch, Tschechisch und Slowakisch sowie die Verwendung der entsprechenden Suffixe im Ungarischen. Auf Englisch und auf Deutsch, wie sie in Deutschland gesprochen werden, legen wir eine Prüfung 80 Stefan Michael Newerkla 20 Vgl. NEWERKLA 2011: 80. 21 CSÁKY 2010. Zur historischen Soziolinguistik von Stadtsprachen vgl. auch PICKEL / ELSPAß 2019. 22 Vgl. NEWERKLA 2012b: 309-323. in einem Fach wie Russisch, Mathematik usw. ab. Die Entsprechungen im österreichischen Deutsch, Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch sind jedoch in dieser Reihenfolge eine Prüfung aus Russisch, … ablegen; vykonat zkoušku z ruštiny, …; vykonať skúšku z ruštiny, …; oroszból, … vizsgáz(ni). Die Bedeutung der Präpositionen aus, z/ ze und z/ zo sowie der ungarischen Suffixe -ból/ -ből ist die gleiche. In ähnlicher Weise sitzen wir in Deutsch und Englisch am Tisch. Die Entsprechungen im österreichischen Deutsch, Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch lauten bei Tisch sitzen; sedět u stolu; sedieť pri stole; asztalnál ül(ni). Die Bedeutung der Präpositionen bei, u und pri sowie der ungarischen Suffixe -nál/ -nél ist wiederum die gleiche. Ein auffälliges Merkmal des österreichischen Deutsch - vor allem der umgangssprachlichen Varianten - ist auch die umfang‐ reiche und unmarkierte Verwendung der Präposition auf: auf der Universität, auf der Post, auf dem Hof, auf dem Konzert, auf dem Markt. In vielen Fällen gibt es hier eine Parallele zur Verwendung der Präposition na im Tschechischen und Slowakischen sowie der ungarischen Endung -n (-on, -en, -ön) mit der gleichen Bedeutung. 20 Die sprachlich-kulturelle Konvergenz wirkte sich aber auch auf die Be‐ griffswelt der Stadträume 21 in der Habsburgermonarchie und in der Folge auf die Bevölkerung im ganzen Reich aus. Dies führte unter anderem zu bestimmten Marken- und Produktnamen, die vielen Menschen auch heute noch bekannt sind, wie z. B. der Firmenname Pischinger als Synonym für eine Torte aus speziellen, kuchengroßen runden Waffeln, das Kokosfett Ceres, die österreichische Rebsorte Zierfandler, die Kaisersemmel (auf Englisch auch Vienna roll, also Wiener Brötchen genannt). 22 Die österreichische Teebutter und ihre Entsprechungen tschech. čajové máslo, slowak. čajové maslo, ungar. teavaj, slowen. čajno maslo und kroat. čajni maslac entstanden wie viele andere Komposita mit Teeim Zuge der Popularisierung englischer Teegebräuche des Adels, insbesondere der Tradition, Tee zumindest mit Brötchen und Butter zu servieren. In Übereinstimmung mit den Engländern, die Sahnebutter der aus Sauerrahm hergestellten Butter vorzogen, bezeichneten die österreichische Teebutter und ihre Entsprechungen in den Sprachen der Habsburgermonarchie ursprünglich nur Sahnebutter. Später wurde dieser Begriff analog zur deutschen Markenbutter und deutschschweizer Vorzugsbutter die offizielle Bezeichnung für 81 Sprachen trennen und verbinden 23 Vgl. NEWERKLA 2008: 240-252. 24 Vgl. NEWERKLA 2007a: 280-282; vgl. 2017: 27-29. 25 Vgl. NEWERKLA 2013a: 254. Butter bester Qualität im Codex alimentarius Austriacus, dem österreichischen Lebensmittelkodex. 23 Ein solcher Sprachgebrauch - sowohl schriftlich als auch mündlich - spiegelt nicht nur soziale Muster wider, sondern auch die Wechselbeziehung von diskursiven Praktiken und kulturellen Begegnungen. Die Rolle transnationaler Sprachpraktiken im Alltag der Menschen wurde bisher jedoch eher vernachläs‐ sigt, obwohl die Habsburgermonarchie eindeutig eine Kontaktzone von Ansäs‐ sigen, Migranten und Reisenden war, also ein Sprachraum, in dem die Menschen aus den Praktiken ihrer verschiedenen Herkunftsorte schöpften. Aus diesem Sprachraum entwickelte sich in Wien und Ostösterreich ein linguistisches Mikroareal, das vom Einfluss des Tschechischen auf das Deutsche besonders betroffen war. 24 Bereits im 19. Jahrhundert war die Kenntnis der tschechischen Lehnwörter in Wien so stark, dass der bekannte österreichische Schauspieler, Sänger und Dramatiker Johann Nepomuk Nestroy sie in seinen Komödien und anderen dramatischen Stücken verwenden konnte. Wir identifizierten mindestens 50 Wörter, die von ale ‚aber’ in seinem Stück Martha oder Die Mischmonder Markt- Mägde-Mietung (1848) bis zur pejorativen Bezeichnung eines Tschechen als Zopak (abgeleitet von copak ‚was denn? ’) in seinem Stück Eisenbahnheiraten oder Wien, Neustadt, Brünn (1844) reichen. Andere von Nestroy verwendete und damals allgemein bekannte Ausdrücke sind heidipritsch ‚ganz weg‘ (< lautma‐ lerisch hajdy und pryč ‚weg‘), hubitschko ‚Bussi, Küsschen‘ (< hubička), Kaluppe ‚baufällige Hütte’ (< chalupa ‚Hütte’), auch als Diminutiv Kalupperl; Leschak ‚Faulenzer’ (< ležák), petschieren ‚mit Siegel versehen‘ (< zapečetit), powidalen ‚erzählen’ (< povídal, Präteritalform von povídat) u. v. m. Der Einfluss des Tschechischen ist darüber hinaus im semantischen Bereich der Küchenwörter und Bezeichnungen von Lebensmitteln und Mahlzeiten offenkundig. Ausdrücke wie Bramburi, Buchtel (B-/ W-), Liwanze, Klobasse (-e/ -i), Kolatsche (K-/ G-), Oblate (im österreichischen Standard erstbetont wie im Tschechischen), Palatschinke, Powidl, Skubanki (Sk-/ St-) sind heute noch in Gebrauch. 25 Der intensive Sprachkontakt mit dem Tschechischen hatte auch unmittel‐ baren Einfluss auf die Wortbildung deutscher Substandardvarietäten im Wiener Raum. Dies zeigt sich etwa in der Verwendung des tschechischen Wortbildungs‐ suffixes -ák in Wörtern wie Böhmak ‚Tscheche‘, Tränak ‚Trainsoldat’ analog zu Feschak ‚Schönling, fescher Kerl‘. Ebenso kommt die Verwendung tschechi‐ scher Stämme mit deutschen Wortbildungssuffixen vor, wie z. B. Tschunkerl 82 Stefan Michael Newerkla 26 Vgl. ebd.: 254-255. 27 Vgl. NEWERKLA 2009: 8; vgl. 2013a: 253. 28 Zum Code-Switching mit Deutsch auch in historischen Kontexten siehe zuletzt GLASER / PRINZ / PTASHNYK 2020. 29 Vgl. NEWERKLA 2007a: 281; vgl. 2007b: 40. 30 Vgl. NEWERKLA 2009: 10; vgl. 2013a: 255-256. ‚Schmutzfink‘ (< čuně ‚Ferkel’) und bairisches Diminutivsuffix -erl, oder es treten gemischte Suffixformen auf, wie z. B. Armutschkerl und Armitschkerl ‚armer Schlucker‘ mit zwei kombinierten Diminutivsuffixen (tschech. -č(e)k bzw. -íč(e)k und bair. -erl). Sogar umgangssprachliche Verben konnten von tschechischen Adjektiven abgeleitet werden, wie z. B. verdobrischen ‚vergeuden‘ (< dobrý ‚gut‘). 26 Bis heute begegnen wir in Österreich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens einer Vielzahl von Personen, deren Vorfahren in den böhmischen Län‐ dern geboren wurden oder die zumindest tschechische Familiennamen haben. Man denke nur an den familiären Hintergrund des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, des ehemaligen Wiener Bürgermeisters und spä‐ teren Staatspräsidenten Franz Jonas oder an die tschechischen Familiennamen anderer österreichischer Politiker wie Blecha, Busek, Cap, Ceska, Dohnal, Klestil, Klima, Kukacka, Lacina usw. Einige tschechische Familiennamen sind zu Bezeichnungen typischer Charaktere geworden, z. B. Březina, Novák und Trávníček: Na servus Březina sagt man, um eine unangenehme Überraschung auszudrücken. Er ist immer der Nowak bedeutet, dass er immer das Opfer sei. Trawnitschek ist letztendlich die Verkörperung des typischen Kleinbürgers, in Österreich bekannt als das Alter Ego des Schauspielers Helmut Qualtinger (1928-1986). 27 Das Code-Switching von Tschechisch zu Deutsch 28 hat im Laufe der Zeit zur charakteristischen Verwendung von Präpositionen in der Wiener Umgangs‐ sprache geführt und von hier auf ganz Österreich ausgestrahlt. Man denke z. B. an die äquivalenten Präpositionsphrasen auf Urlaub fahren (< jet na dovolenou) ‚in Urlaub fahren‘; auf zwei Tage nach Prag fahren (< jet na dva dny do Prahy) ‚für zwei Tage nach Prag fahren‘; auf jmdn./ etw. denken (< myslet na někoho/ něco) ‚an jemanden/ etwas denken‘; in der Nacht auf Sonntag (< v noci na neděli) ‚in der Nacht zum Sonntag‘; auf jmdn./ etw. vergessen (< zapomenout na někoho/ něco) ‚jemanden/ etwas vergessen’ u. a. m. 29 Tschechisch und andere slawische Spra‐ chen begünstigten auch die Verwendung von Hypokoristika und Diminutiven wie Anči für Anna, Linči für Karolina, Terči für Theresia oder Mamitschka für Mama und stützten die sogenannte doppelte Verneinung vom Typ er hat kein Geld nicht gehabt, sie hat niemandem nichts gesagt usw. 30 83 Sprachen trennen und verbinden 31 Vgl. NEWERKLA 2007a: 281; vgl. 2007b: 41; vgl. 2013a: 256. Kontrastiv auf idiomatische Redewendungen und Sprichwörter der Gegenwartssprache in Österreich und Tsche‐ chien gehen SODEYFI / NEWERKLA 2012 ein. 32 Vgl. NEWERKLA 2009: 11; vgl. 2013a: 257. Weitere Ergebnisse dieser engen sprachlichen Verflechtungen von Tsche‐ chisch und Deutsch in Wien sind Wendungen wie Ohne Arbeit gibt’s keine Kolatschen! (< Bez práce nejsou koláče! ); die Kinder spielen sich (unbedingt reflexiv) (< děti si hrají); die Patschen strecken (< natáhnout papuče/ bačkory); sich etwas aus dem Finger zuzeln (< něco si vycucat z prstu); es steht (sich) (nicht) dafür (< (ne)stojí to za to); seine sieben Zwetschken packen (< sbalit si svých pět švestek) (auf Tschechisch sind es nur fünf); das geht sich (nicht) aus (< to (ne)vyjde) u. a. m. Diese Phrasen sind so weit ins österreichische Deutsch integriert worden, dass wir sie nicht mehr als fremd empfinden, sondern als sprachliche Elemente, die für die österreichische Variante des Deutschen typisch sind. Andere Phrasen blieben auf den Wiener Raum beschränkt, wie z. B. auf Lepschi gehen‚Vergnügungen nachgehen‘ (< jít na lepší); pomāli, pomāli! ‚nicht so schnell! ‘ (< mähr.-tschech., slowak. pomaly ‚langsam‘) u. a. m. 31 Das 20. Jahrhundert brachte aber auch eine deutliche Veränderung der Be‐ deutung der verschiedenen slawischen Minderheitengruppen in Wien mit sich. Während der tschechische Einfluss zurückging, nahm die Bedeutung anderer Sprachen (z. B. Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Polnisch, Türkisch u. a.) zu. Sprachliche Folgen dieser Entwicklung sind einerseits das Verschwinden einiger tschechischer Lehnwörter aus dem umgangssprachlichen Wortschatz Wiener Prägung wie z. B. Mamlas ‚Feigling, Idiot‘ (< mamlas); schezko jedno ‚alles eins; egal wer, was, wann, wo, warum, wie‘ (< všecko jedno); Schwerak ‚Schlingel, Schäker‘ (< čtverák); Wojak ‚Soldat‘ (< voják) u. a. m. 32 Andererseits ist der Sprachkontakt mit dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen in den letzten Jahren zum wichtigsten slawischen Faktor geworden, der die Umgangssprache vieler Wiener Jugendlicher beeinflusst. Neben diesen südslawischen Sprachen gibt es nur zwei weitere Sprachen mit mindestens ebenso großem Einfluss auf die Jugendsprache, nämlich Englisch und Türkisch. 3. Polyzentrische Konvergenz und Gebärdensprache in Altösterreich In der ersten Laufzeit des oberhalb erwähnten SFB Deutsch in Österreich. Variation - Kontakt - Perzeption beschäftigten wir uns auch intensiv mit den historisch-soziolinguistischen Bedingungen des Deutschen im Kontext 84 Stefan Michael Newerkla 33 Zu den wichtigsten Konzepten, Methoden und Themenstellungen einer historischen Soziolinguistik vgl. insbesondere HERNÁNDEZ-CAMPOY / CONDE-SILVESTRE 2012. Für spannende Ergebnisse einer historischen Sprachkontaktforschung auch in Bezug auf die Habsburgermonarchie vgl. z. B. LENZ / AHLERS / GLAUNINGER 2015 und WICH-REIF 2016. 34 Vgl. STEWART 1968: 534. 35 Dazu vgl. insbesondere CLYNE 1989, AMMON 1995, SCHMIDLIN 2011 und AUER 2013. 36 Vgl. z. B. BINDER / KŘIVOHLAVÁ / VELEK 2003, CSÁKY 2010; 2019, EVANS 2004, FEICHTINGER / COHEN 2014, JUDSON 2006 und GLÜCK / HÄBERLEIN / FLUR‐ SCHÜTZ DA CRUZ 2019. 37 Vgl. HELLER 2001: 214-215. 38 Vgl. z. B. DASKALOV / MARINOV 2013, DOROSTKAR 2014. Ein Vorreiter solcher Forschungen war für den preußisch-polnischen Kontaktraum GLÜCK 1979. 39 Vgl. NEWERKLA 2013a; 2013b; 2017. der anderen Sprachen im Habsburgerstaat. 33 Das Hauptziel war es dabei, ein historisch fundiertes und auf Mehrsprachigkeit basierendes Verständnis der Polyzentralität des österreichischen Deutschen zu vermitteln. In diesem Zusammenhang erschien es meinen Mitarbeiterinnen Agnes Kim, Katharina Prochazka, Maria Schinko und mir angebracht, eher von Polyzentralität 34 als von Plurizentralität 35 zu sprechen, da wir es mit unterschiedlichen historischen Faktoren im Zusammenspiel mit den Zentren des Habsburgerstaates zu tun haben, die den Status, die Funktionalität und die strukturelle Heterogenität des österreichischen Deutsch bestimmten. Ausgehend von der Annahme, dass spezifische Dimensionen des aus dieser Sicht polyzentrischen österreichischen Deutschen historisch motiviert sind, bestand also ein zentrales Ziel darin, die funktionalen und metalinguistischen Dimensionen des Deutschen im mehrspra‐ chigen Habsburgerstaat zu rekonstruieren und mit der Situation in der Zweiten Republik Österreich in Beziehung zu setzen. Die Untersuchung der historischen Mehrsprachigkeit in der Habsburgermon‐ archie gibt dabei Aufschluss darüber, wie das Deutsche im Kontext der anderen Sprachen als Instrument der sozialen Interaktion und als Bezugspunkt für die kulturelle Konstruktion genutzt und aufgewertet wurde. Da kommunikative Praktiken eine primäre Dimension des interkulturellen Austausches darstellen, ist die Mehrsprachigkeit ein wichtiger Signifikant für nicht-nationale oder multiple Beziehungen. 36 Sprache als soziale Praxis ermöglicht den Zugang zu Ideologien und der Art und Weise, wie Menschen sich Wissen aneignen, reproduzieren oder schaffen. 37 Dies gilt erst recht für Sprachideologien und Sprachwissen. 38 Zugleich hat die historische Mehrsprachigkeit zumindest einen wahrnehmbaren Einfluss auf die sprachliche Struktur des österreichischen Deutsch gehabt. 39 85 Sprachen trennen und verbinden 40 Vgl. z. B. BURGER 1995, UMBERTO / RINDLER SCHJERVE / METZELTIN 1997, NEWERKLA 1999; 2020b, GLÜCK / KLATTE / SPÁČIL / SPÁČILOVÁ 2002, RINDLER SCHJERVE 2003, RINDLER SCHJERVE / NELDE 2003, FELLERER 2005; 2020, WOLF 2012, HARBIG 2016 und PROKOPOVYCH / BETHKE / SCHEER 2019. 41 Für globale Beispiele eines solchen sprachlichen Managements in diversen Domänen vgl. SPOLSKY 2009. Zur theoretischen Fundierung und Abgrenzung von Sprachpla‐ nung, Sprachpolitik und Sprachmanagement vgl. hingegen NEKVAPIL 2006; 2016 und NEKVAPIL / SHERMAN 2015, zum neuesten methodologischen Stand der Sprachma‐ nagementtheorie siehe FAIRBROTHER / NEKVAPIL / SLOBODA 2018. 42 SKANT [et al.] 2002. Über bestimmte Aspekte domänenspezifischer Kommunikation oder sprach‐ spezifischer Einstellungen im Habsburgerstaat ist noch nicht ausreichend viel bekannt. Zum Zusammenspiel von offiziell verordneten Sprachregelungen und inoffiziellen Mehrsprachigkeitspraktiken in Armee, Verwaltung, Justiz und Bildungswesen der Habsburgermonarchie wird erst seit den 1990er Jahren intensiver sprachzentrierte historische Forschung betrieben. 40 So wurde auch untersucht, wie sich der Machtkampf in den Bestrebungen zur Kontrolle des Sprachgebrauchs auf verschiedenen Ebenen diskursiver Interaktion nieder‐ schlug und wie die Sprache im Kontext komplizierter und multipler Sprach‐ kontakte zu einem prominenten Schauplatz interethnischer Kontroversen und Konflikte wurde. Während die nicht-deutschsprachigen Nationalitäten des Habsburgerstaates bemüht waren, ihren Status neu zu definieren, indem sie die Anerkennung ihrer Sprachen und Kulturen forderten, versuchte der deutsch do‐ minierte Staatsnationalismus seine gefährdete Hegemonie wiederherzustellen, indem er den verschiedenen ethnischen Gruppen sprachliche und kulturelle Autonomie gewährte. Der Alltag war also eingebettet in vielsprachige kulturelle Praktiken unter dem Einfluss eines sprachlichen Diversitätsmanagements der staatlichen Lenkungsorgane, aber auch gespeist von den gesellschaftlichen Erfordernissen. 41 Dabei blieb jedoch bislang im Kontext des Verhältnisses von Sprache, Kultur und Gesellschaft eine Personengruppe unberücksichtigt, und zwar die Gehör‐ losengemeinschaft. Betrachtet man aus deren Sicht die Sprachverwandtschaft in Mittel- und Ostmitteleuropa, so weicht diese entscheidend von unserer alltäglichen Wahrnehmung der Sprachgeographie ab. Warum aber ist dem so? Zum einen ist die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) 42 selbstverständ‐ lich eine vollwertige natürliche Sprache mit komplexen Strukturen und ei‐ genständiger Grammatik sowie einer sublexikal bedeutsamen sequentiellen Struktur. Das bedeutet, dass Gebärdensprachen wie Lautsprachen sublexikali‐ sche Elemente (Phonologie), Morphologie, Semantik, Syntax und Pragmatik 86 Stefan Michael Newerkla 43 Vgl. KRAMMER 2013: 342-343. 44 Im Detail dazu siehe die veröffentlichte Dissertation von BERGER 2006. 45 Vgl. in Zusammenschau mit anderen Sprachfamilien TWILHAAR / VAN DEN BO‐ GAERDE 2016. 46 DOTTER / KELLETT BIDOLI 2017: 193-221. 47 WITTMANN 1991: 215-288. 48 Ebd. 49 Vgl. BICKFORD 2005: 29-33. aufweisen und das Lexikon aus ikonischen und willkürlichen Zeichen besteht. 43 Zum anderen gehört die Österreichische Gebärdensprache - zusammen mit der tschechischen (Český znakový jazyk, ČZJ), der slowakischen (Slovenská posun‐ ková reč, SPR) und der ungarischen (Magyar jelnyelv, MJ) - aus sprachhistori‐ schen Gründen 44 zur Sprachfamilie der Österreichisch-Ungarischen Gebärden‐ sprachen, die wiederum Teil der Familie der Französischen Gebärdensprachen 45 sind. Auch der hohe Grad der Verständlichkeit zwischen den Gebärdenspra‐ chen in Triest im heutigen Italien und Österreich ist sehr wahrscheinlich auf die gemeinsame Geschichte der Gehörlosenschulen innerhalb der Habsburger‐ monarchie zurückzuführen. 46 Im Gegensatz dazu teilt die ÖGS zwar einige Aspekte ihrer Grammatik mit der Deutschen Gebärdensprache (DGS) und der Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), aber der Wortschatz und damit die Sprachen unterscheiden sich. Während die DSGS als Sprache der Französi‐ schen Gebärdensprachen immerhin mit der ÖGS verwandt ist, gehört die DGS überhaupt einer anderen Sprachfamilie an, und zwar der Familie der Deutschen Gebärdensprachen, zu der unter anderem auch die polnische Gebärdensprache (Polski język migowy, PJM) zählt. 47 Aus den Österreichisch-Ungarischen Gebärdensprachen, die in den Gehörlo‐ senschulen des habsburgischen Staates verwendet wurden, sind in der Folge auch die slowenische (Slovenski znakovni jezik, SZJ) und über die jugoslawische Gebärdensprache letztendlich die kroatische (Hrvatski znakovni jezik, HZJ), die kosovarische (Gjuha e Shenjave Kosovare, GjShK) und serbische Gebärden‐ sprache (Српски знаковни језик, СЗЈ) hervorgegangen. Selbst die russische Gebärdensprache (Русский жестовый язык, РЖЯ, auch Российский жестовый язык) soll durch die Lehrer in den ersten russischen Gehörlosenschulen einen großen Teil des Wortschatzes aus den Österreichisch-Ungarischen Gebärden‐ sprachen entlehnt haben. Die russische Gebärdensprache wurde schließlich auch in Bulgarien eingeführt, wo sie zu einer eigenständigen bulgarischen Gebärdensprache (Българският жестомимичен език, БЖЕ) ausgereift ist. Während jedoch Henri Wittmann 48 die bulgarische Gebärdensprache als Ab‐ kömmling der russischen Gebärdensprache klassifiziert, betont J. Albert Bick‐ ford 49 , dass die bulgarische Gebärdensprache eine Gruppe mit der slowakischen, 87 Sprachen trennen und verbinden 50 FARRIS 1994: 13-36. 51 Zur Geschichte der israelischen Gebärdensprache vgl. insbesondere MEIR / SANDLER 2008. tschechischen, ungarischen, rumänischen und polnischen Gebärdensprache bilden würde. Daraus ist ersichtlich, dass aus historischer Sicht noch viel Forschungsarbeit geleistet werden muss. Denn in Bulgarien unterscheidet sich die Gebärdensprache des Klassenzimmers von jener, die von Erwachsenen im Alltag verwendet wird. Daher ist nicht einmal klar, ob Wittmann und Bickford die gleichen Varietäten im Blickfeld hatten; auch nicht, ob die bulgarische Gebärdensprache von russischen Gebärden abgeleitet ist, ob es sich um einen Dialekt handelt oder ob sie kreolisiert wurde, um schließlich eine neue Sprache zu bilden. Ganz zu schweigen von der Verwandtschaft mit der oben erwähnten polnischen Gebärdensprache, die einerseits ein einhändig manuelles Alphabet verwendet, das auf dem Alphabet der alten französischen Gebärdensprache basiert, während jedoch die Sprache selbst von der DGS abgeleitet ist und somit zur Sprachfamilie der Deutschen Gebärdensprachen gehört. 50 Die israelische Gebärdensprache ( סש " י , תפש םינמיסה תילארשיה ) ist übrigens ebenfalls ein Nachfahre der DGS, da sie sich aus jener Gebärdensprache entwi‐ ckelt hat, die von deutsch-jüdischen Lehrern an einer 1873 von Marcus Reich gegründeten Sonderschule verwendet wurde. Mehrere Lehrer dieser Schule er‐ öffneten 1932 eine Schule für gehörlose Kinder in Jerusalem. Daher zeigt die israelische Gebärdensprache immer noch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem deutschen Pendant. Doch auch andere Gebärdensprachen bzw. Gebärdensys‐ teme, die von Einwanderern mitgebracht wurden, trugen zur Entstehung der Sprache bei. Nach und nach entstand ein lokales Kreolisch, aus dem schließlich die israelische Gebärdensprache wurde. Heute ist diese Sprache zu weit von ihrem Ursprung entfernt, um als ein Dialekt der deutschen Gebärdensprache betrachtet werden zu können. Die israelische Gebärdensprache ist jedoch nur die am häufigsten verwendete Gebärdensprache in der Gemeinschaft der Ge‐ hörlosen in Israel, wo wir auch die Al-Sayyid-Beduinen-Gebärdensprache in der Wüste Negev und einige weitere finden können. 51 Was nun den mittel- und ostmitteleuropäischen Raum betrifft, so stellt sich von Zeit zu Zeit die Frage, ob es hier nicht auch so etwas wie eine jiddische Gebärdensprache gegeben haben könnte. Soweit uns bekannt ist, gibt es jedoch keine veröffentlichten Beschreibungen oder detaillierten Belege für ihre Existenz, obwohl es möglicherweise lokale Varietäten vor dem Holocaust gegeben hat, insbesondere in Schulen für Gehörlose. In Glottolog wurde der Eintrag zur jiddischen Gebärdensprache (Glottocode: yidd1241, ISO 639-3: yds) 88 Stefan Michael Newerkla 52 HAMMARSTRÖM / FORKEL / HASPELMATH / BANK 2020. 53 SPOLSKY 2014. 54 Vgl. ebd.: Abs. 4. mit Gültigkeit vom 12. Jänner 2015 zurückgezogen. 52 Die Begründung für diesen Schritt war, dass eine jiddische Gebärdensprache nicht bekannt sei. Wie Bernard Spolsky 53 in seinem Eintrag auf der Jewish Language Research Website anmerkt, kennen heute die führenden Expertinnen und Experten für jüdische Gebärdensprachen keine jiddische Gebärdensprache. Aber er fährt mit dem Hinweis fort, dass es eine Schule in Krakau gegeben habe, die Yiddishe Toib Shtim Shule, wo die Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich unterein‐ ander eine Gebärdensprache verwendet hätten (obwohl die Schule offiziell jiddischsprachig war). Spolsky verweist darüber hinaus auf Mark Zaurov, einen gehörlosen Historiker, der die Erfahrungen der jüdischen Gehörlosen im Holocaust untersucht. Dieser fand durchaus Erwähnungen mehrerer jüdischer Gehörlosenschulen, in denen viele Kinder Jiddisch sprachen; möglicherweise hatten sie eine lokale Gebärdensprache. Rückblickend ist es offensichtlich recht schwierig, diesbezüglich relevante und genaue Daten zu eruieren. Nichtsdesto‐ trotz gab es möglicherweise ausgeprägte Gebärdensprachen, die von gehörlosen Gemeinschaften in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet wurden. Eine einheitliche jiddische Gebärdensprache werde jedoch nirgends bestätigt und sei daher unwahrscheinlich. 54 Jedenfalls sind - wie die Berücksichtigung des Jiddischen selbst - die Einbeziehung und entwicklungsgeschichtliche Un‐ tersuchung der Sprachen der Gehörlosengemeinschaften auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie ein wichtiges Desiderat für zukünftige historisch-sozio‐ linguistische Forschungen. 4. Schluss Die Analyse von Sprach- und Kulturkontakträumen der ehemaligen Habs‐ burgermonarchie erweist sich als echte Herausforderung, nicht zuletzt auch deswegen, weil diese linguistischen Areale in Mittel- und Ostmitteleuropa das Ergebnis von vielfältigen, mehrdimensionalen und polyzentrischen Kon‐ vergenzphänomenen sind. In diesem Bereich ist zwar schon viel geforscht und erreicht worden, aber auf dem Weg zu einem besseren Verständnis dieser Sprach- und Kulturareale liegt auch noch viel Arbeit vor uns. Dabei sollten wir uns aus der Sicht der historischen Kontaktlinguistik und der historischen Soziolinguistik immer vor Augen halten, dass Sprachen nicht von selbst kon‐ vergieren, sondern dass es das Handeln und auch unbewusste Verhalten der sie 89 Sprachen trennen und verbinden 55 Vgl. VAN GIJN / MUYSKEN 2016: Abs. 1. 56 Vgl. WISTRICH 2007: 58. verwendenden Personen ist, die diese Wirkung erzielen. 55 Wir haben im zweiten Abschnitt unseres Beitrags unter anderem gezeigt, welche sprachlichen Spuren slawischsprachige Bevölkerungsgruppen, insbesondere tschechische Migranten in Wien, bei ihrem Kodewechsel im österreichischen Deutsch hinterließen und es so bis zu einem gewissen Grad mitprägten. In diesem Kontext gilt es noch weiter zu untersuchen, welchen Beitrag welche Personengruppen zur sprachlichen Entwicklung konkreter Bereiche und Domänen leisteten. In Ostmitteleuropa etwa identifizierten sich zum Beispiel viele Juden mit einer Idealvorstellung von deutscher Bildung und Aufklärung. Die deutsche Sprache wurde damit als ein grundlegendes Instrument der kulturellen Integration in die deutsche bürgerliche Gesellschaft in Österreich gesehen, sie bildete aber auch das Tor zum wirtschaftlichen Aufstieg und zur Verbesserung des sozialen Status in der Habsburgermonarchie. Dies war ein entscheidender Faktor, der die Juden von Böhmen bis nach Ungarn, von der Bukowina bis in den adriatischen Hafen von Triest beeinflusste. 56 Damit trugen sie zur Etablierung des Deutschen als Lingua franca der polyglotten Monarchie bei und legten gemeinsam mit den Staatsbeamten und der Armee den Grundstein dafür, dass das Habsburgerreich zu einem konvergierenden Sprach- und Kulturraum in Mittel- und Ostmitteleuropa mit bestimmten Charakteristika wurde. In diesem Zusammenhang hat die Rolle des Jiddischen als Mittel zur Überbrückung der Kluft zwischen dem österreichischen Deutsch und den verschiedenen Sprachen der Monarchie, insbesondere den slawischen Sprachen, noch keine angemessene wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Die systematische Aufdeckung der verborgenen Mehrsprachigkeit jener Zeit ist nach wie vor ein wichtiges Desiderat der Forschung auf diesem Gebiet, wobei der Mangel an ausreichend aussagekräftigen Daten diese oft verunmöglicht. Darüber hinaus scheint es, wie wir im dritten Abschnitt unseres Beitrags zeigen konnten, in diesem Kontext angemessener zu sein, von polyzentrischer statt von plurizentrischer Konvergenz zu sprechen. Polyzentralität ist eben nicht ganz dasselbe wie Plurizentralität, denn letzterer Begriff betont die Pluralität der Varietäten innerhalb einer Sprache, d. h. die Pluralität relativ stabiler, in sich geschlossener Sprachsysteme, die zusammen eine Sprache bilden. Po‐ lyzentralität hingegen betont die funktionale Ungleichheit zwischen solchen Varietäten und die Verbindungen zu den verschiedenen Zentralstellen, denen die Sprachpraktiken gleichzeitig unterliegen. Während eine plurizentrische Sprache die Summe ihrer Varietäten ist, ist eine polyzentrische Sprache ein 90 Stefan Michael Newerkla 57 Vgl. LI / JUFFERMANS 2012: 77. dynamisches, sozial geordnetes System von Ressourcen und Normen, die stark oder schwach mit einem oder mehreren Zentren verbunden sind. 57 Wie wir abschließend am Beispiel der Österreichisch-Ungarischen Gebärden‐ sprachen, ihrer unterschiedlichen Entwicklung und Geschichte sehen konnten, sind diese Gebärdensprachen nicht so sehr an die gesprochenen Sprachen, sondern vielmehr an konkrete Orte, Einzugsbereiche und soziale Schichten gebunden. Diese Tatsache lässt den Begriff der konvergenten linguistischen Areale noch anschaulicher in Abhängigkeit von sozialen Interaktionen, z. B. in der Schule oder in anderen Sprachbereichen, erscheinen, statt von den spezifischen Merkmalen der in Kontakt stehenden Sprachen. Wie bereits mehr‐ fach betont, konvergieren eben Sprachen nicht von selbst, sondern es ist das Verhalten der Sprecherinnen und Sprecher, das diese mehrdimensionalen, poly‐ zentrischen Konvergenzphänomene hervorruft, die zu spezifischen Sprach- und Kulturarealen führen. Auch wenn dieses Erklärungsmuster nicht ausschließlich für die ehemalige Habsburgermonarchie Gültigkeit hat, so ist es doch mit Sicherheit auf diese Gebiete in Mittel- und Ostmitteleuropa anwendbar. Literatur AMMON, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin / New York: Walter de Gruyter. AUER, Peter (2013): Enregistering pluricentric German. In: Soares da Silva, Augusto (hrsg.): Pluricentricity. Language Variation and Sociocognitive Dimensions. Berlin / Boston: De Gruyter Mouton, S. 19-48. BERGER, Petra (2006): Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) in der Zeit der Aufklä‐ rung. Graz: Leykam / Grazer Universitätsverlag. BICKFORD, J. 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Thus, the novels of Radka Denemarková, Reinhard Jirgl, and Szczepan Twardoch seek to fathom how transgenerational trauma is latently active, radiating energy a secret, disturbing the present like ghosts. The essay analyzes aspects of this interplay by using concepts of latency, haunting memory, and reproductive future. Keywords Latency, Poetics of Transgenerational Trauma, Literature of Rememb‐ rance, Comic and Memory, Central European Literatures (Czech, German, Polish), Expulsion of Germans after 1945 1 TWARDOCH 2016: 55; TWARDOCH 2015: 50: „Czuję stopy Josefa Magnora. Czuję stopy i dłonie syna Josefa Magnora, jak mnie drapią i drażnią, i jak puchną, dorastając, czuję stopy wnuka Josefa Magnora i prawnuka Josefa Magnora, [...]. Coś ich łączy, nić, która przebiega przeze mnie, we mnie, jest mną.“ 2 TWARDOCH 2016: 376 (Hervorhebung in der Übersetzung); TWARDOCH 2015: 360: „Ziyma to je taki srogi drach, [...].“ Im Original ist das Schlesisch, einige Zeilen später heißt es dann auf Polnisch „wielki smok“. 3 Das Heranwachsen der Menschen wird im Roman wiederholt als „aufquellen“ bzw. „quellen“ (puchnąć) beschrieben, siehe u.a. TWARDOCH 2015: 31; TWARDOCH 2016: 35. - Ein weiteres Schlüsselwort ist „pulsieren“ (pulsowanie), siehe u.a. TWARDOCH 2015: 34; TWARDOCH 2016: 38. 4 TWARDOCH 2016: 89 (Hervorhebung nicht im Original); TWARDOCH 2015: 84: „Ja wiem. Myli się jak zwykle, ale jakoś się nie myli. Przeczucia są ważne. Ciemne linie poniżej rzeczywistości widzialnej, ciemne struny. We mnie.“ Das Original wurde in der deutschen Ausgabe um einen Satz gekürzt. Weitere entsprechende Textstellen: Vgl. TWARDOCH 2016: 113; Vgl. TWARDOCH 2015: 104-105. Ich spüre die Füße von Josef Magnor. Ich spüre die Füße und die Hände des Sohnes von Josef Magnor, wie sie mich kratzen und reizen und wie sie heranwachsen, aufquellen, ich spüre die Füße des Enkels von Josef Magnor und des Urenkels von Josef Magnor [...]. Etwas verbindet sie, ein Faden, der durch mich hindurchläuft, in mir ist, der ich bin. (Szczepan Twardoch: Drach) 1 So spricht die Erzählinstanz in Szczepan Twardochs 2014 erschienenem Roman Drach. Drach ist die Erde, die mit dem schlesischen Wort für Drache bezeichnet wird und als Ich-Erzählerin des Romans fungiert: „Die Erde ist ein so großer Drach [...].“ 2 Twardochs Drach-Erde funktioniert wie eine allwissende, sich zwar distanziert gebende, den Menschen gleichwohl duzende Sprechfigur. Sie rekurriert auf alles, was sich im Laufe der Jahrhunderte auf und in ihr abgespielt hat bzw. noch abspielt. Vor allem sind das mehrere Jahrhunderte ineinander verflochtene oberschlesische Familiengeschichten: Menschen werden geboren, „quellen auf “, „pulsieren“ und sterben irgendwann - werden latent. 3 Latent meint hier: Das Geschehen kratzt und juckt, durchdringt die Erde. Das, was die Erde sagt, ist zugleich auch die metapoetische Selbstaussage des Romans: „Ich weiß, Ahnungen sind wichtig. Die dunklen Linien unterhalb der sichtbaren Wirklichkeit, die dunklen Saiten. In mir.“ 4 Die von der Erde erzählten Biographien bergen transgenerationelles Störpo‐ tenzial, das immer wieder im Text aufblitzt - als Memento, Fakt oder bloße 102 Alfrun Kliems 5 Vgl. stellvertretend GAMPEL 2009. 6 KHURANA / DIEKMANN 2007: 9. 7 KHURANA 2007: 142. 8 Ausführlicher u.a. HAVERKAMP 2021; GUMBRECHT / KLINGER 2011. Mitteilung. Sie bilden darüber hinaus eine Art unauflösliches Wissen der Erde selbst um die gleichzeitige Existenz von Gegenwärtigem und Vergangenem, d.h. auch von Vergessenem und Verschwiegenem. Twardochs Roman versucht sich mithin an einer ästhetischen Reflexion der jüngsten transgenerationellen Traumaforschung auf das unbewusste Nachwirken von Erfahrungen der Vorge‐ borenen in den Nachgeborenen, ohne dass diese Erfahrungen noch vorhanden, ja auch nur überliefert sein müssten. 5 Unter Latenz verstehen Stefanie Diekmann und Thomas Khurana eine „Seinsweise von Entitäten“, die mit „einer besonderen Form indirekter oder verzögerter Erkennbarkeit verbunden ist“. 6 Latenzen operieren verdeckt, sind aber nichtsdestoweniger gegenwärtig. Die der Latenz eigene Zeitform ist die „Un-Gegenwärtigkeit“ 7 . Figurationen der Latenz meint im Folgenden literarisch erzeugte Modi wie absentierte Figuren oder raumzeitliche Konstellationen, die dem Verzögerten zu Erkennbarkeit verhelfen. 8 Sie legen darüber die Dis‐ krepanz zwischen historischem und literarischem Ereignis offen, wenn z.B. historische Einschnitte wie Shoah, Krieg und Vertreibung zu einem literarischen (Schlüssel-)Ereignis werden, ohne sich jedoch als Geschehen im Text selbst abzubilden. Im Folgenden werde ich Figurationen von Latenz und ihrer Funktionslogik anhand des historischen Ereignisses der Vertreibung der Deutschen 1945 aus Ostmitteleuropa nachgehen, hier aus den Sudeten und Oberschlesien. Vertrei‐ bung wird in Radká Denemarkovás Peníze od Hitlera (2006, Ein herrlicher Flecken Erde, dt. 2009), Reinhard Jirgls Die Unvollendeten (2002) und Szczepan Twardochs Drach (2014, dt. 2016) jeweils bruchstückhaft erinnert und lücken‐ haft übermittelt. Zentral in ihnen ist jeweils eine verborgene, in der Textge‐ genwart jedoch resonierende und darüber entbergende Familienerfahrung. Bei Denemarková (und auch Jirgl) handelt es sich um die Absentierung von Figuren, konkret den absentierten Mann. Jirgl lässt wiederum in einer Art Sprachkrypta Vertreibungstraumata nachhallen. Twardoch schließlich kreiert mit Drach ein allwissendes zyklisches Erzählprinzip, das Zeit im Raum stratifiziert, wobei Vertreibung (wie auch bei Jirgl) nur noch ein traumatischer Aspekt unter vielen ist. Absenzen und Latenzen korrespondieren auf unterschiedliche Art. Das kann wie bei Denemarková und Jirgl die Abwesenheit von Männerfiguren meinen, weil sie in der Handlung nicht vorkommen, im Roman ermordet werden, als 103 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 9 GORDON 1997: 8. 10 Siehe z.B. KAMMLER 2007. 11 IWASIÓW 2012: 209-224. Für die Zeit davor unterscheidet Iwasiów mehrere Texttypen: Während die frühe Vertreibungsprosa das Trauma oftmals biographisch auslotete, verschollen gelten, in Gefangenschaft sind, die Familie verlassen oder sterben. Zudem variieren die Modi der Anwesenheit in der Abwesenheit - auf dem Weg des Traumes, des Rausches, von Schweigen, Verschweigen und Vergessen. Allemal handelt es sich um eine wirkmächtige Abwesenheit, einen literarisch evozierten Zustand des ,Halb-Vergessens‘, der sich auf Personen wie Ereignisse bezieht. Dieses Halb-Vergessen ruft Erinnerungskonzepte auf wie haunting memory oder ghostly matters. So betrachtet Avery Gordon einen Geist nicht einfach als tote oder vermisste Person, sondern als eine „soziale Figur“. Das heißt, Geister‐ erscheinungen oder Totenbeschwörungen in welcher Form auch immer machen auf etwas Verlorenes, etwas nicht oder nicht mehr Sichtbares aufmerksam - sie suchen uns heim: „Being haunted draws us affectively, sometimes against our will and always a bit magically, into the structure of feeling of a reality we come to experience, not as cold knowledge, but as a transformative recognition.“ 9 Damit sind meine einführenden Überlegungen auf einer Ebene der Allge‐ meinheit angelangt, die eine naheliegende Frage beantworten mag: Inwieweit nämlich etwa Drach im Kontext der Vertreibungsliteratur zu behandeln ist, während das Thema dort lediglich an zwei eher kurzen Stellen explizit gemacht wird. Auch geht die Debatte um Jirgls Prosa in eine ähnliche Richtung, dass nämlich der Vertreibungstopos als Einordnungskriterium für ihn zu kurz greife. 10 Ich folge damit bewusst Inga Iwasióws Forderung, diese wie ähnlich gelagerte Werke als transgenerationelle postmemoriale Prosa zu begreifen, also nicht mehr als „enge“ Vertreibungslite‐ ratur, sondern in einem weiteren Sinne als Literarisierung von Konvivenz und Nachbarschaft, in der es um das Leben der Weggegangenen, aber auch das der Dagebliebenen bzw. Zugezogenen geht, häufig selbst Vertriebene von anderswo. Iwasiów nutzt hierfür den weiter gefassten Terminus „Neo-Post-Ansiedlungs‐ narration“ (narracja neo-post-osiedleńcza). Darunter versteht sie die inhaltliche Auseinandersetzung mit Vertreibungstraumata, mit Regionalgeschichte und Neuansiedlungsprozessen, geschrieben von der zweiten und dritten Genera‐ tion, also der Postmemory-Generation. Neo-Post-Ansiedlungsnarrationen seien nicht von früheren ideologischen (sozialistischen) Zwängen geleitet, sondern würden eine Poetik aus multiplen Erinnerungsschichten schaffen, ohne Heroik und Pathos. 11 104 Alfrun Kliems kamen spätere Umsiedlungserzählungen häufig als sozialistische Produktionsromane daher. Gerade diese „Aufbauromane“ zeigen vielfach koloniale Erzählmuster. 12 UFFELMANN 2017: 47. 13 Der Abschnitt entspricht in etwa der Denemarková-Passage in: KLIEMS 2021. 14 DENEMARKOVÁ 2009: 278. - DENEMARKOVÁ 2006: 227: „Mluvívá ona. Denis mlčí.“ Auf die ausgewählten Romane trifft denn auch zu, was Dirk Uffelmann als ein Problem mit Blick auf die Vertreibung und deren methodische Behand‐ lung in transnationaler und postkolonialer Perspektive ausmacht: „Flucht und Vertreibung erscheinen in der Erinnerung oft mehr als plötzliche, eher in einem Moment fokussierte als auf Dauer gestellte Ereignisse“. 12 Denemarkovás, Jirgls und Twardochs Erinnerungsprosa setzt eben da an und hinterfragt die andauernde Latenz historischer Ereignisse im literarischen Gedächtnis. Radka Denemarková oder der absentierte Mann 13 In Radka Denemarkovás Roman Ein herrlicher Flecken Erde werden die männ‐ lichen Figuren mit einiger Konsequenz aus dem Geschehen entfernt, fallen Morden zum Opfer, bringen sich um, gehen fort, verstummen. Demgegenüber wird die weibliche Präsenz u.a. durch die Stimme der Ich-Erzählerin Gita eta‐ bliert. Die Gutsbesitzertochter Gita Lauschmannová, aus einer deutsch-tsche‐ chisch zweisprachigen jüdischen Familie ohne ausgeprägt jüdisches Selbstver‐ ständnis stammend, überlebt erst als Jüdin Auschwitz, kehrt im Sommer 1945 in ihr Geburtshaus in Puklice/ Puklitz zurück, wird von dort als Deutsche in ein Vertriebenensammellager gebracht, kann schließlich in Prag unterkommen. Erst 2005 sucht Gita erneut ihr Heimatdorf auf. Die Familie wurde inzwischen juristisch rehabilitiert; sie wünscht sich indes eine symbolische Wiedergutma‐ chung in Form eines Denkmals für den als Juden ermordeten Vater. Bei diesem Ansinnen wird sie von ihrer Enkelin Barbora unterstützt sowie von Denis, dem inzwischen erwachsenen Kind jener Familie, die nach der Vertreibung den Familiensitz der Lauschmanns übernahm. Denis ist für den Plot relevant, bleibt aber mehr oder weniger stumm: „Meist ist sie es, die redet. Denis schweigt.“ 14 Gita, mit Tochter und Enkelin im Streit und keine Sympathiefigur, scheitert am Ende mit ihrem Anliegen. Vielmehr erweist sich, dass ihr verklärter Vater Opfer und Täter zugleich war; diese verdrängte Wahrheit blitzt auf den letzten Seiten buchstäblich aus der Geschichte auf in Form von Erinnerungsfetzen an einen dünkelhaften NS-Mitläufer, bevor die Deutschen den assimilierten Juden abtransportieren. Denemarková operiert also mit einer dreigenerationellen weiblichen Erzähl‐ konstellation: (Groß-)Mutter, Tochter und Enkelin, wobei das Mutter-Tochter- 105 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 15 LANGER 1998: 144. 16 Differenzierter zur Rolle des Dorfes bei Denemarková: vgl. CHITNIS 2013: 438-443. 17 Zum Schematismus des Romans u.a. vgl. PETRBOK 2014: 146. Zum Vorwurf der Drastik, Konventionalität sowie stereotypen Figurenzeichnung u.a. vgl. HOLÝ 2017: 372-373, 376-377. Ein Überblick zur Kritik vgl. auch TOMÁŠOVÁ 2014: 297-301. 18 Ich danke Heike Winkel für ihre Überlegungen, die sie am 2. Oktober 2015 auf dem 12. Deutschen Slavistentag in Gießen vorgestellt hat. Siehe auch: WINKEL 2021: 351-353. Verhältnis kommunikativ pathologisch gezeichnet ist, während es zur Enkelin eine vertraute Bindung gibt. Der traumatisierten Gita gelingt es nicht, ihre Mutterrolle emotional auszufüllen. Das hat mit Blick auf die tschechische Literaturtradition noch spezifische Prägnanz, ruft es doch unübersehbar den ‚Urtext‘ der tschechischen Dorfliteratur auf, Božena Němcovás Babička (Die Großmutter) von 1855, der auf einer ähnlichen familiären Konstellation gründet. Auch in der romantischen Vorlage steht nicht etwa die „primäre Verwandt‐ schaftsbeziehung, die zur Maminka, sondern die sekundäre im Mittelpunkt“, die zur Großmutter. 15 Während jedoch Babička eine Kindheitsidylle skizziert, ein Landleben im Einklang mit dem Zyklus der Natur, eingebunden in Geschichten aus dem Leben der Großmutter und einer erweiterten, überwiegend weiblichen Erzählgemeinschaft, dämonisiert Denemarková das postsozialistische Dorf, zeichnet es als korrupt, brutal, empathielos. 16 Gerade im Kontrast zu Němcovás Idylle scheint bei Denemarková die Wucht der zerstörenden Erinnerung versus einer heilenden umso härter auf. Gerade Ersteres zeigt sich namentlich in folgender antisemitischer Schlüsselszene, Gitas Vergewaltigung durch drei tschechische Jugendliche, die zudem ihren vier Monate alten Sohn ermorden; daraufhin begeht ihr Mann Selbstmord. Die Täter ritzen ihrem Opfer ein Hakenkreuz in die Haut, um Gita auch symbolisch zu unterwerfen - und mit dieser Annahme einer essentialistischen Identität auf groteske Weise zugleich fehlgehen und richtig liegen. Diese Passage ist als überflüssig und voyeuristisch kritisiert worden, als über‐ trieben gewalthaft, ja unglaubwürdig. 17 Wesentlich und sprechend erscheint diese Szene indes deswegen, weil laut Heike Winkel gerade diese dritte Trau‐ matisierung die Missachtung von Holocaust- und Vertreibungsopfern in der Nachkriegszeit metonymisch repräsentiert. Das heißt, die erste und zweite Trau‐ matisierung (Vernichtungs- und Sammellager) müssen poetisch zwangsläufig in diesem dritten Trauma (Vergewaltigung und Kindsmord) kulminieren, das nicht nur für dessen narrative Unverfügbarkeit seitens der Opfer steht (etwas nicht erzählen können), sondern auch für gesellschaftliche Erinnerungstabus (etwas nicht erzählen dürfen). 18 106 Alfrun Kliems 19 Weitere Texte ließen sich hier einordnen, u.a. Aus dem Sinn (2007) von Emma Bras‐ lavsky. Hier ist die Hauptfigur Eduard Meißerl zwar eine präsente Männerfigur, die allerdings am Ende verstummt. Der Roman lässt ihn in der Obhut der Mutter zurück. - Siehe auch Dom z witrażem (2015, Das Licht der Frauen, dt. 2018) von Żanna Słoniowska, Jakuba Katalpas Němci. Geografie ztráty (2012, Die Deutschen. Geographie eines Verlustes, dt. 2015), Kateřina Tučkovás Vyhnání Gerty Schnirch (2010, Gerta. Das deutsche Mädchen, dt. 2019). 20 DENEMARKOVÁ 2009: 136; DENEMARKOVÁ 2006: 113: „Slouplou kůži nechat vysušit na slunci. Černou tuší ji ozdobit obrazci písmen G a I a T a A. Ve všech směrech. Vyztužit ten dekor a vypnout na stínítko minilampičky. Pod kterou bych skládala svůj pláčem znetvořený obličej každou noc. Zbylé kůstky s trsy masa vhodit do vroucí vody. Posilující masový vývar. Hlavně se udržet v lati, nezkolabovat, neječet.“ 21 CARUTH 2000: 94. Mit Blick auf eine Poetik der Latenz bleibt an dieser Szene zum einen die Absentierung des Sohnes und Ehemannes aus Gitas Geschichte festzuhalten. Zum anderen stellen die Täter aufgrund ihrer Gesichtslosigkeit und Anonymität wenig mehr als männliche Funktionsfiguren dar, die zudem aus dem Dorf kommen, so zumindest erinnert sich Gita vage. 19 Ganz ähnlich funktioniert die Figur des jungen Stolař, Sohn des Knechts der Lauschmann-Familie, der Gita bei einer Art Schautribunal als unzurechnungsfähig zu diffamieren sucht und dazu die traumatische Vergewaltigung aus psychiatrischen Gutachten ans Licht zerrt. Dieses Tribunal ist ein, wenn nicht der zentrale Abschnitt; er erstreckt sich über zirka vierzig Seiten im Original. Denemarková zeichnet auch Stolař als Funktionsmonstrum und seine Entfernung aus der Geschichte als besonders drastische Phantasie der Protagonistin: Die abgezogene Haut in der Sonne trocknen lassen. Mit schwarzer Tusche die Buch‐ staben G und I und T und A darauf malen. In alle Himmelsrichtungen. Den dekorativen Streifen mit Pappe verstärken, auf einen Lampenschirm spannen. Unter diese Lampe würde ich mein vom Weinen verunstaltetes Gesicht jeden Abend betten. Die restlichen Knochen mit Fleischklumpen ins kochende Wasser werfen. Eine stärkende Bouillon. Ich muss mich am Riemen reißen, nur nicht zusammenbrechen, nicht schreien. 20 Diese wohl am häufigsten zitierte Passage aus dem Roman rückt das erzählende NS-Opfer in eine verstörende Nähe zu den Täter_innen, bis hin zum einschlä‐ gigen Lampenschirm-Motiv. Dabei kommen die Lagererfahrungen selbst allen‐ falls untergründig vor. Freilich gilt der Holocaust vielfach als das Unbezeugbare, das Undarstellbare und Unverknüpfbare, als „ein massive[r] Anschlag […] auf das Verstehen“. 21 Für Anna Hunter verbindet sich mit dem Holocaust denn auch „the ultimate trauma narrative“: 107 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 22 HUNTER 2018: 66. 23 CARUTH 2000: 86. 24 Ebd. The Holocaust constitutes a traumatic narrative not only as a historical trauma in narrative form but also as a trauma to narrative itself enacted as a crisis of both signification and representation. 22 In dem Sinne werden in Denemarkovás Szene Lager- und Vertreibungstrauma im Vergewaltigungsakt repräsentiert, auch wenn dieser auf den ersten Blick nichts mit den zwei historisch induzierten Traumata gemein hat. Die Verge‐ waltigung erweist sich überdies als subkutan präsent („unter der Haut“ und in diese eingeritzt), als nicht in das narrativ vermittelte offizielle Erinnern integrierbar, aber auch nicht in den familiären weiblichen Erzählkosmos, denn auch Gitas Tochter und ihre Enkelin erfahren davon erst auf dem Tribunal. Der Gewaltakt ist ein „Symptom einer Geschichte“, die Gita „nicht gänzlich in Besitz nehmen“ kann. 23 Er steht damit für die dilemmatische Struktur eines Trauma- Narrativs: Das traumatische Ereignis lagert sich nicht in der kontrollierbaren Erinnerung oder in assoziativen Bedeutungsketten ab, sondern durchkreuzt in körperlichen reenactments unkontrolliert die Gegenwart, während gleichzeitig die Gewalthaftigkeit des Ereignisses sein vollständiges Bezeugen unmöglich macht, die traumatisierten Subjekte keine Verfügungsgewalt über das Ereignis haben. Sie tragen eine „unmögliche Geschichte in sich“. 24 Gitas krasse und ausgiebig zitierte Gewaltphantasie zeugt von der Unmöglichkeit auch der Wiedergabe; letztlich zielt sie auf Neutralisierung und körperliche Stärkung via (kannibalistische) Einverleibung. Gita versucht die Verfügungsgewalt über ihre Geschichte im Prozess zurück‐ zugewinnen, indem sie den ihr abgesprochenen Zeugen- und Opferstatus für sich reklamiert und im Erzählakt ihren Subjektstatus autorisiert - selbst auf die Gefahr hin, am Ende als verrückt oder unzurechnungsfähig klassifiziert zu werden. Die narrative Eruption ihrer vordem latenten Gewalterinnerung spiegelt sich im fragmentierten Szenenaufbau wider, der unentwegt zwischen Tribunal, der Schilderung der Vergewaltigung und Ermordung des Sohnes, harmlosen Szenen im Dorfkonsum sowie den kannibalistischen (Gegen-)Ge‐ waltphantasien Gitas changiert. Denemarkovás von der Kritik als überausgestellt drastisch, unplausibel und klischiert monierte Vergewaltigungsszene muss indes nicht ‚wahr‘ sein, sondern steht vielmehr für die Trauma-Narrativen inhärente Störung von Signifikation und Repräsentation. So, wenn die Autorin die Tribunalpassage stark fragmentiert, die Verhandlung immer wieder unterbricht, die erzählte Zeit 108 Alfrun Kliems 25 HARTMAN 2000: 35. 26 CARUTH 2000: 91. 27 HUNTER 2018: 81. 28 Denemarková widmet sich dem Thema in ihrem späteren Roman Příspěvek k dějinám radosti (2014, Ein Beitrag zur Geschichte der Freude, dt. 2019). In der klassischen tschechischen Vertreibungsprosa etwa von Jaroslav Durych, Vladimír Körner und Bohumil Hrabal werden Frauen anders als bei Denemarková tendenziell als passive Opfer erzählt, bleiben Spiegelfiguren für die Protagonisten und Erzähler. Vgl. ĆWIEK- ROGALSKA 2006: 351. 29 DENEMARKOVÁ 2009: 255; DENEMARKOVÁ 2006: 209: „To mi snad zakázat ne‐ můžou.“ 30 Vgl. ZAND 2004: 93. Vgl. SMYČKA 2019: 41. darüber ausdehnt und derart die dem Trauma innewohnende Durchkreuzung der Raum-Zeit-Ordnung ästhetisiert. Nicht zuletzt arbeitet Denemarková mit der Bipolarität des Traumas zwischen einem im Gewaltakt entleerten dissozi‐ ierten Subjekt und dem Exzess der Zeichen, wenn Gita nicht nur detailgenau ihre Vergewaltigung schildert, sondern auch die kannibalistische Entfernung bzw. Inkorporation des Anklägers als exzessiven Tabubruch imaginiert. Aller Kritik zum Trotz erreicht Denemarková durch die Szene das, was Geoffrey Hartman unter „intellektueller Zeugenschaft“ 25 versteht: die „,Anste‐ ckung‘ durch das Trauma, die Traumatisierung derjenigen, die zuhören“. 26 Darüber schafft sie Zugang und Vermittlung zum Holocaust als einem „metatrauma“, das nicht etwa in Konkurrenz zu weiteren traumatischen Ereignissen gesehen, sondern vielmehr als ein „discursive framework for approaching those other collective traumas“ verstanden werden kann. 27 Diese anderen Traumata beschränken sich bei Denemarková derweil nicht auf Völkermord und Vertrei‐ bung, sie rufen zugleich Vergewaltigung als Verbrechen an Frauen und Mädchen auf und sprechen damit ein spezielles und allgemeines Thema an, auf dem lange ein Tabu lag. 28 Denemarkovás Ein herrlicher Flecken Erde endet schließlich mit einem territo‐ rialen Anspruch der Heldin, ihrem Wunsch nach Heimkehr auf den Dorffriedhof von Puklice: „Das werden sie mir nicht verbieten können.“ 29 Sie können es doch, und Gitas Urne wird in Prag beigesetzt. In diesem Sinn unterscheidet sich Denemarková wie überhaupt die gegenwärtige Textproduktion namentlich von frühen sozialistischen Ansiedlungsnarrationen, in denen Aufbau- und Kolonial‐ roman oftmals zusammengingen und die Vertreibung als gerechte Strafe für die Deutschen galt. 30 Am Ende wird Gitas Enkelin Barbora die Rückübertragung des einst beschlagnahmten Besitzes fordern. Gedenken (Gita), Versöhnen (Denis) und Revanche (Barbora) sind die Optionen des Textes. Realisiert wird die letzte und destruktivste. 109 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 31 JIRGL 2012: 150, 152. 32 Ebd.: 237. 33 Ebd.: 240. Reinhard Jirgl und die Sprachkrypta Reinhard Jirgls 2003 erschienener Roman Die Unvollendeten beschreibt eingangs die Vertreibung der Deutschen aus Chomutov/ Komotau. Die weitere Handlung dreht sich um vier im Frühjahr 1945 aus dem Sudetenland vertriebene Frauen, die in die spätere DDR übersiedeln. Während die ersten Kapitel eine personale Erzählsituation haben, wechselt die Narration im letzten in die Ich-Erzählung und wird die Geschichte der Frauen aus der Perspektive des 1953 geborenen Sohnes/ Enkels/ Urenkels/ Neffen zu Ende erzählt. Jirgls Roman ist dennoch ein frauengesättigter Text: die Schwestern Maria und Hanna, deren siebzigjährige Mutter Johanna und Hannas Tochter Anna werden ausführlich erzählt - schließlich folgt der Roman Reiner auf die Krebsstation in die Charité, wo dieser im Endstadium der Krankheit seine Erinnerungen niederschreibt. Sein Vater, der junge SS-Mann Erich, wurde da schon lange aus der Narration absentiert. Geboren wurde Reiner von Anna: Zerrissen den Regen wie dunkle Seide -. Zerrissen Annas Gedanken. So daß sie an kein Ende kam, und sie wußte sich selbst unvollendet, wiewohl ohne Anfang, sondern mitsamt dem Fleisch, das in ihr wuchs, nurmehr als 1 Bruchstück aus dem Körper der Zeit. Dorthinein wußte sie ihre Geschichte versenkt seit dem letzten Besuch dieses Mann=Jungen..... am Fenster. [...] Der blutige, häßlich anzuschauende Neugeborne wollte nicht schreien; den Kopf nach unten hing er stumm in Händen der Hebamme. Der Schlag. Er schrie, sein Pinkelstrahl traf die Frau. So war 1 Anfang: ? meiner..... Niemand’s Sohn, von=Anbeginn hartnäckig & zäh wie altes Fleisch & alte Geschichten..... 31 In ihrem Sohn Reiner weiß die Mutter Anna ihre Geschichte „versenkt“, in ein blutiges, hässliches „Bruchstück aus dem Körper der Zeit“, das keinen rechten Lebenswillen zeigt und „Niemand“ zum Vater hat. Dabei bleibt es aber immer ihre Geschichte, die in diesem Sohneskörper nachgerade begraben wird, wiewohl sie dort „zäh wie altes Fleisch“ nachlebt. Der erzählende Sohn ist denn auch bis zu seinem Krebstod ein pickelig-renitenter Eigenbrötler ohne eine „ORDENTLICHE FAMILIE“ 32 - so wie auch seine Mutter keine „ordentliche“ Familie hatte. Im Gegenteil, in ihrem Leben bzw. „in den Resten von Familien-Leben gebärdete sie sich fortan wie 1 Abbruchunternehmer, & was mit eigenen Händen nicht zu erhalten war, das wenigstens sollte durch eigene Hände..... fallen“. 33 Eine trostlose Existenz, so „unvollendet“ wie seine 110 Alfrun Kliems 34 REIDY 2012: 494. 35 VEDDER 2005: 77. 36 JIRGL 2012: 85. 37 Ebd. 38 Ebd.: 5. Mutter sich selbst empfindet. Mit einer Tochter, so ließe sich aus dem Kontext des Romans spekulieren, ginge ihre Geschichte, die Geschichte dieser Frauen möglicherweise weiter. Der kinderlos sterbende Sohn dient indes als deren letzte Ruhestätte, seine Aufzeichnungen sind ihr trister Nachruf. Julian Reidy hat vor allem zwei Hemmnisse bei der Rezeption von Jirgls Roman festgehalten: zum einen die formalästhetischen Eigenheiten des Textes, genauer Jirgls „idiosynkratischen Sprachduktus“, 34 zum anderen die thematische Verengung als Vertreibungs- und Opfertext. Mir geht es im Folgenden zwar auch um die narrative Marginalisierung der Männerfiguren, jedoch weisen Jirgls sprachliche Darstellungsverfahren von Latenzeffekten weit über das hinaus, was ich bei De‐ nemarková als erzählte Absentierung bestimmer Figurengruppen lese. Sie sind vielmehr eine „poetologische Konsequenz der Zeitresistenz des Traumas“, wie es Ulrike Vedder beobachtet. 35 Das zeigt sich z.B. in Passagen wie der folgenden: [...] : Auskünfte, Ausflüchte ] die-Lange-Bank - Worte milchig wie hinter Glas ge‐ sprochen, die Konturen Jederzeit überdeckend mit jenen stärkeren, dem Humus zugehörigen Bindungen - Familien-Klans&Klüngel, denen die Tünche des Neuge‐ kommenen von-Anfang-an nurmehr brüchig aufgetragen, & bei jeder sich bietenden Gelegenheit möglichst geräuschlos=heimlich abzuschaben getrachtet. Drunter Das Alte, Dauerhafte, Immersogehabte - [...] ! Nix Neuesunterdersonne, alle Furzlang das- Immergleiche. 36 Man könnte Jirgls Text eine Sprachkrypta nennen, denn in ihr sind Leichen bzw. Geister verborgen, von denen einige ans Licht kommen. Genauer handelt es sich um in den Familiengeschichten Verborgenes oder Verdrängtes, um nicht erzählte Traumata, die sich unter Klischees und Binsen verbergen und über Ge‐ nerationen weitergereicht werden. Obwohl die Rede „von-Anfang-an nurmehr brüchig“ war, erweist sie sich als hartnäckig, ihr Stachel als latent vorhanden, zeitresistent. Doch wenn Reiner versucht, den Familienfirnis „abzuschaben“, kommt darunter lediglich das „Immersogehabte“ 37 zum Vorschein. Die Vertreibung seiner Familie aus den Sudeten mag zwar nur eine Erfahrung unter vielen sein, zudem nicht seine eigene, der Text aber steigt mit eben dieser Erfahrung auf der ersten Seite ein und mit der gleichen formelhaft-liturgischen „Schallscherbe“ 38 auf der letzten Seite auch wieder aus: „30 MINUTEN ZEIT - MIT 111 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 39 Ebd.: 5, 251. 40 EDELMAN 2004: 4. 41 Ebd.: 11. 42 Vgl. ebd. 43 JIRGL 2012: 162. 44 KERTÉSZ 2000: 212. 45 JIRGL 2004. HÖCHSTENS 8 KILO GEPÄCK [...].“ 39 Die sekundäre Traumatisierung in Reiners Krankenhausaufzeichnungen erhält das gleiche, zentrale normative Recht wie der historische Heimatverlust der vertriebenen Frauen am Anfang der Erzählung. Ist Annas Biographie in Reiners Existenz „versenkt“, so endet beider Geschichte in Reiners Krebsgeschwür. In No Future. Queer Theory and the Death Drive un‐ tersucht Lee Edelman Reproduktion als kulturelle Erinnerungswie nationale Überlebenslogik im Schlagwort des „reproductive futurism“. 40 Für Gemeinschaften garantiere das Überleben der natürlichen Ordnung das Überleben der politischen. Deshalb werde politische Ordnung oftmals an die phantasmatische Figur des Kindes geknüpft, weil es der Gemeinschaft eine ideelle Zukunft verheiße. Die Aussicht auf ein Überleben im Kind sei zugleich der Grund, weshalb politische Ordnung in „perpetual trust“ 41 gehalten werden müsse. Für Edelman symbolisiert das Kind also den Idealbürger, der die zukünftigen Errungenschaften der Nation schon in sich trage. Alles, was die Geburt dieses Kollektivkindes verhindere, stehe einer reproduktiven Zukunft des Kollektivs entgegen. 42 Jirgls Reiner-Figur ist so ein phantasmatisches Kind, ein Kollektivkind aus den letzten Kriegswehen. Ihm selbst bzw. der Nachkriegsgesellschaft wird je‐ doch die reproduktive Zukunft verweigert: „! DU HAST NOCH KEIN ! FLEISCH VON DIR GEGEBEN.“ 43 Nicht nur sein krebskranker Körper streikt, auch seiner sozialen Rolle als Stiefvater einer Tochter kann er zeitlebens nicht nachkommen. Seine Figur ist damit keine Ausnahme in Vertreibungstexten - und das gender‐ übergreifend. Jirgl schreibt seine Prosa in einer „Nach-Auschwitz-Sprache“, die Imre Ker‐ tész mit Blick auf sein eigenes Schaffen „atonale Sprache“ nennt. 44 Bei Jirgl handelt es sich um eine Sprache, die weniger Zeichendenn Resonanzkörper ist, der nicht ohne Weiteres linear lesbar ist, dafür aber im hin- und herschweifenden Blick sinnlich erfahrbar wird. Das fängt mit Jirgls nichtregelkonformer Ortho- und Typografie an, der Platzierung von Ausrufe- und Fragezeichen vor und mitten im Satz, den Großschreibungen im Wort, der massenhaften Nutzung von Individualzeichen wie Versalien, Kursivierungen, Fraktur, Ziffern und Formeln, Texteinrückungen, Neologismen, Dialektfetzen, optisch abgesetzten Redewen‐ dungsschleifen. Jirgl selbst spricht von einem „alphanumerischen Code“ 45 in der 112 Alfrun Kliems 46 DE WINDE 2007: 115. 47 ŚLIWIŃSKA 2010. 48 HAVERKAMP 2002. 49 DE WINDE 2007: 125. 50 Jirgls „O“ lässt sich mit W. G. Sebalds „A“ in Austerlitz (2001) vergleichen, das als Buchstabe wie Laut den Roman unterschwellig prägt: in Personen- und Ortsnamen (u.a. Austerlitz, Agáta, Ambrosová, Adela, Aychenwald), aber auch im nachträglichen „lang‐ anhaltenden“ Schmerzensschrei des gefolterten Gastone Novelli. Vgl. SEBALD 2020: 44. Yahya Elsaghe beschreibt Sebalds Roman entsprechend über sein „A-Syntagma“. Vgl. ELSAGHE 2007: 178. 51 JIRGL 2012: 85. 52 HYUSSEN 2003: 151. Tradition Arno Schmidts; Arne de Winde von einer „gegenseitigen Kommen‐ tierung und Kontaminierung von Schrift und Bild“. 46 Nach Katarzyna Śliwińska wiederum spiegelt das Textverfahren primär das kommunikative Familienge‐ dächtnis des Frauenquartetts, das bis zu den Aufzeichnungen von Reiner trotz z.B. genauer Kartierung von Straßenzügen vor allem ein archivskeptisches Erzählgedächtnis ist, eine orale Basis besitzt mit allem, was dazugehört: Stocken und Stottern, Slang und Dialekt, Hingeworfenes und Am-Rande-Gesagtes, eingeschliffene Redeweisen und haufenweise Klischees. 47 Die Literatur macht überdies auf Jirgls Verwendung des Großbuchstabens O aufmerksam: das „schwarze O“ steht für einen stummen Schrei, den klaffenden Mund der toten Großmutter, als Loch im Wort „Tod“, als Lust in „Eros“ bzw. den Augen einer Geliebten, omnipräsent im Wort „GOtt“, mythologisch lesbar als Omega. Die Ikone „O“ bietet Jirgl ein graphisches Mittel, Unendlichkeit, Begehren und Leere in einem Raum unterhalb des Sprachzeichens zu lagern, in der Sprachkrypta. Es ist eine figura cryptica, so Anselm Haverkamps Bezeich‐ nung für Latenzen in der Literatur. 48 Auch Arne de Winde beschreibt Jirgls „O“ in dem Sinne: „Dieses ,O‘ funktioniert nämlich als ein unaussprechliches, abgründiges Zentrum - eine traumatische Krypta -, um das herum sich der Zeugnisbericht des krebskranken Erzählers fortspinnt.“ 49 Jirgls „O“-Syntagma 50 macht die Abgründe transgenerationeller Resonanz graphisch sichtbar, verge‐ genwärtigt die traumainduzierte stumme Tiefe Reiners bzw. seiner Geschichte auf der Zeichenebene. Ähnlich verweist der Wiederholungsfuror auf der Text‐ ebene („alle Furzlang-das Immergleiche“) 51 auf den Mechanismus traumatischer Repetition, die jedem Neuanfang nach traumatischen Ereignissen inhärent ist: After all, we know that every posttraumatic new beginning bears the traces of traumatic repetition, even though increasing temporal and generational distance from the original experience may alter the discursive structure of the posttraumatic symptom. 52 113 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 53 TWARDOCH 2016: 109: „[...] denn ich sehe alles und sehe alles gleichzeitig.“; TWAR‐ DOCH 2016: 101: „[...] bo widzę wszystko i widzę wszystko równocześnie.“ Jirgls weibliche Figuren, und das bringt mich zurück zu Denemarkovás Ein herrlicher Flecken Erde, können aus einem Grund Heimatverlust und Gewalter‐ fahrung immerhin ansprechen, wenn auch offensichtlich nicht aussprechen: Sie haben im Text überlebt bzw. dürfen im Text überleben, anders als die Väter, Söhne, Brüder, Ehemänner und Liebhaber, die zwar im Text auftauchen, aber narrativ unterrepräsentiert bleiben, latent, verschwinden oder bereits verschwunden sind - als Opfer, Vermisste bzw. Tote oder als konturenarme Platzhalter. Auch Reiner darf in der Erzählung nicht überleben und gibt schließ‐ lich auf der Krebsstation eine andere Geschichte weiter, die von Zyklizität und Gewaltschlaufen. Szczepan Twardochs Zeit im Raum In Szczepan Twardochs 2014 erschienenem Roman Drach korrespondieren Absenzen und Latenzen auf eine andere Art als bei Denemarková und Jirgl. Nutzen beide absentierte Figuren und verborgene Familiengeschichten, um transgenerationelle Traumata auszuloten, so folgt Twardoch stärker einem spatialen Prinzip von Oberschlesien als konkretem Verflechtungsraum, die Re‐ gion um Gliwice/ Gleiwitz. Verflochten erscheinen hier nicht nur die einzelnen Lebensläufe, sondern deren vorausliegende Kontingenz und Interdependenz einer multilingualen, multikulturellen, mehrkonfessionellen Geschichtsregion. Twardoch verzichtet auf eine klassische Ich-Figur und etabliert ein nicht‐ menschliches, allwissendes Erzählprinzip, das Zeit im Raum stratifiziert und ablagert: die Erde, die mit dem schlesischen Wort für Drache als „Drach“ bezeichnet wird. Diese Abkehr von einer anthropozentrischen Erzählform in Richtung präbzw. posthumanes Erzählen wird sprachlich forciert durch das changierende Geschlecht; die Erde für weiblich ziemia, der Drach für männlich drach. Zwar spricht der konkrete Ort, mischt sich das Polnische mit dem Deutschen und Schlesischen (gwara śląska), doch signalisiert das Erzählprinzip wiederholt seine Omnipräsenz in Raum und Zeit, ein allumfassendes Hier und Jetzt. 53 Drach funktioniert wie ein Schlesien-Rhizom, als Mutter Erde bzw. Heimat Schlesien (śląska ziemia), die gängige Stereotype der Großen Mutter Gaia mit dem Klischee der Mutter-Heimat-Allegorie verbindet: 114 Alfrun Kliems 54 TWARDOCH 2016: 22; TWARDOCH 2015: 19: „A teraz wszyscy w ziemi, z ziemi się narodzili i do ziemi powrócili, [...] i z błota znowu powstaną, bo życie jest bardzo długie, tyle że nie jedno, lecz jego cykl.“ 55 McGUIRE 2014. - Der Graphic Novel voraus ging ein sechsseitiger gleichnamiger Comicstrip, siehe McGUIRE 2006. 56 Vgl. u.a. zu Körper und Männlichkeit: IMIELA 2020. Zum regionalen Setting und Schlesien als Kulturraum: JOKIEL 2020. Zur Multilingualität und deren Funktionen: MAKARSKA 2018: 88-100. Zum schlesischen Dialekt: WYDERKA 2016. 57 McCLOUD 2001: 17. Jetzt alle in der Erde, von der Erde geboren und in sie zurückgekehrt, [...] und sie werden wieder auferstehen aus dem Morast, denn das Leben ist sehr lang, nur nicht das einzelne, sondern sein Zyklus. 54 Der Text selbst ist simultan strukturiert, blendet die Schicksale von Tieren, Personen und Familien, darunter das von Josef Magnor, ana- und proleptisch ineinander, wobei jedes Kapitel mit mehreren Jahreszahlen zwischen 1241 und 2014 überschrieben ist, die Weltkriegsjahre und die Jahre nach 1989 prominenter figurieren als andere Jahrzehnte. Anders als Jirgls Text jedoch spiegelt sich die Drastik der historischen Erfahrung nicht primär auf der sprachlichen, sondern auf der Ebene der Textorganisation. Wie Jirgls alphanumerischer Code in Die Unvollendeten fordert auch die Lektüre von Twardochs Drach eine schweifende Lesebewegung, wie sie etwa dem Lesen eines Comics entspricht: ein Hin- und Herschauen im eigentümlich nichtlinearen Text. Dabei nutzt Twardoch ein Verfahren, dessen Plastizität an einen Comic erinnert, namentlich an Richard McGuires Here (2014). 55 Diese Assoziation möchte ich im Folgenden näher beschreiben, weil sie mir nochmals einen anderen Zugang zu Twardochs Drach zu ermöglichen scheint, als der rein innermediale Vergleich. 56 In ihrem jeweiligen Medium stratifizieren McGuire und Twardoch Zeit im Raum bzw. bilden das räumliche Setting konsequent über anachrone Zeitfenster ab, wobei der Comic flexibler ist bzw. dem Roman medial technische Grenzen gesetzt sind. Vorab ein Blick auf den Comic als Verfahren allgemein. Scott McCloud nennt Comics „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/ oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“. 57 Daran schließt Stephan Packard an, der sich aber gegen die Annahme verwehrt, die „Abfolge von Panels entspräche einer Suk‐ zession von zeitlich getrennten Momentaufnahmen“. Für ihn ist das „Verhältnis der einzelnen Bilder zur übergreifenden Proposition als das einer Anatomie“ ausschlaggebend: „Durch dieses Wechselverhältnis zwischen dem Panel als Konstituent einer Sequenz und als selbständigem propositional bedeutenden 115 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 58 PACKARD 2006: 67. 59 WARE 2006. 60 RODRIGUEZ 2018: 371. Rodriguez stützt sich in seinen Ausführungen auf Timothy Mortons Ecocriticism und dessen Konzept des strange stranger. Zeichenkomplex wird die Comicrezeption zu einem Hybrid aus piktoraler und sequentieller Semiose.“ 58 McGuires Comic stellt - wie Twardochs Roman - Rezipient_innen vor eine besondere Herausforderung. Here inszeniert Ereignisse, Personen und Tiere aus der Zeitspanne von mehr als 3 Milliarden Jahren vor unserer Zeit bis zum Jahr 22.175, die in der Ecke seines Wohnzimmers in Perth Amboy, New Jersey, aufgetreten sind oder sein könnten. In prähistorischer Zeit ein Urwald mit Dinosauriern, später indianische Prärie, irgendwann ein Haus, das wiederum im Laufe der Zeit niederbrennt, neu auf- und dann immer wieder umgebaut wird, später nur noch Wasser. In dem Haus werden Menschen geboren, heiraten, lieben und streiten sich, sterben; davor leben Indigene an dem Ort, vor ihnen wilde Tiere, noch davor Urwesen; am Ende tauchen in den Panels posthumane Lebensformen auf. Über hunderte Zeitfenster hinweg präsentiert McGuire radikaler noch als Twardoch den immer selben Ort und bricht die lineare Leserichtung auf, indem er mehrere Zeiten in einem Panel vereint, die an Windows-Fenster auf dem Bild‐ schirm erinnern. 59 (Abb. 1-2) Gleichwohl ähnlich verfährt Twardoch mit seinen Textschnipseln, die in einzelnen Sätzen oder Abschnitten unterschiedliche Zeiten auf engstem Raum ineinander blenden, mit der Konzentration seines Epos auf seinen Wohnort, das oberschlesische Pilchowice, früher Pilchowitz und Bilchengrund. Mit dem oben zitierten Stephan Packard: Zwischen den mehr als 400 Zeitfenstern in Here gibt es wie in den Dutzenden Jahreszahlen in Drach zwar keine chronologische Relation, keine „Sukzession von zeitlichen getrennten Momentaufnahmen“, wohl aber eine „komplexere Progression“, eine „übergreifende Proposition“. Beide Male werden diachron mit einem und durch einen Ort verflochtene Beziehungen sichtbar, die auf ein großes Ganzes zielen, eine latente „Anatomie“ eines Raumes, sei es das nordamerikanische Middlesex County oder Oberschlesien. 60 116 Alfrun Kliems 117 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 61 TWARDOCH 2016: 317; TWARDOCH 2015: 303: „[...] miriadami swoich oczu.“ 62 Ebd. 63 SMITH 2018: 42. 64 Ebd.: 40. 65 TWARDOCH 2016: 376 (Hervorhebung im Original); TWARDOCH 2015: 360: „Ziyma to je taki srogi drach, [...].“ Siehe Fußnote 2. 66 TWARDOCH 2016: „Alle aus mir und in mir [...]“ (109); „[...] nur ich erinnere mich“ (19); „[...] denn allein ich weiß, es gibt keine Zufälle“ (42); „Nur ich erinnere mich, [...]“ (52), [...] „denn ich bin das, was klarsieht“ (53); „An alles erinnere ich mich“ (19); „[...] ich aber weiß es“ (89); „Er ist nicht sicher, welches Jahr das war, aber ich bin es: [...]“ (20); TWARDOCH 2015: „Wszyscy ze mnie i we mnie“ (101); „[...] i ja tylko o nim pamiętam i Wo McGuire kleinere Panels samt Jahresangabe in wiederum größere Panels samt Jahresangabe montiert, sind Twardochs Jahreszahlen zugleich die Kapitel‐ überschriften des Romans. Der Titel von Kapitel 4/ Teil 3, aus dem das nachfol‐ gende längere Zitat stammt, lautet: „1921, 2014, 2016, 2013, 1951, 1947“. Anders als Here, aus dem die Rezipient_innen das Resonanzprinzip der Juxtapositionen selbst herauslesen müssen, nutzt Twardoch seinen Drach als Kommentator, indem er ihn unentwegt kontingente, individuelle Schicksale aufrufen lässt („mit den Myriaden meiner Augen“). 61 Trotz der fehlenden Sukzession ist nichts willkürlich in Here und Drach: Die Zeitspanne der Jahre, die Häufigkeit ihres Vorkommens, die Juxtaposition der Szenen, die Figurenzeichnung geben einen (persönlichen, subjektiven) Kom‐ mentar z.B. auf ethnische Marginalisierung und drohenden Klimawandel in Here und auf Vertreibungs- und Gewaltspiralen in Drach. Philipp Smith nennt das „implicite bias“, 62 wenn der Erzählmodus augenscheinlich durch „impersonality“ und „objectivity“ charakterisiert sei, beides sich im Rezeptionsverlauf jedoch als Illusion herausstelle. 63 Mit Schere, Drucker und Kleber ließe sich, so Smith weiter, in Here lineare Kontinuität herstellen, allerdings habe das für die Rezeption Konsequenzen: To do so, however, would be to remove the resonances and relationships which McGuire makes between time periods and the interconnectivity which he shows between past, present, and future. 64 Mit Schere, Drucker und Kleber kann auch Twardochs Drach in eine Chrono‐ logie gebracht werden, aber seinem Text würde in dem Fall die Interkonnekti‐ vität von Zeit und Raum ebenso verloren gehen und damit die grundlegende Komplexität und ethische Aussage. Anders als die Rezipient_innen von Here wissen jedoch Twardochs Leser_innen von Anfang an, wer spricht, hat das latente Erzählprinzip einen Namen: „Die Erde ist ein so großer Drach [...].“ 65 Drach sieht alles, jede und jeden zugleich - zukünftig und vergangen. 66 Der 118 Alfrun Kliems pamiętam, [...]“ (16); „[...] bo tylko ja wiem, że nie ma zbiegów okoliczności“ (38); „I tylko ja pamiętam [...]“ (47); „[...], bo ja jestem tym, który widzi wyraźnie“ (47); „Wszystko pamiętam“ (16); „[...], ale ja wiem“ (84); „Nie jest pewien, który to byl rok, ale ja jestem pewien“ (17). 67 TWARDOCH 2016: 333-334; TWARDOCH 2015: 319-320: „Przejeżdżają przez Knurów, mijają lecznicę, w której w tym samym czasie za trzydzieści lat umiera Joachim Gemander, i liceum ogólnokształcące, gdzie polskiego uczy Stanisław Gemander, potem jadą drogą, którą Lomania ucieka przed szywŏłdziōnami, i wszystko to tutaj jest, kiedy tak jadą, Joachim Gemander i jego Clostridium tetani, i obnażone w strasznym grymasie zęby, i Lomania, i goniący go szywŏłdzianie, wszystko jest naraz, i Nikodem w swoim terenowym discovery, Weronika przypięta w foteliku na tylnym siedzeniu tego terenowego discovery, jadą odwiedzić Ernsta i Gelę, i Natalię Gemander z domu Magnor, i kiedy Nikodem tak jedzie swoim discovery, słuchając z córką płyty Wilk zespołu Kim Nowak, to Josef Magnor jednocześnie jedzie nagi na pace ciężarówki w stronę Nieborowic, idzie wiele razy do szynku Widucha na piwo i jedzie w przeciwną stronę, na pojeździe o wiele cięższym niż ciężarówka, Ernst jeździ do pracy i na starość do lekarza, wszyscy naraz na jednej drodze, codzienne kursy Stanisława Gemandera z Pilchowic do Knurowa i z powrotem i ciężarówka model TT dwadzieścia kilometrów na godzinę w stronę Łuży. Dwukrotnie przekraczają granicę, której nie ma, a jest, bo już o niej wiadomo, więc jest.“ folgende längere Abschnitt zeigt, wie ähnlich beide Medien nichtsdestoweniger verfahren: Sie kommen durch Knurów, vorbei an der Heilanstalt, in der zur gleichen Zeit dreißig Jahre später, Joachim Gemander stirbt, und dem Allgemeinen Lyceum, wo Stanisław Gemander Polnisch unterrichtet, dann fahren sie die Straße, auf der Lomania vor den Schönwaldern geflohen ist, und das alles ist hier, als sie so fahren, Joachim Gemander und sein Clostridium tetani und das zu einer schrecklichen Grimasse entblößte Gebiss, und Lomania gejagt von den Schönwaldern, alles ist auf einmal, auch Nikodem in seinem Geländewagen Discovery, Weronika auf dem Kindersitz hinten in diesem Geländewagen Discovery, sie fahren Ernst und Gela besuchen und Natalia Gemander, geborene Magnor, und während Nikodem so fährt mit seinem Discovery und mit seiner Tochter die Platte Wilk der Gruppe Kim Nowak hört, fährt Josef Magnor gleichzeitig nackt auf der Ladefläche des Transporters in Richtung Nieborowice, geht viele Male auf ein Bier in Widuchs Schenke und fährt in die Gegenrichtung, auf einem Fahrzeug, das viel schwerer ist als ein Transporter, Ernst fährt zur Arbeit und im Alter zum Arzt, alle auf einmal auf einer Straße, die täglichen Fahrten Stanisław Gemanders von Pilchowice nach Knurów und zurück und der Transporter TT mit zwanzig Stundenkilometern in Richtung Łuże. Zweimal kommen sie über die Grenze, die es nicht gibt und doch gibt, weil man schon von ihr weiß, also gibt es sie. 67 Bei alldem betont Twardoch gerade nicht die Jahre der Vertreibung bzw. blendet sie auffällig aus. Auch wenn das Thema den Roman latent durchzieht, wird 119 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa 68 Die erste Stelle lautet: „In Katowice war kein Platz, in Gliwice wurde es ziemlich leer, weil die Deutschen in Waggons gesteckt und weggebracht wurden.“ In: TWARDOCH 2016: 106; TWARDOCH 2015: 98: „W Katowicach nie było miejsca, w Gliwicach zaś zrobiło się pustawo, bo Niemców wsadzono do wagonów i wywieziono.“ - An zweiter Stelle heißt es: „Schönwald gibt es nicht mehr. Die meisten Schönwalder sind noch vor dem Einmarsch der Sowjets von den Deutschen evakuiert worden. Von den verbliebenen hundert ermorden die Sowjets zwanzig. Der Rest wird von den neuen Be‐ wohnern gequält, Umsiedlern aus der Ukraine und der Gegend bei Olkusz, und vor Ende 1947 bringen die polnischen Behörden alle weg. Seit siebenundsechzig Jahren heißt Schönwald Bojków.“ In: TWARDOCH 2016: 143; TWARDOCH 2015: 134: „Szywŏłdu już nie ma. Większośc szywŏłdzian ewakuują Niemcy jeszcze przed wejściem Sowietów. Spośród pozostałych stu dwudziestu mordują Sowieci. Resztę dręczą nowi mieszkańcy, przesiedleńcy z Ukrainy i spod Olkusza, i w końcu polskie władze wywożą wzsystkich przed końcem 1947. Od sześćdziesięciu siedmiu lat Schönwald nazywa się Bojków.“ 69 SMITH 2018: 44. 70 Vgl. u.a. Wendungen wie „wszystko to samo“ in TWARDOCH 2016: 23, 25, 27; TWAR‐ DOCH 2016: 20, 21, 23. 71 JIRGL 2012: 85. 72 CZYŻAK 2016: 44. es direkt jedoch nur zweimal en passant angesprochen. 68 Es dominiert bei ihm das alte (gemischte) und das neue (polnische) Schlesien, während die einzelnen Schicksale um das latente historische Ereignis kreisen. Die Figuren in Here wie in Drach sind ansonsten in ihrem Rahmen oder Panel verankert, sei er bei Twardoch polnisch, deutsch, schlesisch, situativ bzw. kontingent oder bei McGuire das Panel selbst: „[...] each historical subject is also inextricably embedded within their own frame (or rather, stuck within the borders of their own panel).“ 69 Zugleich jedoch zeigen die sich überlappenden Geschichten die Interdepen‐ denz und sinngebende Bezogenheit der Individuen und Jahrhunderte aufein‐ ander, bei McGuire gar Jahrhunderttausende. Das führt Twardochs Drach- Stimme allerdings in Resignation, wenn sie die variierenden Iterationen kom‐ mentiert: „Alles das Gleiche“. 70 Letzteres unterscheidet sich insofern von Jirgels „Furzlang das-Immergleiche“, 71 als nicht ein gescheiterter, gekränkter Einzelner spricht, sondern eine allwissende, vielleicht allweise Stimme. Agnieszka Czyżak sieht in Drachs fatalistischem Blick auf die menschliche Welt denn auch einen „posthumanen Blick auf die Welt mit dem Misstrauen sowohl gegenüber histo‐ rischen Überlieferungen als auch der kognitiven Konstitution der Moderne“. In seiner ästhetischen Ausformung stehe Twardochs Prosa umso mehr für die „Gattungsflexibilität des historischen Romans“, 72 indem er nämlich eine Anatomie des Gesamten bietet. 120 Alfrun Kliems Absentierung, Sprachkrypta, Stratifizierung von Zeit im Raum - kleine Zusammenfassung Absenz und Latenz verschränken sich in den drei vorgestellten Romanen unterschiedlich. In auffälliger Weise absentieren sowohl Radka Denemarkovás Ein herrlicher Flecken Erde als auch Reinhard Jirgls Die Unvollendeten männliche Figuren und Figurengruppen aus der Narration. Letztere werden im Textverlauf ab- und weggeschrieben, aus der Fiktion herausgehalten bzw. marginal erzählt, oder allenfalls als (reproduktive) Sackgasse. Stattdessen lassen Denemarková und Jirgl die jeweiligen Geschichten von Frauen tragen, von Akteurinnen, weiblichen Stimmen, weiblichen Erinnerungen, und das trotz der Ich-Erzählung Reiners. Die figurative Dominanz der Frauenfiguren bringt ein Weiteres mit sich: Heimat wird in matrilinearen Erzählals Verfügungsgemeinschaften über die Verluste erinnert. Dabei fungieren die Protagonistinnen als transterritorial Überlebende, die Heimat zwar verlieren (real geographisch oder kulturell politisch), sie sich zugleich aber in der Erinnerung bewahren - mit allen auch negativen Konsequenzen für die Generation danach. Derweil machen beide Romane das latente Nachwirken familiärer Ereignisse unterschiedlich sichtbar: Denemarková im Dorftribunal, das ein Vergewalti‐ gungstrauma ans Licht bringt, das wiederum Lager-, Vertreibungs- und Schuld‐ traumata preisgibt. Technisch entscheidet sie sich dabei für den Schneidetisch, montiert in raschem Szenenwechsel vergangene Vergewaltigung, gegenwär‐ tiges Tribunal, imaginäre Gewaltphantasie und gleichzeitigen Dorfladenklatsch ineinander. Demgegenüber operiert Jirgl stärker auf der syntagmatischen und Lautebene, konstruiert eine Sprachkrypta, aus der Verdrängtes, d.h. nicht erzählte traumatische Ereignisse aufsteigen, indes verkapselt in Klischees und Binsen, die über Generationen weitergereicht werden. Um sie aufzubrechen, erfindet der Text eine Nach-Auschwitz-Sprache, das „O-Syntagma“, einen al‐ phanumerischen Code. Jirgls Sprachkrypta nicht unähnlich, wählt auch Twardoch ein ärcheologi‐ sches Verfahren und lässt sein posthumanes Erzählprinzip Drach die in dem Erinnerungsraum ‚Oberschlesien‘ gespeicherten Lebenswege, Jahrhunderte von Vertreibung, Krieg und Gewalt, aber auch von Begehren und Liebe ausgraben und in einem quasi-kompensatorischen Erzählakt zusammensetzen. Dabei gleicht Twardochs Textorganisation in ihrer Radikalität Comic-Verfahren, etwa dem von McGuires Here. Die Strata der Zeit im Raum erscheinen anders als in ‚klassischen‘ nichtlinearen Erzählweisen nur noch als Textscherben, zeitlich getrennte Momentaufnahmen, die wiederum in den übergeordneten Zeichen‐ komplex ‚Oberschlesien‘ eingeordnet und zu Bildern gefügt werden müssen. 121 Figurationen der Latenz in transgenerationeller Erinnerungsprosa Eher umkreist denn aufgerufen, wird das Vertreibungstrauma in Twardochs postmemorialer Prosa, anders als bei Denemarková und Jirgl, ‚nur‘ noch zu einer sich unendlich wiederholenden Katastrophe unter vielen in der Geschichte. Auf unterschiedlichen Wegen und mit verschiedenen Implikationen suchen die Texte zu fassen, wie transgenerationelle Traumata latent aktiv wirken, im Verborgenen Energie ausstrahlen, Geistern oder Totgeglaubten gleich die Gegenwart verstören: haunting memory. 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In both novels analyzed in the present paper (Peníze od Hitlera, 2006 [Money from Hitler]; Příspěvek k dějinám radosti, 2014 [A Contribution to the History of Joy]), the author addresses the complex effects of the male history of the 20th century on female individuals. In a differentiated way, she takes up questions of responsibility and guilt, forgiveness and revenge, memory and repression, identity and belonging. She questions social boundaries and the hierarchies that go with them, which are constructed on the basis of religious, linguistic-cultural or class affiliation. Through her analytical approach, she makes the violence on the individual, on the single human being, visible behind the war crimes; she exposes repression and revenge as prerequisites for maintaining the spiral of violence; and she shows rape as the “dark double of gender relations”. Together with the complexity of images and representations of Denemarkovás novels, it is this that makes them so politically significant. Keywords holocaust, memory, trauma, nationalism, Central Europe, World War II, gender, ethics 1 Vgl. https: / / denemarkova.eu/ de/ about/ 2 N. N. 2019. 1. Radka Denemarková Radka Denemarková zählt zu den bedeutendsten tschechischen Gegenwartsau‐ torinnen. Das bisherige Werk der Prager Germanistin und Bohemistin, die als Schriftstellerin für Romane, Dramen, Drehbücher, Essays und Übersetzungen verantwortlich zeichnet, umfasst 16 Bücher und 20 Bühnenstücke; ihre Romane sind in 23 Sprachen übersetzt. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. vier Mal mit dem wichtigsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera: 2007 für Ein herrlicher Flecken Erde (tsch. Peníze od Hitlera, 2006) in der Kategorie Beste Prosa, 2009 für das Sachbuch Tod, Du wirst Dich nicht fürchten (tsch. Smrt, nebudeš se báti, 2008) über den Regisseur Petr Lébl, 2011 für die Übersetzung von Herta Müllers Roman Atemschaukel (tsch. Rozhoupaný dech, 2010) und 2019 für ihren neuesten Roman Hodiny z olova (2018; dt. Stunden aus Blei, dt. Ausgabe in Vorbereitung) als Buch des Jahres. 1 Denemarkovás Romane sind insgesamt von einer starken gesellschaftskriti‐ schen Ausrichtung und einem politischen Bewusstsein gekennzeichnet, mit dem sie historische Ereignisse und ihre Langzeitfolgen sowie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch beleuchtet, um andere, bessere Formen der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Problematik zu suggerieren und mögliche Auswege aus scheinbaren gesellschaftlichen Sackgassen aufzuzeigen. Während der neue Roman, der „uns in China und China in uns“ 2 thematisiert, einen dezidierten Gegenwartsbezug aufweist, setzt sich die Autorin in den beiden einzigen ins Deutsche übersetzten Romanen mit dem Umgang der heutigen Gesellschaft mit der Vergangenheit auseinander. Es handelt sich dabei um die Romane Ein herrlicher Flecken Erde (dt. 2009) und Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (2019, tsch. Příspěvek k dějinám radosti, 2014), die im Folgenden zuerst vorgestellt und dann vergleichend analysiert werden sollen. 2. Peníze od Hitlera (Letní mozaika) (2006) / Ein herrlicher Flecken Erde (2009) Der Roman Ein herrlicher Flecken Erde erzählt die Geschichte von Gita Lau‐ schmannová, einer aus einer deutsch-böhmisch-jüdischen Unternehmerfamilie stammenden Frau, in sechs Episoden, die sich über 60 Jahre, genauer gesagt über den Zeitraum von 1945 bis 2005, erstrecken. Parallel dazu wird die 128 Alexandra Millner Geschichte der Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes Puklice erzählt, aus dem Gita stammt. Gitas Geschichte wird autodiegetisch anhand von sechs Rück‐ kehrversuchen ins Dorf erzählt. Die dazwischen geschalteten Reaktionen der Dorfbewohner_innen werden aus wechselnden Perspektiven geschildert. Somit ist eine narrative Struktur gegeben, die an den Wechsel zwischen Protagonisten und Chor in der antiken Tragödie erinnert. Gitas erste Rückkehr ins Dorf erfolgt direkt nach Kriegsende. Neben ihrem Bruder Adin einzige KZ-Überlebende der deutsch-böhmischen jüdischen Fa‐ milie, kommt die Sechzehnjährige völlig erschöpft auf das Gut ihrer Eltern, in der Hoffnung auf ein freudiges Wiedersehen mit ihren ehemaligen Angestellten. Diese haben inzwischen jedoch alle Gebäude in Beschlag genommen und empfangen sie mit äußerst feindseliger Haltung: Als Angehörige der deutschen Sprachgruppe wird sie nicht wie ein Opfer des Nationalsozialismus, sondern wie die Tochter eines nationalsozialistischen Täters behandelt beziehungsweise misshandelt; man schlägt sie brutal nieder und will sie verhungern lassen. Nur durch die heimliche Unterstützung einer schwangeren Frau kann Gita überleben und in ein Auffanglager entkommen, wo sie nur zufällig und mit Hilfe eines verständnisvollen Offiziers dem Weitertransport in ein Arbeitslager entgeht. In den 1950er Jahren besucht Gita mit ihrem Mann Adolf und ihrer Tante Ottla, bei der sie in Prag untergekommen ist, abermals das Dorf und versucht, die Frau, die ihr 1945 das Leben gerettet hat, zu besuchen. Gita, die nun selbst schwanger ist, wird jedoch von der entrüsteten Frau, nunmehr Mutter zweier Kinder, verjagt. In den späten 1960er Jahren kehrt sie mit ihrem zweiten Kind Rosalie, benannt nach der im KZ verstorbenen Schwester, und ihrem zweiten Mann Johan wieder. Im Jahr 2005 schließlich - Gita ist inzwischen als Pathologin pensioniert und Großmutter zweier erwachsener Enkeltöchter - kehrt sie nochmals in das Dorf zurück, diesmal begleitet von einem Anwalt und ihrer Enkeltochter Barbora, die Juristin ist. Mit Erfolg hat sie inzwischen die Anerkennung der Eltern als Opfer der Nationalsozialisten und die Restitution des Familienbesitzes durchgesetzt und möchte nun den unrechtmäßigen Bewohnerinnen einen Vergleich vorschlagen: das Wohnrecht gegen die Errichtung eines Denkmals für ihren Vater. Die Konfrontation mit dem Bürgermeister der Gemeinde, dem Sohn eines ehemaligen Angestellten der Familie, entgleist jedoch, als dieser Gitas Vater als Nazi und Gita als geistesgestört und unzurechnungsfähig bezeichnet und als Beweis eine Krankenakte über Gitas starke psychische Probleme auf den Verhandlungstisch legt. Diese Provokation veranlasst Gita zum ersten Mal von der Ursache ihrer psychischen Krise, nämlich vom Verlust von Mann und Kind im Prag der späten Nachkriegszeit, zu erzählen: der Vergewaltigung 129 Gedächtnis, Schuld und Sühne 3 Für Auskünfte bezüglich der tschechischen Rezeption danke ich meiner Kollegin Dana Pfeiferová. 4 Vgl. SCHANDOR 2019. Dana Pfeiferová: „Ab und zu - bei den Lesungen - kamen jedoch kritische Stimmen, dass doch die Tschech_innen im Krieg auf der Seite der Opfer waren und dass dies eine erfundene Geschichte sei.“ durch eine Gruppe betrunkener Jugendlicher, die unter einem Vorwand in ihre Wohnung eingedrungen waren, dem Mord an dem vier Monate alten Sohn vor ihren Augen und dem darauffolgenden Selbstmord des Mannes, der ihr die Vergewaltigungsgeschichte nicht geglaubt hatte. Denis, der Sohn ihrer Lebensretterin, der sich als Orthopäde Zugang zur Krankenakte verschafft hatte, wechselt aus Scham über Gitas ‚Geständnis‘ die Seiten und versucht, das Dorf zum Einlenken zu bewegen, worauf er aus der Dorfgemeinschaft und seiner Familie ausgeschlossen wird. Nur seine Mutter hält weiterhin zu ihm und Gita. Sie tut dies aus zweierlei Gründen: weil sie in dem Bewusstsein lebt, unrechterweise Gitas Familienvilla zu bewohnen, und weil sie die letzte lebende Person ist, die weiß, dass Gitas Bruder Adin zwar das KZ überlebt hatte und kurz vor Gitas Auftauchen 1945 wie seine Schwester ins Dorf zurückgekehrt war, doch von einigen Dorfbewohnern ausgehungert wurde. Sein Leichnam wurde im Apfelgarten verscharrt; sein abgetrennter Kopf aber wurde von Denis im Kleinkindalter beim Sandspielen zufällig ausgegraben. Als aufgrund der ablehnenden Haltung der Dorfbewohnerinnen ein juristischer Vergleich immer weiter in die Ferne rückt, animiert Denis Gita dazu, ihre Geschichte aufzuschreiben. Soweit die wichtigsten Ereignisse in chronologischer Reihenfolge zusammen‐ gefasst. Allerdings ist es charakteristisch für Radka Denemarkovás Narrative, die Handlungsstruktur aus der linearen Abfolge der Einzelereignisse als aus‐ geklügeltes komplexes Gebilde zu gestalten, in dem durch zeitliche wie moti‐ vische Engführungen scheinbar weit auseinanderliegende Handlungsstränge miteinander in Beziehung gesetzt werden, wodurch persönliche Grausamkeit und politisches Kalkül, Habgier und ideologische Versatzstücke als unheilvolle Aktionspaare in Erscheinung treten. Damit macht die Autorin eine Kausalität sichtbar, die weit über die zeitliche wie räumliche Nähe hinausreicht und das Weiterwirken historischer Traumata in nachfolgenden Generationen aufzeigt. In Tschechien sorgte Ein herrlicher Flecken Erde anfangs für Aufsehen und polemisch geführte Diskussionen, weil Denemarková darin den Umgang mit deutschjüdischen Heimkehrerinnen und Heimkehrern in der Tschechoslowaki‐ schen Republik thematisiert und damit an ein lang gehegtes gesellschaftliches Tabu rührt. 3 Schließlich fand der Roman doch eine sehr positive Aufnahme durch die Literaturkritik. 4 130 Alexandra Millner 5 DENEMARKOVÁ 2019: 94. 3. Příspěvek k dějinám radosti (2014) / Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (2019) In dem acht Jahre später erschienenen Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude stößt ein Prager Ermittler der Mordkommission auf ein geheimnisvolles Haus am Fuße des Prager Aussichtsbergs Petřín, dessen Bewohnerinnen - drei Freundinnen älteren Semesters - gerade in einer englischen Stadt weilen: die Prager Schriftstellerin Birgit Stadtherrová, um dort kreatives Schreiben zu unterrichten, die Amerikanerin Diana Adler, um Yogakurse zu geben, und die deutsche Dokumentarfilmerin Erika Eis, um zu recherchieren. Wie sich herausstellen wird, sind dies nur Scheinbeschäftigungen, die ihre eigentliche Mission kaschieren sollen. Denn - so entdeckt der Ermittler zur gleichen Zeit in Prag - im Keller ihres Hauses befindet sich ein Archiv zur Dokumentation von Kriegsverbrechen an Frauen, deren sexuellen Missbrauch und Vergewal‐ tigungen, ab dem Zweiten Weltkrieg. Kern und Ausgangspunkt des Archivs der drei Frauen ist die vierte, inzwischen verstorbene Freundin im Bunde, die KZ-Überlebende Ingrid Kafková, die als Kind im Zweiten Weltkrieg im Warschauer Ghetto vor laufender Filmkamera mit anderen jüdischen Frauen und Mädchen zu einer pornografisch-orgiastischen Massenszene gezwungen worden war und seit Kriegsende um die Anerkennung von Vergewaltigung als Kriegsverbrechen gekämpft hatte. Im Zuge ihrer Kampagne kontaktierte sie auch Simon Wiesenthal in Wien, um mit ihm auf der Jagd nach Kriegsverbre‐ chern gemeinsame Sache zu machen. Doch selbst Wiesenthal verharmlost den Missbrauch von Frauen im Krieg: „Wir hatten Krieg. Und in einem Krieg ist extremes Verhalten normal, in jeder Hinsicht. Auch im Bereich der Triebe“ 5 , lässt er sie abblitzen. Überlebensprostitution wird auch von ihm als Makel der betroffenen Frauen abgetan. Vor diesem Hintergrund haben sich die vier Frauen also zusammenge‐ schlossen, um nach dem Zweiten Weltkrieg an Vergewaltigern überall auf der Welt Rache zu nehmen. Was wie ein Kriminalroman beginnt, stellt sich somit schon bald als ein gesellschaftskritischer, ein politischer Roman heraus, der nicht nur die weltweit und durch alle Kulturen und Gesellschaftsschichten hindurchgehenden asymmetrischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern unter die Lupe nimmt, sondern auch die den Machtverhältnissen entsprechende ungleiche Verteilung von Schuld und Bestrafung, die über alle Zeiten hinweg unverändert geblieben ist. 131 Gedächtnis, Schuld und Sühne 6 Vgl. ASSMANN 2006: 169-180. 7 Ebd.: 27. 4. Gedächtnis, Gewalt, Schuld und Sühne - vergleichende Analyse In beiden Romanen rührt Denemarková an ähnliche gesellschaftlich zum Teil tabuisierte, zum Teil polarisierende Themen, die ursächlich mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und seinen Folgen zu tun haben: Dazu zählen der Ho‐ locaust, die Beneš-Dekrete, die Verdrängung vergangener Gewalttätigkeit und das daraus resultierende Weiterwirken gesellschaftlicher Gewaltmechanismen, soziale Ungleichheit, insbesondere jene zwischen den Geschlechtern, und die unterschiedlichen Modellen, damit umzugehen. Im Folgenden sollen deshalb di‐ verse Aspekte der Themenkomplexe Erinnern/ Vergessen, Täter/ Opfer, Schuld/ Vergebung und deren Zusammenhang mit Identitätsbildung und Genderas‐ pekten vergleichend beleuchtet werden. 4.1 Verdrängung & Gedächtnis/ Erinnerung In Ein herrlicher Flecken Erde steht eindeutig das Aufbrechen von Verdrän‐ gungen im Mittelpunkt, das auf beiden Seiten des Rechtsstreits um den Famili‐ enbesitz von starken Frauenfiguren - nämlich von Gita und Denis’ Mutter - initiiert wird. Beide sind als Opfer bzw. Akteurin in das verdrängte Geschehen direkt involviert und mit sozialen Verdrängungsmechanismen konfrontiert, die nach Aleida Assmann alle fünf Varianten umfassen: mit dem Aufrechnen, indem sich die ehemaligen Angestellten als Opfer des kapitalistischen Ausbeu‐ ters betrachten; dem Umfälschen, indem Gitas Vater als Nazi-Kollaborateur verunglimpft wird; dem Externalisieren, indem sie den vermeintlichen Nazi- Kollaborateur zum Sündenbock erklären; dem Ausblenden und Beschweigen der realen Geschehnisse. 6 Obwohl die Geschichte des Guts der Lauschmannovás durch das Auseinan‐ derklaffen von eleganter Formgebung und einfachster Nutzung wie ein offenes Buch daliegt, sehen die Wissenden wissentlich weg, während die Unwissenden nicht nach dem Grund dieser augenfälligen Differenz fragen. Gita möchte hingegen die Wahrheit und so die Geschichtslügen durch die Errichtung eines Denkmals zur Rehabilitation ihrer Eltern beseitigen und damit die korrekte Informiertheit nachfolgender Generationen garantieren. Dass hier ein Mitglied der ersten Generation, der Generation der unmittelbar Beteiligten und Betrof‐ fenen, „das repressive und komplizitäre Beschweigen der historischen Schuld“ 7 durch die Thematisierung der Schuld und die Errichtung von Denkmälern brechen will, ist im Vergleich zu Studien zur Vergangenheitsbewältigung 132 Alexandra Millner 8 Vgl. ebd.: 28. 9 Ebd.: 35. 10 RAULFF 2016: 117. 11 Ebd.: 121. 12 Erst im Jahre 2008 wurden „Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit oder als Bestandteil von Völkermord“ anerkannt. S. u. vgl. SANYAL 2016: 160. in Deutschland ungewöhnlich, wo es der jüngeren Generation, den ‚68ern‘ vorbehalten war, das Schweigen zu durchbrechen. Auch ist der im Roman dafür gewählte Zeitpunkt, nämlich sechzig Jahre nach Kriegsende, relativ spät, werden dafür doch für gewöhnlich fünfzehn bis dreißig Jahre angenommen. 8 Dies deutet darauf hin, dass es sich hier einerseits um eine vielschichtige traumatische Erfahrung handelt und dass andererseits durch die politischen Wechsel in der Tschechoslowakischen bzw. Tschechischen Republik und die komplexe Situation einer ehemals plurikulturellen Gesellschaft die Entwicklung von der Verdrängung zur Aufarbeitung, vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis einen längeren Weg genommen hat: Das kollektive Gedächtnis unterscheidet sich vom Familien- und Generationenge‐ dächtnis durch solche symbolischen Stützen [wie etwa Denkmäler], die die Erinne‐ rung in die Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten. 9 In Ein Beitrag zur Geschichte der Freude stehen einander die individuelle Erin‐ nerung der drei Freundinnen an die Vergewaltigungen von Frauen und deren kollektive Verdrängung gegenüber. Die Vergewaltigungen werden von ihnen feinsäuberlich dokumentiert und systematisiert, um den Verbrechern auf die Spur zu kommen; ihr durch jahrelange Recherche entstandenes Archiv bleibt als „Gedächtnis des Rechts“ 10 jedoch unter Verschluss und kommt nur zufällig durch die Nachforschungen des Kriminalbeamten ans Tageslicht. Die drei Frauen nehmen gezielt und persönlich Rache, ohne selbst Spuren zu hinterlassen, da sie die Morde an den Vergewaltigern als Selbstmorde inszenieren. Es sind systematische Akte der Lynchjustiz, die sie für die Öffent‐ lichkeit tarnen, sodass die wahre politische Motivation ihrer Untaten nicht ans Tageslicht kommt. Ohne diesen ursächlichen Zusammenhang haben die Morde keinerlei Erinnerungsfunktion für das kollektive Gedächtnis. Es ist ein paradoxer inoffizieller „Krieg der Erinnerungen“ 11 gegen die ungeahndeten Ver‐ gewaltigungen von Frauen zu Kriegszeiten, die nicht als Kriegsverbrechen an‐ erkannt, sondern als Kollateralschäden des Kriegs in Kauf genommen werden. 12 133 Gedächtnis, Schuld und Sühne 13 DENEMARKOVÁ 2009: 291-292. 14 DENEMARKOVÁ 2019: 196. 15 ASSMANN 1999: 247. 16 WEIGEL 1994: 16; vgl. BEISE 2007: 17. 4.2 Körpergedächtnis & Solidarität In beiden Romanen spielt das Körpergedächtnis eine zentrale Rolle, die weib‐ lichen Opfer leiden aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen an schweren psychischen Störungen und physischen Symptomen. Doch sind es nicht nur die eigenen Gewalterfahrungen, die sich in diese Menschen eingeschrieben haben, sondern die Summe aller ähnlichen Vergehen in allen Zeiten an allen Orten dieser Welt. In Ein herrlicher Flecken Erde notiert Gita unmittelbar vor ihrem Tod: Es ist nicht meine Geschichte, die ich mit mir herumtrage, ich schleppe Geschichten von anderen mit, man hat sie mir auf den Buckel geladen, mich mit ihnen beschwert, mir die Entscheidungsfreiheit genommen, mir wurde der Erbanteil fremder Taten aufgenötigt. 13 In Ein Beitrag zur Geschichte der Freude stehen die malträtierten Körper der Frauen über den gemeinsamen Zweifel an dieser Welt miteinander in Verbin‐ dung: Der Ermittler erfährt nicht, dass sich der Körper dieser Frau verbunden hat mit anderen Körpern, dass der Körper der Frau für diese Verbindung keinen Namen hat, sie ist neu für sie, unbekannt, sie heißt Zweifel an dieser Welt. […] Das Gedächtnis eines tausendjährigen Körpers irrt nicht, und der eigene Körper schwingt sofort in einer anderen Sprache, in seiner eigenen Sprache, ein einmal missbrauchter Körper solidarisiert sich mit jedem anderen missbrauchten Körper auf der ganzen Welt. 14 Nach Aleida Assmann gilt das Trauma als eine unbewusste „Selbsteinschrei‐ bung einer traumatischen Erfahrung in die Matrix des Unbewußten“, als „eine dauerhafte Körperschrift“. 15 Das Trauma ist (seelisch) unsichtbar und (körper‐ lich) sichtbar zugleich. In literarischen Darstellungen, so Weigel, sei der Körper „Symptomkörper“ und fungiere als „Matrix für die Erinnerungssymbole des Verdrängten“. 16 In den Romanen wird diesbezüglich die Notwendigkeit betont, die sichtbaren körperlichen Zeichen lesen zu lernen, um die unsichtbaren Zusammenhänge erkennen zu können. Die individuellen Traumata werden über die Lesbarkeit der Zeichen erfahrbar, auf deren Ebene eine Art Solidarität hergestellt werden kann. 134 Alexandra Millner 17 DENEMARKOVÁ 2009: 273. 18 Ebd.: 264. 19 SALZBORN 2020: 66. 20 DENEMARKOVÁ 2009: 291. 21 Ebd. 4.3 Schuld & Verantwortung - Täter & Opfer In beiden Romanen werden die Kriegsbzw. Nachkriegsverbrechen als Taten individueller Verantwortung behandelt. „Wichtig ist, wer was getan hat“, 17 heißt es an einer Stelle. Und an anderer Stelle: „Hinter jedem Ereignis verbergen sich konkrete Namen. Nicht die Zeiten, die Menschen sind schuld.“ 18 Gita wird zuerst als Jüdin, dann als Deutsche und schließlich als Frau zum Opfer lebensbedrohlicher Gewaltverbrechen. Wer so viele schwere Schicksals‐ schläge erlitten hat wie Gita, der macht sich in den Augen der tschechischen Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen jedoch verdächtig. Diese Opfer-Täter- Umkehr, die insbesondere eine Strategie des Antisemitismus und der politi‐ schen Rechten ist, resultiert aus der mangelnden Differenzierung zwischen deutschsprechenden Jüdinnen und Juden und nationalsozialistischen Deutschen bzw. Deutsch-Böhm_innen. Gitas Vater wird nicht nur als „Ehren-Arier“ ver‐ unglimpft, sondern auch als Kapitalist grundsätzlich zum Feind erklärt - eine Begründung, die auch die Nachgeborenengeneration nach 1989 noch überzeugt. Und gerade die Gier nach dem Besitz des Kapitalisten ist es, die die Dorfbewohner_innen zur Aufrechterhaltung der Ungerechtigkeit motiviert. Dabei wird ersichtlich, dass eine „Täter-Opfer-Umkehr mit der Suggestion einer kollektiven Unschuld“ 19 einhergeht. Zwei ironische Details sollen hier noch Erwähnung finden: Gita will das Denkmal aus den Entschädigungszahlungen des Deutsch-Tschechischen Zu‐ kunftsfonds finanzieren, die sie zynischerweise als „Geld von Hitler“ - so die wortwörtliche Übersetzung des tschechischen Originaltitels Peníze od Hitlera - bezeichnet. In den letzten Aufzeichnungen Gitas findet sich eine vage Kindheitserinne‐ rung, in der sie den Vater mit einer Hakenkreuzarmbinde erinnert: „Damit mich unsere Leute in Ruhe lassen“, 20 erklärt er seiner Tochter, die diese Szene 60 Jahre später in Frage stellt: „Wen meinte er damit? Wer waren unsere Leute? Mein Papa weiß noch nicht, dass … mein Papa spricht Deutsch … er ist Jude … wer sind unsere Leute? “ 21 - Hinter beiden Anekdoten, welche die Grenze der Opferidentität markieren, steht die Frage, ob man sich schuldig macht, wenn man aus strategischen Gründen mit dem Feind kollaboriert. Während der Roman Ein herrlicher Flecken Erde die verunglimpfende Umkehr der Opfer zu Täter_innen thematisiert, zeigt Ein Beitrag zur Geschichte der 135 Gedächtnis, Schuld und Sühne 22 Vgl. THÜRMER-ROHR 1990. Freude, wie Opfer zu Täterinnen werden, wobei hier die Gendergrenze ange‐ sichts der Vergewaltigungen zwar eine wichtige Rolle spielt, dennoch verläuft die Grenze zwischen Täter_innen und Opfern nicht zwangsläufig entlang der Gendergrenze, denn Denemarková bringt ein weitgehend missachtetes Phänomen zur Sprache, nämlich das von Christine Thürmer-Rohr zum ersten Mal in den 1980er Jahren beforschte Phänomen weiblicher Komplizenschaft. 22 In diesem Falle ist es die vierte Freundin, die KZ-Überlebende Ingrid, welche die Rolle der vergewaltigten Opfer als Mittäterinnen einnimmt. Nach ihrer eigenen Misshandlung soll sie, um sich selbst zu retten, junge Mädchen im Ghetto als nächste Opfer vermittelt haben - ein Faktum, vor dem sogar ihre drei Freundinnen die Augen verschließen, tun sie doch alles dafür, um sich für die männliche Gewalt an Frauen zu rächen. Ingrid war schließlich der ursprüngliche Anlass für ihre fatale Aktivität. Mit der Zeit aber verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern beziehungsweise Täterinnen immer mehr, wie die drei Freundinnen ja auch selbst Opfer und Täterinnen zugleich sind: Still‐ schweigend üben sie als moderne Erinnyen ihre Funktion als Rachegöttinnen und Schutzgöttinnen der sittlichen Ordnung aus, deren Störung sie einerseits rächen, andererseits jedoch durch ihre Rache selbst wiederum stören. Dadurch wird der Kreislauf der Gewalt aufrechterhalten. Im Anhang des Romans stellt die Autorin die Handlung in einen größeren politischen Zusammenhang, indem sie als Handlung zweiter Ordnung Aus‐ schnitte aus dem Roman Männerspiele der Protagonistin Birgit Stadtherrová preisgibt. Darin wird einerseits anhand von Edvard Beneš die wichtige Rolle der einfachen Leute für den Machterhalt der Herrscher betont und andererseits an der individuellen Schuld an Kriegsverbrechen festgehalten. Die Verantwortung sowohl für die Machtverhältnisse im Staat als auch für die Kriegsverbrechen liegt beim Einzelnen. Zugehörigkeiten zu nationalen Gruppen, die wie im Falle von Ein herrlicher Flecken Erde einander als tschechisch-böhmisch, deutschböhmisch, jüdisch-deutsch-böhmisch, jüdisch-tschechisch-böhmisch, deutsch‐ national/ nationalsozialistisch etc. gegenüberstehen, schützen ebenso wenig vor der Verantwortung für individuelle Handlungen, wie in Ein Beitrag zur Geschichte der Freude die Zugehörigkeit zur weiblichen Hälfte der Menschheit vor der Verantwortung für Morde - auch wenn sie aus dem Motiv der Rache und Solidarität geschehen. 136 Alexandra Millner 23 DENEMARKOVÁ 2009: 254. 24 JANKELEVITCH 2003: 271. 25 DENEMARKOVÁ 2009: 276. 26 DENEMARKOVÁ 2019: 174. 27 Vgl. WIESENTHAL 1988. 28 ARENDT 2007: 306. 4.4 Vergeben & Vergelten In Ein herrlicher Flecken Erde wird das Ringen um ein Verzeihen zumindest als - wenn auch vergebliches - menschliches Unterfangen thematisiert, denn: „Einem Mörder verzeiht man nicht. […] Sobald man verziehen hat, gehört man zu ihnen.“ 23 Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch hat dies radikaler formuliert: „Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben.“ 24 Schließlich versucht Gita, dies durch die Niederschrift ihrer Geschichte zu kompensieren: „Schreiben ist meine Rettungsweste.“ 25 In Ein Beitrag zur Geschichte der Freude geht es nicht darum, zu vergeben, sondern zu vergelten. Rache und Verzeihen werden hier als einander ausschlie‐ ßende Begriffe verstanden. Die Gewalttäter werden in eiskalten, systemati‐ schen, gezielten Racheakten getötet, die als Selbstmorde getarnt werden. Auch hier wird die Unmöglichkeit zu verzeihen betont: „Wörter können Schlimmes tun, Abbitte leisten können sie nicht.“ 26 Ingrid, die sich mit Simon Wiesenthal trifft, um sich seiner Jagd nach Kriegsverbrechern anzuschließen, und mit seiner abweisenden Reaktion eine weitere Kränkung erfährt, da sie einer Nichtanerkennung von Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen gleichkommt, geht mit ihren Freundinnen in ihrer Absicht, die Schuldigen zu bestrafen, ins Extrem der Lynchjustiz. Damit steht sie im Gegensatz zu Wiesenthals Parole „Recht, nicht Rache“. 27 Wer Rache übt, hält hingegen den Kreislauf der Gewalt aufrecht, oder wie Hannah Arendt es formuliert: Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird. 28 4.5 Zugehörigkeit & Identität In Ein herrlicher Flecken Erde haben die sozialen Grenzziehungen entlang der Ka‐ tegorien sprachkultureller Zugehörigkeit, Religion, Gender, Generation, Besitz fatale Auswirkungen auf die sich je nach politischer Situation verschiebenden Machtverhältnisse und den daraus resultierenden zwischenmenschlichen Um‐ gang. Je nach Zeit und Ort sind es andere Kategorien, die bestimmten Kohorten 137 Gedächtnis, Schuld und Sühne 29 LIEBSCH 2001: 44. 30 DENEMARKOVÁ 2009: 272. 31 NEUMANN 2019. Hegemonialität garantieren. Waren es in Böhmen vor dem Zweiten Weltkrieg Besitz und Kapital sowie vermehrt auch die sprachkulturelle Zugehörigkeit, so ist es im Protektorat Böhmen und Mähren das arische Deutschtum, während nach 1945 Parteitreue und tschechische Zugehörigkeit ausschlaggebend sind. Alleine aus diesem Wechsel, der die Romanhandlung im Hintergrund erst bedingt, wird deutlich, dass diese durch Zugehörigkeiten bedingte Vormacht‐ stellung (und mit ihr die daraus resultierende Gewalt) weder essentialistisch zu begreifen, noch überzeitlich und überräumlich von absoluter Bedeutung, sondern ein relativer, veränderbarer und willkürlicher Faktor ist. Mit Bezug auf Levinas’ „Verantwortung angesichts des Anderen“ ohne ethische Vorbedingung verbindet Burkhard Liebsch eine solche ,ethnische‘ Gewalt mit dem Ethischen: So schwer muss es auf der Grundlage einer Reduktion des Ethischen auf Bedingungen der Ethnizität bzw. der Zugehörigkeit fallen, anzugeben, wogegen die Gewalt gegen Nicht-Zugehörige eigentlich verstößt und inwiefern deren Fremdheit - ungeachtet dieser Gewalt - vielleicht doch ein ethisch unhintergeh‐ bares Faktum darstellt.“ Die Gewalt konfrontiere uns mit der Herausforderung, „das Ethische angesichts des Fremden zu begründen“. 29 Von dieser Entkoppelung des Ethischen vom Ethnischen ausgehend, lässt sich Gitas Haltung verstehen: Sie hat diese Zugehörigkeiten schon lange hinter sich gelassen, sie waren nie ein Thema für sie gewesen, es sei denn, sie wurden von außen an sie herangetragen. Angesichts der vielen Schicksalsschläge in ihrem Leben sind ihr die politischen Hintergründe gleichgültig: Ich will nicht als Deutsche entschädigt werden. Ich will als Mensch für das Unrecht entschädigt werden, das mir zugefügt wurde. Als Mensch, als Bürger, den es ohne Grund getroffen hat. Ich möchte, dass man sagt, dass hier ein Verbrechen begangen wurde. 30 In Ein Beitrag zur Geschichte der Freude wird auf die über alle Zeiten und Räume hinweg konstant bleibende Asymmetrie zwischen den Geschlechtern fokussiert, die sich auf die Aufteilung der Täter- und Opferrolle auf die Ge‐ schlechter und auf die Glaubenshierarchie immer zum Nachteil der Frauen auswirkt. Auf einer poetischen Metaebene des Romans wird die Perspektive der Schwalben eingenommen, die in einer Konferenz Beiträge für die „Geschichte der Freude“ - „[m]it Freude ist Sex gemeint“ 31 - sammeln. Doch aus der Vogelperspektive können sie nichts verstehen, da sie nur menschliche Körper sehen, Individuen, und „nichts von Staatsgrenzen, Nationalitäten, Religionen“ 138 Alexandra Millner 32 SCHANDOR, Werner: Nicht für schwache Nerven. In: Wiener Zeitung, 20.11.2009. 33 STN 2019. wissen. Die physische Gewalt aber trifft den individuellen Menschen ungeachtet seiner Zugehörigkeiten. 5. Resümee In beiden Romanen rührt Radka Denemarková an Tabus der tschechischen Gesellschaft, und diagnostiziert eine weitgehende Verdrängung politisch wie menschlich unangenehmer Kapitel der Vergangenheit. In einem Interview erklärt sie ihre Motivation für Ein herrlicher Flecken Erde folgendermaßen: „In der Schule haben wir gehört, die Deutschen wären 1938 als Besatzer ins Land gekommen und seien 1945 wieder rausgeschmissen worden. Kein Wort von der jahrhundertelangen Nachbarschaft von Deutschen und Tschechen in Böhmen. Und auch jetzt spricht man nicht über die Vertreibung der Deutschen.“ 32 Dem Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude geht ein Gespräch mit einem älteren Herrn voran: Da war ein älterer Herr, der sehr aggressiv auftrat. Ich konnte ihn gut verstehen. Er stammte aus einer Familie von Sudetendeutschen, die aus Tschechien vertrieben worden waren. Aber leider lud er all seinen Frust an mir ab, fragte, wann die Tschechen endlich die Sudetendeutschen entschädigen werden. Ich habe ihm immer nur geantwortet, dass ich keine Politikerin bin und ihn verstehe. Aber irgendwann habe ich spontan zurückgefragt: Mich würde eher interessieren, wann alle Frauen entschädigt werden, die damals im Krieg von Soldaten aller Armeen vergewaltigt wurden. Genauso spontan, wie ich diese Frage aufgeworfen hatte, antwortete er mir: Die wurden doch nur vergewaltigt. Dieses Wort nur habe ich mit nach Hause genommen und mir vorgenommen, dass ich das in allen Kontexten verwenden und enthüllen werde. 33 In den beiden Romanen thematisiert die Autorin die komplexen Auswirkungen der männlichen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf weibliche Individuen. Auf differenzierte Art greift sie dabei Fragen von Verantwortung und Schuld, Ver‐ gebung und Rache, Erinnerung und Verdrängung, Identität und Zugehörigkeit auf. Sie hinterfragt soziale Grenzziehungen und die damit einhergehenden Hierarchisierungen, die anhand von religiöser, sprachkultureller oder Klassen‐ zugehörigkeit konstruiert werden. Durch ihr analytisches Vorgehen macht sie hinter den Kriegsverbrechen die Gewalt am Individuum, am einzelnen Menschen, sichtbar; Verdrängung und Rache entlarvt sie als Voraussetzung 139 Gedächtnis, Schuld und Sühne 34 SANYAL 2016: 11. 35 ASSMANN 2006: 35. dafür, die Gewaltspirale aufrechtzuerhalten; und Vergewaltigung zeigt sie als „dunkle[n] Doppelgänger der Geschlechterverhältnisse“ 34 . Das macht die poli‐ tische Bedeutung dieser Romane aus. Der literarische Wert besteht darin, dass Radka Denemarková in ihrer Prosa weder vor poetischer Verdichtung noch vor metaphorischer Aufladung zurück‐ schreckt, um ihren komplexen Gedankengängen den adäquaten sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Damit fängt sie die emotionalen Tiefendimensionen ihrer Opferfiguren ebenso ein wie den unmöglichen Versuch, menschliche Gewalt mit einem analytischen Blick von außen zu verstehen. Die Auswir‐ kungen der großen Geschichte auf die individuellen Geschichten, die damit einhergehenden Traumata und die Gewalt werden auf eindrückliche Weise plastisch und beinahe physisch erfahrbar. Mit ihren Romanen rührt Radka Denemarková nicht nur an zentrale Gedanken und Thesen der Holocaust- und Traumaforschung, sondern versucht, im literarischen Sektor etwas zu erreichen, was Assmann als genuine Funktion des kollektiven Gedächtnisses formuliert: „die Erinnerung in die Zukunft hinein befestigen“. 35 Literatur ARENDT, Hannah (2011): Vita Activa oder Vom Tätigen Leben. München / Zürich: Piper. ASSMANN, Aleida (2006): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (3. Auflage). München: C. H. Beck. BEISE, Arnd (2007): ‚Körpergedächtnis‘ als kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Ban‐ nasch, Bettina / Butzer, Günter (hrsg.): Übung und Affekt. Formen des Körpergedächt‐ nisses. 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In addition, literary texts inspired by mutual friendship are presented and examined. Keywords Bohumila Grögerová, Friederike Mayröcker, experimental poetry, concrete poetry, Prague poem, letter poem, fictitious correspondence, friendship of authors 1 Über die Geschichte einer Freundschaft zwischen Prag und Wien im Kontext der politi‐ schen Verhältnisse. Bohumila Grögerová, Josef Hiršal und Ernst Jandl existiert ein Aufsatz von Dana PFEIFEROVÁ 2013, der im Band Wir Jandln! erschienen ist; Friederike Mayröcker ist aus dieser Darstellung gänzlich ausgeklammert. Auf ihrer Freundschaft mit Grögerová liegt der Fokus der vorliegenden Studie, die an die Überblicksarbeit Politika, poetika, osobnosti. Česko-rakouské literární kontakty po roce 1945 [Politik, Poetik, Persönlichkeiten. Tschechisch-österreichische literarische Kontakte nach dem Jahr 1945] der Verfasserin anschließt (ZAND 2000). Bohumila Grögerová und Friederike Mayröcker lernten sich 1965 in Prag kennen; ihre (poetische) Freundschaft währte über die Bruchlinien des späten 20. Jahrhunderts hinweg fast fünfzig Jahre. Nach einer Zeit des intensiven Austauschs in den sechziger Jahren folgte eine Phase des erschwerten Kontakts in den siebziger und achtziger Jahren und ein neues Aufleben in den neunziger Jahren. Erst der Tod von Grögerová im Jahre 2014 hat dieser Freundschaft ein Ende gesetzt. 1. Die ‚goldenen‘ sechziger Jahre 1.1. Experimentelle Dichtung und Konkrete Poesie Im ersten Nachkriegsjahrzehnt, das vom Wiederaufbau und Kalten Krieg ge‐ prägt war, gab es so gut wie keinen Austausch zwischen der tschechischen und der österreichischen Literatur: Beide waren in ihren je eigenen Idiosynkrasien befangen. Umso befreiender wirkte die Entwicklung in den sechziger Jahren, die auf beiden Seiten der Grenze eine allmähliche Liberalisierung brachte und einen internationalen literarischen Austausch möglich machte. Die intensivsten Kontakte knüpften dabei die Vertreter der experimentellen Dichtung, unter ihnen Bohumila Grögerová und Josef Hiršal auf tschechischer sowie Friederike Mayröcker und Ernst Jandl auf österreichischer Seite. 1 Die konkrete Poesie, deren Grundstein 1954 Eugen Gomringer mit seinem Manifest vom vers zur konstellation gelegt hatte, war von einem ausgespro‐ chenen Gemeinschaftsgeist geprägt. Der internationale Austausch wurde da‐ durch erleichtert, dass Sprachgrenzen mit konkreter Poesie relativ einfach zu überschreiten sind: Aufgrund der Isolation einzelner Wörter aus dem Sprach- und Sinnzusammenhang genügt zum Verständnis eines Bild-Gedichts manchmal die Kenntnis weniger Wörter oder ein Lösungsschlüssel, manchmal beruht die Wirkung überhaupt auf einem von der Bedeutung der Wörter losgelösten visuellen oder auditiven Eindruck. Die tschechische Literatur wies eine besondere Affinität zur konkreten Poesie auf. Grögerová und Hiršal, die zu ihren aktivsten und prominentesten 144 Gertraude Zand 2 Vgl. HIRŠAL / GRÖGEROVÁ 1964: 2. 3 JANDL 1989: 8. 4 Vgl. MAYRÖCKER 1998. Mayröcker sieht sich in ihrer Selbsteinschätzung in dieser Schaffensphase dem Surrealismus nahe; im Nachwort zu ihrem ersten großen Gedicht‐ band wird sie von Eugen Gomringer aufgrund der „bewußten Herstellungsvorgänge des Schreibens“ und der intensiven Arbeit mit dem Sprachmaterial, etwa mit der Interpunktion, eindeutig der experimentellen Poesie zugerechnet (MAYRÖCKER 1966: 194). Vertretern gehörten, erklärten diesen Umstand unter anderem aus der Situation der tschechischen Autoren nach 1948: Viele mit Publikationsverbot belegte Dichter wichen auf das literarische Übersetzen aus, welches eine genaue Ana‐ lyse der Texte und der literarischen Verfahren voraussetzt. Diese intellektuelle Tätigkeit führt sowohl zu einem tieferen Verständnis für die logisch-rationalen Techniken der konkreten Poesie, wie auch zu einer besonderen Sensibilität für das Wortmaterial, die das Spiel mit dem sprachlichen Zufall erleichtert. 2 In Österreich leitete sich das Interesse für eine experimentelle Dichtung eher aus der Tradition der Wittgensteinschen Sprachkritik ab und fand ihre bekanntesten Protagonisten in der sogenannten Wiener Gruppe, mit der Jandl und Mayröcker in engem Kontakt standen. Jandl definierte sein Verhältnis zur Wiener Gruppe im Gedicht verwandte: „der vater der wiener gruppe ist h. c. artmann / die mutter der wiener gruppe ist gerhard rühm / die kinder der wiener gruppe sind zahllos / ich bin der onkel“. 3 Mayröcker stand zwar persönlich ebenfalls mit der Wiener Gruppe in Verbindung, interessierte sich aber in den sechziger Jahren weniger für deren Poetik als für den Surrealismus. 4 Weder die österreichische noch die tschechische Öffentlichkeit standen der experimentellen Dichtung aufgeschlossen gegenüber. Umso wichtiger waren die internationalen Kontakte und die gegenseitige Rezeption, bei deren Ver‐ mittlung sich das Dichterpaar Grögerová und Hiršal besonders hervortat. Die beiden interessierten und informierten sich über die experimentelle Dichtung in aller Welt, schrieben selber Gedichte und theoretische Texte, übersetzten aus anderen Sprachen und vermittelten die internationale experimentelle und konkrete Poesie in die tschechische Kultur; sie publizierten Buchtitel, veröffent‐ lichten Übersetzungen und Beiträge in bedeutenden Zeitschriften wie Světová literatura [Weltliteratur] und Knižní kultura [Buchkultur] und arbeiteten für den tschechischen Rundfunk. Als Initiationserlebnis bezeichneten Grögerová und Hiršal eine österreichische Buchausstellung in Prag im Jahre 1959, bei der als einzige aktuelle literarische Publikation ein Buch der Wiener Gruppe vorgestellt wurde: der Band hosn rosn baa mit Gedichten von Friedrich Achleitner, H. C. Artmann und Gerhard Rühm, der nach langen Jahren der Isolation eine sensationelle Entdeckung bedeutete: „Das da ist wirklich eine grundlegend 145 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 5 GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1994: 169-170. 6 Ebd.: 334. neue Sicht der Lyrik, erweiterte Poesie. […] Das würde ich als Wiener Neo- Dada bezeichnen. […] So schreibt man also in der Welt der Poesie […].“ 5 Dank der Vermittlungstätigkeit von Grögerová und Hiršal wurden die Wiener Gruppe und die österreichische experimentelle Dichtung paradoxerweise in der tschechischen Literaturszene früher und intensiver rezipiert als in der österreichischen Öffentlichkeit. Jandl und Mayröcker stellten zwar ihrerseits Texte und Kontakte zur Verfügung - mit Übersetzungen konnten sie aber nicht dienen. Nach 1968 schieden sich die tschechischen und die österreichischen Wege diametral: Die tschechische experimentelle Poesie wurde öffentlich diffamiert und sanktioniert, ihre Vertreter erhielten Publikationsverbot. Hiršal und Grö‐ gerová konnten keine eigenen Texte mehr veröffentlichen, und auch ihre Übersetzungen erschienen nur unter Pseudonym oder geborgten Namen; wäh‐ renddessen avancierten ihre österreichischen Freunde Jandl und Mayröcker seit den späten sechziger Jahren zu den bekanntesten österreichischen Dichtern ihrer Zeit. 1.2. Bohumila Grögerová und Friederike Mayröcker Die Begeisterung von Grögerová für Mayröckers Poetik ist schon sehr früh in Let let [Let let. Im Flug der Jahre] dokumentiert, einer Gemeinschaftsarbeit von Grögerová und Hiršal, die anhand von authentischen Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Zeitungsausschnitten nachzeichnet, wie die beiden Autoren die fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebt haben - beginnend mit dem Jahr 1952, in dem sie als Lebens- und Arbeitsgefährten zueinander fanden, und endend mit dem Jahr 1968, das den Ausschluss aus der literarischen Öffentlichkeit implizierte. Let let ist eine besonders interessante Quelle nicht nur über seine zwei Autoren, ihre (gemeinsame) Geschichte und ihre persönlichen literarischen Kontakte, sondern auch über ihr künstlerisches Umfeld und über das kulturelle Klima dieser eineinhalb Jahrzehnte. „Die Texte von Friederike Mayröcker […] stellen für uns eine Entdeckung dar“, 6 schreibt Grögerová schon 1965 in Let let - also noch bevor Mayröcker 1966 der Durchbruch mit der Sammlung Tod durch Musen gelang. Grögerová übersetzte einzelne Gedichte der Autorin für die Zeitschrift Světová literatura [Weltliteratur], für eine Auswahl aus Tod durch Musen versuchte sie den Verlag Mladá fronta [Die Junge Front] zu interessieren: „Mladá fronta ist von Mayröcker eigentlich nicht gerade begeistert, sie ist zu extravagant. Das wird 146 Gertraude Zand 7 Ebd.: 396. 8 Ebd.: 523. 9 Vgl. NOVOTNÝ 2014: 138. 10 Vgl. MAYRÖCKER 1998. eine harte Nuß, sie durchzusetzen“. 7 Der Verlag machte finanzielle Gründe verantwortlich, dass das Projekt nicht zustande kam. Vertreten ist Mayröcker hingegen im renommierten Sammelband Experimentální poezie [Experimen‐ talpoesie] von 1967, in dem Grögerová und Hiršal zahlreiche internationale Dichter in tschechischer Übersetzung präsentierten. Von Mayröcker ist das Gedicht Text «bei mozambique» aus dem Band Tod durch Musen ausgewählt; für dessen Übersetzung konnte Grögerová im Jahr 1968 einen Vertrag beim Verlag Severočeské nakladatelství [Nordböhmischer Verlag] in Liberec [Reichenberg] abschließen. Ein weiterer Vermittlungsversuch fand kurz nach dem August 1968 statt, als Gedichte von Mayröcker in der Zeitschrift Sešity [Die Hefte] publiziert werden sollten: „- die Redakteure der Zeitschrift Sešity negieren auch weiterhin stand‐ haft das Motto ,Inter arma silent musae‘ und ersuchen uns um 200-250 Verse von Friederike Mayröcker. Wir bitten Fritzi auch um 5-8 Seiten Anmerkungen zu ihrer Arbeitsmethode. Vielleicht erfreut sie auch die Nachricht, daß der Verlag in Liberec fix mit ihrem Band Tod durch Musen rechnet - “. 8 Keiner der beiden Pläne konnte realisiert werden: Die Sešity wurden 1969 eingestellt, und der Verlag Severočeské nakladatelství nahm das Projekt 1970 aus vorgeblich wirtschaftlichen Gründen aus dem Programm. Eine letzte Vermittlung kam Anfang 1969 zustande, als der Tschechische Rundfunk Mayröcker in einem fünfzehnminütigen Abendprogramm unter dem Titel Verbální denní snění [Verbales Tagträumen] in der Reihe Z dílny poezie [Aus der poetischen Werkstatt] vorstellte. 9 Nach einer kurzen Einleitung von Hiršal wurden die Gedichte Im Armenviertel, Maschinenbild nach Armin Sandig, Maschinen-Text mit F. und einer knospenden Robinien-Blüte und Text «bei mozambique» gelesen. Mayröcker war also in der tschechischen literarischen Öffentlichkeit der sechziger Jahre durchaus präsent. Umgekehrt interessierte auch sie sich für die tschechische experimentelle Dichtung, und zwar - so wie die meisten anderen österreichischen Dichter um die Wiener Gruppe - vor allem für die auditive Poesie von Ladislav Novák: 10 Das Tschechische eignet sich durch die hohe Gesamtzahl seiner Laute, durch den Reichtum an Konsonanten und durch seine klangliche Komplexität ausgezeichnet für die konkrete, insbesondere für die auditive Poesie. Die Texte von Novák lösen im österreichischen Hörer, der 147 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 11 Vgl. HIRŠAL / GRÖGEROVÁ 1994a: 275. 12 Vgl. GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1994: 286. 13 Vgl. WINTER 2006: 132. 14 Vgl. GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1994: 316. 15 HIRŠAL / GRÖGEROVÁ 1994a: 253: „Joska je vynikající manager, zařizuje a dovádí ke zdárnému konci všecko převážně sám, já jsem ten malinkej vzadu.“ (Üb. d. Verf.). mit dem slawischen Lautstand zumeist ganz unvertraut ist, ganz neuartige akustische Erlebnisse aus. Für Novák, Grögerová, Hiršal und andere tschechische experimentelle Dichter fanden sich allerdings in Österreich keine adäquaten Übersetzer. Meis‐ tens präsentierten sich die Autoren mit ihrem eigenen Deutsch: Im Jahr 1964 veröffentlichten Grögerová und Hiršal den Essay Tschechische Experimentalpo‐ esie mit einigen Gedichtproben von sich und anderen tschechischen konkreten Poetisten in der Literaturzeitschrift manuskripte, die damit - gemeinsam mit den französischen Les Lettres und dem italienischen EX - zu den ersten Zeitschriften außerhalb der Tschechoslowakei gehörte, die über die tschechische Experimen‐ talpoesie berichteten. 11 1.3. Bohunka und Fritzi Über den ersten persönlichen Kontakt zwischen Grögerová und Mayröcker, die sich „Bohunka“ und „Fritzi“ nannten, erfährt man ebenfalls in Let let: Am Anfang steht eine Karte, die Jandl im Frühjahr 1964 mit der Bitte um Kontaktaufnahme an Hiršal schickte, und die auch von Mayröcker unterzeichnet war. 12 Nachdem Hiršal in der Zeitschrift Wort in der Zeit eine Studie über Jandls Dichtung gelesen hatte, war auch er an einem Kontakt interessiert und verabredete ein Treffen im Sommer 1964 beim Forum Alpbach, zu dem er von der Österreichischen Gesell‐ schaft für Literatur eingeladen worden war. 13 Hier traf er erstmals persönlich auf Jandl und Mayröcker, die ihm auch den Innsbrucker experimentellen Dichter Heinz Gappmayr - einen besonderen Verehrer der auditiven Lyrik von Ladislav Novák - vorstellten. Auf der Heimfahrt machte Hiršal zuerst in Graz Halt, wo er Kontakt mit Alfred Kolleritsch, dem Herausgeber der manuskripte, und mit dem Forum Stadtpark aufnahm, und dann auch in Wien, wo ihn Jandl und Mayröcker vom Bahnhof abholten und ihm die Stadt zeigten. 14 Ein Jahr später besuchten die beiden Wiener Freunde Prag und wurden auch mit Grögerová bekannt, die, wie sie selber sagt, immer ein paar Schritte hinter Hiršal her tappte: „Joska [ Josef Hiršal] ist ein ausgezeichneter Manager, er erledigt und führt alles überwiegend alleine zu einem gedeihlichen Ende, ich bin der Kleine hintennach.“ 15 Hiršal, der Mayröcker schon vom Vorjahr kannte, beschreibt sie 1965 in Let let: „Fritzi war, wie ich sie kannte: wortkarg, 148 Gertraude Zand 16 GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1994: 354. 17 Ebd. 18 Ebd.: 401-402. 19 Ebd.: 415. melancholisch, zwar beeindruckt, aber ein wenig bedrückt.“ 16 Grögerová notiert folgenden ersten Eindruck: - ich sehe die beiden zum ersten Mal […]. Der bebrillte, stämmige Jandl wirkt in seinem Äußeren wie ein pedantischer, strenger Professor. […] Während Mayröcker - nun, wie soll ich sie beschreiben? Ich verwende ihre eigenen Worte: ‚Frau; schwarz; schwarzknochig; rübenwärts; erdwärts; traurig; Bleitod Phänomen der Romantik! ‘ Ich ließ sie nicht aus den Augen, ich fürchtete, die Zugluft, vor der sie solche Angst hatte, könnte sie wegblasen; beim Abschied begann sie, leise zu weinen; graziös, zurückhaltend, ganz in Schwarz und bis ins Unterträgliche empfindsam; scheue Sehnsucht nach blühenden Kirschbäumen im ausgebleichten, von Motten zerfressenen Plüsch des alten Cafés Wilson beim Hauptbahnhof, bei einer Schale unappetitlichem Kaffee mit Satz, der zwischen den Zähnen knirschte; im kalten Gestank des Cafés die Vision von blühenden Kirschbaumzweigen; im Regenwetter, in der grauen Brühe, im frostigen Hundewetter Worte über Kirschenknospen; Tränen unter dem klassischen Pony. - Ich wünschte, ich hätte sie an der Hand nehmen und retten können. Aber sie ist stärker als wir alle miteinander, dessen bin ich mir sicher -. 17 Grögerová und Mayröcker kamen sich im Lauf der nächsten Monate näher: „- mit Fritzi beginnt eine unkonventionelle, ja man kann sogar sagen intime Korrespondenz“, schreibt Grögerová Ende 1966. „Sie vertraut mir ihre Sehn‐ sucht ,nach der Zukunft und nach dem Alter‘ an: ,lange und ohne Schmerzen zu leben‘. Sie wird nämlich ständig von neuralgischen Kopfschmerzen gequält, die ihr die Arbeit erschweren. Trotzdem ist sie vom Schreiben besessen.“ 18 Ein halbes Jahr später findet sich wieder ein Eintrag: „- am Kontakt mit Fritzi liegt mir außerordentlich viel. Sie ist so anders als ich und mir trotzdem nah; sie ist vom Schreiben besessen und poetisiert alles, was sie berührt, die Poesie als Sinn des Lebens - das finde ich so liebenswert an ihr, und ich bewundere ihre neuen Gedichte -“. 19 Ohne Neid registrierte Grögerová auch den Erfolg der Freundin, die 1966 ihren ersten Gedicht- und 1968 ihren ersten Prosaband im renommierten Ro‐ wohlt-Verlag herausbringen konnte: „- Fritzi und Ernst scheint der Durchbruch gelungen zu sein. Fritzi schildert ihren erfolgreichen Aufenthalt in Berlin und den Wiener Abend in Hamburg, bei dem jeder seine Gedichte las. […] Ernst schreibt für den Westdeutschen Rundfunk, und bis zum Herbst soll er seinen 149 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 20 Ebd.: 418-419. 21 Ebd.: 512. 22 MAYRÖCKER 2019: 40. nächsten Band […] zusammenstellen […]. Fritzis Prosaband erscheint nächstes Jahr bei Rowohlt. Also haben es die beiden doch noch geschafft -“ 20 Eine Reise nach Österreich konnte Grögerová erst am Ende des Prager Frühlings antreten; bis dahin wurde ihr eine Ausreise aus der Tschechoslowakei verwehrt, weil sie als Angestellte der Militärzeitschrift Naše vojsko [Unser Heer] als Geheimnisträgerin galt. Im August 1968 nahm sie schließlich am Forum Alpbach teil, das in diesem Jahr dem Generalthema Macht - Recht - Moral gewidmet war, und musste von dort aus den Einmarsch der Warschauer Pakt- Truppen verfolgen. 2. Die ‚normalisierten‘ siebziger und achtziger Jahre 2.1. Das Ende des Prager Frühlings Wie viele andere im Ausland befindliche Tschechen standen Hiršal und Grö‐ gerová im August 1968 vor der schwierigen Entscheidung, ob sie in die Heimat zurückkehren oder im Exil bleiben sollten. Obwohl sie von manchen zur Emigration ermuntert wurden und ihre zahlreichen Freunde ebenso wie auch viele Kulturinstitutionen in Österreich und Deutschland jede erdenkliche Un‐ terstützung anboten, entschieden sich Grögerová und Hiršal letztendlich zur Rückkehr. Mayröcker hielt das für eine gute Lösung, wie man in Let let nachlesen kann: „Fritzi schreibt: ,Die ganze Zeit über habe ich an Dich und Deine Lieben gedacht und sie im Geiste mit Dir verbracht. Ernst und ich glauben, daß es für Dich das Beste war, zurückzugehen und weiterzuarbeiten, ebenso wie für Joska. Langsam wird sich wohl wieder alles beruhigen.“ 21 -Mit dieser Einschätzung der politischen Lage sollte Mayröcker nicht Recht behalten, aber sie könnte sich trotzdem grundsätzlich nicht vorstellen, die Heimat zu verlassen: „Ich wäre nicht von zu Hause weggegangen, wenn mir das passiert wäre, was so vielen Menschen passiert ist. Dass sie weg müssen. Ich wäre lieber zugrunde gegangen.“ 22 Schon Ende 1968 zeigte sich, welcher Art zukünftige Kontakte sein würden, wie eine Passage in Let let zeigt: „- Fritzi hat alle Hände voll zu tun mit uns, erledigt Nachrichten, übergibt Briefe, und jetzt bitte ich sie zu alledem noch um Informationen über ein neues ausländisches Medikament, das gut wäre für meine Hüfte, die ich in der Zwischenzeit zur Kenntnis nehmen muß. Fritzi schreibt mir die chemische Zusammensetzung, und nach einer Konsultation 150 Gertraude Zand 23 GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1994: 517. 24 GRÖGEROVÁ 2006: 47: „Zatímco Jandl a Mayröckerová nalezli své nakladatele až v Německu - rakouský literární trh novým typů poezie nepřál - my jsme se v 70. letech topili v beznaději.“ (Üb. d. Verf.). 25 MAYRÖCKER 1998. 26 Vgl. ebd. 27 MAYRÖCKER 1986: 44. 28 MAYRÖCKER 1992a: 156. mit dem Arzt bitte ich Joska, mir das Medikament aus Wien mitzubringen -“. 23 Grögerová konstatiert für das folgende Jahrzehnt: „Während Jandl und Mayröcker ihre Verleger erst in Deutschland fanden - der österreichische Literaturmarkt war den neuen Formen der Dichtung nicht gewogen - sind wir in den siebziger Jahren in der Hoffnungslosigkeit ertrunken.“ 24 2.2. Gedicht-Übersetzungen und Prag-Gedichte Grögerová und Hiršal waren in den siebziger und achtziger Jahren aus kulturpo‐ litischen Gründen in ihrem Wirkungsbereich sehr eingeschränkt. Trotzdem ge‐ lang es Grögerová nach zähen Verhandlungen und stetem Bemühen schließlich 1984 unter dem Titel Kočkodan samota [Meerkatze Einsamkeit] eine Auswahl von Mayröckers Gedichten und Prosatexten im Verlag Odeon herauszugeben, und zwar in der Edice Plamen [Edition Flamme], die der zeitgenössischen internationalen Lyrik gewidmet war; als Übersetzerin ist allerdings Grögerovás Tochter Bohumila Geussová angeführt. Vermutlich inspirierte das Erscheinen dieses Bandes Mayröcker zu Ge‐ dichten, die zumindest mittelbar mit Grögerová und Prag verbunden sind: es regnet ein wunder, von Mayröcker auch als „böhmische Tasse“ bezeichnet, 25 wurde im Band Winterglück von 1986 publiziert und ist der Übersetzerin und Freundin Grögerová gewidmet: 26 es regnet ein Wunder / / das Ohr des böhmischen / Porzellans : Rosentasse mit / Henkel ich sah sie / heute zum ersten Mal, besaß sie / heute zum ersten Mal nach / so vielen Jahren - sie / trug keinen / Ohrring, aber die Kappe, der Skalp schien / verschneit ach der Zucker- / berg in dem Menschen will unterrichtet sein. 27 In Prag, an der Karlsbrücke, Oktober, das mit 20.-22. Oktober 1986 datiert und 1992 im Band Das besessene Alter erschienen ist, werden explizit Prager Realien evoziert: die Moldau bei Nacht und Nebel, die Kampa und die „schwarzen reglosen / Köpfe der Heiligen“ 28 auf der Karlsbrücke. Eine Heiligenfigur wird besonders hervorgehoben: 151 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 29 Ebd.: 155-156. 30 Ebd.: 156. 31 Ebd.: 135. 32 Ebd.: 134. 33 Vgl. WINTER 2006: 134. reglos die ausgestreckte / hochgereckte Hand, der hochgereckte Zeigefinger der rechten / Hand, dem knieenden Büßer den Ablaß erteilend? der / hochgereckte Zeigefinger der rechten Hand segnend? / verdammend? […] der schwarze / Büßer ins Knie gesunken, die schwarze / Fußsohle mit Schwielen bedeckt, hinter der Gloriole / des Heiligen mit der weit in den Himmel ragenden / Hand die umflorte Sonne, stille Gasse : die in die Tiefe / gesunkene Gasse N A K A M P Ě […] 29 . Mit der beschriebenen Szene ist vermutlich die Statuengruppe mit dem Heiligen Kyrill und Method gemeint, die 1929-1935 vom tschechischen Bildhauer Karel Dvořák geschaffen wurde. Sie zeigt unter den beiden Heiligen drei einfach be‐ kleidete Menschen. Beim Zeigefinger dürfte es sich weder um einen segnenden oder verdammenden, noch um einen Ablass erteilenden handeln, sondern um den lehrenden Zeigefinger des Slawenapostels Kyrill. Mit den slawischen und tschechischen Realien ist jedoch das lyrische Subjekt nicht vertraut, was es selbst im Folgenden bekennt und bedauert: die unmittelbaren / Eindrücke wären sie anders, frage ich mich, wären sie tiefer / könnte man all diese mit den Augen des / geschichtskundigen Betrachters […] in ein größeres / Ordnungssystem bringen, diese Schuld, frage ich mich, trägt / sie sich ab : sich dieser Stadt nie wirklich genähert / zu haben, sich nie wirklich genähert zu haben in ihrer / ihr anhaftenden Historie […]. 30 Im titelgebenden Gedicht das besessene Alter, das Mayröcker in den Jahren 1990 und 1991, also schon nach der Wende geschrieben hat, gibt es einen nur sehr losen tschechischen Bezug, wenn es lapidar heißt: „adios oder ahoi sagen die Freunde ehe sie uns verlassen“. 31 Daneben finden sich ganz wenige Hinweise, die auf Prag oder Tschechien hindeuten könnten, wie etwa „die Kohlhäupter im Schaufenster“ oder „eine[r] Frau die eine fremde Sprache spricht“. 32 3. Die Jahre nach der ‚Samtenen Revolution‘ 3.1. Staatspreis für literarisches Übersetzen Mayröcker und Jandl konnten auch in den siebziger und achtziger Jahren in die ČSSR reisen und durch Lesungen den Kontakt mit dem Prager Publikum halten. 33 Den tschechischen Freunden war jedoch der Weg nach Österreich 152 Gertraude Zand 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. MAYRÖCKER 1998. 36 Nach der Erinnerung von Mayröcker handelte es sich um Aufführungen in Praha [Prag], Brno [Brünn] und in kleineren Städten wie Kroměříž [Kremsier]. 37 GRÖGEROVÁ 2006: 47: „Jeho smrt v roce 2000 Friederiku div nezahubila. Nakonec se však přes svou zdánlivou křehkost ukázala být silná, jak dokazuje její Rekviem.“ (Üb. d. Verf.). verwehrt; sie kamen erst im Jahr 1989 zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für literarisches Übersetzen wieder nach Wien, den sie im Jahr 1988 erhalten hatten; die Laudatio hielt Ernst Jandl. Nach dem Fall der politischen Schranken taten sich in den neunziger Jahren viele neue Möglichkeiten auf, zum Beispiel gab es unter dem Titel Wiener literarisches Café Lesungen von österreichischen Autoren - auch von Jandl und Mayröcker - in der literarischen Weinstube Viola. 34 Inzwischen kamen aber persönliche Barrieren wie Alter und Krankheiten zum Tragen, und auch eine gemeinsame poetische Basis wie die experimentelle Dichtung in den sechziger Jahren war nicht mehr vorhanden. 3.2. Nada.Nichts und Requiem Grögerová hat nach 1989 noch zwei größere Übersetzungen von Mayröcker verwirklicht: Nada.Nichts und Requiem für Ernst Jandl. Nada.Nichts ist ein Theaterstück, das 1991 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wurde. Die Wiener tschechischen Emigranten Nika Brettschneider und Ludvík Kavín, mit denen Mayröcker und Jandl gut bekannt waren, weil sie im gleichen Haus wohnten, wollten diesen Text unbedingt auf die Bühne ihres Theaters bringen. Mayröcker stimmte einer Aufführung im Theater Brett nur unter der Bedingung zu, dass nicht Brettschneider und Kavín selbst den Text sprachen - deren tschechischem Akzent schrieb sie eine unfreiwillig komische Wirkung zu, die sie für ihre eigenen Texte für überhaupt nicht angezeigt hielt, 35 sodass die Aufführung 1998 von anderen Schauspielern gegeben wurde. Brettschneider und Kavín tourten mit Nada.Nichts dann allerdings in einer tschechischen Übersetzung von Grögerová durch Prag und andere tschechische Städte. 36 Die letzte Übersetzungsarbeit von Grögerová ist Requiem für Ernst Jandl, das Mayröcker nach dem Tod ihres Lebensgefährten geschrieben hatte, mit dem sie seit 1954 verbunden war. „Sein Tod im Jahr 2000 hat Friederike erstaunlicherweise nicht zugrunde gerichtet. Am Ende hat sie sich trotz ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit doch als stark erwiesen, wie ihr Requiem belegt.“ 37 Es nimmt nicht Wunder, dass sich Grögerová gerade für diesen Text interes‐ sierte, hatte sie doch eine ähnliche Erfahrung zu machen: Josef Hiršal starb 2003 nach einer mehr als fünfzigjährigen Partnerschaft. Die Auseinandersetzung 153 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 38 Ebd.: „Překládat Rekviem za Ernsta Jandla jsem se rozhodla, abych završila dávné přátelství, které v krásných 60. letech uzavřeli Josef Hiršal, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker a já.“ (Üb. d. Verf.). 39 NOVOTNÝ 1995 / PIORECKÝ 2008 / JAREŠ 2014 sowie vgl. WINTER 2006: 134. 40 Vgl. MAYRÖCKER 1998. mit Mayröckers Text, der 2006 in tschechischer Übersetzung als Rekviem za Ernsta Jandla erschien, war nicht nur eine Verarbeitung des Abschieds vom eigenen Partner, sondern, wie Grögerová im Nachwort schreibt, auch ein großer Freundschaftsdienst: Das Requiem für Ernst Jandl zu übersetzen habe ich mich entschieden, um damit eine lange Freundschaft zu krönen, die Josef Hiršal, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und ich in den schönen sechziger Jahren geschlossen hatten. 38 3.3. Fiktive Briefe und ein Geburtstagsgedicht Nach 1989 sind aber auch zwei originäre Dichtungen von Grögerová entstanden, in welchen die Freundschaft mit Mayröcker eine unmittelbare Rolle spielt: eine fiktive Korrespondenz und ein Gedicht zum 80. Geburtstag von Mayröcker. Die Sechs Briefe aus der fiktiven Korrespondenz mit Friederike Mayröcker wurden zuerst 1990 in einer Sondernummer der manuskripte zu deren dreißigjährigem Bestehen gedruckt, und zwar in Grögerovás eigenem, mitunter auch recht eigenwilligem Deutsch, in dem es im gleichen Jahr auch im Berliner Rundfunk gesendet wurde. 39 Auf Tschechisch erschien Fiktivní korespondence s rakouskou básnířkou Friederike Mayröckerovou in einer zehn Briefe umfassenden und veränderten tschechischen Version 1996. Diese fiktiven Briefe sind der Kulminationspunkt einer Frauenfreundschaft; sie greifen eine Gattung auf, die gemeinhin als bevorzugte Form des weiblichen Schreibens gilt, die aber zum Beispiel auch von Jiří Kolář verwendet wurde: Als er bereits nach Paris emigriert war und seiner Frau die Ausreise aus Prag verwehrt wurde, schrieb er ihr zwischen 1983 und 1985 täglich eine Ansichtskarte und veröffentlichte diese später im Band Psáno na pohlednice [Auf Ansichtskarten geschrieben]. Auch Grögerovás Texte sind keine Briefe im eigentlichen Sinn, sondern Brief-Gedichte. Sie verwenden zwar einige formale Kennzeichen des Briefes wie die Anrede und die Grußformel, sind aber in Verse gefasst. Die Gedichte sind extrem dialogisch von einem Ich auf ein Du ausgerichtet, die sich manchmal zu einem Wir verbinden; sie beinhalten die direkte Anrede mit dem Imperativ und Vokativ. Während Mayröcker mit ihrem Kosenamen Fritzi angesprochen wird, nennt diese Grögerová nicht - wie im realen Leben 40 154 Gertraude Zand 41 GRÖGEROVÁ 1990b: 149. Die tschechische Fassung des Gedichts lautet: „Milá Fritzi / / daruji ti ledvinu / daruj mi kůži / daruji ti koleno / daruj mi ucho / daruji ti zub / daruj mi prst / / ať omládneme / / Bohumila“ (GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1997: 85). 42 GRÖGEROVÁ 1990b: 149. Die tschechische Fassung des Antwortgedichts lautet: „Milá Bohumilo / / daruji ti ruku / daruj mi jazyk / daruji ti nohu / daruj mi oko / daruji ti hlavu / daruj mi žlučník / / ať zkrásníme / / Fritzi“ (GRÖGEROVÁ / HIRŠAL 1997: 85). 43 Vgl. MAYRÖCKER 1998. 44 MAYRÖCKER 1966: 24-25. 45 Vgl. MAYRÖCKER 1998. - Bohunka, sondern mit etwas mehr Distanz Bohumila. Thematisch geht es um den Körper und seine Unzulänglichkeiten, um das Alter und den Tod. Es gibt in den Briefgedichten Brutalität und Trauer, aber auch Freude, Kraft und sehr viel Zärtlichkeit und Nähe. Die eine Briefschreiberin repetiert und variiert die Worte der anderen, die Worte greifen ineinander und die Motive verschlingen sich. Als Beispiel sei ein Briefpaar zitiert, das sich sowohl in der ersten, deutschspra‐ chigen Version von 1990 befindet, als auch in der tschechischsprachigen Fassung von 1997. Es beginnt mit dem fiktiven Brief von Bohumila an Fritzi: Liebe Fritzi, / / ich gebe dir meine niere / gib mir deine haut / ich gebe dir mein knie / gib mir dein ohr / ich gebe dir meinen zahn / gib mir deinen finger / / wir werden jünger werden / / Bohumila. 41 Das Gegenstück ist der fiktive Antwortbrief von Fritzi: Liebe Bohumila, / / ich gebe dir meine hand / gib mir deine zunge / ich gebe dir mein bein / gib mir dein auge / ich gebe dir meinen kopf / gib mir deinen bauch / / wir werden schöner werden / / Fritzi. 42 In Mayröckers Gedichtband Tod durch Musen befindet sich nicht nur der gleichnamige Zyklus, der vom ersten Prag-Besuch der Dichterin inspiriert war 43 , sondern auch ein Gedicht aus dem Jahr 1950 mit dem Titel wie ich dich nenne / wenn ich an dich denke / und du nicht da bist. Es reiht 37 gleichgebaute Metaphern aneinander und endet mit einer Pointe: meine Walderdbeere / meine Zuckerechse / meine Trosttüte / mein Seidenspinner / mein Sorgenschreck / […] / meine Winterwende / meine Artischocke / meine Mitter‐ nacht / mein Rückwärtszähler / / (da capo! ) 44 Dieses Gedicht hat Grögerová besonders angesprochen; 45 sie bezieht sich darauf ganz unmittelbar in einem Gegenstück, das 1994 in den manuskripten gedruckt wurde - inmitten eines großen Blocks von Widmungsgedichten zum 70. Ge‐ burtstag von Mayröcker, zu dem auch zahlreiche andere Dichter und Künstler beigetragen haben. Grögerová übernimmt den Titel von Mayröcker, „Wie ich 155 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen 46 GRÖGEROVÁ 1994: 6. 47 Ebd. 48 Vgl. MAYRÖCKER 1998. 49 GRÖGEROVÁ 1990a. Der vollständige Text von Die Mühle ist, ebenfalls in der Übersetzung von Susanna Roth, 1991 erschienen. 50 GRÖGEROVÁ 1996. Den Auszug für die manuskripte hat Susanna Roth übersetzt, der vollständige Text von Branka z pantů ist in der Übersetzung von Christa Rothmeier 2003 unter dem Titel Das windschiefe Tor erschienen. 51 MAYRÖCKER 1998. dich nenne wenn ich an dich denke und du nicht da bist“ 46 und variiert den Ausgangstext in vier zweisprachigen Fünfzeilern: meine Frühaufsteherin / meine Traumtaube / meine Krauslocke / meine Meerkatze / / má Nejenalei [meine Nichtnursondernauch] / / mein Nebelbaum / meine Rauch‐ fahne / meine Wintersonne / mein Mitternachtswind / / má Buďjakbuď [meine Sei’s‐ wie’ssei] / / mein Zauberfinger / meine Gewitterblume / meine Frühlingsmurmel / mein Kinderspruch / / má Přesevšechno [meine Trotzalledem] / / meine ferne Base / meine Odelidelase / meine Odeladelise / meine Odeladeluse / / (da capo! ) / / tvá Tak‐ čitak [deine Sooderso] 47 Datiert ist das Gedicht mit dem 20. Dezember 1994, Mayröckers 70. Geburtstag. Anders als Grögerová, deren Übersetzungen, theoretische Gemeinschaftsar‐ beiten, Erinnerungstexte und Gedichtbände oft in Zusammenarbeit mit Josef Hiršal entstanden und ausgesprochen dialogisch ausgerichtet sind, repräsentiert Mayröcker literarisch den Typus der verschlossenen Einzelgängerin. Sie nimmt in keinem ihrer Texte direkt Bezug auf Grögerová, nennt aber im Interview einige von deren Arbeiten, die sie kennt und schätzt - selbstverständlich ist sie dabei auf Übersetzungen angewiesen: 48 das in den manuskripten publizierte Fragment Die Mühle  49 aus der experimentellen Prosa Mlýn [Die Mühle], die Grögerová und Hiršal in den siebziger Jahren verfasst hatten, einen ebenfalls in den manuskripten publizierten und mit Schwellen überschreiten  50 betitelten Auszug aus dem Erinnerungstext Branka z pantů [Das windschiefe Tor], den Grögerová in den neunziger Jahren geschrieben hatte, sowie den bereits mehr‐ mals zitierten Erinnerungsband Let let. Tagebuch- und Erinnerungsnotizen wie jene von Hiršal und Grögerová finden sich bei Mayröcker nicht, ebensowenig hat sie die Korrespondenz mit den Prager Freunden in Evidenz gehalten. Die Freundschaft zwischen Grögerová und Mayröcker ist daher schriftlich relativ einseitig dokumentiert. Im Interview spricht aber auch Mayröcker mit viel Wärme in der Stimme von einer „innigen und herzlichen“ Beziehung und von einem „innigen Band, das sie mit Grögerová verbindet“. 51 156 Gertraude Zand Literatur GRÖGEROVÁ, Bohumila (1990a): Die Mühle (Fragment). Üb. v. Susanna Roth. In: manuskripte, Jg. 30, Heft 107, S. 49-56. GRÖGEROVÁ, Bohumila (1990b): Sechs Briefe aus der fiktiven Korrespondenz mit Friederike Mayröcker. In: manuskripte, Jg. 30, Heft 110, S. 145-149. GRÖGEROVÁ, Bohumila (1994): Wie ich dich nenne wenn ich an dich denke und du nicht da bist. In: manuskripte, Jg. 34, Heft 126, S. 6. GRÖGEROVÁ, Bohumila (1996): Schwellen überschreiten. Üb. v. Susanna Roth. In: manuskripte, Jg. 36, Heft 133, S. 104-109. GRÖGEROVÁ, Bohumila (1997): Fiktivní korespondence s rakouskou básnířkou Friede‐ rike Mayröckerovou (5 x 2 dopisy). In: Grögerová, Bohumila / Hiršal, Josef: tête-à-tête. Rozhovor Petra Kotyka. Praha: Středoevropská galerie a nakladatelství, S. 83-89. GRÖGEROVÁ, Bohumila (2006): Na závěr. In: Mayröckerová, Friederike: Rekviem za Ernsta Jandla. Üb. v. Bohumila Grögerová. Červený Kostelec: Pavel Mervart, S. 47. GRÖGEROVÁ, Bohumila / HIRŠAL, Josef (1994): Let let. Im Flug der Jahre. Üb. v. Johanna Posset. Wien / Graz: Droschl. HIRŠAL, Josef / GRÖGEROVÁ, Bohumila (1964): Tschechische Experimentalpoesie. Essay. In: manuskripte, Jg. 4, Heft 12, S. 2-5. HIRŠAL, Josef / GRÖGEROVÁ, Bohumila (1967): Experimentální poezie. Praha: Odeon. HIRŠAL, Josef / GRÖGEROVÁ, Bohumila (1994a): Let let. Pokus o rekapitulaci 2 (1960- 1965). Praha: Rozmluvy. HIRŠAL, Josef / GRÖGEROVÁ, Bohumila (1994b): Let let. Pokus o rekapitulaci 3 (1965- 1968). Praha: Rozmluvy. 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[Mitschnitt auf zwei Musikkassetten]. 157 Eine (poetische) Freundschaft über Zeiten und Grenzen MAYRÖCKER, Friederike (2001): Requiem für Ernst Jandl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. MAYRÖCKER, Friederike (2019): „Ich gehe nicht mehr von zu Hause weg“. Die große österreichische Dichterin Friederike Mayröcker wird 95. Ein Gespräch mit Stefanie Panzenböck über das Leben, den Tod und das Glück. In: Falter 50, 11. 12., S. 38-40. MAYRÖCKEROVÁ, Friederike (2006): Rekviem za Ernsta Jandla. Üb. v. Bohumila Grögerová. Červený Kostelec: Pavel Mervart. NOVOTNÝ, Pavel (2014): Das literarische Experiment und interkulturelle Schranken. In: Interkulturelle und transkulturelle Dimension im linguistischen, kul‐ turellen und historischen Kontext. https: / / dk.upce.cz/ bitstream/ handle/ 10195/ 58612/ Novotn%C3%BDP_LiterarischeExperiment_2014.pdf ? sequence=1&isAllowed=y (28. 5. 2020). 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In: Svět literatury 19, S. 98-117. 158 Gertraude Zand Repräsentationen von Grenzen Zur Darstellung von Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken Milka Car Abstract In the essay are analysed the narrowing experiences and the hopelessness, which are illustrated using the example of social conditions in the Croatian areas after the collapse of the Austro-Hungarian Empire, based on the novella The Grand Master of All Villains [Veliki meštar sviju hulja] (1919) by Miroslav Krleža. Methodical approach is a „close reading“with pheno‐ menological considerations on the „Krisis der europäischen Moderne“ [crisis of European modernity] (WALDENFELS 1990: 15-27), as well as on thematically central „Grenz- und Schwellenerfahrungen“ [border and threshold experiences] (WALDENFELS 1990: 35) of the intellectual in the interwar period. The main focus is on analysing the tension that exists between the social realities that are portrayed and perceived as limited, that take place in an apartment building in Zagreb, and the desired mental dissolution of the subject together with the suggested potential social change in the consciousness of the main character. In this constellation it becomes clear that the tension between inside and outside proves to be unsolvable and its border proves to be insurmountable. It is no coincidence that the novella ends up in a grotesque vision of the failed rebellion. Keywords novel of Miroslav Krleža, paradoxes of self-bounding (Waldenfels), meto‐ nymy 1 „Kuća je naša prokleta, bolesna, pakao! / I nema božjeg dana, / kad krv ne bi iz novih briznula rana, / i nema božjeg dana, / kad ne bi netko plakao. / O, naša kuća je prokleta, bolesna, pakao! “ KRLEŽA 1969: 21. Die bisher unveröffentlichte Übersetzung aus dem Kroatischen ins Deutsche von Klaus Detlef Olof. 2 KRAVAR 1999: 76. 3 In seinem Aufsatz unter dem Titel Meine Kriegslyrik (Moja ratna lirika, 1933) äußert sich Krleža kritisch über seine frühe Poesie: „Alles ist in dieser Lyrik begräbnishaft, weil alles, als sie entstand, um sie und unter ihr ebenso begräbnishaft war. Indem sie als Widerspiegelung von Zuständen und Gelegenheiten entstand, konnte sie eben nicht von dem ununterbrochenen Nachdenken über offenen Gräbern getrennt sein, und so ist sie nichts anderes als ein ewiges Beisetzen, Begräbnis und Tod.“ KRLEŽA 1956b: 40. 4 Vgl. KRAVAR 1999: 77. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. MILANJA 1997: 18. 7 Vgl. ebd. 8 „In der Zwischenzeit hatte er sich zum führenden Autor nicht nur Kroatiens, sondern ganz Jugoslawiens aufgeschwungen.“ LAUER 2013: 5. 1. Das Haus als Motiv der Begrenzung „Unser Haus ist verflucht, krank, eine Hölle! / Und es gibt keinen Tag, den Gott werden lässt, / an dem das Blut nicht aus neuen Wunden spritzt, / und es gibt keinen Tag, den Gott werden lässt, / an dem nicht jemand weint. / Oh, unser Haus ist verflucht, krank, eine Hölle! “ 1 Bereits in diesem vierzeiligen „anthologisch“ 2 -daktylischen Gedicht Miroslav Krležas, das unter dem Titel Unser Haus im frühen lyrischen Zyklus der Kriegslyrik 3 (Pjesme I, II, 1918) veröffentlicht wurde, taucht das Motiv des be‐ schädigten und leidenden Lebens in einem ärmlichen Mietshaus auf. Es handelt sich dabei um ein Motiv, das als Allegorie 4 jener historischen und sozialen Umstände in den kroatischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg gedeutet werden kann. Dass es durchaus möglich und sinnvoll ist, Krležas Poesie mit den soziopolitischen Kontexten seiner Zeit in Verbindung zu bringen, davon zeugen die Arbeiten der Krleža-Forscher Zoran Kravar 5 und Cvetko Milanja. 6 Während Kravar sich mit der literaturkommunikativen Grundsituation in Krležas Poesie auseinandergesetzt hat, untersuchte Milanja 7 die expressionistischen Bilder in Krležas Poesie. In beiden Fällen wird ihre Fundierung in der Empirie betont, aber auch deren Subjektzentriertheit. Beides zeigt auch die konstitutive Bedeutung, die das unmittelbar Erlebte für das lyrische Subjekt spielt. Das Motiv des verwahrlosten Hauses kommt in Krležas produktiver Schaffensphase, 8 d. h. jener Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, mehrfach vor. Es dient ihm dazu, sowohl die Grenzen, die den Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums gesetzt sind, als auch die kollektive Erfahrung des Eingeengt-Seins zum Ausdruck zu 162 Milka Car 9 KRLEŽA 1978: 86. 10 Vgl. PETKOVIĆ 1999: 77. 11 „odraz makrokozma povijesnih mijena i idejnih pokreta“ WIERZBICKI 1980: 16. 12 „Ja sam Kristovala Kolona napisao i posvetio Lenjinu […] u vrijeme histerično i teško, kada se na svakom koraku osjećala panika kriminalnog i razdrtog zbivanja. Razmišljajući u vrijeme njegova nastupa o Lenjinu, ja sam ga zamišljao štirnerijanski, solipsistički, kao vatreni krug u samome sebi zaokružen, okinut i zavitlan u samoću jasne schopenhauerovske sumnje.“ KRLEŽA 1924: 240. bringen. Retrospektiv wird das Motiv des Hauses auch im Gedichtband Gedichte in der Finsternis (Pjesme u tmini, 1937) abermals aufgegriffen und im Zyklus Über die Zeit und den Tod (O vremenu i o smrti) im Gedicht unter dem Titel Naše Ja je kao kuća stara (Unser Ich, 1937) veröffentlicht. Die erste Strophe im ebenfalls vierzeiligen Gedicht aus dieser Gedichtsammlung lautet: „Unser Ich ist wie ein altes Haus: / Fremde, verstorbene Mieter gehen ein und aus.“ 9 Das gespenstische Haus fungiert dort als Metonymie für den Versuch, die subjektive Identität zu einem Gedächtnisspeicher zu machen und sie als eine Art Palimpsest, auf dem sich Gegenwärtiges und Vergangenes abgelagert haben, zu bewahren. Das Ich wird als ein Repositorium 10 für subjektive Erinnerungen und kollektive Erfahrungen verstanden, das jedoch stets gefährdet ist. Es unternimmt, weil es selbst als flüchtig begriffen wird, lediglich den gescheiterten oder höchst prekären Versuch, die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens zu fassen. Auch in Krležas Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit stoßen wir allenthalben auf das Motiv des Hauses. Genau genommen handelt es sich dabei um ein Mietshaus, das die klar umrissenen Grenzen sowohl der subjektiven als auch der sozialen Welt repräsentiert. Am ausführlichsten wird die Metonymie des ‚kranken Hauses‘, das ein eingesperrtes Ich versinnbildlicht, in der Novelle Der Großmeister aller Schurken [Veliki meštar sviju hulja] aufgegriffen und näher profiliert. Insofern bietet es sich an, gerade anhand dieser Novelle das Motiv des ‚kranken Hauses‘ als das einer Metonymie zu analysieren, der vielfältige Bedeutungen zugrunde liegen. Die Erfahrung der Abgrenzung und der völligen Isolation des Subjekts stehen dabei im Vordergrund. Der Krleža-Forscher Jan Wierzbicki versteht dieses Motiv als Widerspiegelung des „Makrokosmos der historischen Wenden und Ideenkonzepte“ 11 . Für diese These sprechen auch die Tagebuchnotizen Krležas aus dieser Schaffensperiode. Rückblickend beschreibt Krleža die Atmosphäre und die Erfahrungen dieser Zeit als „hysterisch und schwierig“. Es habe sich um eine Zeit gehandelt, „in der man auf Schritt und Tritt die Panik des kriminellen und zerrissenen Geschehens empfand“ 12 . Krleža rekurriert damit auf die soziale Situation kollektiver Ohnmacht, die von konkreten krisenhaften historischen Ereignissen ausgelöst wurde und als eine komplexe Chiffre auf die Grenzen 163 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 13 CALIC 2010: 82. 14 Vgl. STIPETIĆ 1973: 79. 15 MAGRIS 1966: 13. der Handlungsmacht des Einzelnen und des Kollektivs zurückzuführen ist. Es geht hier in erster Linie um die existentielle Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit seinen massiven menschlichen und pekuniären Verlusten, die die alte Sozialordnung zum Einsturz brachte und damit auch die jahrelangen Grenz- und Marginalisierungserfahrungen eines zwischen Landimperien geteilten Ge‐ biets noch zusätzlich verstärkt hat: „Es waren lang erlittene, schmerzhafte Erfahrungen sozialer Deklassierung und politischer Marginalisierung, nun ver‐ dichtet durch das Kriegstrauma, die sich in der historischen Umbruchsituation 1918 in einem grenzenlosen Enthusiasmus für den gemeinsamen Neuanfang entluden.“ 13 Nach der durch den Kriegsausbruch ausgelösten Begeisterung für die südslawische Einigung wurde die Gründung des SHS-Staates, aber auch des späteren Jugoslawien von links orientierten Intellektuellen wie Miroslav Krleža von Anfang an mit Misstrauen, d. h. als historisch anachronistisch 14 erachtet. Jedoch auch das Erbe der Österreichisch-Ungarischen Monarchie mit ihrem übernationalen Ideal, ihrer deutsch-mitteleuropäischen Prägung wie auch ihrem „paternalistischen Völkermythos“ 15 stellt Krleža in seinem Schaffen in der Regel negativ dar. Es bildet regelrecht den Angriffspunkt seiner polemisch-aggressiven Abrechnung mit politisch-ideologischen Mythen der Vergangenheit unterschiedlicher Provenienz. Seine Negation des österrei‐ chisch-ungarischen und germanozentrischen Komplexes war dabei eminent politisch motiviert. Aus seiner dezidiert linksmaterialistischen Position betrach‐ tete er nämlich die Jahrhunderte währende imperiale Herrschaft der Habsburger aus der Perspektive der kleinen Völker, die permanenter Unterwerfung und Ausbeutung ausgesetzt waren. Im Hinblick auf die sozialgeschichtlichen und poetologischen Hintergründe wird hier die These aufgestellt, dass das Motiv des im Haus gefangengenom‐ menen Ichs aus Krležas mittlerer Schaffensphase nicht nur die individuelle Ohnmacht der Figuren symbolisiert, sondern zugleich die erlebte Einengung wie auch jene Ausweglosigkeit der sozialen Verhältnisse in den kroatischen Gebieten während der letzten Phase des Ersten Weltkrieges, d. h. unmittelbar vor dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, reflektiert. Darüber hinaus ist es als Metonymie für die Schwellenerfahrung des Subjekts am Anfang einer neuen Epoche zu lesen. In die Novelle sind auch die biographischen Nachkriegserlebnisse Krležas sowie seine kurzlebige journalistische Tätigkeit 164 Milka Car 16 „Aber auch über die Lage der Armen und Hungernden in Kroatien schrieb er: Wie die Armen in Zagreb wohnen (Kako stanuje sirotinja u Zagrebu) und Das hungernde Volk (Narod koji gladuje, beide 1917). Er hatte durch seine Tätigkeit Einblick in die Verhältnisse der Verwundeten und Kriegswaisen erhalten. Der zweite Artikel wurde beschlagnahmt.“ LAUER 2013: 57. 17 LASIĆ 1982: 11. 18 KRLEŽA 1963: 11. 19 WALDENFELS 1990: 28. 20 Ebd.: 29. 21 Ebd. 22 KRLEŽA 1963: 49. 23 WALDENFELS 1990: 15-27. 24 Ebd.: 35. eingegangen, während der er sich vornehmlich mit den sozialen Problemen 16 Zagrebs dieser Zeit auseinandersetzte. In der Krleža-Forschung wird seine damalige Schaffensphase als ein „disperse[r] Diskurs“ 17 und Übergang aus der spätexpressionistischen in die realistische Phase gedeutet. Ein Übergang, der stark von revolutionärem Pathos und anarcho-individualistischen Impulsen geprägt war und sich daher nicht auf einen monokausalen sozialkritischen Nenner bringen lässt. Eine solche traditionell-sozialhistorisch fundierte Lesart wird hier durch eine phänomenologische Betrachtung bezüglich des Hauses als einer Metonymie für die Grenzen zwischen Innen und Außen ergänzt. In Krležas Novelle steht die verwahrloste, „häßliche Mietskaserne“ oder „dieses verfluchte Irrenhaus“ 18 pars pro toto für die aussichtslose Lage der kleinen Völker, dient aber auch als Ausgangsposition, von welcher aus der Hauptheld der Novelle - der Journalist Kraljević - sowohl die krisenhaften Verhältnisse in der Stadt als auch die Ma‐ chenschaften des Ersten Kroatischen Bestattungsinstituts beobachtet und ent‐ larvt. Die Phänomenologie der Grenze steht in diesem Kontext im Vordergrund. So bezieht sie sich nicht zufällig auf das umkämpfte „Verhältnis von Drinnen und Draußen“, 19 respektive auf die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Hauptfigur, die in starkem Kontrast zu seinen globalen und dadurch zwangs‐ läufig entgrenzten Visionen stehen. In einem ersten Schritt wird die Novelle hinsichtlich der Metonymie vom ‚kranken‘ und eingeengten Haus analysiert. Die Grenze wird darin vor allem als ein Phänomen der „Abgrenzung“ 20 ver‐ standen und meint eine „anschauliche Umrißlinie“ 21 : „Hinter den verriegelten, verschlossenen Türen bewegen sich die Menschen in ihren Wohnungen, bleich und ängstlich, anderen öffnen sie ihre Türe nie.“ 22 Anschließend werden diese Überlegungen durch Ausführungen zur „Krisis der europäischen Moderne“, 23 wie auch zu thematisch zentralen „Grenz- und Schwellenerfahrungen“ 24 des Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit ergänzt. Es geht um den Versuch, Ord‐ 165 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 25 Ebd.: 36. 26 „gradskog novelističkog ciklusa Krležina“. FLAKER 1964: 156. 27 KRLEŽA 1955: 7. Alle Zitate im Text folgen der Übersetzung aus dem Kroatischen ins Deutsche von Miodrag Vukić und Dorothea Putter aus dem Jahr 1963. 28 Dieser Zyklus entstand in den Jahren 1919-1937 und wurde zum ersten Mal in der verbotenen Ausgabe Tausendundein Tod (Hiljadu i jedna smrt, 1933) veröffentlicht. Als Gesamtwerk wurden die Novellen zum ersten Mal 1948 in der Ausgabe der Novellen herausgegeben. 29 „nastao pod izravnim dojmom ovog podjednako brutalnog i besmislenog feudalnog svijeta na umoru. […] u rušenju anahroničnog austrijskog feudalizma.“ FRANGEŠ 1964: 13. 30 Ebd. nung zu stiften. Dies wird in der Novelle mittels einer Reihe von Grenzbildern und Grenzvisionen zum Ausdruck gebracht, „bei denen Grenzen sich verschieben und Wirklichkeit und Fiktion ineinanderspielen.“ 25 Auf diese Weise werden die grotesken, spätexpressionistischen Visionen der Hauptfigur wirkmächtig ins Bild gesetzt. 2. Zur Genese der Novelle Der Großmeister aller Schurken Die Novelle wurde 1919 in Folgen in Krležas Zeitschrift Plamen in mehreren Folgen gedruckt, um daraufhin in der Novellensammlungen Hrvatska rapsodija (Die kroatische Rhapsodie, 1921) und Novellen (Koprivnica, 1924) im Zyklus der sgn. „urbanen Novellen“ 26 aus dem kleinbürgerlichen Leben veröffentlicht zu werden. In diesem Zyklus sind Novellen versammelt, die Motive des Todes und des „überspannten“ 27 Intellektuellen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts 28 zum Hauptthema haben. Die geschilderte Atmosphäre entspreche „dem unmit‐ telbaren Eindruck der Agonie der genauso brutalen und sinnlosen feudalen Welt“ 29 in dieser Schaffensphase Krležas. Sie spiegele damit auch den „anarchi‐ schen österreichischen Feudalismus“ 30 wider. Einem solchen sozialhistorischen Interpretationsansatz entspricht Krležas Notiz aus seinen Aufzeichnungen aus der Periode 1914-1922 in seinem Tagebuch unter dem Titel Davni dani (Die längst vergangenen Tage), in welcher das Motiv des Mietshauses zuerst als eine Dramenszene konzipiert wird. Dort wird zum ersten Mal auch das Motiv des gespenstischen Vermieters erwähnt, der schon in dieser Skizze als der „Großmeister aller Schurken“ dargestellt wird. Der kroatische Literaturhisto‐ riker Ivo Frangeš deutet folgende Tagebuchnotiz als Krležas ersten Entwurf zur Entstehung der Novelle: Der Großmeister aller Schurken. Grande entreprise de pompes funėbres. Ouvertüre. Szene. Straße. Graues Agramer Doppelstockhaus, rechts davon, in der rechten Kulisse, 166 Milka Car 31 Veliki meštar sviju hulja. Grande entreprise de pompes funėbres. Ouvertura. Scena. Ulica. Siva, agramerska dvokatnica, a desno od nje, u desnoj kulisi crkveni portal sa zlatnim antiqua natpisom u verzalu, tako da se jasno čitaju slova: PORTA COELI VENITE ADOREMUS. Lijevo pogrebni zavod. Uz dvokatnicu bolnica. Desno kasarna u pozadini. Cesta vodi na Golgotu. Scena počinje sa kanonadom u daljini. Podmukla grmljavina topova. Kor gladnih, surovih, prljavih, bosih, očerupanih tricoteusa: o ulico, kad ćeš iskesiti zube? Prolazi cestom vojnički sprovod. Chopin. Kor pijandura. Pred bolnicom bogalji. Iz crkvenog portala ritam rekvijema, svadbe, blagoslova, procesija. Kadaveri i mladenke, a pred svima čauš. Veselo. Orgulje. Crveni crkveni barjaci. Dolazi na scenu Veliki Meštar. Sve je to njegovo. I rakija, i crkve, i kasarne, i pogrebni zavod. On izgovara stihove u ritmičkoj slobodnoj formi. Zvona. Đuka mi kaže da on u tome liku Velikoga Meštra vidi Khuena. KRLEŽA 1956: 285-286. Die bisher nicht publizierte Übersetzung aus dem Kroatischen ins Deutsche von Klaus Detlef Olof. 32 OČAK 1989. ein Kirchenportal mit deutlich lesbarer Goldschrift in Antiqua-Versalien: PORTA COELI VENITE ADOREMUS. Links ein Begräbnisinstitut. Neben dem Doppelstock‐ haus ein Krankenhaus. Rechts im Hintergrund eine Kaserne. Die Straße führt nach Golgatha. Die Szene beginnt mit einer Kanonade in der Ferne. Dumpfer Kanonen‐ donner. Ein Chor hungriger, roher, schmutziger, barfüßiger, zerlumpter tricoteuses: Oh Straße, wann wirst du die Zähne blecken? Ein militärischer Katafalk kommt die Straße herunter. Chopin. Chor der Säufer. Vor dem Krankenhaus Krüppel. Aus dem Kir‐ chenportal der Rhythmus eines Requiems, einer Trauung, einer Segnung, von Prozes‐ sionen. Kadaver und Bräute, und allen voran der Brautführer. Fröhlich. Orgelklänge. Rote Kirchenfahnen. Der Hochmeister betritt die Szene. All das gehört ihm. Der Schnaps, die Kirchen, die Kasernen und das Begräbnisinstitut. Er rezitiert Verse in freien Rhythmen. Glocken läuten. Đuka sagt mir, in der Figur des Großmeisters sehe er Khuen. 31 Am Ende dieser hochdynamischen Szene wird der Name des damals engen Freundes Krležas, linken Publizisten und Revolutionärs Đuro (Đuka) Cvijić er‐ wähnt, eines politischen Aktivisten, mit dem Krleža 1918 die Zeitschrift Sloboda herausgab und der davor zusammen mit der revolutionären Studentenjugend am Attentat auf Banus Cuvaj im Jahre 1912 beteiligt war. Daraufhin spielte er eine wichtige Rolle bei der Gründung der jugoslawischen Kommunistischen Partei, 32 um bereits 1937 Stalins Säuberungen zum Opfer zu fallen. Cvijić deutet die von Krleža vorgetragene Szene ausgehend von materialistischen und sozialpolitischen Ursachen und Faktoren sowie vielfältigen strukturellen ökonomischen und politischen Problemen der Kriegs- und Nachkriegszeit in kroatischen Gebieten. Aus nationaler Warte wurde als Hauptproblem das 167 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 33 Die anderen Quellen für die metonymische Figur des Großmeisters hat Suzana Marjanić in ihrer Monographie eruiert und zählt zu den wichtigsten Vorlagen für den Entwurf dieser schreckenerregenden Figur, neben Khuen, auch den damaligen Politiker István Tisza, wie auch das Büro für Kriegshilfe der kroatischen Politiker Šilović-Basariček auf. Dazu auch noch die Erfahrungen des Bataillons von Slavko Štancer: „Pored Khuena (DD, 301), Istvána Tisze (DD, 233) koji se hrani amputiranim nogama Gejze Bonte, Šilović-Basaričekova Ureda za pomoć postradalima u ratu, i Štancerovi bataljuni (usp. DD, 355) - koje Krleža označava i sintagmom Štancer et Comp. (usp. DD2, 78).“ MARJANOVIĆ 2005: 254. 34 KRLEŽA 1963: 5-108. 35 LAUER 2013: 107. 36 Vgl. CAR 2021. 37 STIPETIĆ 1973: 73. politische Erbe des im Zitat erwähnten Banus Khuen-Héderváry (1883-1903) angeführt, das von einer absolutistischen Machtausführung im Interesse der großungarischen Idee geprägt war. Eine solche sozialkritische und sozialpolitische Lesart 33 lässt sich auch da‐ durch erhärten, dass die Novelle 34 Veliki meštar sviju hulja [Der Großmeister aller Schurken] thematisch und zeitgeschichtlich dem Roman des kroatischen Schrift‐ stellers August Cesarec Careva kraljevina (Des Kaisers Königreich, 1925) ver‐ wandt ist, der auch den zeitgenössischen Skandal um die Begräbnisgesellschaft thematisiert. In beiden Texten spielt vor allem das Motiv „des prosperierenden Bestattungsunternehmers“ 35 die zentrale Rolle. Geschildert wird in Cesarecs Roman eine ähnliche Situation. Auch in diesem Text wird die soziopolitische Lage im Königreich Kroatien-Slawonien als hoffnungslos geschildert und die Akteure als Gefangene dargestellt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Verhältnisse im Land mit der Praxis der verbrecherischen Enteignung, Gefan‐ genschaft und Ausweglosigkeit 36 gleichgesetzt werden. Im Roman von Cesarec wird dies an dem geschlossenen und streng begrenzten Ort der Handlung - der Zagreber Untersuchungshaft - deutlich. Der Chronotopos der Gefangenschaft und den zeitlich begrenzten Gestal‐ tungsmöglichkeiten des Einzelnen bringt die beiden motivisch nahestehenden Texte zusammen. Cesarec, ebenfalls ein Jugendfreund Miroslav Krležas, schlug dann auch gemeinsam mit diesem den Weg einer sozialkritisch-engagierten Literatur ein. Ihr politisches Engagement wird als „messianisch“ 37 und von einem ungeahnten „ehrlichen Pathos“ getragen beschrieben. Miroslav Krleža beschreibt rückblickend die Atmosphäre unmittelbar nach dem Ersten Welt‐ krieg und seine Zusammenarbeit mit Cesarec an der Zeitschrift Plamen fol‐ gendermaßen: „[…] mehr emotionaler, romantischer Natur à la Sturm und Drang. [Auf] das Ungleichgewicht der ökonomischen Verhältnisse und die ganze Anarchie der politisch-ökonomischen Krisen und Kriegskatastrophen [...] 168 Milka Car 38 „Taj naš historijski materijalizam bio je dakle u vrijeme Plamena više osećajne, roman‐ tične i šturm i drengerske naravi; osećajući jasno nerazmer ekonomskih odnosa, i svu anarhiju i strahotu katastrofa i nesreća, koje taj nesrazmer prouzrokuje, reagirajući na te činjenice sentimentalno i temperamentno, naš se marksizam gubio u provincijalnomalograđanskoj sredini više kao protestni otpor i negacija, nego kao neka sistematizo‐ vana delatnost.“ KRLEŽA 1923: 38. 39 „[…] atmosferi uzmaka i očaja, stradavanja bezimenog i besplodnog“ Ebd.: 40. 40 KRLEŽA 1962: 219. 41 Vgl. WIERZBICKI 1980: 243. 42 Vgl. MILANJA 1997: 18. 43 Vgl. DUDA 1995: 7. 44 KRLEŽA 1963: 5. reagierten wir [...] sentimental, lyrisch, moralisch, mehr mit Temperament als mit dem Gehirn.“ 38 Krleža zeichnet damit die „Atmosphäre der Weigerung und Verzweiflung, des anonymen und unfruchtbaren Leidens“ 39 in der Kriegszeit. Zu dieser Zeit erfolgte auch eine Neuthematisierung des Sozialen in der kroatischen Literatur der 20er Jahre unter der Ägide der Tendenzkunst. Diese befasste sich mit dem zentralen Problem des Wirklichkeitsbezugs; eine Problem‐ konstellation, die sich im Spannungsfeld von kunstästhetischen und sozialprag‐ matischen Vorstellungen bewegte. In seinem Essay unter dem vielsagenden Titel Expressionismus thematisiert Miroslav Krleža retrospektiv den „politischen Imperativ“ der Zeit von „1820 bis 1918“. Diesen versteht er als ein „literari‐ sches Programm“, das ihm gestattet, seine Stimme mit aller Wucht gegen die immer „verhängnisvollere[n] Gewalttaten des Militärs und der Kasernenlogik“ wie auch gegen die „schwachsinnige Totalisierung der Kriege und des Milita‐ rismus“ 40 zu erheben. Dadurch kommt es zu einer eigentümlichen Verschrän‐ kung historischer Depravierungsnarrative mit einer marxistischen Grundhal‐ tung, die sowohl die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Novellen Krležas als auch seine engagierte Literaturauffassung prägt. Dabei handelt es sich um ein Verständnis engagierter Literatur, in dem marxistische und gnoseologische Prämissen 41 untrennbar miteinander verwoben sind. Das wiederum bedeutet, dass nicht nur die autoreferenziellen, sondern auch die metatextuellen Aussagen an der Erkenntnispraxis 42 in gleichem Maß beteiligt sind. 3. Zur Novelle Der Großmeister aller Schurken In der einfachen Komposition der modernistischen 43 Novelle steht der Haupt‐ held Ljubo Kraljević im Mittelpunkt, der als Journalist an einer „kleinbürger‐ lichen, sogenannten oppositionellen Zeitung zweiten Ranges mitarbeitete“. 44 Nicht nur ist er von Anfang an der homodiegetisch-intradiegetische Erzähler in 169 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 45 Ebd. 46 Ebd.: 20. 47 Ebd.: 63. 48 Ebd.: 43. 49 Ebd.: 40. 50 KRLEŽA 1955: 45. der Novelle, sondern die spärliche Handlung wie auch die zahlreichen Figuren mit ihren Reflexionen auf das Zeitgeschehen kommen ausschließlich im inneren Monolog der Figur - dieses zeittypisch „sentimentale[n] Neurasthenikers“ 45 Kraljević - vor. Der in der Novelle nicht genannte urbane Raum „in dieser erbärmlichen, kleinen österreichischen Garnisonstadt“ 46 ist jedoch von Anfang an als Zagreb zu erkennen, eine Stadt, „die sich ‚Metropole des Königreichs‘ zu nennen pflegt und sich dabei dennoch als eine Kleinstadt […] wie alle Provinzgarnisonen“ 47 erweist. Dazu wird der geschilderte Raum auf das Mietshaus eingeengt und darüber hinaus auf Kraljevićs Zimmer und spielt sich in deutlicher Abgrenzung von der Außenwelt „in diesem öden Zimmer, in diesem schrecklichen Haus, in dieser Leere“ 48 ab. Aus dieser begrenzten Perspektive des intellektuellen Neu‐ rasthenikers werden die Impressionen der Hauptfigur von seinen wiederholten Besuchen in die nahe gelegene Bierschenke beschrieben. In einzelnen Szenen werden zudem seine Eindrücke von der Straße, den Gerichtsräumen und der Kirche geschildert, die er als Zeitungsreporter besuchen muss. Die tragischen Schicksale der Bewohner der einzelnen Stockwerke im Haus, „in dem großen, plumpen Haus im Hof, diesem Ameisenhaufen, mit dem grünen, zerstörten Geländer in den morschen offenen Gängen“, 49 dienen als Ausgangs‐ punkt für seine düsteren Reflexionen über seine eigene Stellung in der Welt, wie auch über die Hilflosigkeit des Menschen in Krisenzeiten. Metonymisch kann diese räumliche Abgrenzung als die Ohnmacht des Intellektuellen gedeutet werden, seine Menschlichkeit in der Kriegszeit zu bewahren. So stellt Kraljević am Anfang der Novelle die Frage nach seiner Verantwortung angesichts der Welterschütterungen: [I]ch, Ljubo Kraljević, Mitarbeiter des ‚Kroatischen Worts‘, […] ich bin nicht und kann nicht verantwortlich sein für all das, was heute in Europa geschieht. Ich habe keine Schuld, weder an diesem System noch an diesem Irrenhaus, weder an dem Gemetzel, noch am Krieg, geschweige denn an irgend etwas anderem. 50 Damit wird in medias res im inneren Monolog sowohl die Handlungszeit als auch die strikt monologische Erzählperspektive der Hauptfigur fixiert, von der aus über die Ereignisse im Miethaus berichtet wird. Mit der starken Konzentration 170 Milka Car 51 KRLEŽA 1963: 5. 52 Ebd.: 36. 53 Ebd.: 28. 54 Ebd.: 5. 55 Ebd.: 15. 56 Ebd.: 16. 57 Ebd.: 59. 58 WALDENFELS 1990: 21. 59 WIERZBICKI 1980: 242. der Handlung auf die Perspektive einer von „furchtbarer Verantwortung“ 51 geplagten Figur in einem streng begrenzten Raum wird die Erfahrung der Abgrenzung und Isolation des Einzelnen überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Somit bilden die Grenzen des Hauses auch die Grenzen der dargestellten Welt. Im Vordergrund steht die Grenze zwischen einem aus dem verwahrlosten Mietshaus reflektierenden Ich und seiner Umgebung, eine Grenze, die un‐ sichtbar bleibt, die jedoch die solipsistische Abschottung der Hauptfigur symbolisiert, wie auch die Ohnmacht seiner vergeblichen „humanistischen Interventionen“ 52 oder „Interventionen eines ‚Menschen‘“ 53 in einer undurch‐ schaubar gewordenen und von Trieben und Gewalt beherrschten Welt. Die Hauptfigur ringt von Anfang an mit der Frage nach der Verantwortung für die (Kriegs-)Verbrechen. Und dies stets im Gefühl, dass er „darin partizipiert und zwar aus dem einfachen Grund, weil er sich nicht widersetzt“ 54 hat. Als dessen Antagonist wird in der Novelle eine Allmachtsfigur oder/ bzw. ein „befehlsgewaltiger, unbekannter und unsichtbarer Jemand“ 55 eingeführt, der für die „ganze diabolische, höllische Dekoration unserer Tage“ 56 steht und im gegenübergelegenen Bestattungsinstitut haust, in einem Haus, das Kraljević „wie ein Gespenst [vorkommt], das die ganze Straße anfletscht, sein Haustor gähnt wie ein schwarzer, rußiger Rachen“. 57 Im Reigen der Szenen über die verlorenen und verarmten Figuren aus dem Miethaus wird nicht nur ein illusionsloses Zeitbild gezeichnet, sondern auch die „zersetzende Macht der Kontingenz“ 58 zum Ausdruck gebracht, denn die Figuren in Krležas Novellen sind in dieser Periode „eher symbolisch und exemplarisch“ 59 konzipiert und fungieren nicht als psychologisch ausgearbeitete Charaktere, sondern stehen repräsentativ für die vielfachen und miteinander verbundenen Probleme der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Diese obsessiv anmutende Variation des Ohnmachts-Themas und der Bedro‐ hung des Subjekts belegt das Gedicht Chaos aus dem Jahr 1919, in dem das Nichts als ein erdrückendes Gefühl der Subjektauslöschung in sprachlich anschaulicher Weise konkretisiert dargestellt wird: „Etwas Schwarzes und Grausames wird uns alle erdrücken, / wir alle werden fallen, / und keinem wird es glücken, sich 171 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 60 KRLEŽA 1978: 76. 61 KRLEŽA 1963: 6. 62 Ausführliche historiographische Darstellung: vgl. GROSS 1968-1969. 63 „Dječaci su se te generacije u prvoj gimnaziji već postrojavali u nogometne klubove, koji su se poslije pretvorili u revolucionarne saveze za atentate protiv madžarskih silnika i vlastodržaca, za slobodu Hrvatske.“ KRLEŽA: 1963: 75. 64 KRLEŽA 1963: 37. 65 Ebd.: 45. 66 Ebd.: 38. zu drücken, / sich zu retten, zu entrücken.“ 60 Die Verzweiflung des Einzelnen an den sozialen Verhältnissen und der eigenen Ohnmacht wird in der Novelle in einer stetigen und irreversiblen Gradation dargestellt. Dies führt am Ende zwangsläufig dazu, nach gewaltsamen Lösungen zu suchen. Kraljević will sich sogar mit dem „Maximum an moralischer Energie“ „eine Bombe beschaffen, nach Wien fahren und sie in die Hofburg schleudern“, 61 denn die geschichtspo‐ litische Konstellation und die Misere der Nachkriegszeit werden historischmaterialistisch gedeutet und mit der imperialen Ausbeutung gleichgesetzt und somit auch unmittelbar auf die imperiale Ausbeutung zurückgeführt. Diese Gewaltphantasie ist dabei nicht nur als Gefühlsausbruch eines exaltierten Ein‐ zelnen zu deuten, sondern als Reflex der aufrührerischen Atmosphäre der Zeit, die mit Rekurs auf die revolutionäre, oder damals auch fortschrittlich genannte Jugend realistisch 62 verankert wird: „Die Jungens dieser Generation ordneten sich schon in der Sexta in Fußballvereine ein, die sich später in revolutionäre Verbände für Attentate gegen ungarische Gewalttäter und Machthaber, für die Freiheit Kroatiens umgestaltet haben.“ 63 Zu einer Eskalation der Gewalt kommt es jedoch weder auf der individuellen noch auf der kollektiven Ebene, sondern der Widerstand wird in der hoffnungslosen Geste der Auflehnung des einsamen Außenseiters Kraljević komprimiert, in einem stillen und ohnmächtigen Protest, „der ewig bleibt“. 64 In den jeweiligen Episoden wird in Form einer kreis- oder „spiralförmigen“ Gradation der Pessimismus des einsamen jungen kroatischen Intellektuellen Kraljević regelrecht auf die Spitze getrieben. Es handelt sich dabei um eine spiralförmige Bewegung oder um eine „Spirale, die mehr und mehr ins Boden‐ lose zieht! “ 65 . Der Krieg bleibt dabei als „der internationale Kataklysmus“ 66 stets präsent und bildet den Hintergrund für die umfassende und aussichts‐ lose Auflehnung der Hauptfigur. Dabei bleibt Kraljević die ganze Zeit über passiv, den „nervösen Phantasien“ hingegeben und reflektiert die intimen Tragödien der einzelnen Hausbewohner als eine sich zyklisch wiederholende Tragödie, die auf die Kriegsgeschichte in kroatischen Ländern und in ganz Europa zurückzuführen ist: „Und so hetzt nicht nur dieses Haus! So hetzt 172 Milka Car 67 Ebd.: 56. 68 Ebd.: 77. 69 Ebd.: 11. 70 Ebd.: 98. 71 WIERZBICKI 1980: 42. 72 Ebd.: 35. 73 KRLEŽA 1963: 59. 74 Ebd. 75 Ebd.: 63. 76 Im Text in der Regel kursiv geschrieben. 77 Ebd. 78 Ebd.: 86. nicht allein das Haus nebenan. So hetzen alle Häuser in der ganzen Straße, in der ganzen Stadt und auf der ganzen Erdkugel.“ 67 Im globalen Maßstab wird eine individuelle Widerstandshaltung zum Ausdruck gebracht. Das zeigt sich besonders darin, dass „im großen Kriegsgemetzel dieser letzten Apotheose der europäischen Zivilisation“ 68 die Sinnlosigkeit des Krieges und des bisherigen kleinbürgerlichen Lebens beklagt wird. Seinen Widerstand äußert Kraljević zunächst in Hinblick auf die Verhältnisse in seinem Mietshaus, „wo er im dritten Stock links zu Hause war, am Ende der schmutzigen Straße, die zum Bahnhof führte und die den berühmten Namen einer Abwehrfestung gegen die Türken trug“, 69 daraufhin erweitert sich die Protestgeste auf die im negativen Kontext der Entfremdung dargestellten Stadt und auch auf die Kriegstragödie in den kroatischen Ländern, um am Ende in einer typisch expressionistischen Geste die globalen „geopolitischen Gegebenheiten“ 70 in Europa und in der ganzen Welt anzuklagen. Im letzten Teil der Novelle überwiegt die „apokalyptische Sensibilität“ 71 eines „revoltierten Anarchisten“ 72 im vergeblichen und grotesken Protest des betrunkenen Kraljevićs gegen das Mietshaus, das als Leitmotiv in der Novelle steht und als „eine grauenhafte, schwarze, modrige, Mietskaserne“ 73 dargestellt wird, die der Sitz des Ersten Kroatischen Bestattungsinstituts („Prvi hrvatski pogrebni zavod“) ist und „sich wie eine zyklopische Fledermaus breitmachte“ 74 und in seinen Visionen verantwortlich für die zahlreichen Opfer des Krieges gemacht wird. Sein Antagonismus steigert sich und richtet sich am Ende gegen die unsichtbaren Mächte, die in der Figur des Großmeisters verkör‐ pert werden. Er, der „unbekannte [...] Eigentümer im Hintergrund“ 75 leitet das Bestattungsinstitut mit Hilfe des buckligen Geschäftsführers und bleibt dabei als „Chef“ 76 immer „unsichtbar, verborgen und listig“ 77 und gleichzeitig wird von ihm behauptet: „[W]ir alle haben ihn schon irgendwo, lange, lange vorher, gesehen! “ 78 . Er, der Großmeister aller Schurken, stellt nicht nur die 173 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 79 Ebd.: 72. 80 Ebd.: 66. 81 Ebd.: 68. 82 Ebd.: 16. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 MARJANIĆ 2005: 253. 86 KRLEŽA 1956a: 287. Verkörperung des gewinnsüchtigen Unternehmers dar, der Profit aus dem massenhaften Sterben schlägt, sondern in ihrer diabolischen und unfassbaren Gestalt wird diese Figur zum Sinnbild für die Ängste und Verfolgungsgefühle der Hauptfigur, die sie aus den kollektiven Erfahrungen der Unterdrückung und Handlungsunfähigkeit des Kollektivs schöpft: „Für einen Augenblick schien Kraljević, als hätte der Mann hinter dem Zwicker kein Auge, als befände sich eine Höhle an der Stelle, und seine Goldplomben und seine Pelzmäntel, seine unwirklich leise Stimme, alles das hatte in Kraljević den Eindruck verstärkt, daß es sich hier nicht um einen Menschen handelte, sondern um eine unerhört verworrene Mystifikation“ 79 . Dem unsichtbaren und zugleich allgegenwärtigen Großmeister und seinem Bestattungsinstitut sind „die ganze Straße, die ganze Stadt und der ganze Globus“ 80 untergeordnet, denn alle Figuren finden ihren Berechtigungsgrund nur darin, am Ende ihres Lebens zu einer Nummer auf dem „Konto des Bestattungsinstitutes“ 81 zu werden. In Visionen und grotesken Bildern von Einzelschicksalen sozial benachtei‐ ligter und vernachlässigter Familien im Mietshaus wird der gespenstische Reigen des Todes und der „ewigen, unendlichen kroatischen Truppen“ darge‐ stellt, die seit jeher in den Tod getrieben werden. Immer wieder wird Kraljević in Situationen geschildert, in denen er „Lust verspürte zu protestieren, zu schreien, etwas zu vernichten, sich definitiv aufzulehnen“, 82 doch bleibt er allein der passive Beobachter der immer wieder stattfindenden und unveränderlichen „Ungerechtigkeit“. 83 Das Gebäude gegenüber dem Mietshaus Kraljevićs, in welchem sich das Begräbnisinstitut befindet, bekommt damit metonymische Bedeutung und figuriert somit als eine nicht zu bezwingende historische Konstante der Ungerechtigkeit. Für Kraljević wird das Bestattungsinstitut zu einer Macht, die „internationale Konflikte schürt, um an Toten zu verdienen“ und welche „unsere“ Toten an die „große internationale Firma ‚Skelett & Comp.’“ 84 ausliefert, um am Kriegsgemetzel zu verdienen. Auch in Krležas Ta‐ gebuchnotiz vom 2. Oktober 1917 wird „in einer abstrakten expressionistischen Figur“ 85 das „Bankett des Großen Skeletts“ 86 geschildert, das „Palatschinken aus menschlichen Gehirnen“ zum Mittagessen verspeist. Diese grauenhafte und expressionistisch anmutende Vision wird in der Krleža-Forschung auf zweifache 174 Milka Car 87 Vgl. MARJANIĆ 2005: 253. 88 KRLEŽA 1963: 88. 89 Ebd.: 72. 90 Ebd.: 86. 91 Ebd.: 88. 92 Ebd.: 91. 93 Ebd.: 83. 94 JAKOBSON 1974: 134. Weise gedeutet. Sie gilt einerseits als Ausdruck des geschichtlichen Fatalismus 87 , repräsentiert aber andererseits die Verzweiflung über das im Ersten Weltkrieg verlorengegangene menschliche Leben. Eine ähnlich gespenstische, ja geradezu dämonische Figur begegnet uns in der letzten Szene der Novelle, nachdem Kraljević Kontakt mit Mozes Bettelheim, dem Agenten des „Chefs“ aufgenommen und mit ihm nächtelang „tüchtig“ 88 getrunken hat. Mozes entlarvt seinen Chef als eine mythologische Figur oder auch als eine Art „Mystifikation“ 89 und behauptet in bierseliger Erkenntnis: „wir alle haben ihn schon irgendwo, lange, lange vorher, gesehen! “ 90 Mit dem Chef habe Mozes in China und in Indien „die große Weltfirma ‚Skelett & co.‘ en gros mit Leichen und Rümpfen von Rebellen und Pest- und Cholera-Toten gehan‐ delt“. 91 Die an die Tagebuchnotiz eng angelehnte Szene kulminiert im Konflikt Kraljevićs mit dem konkreten Großmeister aller Schurken, in einer Szene, die die Ohnmacht Kraljevićs, sich aufzulehnen, endgültig festschreibt. Denn dieser „hatte mit diesem geheimnisvollen Chef gesprochen, ohne überhaupt mit ihm gesprochen zu haben“. 92 Sein vehementer Protest und sein expressionistischer Aufschrei mit dem Appell an alle Bewohner des Mietshauses, sich gegen den großen Chef, den „teuflischen Lump“ 93 aufzulehnen, bleiben jedoch unerhört und verhallen als ohnmächtiger Hilferuf eines verwirrten und vereinsamten Außenseiters im leeren Hausflur. In dieser Hinsicht ist der Protest der Haupt‐ figur als ein Ausdruck der Gefangenschaft des Ichs, aber auch als eine Grenz- und Schwellenerfahrung zu deuten, die mit der Metonymie des Hauses aufs Engste verknüpft ist. 4. Metonymie der Grenzerfahrung Bekanntlich steht in der Metonymie, die als Trope der uneigentlichen Aus‐ drucksrede gilt, ein Teil für das Ganze. Roman Jakobsons Definition nach wird die Metonymie als ein „Gegenstand der Rede“ bestimmt, der „durch die Kontiguitätsoperation in einen anderen Gegenstand überführt wird“. 94 Das ist ihre grundlegende Eigenschaft, die sie von der Metapher trennt. Folgt man der klassischen Definition Roman Jakobsons, hängt die Metonymie 175 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 95 „sljedeći put susjednosti odnosa, realistički pisac metonomijski skreće sa zapleta u ugođaj i s likova u prostorni i vremenski smještaj. Sviđaju mu se sinegdohičke pojedinosti.“ Zit. nach: LODGE 1988: 135. 96 JAKOBSON 1974: 135. 97 Vgl. LODGE 1988: 122. 98 Ebd.: 138. 99 BREBANOVIĆ 2016. 100 BUSCH 2011: 292. 101 HOFMANN 2006: 19. mit einer realistischen Schreibweise 95 zusammen: „Den Prinzipien der Kon‐ tinguitätsrelationen folgend, geht der realistische Autor nach den Regeln der Metonymie von der Handlung zum Hintergrund und von Personen zur räumlichen und zeitlichen Darstellung über.“ 96 Damit wird die Metonymie auch als ein Verfahren charakterisiert, das typisch für die Prosa ist. In der modernistischen Schreibweise wird die Metonymie nach David Loge zu einer Figur der unlogischen Streichung, 97 denn es handelt sich um einen „repräsen‐ tativen Ausschnitt der Wirklichkeit“, 98 ohne dass dabei der Anspruch, die Wirklichkeit in ihrer Totalität darzustellen, aufgegeben wird. Folgt man diesen Erklärungen, lässt sich die Metonymie als dominantes Merkmal einer moder‐ nistischen Schreibweise in Krležas Novelle analysieren, wobei die Darstellung der Stadt, aber auch die Omnipräsenz des Todes typisch expressionistische Motive sind. Von expressionistisch-avantgardistischen Merkmalen ist auch der Stil der Novelle geprägt. Gleiches gilt für die grotesken Visionen, die dem Bewusstsein der Hauptfigur entspringen. Damit lässt sich die These der neueren Krleža-Forschung 99 über die Rolle der Avantgarde in dieser Phase des Schriftstellers stützen. Hier ist insbesondere an die Eigenschaft der Metonymie zu erinnern, eng an die menschliche Erfahrung gebunden zu sein. Nicht von ungefähr leitet sie sich von syntagmatischen Erscheinungen ab. In diesem Sinne steht das Mietshaus metonymisch für die Lebenserfahrungen der Hauptfigur und umfasst damit sein individuell erlebtes Hier und Jetzt. Es kann damit zugleich auf eine universell zu deutende Erfahrung der Grenze zurückgeführt werden, die Berührungspunkte mit Bernhard Waldenfels Philosophie der Alterität aufweist. Im theoretischen Entwurf von Waldenfels werden Erfahrungen weder konstruiert noch produziert, „sie werden stattdessen hervorgerufen von Widerfahrnissen“. 100 Der Ausgangspunkt für die Phänomenologie der Grenze von Bernhard Waldenfels ist das Moment der Begegnung mit dem Anderen und die Erfahrung der Entgrenzung: „Im Gegensatz zu der traditionellen Bewusstseinsphilosophie […], fasst diese philosophische Konzeption den Anspruch des Anderen als die Konstituierung auch des Eigenen“ 101 auf. Der 176 Milka Car 102 WALDENFELS / DÄRMANN 1998. 103 KRLEŽA 1963: 12. 104 Ebd.: 21. 105 Ebd. 106 „Aber alles steht heute im Dienste des Nichts! Und alle diese Menschen, die auf der Straße brüllen, Bischöfe wie Erzherzöge, alle Organisationen, alle Systeme, der Krieg und die Kunst, die Philosophie und alles, alles steht im Dienst dieses grinsenden, schauderhaften, großherzoglichen Nichts! Oh, wie hasse ich dich, wie verfluche ich dich, wie verachte ich dich, du grinsendes Monstrum.“ Ebd.: 22. 107 WALDENFELS 1990: 7. 108 Ebd. 109 WALDENFELS 2002: 99. ethische Anspruch des Anderen 102 geht aus der Perspektive der Hauptfigur hervor, da schon am Anfang der Novelle die (unmögliche) Notwendigkeit beschrieben wird, „diese ‚unüberbrückbare Kluft‘ [zu bezwingen], die die Menschen trennt, die in demselben Haus wohnen“. 103 Die Versuche der Entgrenzung, d. h. der Überbrückung der Kluft zwischen dem Ich und seiner Umgebung, werden im inneren Monolog ausgetragen und gehen von der Stirnerschen individualistischen Philosophie aus. Stirner wird im Delirium und dem „krankhaften, hypochondrischen Monolog“ 104 der Hauptfigur als eine Epiphanie der herbeigewünschten Ein- und Ganzheit zitiert: Was geht mich die Gesamtheit an? ‚Ich‘ bin ein Detail, in dem das Gewissen wach geworden ist, und ‚Ich‘ bin die Gesamtheit, in der simultan alle, sogar die sinnlosesten Details erscheinen! ‚Ich‘ bin die Gesamtheit über allen Gesamtheiten! ‚Ich‘ will absolut sein! Und mein Recht ist stärker als alles andere, was über mir ist. ‚Ich‘ will über allem sein 105 . Das absolut gesetzte Ich kämpft, freilich in seinem Inneren, gegen das Nichts. 106 Für dieses Nichts steht die expressionistisch geschilderte und symbolisch auf‐ geladene Figur des Großmeisters, so dass das Nichts praktisch anthropologisiert wird. Die homodiegetisch-intradiegetische Perspektive mit der Verankerung aller Ereignisse im Bewusstsein der Figur kann man in einem weiteren Analyseschritt mit „Erfahrungsansprüchen“ 107 in Verbindung bringen, die Bernhard Waldenfels in seinem Buch Der Stachel des Fremden schon als ihrem Ursprung nach „dia-logisch“ begreift, d. h., „sie treten auf, indem sie Antworten hervorrufen, provozieren“. Dabei bleiben sie „einem Zwischenbereich“ zugehörig, d. h. einem Bereich, der „sich jeder endgültigen Aneignung entzieht“. 108 In diesem Sinne ist Kraljević in der Tat kein Akteur seiner Geschichte, sondern wird zum „Pati‐ enten“, 109 bei dem die gemachten Erfahrungen in Krankheit und Leid münden. 177 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 110 KRLEŽA 1963: 16. 111 WALDENFELS 1990: 35. 112 Ebd.: 17. 113 Ebd.: 19. 114 Ebd.: 15. 115 Ebd.: 10. In einem Moment der „Hellsichtigkeit“ sieht Kraljević die Grenzen seines Be‐ wusstseins ein: „keine Gemarkungen und Grenzen sind dem Wahnsinn gezogen, in dessen Mittelpunkt Kraljevićs Bewußtsein steht, krank, schwach und einsam. Jetzt sieht Kraljević sein vereinsamtes Bewußtsein.“ 110 Mit diesem Ausbruch des Wahnsinns und der umfassenden Verunsicherung der Grenzen zwischen Innen und Außen werden zugleich „Grenz- und Schwellenerfahrungen“ 111 des Intellektuellen dargestellt. Im krankhaften Bewusstsein des von Krieg und dem sinnentleerten Alltag erschütterten Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit wird zugleich die Krisenerfahrung der Moderne reflektiert, denn Ursachen dieser Krise werden auf die komplexen Interaktionen des Einzelnen mit seiner sich schnell verändernden Umwelt zurückgeführt. Bei Bernhard Waldenfels fungiert Ulrich aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften als „Kronzeuge in Sachen Modernität“ 112 schlechthin, wobei die moderne Ordnung als wandelbar, d. h. mit beweglichen Grenzen zu denken ist. Kraljević ist ebenfalls eine Figur, die mit seiner Ich-Auflösung und dem Wertezerfall den Ordnungsschwund oder „Ordnungswandel“ 113 im südosteuropäischen Rahmen symbolisiert. Gezeigt wird der allmähliche Zerfall der jeweiligen Ordnung des Subjekts als Form der „Lebenswelt, ‚Lebensform‘ oder ‚Lebensführung‘“. 114 Ins Wanken ist nicht nur die bürgerliche Lebensform des Intellektuellen geraten, sondern mit der Allmachtsfigur des dämonischen Großmeisters wird auch die globale Zivilisa‐ tion als eine Vernichtungsmaschinerie gezeigt. In der Novelle verdichtet sich die Erfahrung der Krise des Ichs, eines In‐ tellektuellen im topologisch ganz präzise bestimmten urbanen Raum. Auch Bernhard Waldenfels verortet die Erfahrung der Krise der Moderne in urbane Zentren: „Der bunte Schauplatz moderner Großstädte konfrontiert uns schließ‐ lich mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines Lebens, dem stets mehr begegnet, als seine Formen fassen können. Das Alles-Zugleich entpuppt sich als unwiderrufliches Zuviel.“ 115 Dieses Zuviel an Erfahrung wird im simultanen Erzählen und dem synästhetisch angelegten inneren Monolog der Hauptfigur über die Ereignisse im und um das Haus geschildert: Dieses Haus sieht aus wie ein zerschlagener Orchestrion, in dem alle Trompeten ka‐ putt sind und Mundstücke verstimmt klingen. […] Und welch himmlischer Komponist 178 Milka Car 116 KRLEŽA 1963: 55. 117 WALDENFELS 1990: 28. 118 Ebd. 119 KRLEŽA 1963: 90. könnte all diese Stimmen zu einem harmonischen, stillen Akkord vereinen? […] Ich allein kann es nicht. 116 Damit wird postuliert, dass die Abgrenzung von Anderen die wesentliche Ursache der Krise des Subjekts ist. Kraljević kann daher als eine Figur betrachtet werden, die den Übergang vom Patienten zum Respondenten nicht schafft, d. h. die Umwandlung vom bloßen Betroffensein zu einer responsiven Aktion nicht nachvollziehen kann. Damit ist die Metonymie des Hauses nicht nur sozialhistorisch zu lesen, sondern kann zugleich stellvertretend als Grenzerfahrung gelesen werden einer „gelebte[n] Räumlichkeit, die höchstens vorgezeichnet und angedeutet, nicht aber ausgeführt“ 117 wird. Die im Bewusstsein der Hauptfigur vorkommenden Figuren „verweisen auf gestiftete Grenzordnungen, die sich in wechselnden Grenzbildern, Grenzvisionen und Grenzsymbolen darstellen“. 118 Dabei bekommt die Grenze in Kraljevićs Bewusstsein eine doppelte und paradoxe Bedeutung, denn simultan denkt er über historische Visionen und globale Katastrophen nach, bewegt sich dabei stets in einem abgegrenzten und klar umrissenen Raum, nämlich dem der verwahrlosten Mietskaserne. Die Grenze ist somit transgressiv aufzufassen, das heißt, sie ist als Schwelle oder eine Form des Übergangs zu denken, respektive als eine Lebensform, die sich als erwünscht und unerreichbar zugleich darstellt. Dadurch erweist sich die Repräsentation der Grenze als deckungsgleich mit der ohnmächtigen Protestgeste der Hauptfigur im Schlussteil der Novelle. Seine Versuche entziehen sich jeglicher logischen Erklärung, bleiben begrenzt und verweisen damit zugleich auf Uneinholbares. Jedoch erst durch die Wahrnehmung der eigenen Grenzen, die als die eigene Ohnmacht erlebt werden, die vorgegebenen Normen und die damit verbun‐ denen Begrenzungen hinter sich zu lassen, konstituiert sich nicht nur der Raum, sondern erst dadurch schält sich das Subjekt aus seiner Umgebung heraus. In diesem Versuch scheitert jedoch Kraljević. Damit repräsentiert Kraljević die Figur des ohnmächtigen und skeptischen Intellektuellen, der als eine radikale Figur konzipiert wird, die eine Gratwan‐ derung an der Grenze zwischen der (Kriegs-)Wirklichkeit seiner Zeit und den eigenen (Zukunfts-)Vorstellungen macht. Diese Figur steht somit für das Übergreifen von einer Ordnung auf die andere, denn für die Hauptfigur des „dekadenten Journalisten“ 119 ist es typisch, dass er die „Grenzen zugleich über‐ 179 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken 120 WALDENFELS 1990: 26. 121 KRLEŽA 1963: 57. 122 Ebd.: 101. 123 Ebd. 124 KRLEŽA 1978: 107. Zum ersten Mal veröffentlicht in der Gedichtsammlung Pjesme I (Lyrik I, Zagreb 1918). „Jednoga će dana krvavo jutro svanuti, / jednoga će dana crljeni vihor planuti, / o, jednoga dana, / nad piramidom mrtvih domobrana / buknut će plamen iz bezbrojnih rana.“ KRLEŽA 1969: 25-26. 125 KRLEŽA 1963: 75. 126 Vgl. FLAKER 1984: 66-72. 127 KRLEŽA 1963: 107. schreitet, ohne sie zu überwinden“. 120 Am Schluss der Novelle wird diese paradoxe Figur der gleichzeitigen Überschreitung und Abgrenzung in Hoffnung auf das Vorkommen „eines flammigen Windes“ 121 verdichtet, die an seine fiebrige Vision über die kartographische Darstellung der kroatischen Länder angelehnt ist und in ihrer Bildlichkeit einen unhaltbaren Zustand der Schwebens in einem historischen Vakuum zum Ausdruck bringt: [D]as Kaptol und der Markusplatz, die Regierung und die Gemeinde des Zugführers in Bistra, all das hänge in der Luft, und alles werde eines Tages zusammenstürzen und erlöschen in einem einzigen Atemstoß des flammenden Windes. 122 In einer längeren, als bitter zu bezeichnenden „biblische[n] Vision über das tausendjährige kroatische Schicksal“ 123 wird das Bild des flammenden Windes beschworen; ein typisches Motiv in Krležas früher Schaffensphase. Es handelt sich um ein Leitmotiv aus der frühen Lyrik Krležas. So kommt z. B. seine linksmaterialistische Emphase im Gedicht Plameni vjetar [Der feurige Wind] vor. Die frei rhythmischen Verse wie „Eines Tages wird ein blutiger Sturmwind entfacht, / eines Tages wird ein blutiger Morgen aufdämmern, / oh, eines Tages / über der Pyramide von toten Landsturmmänner.“ 124 sind als eine direkte Anspielung auf das Kriegs- und Revolutionsgeschehen im Jahre 1917 zu lesen. Damit wird eine motivische Kontinuität in der Novelle ablesbar. Schließlich imaginiert Kraljević ebenfalls die gespenstischen „Pyramiden der Toten“ 125 und stellt sich den Neuanfang als eine radikale Umwertung der sozialen Ordnung vor. In der Novelle wird jedoch die angedeutete revolutionäre Perspektive nicht weiterverfolgt und realisiert, und auf keinen Fall kommt darin eine optimale Zukunftsprojektion 126 marxistischer Provenienz zum Vorschein, sondern die Novelle endet im Zerfall der Ordnung und dem Siegeszug des Todes im Haus, ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich „vor Lebensohnmacht [zu] vergiften“ 127 . Die Spannung zwischen den geschilderten ärmlichen Verhältnissen in einem 180 Milka Car 128 Ebd.: 102. 129 Ebd.: 101. 130 Ebd.: 107. 131 Ebd.: 108. 132 Vision und Traum sind die dominanten Motive am Ende der Novelle, die den Rückzug aus der Realität nochmals betonen: „Auf der Schwelle eines großen, schmutzigen Haus‐ tors, über und über verdreckt und zerfetzt, mit blutender, zerschnittener Hand, wachte er aus schwerem Schlaf auf. Er hatte vom Frühling, von blühenden Kirschbäumen und von einem schwarzen Felsen geträumt, von dem ihn seltsame Kreaturen in den Abgrund gestürzt hatten.“ Ebd.: 105. 133 „Dieser Gedanke, der ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde durchschoß, wirkte unwiderstehlich auf ihn, und in maßloser Nervosität rannte er hinaus auf den Flur und begann mit rauher, heiserer Stimme zu schreien: ,Leute! Mieter! Mieter des ersten, zweiten und dritten Stockwerks! Mieter! He! Ihr Mieter! Hilfe! Hilfe! Hilfe! ...‘“ Ebd.: 108. 134 Ebd.: 45. (Zagreber) Mietshaus und der angedeuteten geistigen Entgrenzung mit der po‐ tenziellen gesellschaftlichen Veränderung erweist sich als unlösbar und mündet in eine groteske Vision der scheiternden Rebellion des vereinsamten und verlorenen Intellektuellen, der für „einen verrückten Trunkenbold“ gehalten wird, „der Albernheiten faselte und dumme Witze“ 128 . Kraljević will sich selbst „auslöschen“ 129 und kommt in seiner pessimistischen Sichtweise zum Schluss: „Das ganze Haus wird zum Teufel gehen! Und das ist noch nicht alles.“ 130 Damit kommt er über seinen gespenstischen Kampf gegen den Großmeister wie auch gegen die ihn bedrohenden „Legionen schwarzer Gestalten“ 131 nicht hinaus. Er bleibt in ihnen 132 gefangen. Sein letzter Aufruf in der Nacht richtet sich direkt an die Bewohner seiner Mietskaserne, denen Unrecht widerfahren ist, verhallt jedoch als dreifacher Hilferuf in „maßloser Nervosität“ 133 . Trotz der steigenden Anspannung bleibt er ungehört und verschwindet allmählich als ein immer schwächer werdendes Echo in der allumfassenden Leere. Somit wird die Grenze zum Anderen als unmöglicher Versuch der Selbst-Entgrenzung geschildert. Es geht um den „bedingungslosen Untergang des Subjekts, des Nervenbündels, des Mitarbeiters des ‚Kroatischen Wortes‘, Ljubo Kraljević,“ 134 der damit als Hauptfigur mit der Situation der Eingrenzung und Enge in seinem Mietshaus gleichgesetzt wird. Die Darstellung der unmöglichen Grenzüberschreitung eines Intellektuellen wird hier nicht nur als eine Metonymie für die sozialhis‐ torische Lage gedeutet, die die Erfahrungen einer verloren gegangenen Welt symbolisiert. Es geht zugleich um die Phänomenologie der Krise des modernen Subjekts, die durch die Erfahrung unüberwindbarer Grenzen ausgelöst wird und sich als unlösbar entpuppt. 181 Grenzerfahrungen in Miroslav Krležas Novelle Der Großmeister aller Schurken Literatur BREBANOVIĆ, Predrag (2016): Avangarda Krležiana: pismo ne o avangardi. Zagreb: Jesenski i Turk. BUSCH, Katrin (2011): Kultur als Antwort. In: Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Berlin: Springer, S. 290-299. 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Gauss sees great potential in the phenomenon of the border and near-border regions, if we grasp them not through the centre’s desire for self-legitimization at the edges of its space, but as a space of autonomy of the territories on both sides of the border, thus connecting them across the border and emancipating them from their respective centres. However, the paper also points out that cross-border writing and cross-border contact (e.g. after the long isolation caused by the dictatorships of the 20th century) are burdened with many automatisms of thinking and writing that even programmatically crossborder writers like Gauss and Beyerl cannot avoid. Keywords border, liminality, representation, fiction, travelogue, South Moravia, Aus‐ tria, third space 1 GAUSS 1992: 7-8. In der ersten Hälfte der 90er Jahre hatte ich dank Prof. Wolfgang Müller- Funk dreimal die Gelegenheit an einem Symposion der Waldviertel Akademie Grenze und Nachbarschaft aktiv teilzunehmen: in Brno, in Dačice und dann in Waidhofen an der Thaya. Seine Belesenheit, aber auch sein exzellenter Mitarbeiterkreis haben mir damals geholfen, nach der Wende neue Impulse der Literatur- und Geschichtswissenschaft aufzunehmen und zu verarbeiten. Schon bei diesen drei Symposien, nicht erst später in Wien, habe ich Persönlichkeiten wie Peter Demetz, Konrad Paul Liessmann, Jan Křen oder Hannelore Burger kennengelernt. Jetzt, bei dem Symposion 30 Jahre Grenze und Nachbarschaft, sind deren Teilnehmer und auch zwei Veranstalter um eine Generation jünger als ich. In Anlehnung an den Titel Grenze und Nachbarschaft wähle ich zwei öster‐ reichische Autoren, für die Grenze und Ränder Schlüsselbegriffe geworden sind. Karl-Markus Gauß Karl-Markus Gauß gab im Jahre 1992 die Anthologie Das Buch der Ränder heraus, wo mit zwei Texten ‒ von Hermann Ungar und Oskar Jellinek ‒ auch das deutschsprachige Mähren die Ränder repräsentiert. Ludwig Winders Pflicht muss man wegen des Handlungsortes eher dem Prager Redakteur der Deutschen Zeitung Bohemia zuordnen als dem in Schaffa/ Šafov geborenen und in Holleschau/ Holešov aufgewachsenen Mährer, die Textprobe repräsentiert hier also die böhmischen Ränder der Monarchie. Im Vorwort zu der Anthologie weist Gauß auf Miroslav Krležas Essay Was ist Europa hin: Neben dem klassischen westeuropäischen, museal-grandiosen, historisch-patheti‐ schen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker. 1 Tschechen nennt Gauß hier nicht, sie hielten sich auch selbst für kein östliches Volk, erst die Entwicklung nach 1948 rückte sie an die politische Peripherie Europas, nach Osteuropa. Die Grenze zwischen dem imperialen Europa der Zentren und den randständigen Gebieten, aus denen Talente, Arbeitskräfte und früher wohl auch Einnahmen in die Zentren strömten, lag in der Monarchie nördlich von Linz und Wien. War es schon aus dem Weinviertel und Waldviertel nach Wien ziemlich weit, umso mehr aus Südböhmen und Südmähren. Diesen 186 Zdeněk Mareček 2 Ebd.: 9. 3 KRLEŽA 1964. 4 GAUSS 1997. 5 Ebd.: 199. Grenzregionen widmet sich Beppo Beyerls Buch Achtung Staatsgrenze (2009) - und damit auch mein Beitrag. Im Vorwort zu der erwähnten Anthologie Das Buch der Ränder wirft Gauß den Zentren, genauer den Eliten in diesen Zentren, vor, von der Peripherie, nach 1989 dann von der Öffnung der Grenze profitiert zu haben und sich über die Realität der ärmeren Gegenden mit floskelhaft formulierten Parolen hinwegzusetzen: Je unverfrorener in seiner Selbstgefälligkeit das Geschwätz vom einigen Europa, vom gemeinsamen europäischen Haus, von der glorreichen sich heranbildenden europäischen Nation auftaucht, umso kruder werden gleichzeitig Barrieren und Gräben durch Europa gezogen. […] [D]rinnen sei die gebändigte Zivilisation, außen wachsen die Ränder. Doch diese Ränder brechen auf und sie brechen herein. 2 Seit 1992, dem Erscheinungsjahr der Anthologie, ist mehr als ein Vierteljahr‐ hundert vergangen, die Armut und Rückständigkeit mancher Ränder schockiert auch heute und der Zuwandererstrom reißt nicht ab. Brünn ist nicht Schaffa, der wirklich arme Rand Mährens, und die Universität ist sicher einer der Gewinner des Falls des Eisernen Vorhanges und der Oster‐ weiterung vom Mai 2004. Gauß schrieb diese Sätze 1992, lange vor dem Beitritt Tschechiens zur EU und vor der Erweiterung des Schengen-Raumes. Unsere Beiträge hüten sich davor, in ein selbstgefälliges „Geschwätz vom einigen Europa“ zu verfallen, von dem bei Gauß die Rede ist. Trotzdem trifft manches von Gauß’ Befürchtungen auch 2019 zu. Der Schriftsteller Miroslav Krleža spricht von zwei Europas. Sein Band Euro‐ päisches Alphabet  3 erschien auf Deutsch schon 1964 in der Stiassny-Bücherei als Bd. 1000. Auch Karl-Markus Gauß nannte sein Buch ähnlich, auf dem Schutzumschlag sogar gleich artikellos, auf dem Titelblatt Das Europäische Alphabet  4 mit dem bestimmten Artikel (wahrscheinlich nur, um den Regelungen des Markengesetzes zu entsprechen). Gauß knüpft an Krleža nicht nur im Titel offen an. Unter den 31 Begriffen des Buches gibt es bei Gauß auch einen, den abschließenden, der Zwei Europa heißt. In diesem abschließenden Text verwendet Gauß sein Krleža-Zitat aus Das Buch der Ränder wieder. Gauß’ Bekenntnis zu dem „unterworfene[n] periphere[n] Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker“ 5 wird polemisch zugespitzt: 187 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne 6 Ebd.: 202. 7 Ebd.: 59. 8 OHRLINGER / STRIGL 2010. Das übernationale Europa der Mächtigen, die sich, [um] ihre Ziele durchzusetzen, nicht mehr als jene Nationalisten präsentieren müssen und dürfen, die sie gleichwohl bleiben, definiert sich unterdessen neu und schreibt seine Geschichte zur Heiligenvita um. 6 Gauß sieht 1997 neue Grenzen und den Begriff Grenze beschreibt er als Mittel zur Manipulation. Denn die Grenze ist keine Erfindung der Menschen an der Grenze, sondern eine der Zentralen. Die Macht ist im Zentrum zu Hause, und sie sucht ihre Ausdehnung gerade dort zu erweisen, wo sie am weitesten entfernt ist, an den Rändern. Die Grenzregion selber hat zumeist ganz andere Interessen als das Zentrum […]. 7 Gauß betont auch die kulturellen Gemeinsamkeiten der Anwohner auf beiden Seiten der Grenze, ihr Spannungsverhältnis zu den Zentren, aber auch die Gefahr, dass die Sprachgrenze als alte Wunde wieder aufbrechen kann. Der Nationalsozialismus und der Bevölkerungstransfer an der tschechoslo‐ wakischen Grenze, die besonders krude Indoktrination in den tschechoslowa‐ kischen Grenzorten, wo nach 1948 Grenztruppen stationiert waren, haben auch 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges tiefe Spuren in den Köpfen hinterlassen und kippen Gauß’ Logik von gemeinsamen Interessen der Menschen auf beiden Seiten der Grenze teilweise um. Gauß’ Reiseerzählungen wurden von Herbert Ohrlinger und Daniela Strigl schon 2010 als Grenzgänge bezeichnet. 8 Nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil Gauß ein Jahr nach der Osterweiterung im Auftrag der Zeitung Der Standard Reportagen schrieb, aus denen sein Buch Wirtshausgespräche in der Erweite‐ rungszone entstanden ist. Von Estland bis Malta bereiste er alle 10 neuen Bei‐ trittsländer. Sucht man also bei Gauß nach einem Buch, das in der Untersuchung einer geographischen bzw. kulturellen Grenze dem Konzept von Beppo Beyerl am nächsten liegt, ist es gerade dieser Band. Beppo Beyerl hatte allerdings kein auflagenstarkes Blatt hinter sich und wanderte die österreichische Grenze vom Böhmerwald bis nach Slowenien zu Fuß ab, nur gelegentlich wich er auf die von ihm heiß geliebte Eisenbahn aus. Nach Homi Bhabha stellt die Grenze einen hybriden „Dritten Raum“ dar, in dem sich Kulturen vermischen und kulturelle Differenz als Ergebnis dieser Vermischung entsteht. Er meint allerdings keinen geographisch definierbaren Raum, sondern einen exterritorialen Raum, der die Erfahrung von Brüchen 188 Zdeněk Mareček 9 HOFMANN 2006: 29. 10 BHABHA 1994: 39. 11 MÜLLER-FUNK 2007. 12 GAUSS 1998: 102. 13 Ebd.: 101. produktiv machen kann 9 . Das Projekt Grenze und Nachbarschaft hat in den 1990er Jahren versucht in einem konkreten Raum entlang der Grenze das Selbstverständnis der sich im Kalten Krieg auseinanderentwickelten Kulturen - der österreichischen und tschechischen - gezielt zum neuen Überdenken der eigenen Traditionen zu bringen und sie zu befähigen, dem jeweils Anderen unvoreingenommen zu begegnen. Nach der Wende 1989 war mehr Bereitschaft da, als nach dem Klaus-Zeman-Bündnis in Tschechien (1998) und der Schwarzblauen Koalition in Österreich (2000). „And by exploring this Third Space, we may elude the politics of polarity and emerge as the others of our selves“ 10 . Das Ziel, in einem post-sozialistischen Raum wenigstens im Kulturbereich die polarisierende Politik zu überwinden und sich in die Anderen hineinzu‐ versetzen, war immer schwieriger zu erreichen. Mit der Professur Wolfgang Müller-Funks in Birmingham und mit dem Start des großen Projekts „Kakanien Revisited“ (2001) weitete sich die bisherige grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit auf eine internationale Ebene aus. 2007 war Homi Bhabha an der Wiener Universität zu Gast und vor dessen Vortrag fragte ihn Wolfgang Müller-Funk nach Parallelen zwischen der klassischen postkolonialen und der modernen postimperialen und post-sozialistischen Situation. 11 In Anknüpfung an diese Fragestellung kann man über eine „Verortung der Kultur“ auf der österreichisch-tschechischen Grenze weiter nachdenken. Ist sie immer noch belastet von der sich vor einem Jahrhundert zur Leitkultur aufspielenden deutsch-österreichischen Kultur? Ist die post-sozialistische Situation immer noch ein Hindernis dafür, dass sich an der tschechischen Seite der Grenze das Publikum der österreichischen Kultur mehr öffnet? Beiden Fragen kann man jetzt am Beispiel von Gauß und Beyerl nachgehen. Gauß schreibt überwiegend über historische Wurzeln der aktuellen Probleme ‒ über slawische Einwanderer in Wien, darüber, wie Menschen, die „sich im Vielvölkerstaat mehreren Kulturen zugehörig fühlte[n] und den geistigen Austausch über die Grenzen der Nationalität hinaus suchte[n]“ 12 wie z. B. Iwan Franko, gehasst wurden. Gauß schreibt nicht über die niederösterreichisch-süd‐ mährische Grenze, in deren Nähe Drosendorf liegt. Trotzdem ergeben sich für ihn 1998 Parallelen zwischen der Donaumonarchie mit ihrer „hehren Losung der Übernationalität“ 13 und der Praxis, einzelne nichtdeutschsprachige Nationen zu benachteiligen, und der europäischen Situation vor der Osterweiterung der EU. 189 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne 14 Vgl. ebd.: 115. 15 RUTHNER 1999 (2001): 2. 16 Vgl. ebd.: 2. 17 „In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf! “ MUSIL 2018: 177. 18 GAUSS 2012: 122. 19 Vgl. ebd.: 111. 20 SERKE 1982: 155. Die angestrebte europäische übernationale Identität, von der einige Schichten mehr und andere weniger profitieren können, erinnert ihn an die Situation vor 100 Jahren. Menschen, die im Vielvölkerstaat dank ihrer Sprachkompetenz und Bildung den geistigen Austausch über die Grenzen der Nationalität hinaus ermöglichten, bleiben für Gauß ein nachahmenswertes Vorbild auch für heute, weil sie in ihren Heimatländern verhindern, dass man slawische Nationalge‐ schichten von kakanischen übernationalen kulturellen Spuren säubert. 14 Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Clemens Ruthner schätzt an Gauß seine unversöhnliche Haltung zur Monarchie, in deren Residenzstadt „Studenten aus dem ‚Wilden Osten‘ als k.u.k. Patrioten kamen und als glühende Separatisten gingen“. 15 Ruthner bewundert, wie überzeugend Gauß „das verloren gegangene utopische Potential“ 16 der Donaumonarchie erfasst. Anknüpfend an Gauß und Ruthner kann man fragen: „Gilt das auch für das utopische Potential von Musils kakanischer Stadt B.? “ Bei Gauß bleibt Musils Bild von der Stadt B. allerdings ausgeklammert. Weder Brünns Kapuzinergruft noch die Spielberger Kasematten werden bei Gauß im Musilschen Sinne „kakanisch“ kontextualisiert. Musils Nationen-Kapitel und seine Perspektive auf die Burg assoziieren wohl nur eingefleischte Brünner Patrioten. 17 Dieser Teil der Reiseerzählung über Brünn geht traditionellen politisch neutralen Brünn-Themen nach, fällt somit eher stilistisch als thematisch auf, ist sprachlich pointiert formuliert, wenn er z. B. über den „gnadenlosen Kriegshelden, den gnadenlos bestraften Häftling und den in Gnaden gestorbenen Sünder“ 18 Trenck erzählt. Als Gauß über Brünn schrieb, legte er die kakanische Brille weg und nannte den Text über die einstige mährische Metropole Der Regen von Brünn. Der Untertitel lautet Ivan Blatný und der mährische Portugiese. 19 Der Dichter Fran‐ tišek Listopad, auf den hier eingespielt wird, ist wohl ein Prager Portugiese, aber kein mährischer Portugiese: Diese Zuordnung dient einzig dem Zweck, zwei nur lose verwandte Themen enger zu verbinden. In Gauß’ Reiseerzählung über Blatnýs und Listopads Brünn missversteht Gauß wohl die Angabe des Journalisten und Schriftstellers Jürgen Serkes darüber, wann genau Ivan Blatný die Tschechoslowakei verließ. 20 Serke schreibt: „[Blatný, ZM] war so [durch 190 Zdeněk Mareček 21 GAUSS 2012: 133. 22 LISTOPAD 1992. 23 LISTOPAD 2012: 37. 24 GAUSS 2012: 115. die Flucht, ZM] der stalinistischen Verfolgung, die kurze Zeit später über sein Land hereinbrach, entkommen.“ Gauß konkretisiert diese Information so: „Mit einer Delegation tschechischer Schriftsteller kam er [...] 1948 nach England. Dort erhielt die Gruppe Nachricht, dass zu Hause die Stalinisten die Volksfront der Antifaschisten zerschlagen und die alleinige Macht übernommen haben.“ 21 Serke, der in Antonín Brousek, dem Herausgeber von Blatnýs Gedichtsammlung Stará bydliště (Alte Wohnorte, 1979), einen Kenner der tschechischen Litera‐ turgeschichte zur Seite hatte, meinte mit der stalinistischen Verfolgung wohl den Prozess gegen Záviš Kalandra, der im November 1949 verhaftet und im Sommer 1950 hingerichtet wurde. Gauß spricht wohl vom Februar 1948, als die Kommunisten die alleinige Macht übernommen haben (die Formulierung von der Volksfront erinnert an die damalige politische Terminologie vor November 1989). Der Flug mit den Schriftstellern Jiří Kolář, Arnošt Vaněček und Ivan Blatný an Bord startete allerdings erst am 29. 3. 1948, also es war eher Blatnýs Flucht vor dem kommunistischen Regime, nicht eine in England getroffene Entscheidung. Gauß verabsolutiert auch Listopads Bekenntnis zum verregneten Brünn aus der Sammlung Soukromé sklenářství v Brně  22 (Brünner Privatglaserei), wo es in einer Erinnerung an das Jahr 1944 im Gedicht V České ulici (In der Tschechischen Gasse) heißt: „V Brně zas prší opravuji občas prší“ 23 . („In Brünn regnet’s wieder, ich korrigiere: regnet’s manchmal“). Die Korrektur, es regnet nur manchmal, wird von Gauß unterschlagen. Gauß’ Reiseerzählung über Brünn basiert auf einem impressionistischen, ja lyrischen Verfahren, bei dem er historisch verbürgte Tatsachen missachtet und der Metapher der ver‐ regneten Stadt alles unterordnet. Ich gehe darauf nur ein, um zu zeigen, wie die österreichisch-tschechische Grenze und das Schreiben für ein anderssprachiges Publikum die Hierarchie von Realien und Formvollendung des Genres ändern und die sonst bei Gauß gründliche Recherche vermissen lassen. Ein deutscher oder österreichischer Leser wirft mir vielleicht vor, dass meine tschechische Sicht unangebracht ist und ich den Text nicht so beim Wort nehmen soll. Für mich als Blatný-Leser ist schwer hinnehmbar, wenn es bei Gauß heißt: „November heißt auf Tschechisch Listopad, und eines Tages, als sein Freund, dessen literarisches Metier der November gewesen war, nicht wiederkehrte und er selber schon in einem anderen Land, umgeben von einer fremden Sprache lebte, beschloss Jiří Synek, sich František Listopad zu nennen.“ 24 Das Pseudonym Listopad wird meistens auf das Geburtsdatum des jüdischen Dichters Jiří Synek 191 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne 25 Jiří Orten, eigentlich Jiří Ohrenstein (1919-1941), war Dichter und Student des Schau‐ spiels am Prager Konservatorium, der von einem deutschen Rettungswagen tödlich verletzt wurde. Er und Ivan Blatný planten einen gemeinsamen Selbstmord. 26 Vgl. VOBECKÁ 2019: 22. 27 GAUSS 2012: 115. zurückgeführt, der, indem er in Prag untertauchte, der Deportation entging und unter diesem Pseudonym in den katholischen Zeitschriften Řád und Akord, aber auch in der offiziösen Protektoratszeitung Lidové noviny publizierte und wie‐ derholt den relativ wohlhabenden Besitzer des Optikerladens Ivan Blatný, einen Freund des auf tragische Weise gestorbenen jüdischen Dichters Jiří Orten 25 , in Brünn besuchte. Blatný schrieb zwar im Protektorat den Brünner Gedichtband Melancholické procházky (Melancholische Spaziergänge), in dem es schon das Gedicht Listopad … Listopad … gibt, aber seine Lyrik auf Novemberregen und auf Melancholie einzuschränken, ist eine Verkürzung von Gauß. Vielleicht geht die Wahl des Pseudonyms Listopad bei Jiří Synek darauf zurück, dass er es gerade seit dem 16. November 1941 verwendete 26 , ja sogar als Anspielung auf die Schließung der tschechischen Hochschulen am 17. November 1939. Solche Er‐ läuterungen hielt Gauß dem deutschsprachigen Publikum seiner Reiseerzählung für nicht zumutbar. Jedenfalls stimmt nicht, dass Listopads sechs Gedichtbände „im Aufbruch von 1945 noch unter seinem Geburtsnamen“ 27 erschienen sind. Bohemica non leguntur oder tschechische Gewährsleute von Gauß sind nur „ohne Gewähr“ zu genießen. Beppo Beyerl Wenn Beppo Beyerl über Brünn schreibt, dann am liebsten durch die Brille eines Bierstubenkenners. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Mo‐ dell-Leser der beiden Autoren. Obwohl Brünn nur knapp über 50 km von Drasenhofen entfernt ist und cum grano salis als letzte große Stadt vor der tschechisch-österreichischen Grenze gelten kann, kommen wir vom mährischen Binnenland auf die wirkliche Grenze zurück, die Beppo Beyerl relativ frisch nach dem Wegfall der Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten beschreibt. Schengen 1 und Schengen 2 heißen gespurte Loipen an der polnisch-tsche‐ chischen Grenze in der Nähe der Berghütte Paprsek, früher Schlesierhütte, östlich vom Altvatergebirge, wo sich im Winter jedes Wochenende die Olmützer und Ostrauer Fans des Langlaufs treffen. An der Theke steht man Schlange, alle Tische sind besetzt, für Durstige und Hungrige wird in der Nähe der Hütte ein Großzelt aufgeschlagen. Polen bilden hier allerdings eine Minorität, trotz Schengen 1 und Schengen 2. Polnische Touristen findet man eher auf 192 Zdeněk Mareček 28 BEYERL 2009: 9. 29 Ebd.: 11. 30 Ebd.: 14. 31 Ebd.: 14-15. den Pisten, die allerdings z. B. mit dem Auto über den Grenzübergang Nowa Morawa zu erreichen sind. Auf eine ähnliche Enttäuschung darüber, dass die leicht passierbare Staatsgrenze innerhalb des Schengenraumes nicht allzu oft wirklich überschritten wird, stößt Beppo Beyerl unter dem Dreisesselberg im Böhmerwald. Die bayerische Kellnerin beantwortet seine Frage „Und ist jemand herübergekommen auf ein Bier? “ lapidar mit „Eigentlich nie.“ 28 Also kommen tschechische Stifter-Leser, auch diejenigen, die Gregors Erzählung über den Dreisesselberg aus der Lektüre von Der Hochwald in positiver Erinnerung haben, wohl weniger hierher. Weder zu Fuß von der fast 10 km entfernten Endstation der tschechischen Bahn Nové údolí noch mit dem Auto. Der nahe Parkplatz auf der bayerischen Seite ist mit dem Auto aus Kuschwarda / Strážný (dem letzten tschechischen Ort vor der Grenze) über Philippsreut und Haidmühle immerhin fast 30 km entfernt. Und außerdem gibt es sicher weniger Stifter- Leser in Tschechien nach 2000 als noch in der Zwischenkriegszeit. Die Kellnerin vom Berggasthof Dreisessel war also gut gewählt, um einen von Tschechen wenig besuchten Ort vorzustellen und zu zeigen, wie wenig der Stifter-Kult Tschechen, Bayer und Österreicher verbindet. Beyerls Stifter-Begeisterung hält sich in Grenzen: „Adalbert Stifter tümelt sich düster und langatmig durch den Böhmerwald, und vielleicht haben mir seine tümelnden Naturbeschreibungen die Lust auf den Böhmerwald verdorben. [...] [F]ader Beschreibungsrealismus“ 29 . Stifter ist für Beyerl „Erfinder des Backenbartes sowie des Umhängebauches“ 30 , kein zäher Wanderer wie Beyerl selbst. Beyerl schreckt nicht davor zurück, im Stil des Studentenulks das Denkmal von Stifter durch eines von Ingeborg Bachmann zu ersetzen und ihr Böhmen am Meer zu zitieren: Horní Planá, nach dem dritten Bier. In den einfallenden Nebelschwaden des Abends steht auf dem Sockel kein Stifter mehr. Ein weibliches Wesen thront oben mit der Zigarette in der einen Hand und einem Buch in der anderen. Ingeborg Bachmann drückt ihre Zigarette aus und beginnt zu lesen: Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen. 31 Am besten liest sich Beyerl dort, wo er dem Leser glaubwürdige Zeugen und Zeugnisse für die unerfreuliche Geschichte dieser Grenzgegend vor Augen führt, Zeitzeugen der geschichtlichen Brüche, aber auch verfallenen Orte und 193 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne 32 Vgl. BEYERL 2009: 15. 33 Vgl. GAUSS 1998: 109. 34 BEYERL 2009: 16. 35 Ebd.: 73. 36 Ebd.: 17. 37 Vgl. ebd.: 27. vor allem Bahnhöfe. 32 Ein Zeitzeuge, den er wegen seiner sozialkritischen Haltung und seinem Humor sympathischer findet als Stifter, ist Karl/ Karel Klostermann (1848-1923), auf dessen Wien-Roman sich schon Gauß berief 33 . Beyerl erinnert an Klostermanns Erzählung über den Antisemitismus im Böh‐ merwald Der Jude von S.  34 ; Für die Zwischenkriegszeit und die Vertreibung 1945 fand er Karl Woisetschläger aus Raifmass, der sich an den Schmuggel von billigen Baťa-Schuhen nach Österreich erinnert: Seine Familie wurde 1945 von ihrem Bauernhof in Raifmass vertrieben. Ein anderer Zeitzeuge ist Jan Tabor. Der in Wien lebender Architekturhistoriker erzählt über einen illegalen Grenzübergang nach Drosendorf in den 1950er Jahren, nicht um Menschen durch den Eisernen Vorhang ins freie Europa zu schleusen, sondern um an das Lagerfeuer bei Freistein/ Podhradí nad Dyjí zurückzukehren und eine Wette zu gewinnen. Beyerl erzählt auch über Walter Wenzel vom Österreichischen Tou‐ ristenklub, der auf der tschechischen Seite der Grenze den Aussichtspunkt auf Hardegg bauen ließ. Gut ist der Text, wenn Beyerl von seinen Begegnungen mit Menschen, die jetzt an der Grenze leben, berichtet, wie z. B. über Wolfgang und Sabine Müller-Funk oder über die Malerin Christine Helmstedt. Überzeugend bleibt er auch, wenn er voll von Wut die Kommerzialisierung des Lebens an der Grenze anprangert: „Zusammenarbeit gibt’s nur dort, wo die Tschechen hackeln und wo für die Österreicher das Fressen und das Saufen und die Massage billiger ist“. 35 Gut symbolisch geraten sind ihm viele nüchterne Beschreibungen: „Einige Male passiere ich die Grenzlinie und mustere den Grenzstreifen, der heutzutage zugewachsen ist und sich nur schwer eruieren läßt im struppigen Dickicht des Niemandslandes“ 36 . Wertvoll sind seine Erfahrungen, die auf eine langjährige Beschäftigung mit dem Thema zurückgehen, was deutlich wird, wenn er z. B. über den von Vietnamesen veranstalteten Wettbewerb um den schönsten Nikolaus in Kaplitz/ Kaplice 2007 berichtet. 37 Ärgerlich an Beyerls Text ist hingegen seine Einbildung, er brauche keine Sprachkorrektur seiner Ausflüge ins Tschechische, sein akustisches Gedächtnis müsse reichen. Ich empfinde es als mangelnden Respekt vor der Nachbar‐ sprache. So entsteht z. B. folgende Erläuterung: „tschechisch heißt er [der fade Hochwald] Šumova [Hervorhebung ZM], vom Šum, dem Rauschen“. Es ist kein 194 Zdeněk Mareček 38 Ebd.: 26. 39 Ebd.: 95. 40 GAUSS 1997, S. 60. Tippfehler, es kommt auf Seite 12 und 15 ebenfalls vor. Oder wenn er Schaffa, das er auf Tschechisch nennt, wiederholt als Šavov [Hervorhebung ZM] schreibt. Beyerl berichtet von unerfreulichen Phänomenen im tschechischen Grenzgebiet ‒ von der Prostitution, von Spielautomaten und chaotischen Verkaufsständen der Vietnamesen, leider mit einer etwas stereotypen Wendung - „die Rache der Sieger“: Denn so schaut die Rache der Sieger aus: Um die Dominanz auf dem Hauptplatz wett‐ eifern zwei Bordelle und zwei Vietnamesenläden. Vor den Bordellen stehen Wagen mit Linzer Kennzeichen sozusagen Wagen an Wagen, vor den Vietnamesenläden stehen an die hundert Zwerge sozusagen Zwerg an Zwerg und dazu zwei Tiger, die die hundert Zwerge bewachen. 38 „Rache der Sieger“ kann hier als ironisch gebrochene Bezeichnung der desas‐ trösen Folgen der fast drei Generationen zurückliegenden Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung wahrgenommen werden. Dann sollte man allerdings die Vertreibung selbst etwas präziser als nur „Rache der Sieger“ bezeichnen: Die Rache der Sieger war fanatisch. Fast alle der deutschen Nikolsburger wurden über die nahe Grenze nach Österreich getrieben. Damit wurde ein strategisches Ziel der Nazis umgesetzt - Mikulov war ethnisch gesäubert. 39 Schluss Das Europäische Alphabet (1997) von Karl-Markus Gauß betont, „eine Grenze [müsse] keine Wunde sein, die durch das ökonomische und soziale Leben eines Gebietes schneidet und, fortwährend, eines Tages aufbrechen wird“ 40 . Wie Beppo Beyerl in Achtung Staatsgrenze. Auf den Spuren des Eisernen Vorhanges bei seiner Wanderung entlang der österreichisch-tschechischen Grenze 2008 bzw. 2009 feststellt, entwickelt sich das historisch entstandene Niemandsland viel langsamer und viel weniger erfreulich, als man sich bei der Entfernung von Stacheldrahtsperren, vom elektrisch geladenen Zaun und von Wachtürmen ver‐ sprach. Die Art, wie man über solche Enttäuschungen schreibt, kann einerseits aufrütteln, andererseits den Zustand unwillkürlich festschreiben. Deshalb wäre ein schönes Studentenprojekt, die Grenze auf den Spuren von Beppo Beyerl neu zu erwandern und aus der Perspektive von 2022 nüchtern, aber doch mit 195 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne 41 Ebd.: 39. 42 OHRLINGER / STRIGL 2010: 46. Zuversicht auf eine langsame, generationsbedingte Trendwende zu beschreiben. Die Grenzgänger Karl-Markus Gauß und Beppo Beyerl haben hier Pionierarbeit geleistet, die zur Fortsetzung herausfordert. Beide weisen auf die Gefahr hin, nur den Markt, nicht kulturelle Gemeinsamkeiten über die Gestaltung einer lange „vernachlässigten“ Nachbarschaft entscheiden zu lassen. Die Tristesse dieses Landstrichs hat mehrere Wurzeln: vor allem soziale Gründe, dann nicht geteilte Vorstellungen von akzeptablen Lebensstilen und abweichende kulturelle Präfe‐ renzen. Man sollte Angebote fördern, die eine grenzübergreifende Wirkung haben könnten. Auch die kirchliche Zusammenarbeit in diesen neu besiedelten Gebieten Tschechiens ist schwierig, weil das Positive oft mit der Sanierung der Kirchen und gemeinsamen Gottesdiensten verbunden war, aber nur selten half, die Kirchenräume nachhaltiger zu füllen. Beppo Beyerl berichtet: Mutterseelenallein wandere ich den ganzen Tag durch böhmische Wiesen und böhmische Wälder und böhmische Dörfer, in Pohorská Ves setze ich mich kurzerhand auf die Stufen vor der Kirche, die man wegen Einsturzgefahr nicht betreten darf. 41 In Theresiendorf / Pohorská Ves wurde 2012 das Dach und der Turm der Leonhardskirche erneuert. Mein Besuch des sanierten Friedhofs in Gollnet‐ schlag/ Klení und die Gründung des Vereins zur Rettung der Kirche daselbst, Gemeinde Benešov nad Černou, zeigen, dass diese Gegend außer vietnamesi‐ schen Läden in der Zukunft noch würdigere Wahrzeichen bekommen kann. Konrad Paul Liessmann, Autor der Laudatio bei der Verleihung des Donau‐ land-Sachbuchpreises an Gauß im Jahre 2008, sagte: Unterwegs sein. Das heißt auch, nicht wirklich ankommen. Es gibt, und das macht nicht zuletzt auch den poetischen Reiz dieser Erkundungen aus, keine abschließenden Befunde, keine endgültigen Urteile. 42 Also lassen wir den Texten genug Spielräume für poetische Konstellationen, verlangen aber auch, dass das Lektorat eines Buches über die gemeinsame Grenze zukünftig so gründlich ist, dass auch das anderssprachige Publikum jenseits der Grenze dieses Buch mit Dankbarkeit liest. Das Unterwegssein und der sozialkritische Ansatz verbinden die beiden, sonst nur bedingt vergleichbaren, Autoren Beyerl und Gauß. Es bleibt zu hoffen, dass die inzwischen historischen Texte von Gauß aus den 1990er Jahren von jungen ‚Grenzgängern‘ um erfreulichere Befunde zur Nachbarschaft ergänzt 196 Zdeněk Mareček werden und die Grenzregionen an der Peripherie auch für nicht schreibende Grenzgänger und Leser attraktiv bleiben. Literatur BEYERL, Beppo (2009): Achtung Staatsgrenze. Auf den Spuren des Eisernen Vorhanges. Wien: Löcker. BHABHA, Homi K. (1994): The Location of Culture. London / New York: Routledge. GAUSS, Karl-Markus (2012): Im Wald der Metropolen. München: dtv. GAUSS, Karl-Markus (1998): Ins unentdeckte Österreich. Wien: Paul Zsolnay. GAUSS, Karl-Markus (1997): Das Europäische Alphabet. Wien: Paul Zsolnay. GAUSS, Karl-Markus (hrsg.) (1992): Das Buch der Ränder. Klagenfurt / Salzburg: Wieser. HOFMANN, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Pa‐ derborn: Wilhelm Fink. KRLEŽA, Miroslav (1964): Europäisches Alphabet. 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In: bohemica litteraria, Bd. 22, Nr. 1, S. 17-42. 197 Literarische Grenzgänger im doppelten Sinne Grenzen in ‚Mikrokosmen‘ zentraleuropäischer Regionen Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien Marijan Bobinac Abstract The North Adriatic seaport of Rijeka/ Fiume for centuries characterized by a diverse combination of ethnicities, languages and confessions - came into Habsburg possession at the end of the 15th century; in turn, in the second half of the 18th century, after it was incorporated into the Kingdom of Hungary as a corpus separatum in the course of territorial reforms of the Danube Monarchy, it became a source of dispute between Hungarian and Croatian political elites. Croatian dominance over Rijeka, which began in the revolutionary year of 1848, was ended with the Hungarian-Croatian Compromise of 1868, after which the city - given a special status - was tied directly to the Hungarian crown. After the disintegration of Austria-Hungary in 1918, a conflict broke out over Rijeka between Italy and the newly established Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, both of which claimed their right to the city with a relative Italian majority and a considerable number of Croats. In September 1919, during international negotiations on the future of the city, with the establishment of an independent city-state also appearing as a third option, Rijeka was occupied by irregular troops of Italian nationalists led by Gabriele D’Annunzio. The expulsion of the ‘poet-soldier’ and his legionnaires at the end of 1920 was followed by the proclamation of the Free State of Fiume, which, however, was annexed to the - by then fascist - Kingdom of Italy already in 1924. The Italianization of the city, forced by fascist authorities, turned into the opposite in 1945, when Rijeka was incorporated into communist Yugoslavia, respectively Croatia as its part: Most of the Italian inhabitants fled, and the city became settled with the South Slavic population. Although the Romanic influence, typical of many Eastern Adriatic cities, was lost in many respects, its remains can still be traced in urban life today, a fact that gives Rijeka - now a leading Croatian regional center - a unique multicultural character. Keywords Rijeka/ Fiume; Mediterranean urbanity; social, political and cultural history; (post)imperial national disputes 1. Zu den markanten Eigentümlichkeiten urbaner Zentren im Mittelmeerraum gehörte seit Jahrhunderten ein buntes Nebeneinander verschiedener Ethnien, Sprachen und Konfessionen, ein Phänomen, welches lange bis ins 20. Jahrhun‐ dert auch für das Alltagsleben einer Reihe ostadriatischer Küstensiedlungen mit ihrer spezifischen romanisch-slawischen Prägung charakteristisch war. Aufschlussreich ist es, dass es vielen Städten zwischen Triest und dem heutigen Albanien durch die Geschichte hindurch gelungen ist, ihre angestammten, von Fall zu Fall recht unterschiedlichen Munizipalrechte aufrechtzuerhalten und damit auch den begehrten Autonomiestatus zu sichern. In diesem Zusammen‐ hang ist auch eine andere Beobachtung bemerkenswert, der Umstand nämlich, dass sich diese Orte sehr stark von ihrer Umgebung unterschieden haben: Während nämlich das vorwiegend slawische Hinterland von traditionellen Lebensweisen und autarken wirtschaftlichen Strukturen gekennzeichnet war, konnten multiethnische, zumeist aber romanisch geprägte Städte von ihrer maritimen Lage profitieren und sich zu Zentren eines intensiven Transfers von materiellen und immateriellen Gütern entwickeln. An diesen Orten der Begegnung, im Berührungsbereich imperialer Staatsgebilde der Venezianer, Habsburger und Osmanen gelegen, setzte sich schon früh die Latinität als dominantes Medium in der Sprache und Kultur wie auch in den sozialen, wirt‐ schaftlichen und politischen Beziehungen durch und blieb jahrhundertelang tonangebend. Obwohl sich in den ostadriatischen urbanen Zentren auch andere ethnische Einflüsse bemerkbar machten, und dabei das slawisch-kroatische Ele‐ ment immer mehr an Bedeutung gewann, konnte sich die Vormachtstellung des romanisch-italienischen Elements bis ins 19. Jahrhundert, als die Habsburgische Monarchie zum fast alleinigen Herrscher an der östlichen Adriaküste wurde, in vieler Hinsicht aufrechterhalten, in manchen Städten wie Rijeka/ Fiume sogar noch weiter ausbauen. Wie unterschiedlich sich die soziokulturelle Lage in den einzelnen Städten dieser Region gestalten ließ, zeigt das Beispiel der Stadt Dubrovnik/ Ragusa, die ihre ur‐ sprünglichen Abhängigkeitsverhältnisse zum Status einer weitgehend souveränen Stadtrepublik erweitern konnte. Unter Führung einer bilingualen Patrizierelite und 202 Marijan Bobinac 1 Die Angaben zur Geschichte der Stadt Rijeka beruhen v. a. auf folgenden Studien: RAVLIĆ 1953, LEDEEN 1977, KLEN 1988, ŽIC 1999, TOŠEVA-KARPOWITZ 2007, CATTARUZZA 2014, KLINGER 2018, PUPO 2018. 2 Vgl. PUPO 2018: 4-5. auf einer einzigartigen slawisch-romanischen Symbiose beruhend, ist es Dubrovnik in der Frühen Neuzeit gelungen, mit seinem in italienischer Sprache geführten Seehandel zu einem erfolgreichen Konkurrenten Venedigs zu werden und zugleich durch zahlreiche kroatischsprachige literarische Werke einen einzigartigen Beitrag zur europäischen Renaissance- und Barockkultur zu leisten. Einen völlig anderen Lauf als im südadriatischen Dubrovnik nahm das romanisch-slawische Zusammenleben in Rijeka/ Fiume, einer der Metropolen an der nördlichen Adria, wovon im Folgenden mehr die Rede sein wird. Die Stadt, eine mittelalterliche Gründung, wurde von Anfang an von Menschen romanischer wie auch slawischer Herkunft bewohnt, ihre Herren waren aber die deutschen Feudalhäuser Duino und Walsee, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Habsburger, in deren Herrschaftsbereich Rijeka bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bzw. Auflösung der Donaumonarchie blieb. 1 Die ethnisch-linguistischen Mehrheitsverhältnisse in der Siedlung am Nor‐ dende der Kvarner-Bucht waren im Laufe der Geschichte häufigen Oszilla‐ tionen ausgesetzt; mehrheitlich wurde von den Stadteinwohnern bereits im Mittelalter ein venezianischer Dialekt gesprochen, gleichzeitig durfte aber auch der slawische Bevölkerungsanteil nicht unbedeutend gewesen sein, da Gottesdienste - wie historische Quellen bezeugen - vor Ort schon früh auch in kirchenslawischer Sprache abgehalten wurden. Die bilinguale Situation kann von Anfang an auch an den Bezeichnungen lokaler Toponyme wie auch an den Einwohnernamen bezeugt werden. 2 Auch die Bezeichnung für die Siedlung am rechten Ufer des Flusses Rječina/ Fiumera lässt sich schon früh in den beiden Sprachen belegen, wobei der kroatische (Rijeka) wie auch der italienische (Fiume), aber auch der ehemalige deutsche Ortsname (Pflaum) so viel wie ‚Fluss‘ bedeutet. Diesen Ortsnamen wurde in den früheren Zeiten oft auch der Name des Stadtpatrons St. Veit beigegeben (St. Veit am Pflaum). Hinzuzufügen wäre auch, dass mit der Stadtgeschichte aufs Engste auch die Burg Trsat/ Tersatt(o) am Felsen des linken Flussufers verbunden war, die sich lange im Besitz des kroatischen Adelsgeschlechts Frankopani befand. Als eine Konstante der mediterranen Urbanität kann auch im Falle von Rijeka das beharrliche Festhalten an Munizipalrechten angesehen werden. Diese traditionelle Rechtsform entstammt allerdings nicht - wie auch bei den meisten anderen vergleichbaren Städten - dem Status einer ursprünglich freien, unab‐ hängigen Gemeinde, sondern sollte eher im Zusammenhang jener kommunalen 203 Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien 3 BARTOV / WEITZ 2013. Autonomierechte betrachtet werden, die im Mittelalter von Feudalherren an ihre Domänen verliehen wurden. Auch in späteren Zeiten blieb das Autonomie‐ bewusstsein bei der Bevölkerung dieser Städte tief verankert, ein Umstand, der zugleich die Bestrebungen lokaler Eliten wesentlich erleichterte, die Muni‐ zipalität als das Argument für die Aufrechterhaltung eines Sonderstatus der Stadt auch unter veränderten soziopolitischen Umständen heranzuziehen. Mit besonderer Deutlichkeit lassen sich autonomistische Positionen im politischen Handeln städtischer Führungsschichten im 19. Jahrhundert beobachten, als im Laufe konkurrierender Nationsbildungsprozesse auch in Rijeka entgegenge‐ setzte nationale Identitäten im Entstehen begriffen waren. Spezifische Identitätsstiftungen in der Kvarner-Stadt waren in vielerlei Hin‐ sicht mit den territorialen Reformen der Donaumonarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden, in deren Rahmen Rijeka als ein corpus separatum dem Königreich Ungarn und damit - je nach Interpretation - auch dessen Nebenland Kroatien zugeteilt worden war. In den Streit um den politisch-rechtlichen Status von Rijeka, in dem ungarische und kroatische Positionen antagonistisch gegenüberstanden und die dritte, autonomistische dazwischen oszillierte, mischten sich in der Zeit nach 1900 auch irredentistische Bestrebungen mit dem Ziel ein, die Stadt in den aufstrebenden italienischen Nationalstaat einzuverleiben. Wie sich die merkwürdige Lage von Rijeka an der Schnittstelle verschiedener staatlicher Formationen und ethnischer Gruppen, in einer der „shatter zones“ 3 des (ehemaligen) Habsburger Reiches, auf die wechselvolle Stadtgeschichte ausgewirkt hat, soll im Folgenden an einigen markanten historischen Stationen veranschaulicht werden. 2. Der Disput um Rijeka hatte, wie angedeutet, eine lange Vorgeschichte. Bereits im Mittelalter, als die Stadt im Besitz einiger deutscher Feudalhäuser war, begann sie mit der Venezianischen Republik zu rivalisieren. Den Habsburgern, die Rijeka 1465 von den Herren von Walsee übernahmen, gelang es, den Konflikt um die Stadt mit den Venezianern zu gewinnen und den strategischen nordadriatischen Hafen in ihr expandierendes Imperium einzugliedern. Wie zuvor angezeigt, wurde Rijeka im Zuge der territorialen Reformen der österreichischen Mon‐ archie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Ländern der heiligen Stephanskrone zugeteilt, was in der darauffolgenden Zeit zu anhaltenden Spannungen zwischen den kroatischen und ungarischen politischen Eliten 204 Marijan Bobinac führte. Während die ungarische Seite Rijeka als corpus separatum, eine von ihrem Umland unterschiedliche politische Entität sah, die von der ungarischen Regierung direkt verwaltet werden sollte, forderte die kroatische Seite die Eingliederung der Stadt in das Königreich Kroatien, das selbst wiederum seit dem Mittelalter mit Ungarn in Personalunion verbunden war. Hat man die geographische Lage von Rijeka, mehr als 200 Kilometer vom ungarischen ethnischen Territorium entfernt, vor Augen, so wäre die kroatische Hoheitsgewalt über die Adriastadt durchaus logisch. Doch den autonomistisch gesinnten Stadteliten, die in den kroatischen Ansprüchen eine Bedrohung nicht nur für ihre wirtschaftlichen Interessen, sondern auch für ihre italienischspra‐ chige Kultur sahen, waren entfernte, dazu politisch und finanziell potentere Herren viel lieber als ein Verlust rechtlich-politischer Sonderrechte, der nach der Einverleibung der Stadt mit dem kroatischen Hinterland unzweifelhaft folgen würde. Das Tauziehen um Rijeka entschied sich im Revolutionsjahr 1848 vorübergehend zu kroatischen Gunsten, allerdings nur für zwei Jahrzehnte, bis zur dualistischen Umgestaltung der Habsburger Monarchie. Mit dem Unga‐ risch-Kroatischen Ausgleich (Nagodba, 1868), einem Vertragswerk, das dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich (1867) folgte und den autonomen Status Kroatiens innerhalb der Länder der heiligen Stephanskrone regelte, konnte über den Status von Rijeka keine endgültige Lösung erzielt werden. Mangels einer dauerhaften Regelung blieb die von der ungarischen Seite erzwungene provisorische Bestimmung - wonach die Stadt als corpus separatum direkt von Budapest (und der östliche Vorort Sušak von Kroatien) verwaltet werden sollte - bis zur Auflösung der k.u.k.-Monarchie in Kraft. Bei der Durchsetzung dieser Regelung spielte eine große Rolle auch die Unterstützung der überwiegend autonomistisch eingestellten Stadteinwohner, die im Status eines Sonderverwaltungsgebietes den Erhalt ihrer angestammten Munizipalrechte sahen. Es kann nicht verwundern, dass die Bürger von Rijeka - mehrheitlich durch die italienische Kultur geprägt und vom aufkommenden kroatischen Nationalismus eingeschüchtert - die ungarische Verwaltung befür‐ worteten: Daher haben sie an das ehrgeizige Projekt, Rijeka zum ungarischen Exporthafen auszubauen, ihre Hoffnungen geknüpft, dass Budapest nicht nur die Italianità der Stadt weiterhin fördern, sondern dass es darüber hinaus auch viel mehr als Zagreb in der Lage sein werde, dem corpus separatum verschiedene politische und wirtschaftliche Begünstigungen zu gewähren. Die großangelegten Investitionsvorhaben, mit denen die städtische Verkehrs- und Industrieinfrastruktur zügig modernisiert wurde, waren auch von einer Reihe von Förderungsmaßnahmen zugunsten des italienischen Bevölkerungs‐ anteils begleitet, Maßnahmen, die in der Folge zu einer starken Veränderung 205 Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien 4 Vgl. SUPPAN 2003: 631. der ethnischen Struktur führten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigen nämlich die Volkszählungen für Rijeka einen stark steigenden Anteil der italie‐ nischen (und magyarischen) Bevölkerung und einen deutlichen Rückgang der Kroaten und Slowenen. Während die Kroaten 1851 noch mehr als 75 Prozent der Stadteinwohner stellten, schrumpfte ihr Anteil im Jahre 1880 auf gut ein Drittel, 1910 auf 26 Prozent. (Hinzuzufügen wäre allerdings, dass in dieser Statistik, durchgeführt nach dem Kriterium der Umgangssprache, die Angaben nur für das corpus separatum und nicht für Sušak, das fast ausschließlich von Kroaten besiedelt war, berücksichtigt werden.) Auf der anderen Seite haben sich 1910, bei der letzten österreichisch-ungarischen Volkszählung, 48 Prozent der insgesamt 50.000 Stadtbewohner als Italiener, 13 Prozent als Magyaren und je 5 Prozent als Deutsche und Slowenen ausgesprochen. 4 Die Auseinandersetzung um die Loyalitätspräferenzen in der Stadtbevölke‐ rung, jahrzehntelang geteilt zwischen Budapest und Zagreb, begann sich in den darauffolgenden Jahren, dramatisch zu verändern. In Gang wurde dieses Phänomen insbesondere durch die Erstarkung des italienischen Einwohneran‐ teils gesetzt, ein Umstand, der auf einen unerwarteten Effekt der forcierten Förderung der italienischen Bevölkerung hinweist. Dabei blieb zwar die Mehr‐ heit der Bürger nach wie vor dem Konzept eines Sonderstatus von Rijeka unter ungarischer Verwaltung loyal, andererseits zeigte sich aber auch, dass immer mehr Einwohner für die Eingliederung der Stadt in den italienischen Nationalstaat optierten. Der aufstrebende Irredentismus, der in der Kvarner- Stadt nicht nur Kroaten und andere Slawen, sondern auch Magyaren als Feinde sah, wurde auch durch expansionistische Ambitionen Roms angespornt, die Terre irredente, so auch Rijeka, an Italien anzuschließen. Dass sich die bestehenden Loyalitätskonflikte nach dem Kriegsausbruch 1914 noch weiter zugespitzt haben, kann kaum überraschen. Hinzu kam auch eine massive Verschlechterung der Beziehungen zwischen der k.u.k.-Monarchie und Italien, die ihren Höhepunkt in der österreichisch-ungarischen Ablehnung erreichte, die von der italienischen Seite geforderten Territorien im Gegenzug für Roms Unterstützung im Ersten Weltkrieg abzutreten. Mit ihren Forderungen wandte sich die italienische Regierung daraufhin an Großbritannien und Frank‐ reich, die sich mit dem Geheimvertrag von London 1915 verpflichtet haben, den Kriegseintritt Italiens auf ihrer Seite mit großen Teilen des habsburgischen Küstenlands und Dalmatiens zu honorieren. Eine Abtretung von Rijeka war mit dieser Einigung allerdings nicht vorgesehen, was viele Irredentisten jedoch 206 Marijan Bobinac 5 Zu D’Annunzios ‚Fiume-Unternehmen’ und dessen historischem Umfeld u. a. vgl. ČULINOVIĆ 1953, Gumbrecht / KITTLER / SIEGERT 1996, MAYHEW 2001, TOŠEVA- KARPOWITZ 2007, CATTARUZZA 2014, KLINGER 2018, PUPO 2018. nicht daran hinderte, den Anschluss der Kvarner-Stadt an Italien weiterhin vehement zu fordern. Am Kriegsende gehörte Italien zwar zu den Siegermächten, doch seine Teilnahme an Kriegshandlungen gegen Österreich-Ungarn war viel mehr durch Niederlagen als durch Erfolge gekennzeichnet. Es kann daher nicht verwundern, dass sich die westlichen Alliierten nach der Auflösung der Monarchie nicht bereit zeigten, alle italienischen territorialen Ansprüche zu erfüllen. Dem Gros dieser Forderungen wurde zwar nachgegeben (Südtirol, Julisch-Venetien mit Triest und Istrien), doch einige wurden auch zurückgewiesen. Die Alliierten, insbesondere auf die Initiative des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, haben nämlich die Abtretung von Dalmatien und Rijeka an Italien mit der Begründung abgelehnt, diese Territorien seien unentbehrlich für einen überlebensfähigen südslawischen Nationalstaat, für dessen Konstituierung sie sich mit Nachdruck eingesetzt haben. Bevor aber das neue Staatsgebilde unter dem Namen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) am 1. Dezember 1918 ausgerufen wurde, begannen die Konfliktparteien Tatsachen vor Ort zu schaffen. Vom letzten ungarischen Gouverneur wurden zwar die administrativen Vollmachten auf den örtlichen südslawischen Nationalrat übertragen, doch die Macht in der Stadt wurde sehr bald vom konkurrierenden italienischen Nationalrat übernommen. Die politisch-rechtliche Krise um Rijeka, die sehr bald zum Zankapfel zwischen Italien und dem SHS-Königreich wurde, spielte eine wichtige Rolle auch an der Pariser Friedenskonferenz und machte auch weltweit Schlagzeilen. Während der internationalen Verhandlungen über die Zukunft der Stadt - wobei als dritte Option auch die Gründung eines unabhängigen Stadtstaates erschien - wurde Rijeka am 12. September 1919 von irregulären Truppen italienischer Nationalisten unter der Führung des ‚Dichter-Soldaten‘ Gabriele D’Annunzio besetzt. 5 Das ‚Fiume-Unternehmen‘ (Impresa di Fiume), wie diese Aktion des dekadenten, extrem martialischen Autors und seiner Anhänger bezeichnet wurde, gilt als eine der bekanntesten und zugleich merkwürdigsten Grenzkrisen, die nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs ausgebrochen waren. Es handelt sich um eine Aktion, bei der nicht nur ein alter territorialer Streit angesichts neuer völkerrechtlicher Realitäten zusätzlich entfacht wurde; als historisch bedeutend gilt die Impresa auch wegen ihres militanten Extre‐ mismus, in dem verschiedene Praktiken emporstrebender rechtsradikaler Be‐ wegungen vorweggenommen wurden, im kulturhistorischen Sinne auch wegen 207 Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien 6 Vgl. EICHENBERG / NEWMAN 2010. einer Reihe avantgardistischer Kunstprojekte und neuartiger Lebensweisen, die durch die Anwesenheit vieler kreativer Menschen bewirkt wurden. D’Annunzios ‚Unternehmen‘ weist alle typischen Merkmale auf, die sich auch an anderen vergleichbaren Fällen der paramilitärischen Gewaltanwendung entlang ethnischer Trennlinien ehemaliger multinationaler Imperien bemerkbar machten 6 : Die interalliierten Truppen, die zur Konfliktverhütung in Rijeka stationiert waren, wurden von lokalen rechtsradikalen Kräften von Anfang an bedrängt, was schließlich zu einer allmählichen Aushöhlung ihrer Macht‐ position führte. Das entstandene Machtvakuum wurde durch den Einmarsch paramilitärischer Einheiten unter D’Annunzios Führung im September 1919 gefüllt, die die Stadt mühelos besetzten, die politischen und militärischen Hebel der Macht an sich rissen und den Anschluss von Rijeka an das Königreich Italien proklamierten. Obwohl die nationalliberale italienische Regierung auch selbst die Annexion der Adriastadt ansteuerte, musste sie auf diesen Plan wegen des massiven Drucks der westlichen Mächte verzichten. D’Annunzio und seine Anhänger, empört über die vermeintliche Nachgiebigkeit der Regierung Nitti bei den Verhandlungen mit dem SHS-Königreich, riefen im September 1920 einen unabhängigen Stadtstaat mit dem ‚Dichter-Soldaten‘ als Oberhaupt mit diktatorischen Befugnissen aus. Für die ‚Italienische Regentschaft von Carnaro‘, wie sich die selbsternannte Entität bezeichnete, wurde auch ein verfassungsähn‐ liches Dokument (Carta di Carnaro) entworfen, das eine politische und soziale Ordnung mit einer seltsamen Mischung von protofaschistischen, libertären und demokratischen Elementen postulierte, aber die Rechte der in der Stadt lebenden Kroaten und anderer Minderheiten ignorierte. Parallel wurden Verhandlungen zwischen Italien und dem SHS-Königreich geführt, die am 12. November 1920 mit der Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo abgeschlossen wurden, mit dem sich die beiden Seiten unter anderem auch für die Begründung eines Freistaates von Rijeka verpflichtet haben. Die Durchführung dieses Abkommens erfolgte einige Wochen später, zu Weihnachten 1920, als durch die Intervention regulärer italienischer Truppen der Herrschaft D’Annunzios in Rijeka ein Ende gesetzt wurde. Obwohl das frühere corpus separatum nun zu einem international anerkannten Stadtstaat geworden ist, ist die erwartete politische Stabilität nicht eingetreten. Mit den Wahlen vom April 1921 wurden die Autonomisten, unterstützt auch von vielen Kroaten, zur stärksten Partei im Freistaat; ihr Führer Riccardo Zanella blieb aber nur bis März 1922 an der Macht, als er, zusammen mit der gewählten Stadtregierung, durch die Faschisten zur Flucht nach Jugoslawien gezwungen wurde. In den 208 Marijan Bobinac 7 Vgl. PUPO 2018: 176. 8 Vgl. ebd.: 177. verbleibenden zwei Jahren der Unabhängigkeit wurde Rijeka von Annexionisten dominiert, jener politischen Gruppierung, die eng mit Mussolinis Faschisten ver‐ bunden war. Diese Machtkonstellation in Rijeka wurde noch zusätzlich nach dem Marsch auf Rom - durchgeführt nach dem Vorbild von D’Annunzios Impresa - im Oktober 1922 erhärtet, mit dem die Faschisten die politische Macht in Italien an sich gerissen haben. Mit dem Vertrag von Rom, der zwischen Mussolinis Italien und dem SHS-Königreich am 27. Januar 1924 unterzeichnet wurde, wurde Rijeka für die nächsten beiden Jahrzehnte an Italien angeschlossen, Sušak jedoch wurde als Teil des südslawischen Staates bestätigt. Rijeka begann damit das Schicksal anderer angeschlossener Territorien zu teilen, die allesamt jetzt zur Peripherie des italienischen Staates wurden: Sie wurden vom Regime zwar bevorzugt als Inszenierungsorte der faschistischen Gedächtniskultur benutzt, ansonsten aber, insbesondere in der ökonomischen Sphäre, blieben sie mar‐ ginal. Der Hafen von Rijeka, dessen Umschlagskapazität in den k.u.k.-Zeiten große Wachstumsraten verzeichnete, konnte in der Zwischenkriegszeit nicht einmal die Hälfte des früheren Umsatzes erreichen. Ähnlich erging es auch der lokalen Industrie, die sich erst am Vorabend des Zweiten Weltkriegs infolge der wachsenden Rüstungsproduktion zu erholen begann. Auf dem Gebiet der Kultur- und Bildungspolitik entschlossen sich faschistische Behörden - ausgehend von der Überlegenheit der lateinischen Zivilisation gegen‐ über der vermeintlich barbarischen slawischen Bevölkerung - für einen beschleu‐ nigten Assimilierungsprozess in den neuen Territorien, bei dessen Durchführung sie auch vor brutalen repressiven Mitteln nicht zurückschreckten. Die Italianisie‐ rungsmaßnahmen haben dazu geführt, dass die Anzahl der Kroaten in Rijeka im Vergleich zu habsburgischen Zeiten - wie die Volkszählung von 1939 ergab - um 3.000 zurückgegangen, während der Anteil der italienischen Bevölkerung in der gleichen Zeit um ca. 10.000 gewachsen ist. 7 Das Anliegen der Faschisten, aus Rijeka eine „città italianissima“ zu machen, hatte seinen Preis: Beseitigt wurden die alten Autonomierechte, die Mehrsprachigkeit verschwand von den Straßen, unterdrückt wurde all das, was nicht ins Bild einer monolithischen italienischen Umwelt passte. 8 Mussolinis expansionistische Politik setzte sich mit der Ausweitung des Welt‐ kriegs auf das Königreich Jugoslawien im April 1941 fort, wobei Italien nicht nur wei‐ tere territoriale Gewinne, unter anderem auch das Hinterland von Rijeka, erzielte, sondern - zusammen mit Hitlers Deutschland - die Geschicke des neuformierten kroatischen Quisling-Staates NDH von Anfang an bestimmte. Als Antwort auf die faschistische Gewaltpolitik entstand in allen jugoslawischen Ländern, so auch 209 Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien in der Kvarner-Region, eine starke Partisanenbewegung, die einen entschiedenen Widerstand gegen die Besatzungsmächte leistete und großen Rückhalt in der lokalen Bevölkerung genoss. Nach der italienischen Kapitulation im September 1943, die zu einem Teil auch auf starke Verluste im Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen zurückzuführen war, wurde Rijeka von der deutschen Wehrmacht besetzt: Die Stadt wurde damit zu einem der Zentren der neuformierten Opera‐ tionszone Adriatisches Küstenland, deren primäre Aufgaben die Unterbindung möglicher alliierter Landungsunternehmen und Bekämpfung der im Hinterland der Kvarner-Bucht wirkenden Partisaneneinheiten waren. Nachdem die Stadt und ihre Industrie- und Hafenanlagen große Schäden durch anglo-amerikanische Luftangriffe erlitten haben, wurde die städtische Infrastruktur und insbesondere der Hafen von deutschen Truppen bei ihrem Rückzug im Frühjahr 1945 größtenteils zerstört. Der Einmarsch der siegreichen Partisanenarmee am 3. Mai 1945 markierte den Anschluss der Stadt an das entstehende kommunistische Jugoslawien und dessen föderale Republik Kroatien, de jure-Eingliederung erfolgte mit dem Pariser Friedensabkommen vom 10. Februar 1947. Der Befreiung vom faschistischen Terror folgte allerdings keine Befriedung, im Gegenteil, gleich nach ihrer Installierung begann die neue Besatzungsmacht gewaltsame Repressalien gegen italienischsprachige Einwohner, die am Kriegs‐ ende um die 80 Prozent der Stadtbevölkerung stellten, durchzuführen. Von den Vergeltungsmaßnahmen waren allerdings nicht nur lokale Faschisten betroffen, genauso entschieden gingen jugoslawische kommunistische Behörden gegen An‐ hänger anderer politischer Optionen vor, darunter auch gegen Autonomisten, die sich in den neuen politischen Verhältnissen eine Wiederherstellung der früheren Stadtautonomie erhofften. Hinzu kam auch eine radikale, nach sowjetischem Muster vollzogene Veränderung der sozioökonomischen Lage, die die Mehrheit der italienischen Bevölkerung noch zusätzlich zur Übersiedlung nach Italien bewog. Parallel zur Massenemigration der Italiener, die bis zum Anfang der 1950er Jahre zu einem großen Teil abgeschlossen war, verlief die Rückkehr der während der faschistischen Zeit emigrierten Kroaten nach Rijeka, darüber hinaus auch eine intensive Ansiedlung mit der Bevölkerung aus anderen jugoslawischen Regionen. In der Stadt, die in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten einer intensiven Italianisierung ausgesetzt war, begann damit ein entgegengesetzter Prozess, in dessen Zuge sich Rijeka allmählich zu einer dominant kroatischen Stadt verwan‐ delte. Im Jahre 1948, als Sušak mit Rijeka zu einer administrativen Einheit vereinigt wurde, lebten in der Stadt 25.000 Italiener und 37.000 Kroaten, im Jahre 1953 fiel der italienische Bevölkerungsanteil auf 7.700 zurück, um 1981 sein historisches Minimum mit 1.900 zu erreichen. Gleichzeitig wuchs der Anteil der Kroaten und anderer jugoslawischer Nationen in der Stadtbevölkerung: Bei der letzten 210 Marijan Bobinac 9 Vgl. ebd.: 274-275. 10 Vgl. ebd.: 165. jugoslawischen Volkszählung 1991 wurden in Rijeka 117.000 Kroaten, 27.000 Serben, 7.000 ‚Jugoslawen‘ und 5.000 Muslime (Bosniaken) registriert. Diese Zahlen weisen darauf hin, dass Rijeka auch in den jugoslawischen Zeiten ein pluriethnisches Zentrum blieb - mit einem Drittel der Einwohner, die sich im nationalen Sinne anders als die mehrheitlichen Kroaten ausgesprochen haben. 9 Vor dem Hintergrund massiver demographischer Verschiebungen vollzogen sich starke Veränderungen auch in anderen Sphären des Stadtlebens. So wurde die wirtschaftliche und städtebauliche Stagnation, von der Rijeka während der italienischen Herrschaft gekennzeichnet war, in den jugoslawischen Zeiten, insbesondere seit den 1960er Jahren überwunden. Die rasante ökonomische und urbanistische Entwicklung dieser Periode kann nur mit jener vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Stadt unter ungarischer Verwaltung stand, verglichen werden. 10 Der Zerfall Jugoslawiens und die Ausrufung der unabhängigen Republik Kroatien brachte 1991 einen weiteren Einschnitt in die Stadtgeschichte, eine Zäsur, die - genauso wie in früheren Umbruchszeiten - mit tiefgreifenden Veränderungen nicht nur in der politischen und sozioökonomischen, sondern auch in der demographischen Sphäre, in Form der zusätzlichen Erhöhung des kroatischen Bevölkerungsanteils in der Stadt, verbunden war. Auffällig ist aber, dass die nationale Intoleranz, die das Leben neuer unabhängiger Republiken, so auch Kroatiens, charakterisierte, in Rijeka wenig Anklang fand. Die Stadt, die in der Vergangenheit oft die Bühne für die Austragung ethnopolitischer Konflikte war, bemüht sich in unserer Gegenwart um einen entgegengesetzten Weg. Dass zum multikulturellen Gepräge des heutigen Rijeka auch die Überreste jenes romanischen Einschlags, der früher in vielen ostadriatischen Städten prägend war, einen wichtigen Beitrag leisten, kann kaum zweifelhaft sein. Literatur BARTOV, Omer / WEITZ, Eric D. (hrsg.) (2013): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands. Bloomington: Indiana UP. CATTARUZZA, Marina (2014): L’Italia e la questione adriatica. Dibattiti parlamentari e la situazione internazionale (1918-1926). Bologna: Il mulino. ČULINOVIĆ, Ferdo (1953): Riječka država. Od Londonskog pakta i Danuncijade do Rapalla i aneksije Italiji. Zagreb: Školska knjiga. 211 Rijeka/ Fiume, eine Stadt zwischen Staaten und Ethnien EICHENBERG, Julia / NEWMAN, John Paul (2010): Introduction. Aftershocks: Violence in Dissolving Empires after the First World War. In: Contemporary European History, vol. 19, no. 3/ 2010, S. 183-194. 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The communities of Weitersfeld (Lower Austria) and Schaffa/ Šafov (South Moravia) play a paradigmatic role in this context. In the 17th century, a relocation of 32 Jewish families from Weitersfeld across the border to Schaffa/ Šafov, only 15 kilometres away, took place where they were under the protection of Count Maximilian von Starhemberg. Later in the 17th and 18th centuries, it is understandable that not only the Jewish merchants, but also the Christian nobles on both sides of the border were interested in continuing or resuming economic cooperation. In the course of the Tolerance Laws under Emperor Joseph II and the liberalisation under Emperor Franz Joseph I, a countermovement to the migrations of the 17th century began. Several Jewish families from Moravia seem to have settled more or less officially in the Waldviertel (Lower Austria) for longer periods of time since the 1820s. In fact, the Jews who had moved to northern Lower Austria since then came almost exclusively from southern Bohemia or Moravia. Finally, having hardly settled in Lower Austria, many Waldviertel Jews emigrated in the same or the next generation, first from the villages to the towns (e.g. from Röschitz to Eggenburg, from Pernegg to Waidhofen or from Röhrenbach and Frauenhofen to Horn) and then to Vienna. These voluntary or economically induced inner-Austrian migration flows were finally followed by flight attempts to Czechoslovakia after 1938. Keywords Moravia, Lower Austria, Jews, transregional studies, Jewish migration, Central Europe 1 Zur Geschichte der Juden und Jüdinnen diesseits und jenseits der Grenze siehe vor allem: GOLD 1929; STEHLÍK 2009; ČAPKOVÁ / KIEVAL 2020; LIND 2013; POLLEROSS 2019A; HAAS 2018; HÖFEL 2015ff. 2 Vgl. STAUDINGER 2005: 81. 3 Vgl. DAMM o. J.: 36-199. 4 Vgl. ebd.: 55, 77-78, 81, 84, 87, 91, 101, 111, 115, 118, 120, 122, 143-144, 158-159. Die grenzüberschreitenden Beziehungen der jüdischen Bevölkerung in Nieder‐ österreich und Mähren waren lange Zeit und an vielen Orten sehr rege. 1 Die Orte Weitersfeld und Schaffa/ Šafov spielen aber in diesem Zusammenhang eine paradigmatische Rolle. Weitersfeld bildete nämlich im 17. Jahrhundert mit über dreißig Familien nicht nur die zweitgrößte und eine der wohlhabenden Juden‐ gemeinden im heutigen Niederösterreich, sondern auch die einzige mit einem jüdischen Namen „Rochaw be-sade“ (= Weite im Feld). 2 Ihr hat Alfred Damm 2012 ein umfangreiches Buch gewidmet, das auch alle quellenmäßig erfassbaren Gemeindemitglieder auflistet. Die Grundherren von Weitersfeld, die Grafen von Hardegg, hatten schon um 1600 Geschäftsbeziehungen mit jüdischen Händlern gepflegt, und die ab 1617 im Markt nachweisbaren Juden könnten entweder aus Wien oder aus Mähren (Eibenschitz/ Ivančice) eingewandert sein. Trotz des allgemeinen Verbots des Erwerbes von Landwirtschaftsflächen durch Juden waren die jüdischen Bewohner von Weitersfeld offensichtlich auch Klein- und Nebenerwerbsbauern. Ihre hauptsächliche Lebensgrundlage bildete aber der Handel vorwiegend mit landwirtschaftlichen Gütern. 3 Dies gilt auch für Salomon Wurms/ Wurmbs, der 1650 gemeinsam mit seiner damals geehelichten Gattin Schenl das Halblehen Nr. 82 von Isaak Hirsch gekauft hat und im fortge‐ schrittenen Alter 1671 zum Judenrichter, also Vorstand, der jüdischen Gemeinde in Weitersfeld aufstieg. Am 11. Mai dieses Jahres verkaufte Wurmbs sein Haus in Weitersfeld um 26 Gulden an die Herrschaft bzw. an den Leinenweber Adam Elzanter und übersiedelte mit seinen Glaubensgenossen nach Schaffa/ Šafov. Dort dürfte er um 1674 verstorben sein. Der erstmals in einem Schutzbrief von 1662 aufscheinende Äntschl/ Aischl/ Anshil (Salomon) Wurmb(s) dürfte der Sohn von Salomon oder dessen jüngerer Bruder gewesen sein und erwarb 1665 ein Haus in Weitersfeld vom Ehepaar Moises Joseph und Gela. Er war auch im selben Wirtschaftszweig wie Salomon tätig und scheint ab 1674 als Händler von Schafen, Eisen, Leinwand und Leder auf. 4 Auswanderung Das vielfältige jüdische Leben im Waldviertel ging im Jahre 1671 jäh zu Ende, als Kaiser Leopold I. aus finanziellen Gründen und aufgrund der Inter‐ 216 Friedrich Polleroß 5 Vgl. STAUDINGER 2005: 314-325; Vgl. STAUDINGER 2006: 330-337. 6 Vgl. DAMM o. J.: 201-252. Siehe auch: Vgl. ANDRASCHEK-HOLZER 2014: 109-115. 7 Vgl. NAGAOKA 2014: 117-125. 8 Vgl. DAMM o. J.: 137-162; Vgl. HAAS 2016: 32. 9 Zur Biographie des Adeligen siehe: POLLEROSS 2010. 10 Vgl. St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, Schlossarchiv Ottenstein, Karton 266; vgl. POLLEROSS 2019B: 21-23. 11 Vgl. TEUFEL 1993A: 169-176; vgl. LAPPIN 1996: 57-69; vgl. RAUSCHER 2007: 2-8; Vgl. STEHLÍK 2009: 256-259. ventionen seiner spanischen Gattin Margarita Teresa dem Druck der Wiener Stadtregierung sowie der Inquisitionshofkommission nachgab und einen Aus‐ weisungsbefehl erließ. Demzufolge mussten alle Juden binnen weniger Monate das Erzherzogtum Österreich unter der Enns verlassen. Nicht zuletzt durch adelige Unterstützung fanden die Vertriebenen in vielen Fällen Aufnahme in den Nachbarregionen in Mähren, Böhmen und Ungarn. 5 Eine ebenso singuläre wie gut dokumentierte Initiative war die geschlossene Übersiedlung von 32 jüdischen Familien aus Weitersfeld über die Staatsgrenze hinweg ins nur 15 Kilometer entfernte Schaffa/ Šafov, wo sie unter dem Schutz des Grafen Maximilian von Starhemberg standen (Abb. 1). Das Fortleben der jü‐ dischen Gemeinde von Weitersfeld in Schaffa/ Šafov wurde ebenfalls von Alfred Damm grundlegend erforscht, 6 und der Friedhof dieser Grenzgemeinde birgt noch heute zahlreiche barocke Grabsteine. 7 Es ist verständlich, dass nicht nur die jüdischen Händler jenseits, sondern auch die christlichen Adeligen diesseits der Grenze an einer Fortführung bzw. Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Kooperation interessiert waren. Dies gilt für die Grafen von Saint-Julien in Riegersburg ebenso wie für die Grafen von Hoyos in Horn, 8 aber auch für den mit den letztgenannten verschwägerten Grafen Leopold Joseph von Lamberg, den Besitzer der Herrschaften Ottenstein, Rastenberg, Drosendorf und Waidhofen an der Thaya. 9 Im Jahre 1692 schloss sein Verwalter Lorenz Vorster einen drei‐ jährigen Vertrag über die Lieferung von Schafwolle mit dem der althannschen Herrschaft Frain/ Vranov nad Dyjí untertänigen und im Markt Schaffa/ Šafov ansässigen jüdischen Händler Äntschl Salomon Wuermbs. Dem am 24. April im Schloss Drosendorf von beiden Parteien unterzeichneten und besiegelten Ver‐ trag (Abb. 2) zufolge sollte die in den lambergischen Herrschaften Drosendorf, Ottenstein und Rastenfeld zweimal jährlich anfallende Schafwolle nach Mähren geliefert werden. Der Käufer sollte für den Zoll und die Verpackung aufkommen, während der Verkäufer die Reinigungs- und Transportkosten übernehmen musste. 10 Die Auswanderung der Waldviertler Juden ging aber über diesen ‚kleinen Grenzverkehr‘ weit hinaus. 11 So wanderten nach 1671 die jüdischen Familien aus 217 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 12 Vgl. TEUFEL 1993B: 203-214. 13 Zur politischen Entwicklung bzw. Gesetzgebung siehe: Vgl. LIND 2006: 421-432; vgl. LIND 2013: 10-35. 14 Vgl. HRUSCHKA 1978: Anhang 76. 15 FÜHRER / HITZ 1996: 305. 16 Vgl. GASPAR 1996: 163. 17 Vgl. HRUSCHKA 1978: 145-168; vgl. MOLL 1996: 344-346. 18 Vgl. TEUFEL 1995: 121-126; vgl. LIND 2013: 18-25; vgl. BURGER 2014: 80-82 („Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien“). 19 Vgl. HRUSCHKA 1978: 168-173. Zu den Herkunftsorten siehe auch: Vgl. HANAK 2002; VESELSKÁ / VRBKOVÁ 2008. Waidhofen nicht nur in die benachbarten mährischen Gemeinden Piesling/ Pí‐ sečné, Jamnitz/ Jemnice und Schaffa/ Šafov, sondern auch nach Prag aus, 12 und einige der reichsten Juden aus Langenlois wurden sogar zu den Gründern der bis heute bestehenden jüdischen Gemeinde in Berlin. Einwanderung Im Zuge der Toleranzgesetze unter Kaiser Joseph II. und der Liberalisierung unter Kaiser Franz Joseph I. setzte eine Gegenbewegung zu den Wanderungen des 17. Jahrhunderts ein. Da das Niederlassungsverbot in Niederösterreich bis 1867 galt, waren den mährischen ‚Handelsjuden‘ auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur kurze Aufenthalte zu den Markttagen in Städten wie Krems, Zwettl oder Horn gestattet. 13 So verfügten etwa 1833 ein Leopold Fischer und sein Sohn David über tageweise Aufenthaltsgenehmigungen in Krems zu Handelszwecken. 14 Der Weg von Piesling nach Waidhofen bekam sogar den Namen „Judensteig“ 15 . Und da die jüdischen Häuser in Schaffa/ Šafov wie im Ghetto von einer Mauer umgeben waren, sagte man um 1900 „Ich geh‘ über die Mauer“, wenn jemand ins Waldviertel reiste. 16 Tatsächlich scheinen sich aber seit den 1820er Jahren einige Familien mehr oder weniger offiziell im Waldviertel über längere Zeiträume nieder‐ gelassen zu haben. 17 Die seit damals ins nördliche Niederösterreich übersie‐ delten Juden kamen fast ausschließlich aus Südböhmen oder Mähren. 18 So wanderten etwa die Kremser Familien Auspitz, Blau, Kohn, Schwarz und Wengraf aus Nikolsburg/ Mikulov, Friedmann, Schaffranek und Weininger aus Ungarisch Hradisch/ Uherské Hradiště, Hirsch aus Mißlitz/ Miroslav, Karpen aus Pohrlitz/ Pohořelice, Singer aus Piesling, Schreiber aus Trebitsch/ Třebíč und Zeilinger aus Altstadt/ Staré Mĕsto an die Donau, während die Familien Fischer, Schick und Schlesinger aus Schaffa/ Šafov gekommen waren. 19 Von den 218 Friedrich Polleroß 20 Vgl. ZEINDL 2008: 13-14. 21 Zur jüngeren Geschichte von Schaffa/ Šafov siehe: HAVLIČEK / BRANDTNER 2001. 22 Vgl. DAMM 2014: 89-108. Zum generellen Zuzug von Tschechen nach Niederösterreich siehe: Vgl. VACULIÍK 1993: 325-336. 23 Vgl. GASPAR 1996: 163, 168-169, 171,175; vgl. MOLL 1996: 351. 24 Vgl. STEINER 2019: 406. 25 Vgl. RABL 1996: 218-219; vgl. ZEINDL 2008: 13. 26 Vgl. POLLEROSS 2019B: 462-466; vgl. BIEGLER / POLLEROSS 2019: 608-610. Mitgliedern der Horner Kultusgemeinde stammten 95 Personen aus Mähren, 35 aus Böhmen und allein 53 aus Schaffa/ Šafov. 20 Die Entwicklung der Gemeinde Schaffa/ Šafov ist auch in diesem Falle besonders aussagekräftig. 21 Aufgrund der Grenznähe stieg dort die jüdische Bewohnerschaft von 614 im Jahre 1830 über 677 1848 auf 913 im Jahr 1860 an. Nach der Einführung des Staatsgrundgesetzes von 1867 sank die Zahl der Einwohner von über 500 im Jahre 1880 auf unter hundert im Jahre 1930. 22 Zu den ersten jüdischen Bewohnern aus Schaffa/ Šafov im Wald- und Wein‐ viertel gehörten: • Rückkehr nach Weitersfeld: Leopold Sagl (*1826), Edmund Salomon Gutt‐ mann (*1861), Daniel Hauser (*1844). • Horn: Moses Pollak (1839-1874), Seligmann Schlesinger (*1849), Pferde‐ händler Josef Fleischmann (*1898). • Sallapulka: Abraham Schnürmacher (*1850). • Zwettl: Josef Meyer (*1853). • Eggenburg: David Fischer (1840-1919), Kaufmann Sigmund Fürnberg (*1861), Leopold Kellner (*1841), Lederhändler Sigmund Schick (*1866). 23 • Langenlois: Leopold Fischer (*1870 Roselsdorf), Adolf Hauser (*1849), Sieg‐ fried Hirsch (*1884 Niederfladnitz) 24 . • In Retz gab es 1880 mindestens sieben Familien aus Schaffa/ Šafov: Mehl‐ händler Zacharias Scheuer (*1843), Lehrer Mosis/ Moritz Hirsch (1843-1913, Abb. 3), Lederhändler Lazar Spitz (*1832), Weinhändler Hermann Hauser (*1825), Kaufmann Julius Kurz (*1855), Lederhändler Josef Kurz (*1822), Fleischhauer Julius Pollak (*1853). 25 Nur eine Zwischenstation bildete Schaffa/ Šafov hingegen für den aus Böhmen stammenden Simon Biegler auf dem Weg nach Neupölla. Zumindest die Kinder aus der ersten Ehe wurden noch in Schaffa/ Šafov geboren bzw. richtiger gesagt bis 1919 in den dortigen Matriken registriert, nämlich Leopold (*1856), Elise (*1862), David (*1863) und Eva Fanni (*1864). Aber auch der jüngste Sohn Alois (*1875 in Neupölla) war bis 1919 nach Schaffa/ Šafov zuständig, seine Gattin und Stieftochter hingegen nach Duben/ Dubné bei Budweis (Abb. 4). 26 219 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 27 Vgl. HÖSLINGER 1993: 413-428; vgl. GARSCHA 1995: 301-304; CAPKOVÁ / FRANKL 2012. 28 Vgl. GASPAR 1996: 168-169. 29 Zum Friedhof in Horn siehe: RABL 1990. 30 Vgl. STEINER 2019: 411-412. Kaum in Niederösterreich sesshaft geworden, kam es bei vielen Waldviertler Juden noch in derselben oder in der nächsten Generation zu einer wirtschaftlich bedingten Abwanderung zunächst von den Dörfern in die Städte (z. B. von Röschitz nach Eggenburg, von Pernegg nach Waidhofen oder von Röhrenbach sowie Frauenhofen nach Horn) und dann nach Wien. Diesen freiwilligen oder ökonomisch bedingten innerösterreichischen Migrationsströmen folgte schließlich nach 1938 mehrfach die Flucht in die Tschechoslowakei. 27 Zum Abschluss seien einige der Waldviertler Familien aus Schaffa/ Šafov näher vorgestellt. Fischer David Fischer (geb. am 12. März 1840 in Schaffa/ Šafov, gest. am 18. September 1919) und seine 1841 in Piesling geborene Gattin Charlotte Kraus (gest. 1934) lebten seit 1873 in Eggenburg und betrieben dort eine Lederhandlung. 28 Wäh‐ rend ihre jung verstorbene Tochter Johanna (1873-1887) noch auf dem Friedhof in Schaffa/ Šafov beerdigt wurde (Abb. 5), ruhen die Eltern bereits auf dem jüdischen Friedhof in Horn (Abb. 6). 29 Die 1869 bzw. 1870 - sozusagen auf halbem Weg - in Roselsdorf geborenen Söhne Samuel und Leopold Fischer waren aber auch später noch nach Schaffa/ Šafov zuständig. Samuel, der 1905 Ida Schweinburg aus Nikolsburg/ Mikulov geheiratet hatte, starb am Ende des I. Weltkrieges in einem Wiener Militärspital, seine Witwe wurde ebenso wie zwei ihrer Kinder von den Nazis ermordet, ihre Tochter Frieda konnte 1941 nach London emigrieren. David und Charlotte hatten dann in Eggenburg zwei weitere Kinder: Heinrich (geb. am 19. Februar 1878, gest. 14. September 1937), dem seine Gattin Berta Stein die Söhne Egon (geb. am 4. April 1911) und Ernst (geb. am 10. April 1922) geboren hat. Die Witwe und drei Kinder konnten nach Amerika emigrieren. Leopold übersiedelte 1896 von Eggenburg nach Langenlois und wohnte spätestens seit 1900 in der Kallbrunnergasse 6, wo er ein Ledergeschäft führte. Heimatberechtigt in Langenlois war er seit 1913. Das Ehepaar musste das Haus 1938 verkaufen, konnte aber im März 1941 aus Wien über Lissabon nach New York auswandern. Die beiden Kinder überlebten ebenfalls. 30 220 Friedrich Polleroß 31 Vgl. GASPAR 1996: 169-170; vgl. LINSBAUER 2006: 542-543. 32 KALT 2002. 33 Vgl. ZEINDL 2008: 99-101. Der Schriftsteller und KP-Funktionär Louis Alois Moritz Fürnberg (1909 Iglau - 1957 Weimar) war der Sohn von Jakob Fürnberg (1876 Schaffa - 1942 Maly Trostinec). Fürnberg Die am 15. Februar 1834 in Schaffa/ Šafov geborene Betty Fürnberg starb am 12. Dezember 1918 in Poigen bei ihrer Tochter Katharina, verm. Gratzinger (geb. am 12. Oktober 1864 in Schaffa/ Šafov). Die am 12. August 1875 in Schaffa/ Šafov geborene und am 29. Jänner 1916 in Poigen verstorbene Adeline war wohl eine weitere Schwester. Sigmund Fürnberg (geb. 1861 in Schaffa/ Šafov, gest. um 1905) und seine Gattin Anna (geb. 1866 in Ungarn) übernahmen um 1900 die Greißlerei der Familie Herzog im benachbarten Brunn an der Wild. 1926 übersiedelten die Witwe, Tochter Rosa und die Söhne Siegfried sowie Moritz nach Eggenburg, wo sie ein Textilgeschäft betrieben. Außerdem wurden Nähmaschinen, Fahrräder und Radios angeboten (Abb. 7). 31 Rosa wurde 1942 in Maly Trostinec ermordet, die Brüder konnten nach Bolivien emigrieren, aber Moritz kehrte 1949 nach Eggenburg zurück. Parallel dazu gab es um 1900 eine zweite Familie Fürnberg in Eggenburg. Das aus Schaffa/ Šafov stammende Ehepaar Hermann und Leny Fürnberg betrieb zwischen 1874 und 1881 in Horn, Roselsdorf und Stockern einen Gemischtwa‐ renhandel. Ihr am 8. Dezember 1871 noch in Mähren geborener Sohn Jacob war ab 1897 in Eggenburg als Goldarbeiter tätig. Der 1902 in Eggenburg geborene Friedel Fürnberg fungierte von 1932 bis 1971 als Sekretär im Zentralkomitee der KPÖ (Abb. 8). Er emigrierte in die Sowjetunion und kehrte nach dem Krieg nach Österreich zurück. Er verstarb 1987 in Moskau. 32 Der 1831 in Schaffa/ Šafov geborene und 1907 in Kainreith verstorbene Josef Fürnberg betrieb mit seiner Gattin Adeline schon vor 1880 eine Gemischtwa‐ renhandlung in Kainreith, die um 1909 an den Sohn Heinrich (geb. am 23. August 1862 in Schaffa/ Šafov) überging. Von 1927 bis 1938 führte Richard Fürnberg das Geschäft in dritter Generation. Der am 27. Mai 1893 in Klein Meiseldorf geborene Richard wurde am 20. Oktober 1939 nach Nitra deportiert, seine Gattin Käthe, geb. Kolb (geb. am 7. April 1900 in Gaweinstal) und der Sohn Kurt (geb. am 5. Oktober 1928 in Kainreith) kamen am 15. Mai 1942 nach Izbica. 33 221 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 34 Vgl. POLLEROSS 2019D: 65-72. 35 Vgl. DAMM o. J.: 146. 36 Vgl. ZEINDL 2008: 177-178. 37 Vgl. STARL 2005: 166; vgl. ZEINDL 2008: 83-84; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ludwig _Gutmann. 38 Vgl. ZEINDL 2008: Nr. 159. 39 Vgl. ebd.: Nr. 160. 40 Vgl. ebd.: Nr. 162. Guttmann 34 Bei der Familie Guttmann handelte es sich um eine jener alteingesessenen Familien, die bereits im 17. Jahrhundert in Weitersfeld lebten und nach der Vertreibung aus Niederösterreich 1671 mit der ganzen Judengemeinde nach Schaffa/ Šafov übersiedelten 35 und dann sogar nach Weitersfeld zurückkamen. Es scheint zumindest drei Familienzweige, entweder Brüder oder Cousins, im Waldviertel gegeben zu haben: Der Gemischtwarenhändler und „Mohel“ (= Beschneider) Moses hatte mit seiner Ehefrau Lisi in Horn mindestens sechs Kinder 36 ; Der 1869 in Horn geborene Ludwig Gut(t)mann hat offensichtlich die Stadt gemeinsam mit seinen Eltern 1896 verlassen. 1903 wurde er Mitarbeiter im Fotoatelier von Nikolaus Stockmann in Wien IX und 1904 Mitinhaber des Fotogeschäftes in der Währinger Straße 18. Bis 1918 entwickelte er sich zum wichtigsten Fotografen der Wiener Privattheater, die auf die leichte Muse spezialisiert waren. Spätestens 1925 eröffnete Gutmann ein Fotoatelier in seiner Heimatstadt, nämlich in der heutigen Thurnhofgasse 36 (Abb. 9). 1938/ 39 wurden beide Ateliers Gutmanns ‚arisiert‘, der Fotograf 1942 nach Theresien‐ stadt deportiert und 1943 dort ermordet. 37 Seine ebenfalls in Horn geborenen Geschwister Herman und Hermine Guttmann wurden nach Izbica deportiert und dort ermordet (DÖW-Liste). David Gut(t)mann und seine Gattin Leni schenkten mindestens zwei Kindern im Waldviertel das Leben: Siegfried (geb. 1880 in Goggitsch 38 ) und Sigmund (geb. 1878 in Goggitsch 39 ). Edmund Salomon Guttmann (geb. 1861 in Schaffa/ Šafov, gest. am 15.5.1903 in Weitersfeld) 40 war mit Anna Sagl verheiratet. Er war in Wien zunächst als Bäcker sowie später als Straßenbahner tätig und starb an einer Lungenkrankheit. Sein Sohn Richard Guttmann absolvierte 1915-18 seinen Kriegsdienst und versah 1922-23 Dienst beim Österreichischen Bundesheer. Ab 1926 meldete er in Weitersfeld Nr. 156 einen Handel an und in diesem Jahr trat er auch zum katholischen Glauben über, da er damals die aus Litschau stammende Christin Hedwig Johann geheiratet hat. Guttmann erhielt noch am 5. Mai 1938 eine „Wandergewerbebewilligung“ zum „Einsammeln von Hadern und 222 Friedrich Polleroß 41 Ebd.: 1035. 42 Vgl. POLLEROSS 2019C: 67-69. 43 Karl wurde gemeinsam mit seiner Ehefrau (? ) Adelheid Guttmann am 20.5.1942 deportiert: Vgl. BARTON 2012: 84. 44 Vgl. RATHKOLB 2019: 644. 45 DÖW= Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: https: / / www.doew .at/ erinnern/ personendatenbanken/ shoah-opfer- 46 Helene wurde gemeinsam mit ihren vermutlichen Verwandten Malvine, Moritz und Stella Guttmann am 6. Mai 1942 deportiert: Vgl. BARTON 2012: 66. 47 Vgl. POLLEROSS 1996: 141. 48 Vgl. ebd.: 142. 49 Vgl. ebd.: 245. Fellen“ auf ein Jahr 41 (Abb. 10), wurde jedoch 1938 als Jude aus der Wehrmacht ausgeschlossen. 42 Zur engeren oder weiteren Verwandtschaft zählten aber wohl auch: • Karl Guttmann (geb. 1878 in Schaffa/ Šafov): 1942 in Maly Trostinec er‐ mordet; 43 • Fritz Guttmann (geb. 1896 in Litschau): Elektriker und Kommunist, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg, wurde in Frankreich verhaftet und 1943 depor‐ tiert, 1944 im KZ Auschwitz ermordet; 44 • Gisela Guttmann (geb. 1905 in Göpfritzschlag): wurde 1942 aus Wien nach Izbica deportiert (DÖW-Liste 45 ); • Hedwig Guttmann (geb. 1892 in Dobersberg): wurde 1942 aus Prag nach Theresienstadt deportiert und in Treblinka ermordet (DÖW-Liste); • Helene Guttmann (geb. 1897 in Göpfritzschlag): wurde 1942 in Maly Tros‐ tinec ermordet; 46 • Paula Guttmann: wurde auf dem jüdischen Friedhof in Waidhofen an der Thaya begraben; 47 • Therese Guttmann: wurde auf dem jüdischen Friedhof in Waidhofen an der Thaya begraben; 48 • Samuel Guttmann: gab 1890 wegen antisemitischer Anfeindungen sein Geschäft in Drosendorf auf. 49 Hauser Die Familie Hauser war ebenso wie die Guttmanns und Sagls mit mehreren Zweigen in Niederösterreich vertreten und gehörte wohl auch zu den Rück‐ wanderern in Weitersfeld. Der 1844 in Schaffa/ Šafov geborene Daniel Hauser betrieb vermutlich seit ungefähr 1870 in Weitersfeld einen Handel mit Häuten sowie Unschlitt und starb am 29. September 1914. Er war mit der am 17. 223 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 50 Vgl. ZEINDL 2008: 179-183. 51 Vgl. STEINER 2019: 416-417. 52 Vgl. ZEINDL 2008: 120-121. 53 Vgl. Holocaust.cz: https: / / www.holocaust.cz/ de/ opferdatenbank/ opfer/ 94398-klotyldahirschenhauserova/ Dezember in Schaffa/ Šafov geborenen Johanna Herzog vermählt, die am 27. September 1904 verstorben ist. Das Ehepaar hatte mehrere Kinder: Heinrich (geb. am 23. November 1879 in Weitersfeld und ebenda am 15. November 1884 verstorben; auf dem Friedhof in Schaffa/ Šafov begraben); Max (geb. am 17. März 1877 in Weitersfeld); Julius (geb. am 26. September 1875 in Weitersfeld) und Moritz (geb. am 10. März 1882 in Weitersfeld; mit seiner Frau Ida, geb. Meyer 1938 nach Wien abgemeldet). Der Sohn Hermann (geb. am 2. März 1874 in Weitersfeld) war mit Regine Schimmerlik aus Ziersdorf verheiratet und betrieb einen Gemischtwaren- und Pferdehandel in Weitersfeld. Das Ehepaar wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert; Regine starb dort am 10. Juni 1944, ihr Gatte wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Von den drei Kindern starb Cäcilie bald nach der Geburt 1894, Hermann führte den Landesproduktenhandel bis 1938, während über die 1900 bzw. 1905 in Weitersfeld geborenen Caroline und Arnold nichts bekannt ist. 50 Adolf Hauser wurde 1849 in Schaffa/ Šafov Nr. 100 als Sohn von Philipp Hauser und Rebecca Mandl geboren. Er heiratete in Hadersdorf 1880 Kathi Lustig (geb. Neuhaus), und dürfte um 1912 in Langenlois ansässig geworden sein, wo er 1926 verstorben ist. Das Ehepaar wurde auf dem jüdischen Friedhof in Krems begraben. 51 Der am 17. November 1864 in Schaffa/ Šafov geborene und am 21. Mai 1936 in Weitersfeld verstorbene Leopold Hauser wurde auf dem Friedhof in Schaffa/ Šafov begraben (Abb. 11). Mit seiner 1871 schon in Weitersfeld geborenen Ehefrau und Cousine (? ) Theresia betrieb er in Weitersfeld Nr. 132 einen Ge‐ mischtwaren- und Pferdehandel, der bis 1938 vom Sohn Ludwig weitergeführt wurde. Theresia, die auch ein Haus in Schaffa/ Šafov Nr. 6 besaß, musste 1938 nach Wien übersiedeln. Sohn, Schwiegertochter Elisabeth und Enkeltochter Ilse wurden 1942 in Wlodowa bzw. Sobibor ermordet. 52 Die am 4. August 1892 geborene Tochter Klothilde Hauser war mit dem am 9. Oktober 1892 in Schaffa/ Šafov geborenen Bernhard Hirschenhauser verheiratet und betrieb in Weitersfeld Nr. 194 ein Textilgeschäft. Das Ehepaar flüchtete 1938 nach Prag (Abb. 12) und wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und dann in Izbica ermordet. 53 Die am 5. Juni 1905 in Schaffa/ Šafov geborene Schwester Theresia 224 Friedrich Polleroß 54 Vgl. Holocaust.cz: https: / / www.holocaust.cz/ de/ opferdatenbank/ opfer/ 94399-terezie-h irschenhauserova/ 55 Vgl. STEINER 2019: 417. 56 Vgl. ANDRÄ 2019: 151-152; vgl. BARTON 2015: 208, 427. 57 Vgl. STEINER 2019: 438-439. Hirschenhauser wurde ebenfalls 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und später in Riga ermordet. 54 Ella Hauser (geb. 1908 in Wien), eine Enkelin von Adolf und Kathi Hauser, wurde im Jahr 1914 von Klara Hauser in Schaffa/ Šafov adoptiert und besuchte die (jüdische) Volksschule des Ortes von 1914/ 15 bis 1919/ 20. 1920 übersiedelte sie nach Langenlois, wo sie bis 1922 die Schule besuchte. Sie wohnte bei Familie Erber, einem Kaufmann in Haindorf. 55 Herzog Leopold Herzog aus Jamnitz/ Jemnice (1853-1930) und seine 1847 in Schaffa/ Šafov geborene Gattin Mina - vermutlich eine Fürnberg (gest. 1928) - betrieben seit 1888 in Brunn an der Wild und seit 1898 in Messern eine Greißlerei. Das Ehepaar wurde auf dem jüdischen Friedhof in Horn bestattet (Abb. 13). Von den vier Kindern des Ehepaares starb Maximilian 1909 im Waldviertel, die Töchter Rosalia und Anna wurden in Treblinka bzw. Auschwitz ermordet. Die am 22. September 1888 in Brunn geborene Anna Herzog heiratete 1926 den am 26. Jänner 1896 in Schaffa/ Šafov geborenen Heinrich Hirschenhauser, mit dem sie in Messern einen Rohproduktenhandel betrieb. Das Ehepaar sowie ihre Kinder Otto (*1929) und Fritz (*1937) wurden am 9. Oktober 1942 in Maly Trostinec ermordet. 56 Hirsch Siegfried Hirsch wurde 1884 in Niederfladnitz (Bezirk Hollabrunn) geboren, war aber nach Schaffa/ Šafov zuständig, von wo seine Eltern Hermann und Johanna/ Anna stammen. Seit etwa 1870 lebte die Familie in Niederfladnitz und betrieb dort ein Geschäft, das später der Sohn Max übernahm. Die Eltern zogen dann nach Wien und wurden von den Kindern erhalten. Siegfried Hirsch heiratete vor 1921 die 1895 in Lengenfeld geborene Klementine Kohout und betrieb in Lengenfeld Nr. 155 eine Gemischtwarenhandlung. Das Ehepaar Hirsch und ihr 1928 geborener Sohn Ernst wollten so schnell wie möglich auswandern, verloren aber ihre beiden Häuser und wurden 1941 nach Riga deportiert. 57 225 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 58 Vgl. GASPAR 1996: 171-173. 59 Vgl. BARTON 2015: 139-140. 60 Vgl. ZEINDL 2008: 118, 186-188. 61 Vgl. IMMERVOLL 2019: 319. Kellner Der am 14. August 1841 in Schaffa/ Šafov geborene und am 12. November 1926 in Eggenburg verstorbene Lepold Kellner und seine Gattin Katharina Pisker übersiedelten um 1870 nach Röschitz, wo am 2. November 1875 ihr Sohn Adolf und am 14. Mai 1889 der Sohn Alois geboren wurden. Ersterer wohnte seit 1903 in Eggenburg, Hornerstraße 18/ 187 und war Pferdehändler. Vater und Sohn ruhen auf dem jüdischen Friedhof in Horn, Katharina ist verschollen, ihre beiden Kinder überlebten. Die am 18. Juli 1878 in Röschitz geborene Schwester Marie Kellner ist bereits am 22. Februar 1912 in Röschitz verstorben. 58 Leopolds Bruder oder Cousin Simon betrieb mit seiner Gattin Rosa in Stoitzendorf von etwa 1875 bis 1900 einen Rohproduktenhandel. Dort kamen in der Folge zwölf Kinder zur Welt: Julius (*1875), Adeline (*1877), Leopold (*1878), Siegmund (*1879), Sofie (*1881), Bernhard (*1882), Josef (*1883), Ludwig und Heinrich (*1885), Emil (*1886), Gisela (*1889) und Richard (*1894). Während vier der Kinder jung verstarben, wurden Siegmund und Sofie 1942 in Riga ermordet, Emil und seine Gattin Pauline am 15. Juni 1942 in Maly Trostinec. 59 Julius und Richard überlebten in Österreich. 60 Kollmann Der am 4. April 1867 in Schaffa/ Šafov geborene Adolf Kollmann betrieb seit etwa 1900 auf dem Hauptplatz in Heidenreichstein zunächst eine Greißlerei und bot später auch Radios, Nähmaschinen sowie Fahrräder an (Abb. 14). Er starb am 21. Dezember 1942 im Ghetto Theresienstadt (Abb. 15). Sein Sohn Egon überlebte in Wien, der zweite Sohn Hubert konnte nach Frankreich flüchten, wurde jedoch am 11. Jänner 1943 in Auschwitz ermordet. 61 Kohn Die 1874 in Schaffa/ Šafov geborene Regina Kohn war mit dem 1876 in Zwettl geborenen Gustav Grünwald verheiratet und betrieb in der Landstraße 36 eine Gemischtwarenhandlung und ab 1914 einen Altwarenhandel am Neuen Markt 5. Als Witwe führte Regina Grünwald das Geschäft ab 1928 alleine, 226 Friedrich Polleroß 62 Vgl. MOLL 2009: 30-85, 36, 54. 63 Vgl. Holocaust.cz: https: / / www.holocaust.cz/ databaze-obeti/ obet/ 54364-regina-lenobel / 64 Vgl. Holocaust.cz: https: / / www.holocaust.cz/ databaze-obeti/ obet/ 53506-markus-kohn/ 65 Vgl. ZEINDL 2008: 122, 178, 189, 190. 66 Vgl. MOLL 2009: 37. 67 Vgl. HAAS 2019: 180-181. 68 Vgl. POLLEROSS 2019D: 65-72. 69 Vgl. ZEINDL 2008: Nr. 415. 70 Vgl. ebd.: Nr. 411. 71 Vgl. ebd.: Nr. 172. Anna Guttmann wurde auf dem jüdischen Friedhof in Horn beigesetzt. 1932 übersiedelte sie nach Wien. 62 Sie verstarb 1943 im Ghetto Theresienstadt (Abb. 16). 63 Reginas am 29. Dezember 1867 in Schaffa/ Šafov geborener Cousin (? ) Markus Kohn starb am 28. März 1942 ebenfalls im Ghetto Theresienstadt (Abb. 17). 64 Mit seiner am 28. Juni 1869 in Schaffa/ Šafov geborenen Gattin Rosa, geb. Kollmann, hatte er in Geras bzw. Weitersfeld einen Gemischtwarenhandel betrieben. Kohns Tochter Pauline beging 1938 in Geras mit ihrem Ehemann Rudolf Guttmann und der Tochter Hilde Selbstmord. 65 Meyer Der 1853 in Schaffa/ Šafov geborene Josef Meyer war seit 1883 in Zwettl als Lederhändler tätig. 1887 erwarb er das Haus Landstraße Nr. 21, übersiedelte jedoch 1905 mit seiner zweiten Ehefrau nach Znaim. 66 Sein jüngerer Bruder oder Sohn Dr. Leopold Meyer amtierte von 1904 bis 1922 als Gemeindearzt in Gars und starb 1924 in Wien. Er war mit der am 20. Dezember 1875 in Schaffa/ Šafov geborenen Bertha Much vermählt, die 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Ihr Bruder Dr. Alois Much hatte den Posten in Gars seit 1898 innegehabt und bei seiner Pensionierung 1904 an seinen Schwager übergeben. 67 Sagl 68 Das war ebenfalls eine weitverzweigte Familie, die möglicherweise aus Weiter‐ sfeld nach Schaffa/ Šafov und dann wieder zurück gewandert ist. Ein Familien‐ foto (Abb. 18) zeigt Simon Sagl (geb. 1827 in Schaffa/ Šafov, gest. am 29. April 1905 in Weitersfeld 69 ), seinen Sohn Adolf Abraham Sagl (geb. 1861 in Schaffa/ Šafov, gest. am 12. März 1931 in Weitersfeld 70 ) und seine Tochter Anna Netti, vermählte Guttmann (geb. am 20. Jänner 1858 in Schaffa/ Šafov, gest. am 8. Juli 1930 in Weitersfeld 71 ) sowie deren schon genannten Sohn Richard Guttmann. 227 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 72 Vgl. ebd.: 121. 73 Vgl. ebd.: Nr. 413. 74 Vgl. ebd.: Nr. 412. 75 Vgl. ebd.: Nr. 414. 76 Vgl. EYBEL [et al.] 2003: 20, 85, 136. 77 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I3639&tree=Hohenems. 78 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I2285&tree=Hohenems. Simon Sagl betrieb von 1889 bis 1901 in Goggitsch einen Handel mit Roh‐ produkten sowie vermutlich auch mit Gemischtwaren und übersiedelte dann nach Weitersfeld Nr. 40. Das Geschäft wurde von seinem Sohn Adolf Abraham weitergeführt, der 1891 eine Gemischtwarenhandlung in Geras und 1894 in Trautmannsdorf betrieben hatte. 1913 wurde das Gewerbe für den Handel mit Häuten, Wolle und Alteisen angemeldet. 72 Der mit Maria Hauser (geb. 1828 in Schaffa/ Šafov, gest. am 18. Dezember 1902 in Weitersfeld 73 ) verheiratete Leopold Sagl (geb. 1826 in Schaffa/ Šafov, gest. am 6. Februar 1903 in Weitersfeld 74 ) und Samuel Sagl (geb.am 15. Mai 1842 in Schaffa/ Šafov, gest. am 15. Dezember 1899 in Roggendorf 75 ) waren wahrscheinlich Brüder von Simon. Leopold betrieb in Weitersfeld Nr. 187 seit 1889 einen Produktenhandel. Simon, Adolf Abraham, Leopold und Maria Sagl sowie Edmund Salomon Guttmann wurden auf dem jüdischen Friedhof ihrer Herkunftsgemeinde Schaffa/ Šafov bestattet. Zur näheren oder weiteren Verwandtschaft gehörten auch: • Betty Sagl (geb. in Schaffa/ Šafov): 1903-1938 in Mistelbach wohnhaft; 76 • Josephine Sagl (geb. in Schaffa/ Šafov): 1903-1919 in Mistelbach wohnhaft; • Hermann Leo Sagl: ab 1903 in Mistelbach wohnhaft und im I. Weltkrieg gefallen; • Leopold Sagl (geb. in Schaffa/ Šafov): ab 1903 in Mistelbach wohnhaft; • Max Sagl (geb. in Schaffa/ Šafov): ab 1903 in Mistelbach wohnhaft und im I. Weltkrieg gefallen; • Oskar Sagel (geb. am 15. April 1907 in Mistelbach): 1942 über Drancy nach Auschwitz deportiert (DÖW-Liste); • Walter Sagel (geb. am 12. Mai 1906 in Mistelbach): 1942 über Drancy nach Auschwitz deportiert (DÖW-Liste); • Hermann Sagel (geb. am 16. Mai 1875 in Schaffa/ Šafov) wanderte 1899 über Wien nach Innsbruck aus und zog 1939 zu seiner Tochter nach Mailand; 77 • Hermanns Tochter Ida Sagel (geb. am 27. März 1903 in Innsbruck), vermählte Fabiani, emigrierte 1938 nach Mailand; 78 228 Friedrich Polleroß 79 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I3637&tree=Hohenems 80 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I3640&tree=Hohenems 81 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I11215&tree=Hohenems 82 Vgl. Hohenemser Genealogie: http: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php ? personID=I3637&tree=Hohenems 83 Vgl. GASPAR 1996: 175-178; vgl. LINSBAUER 2006: 534-536; vgl. GASPAR / PIELER 2019: 171-174. • Idas Bruder Fritz Sagel (geb. am 20. November 1904 in Innsbruck) emigrierte 1938 nach Südamerika; 79 • Hermanns Sohn Josef Gutmann Sagel (geb. am 18. März 1909 in Innsbruck) emigrierte 1938 ebenfalls nach Südamerika; 80 • Hermanns Bruder Jacob Sagel (geb. 1872 in Schaffa/ Šafov) übersiedelte 1914 nach Innsbruck und ein halbes Jahr später nach Basel; 81 • Hermanns Gattin oder Schwester Anna Sagel (geb. am 18. Juli 1878 in Korneuburg, zuständig nach Schaffa/ Šafov) übersiedelte um 1904 nach Innsbruck. 82 Schick 83 Der Ahnherr Leopold Schick war zwischen 1833 und 1845 mehrfach vorüber‐ gehend in Krems wohnhaft, 1845 auch mit seinen Söhnen Jakob und Jonas. Jakob Schick wurde 1833 in Schaffa/ Šafov geboren und war ab 1873 in Krems, Hafnerplatz 9, ansässig. Mit seiner Gattin Rosalie (geb. ca. 1830, gest. 1911) hatte er vermutlich mindestens vier Kinder: Wilhelm (geb. am 31. Oktober 1863 in Schaffa/ Šafov), Julius (geb. 1864 in Schaffa/ Šafov), Sigmund (geb. am 8. Jänner 1866 in Schaffa/ Šafov) und Michael (geb. am 8. März 1868 in Schaffa/ Šafov). Der letztgenannte besuchte 1881/ 82 die dritte Klasse des Gymnasiums in Krems und war später Produktenhändler. Er ist nach dem Tod seiner Ehefrau Rosalia 1911 nach Wien übersiedelt. Julius wurde 1864 in Schaffa/ Šafov geboren und lebte ab 1873 in Krems. 1881 erwarb er die Liegenschaft Hafnerplatz 9. Mit seiner Gattin Berta (geb. ca. 1857/ 58) hatte er sieben Kinder: Norbert (geb. am 30. Juli 1888 in Krems; 1899-1907 Gymnasium und Matura), Richard (geb. am 12. August 1890 in Krems; 1902/ 03 Besuch der ersten Klasse Realschule), Ernst (geb. am 26. Jänner 1892 in Krems; 1903/ 04 Besuch der ersten Klasse des Gymnasiums) und Arthur (geb. am 8. März 1897 in Krems; 1908-1911 Besuch des Gymnasiums). Der Händler wirkte 229 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa 84 Vgl. STREIBEL Robert: Juden in Krems: http: / / judeninkrems.at/ s-wie-sax/ . 85 Vgl. ZEINDL 2008: 212; vgl. BIEGLER / POLLEROSS 2019: 608-609; vgl. HAAS 2019: 178-179. von 1893 bis 1910 als Vorstandsstellvertreter der israelitischen Kultusgemeinde und übersiedelte 1911 nach Wien. 84 Sigmund Schick wurde am 8. Jänner 1866 in Schaffa/ Šafov geboren. Er war von Beruf Kaufmann bzw. Lederhändler und heiratete am 1894 Emilie Goldstein aus Grainbrunn (Bez. Zwettl). 1894 zog das Ehepaar nach Eggenburg, erwarb hier das Haus Hauptplatz Nr. 61 und 1912 das Heimatrecht. Die Familie Schick betrieb hier bis 1938 eine Lederhandlung. Im August 1938 konvertierte die Familie zum evangelischen Bekenntnis. Trotzdem wurde das Geschäft ‚arisiert‘ und Emilie 1942 in Treblinka ermordet. Von den vier Söhnen ist Robert im KZ Flossenburg gestorben, Johann und Karl konnten nach Frankreich flüchten und wanderten später in die USA aus. Hilda Schick (geb. am 31.3.1900 in Krems) war wahrscheinlich eine Nichte von Sigmund Schick und wurde am 14. Juni 1942 nach Sobibor deportiert (DÖW-Liste); Robert Schick (geb. am 16. März 1895 in Waidhofen an der Thaya) wurde von Riga über Kowno ins KZ Dachau deportiert und am 5. Februar 1945 im KZ Flossenburg ermordet (DÖW-Liste). Schlesinger Diese Familie war wohl die im Waldviertel weitverzweigteste jüdische Sippe mit Angehörigen in Altenburg, Brunn, Dietmannsdorf, Gars, Horn, Krems, Mistelbach, Neupölla Raabs, Sallapulka, Stockern, Thunau und Vitis. Allerdings stammt offensichtlich nur ein kleiner Teil der Familie aus Schaffa/ Šafov, nämlich der 1820 dort geborene und 1890 in Krems verstorbene Moses Schlesinger (Abb. 19), dessen Gattin Kathy, geb. Braun (1823-1885) sowie deren Sohn (? ) Seligmann (geb. am 20. April 1849 in Schaffa/ Šafov). Die beiden waren bereits 1878 in Gars wohnhaft. In den Akten der Kultusgemeinde Horn scheint aber auch der am 2. April 1860 in Schaffa/ Šafov geborene Elias Schlesinger auf - vielleicht ein jüngerer Bruder. 85 Allein die Shoahliste des Dokumentationsarchives des Österreichischen Wi‐ derstandes nennt 96 österreichische Opfer mit dem Geburtsort Schaffa/ Šafov. Erwähnenswert finde ich außerdem die Tatsache, dass die Namen Sag(e)l, Hauser, Fischer, Kurz und Herzog eigentlich geläufige Waldviertler Namen sind, und auch das jüdische notierte Gutmann oder Grünwald bei katholischen Waldviertlern vorkommt. Im Unterschied etwa zu Löwy oder Kohn spricht das vielleicht für eine ursprüngliche Herkunft dieser mährischen Familien aus dem nördlichen Niederösterreich. 230 Friedrich Polleroß 86 Vgl. RATHKOLB 2019: Abb. 1 und 2. 87 Vgl. LIND 2013: 36-43, 184-186. Mehrfach erwähnt wurde schon die religiös-institutionelle Nachbarschafts‐ hilfe, da viele der in Schaffa/ Šafov geborenen Waldviertler in der Frühzeit auf dem Friedhof in ihrem Heimatort begraben wurden. Die jüdischen Bewohner von Litschau, Heidenreichstein oder Weitra wurden hingegen auf dem jüdischen Friedrich in Neubistritz bestattet, z. B. das Ehepaar Hirschkron aus Litschau. 86 Als der erste Rabbiner von Horn Dr. Ignaz Leopold Rosner 1892 starb, hielt Rabbiner Dr. Jakob Diamant aus Schaffa/ Šafov (Abb. 20) eine „ergreifende Denkrede“. Dieser war ein Absolvent der Wiener Israelitisch-Theologischen Lehranstalt, der schließlich 1905 in Krems sein Amt antrat und von dort aus Horn mitbetreute, ehe er 1911 nach Marienbad wechselte. Der Rabbiner in Waidhofen an der Thaya Dr. Isidor Kahan wechselte hingegen 1899 nach Znaim/ Znojmo. Seinen Nachfolger Dr. Michael Rachmuth zog es bereits 1902 nach Schüttenhofen/ Sušice. Erst Dr. Isaak Eisenberg hielt es dann länger in Waidhofen, von 1903 bis 1909. Er hatte „in Prag privatim die Gymnasialstudien absolviert“ und an der Universität Bern 1898 in semitischer Philologie promo‐ viert. 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Abb. 2: Unterschrift des jüdischen Händlers Änschl Salomon Wurmbs aus Schaffa/ Šafov auf einem Vertrag mit der Herrschaft Drosendorf, 1692; St. Pölten, NÖLA, Herrschafts‐ archiv Ottenstein (Foto: Friedrich Polleroß). 236 Friedrich Polleroß Abb. 3: Grabstein des Lehrers Moritz Hirsch aus Retz auf dem jüdischen Friedhof in Schaffa/ Šafov, 1913 (Foto: Friedrich Polleroß). Abb. 4: Eintragung zu Alois Biegler und seiner Familie im Volkszählungsregister der Marktgemeinde Neupölla, 1910; Neupölla, Slg. Polleroß (Foto: Friedrich Polleroß). 237 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 5: Grabstein für Johanna Fischer aus Eggenburg auf dem jüdischen Friedhof in Schaffa/ Šafov, 1887 (Foto: Friedrich Polleroß). 238 Friedrich Polleroß Abb. 6: Grabstein für David und Charlotte Fischer aus Eggenburg auf dem jüdischen Friedhof in Horn, 1934 (Foto: Erich Rabl). 239 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 7: Inserat der Firma Fürnberg in Eggenburg für Radios (Foto: Friedrich Polleroß). Abb. 8: KPÖ-Zentralsekretär Friedl Fürnberg, um 1950 (Foto: Kalt 2002). 240 Friedrich Polleroß Abb. 9: Firmenlogo des Fotoateliers Ludwig Gutmann, um 1925; Neupölla, Slg. Polleroß (Foto: Friedrich Polleroß). 241 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 10: Steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes Horn für Richard Gutmann in Weitersfeld, 1938; Privatbesitz (Foto: Barbara Oswald). Abb. 11: Grabstein für Leopold Hauser aus Weitersfeld auf dem jüdischen Friedhof in Schaffa/ Šafov, 1936 (Foto: Friedrich Polleroß). 242 Friedrich Polleroß Abb. 12: Dokument für Klothilde Hirschenhauser, geb. Hauser, aus Weitersfeld, 1940; Prag, Nationalarchiv, Polizei-Direktion Prag, 1941-1950 (Foto: holocaust.cz). 243 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 13: Grabstein für Minna Herzog aus Schaffa/ Šafov auf dem jüdischen Friedhof in Horn, 1928 (Foto: Erich Rabl). 244 Friedrich Polleroß Abb. 14: Inserat von Adolf Kollmann in Heidenreichstein (Foto: Friedrich Polleroß). 245 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 15: Totenschein für Adolf Kollmann aus Heidenreichstein im Ghetto Theresienstadt, 1942; Prag, Nationalarchiv, Židovské matriky, Ohledací listy - ghetto Terezín, Band 61 (Foto: holocaust.cz). 246 Friedrich Polleroß Abb. 16: Totenschein für Regina Grünwald-Lenobel, geb. Kohn, aus Zwettl im Ghetto Theresienstadt, 1942; Prag, Nationalarchiv, Židovské matriky, Ohledací listy - ghetto Terezín, Band 81 (Foto: holocaust.cz). 247 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 17: Totenschein für Markus Kohn aus Geras im Ghetto Theresienstadt, 1942; Prag, Nationalarchiv, Židovské matriky, Ohledací listy - ghetto Terezín, Band 44 (Foto: holocaust.cz). 248 Friedrich Polleroß Abb. 18: Simon Sagl mit seinen Kindern Anna Netti Guttmann und Abraham Adolf Sagl sowie seinem Enkelsohn Richard Guttmann in Weitersfeld, 1903; Privatbesitz (Foto: Barbara Oswald). 249 Waldviertler Juden in und aus Šafov/ Schaffa Abb. 19: Der Australier Tom Biegler vor dem Grab seiner aus Schaffa/ Šafov stammenden Urgroßeltern Moses und Kathy Schlesinger auf dem jüdischen Friedhof in Krems, 2018 (Foto: Friedrich Polleroß). Abb. 20: Dr. Jakob Diamant, Rabbiner in Schaffa/ Šafov, Horn und Krems, um 1910 (Repro: Gold 1929). 250 Friedrich Polleroß Ort - Unternehmen - Menschen Die Geschichte der liechtensteinschen Tonwaren- und Ziegelfabrik in Unterthemenau/ Poštorná Daniel Lyčka Abstract One of the most important enterprises of Johann II, Prince of Liechtenstein was undoubtedly the ceramic factory near the village of Poštorná/ Un‐ terthemenau belonging to the originally Lower Austrian estate of Val‐ tice/ Feldsberg. It was certainly not only a local enterprise owned by a high aristocrat of the Austro-Hungarian monarchy. The fame of the products reached far beyond the borders of the estate and the monarchy. Probably the best-known contract work was the delivery of glazed roof tiles for the Cathedral of St. Stephen’s in Vienna after 1945. The company, which still exists today, was a place of employment for locals mostly of Charvatic origin. In addition, the history of the enterprise reflects both the ‘small’ history of the region and the ‘great’ history of the world. The study itself is based on extensive archive materials stored in the Moravian Land Archives in Brno, as well as on the annual almanacs and company catalogues of the offered goods, and periodicals, including the paper by Vladimír Voldán dealing in detail with the history of the ceramic factory until 1920. Keywords Poštorná; Unterthemenau; South Moravia; ceramic factory; Liechtenstein 1 VOLDÁN 1963: Z minulosti poštorenských keramických závodů, n. p. v Poštorné (Aus der Vergangenheit der Themenauer Keramikfabrik, Nationalunternehmen in Unter Themenau). In: [et al.]: Pohledy do dávné i nedávné minulosti (Einblicke in die einstige und jüngste Vergangenheit). Nikolsburg (Mikulov): Heimatmuseum, 6-19. 1. Einleitung Eines der wichtigsten Unternehmen des Fürsten Johann II. von Liechtenstein war ohne Zweifel die Tonwarenfabrik bei Unterthemenau/ Poštorná in der ursprünglich niederösterreichischen Herrschaft Feldsberg/ Valtice. Es war mit Sicherheit nicht nur ein lokales Unternehmen, das einem hohen Aristokraten der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Der gute Ruf der Produkte ging weit über die Grenzen der Herrschaft und der Monarchie hinaus. Der wohl bekannteste Auftrag war nach 1945 die Lieferung glasierter Dachziegel für das Dach des Wiener Stephansdoms. Zudem war das Unternehmen auch Arbeits‐ platz für die örtliche Bevölkerung mit ursprünglich (mährischer-) kroatischer Herkunft. In der über 150-jährigen Unternehmensgeschichte spiegelt sich aber sowohl die ‚kleine‘ Geschichte der Region als auch die ‚große‘ Weltgeschichte wider. So stellt sich die Frage, wie sich nicht nur der technologische Wandel und die Ausweitung der Produktion, sondern vor allem, ob und in welcher Weise sich die Ereignisse nach den beiden Weltkriegen, die daraus resultierende Änderung der Staatsgrenze bzw. diverse staatliche Eingriffe (Enteignung, Verstaatlichung) auf die Eigentumsverhältnisse, Arbeitsmöglichkeiten und die Gesamtfunktionalität des hier untersuchten Betriebes ausgewirkt haben. Die Studie basiert auf Archivmaterial, das im Mährischen Landesarchiv in Brünn (Moravský zemský archiv v Brně; z. B. dem Bestand F 410 der liechten‐ steinischen Tonwaren- und Ziegelfabrik Poštorná und auch in den Beständen F 94 Velkostatek Valtice, F 43 Velkostatek Břeclav, F 30 Lichtenštejnská ústřední účtárna Bučovice) aufbewahrt wird, sowie auf Jahrbüchern und Firmenkatalogen mit dem Warenangebot. Auch der Beitrag Z minulosti poštorenských keramických závodů, n. p. v Poštorné (Aus der Vergangenheit der Themenauer Keramikfabrik) des ehemaligen Mitarbeiters des Staatsarchivs (heute Mährisches Landesarchiv) in Brünn/ Brno Vladimír Voldán darf nicht außer Acht gelassen werden, er setzt sich sehr ausführlich mit der Geschichte der Fabrik vor 1920 auseinander. 1 Mein Dank gilt auch meinem Kollegen Ing. Dieter Friedl aus Bernhardsthal (Otto Berger Heimatmuseum Bernhardsthal) für seine Hilfe bei den Nachforschungen zu diesem Thema wie auch zur Fürstenfamilie Liechtenstein an der österrei‐ chisch-mährischen Grenze. 252 Daniel Lyčka 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. ebd.; ČR-MORAVSKÝ ZEMSKÝ ARCHIV V BRNĚ (Mährisches Landesarchiv Brünn) (in Folge: MZA), Bestand F 94 Velkostatek Valtice (Gutsverwaltung Feldsberg), Karton 184, Faszikel 259, Fol. 1r-62v, Ziegelei Theim 1866-1868. 4 Vgl. VOLDÁN 1963: 6-19; Vgl. MZA, Bestand F 30 Lichtenštejnská ústřední účtárna Bučovice (Liechtenstein’sche Hauptbuchhaltung Butschowitz), Buch, Inv. Nr. 25719, 25721, 25723, 25725, 25727 und 25735, Ziegelei Theim 1868-1874. 2. Beginn In den Jahren 1866-1867 führte die liechtensteinsche Hofkanzlei eine geologi‐ sche Untersuchung im Föhrenwald im Gemeindegebiet des niederösterreichi‐ schen Dorfes Unterthemenau durch, ein Ort der heute zu Lundenburg/ Břeclav gehört. Bei den vom damaligen liechtensteinschen Baumeister Hampl (oder Hampe) und Polier Matzka (Matzke) durchgeführten Untersuchungen entdeckte man eine Lagerstätte mit ausgezeichnetem Ziegelton und bereits 1867 fand in der fürstlichen Ziegelfabrik von Feldsberg unter der Leitung des Ziegelmeisters Ewald Hitsche der erste Probebrand statt. Es folgte der Bau eines eigenen Ziegelofens in Unterthemenau und in den folgenden Jahren wurde die Produkt‐ palette um Dachziegel, Pflastersteine, Fliesen, Entwässerungsrohre und andere Bauelemente erweitert. 2 Der erste Ziegelofen wurde unter Aufsicht des liechtensteinschen Baubüros in Eisgrub/ Lednice von den Maurermeistern Joseph Schleps und Joseph Bürzerl errichtet; die Maschinen wurden von der Liechtenstein’schen Maschinenfabrik in Adamsthal/ Adamov in der Nähe von Brünn angeliefert. Der Verwalter des Feldsberger Weinguts Johann Protiwinsky hatte die Betriebsleitung inne und arbeitete dort als Meister (seit 1869) mit einem gewissen Herrn Schwarzer aus der Wiener Ziegelei Johann Stier für 60 Gulden (in Folge: fl.) österreichischer Währung im Monat. Die Verwaltung, Überwachung und Kontrolle, wie auch die Abrechnung der Ziegelei wurde von der Gutsverwaltung in Feldsberg vorgenommen. 3 Aus dem Jahresabschluss 1868 geht klar hervor, dass das Unternehmen zu Beginn einen Verlust schrieb, da sich die Gesamtkosten auf 11.731 fl. ½ Kreuzer (in Folge: kr.) beliefen. Allein die Bauarbeiten kamen bis zum 22. Dezember auf 7.593 fl. ½ kr., die Frachtkosten für das Brennholz betrugen 1.981 fl. 62 kr., sonstige Produktionskosten 1.423 fl. 58 ½ kr. Auf der anderen Seite betrugen die Einnahmen lediglich 626 fl. 60 kr. 4 Wie der erste Ziegelofen ausgesehen haben könnte, zeigt eine teilweise kolorierte Planzeichnung, die im Fonds F 115 im Mährischen Landesarchiv in Brünn aufbewahrt wird, betitelt als Situation für die im Theim zu errichtende 253 Ort - Unternehmen - Menschen 5 Vgl. MZA, Bestand F 115 Lichtenštejnský stavební úřad Lednice (Liechtenstein’sche Baubehörde Eisgrub): Plan, Inv. Nr. 6692 und 6693, Ziegelei im Theimwald. Ziegelei zur Ausbeutung des Thonlagers, wo das Unternehmen in der Nähe der damals noch vorhandenen Parforce-Mauer (Theim-Mauer - abgerissen im Jahre 1872) auf dem Gut Feldsberg in der Nähe der Hauptstraße nach Lunden‐ burg eingezeichnet ist. Aufgrund dieses Dokuments wissen wir, dass es sich um eine überdachte Bergbaugrube mit quadratischem Grundriss gehandelt hat und die Knetmaschine mit Pferdekraft angetrieben wurde. Es gab auch eine Ziegelpresse und eine nahe gelegene Wasserquelle in der Form eines Brunnens. Der zweite Teil bestand aus einer Ziegel-Trocknungsanlage (64,5 × 7 m) und, ein paar Meter weiter, einem separaten Standofen. Ein zweiter und ebenfalls teilweise kolorierter Plan namens Theimer-Ziegelei/ Schoppen für die Knetmaschine, die Pressen und das erzeugte Material zeigt eine Grundrisslösung sowie detaillierte Querschnitte der beiden ersten Ausbaustufen der fürstlichen Ziegelei. 5 Schon 1869 wurde der Bau der Anlage fortgesetzt. Die Ziegelfabrik wurde mit einer Presse für Entwässerungsrohre, einem Emaillierofen und einer Zie‐ geltrocknungsanlage ausgestattet, zudem wurden auch eine Wohnung für den Ziegelmeister sowie notwendige Schuppen errichtet. Vom Mai dieses Jahres sind auch erste Zahlen bekannt: Für die Herstellung von 1.000 Ziegelsteinen im Akkord erhielt der Ziegelmacher 1 fl. 60 kr. Im Zusammenhang mit den ersten Aufträgen wurden im August die ersten Arbeitslöhne festgelegt. Für 1.000 Stück Dachziegel, welche nach Wien geliefert wurden, hat sich mit 15 fl. das Brennen für die fürstliche Kassa schon einmal bezahlt gemacht, für 1 Stück Terrakotta gingen 8 fl., für 1.000 Stück Mauerziegel, einschließlich Brennen und Fracht, 4 fl. 70 kr. und danach, für die gleiche Anzahl von Mauerziegeln - ohne Arbeitsleistung - 1 fl. 60 kr. an die herrschaftliche Gutsverwaltung in Feldsberg. Der erste Auftrag war für den Bau der Brigittakirche, welche 1866-1874 unter Architekt Friedrich v. Schmidt in Wien-Brigittenau errichtet wurde. Dafür lieferte man aus Unterthemenau 94.000 Stück emaillierte Dachziegel verschiedenster Farben für 8.460 fl. Sogar Waggons mit rohem Ton wurden nach Wien verschickt. Dies wird durch den Versand von zwei Waggons mit weißem und schwarzem Ton an das Unternehmen Wienerberger-Ziegel-Fabriks- Gesellschaft Wien (Heinrichshof Konskr. № 6) im Jahre 1870 belegt. Fürst Johann II. von Liechtenstein beschloss beträchtliches Kapital in das lokale Unternehmen zu investieren, wodurch aus einer erst einfachen lokalen 254 Daniel Lyčka 6 Vgl. VOLDÁN 1963: 6-19. Ziegelei - von denen es in den fürstlichen Gütern mehrere gab - im Laufe der Zeit die weltberühmten Keramikfabriken entstanden. Neben dem Ausbau der Anlage wurden bereits in den Jahren 1869 bis 1872 bedeutende Verbesserungen vorgenommen. Wenn auch die Versuche, direkt im Föhrenwald Braunkohle abzubauen, fehlschlugen, so wurden dennoch 1870 und 1871 zwei neue Ziegelöfen mit Kohlenbeheizung in Betrieb genommen, 1872 folgten weitere Trocknungsanlagen. Am 1. Juli 1870 wurde Leonhard Pflüger, Büroangestellter in der Industrieabteilung der liechtensteinschen Hof‐ kanzlei, zum provisorischen Betriebsleiter ernannt. Seine Aufgabe war es, die Geschäftskorrespondenz zu führen und notwendige Büroarbeiten zu erledigen. In der alten Themenauer Bierbrauerei wurde für ihn eigens eine Wohnung neu eingerichtet. Seine Ernennung zum Unternehmensleiter reduzierte einen Teil des Verwaltungsaufwands für die Mitarbeiter der Gutsverwaltung Feldsberg. Von nun an war die Kontrolle und Verwaltung - einschließlich der Buchhaltung - allein der Unternehmensleitung vorbehalten. Die Aufgaben des Betriebsleiters und des Werkmeisters Schwarzer wurden ebenfalls genau definiert. Für die finanzielle Seite war der Leiter des Unternehmens verantwortlich. 6 Pflüger war allerdings keine glückliche Wahl. Bereits Mitte 1871 kündigte er plötzlich seinen Dienst, wenn auch (oder vielleicht weil) das Unternehmen ein Defizit hatte und die Konten unordentlich bzw. verwirrend geführt wurden. Somit wurden die gesamten Geschäftsaufgaben wieder an die Mitarbeiter der Gutsverwaltung Feldsberg übertragen, vor allem, weil danach auch noch Werk‐ meister Schwarzer erkrankte. Kurz darauf wurde Wilhelm Kraus Betriebsleiter des Unternehmens, welcher nun in erster Linie den Arbeitskräftemangel zu beheben hatte. Denn anfangs fehlten Fabrikarbeiter, da die Arbeit am Bau der Eisenbahn‐ strecke von Lundenburg nach Grusbach an der Jaispitz/ Hrušovany nad Jevi‐ šovkou besser bezahlt und daher bevorzugt wurde. Daher fanden in Unter‐ themenau auch zahlreiche Arbeiter aus Wien und Italien eine Anstellung. Im Jahre 1873 arbeiteten nur 60 Arbeiter im Keramikbetrieb, 1884 mehr als hundert, 1890 wurden hier 500 Arbeiter beschäftigt, und zu Beginn des letzten Jahrhunderts erreichte ihre Zahl 700 bis 800 Beschäftigte. Einige Arbeiter lebten auf dem Fabrikgelände in einer Siedlung mit 20 Mehrfamilienhäusern und 77 Wohnungen, einem Gasthaus und einer Badeanstalt. Zusätzlich erhielten 160 Familien kleine Felder zum Bewirtschaften. Unter der Führung von Wilhelm Kraus wuchs das Unternehmen; es kam ein zweiter Ofen hinzu, zwei Trockenräume und ein Maschinenhaus wurden 255 Ort - Unternehmen - Menschen 7 Vgl. VOLDÁN 1963: 6-19; MZA, Bestand F 94 Velkostatek Valtice (Gutsverwaltung Feldsberg), Karton 298, Faszikel 48, Fol. 1r-954v, Aufzeichnungen über Material und Arbeiten zum Bau der Tonwarenfabrik in Unter-Themenau 1870-1916. errichtet, wobei das Baumaterial vom Dach eines alten Gestüts in Hohenau, Niederösterreich, und von einem teilweise entfernten Dach eines Feldsberger Meierhofes stammte. Lokomotiven und Pressmaschinen wurden ebenfalls ange‐ schafft. Zunehmend stellte man auf Kohlen-Beheizung um. Mit dem Wachstum des Unternehmens stieg auch die Anzahl der Produktionsaufträge. So wurden 1871 z. B. für den Bau der Lundenburger Zuckerfabrik 100.000 Stück Ziegel und eine unbekannte Anzahl an Ziegeln für den „Brechhof “ [Prechov], einem liechtensteinschen Meierhof bei Rampersdorf/ Ladná, ausgeliefert. Auch der Verkauf von hochwertigem Ziegelsteinton wurde fortgesetzt. Erwähnt sei dabei die Tonwarenfabrik Lederer & Nessényi in Wien-Floridsdorf, welche im Jahre 1872 für 18 kr. österr. Währung pro Zentner (100 kg) und Transport zum Bahnhof Lundenburg 20 Waggons Ton bestellte. Auch die Zahl der Arbeitnehmer nahm stetig zu. Bereits im Herbst 1871 wurde in der Ziegelei eine Werks-Kantine eingerichtet, in der Speisen und Getränke verkauft wurden. Dazu sei bemerkt, dass die Firma Hoffmann und Bittner, welche die fürstliche Brauerei in Lundenburg gepachtet hatte, der Kantine ein so schlechtes Bier geliefert hat, dass die Mitarbeiter davon krank wurden und die Unternehmensleitung gezwungen war, sich einen anderen Bier-Lieferanten zu suchen. 1872 expandierte das Unternehmen weiter. Ein Vierkammerofen wurde errichtet, wofür 60 Zentner feuerfester Ton und Eisenteile aus Adamsthal angeliefert wurden, 3.500 Stück feuerfeste Ziegel für das Gewölbe kamen aus Wien-Floridsdorf, und eine Menge Mauerziegel und anderes Material aus der im selben Jahr abgetragenen Parforce-Mauer um den Föhrenwald. Gebaut wurden auch weitere Trocknungsanlagen, Wohneinheiten für die Arbeiter und Stallungen für die Pferde. 7 256 Daniel Lyčka 8 VOLDÁN 1963: 6-19. Materialart Roh‐ stoff Vorbe‐ reiten Arbei‐ ter‐ lohn Heiz‐ mate‐ rial Brennen Maschinen Abnutzung Grundsteuer Versi‐ che‐ rung Ge‐ mein Kosten Aus‐ schuss Prod. Kosten Preis ab Fa‐ brik Ge‐ winn Liefern zum Bahnhof Preis ab Bhf. Lun‐ denburg fl. kr. fl. kr. fl. kr. fl. kr. fl. kr. kr. kr. kr. fl. kr. fl. kr. fl. kr. fl. fl. kr. fl. fl. handge‐ machte Ziegel 0 50 0 0 4 0 6 0 1 70 5 1 1 2 0 0 0 14 27 20 5 73 4 24 Maschinen- Ziegel 0 50 0 0 4 0 6 0 1 70 40 1 1 2 0 0 0 14 62 20 5 38 4 24 maschinenge‐ fertigte Wandfliesen 0 50 0 0 4 50 6 0 2 0 40 1 1 2 0 0 0 15 42 30 14 58 5 35 Hohlsteine mit 3 Löchern 1 0 0 0 7 0 6 0 1 70 40 1 1 2 0 0 0 18 12 28 9 88 3 31 Klinker 2 x 4 x 8 Zoll 1 80 1 20 5 0 6 50 1 70 40 1 1 2 0 0 60 19 22 30 10 78 3 33 einfache Fliesen 1 60 1 20 6 50 6 15 1 70 30 1 1 2 0 1 56 21 3 30 8 97 3 33 bemalte Fliesen 1 60 2 0 16 0 6 15 1 70 80 1 1 2 0 2 56 32 82 50 17 17 3 53 Entwässe‐ rung 1 0 1 20 3 0 6 15 1 70 15 1 1 1 50 1 0 15 72 30 14 28 3 33 normale Schiefer- Dachziegel 1 50 1 20 4 0 6 15 1 70 30 1 1 2 0 1 56 18 43 25 6 57 2 27 Wellschiefer 1 80 1 20 7 0 6 15 1 70 35 1 1 2 0 1 56 21 78 35 13 22 3 38 wellige De‐ ckenbalken 1 80 1 20 8 0 6 15 1 70 30 1 1 2 0 1 56 22 73 40 17 27 4 42 Tabelle 1 8 257 Ort - Unternehmen - Menschen 9 Vgl. ebd.; Vgl. MZA, Bestand F 94 Velkostatek Valtice (Gutsverwaltung Feldsberg), Karton 298, Faszikel 48, Fol. 1r-954v, Aufzeichnungen über Material und Arbeiten zum Bau der Tonwarenfabrik in Unter-Themenau 1870-1916. Im Jänner 1873 wurden unter der Leitung des liechtensteinschen Ziegelmeisters Wenzel Hänl aus Böhmen Tests an einem neuen Ofen durchgeführt; er sollte ebenso der Herstellung von Fliesen dienen. Er hat seine Aufgabe jedoch nur zum Teil erfüllt. Dennoch steigerte sich die Produktion weiter. In der ersten Julihälfte waren neben dem Maschinisten, Schmied, Nachtwächter und Aufseher 55 Ar‐ beiter beschäftigt. Die folgenden Jahre standen im Zeichen von Pachtverträgen. Vorerst (1874) wurde überlegt, bis auf weiteres das gesamte Unternehmen an Emanuel Hudec zu verpachten. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1875 wurde für eine Jahresmiete von 2.000 fl. Ing. Joseph Theodor Lininger aus Wien zum Pächter, wel‐ cher die Führung Ing. Laurenz Scharf anvertraute. (Der frühere Betriebsleiter Kraus, der seit 1872 auch Leiter der fürstlichen Ziegelfabrik im niederösterreichischen Judenau war, verließ sein Büro nach der Übergabe an den neuen Pächter.) Aber die Pacht war eine Katastrophe. Lininger kümmerte sich weder um die Bezahlung der Mitarbeiter noch um die Hinterlegung der Kaution und die Pachtzahlung, sodass der gesamte Betrieb allein in den Händen von Laurenz Scharf lag. Er musste dafür sogar seine Uhr opfern, damit er zu Weihnachten all seine (finanziellen) Versprechen an die Mitarbeiter zumindest teilweise erfüllen konnte. Am 13. Januar 1876, bereits nach vier Monaten, endete der Mietvertrag und die Geschäftsführung ging erneut an die Gutsverwaltung des Fürsten von Liechtenstein. Doch bereits im März 1876 begannen neue Verhandlungen mit der Steinzeug‐ fabriksgesellschaft von Karel Czerný in Tscheitsch/ Čejč, genauer gesagt mit dem Sohn des Fabrikbesitzers, im Zuge derer die Tonwaren- und Ziegelfabrik in Unterthemenau mit Wirkung vom 1. Juni 1876 von der Gutsverwaltung Feldsberg wieder getrennt wurde. Gemäß der Erfindung von Karel Czerny wurde nun der Sektor „künstliche Steinzeugproduktion“ neu ins Produktions‐ programm aufgenommen und Herrn Czerny als Vorstand anvertraut, der am halben Gewinn beteiligt war. Zum ersten Buchhalter der Firma wurde Robert Frieb ernannt. 9 Im Jahr 1884 hatte das Werk zwei Dampfmaschinen mit 30 und 8 PS, zwei Dauerbrandöfen zum Brennen von gasbeheizten Produkten, zwei große Maschi‐ nenpressen für die Ziegelfertigung, zwei hydraulische Pressen zur Herstellung von Kunststeinplatten, zwei französische Stanzen zum Rillen der Dachziegel, eine Presse für Steinzeugrohre und eine Presse für Entwässerungsrohre, ein Mahlwerk und ein Gerät zum Schneiden des Tons. In einem Ofen wurden Ziegel und Tonwaren, in der zweiten Kammer wurden Platten aus künstlichem Steinzeug und Steingut gebrannt. 258 Daniel Lyčka 10 Vgl. MZA, Bestand F 43 Velkostatek Břeclav (Gutsverwaltung Lundenburg), Karton 1166, Faszikel 4, Fol. 236r-283r, Nr. 8 Industrieunternehmen 1865-1918 - Ziegelei Theim 1885-1888. 11 Vgl. MZA, Bestand F 30 Lichtenštejnská ústřední účtárna Bučovice (Liechtenstein’sche Hauptbuchhaltung Butschowitz), Inv. Nr. 26838-26938, Schamottfabrik Unt.-Themenau 1906-1912; Bestand F 410 Lichtenštejnská továrna na hliněné zboží a cihelna Poštorná (Liechtenstein’sche Ton- und Ziegelfabrik Unt.-Themenau), Buch, Inv. Nr. 1, eingegan‐ gene Protokolle vom 1.1.1917 bis 1.5.1920; Karton 2 und 3, Aktenmaterial 1910-1920; Inv. Nr. 4, Album mit (7 Stück) fotografischen Aufnahmen der Fabrik um 1910; Inv. Nr. 5 bis 15 Pläne zur Erweiterung der Themenauer Fabrik, Wohngebäude, Neubau eines Res‐ taurantgebäudes, in dem auch Räume für eine Arztpraxis eingeplant wurden: Inv. Nr. 5, Situationsplan des Theimer Werkes mit Berücksichtigung der geplanten Vergrößerung, 22. 1. 1888.; Inv. Nr. 6-15, Beamtenwohnhaus, Arbeiterwohnhaus für vier Familien und vier ledige Arbeiter, Skizze für den Neubau eines Restaurationsgebäudes, Beamten- Als die gegenseitige Kontrolle zwischen Verwalter und Fabriksbuchhaltung nicht so recht funktionierte, wurde ab dem 1. Januar 1886 die Buchhaltung und die fachmännische Kontrolle des Unternehmens der Gutsverwaltung Lun‐ denburg übertragen (der Lundenburger Gutsverwalter war der zuvor bereits genannte Robert Frieb, sein Feldsberger Vorgänger war Johann Protiwinský). Frieb wurde der Titel eines Kontrolleurs verliehen und er erhielt eine neue Wohnung im zweiten Stock des Lundenburger Schlosses - zuvor wohnte er in einer Wohnung in den Räumlichkeiten der alten Themenauer Schule. In der Betriebsanlage gab es nun auch einen Arzt, vor dem Ersten Weltkrieg war es Dr. med. Waldemar Schuster. Am häufigsten erkrankten die Frauen in der Keramik- und Ziegeleifabrik, und in erster Linie an einer Lungenerkrankung. 10 Was das Sortimentsangebot betrifft, so produzierte 1907 die Fabrik eine breite Palette glasierter Ziegelwaren in 16 Grundfarben, auf Kundenwunsch auch in anderen Farben. Fünf Jahre später, im Jahr 1912 (bis zum Ersten Weltkrieg) gab es vier Abteilungen in der Tonwarenfabrik: • eine Abteilung für Pflaster- und Mosaikplatten mit einer Jahresproduktion von rund 250.000 m 2 • eine Abteilung für Steingut und gebrannte Produkte mit einer jährlichen Produktion von ca. 500 Waggons mit Rohren, Klinkerziegel und anderen Gütern • eine Abteilung für Dach- und Rillenschiefer, Entwässerungsrohre, Ziegel und verschiedene Bausteine mit einer Jahresproduktion von rund 3.500.000 Stück • eine Abteilung für Fliesenwaren und andere glasierte Produkte mit einer Jahresproduktion von ca. 400.000 Stück. • In der Fabrik gab es 13 kaufmännische und 8 technische Mitarbeiter, 2 Betriebsleiter und für jede Abteilung einen eigenen Direktor. Leo Popper, der Direktor des Unternehmens, wurde mit der Geschäftsführung betraut. 11 259 Ort - Unternehmen - Menschen Wohnhaus, Zentral-Werkstätte, Werkmeisterwohnhaus, Neubau eines Wohnhauses für 2 Beamte, Terrassenmauer beim Restaurationsgebäude und Fabriksgebäude,1892-1906. 12 Vgl. VOLDÁN 1963: 6-19; KRAETZL 1884: 42-43; KRAETZL 1903: 322-326. 13 Vgl. CZAJKOWSKI 2016: 297; FRIEDL 2011-2018: 85-117; LYČKA 2014: 12. 14 Vgl. LYČKA 2017: 12-13. 15 Vgl. VOLDÁN 1963: 6-19. Liechtensteinsche Produkte wurden in ganz Europa und z.T. auch darüber hinaus zu einem begehrten Gut; ab 1901 erfolgten die Exporte hauptsächlich auf der Schiene. Im Jänner 1907 erwarb Fürst Johann II. die Keramikfabrik RAKO im böhmischen Rakonitz/ Rakovník (gegründet 1883) und der ehema‐ lige Direktor Emil Sommerschuh wurde zum Generaldirektor beider Werke ernannt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich beide Keramik- Unternehmen zunehmend auf den Export von Schamottesteinen, feuerfesten Materialien bzw. Kachelöfen und erlangten so vor dem Ersten Weltkrieg die Marktführerschaft. 12 Einzelne Produkte kamen auch bei den vom fürstlichen Architekten Carl Weinbrenner um 1900 geplanten und errichteten fürstlichen Bauwerken auf den herrschaftlichen Gütern zur Anwendung. 13 Mit der finanziellen Unterstützung des Fürsten und Mäzen Johann II., auch genannt „der Gute“, entstanden um die Jahrhundertwende im Geiste des mährischen Jugendstils und nach Plänen seines Hofarchitekten zahlreiche Forst-, Jäger- und Hegerhäuser, Pfarrhöfe und Pfarrkirchen. 14 Einige dieser Bauten, welche heute auf beiden Seiten der Landesgrenze anzutreffen sind und und zu den wichtigen touristischen Sehenswürdigkeiten der Region zählen, waren mit ihren Erwähnungen in den damaligen Fachzeitschriften und in der Tagespresse mit Sicherheit auch Werbeträger für das Unternehmen. Die Produktionserweiterung der Fabrik brachte zugleich auch der Bevölke‐ rung mehr Arbeitsplätze. Es ist anzunehmen, dass allein durch die Keramikfa‐ brik die Zahl der Bewohner von Unterthemenau stieg. Waren 1819 im Dorf 655 Einwohner registriert, so waren es Ende 1880 bereits 1.711 und zwanzig Jahre später (1900) sogar 3.426 Menschen. Bei der niederösterreichischen Volkszäh‐ lung am 31. Dezember 1910 hatte Unterthemenau genau 3.679 Einwohner. 15 3. Jahre 1920-1945 Nach dem Ersten Weltkrieg, konkret 1920, musste Österreich die niederöster‐ reichische Region Feldsberg - einschließlich der Ortschaft Unterthemenau und der lokalen Keramikfabrik - an den tschechoslowakischen Staat abtreten. Fürst Johann II sah sich aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse 260 Daniel Lyčka 16 Vgl. GERŠIC 2001: 182; GERŠIC 2013. genötigt, beide Unternehmen - Unterthemenau und Rakonitz - weit unter ihrem Wert, mit Wirkung vom 1. Januar 1919, für 7.300.000 österr. Kronen an die Prager Gewerbebank (Živnostenská banka) zu verkaufen. 16 Die politische Landkarte hatte sich also verändert und mit ihr die Staatsgrenzen. Feldsberg und das Dorf Unter-Themenau waren nun Teil der jungen Tschechoslowakischen Republik. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen haben sich aufgrund des Zerfalls der Habsburgermonarchie verändert, was zur großen Herausforderung des Unternehmens im neuen Staat wurde. Die einheimische Arbeiterschaft verlor ihre Arbeitsplätze in der Fabrik jedoch nicht. Die Mehrheit der kroatischen Bevölkerung begrüßte die Schaffung des neuen Staates und arbeitete weiterhin im ehemaligen Fürstenbetrieb. Dennoch führte die neue Staatsgrenze und der Wechsel der Besitzverhältnisse zu einem allmählichen Rückgang der Qualität und des Angebots. Der Kaufvertrag selbst wurde am 23. April 1920 vom Fürsten von Liech‐ tenstein und am 6. Mai 1920 von den Vertretern der Bank unterzeichnet. Die Vereinbarung wurde auch von den Vertretern der vereinten Rakonitzer und Unter-Themenauer Keramikwerke Prag unterzeichnet, deren Gründung auf Antrag der Gewerbebank in Prag vom tschechoslowakischen Innenministerium bereits im Voraus genehmigt worden war. Mitsamt dem Unterthemenauer Unternehmen wurden auch alle von der Firma genutzten Grundstücke, Fabriks- und Wohngebäude verkauft, die nicht zum Gut Feldsberg gehörten. Das Gut Feldsberg war noch in ein fürstliches Fideikommiss - eine erbrechtliche Ein‐ richtung, welche die Verfügung über ein Erbgut beschränkt - integriert, so dass ein spezielles Verfahren, eine Kommission geschaffen werden musste, damit einzelne Parzellen herausgelöst und verkauft werden konnten. Aus diesem Grund gab es auch in den Kaufverträgen Unstimmigkeiten hinsichtlich eines Tonlagers in unmittelbarer Nähe des Gutes. Daraus resultierte auch ein Problem beim Kauf oder einem möglichen Tausch von Grundstücken, welche dem fürstlichen Fideikommiss angehörten, was sich negativ auf die Ausweitung des Tonabbaus und damit auf die Produktion auswirkte. Zu den weiteren interessanten Punkten der Vereinbarung gehörte der Zusatz, dass auch die gesamte Finanzbuchhaltung ab dem 1. Januar 1919 rückwirkend übernommen werde. Das heißt, die fürstliche Kassa hatte die bis zu diesem Datum noch nicht bezahlten und vor dem 31. Dezember 1918 entstandenen Betriebs- und Investitionskosten zu bezahlen, andererseits mussten aber auch die Zahlungseingänge der am Jahresende 1918 offenen Forderungen vom neuen Besitzer rückerstattet werden. 261 Ort - Unternehmen - Menschen 17 Vgl. MZA, Bestand F 94 Velkostatek Valtice (Gutsverwaltung Feldsberg), Karton 396, Faszikel 289, Fol. 1r-51v, Verkauf der Keramikfabrik Rakonitz und Unter-Themenau an die Gewerbebank in Prag 1919-1924. In der Folge hat die Bank das Keramikwerk einfach nur langfristig verpachtet. So entstand die Rakonitzer und Unter-Themenauer Keramikwerke AG (offiziell am 7. Mai 1920 gegründet). 17 Die neuen Eigentümer zogen die Entwicklung der Produktion in der böhmischen Stadt Rakonitz dem mährischen Grenzort Themenau vor, insbesondere nachdem sich die ursprünglichen Absatzmärkte für Keramikprodukte (z. B. Österreich) nach der neuen Struktur Europas geändert hatten oder beinah verschwunden waren. So wurde ein großer Teil des Sortiments, einschließlich der Maschinen, nach Rakonitz verlegt, was in Themenau einen Produktionsrückgang zur Folge hatte. 1924 wurde die Fliesen‐ produktion eingestellt und in den Folgejahren die Keramikproduktion reduziert. Nur zwei Abteilungen blieben noch in Betrieb: die Herstellung von Ziegeln und Kanalrohren sowie von Wirtschaftskeramik. Veraltete und nicht mehr funktionierende Abteilungen einschließlich deren Gebäude wurden abgerissen (z. B. die Abteilung C die alte Ziegelei). In den Folgejahren konzentrierte sich die Produktion auf Steingutrohre, feine Ziegelwaren und Fassadenkeramik, sogenannte Klinker- oder Steinzeugfliesen. In den 1920er Jahren wurde unter Direktor Moravec die Beschäftigtenzahl auf 300 reduziert. Der wohl wichtigste Auftrag in der Zwischenkriegszeit war die Lieferung von Material für den Bau des Morava-Palais (Palác Morava) in Brünn, das 1927-1936 unter der Leitung des Architekten Ernst/ Arnošt Wiesner errichtet wurde. In den 1930er Jahren stieg das Unternehmen von Dampfkraft auf Elektrizität um, die Unternehmensleitung hatte Josef Panoch inne. Die Mitarbeiterzahl verringerte sich weiter auf rund 250 Beschäftigte und 15 Beamte. Auch die Produktion ging langsam zurück. 262 Daniel Lyčka 18 KREJČÍ 1967. Berechnung für 100 Stück einfache Abzweigungen (1931) Abzweigungsdurchmesser in mm 50/ 50 100/ 100 200/ 200 300/ 300 Ungebrannt - Gewicht in kg 9 17 43 90 Gebrannt - Gewicht in kg 7 13 33 70 Fertigung: Kč % Kč % Kč % Kč % Material für 100 kg (1 q) Steinzeug Kč 7,11 63,99 19,6 120,87 19,8 303,73 19,7 639,90 19,6 Schamott-Radmühle - 3 Männer à Kč 0,85 pro 1 q 7,65 2,3 14,45 2,4 36,55 2,4 76,50 2,3 Verarbeitung - 5 Männer, 3 Frauen, 0,67 Kč pro q 6,30 1,8 11,39 1,9 28,81 1,9 60,30 1,8 Pressen - 1,88 Kč pro q 16,92 5,2 31,96 5,2 80,84 5,2 169,20 5,2 Reinigung und Herstellung - 2,70 Kč pro q 24,30 7,4 49,90 7,5 116,10 7,5 243,00 7,4 Verkleben - 4,48 Kč pro q 31,36 9,6 58,24 9,5 147,84 9,5 313,60 9,6 Glasieren und Transport zum Ofen - 1,13 Kč pro q 7,91 2,4 14,69 2,4 37,29 2,4 79,10 2,4 Kohle - 15,30 Kč pro q 107,10 32,8 198,90 32,6 504,90 32,6 1071,00 32,8 Gesamtbetrag: 326,54 100 610,78 100 1548 100 3266,12 100 Preis pro Stück in Kč 3,27 6,11 15,48 32,66 Prozentaufteilung: Material Löhne Kohle Gem. Kosten 20% 32,80% 38,10% 9,10% Tab. Nr. 2: 18 263 Ort - Unternehmen - Menschen Nach dem Münchner Abkommen am 29. September 1938 wurde der südliche Teil Mährens und somit auch Feldsberg an das nun als Gau Niederdonau bezeichnete Niederösterreich angeschlossen und integraler Bestandteil des Deutschen Reiches. Der Firmenname RAKO blieb in Form von RAKO, Werk Unterthemenau (závod Poštorná) erhalten. Die deutsche Verwaltung in Lunden‐ burg übertrug dem deutschen Professor H. Scheltler die Unternehmensleitung. Im Oktober 1941 wurde die deutsche Kommissionsverwaltung abgeschafft, das Unternehmen blieb aber in deutscher Hand, und auch die Produktion wurde wieder reduziert, dennoch blieben beide Abteilungen erhalten. Ein Großteil der Arbeiter waren inhaftierte Juden und Kriegsgefangene. Im Jahre 1944 waren 64 jüdische Gefangene, 50 ukrainische Gefangene, 23 serbische Kriegsgefangene in der Fabrik ‚beschäftigt‘, lokale Arbeiterinnen und Arbeiter gab es nur 93 im Unternehmen; ausgenommen Saison- und Halbtagsarbeiter. Bis 1945 erwirt‐ schaftete die deutsche Verwaltung mit der Themenauer Keramikfabrik einen Verlust in Höhe von 7 Millionen Kronen. 4. Von 1945 bis heute Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die Keramikfabrik in die Hände der tschechoslowakischen Staatsverwaltung über - František Forejt wurde zum technischen Leiter ernannt und Leopold Levák mit der Verwaltungsleitung be‐ traut. Zwischen dem 24. Mai und dem 16. Juni 1945 wurde eine Dampfmaschine in Betrieb genommen und die Produktion wieder aufgenommen. Es mangelte jedoch an Fachkräften, die diesmal durch die Arbeit Deutscher ausgeglichen wurde, die gefangen genommen wurden und auf ihre Zwangsaussiedlung warteten. Die Arbeitszeit wurde von 7 bis 15 Uhr festgelegt und die Wahl der Betriebsausschuss-Mitglieder abgehalten: Jan Nejezchleba als Vorsitzender, Antonín Nováček, Jaroslav Rebenda, Rudolf Pücher und Ladislav Rus; die Zahl der Beschäftigten pendelte sich in diesen Tagen auf 63 ein. Ab dem 13. August war das Werk wieder an das öffentliche Stromnetz angeschlossen und es wurde versucht, so schnell wie möglich alle Abteilungen und vor allem die Produk‐ tion vollständig wiederherzustellen. Es gab auch finanzielle Schwierigkeiten, mangelndes Kapital und Probleme mit veralteten Maschinen. Ansuchen um Unterstützung an die Rako-Zentrale in Rakonitz blieben ohne Erfolg. Zunächst (1945) wurde das Unternehmen dem Nationalunternehmen Mäh‐ risch-Schlesische Ziegelei (Moravskoslezské cihelny n. p.) zugeordnet, 1947 begann der Wiederaufbau und die Modernisierung der Ziegelfabrik innerhalb des 264 Daniel Lyčka 19 Vgl. MZA, Bestand K 282 Poštorenské keramické závody, s. p., Břeclav (Unter-Themenauer Keramik Unternehmen, Staatsunternehmen, Lundenburg) (1928) 1946-1995, ist nicht bear‐ beitet und für diese Studie nicht einsehbar; Vgl. MZA, Bestand K 283 Revoluční odborové hnutí (ROH) - podnikový výbor Poštorenská keramika, s. p., Břeclav (Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung - Ausschuss für das Themenauer Keramikunternehmen, Staats‐ betrieb, Lundenburg) 1954-1994, ist ebenfalls nicht zugänglich. 20 KREJČÍ 1967. 21 BRŮČEK 1977. nationalen Unternehmens 19 in der kommunistischen Planwirtschaft. Besonders erwähnenswert: In Themenau wurden in den Jahren 1948-1950 rund 250.000 Dachziegel für das Dach des vom Krieg beschädigten Wiener Stephansdomes hergestellt. Ohne Zweifel einer der bekanntesten und wichtigsten Aufträge des ehemals liechtensteinschen Werks. Im Jahre 1950 wurde die Themenauer-Niederlassung aus dem Rako-Unter‐ nehmen ausgegliedert und das unabhängige Nationalunternehmen Themenauer Keramikwerk (Poštorenské keramické závody, n. p.) gegründet. Es folgte die Aus‐ weitung der Ziegelproduktion und anschließend die Produktion von Abwasser‐ rohren in Werk C, wo 1950-1951 der erste Tunnelofen in der Tschechoslowakei zum Brennen von Abwasserrohren errichtet wurde. In den Jahren 1957-1959 wurde Werk C weiter ausgebaut. Werk B wurde am 1. Oktober 1957 in Betrieb genommen und zwischen 1959 und 1962 erweitert. 1965 wurde die Ziegelabteilung aufgelassen und in eine Abteilung für chemisches Steinzeug umgewandelt. Dadurch wurde das Themenauer Werk der größte Her‐ steller von Abwassersteinzeug in der Tschechoslowakei. Für diese Produkte fanden sich auch Absatzmärkte in Österreich und (West-)Deutschland. 20 In den 1970er Jahren war Pavel Krpčár Geschäftsführer des Unternehmens. Dank der Informationen aus dem Almanach 110 let PKZ Poštorná (110 Jahre Themenauer Keramikwerk) aus dem Jahr 1977, wissen wir, dass dieses Unternehmen in Schattau/ Šatov und Lechwitz/ Lechovice in Südmähren zwei weitere Niederlassungen hatte. In Themenau waren drei Abteilungen in Betrieb: Werk B zur Herstellung von Abwasserrohren, Rohr-Verbindungsstücken, Gartenkeramik, Kaminverkleidungen und Fassadenstreifen; Werk C, spezialisiert auf die Herstellung von Steinzeug‐ rohren, und Werk D, wo hauptsächlich gepresstes, handgeformtes und gegossenes Steinzeug hergestellt wurde. Im Schattauer Werk wurden Fliesen, Fassadenstreifen und Schornstein-Auskleidungen hergestellt. Zu den wichtigsten Abnehmer-Staaten gehörten Österreich, BRD, die Schweiz, Liechtenstein, Schweden, die DDR, Polen, Ungarn, die UdSSR, Bulgarien und Jugoslawien. 21 Nach 1989 gab es im Unternehmen eine weitere Umstrukturierung, denn im Zusammenhang mit der Veränderung der Marktwirtschaft ging in den neunziger Jahren die Nachfrage nach Steingutprodukten zurück. Infolgedessen 265 Ort - Unternehmen - Menschen 22 PKZ KERAMIKA POŠTORNÁ (2011): Geschichte (online). https: / / www.pkz-kera‐ mika.cz/ de/ historie.html (21. 2. 2020). fand 1998 eine tiefgreifende Umstrukturierung des Unternehmens statt und die unproduktiven Abteilungen wurden komplett aufgelassen. Nur die Herstellung von Gebrauchskeramik für den lokalen Markt wurde am Standort Themenau beibehalten und an die ehemalige Tochtergesellschaft der PKZ Themenauer Keramik Betriebs AG (Poštorenské keramické závody) abgetreten, welche heute unter dem Namen PKZ Keramik AG (PKZ Keramika Poštorná) firmiert. 22 5. Zusammenfassung Der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye und die dadurch bedingte Änderung der Staatsgrenze (1920) führten für Jahre auch zu einer Veränderung der Wirtschafts‐ beziehungen, und wirkte sich auch auf das fürstliche Unternehmen in Unter- Themenau aus. Obwohl es eines der wenigen Unternehmen war, in welches Fürst Johann II. von Liechtenstein im Laufe der Jahre beträchtliches Kapital für die Modernisierung der Produktionsprozesse investiert hatte, beschloss er nach dem Abtreten der Stadt Feldsberg an die neu gegründete Tschechoslowakische Republik, alles zu verkaufen. Die neue Unternehmensleitung, aber auch die Umstrukturierung der Handelbeziehungen in Europa und schließlich die Weltwirtschaftskrise führten allmählich zu einer Stagnation der Produktion. Während der deutschen Besatzung (1938-1945) wurde die Fabrik zu einer Art Arbeitslager für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann ein weiteres neues Kapitel für das Unternehmen. Obgleich der mit Sicherheit bekannteste Auftrag erfüllt wurde - die Lieferung glasierter Dachziegel für den im Krieg zerstörten Wiener Stephansdom - konnte sich das Themenauer Keramikwerk schon vorher der Verstaatlichung nicht entziehen. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts änderte sich auch die angebotene Produktpalette. Das Themenauer Keramikunternehmen ist sowohl ein Ort der Erinnerung, der mit der Geschichte der Ortschaft Unterthemenau (heute ein Stadtteil von Lundenburg) eng verbunden ist, es ist aber auch eine Betriebsstätte, wo einerseits eine beträchtliche Anzahl von Dorfbewohnern gearbeitet hat und wo andererseits die Unternehmensgeschichte zugleich ein Teil der Lebensge‐ schichte einzelner Mitarbeiter ist. Es ist aber auch ein Ort der Erinnerung an die Werke des fürstlichen Architekten Weinbrenner, welche die ehemals rege Bautätigkeit der liechtensteinschen Fürstenfamilie auf beiden Seiten der heutigen Staatsgrenze repräsentieren. Gerade die Gebäude und die Produkte des fürstlichen Unternehmens sind heute immer noch Zeugen einer früheren 266 Daniel Lyčka staatlichen Regelung, und stehen auch für die Tatsache, dass die Liechtensteiner ein Adel ‚ohne Rücksichtnahme auf Landesgrenzen‘ waren. Abbildungen (Privatsammlung von Herrn Ing. Stanislav Schneider, Galerie Reistna Valtice): Abb. 1: Inserat - „Thonwarenu. Ziegelfabrik Unter-Themenau bei Lundenburg“. Abb. 2: Aktie über 200 Kronen (200 K) der „Rakovnických a Poštorenských keramických závodů akciových v Praze“ [Rakonitzer und Unter-Themenauer Keramikwerke AG in Prag], 1. Juli 1920. 267 Ort - Unternehmen - Menschen Abb. 3: Briefwechsel vom 12. Feber 1901 zwischen dem fürstlichen Unternehmen und der fürstlichen Verwaltung der Herrschaft in Lundenburg. Auf dem Briefkopf zeitgemäß dargestellt die „Fürstlich Johann von und zu Liechtenstein’sche Thonwarenu. Ziegel‐ fabrik Unter-Themenau“. 268 Daniel Lyčka Literatur (die bereits in den Fußnoten angegebenen Archivalien werden nicht mehr aufgelistet) BRŮČEK, Miroslav (hrsg.) (1977): Almanach »110 let PKZ Poštorná« (110 Jahre Themen‐ auer Keramikwerk). Lundenburg. CZAJKOWSKI, Petr (2016): Sbírka kresby, grafiky a fotografie na Státním zámku Lednice: Britanika & Liechtensteiniana (Sammlung von Zeichnungen, Grafiken und Fotografien im staatlichen Schloss Eisgrub / Großbritannien & Liechtenstein). Brno: Národní památ‐ kový ústav, územní odborné pracoviště v Brně. FRIEDL, Dieter (2011-2018): Carl Weinbrenner. Bernhardsthal (unveröffentlichtes Manu‐ skript). GERŠIC, Miroslav (2001): K dějinám Poštorné do počátku 1. světové války (Zur Ge‐ schichte von Unter-Themenau bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs). In: Kordiovský, Emil / Klanicová, Evženie (hrsg.): Město Břeclav (Stadt Lundenburg). Brünn: Muzejní a vlastivědná společnost (Museums- und Regionalgeschichtsverein), S. 177-185. 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Nikolsburg (Mikulov): Heimatmuseum, S. 6-19. 269 Ort - Unternehmen - Menschen Internationale Trajektorien und Netzwerke „Bei uns in Reichenberg.“ Autobiographien der deutschsprachigen Komiker Paul Hörbiger, Max Böhm und Fritz Eckhardt als Verhandlungsorte der Identitäten Michaela Kuklová Abstract Until 1945, the numerous German-speaking theatres in the Bohemian lands served as a crucial steppingstone in the career of a number of actors, many of whom had their first experiences in professional acting on these stages and perceived their time there as a valuable period in their lives. In this contribution, I discuss the autobiographies of actors Paul Hörbiger, Fritz Eckhardt and Max Böhm in order to analyze how they construct their personal and professional identities against the background of the political situation between 1918 and 1945 as well as the changing working conditions in Czechoslovakia. I also look at how and with which narrative devices The Municipal Theatre of Liberec/ Reichenberg and the stages of West-Bohemian spa towns, on which the actors worked during the summer months, are presented in the autobiographies, showing which positions and functions these theatres had in the actors’ careers. Combining approaches from social and cultural studies, I understand the actors’ autobiographies as performative acts and sites of intity negotiation. Keywords actor’s autobiography; artist identity, theatre history; provincial theatre 1 ECKHARDT 1989: 31-38. 2 Fritz Eckhardt (30.11.1907 Linz - 31.12.1995 Klosterneuburg), Sohn des Theaterdirektors Viktor Eckhardt und der Schauspielerin Helene Norman, war als österreichischer Schauspieler vor allem für seine komischen Rollen bekannt, insbesondere auch im Fernsehen. 3 Paul Hörbiger (29.4.1894 Budapest - 5.3.1981 Wien) war ein österreichischer Theater- und Filmschauspieler, der vor allem in komischen Rollen brillierte. 4 Max Böhm (23.8.1916 Wien - 26.12.1982 Wien) ein österreichischer Schauspieler und Kabarettist. 5 Zur Theatergeschichte des Reichenberger Stadttheaters forschte Jiří JANÁČEK 2004, 2010. 6 In Reichenberg lebte eine deutsche Mehrheit. Ab 1924 wurde von der tschechoslowaki‐ schen Regierung vorgeschrieben, dass das Theater an bestimmten Tagen an tschechi‐ sche Theatergesellschaften vermietet wird. Mehr zum tschechischen Repertoire bei JANÁČEK (2004: 41-58). 7 In der vom Theaterinstitut in Prag erstellten Online-Enzyklopädie zum deutschspra‐ chigen Theater werden ca. 20 deutschsprachige Theater angeführt (ZEMANOVÁ URBANOVÁ). Es handelt sich wohl um diejenigen, die eng an ein Gebäude gebunden waren. Unterschiedliche Veranstaltungsorte und variable Bezeichnungen der Spiel‐ stätten erschweren die Identifikation der einzelnen Spielgesellschaften; Paul S. ULRICH Die sogenannte Provinz, in die es Schauspieler damals zog, war zu einem großen Teil die Tschechoslowakei, wo es viele deutsche Theater gab, die meistens von reichen Fabrikanten unterstützt wurden und ein ganz beträchtliches Niveau hatten. Und in eines dieser Theater zog auch ich ein - in Reichenberg. Es war ein schönes Haus, nach Plänen der Architekten Helmer und Fellner errichtet, die auch das Wiener Volkstheater erbaut hatten und - mit gewissen Reduktionen - diesen Bau in Reichenberg wiederholten. [...] Reichenberg war eine hübsche, geschäftige Stadt, und die Leute waren nett, liebten ihre Stadt und sogar ihre Schauspieler. 1 Mit diesen Worten leitet der berühmte österreichische Kabarettist Fritz Eck‐ hardt 2 die Erinnerungen an sein allererstes Engagement ein. Auch bei Paul Hörbiger 3 und Max Böhm 4 erwies sich das Reichenberger Theater in den auto‐ biographischen Selbstdeutungen als die erste wichtige Stufe auf ihrer Karriere‐ leiter. Hier waren sie zu unterschiedlichen Zeiten tätig; mit ihren Engagements decken sie einen langen Zeitraum in der Theatergeschichte Reichenbergs ab. Paul Hörbiger schloss seinen Vertrag im Jahre 1919, Fritz Eckhardt verbrachte die Saison 1926/ 1927 in Reichenberg. Max Böhm stieg im Jahre 1936 aus dem Egerer „Schmierentheater“ nach Reichenberg auf. 5 Das im Jahre 1883 errichtete Reichenberger Stadttheater gehörte bis 1945 zu den zahlreichen deutschsprachigen Theatern in den böhmischen Ländern. 6 Für viele Schauspieler_innen fungierten diese Provinztheater als Sprungbrett für ihre weitere Laufbahn. 7 Auf diesen Bühnen sammelten sie ihre ersten 274 Michaela Kuklová 2019 spricht nach der Auswertung der Theateralmanache von bis zu 700 Spielstätten und Gesellschaften. 8 Erst in den letzten zehn Jahren entstanden Monographien, die sich umfangreicher mit den einzelnen deutschsprachigen Theatern im 19. und 20. Jahrhundert auseinan‐ dersetzen. Auswahl aus zentralen Publikationen: zum Prager Theater LUDVOVÁ 2012, JAKUBCOVÁ [et al.] 2001, zu den Theatern in Mähren und Schlesien HAVLÍČKOVÁ [et al.] 2010, 2011-2014, zu Brünn Wessely 2011, allgemein SRBA / STÁREK 2004. 9 Dieser Beitrag präsentiert unveröffentlichte Ergebnisse des FWF-Projektes Zwischen Provinz und Metropole. Schauspieler*innen-Autobiographien als Schauplätze der Aus‐ handlung kultureller Identitäten, das am Institut für Kulturwissenschaften und Theater‐ geschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wurde. An diesem Projekt habe ich mit meiner Kollegin Katharina Wessely 2015-2018 ge‐ arbeitet. Untersucht wurden über 30 Autobiographien der deutschsprachigen Schau‐ spieler_innen, die im 19. und 20. Jahrhundert in den böhmischen Ländern tätig waren. 10 WAGNER-EGELHAAF 2019, BACHMANN-MEDICK 2009, KLEIN 2009, DEPKAT 2014, RÜSEN / GOTTLOB 1998. Berufserfahrungen und viele hielten es für eine lehrreiche Zeit. Eine typische Schauspielkarriere wird als Aufstieg von den kleineren Provinztheatern (Leit‐ meritz, Gablonz, Krumau) über die mittleren (Aussig, Reichenberg, Olmütz) und größeren Häuser (Prag, Brünn) hin zu den erträumten Bühnen wie dem Burgtheater oder dem Deutschen Theater Berlin wahrgenommen. 8 Dies weist auf einen wichtigen Aspekt des Schauspielerberufs hin: den ständigen Enga‐ gement- und Ortswechsel. In den Schauspieler_innen-Autobiographien domi‐ nieren daher die Darstellungen und Deutungen der einzelnen Engagements und Theaterbetriebe im Hinblick auf ihre künstlerische Karriere. Die Analyse und die Interpretation dieser Vergangenheitsversionen und Geschichtsbilder richten das theatergeschichtliche Erkenntnisinteresse auf Akteur_innen und ihre Mobi‐ lität (Gastauftritte, Engagementwechsel, Tourneen, Sommerengagements etc.). Diese Zugänge implementieren mögliche sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen in die bestehenden theaterwissenschaftlichen Untersuchungen der deutschsprachigen Theaterlandschaft in den böhmischen Ländern, welche in diesem Beitrag präsentiert werden. 9 Bedeutung der Autobiographie für die Theatergeschichte Von den Theaterhistoriker_innen werden Autobiographien meistens für eine hybride Gattung und eine unzuverlässige, zwischen dem Faktischen und Fik‐ tiven verortete Quelle gehalten, der prinzipiell wenig Wertschätzung entge‐ gengebracht wird. Durch die sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätze 10 bekommt die Autobiographie einen neuen Stellenwert, sie bietet eine „Aus‐ kunft über Geschichte individueller und kollektiver Sinnstiftungsprozesse in 275 „Bei uns in Reichenberg.“ 11 DEPKAT 2010: 179. Mit der Perspektive der Autobiographie in der Geschichtsschrei‐ bung beschäftigt sich Volker Depkat in seinen weiteren Abhandlungen (2003, 2014, 2017). Die Bedeutung der Autobiographie für die Literaturwissenschaft behandelt WAGNER-EGELHAAF 2010, 2017. In der Theatergeschichte setzen sich mit Autobio‐ graphien und Identitätskonstruktionen z. B. BRATTON 2003, CORBETT 2004, POST‐ LEWAIT 2000 auseinander. 12 Vgl. DEPKAT 2015: 47. 13 Mit dieser These und dem Konzept mental map arbeitet Katharina Wessely in ihren Abhandlungen zur Mobilität. In ihrem Text aus dem Jahre 2020 untersucht sie die Mobilität im 19. Jahrhundert anhand der Autobiographien der Schauspieler Alois Wohlmuth, Felix Schweighofer und Heinrich Prechtler. 14 Zur Autobiographie als Gedächtnisgattung par excellence siehe ERLL / GYMNICH 2003, ERLL / NÜNNING 2004, 2005. Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen.“ 11 Autobiographien werden als Aushandlungsort von Identitäten und als performativer Akt betrachtet. Im narrativen Erinnerungsprozess werden zum einem (personale und kollektive) Identitäten thematisiert und konstruiert, zum anderen wird das Vergangene gedeutet und rekonstruiert. 12 In Bezug auf die Schauspieler_innen-Autobiographien ergeben sich drei mögliche Bereiche für Fragestellungen. Erstens könnten einzelne Elemente bzw. Faktoren der personalen und kollektiven Identitätsentwürfe der Schau‐ spieler_innen analysiert werden. Diesbezüglich ergeben sich Fragen nach der Bedeutung ihrer Berufung, dem Familienhintergrund, den Vorstellungen einer typischen Schauspieler_innenkarriere und nach der Intensität des herge‐ stellten Zusammenhangs zwischen der persönlichen und der künstlerischen Entwicklung. Was die Darstellungen des Theaterbetriebs anbelangt, könnten die Beschreibungen der Probearbeit, der Lehrzeit oder die Rolle der Direktoren untersucht werden. Im Rahmen der Selbst- und Fremdbeschreibungen wird auf die Charakteristika des Ensembles und die Selbstpositionierung in einzelnen Theatern fokussiert. Zweitens rücken unterschiedliche Formen der Mobilität und die Kategorie des Raumes in den Mittelpunkt. Mit einer detaillierten Analyse der Deutungen und Zuschreibungen zu einzelnen Theaterorten, die eine bestimmte Position in der Schauspieler_innenkarriere einnehmen, kann ein wichtiger Beitrag zur Konstruktion der deutschsprachigen Theaterlandschaft der Habsburger Monarchie und ihrer Nachfolgestaaten geleistet werden. 13 Drittens werden in den Autobiographien nicht nur individuelle Erinnerungen, sondern auch Ereignisse des kollektiven Gedächtnisses dargestellt und gedeutet, bestimmte Normen und Werte vermittelt. 14 Diejenigen, die bis zum Jahre 1945 in den böhmischen Ländern tätig waren, erlebten mehrere historische Umbrüche, die die Ausübung ihres Berufs wesentlich beeinflussten. In ihren autobiographi‐ schen Texten reflektieren sie auch intensiv das multiethnische und -kulturelle 276 Michaela Kuklová 15 Das Theater als Verhandlungsort der nationalen, religiösen und politischen Identität erarbeitete ich detailliert in der Monographie über den Schauspieler, Schriftsteller und Kulturvermittler Peter Lotar. Vgl. KUKLOVÁ 2019. 16 ECKHARDT 1989: 29. Umfeld. Die Biographien der Schauspieler_innen als Akteur_innen der Mobi‐ lität selbst zeichnen sich durch transkulturelle Phänomene (Multikulturalität, Mehrsprachigkeit etc.) wesentlich aus. In der Forschung zur transkulturellen Geschichte der multiethnischen tschechoslowakischen Gesellschaft wurden zwar Repräsentant_innen unterschiedlicher kultureller, ethnischer, sozialer und sprachlicher Zugehörigkeiten untersucht. Gerade die Schauspieler_innen, die ganz besonders zu den Grenzgänger_innen und Kulturvermittler_innen ge‐ hören, sind aber in diesem Diskurs leider eine noch unsystematisch behandelte Berufsgruppe. 15 Anhand der Autobiographien von Hörbiger, Eckhardt und Böhm wird im Folgenden gezeigt, wie sie ihre personale Identität und die Berufsidentität als Schauspieler vor dem Hintergrund der politischen Situation 1918-1945 und der sich verändernden Arbeitsbedingungen in der Tschechoslowakei konstruieren. Weiters wird untersucht, wie das Stadttheater Reichenberg und die westböhmi‐ schen Kurortbühnen, an denen sie in den Sommermonaten beschäftigt waren, dargestellt werden und mit welchen erzählerischen Verfahren dies geschieht. Dadurch wird gezeigt, welche Stellung und Funktion diese Theater in ihrem Werdegang einnahmen. Entsprechend werden die wichtigsten Topoi in Bezug auf ihre Reichenberger Tätigkeit und auf die Theater-Engagements in Kurorten aus den Texten herausgearbeitet. Nicht zuletzt wird das Augenmerk auf ihre ethnischen und politischen Identitätsentwürfe gerichtet. Konstruktion der künstlerischen Identität Topos schwieriger Anfang Zu den Haupttopoi in den Schauspieler_innen-Autobiographien gehören der Anfang und Durchbruch an Theatern. In den meisten Autobiographien werden der schwierige Anfang, naive und übersteigerte Hoffnungen auf schnellen Erfolg und die dementsprechenden nachfolgenden Enttäuschungen geschildert. Ähnlich ging es auch den drei Schauspielern, die unabhängig voneinander nach Reichenberg kamen. Für Paul Hörbiger und Fritz Eckhardt war das Engagement in Reichenberg ihr erstes, für Max Böhm eines der ersten. Alle drei waren jung und „wollten spielen, spielen und nochmals spielen. Viele, große und gute Rollen [...]“ 16 . Der Berufsumstände unkundig zu sein, erschwerte manches. Hörbiger 277 „Bei uns in Reichenberg.“ 17 HÖRBIGER 1994: 84. 18 ECKHARDT 1989: 45. 19 HÖRBIGER 1994: 85. 20 ECKHARDT 1989: 38. weigerte sich zum Beispiel, den Vertrag für den „jugendlichen Liebhaber“ zu unterschreiben, weil er die Rollenfächer nicht kannte. Der 19-jährige Eckhardt floh aus Wien, weil er nicht im Schatten großer Komiker stehen wollte. Die Situation war für junge Schauspieler jedoch auch in Reichenberg nicht einfach. Anfängliche Enttäuschung verursachten die regel‐ mäßigen Gastauftritte von Starschauspielern. Hörbiger zeichnet das Bild eines kleinen Stadttheaters, in dem jede Woche eine Premiere stattfand, weil Gaststars wie Alexander Moissi, Max Pallenberg, Rudolf Tyrolt oder Paul Morgan die Titelrollen übernahmen: Gespielt wurde alles - Oper, Operette, Klassiker, Lustspiele, aber wir vom festen Ensemble waren zu winzigen Rollen verdammt. Solche habe ich in Rigoletto und Maskenball gegeben. Die dankbaren Aufgaben fielen den Gaststars zu. 17 Ähnlich klingt es bei Eckhardt: Meine Anfänge in Reichenberg waren nicht gerade berauschend, wenn auch durchaus nicht ohne Erfolg. Aber der jugendliche Komiker steht bei Schwänken immer im Schatten des ‚großen‘ Komikers, und bei Lustspielen spielt ihn der sogenannte Bonvivant an die Wand. Ich war also bei weitem nicht der Publikumsliebling, als den ich mich gerne gesehen hätte. 18 Die Entdeckung für das passende Fach und der Durchbruch am Stadttheater wird bei allen drei Schauspielern als Zufall geschildert, auf den sie sich je‐ doch durchgehend vorbereiteten und den sie (insgeheim) erwarteten. Das Ein‐ springen für einen kranken oder abwesenden Kollegen brachte ihnen allmählich Ansehen bei Regisseuren und Publikum. Hörbiger beschreibt den Prozess als harte, geduldige Wartezeit und Annahme jeder Gelegenheit, was sich schließlich auszahlte: Nach ein paar ‚Einspringern‘ war ich beim Reichenberger Publikum recht beliebt und durfte auch Rollen spielen, die meinen vertraglich fixierten Platz im Ensemble bei weitem übertrafen.“ 19 Eckhardt kam im Alter von 19 Jahren mit der fixen Idee nach Reichenberg, seine „Karriere richtig in Schwung zu bringen“ und sich als „neuer Moissi zu etablieren“ 20 . Im Gegensatz zu seinen Wünschen wurde er vom Direktor und Oberregisseur als jugendlicher Komiker gesehen und auch entsprechend 278 Michaela Kuklová 21 Ebd.: 38,46. 22 Vgl. BÖHM 1994: 86. 23 Der Person des Paul Barnay widmet sich auch JANÁČEK (2004: 70-79). 24 BÖHM 1994: 88. 25 HÖRBIGER 1994: 91. beschäftigt. Retrospektiv rechtfertigte er seine hohen Ansprüche und Erwar‐ tungen mit der Naivität seiner Jugend. Nach dem Tod eines Kollegen, der auf der Bühne mitten im Stück gestorben war, sprang er in einer komischen Rolle ein und fand sich in dem neuen Rollenfach rasch zurecht: Es ist etwas Seltsames um das Lachen des Publikums, es erfreut einen Schauspieler mehr als der donnernde Applaus für eine Sterbeszene und machte letzten Endes auch mich glücklich und zufrieden. Mein Gott, ich war jung - neunzehn Jahre -, gesund und liebte meinen Beruf. [...] Ich muß auch recht komisch gewesen sein, denn das Publikum lachte und applau‐ dierte, es war ein voller Erfolg. Natürlich war ich glücklich und zufrieden. Und da ich nicht für die Operette verpflichtet war, erhielt ich ein abendliches Zusatzhonorar von fünfzig Kronen. Das machte das Glück komplett. 21 Max Böhm erinnerte sich, dass auch er einige kleine Umwege auf dem Weg zum Komiker gehen musste. 22 Die Entdeckung seiner Begabung durch Direktor Paul Barnay 23 passierte bei einer gemeinsamen Feier, wo Böhm zur Belustigung des Ensembles bekannte Komiker imitierte: Statt seinen Bannfluch zu schleudern wegen meiner unpassenden ‚Komödiantereien‘ sprach er die entscheidenden Worte: ‚Sie sind ja ein Komiker. Haben Sie das nicht gewußt? Ab heute spielen Sie bei mir alle komischen Rollen! ‘ Das war der bedeutsame Augenblick, in welchem ich fürs ganze Leben zum Spaßmacher entdeckt wurde. 24 Schließlich wurden alle drei für das richtige Rollenfach entdeckt und konnten häufig auftreten, was von Erfolgen beim Publikum begleitet wurde. Das Enga‐ gement im entsprechenden Rollenfach gehörte zu den wichtigsten Faktoren einer geglückten Schauspielerkarriere. In diesem anfänglichen, maßgebenden Entdeckungs- und Suchprozess erfüllte das Stadttheater Reichenberg seine Rolle vollkommen. Hörbiger verbrachte schließlich eineinhalb Jahre in Reichenberg, Eckhardt nur eine Saison, Böhm blieb zwei Saisonen. Bei der Bewertung der an der nordböhmischen Bühne verbrachten Zeit sind sich alle drei einig. Sie haben hier „viel gelernt, sozusagen die Grundbegriffe der Schauspielkunst erfahren.“ 25 Sie schreiben dem Stadttheater eine ausschlaggebende Lehrfunktion im Zuge ihres Werdegangs zu. Der Lernprozess bestand aus einigen Aspekten, auf die in den Autobiographien detailliert eingegangen wird. Wertvolle Spielerfahrungen 279 „Bei uns in Reichenberg.“ 26 BÖHM 1994: 86. Böhm stellt das Reichenberger Theater als Ort dar, wo viele Luststpiele, Operetten und Boulevardstücke gespielt wurden: „Die Qualität der Beschäftigung besserte sich von Mal zu Mal. Alle bedeutenden Lustspielrollen vom Dr. Jura in Hermann Bahrs Konzert über den Heinrich Meisl in der Spanischen Fliege bis zum Traum aller jugendlichen Komiker, die Titelrolle in Charleys Tante, fielen mir zu wie reife Äpfel.“ Ebd.: 88. 27 HÖRBIGER 1994: 90. brachten ihnen gemeinsame Auftritte mit den routinierten Schauspieler_innen, zu denen sie ambivalente Beziehungen pflegten. Einerseits beschuldigten sie sie, ihnen große Rollen wegzunehmen, andererseits sahen sie selber ein, diesen Rollen nicht gewachsen zu sein. In den Darstellungen dominiert die ehrliche Anerkennung der Idole. Nicht zuletzt wirkten auch Regisseure auf ihre Entwick‐ lung ein. Zu den hoch geschätzten Persönlichkeiten des ständigen Ensembles, welche die Bedeutung des Stadttheaters in den 30er Jahren wesentlich prägten und die Aufführungsqualität erheblich beeinflussten, gehörte Paul Barnay, der Max Böhm engagiert hatte: Der große Paul Barnay, ein Theaterdirektor mit außergewöhnlicher Persönlichkeit, der aus politischen Gründen als Leiter der Breslauer Bühnen abgetreten war, wurde nun - ein Glück für Reichenberg - — zum Chef des dortigen Musentempels bestellt. Er hatte aus Breslau großartige Schauspieler mitgebracht und zeigte für unsere Begriffe ein überdurchschnittliches Repertoire von fast großstädtischem Format. Und ich durfte dabei sein! 26 Ihre vielseitigen Fertigkeiten und Kompetenzen konnten sie auch dank der Arbeitsweise eines Provinztheaters weiterentwickeln. Kurze Probezeiten stellten hohe Anforderungen an das Improvisationskönnen und die Flexibi‐ lität der Schauspieler_innen, die nach den Vorstellungen oft privat unter den Kolleg_innen weiter gepflegt wurde. Hörbiger war sehr dankbar für diese in jeder Hinsicht kreative Reichenberger Arbeitsatmosphäre sowohl am Theater als auch im „Kuchl-Kabarett“. Dort entstand ein bedeutender Teil seines zukünf‐ tigen Repertoires: Wir spielten Sketches und sangen Lieder. Gage gab es dafür keine, der Wirt im Kuchl- Kabarett hat sich aber mit Speis und Trank für unsere künstlerischen Darbietungen revanchiert. Wir ließen uns sozusagen freihalten, aber das Ganze war eine Riesenhetz. In dieser Atmosphäre entstand eine Nummer, die ich mein ganzes Leben lang immer wieder gespielt habe und bei meinen Auftritten auch heute noch verwende. 27 Die Bewertung der gesamten Produktion des Stadttheaters Reichenberg ist bei allen drei Komikern sehr hoch. Eckhardt wurde außerdem stark von den 280 Michaela Kuklová 28 ECKHARDT 1989: 39-44. 29 Vgl. SCHLAFFER 2007: 87-89. 30 Die Grenzen und Möglichkeiten einer Anekdote in der Geschichtsschreibung sind vor allem zum Forschungsgegenstand des New Historicism (siehe GREENBLATT 2000) geworden. In dieser Arbeit geht es mehr um die Funktionen der Anekdoten in Identitätsprozessen. Zu Funktionen der Anekdoten in den Künstlerbiographien siehe SOUS SLOFF 2011. 31 WESSELY 2016. Opernaufführungen beeinflusst, obwohl er selbst darin nicht auftrat. Er äußerte große Freude, seinen musikalischen Interessen auch in Reichenberg nachgehen zu können: So verbrachte ich die Abende, an denen ich nicht selbst spielte, in unseren ganz ausgezeichneten Opernvorstellungen. [...] Es sind aber nicht nur die Protagonisten, die das Niveau eines Theaters ausmachen, auch Orchester und Chor gehören dazu, und auch die waren in Reichenberg von ganz ausgezeichneter Qualität. 28 Topos humorvoller Charakter Ein wichtiger Themenbereich in den Autobiographien sind die Charakterisie‐ rungen des Ensembles, der Direktion und des allgemeinen Theaterpersonals sowie die Selbstpositionierung darin. Für diese Beschreibungen und Darstel‐ lungen bedienen sich die Verfasser_innen oft der narrativen Form der Anek‐ dote. 29 Die Autobiographien von Schauspier_innen - und von Künstler_innen generell - zeichnen sich durch zahlreiche Anekdoten aus, die das lineare Erzählen unterbrechen. 30 Diese kurzen, witzigen, oft auf eine Pointe hinauslau‐ fenden Geschichten, in deren Mittelpunkt reale Personen stehen, fokussieren insbesondere Pannen und Streiche auf der Bühne, aber auch hinter den Kulissen; erzählt wird auch von Scherzen, die sich die Schauspieler_innen gegenseitig in Privatsituationen spielten. Im Kontext der untersuchten Selbst- und Fremd‐ bilder übernehmen Anekdoten in den Schauspieler-Autobiographien drei iden‐ titätsstiftende Funktionen: Erstens wird durch das Geschichtenerzählen die Zugehörigkeit der Erzähler zur Zunft der „Komödianten“ betont und bewiesen. 31 Vor allem von den Komikern wird erwartet, in dieser Disziplin herausragend zu agieren. Zweitens belegen die Erzähler mit den Anekdoten, in denen sie eigene Streiche beschreiben, dass sie lustig, einfallsreich, improvisationsfähig, verhandlungsbereit und schlagfertig sind sowie Spaß verstehen, wodurch sie ihre Identität als Komiker festigen. In den Anekdoten wird drittens ein paralleler Blick auf den gesamten Theaterbetrieb angeboten. Thematisiert werden der Pro‐ benverlauf oder die Alltagsroutine; oft wird auch das Bühnenbild beschrieben. 281 „Bei uns in Reichenberg.“ 32 HÖRBIGER 1994: 89. 33 Ebd.: 86. 34 Ebd. In den Autobiographien von Hörbiger, Eckhardt und Böhm kommen Anek‐ doten sehr häufig vor. Paul Hörbiger erzählt aus der Reichenberger Zeit vor allem Anekdoten, in denen er als Urheber vieler Streiche erscheint und sich als geborener Komiker mit der Gabe zum Improvisieren präsentiert. Mit Stolz weist er darauf hin, dabei gleich von den Regisseuren erkannt worden zu sein: „So was kann nur vom Hörbiger kommen.“ 32 Aufs Korn nahm er etwa den ambitio‐ nierten, aber erfolglosen Kollegen Freddy May, der sich vergeblich um größere Rollen bemühte und aufgrund von Hörbigers irreführenden Hinweisen inmitten der Aufführungen für den Regisseur und das Publikum unerwartet auf der Bühne auftauchte. Hinter den Kulissen ersparte Hörbiger seinen Kolleg_innen nichts. Er legte großen Wert auf das heitere Zusammenhalten des Ensembles: „hinter der Bühne wurde mindestens so viel gelacht wie im Zuschauerraum.“ 33 Zum Beispiel erinnert er sich an einen unbeliebten Kollegen, der daran gehindert wurde, sich gleich nach der Aufführung zu einer Verabredung zu begeben: Doch als die Kollegenschaft in seiner Garderobe die feine Ausgehkleidung für das G’spusi mit der Dame aus der ewigen Theaterkonkurrenzstadt sah, wurde sofort ein gar fürchterlicher Plan ausgeheckt. Wir nähten Ärmel und Hosenbeine des Köchel’schen Smokings zu, schnitten sämtliche Knöpfe ab und nagelten zu guter Letzt seine Lackschuhe am Fußboden fest. 34 Die Autobiographie von Fritz Eckhardt ist fast wie eine Anekdotensammlung gestaltet. Dank seiner Erzählkunst wurde er von Freunden aufgefordert, seine Erinnerungen zu verschriftlichen. Die Anekdoten sind mehr nach dem inhalt‐ lichen als nach dem chronologischen Prinzip aneinandergereiht, weshalb es zu zeitlichen Sprüngen kommt. In den Überschriften zu den einzelnen Kapi‐ teln werden direkt die Namen jener Persönlichkeiten angeführt, die jeweils erzählerisch vorgeführt werden. Zum Beispiel werden im Reichenbergkapitel als Einstieg Wanderanekdoten über die großen Schauspieler Sigi Hofer, Fritz Grünbaum und Karl Farkas nacherzählt. In ihnen sah Eckhardt eine starke Konkurrenz, gegen die er sich in Wien als junger Schauspieler nicht durch‐ setzen, gegen die er jedoch durch seine anekdotischen Erzählungen aufbegehren konnte. In den Anekdoten zur Reichenberger Zeit fokussiert er entsprechend seinen musikalischen Vorlieben vor allem auf die Oper. Eine längere Anekdote widmet er dem Zustandekommen eines Engagements, nämlich des sehr talen‐ tierten Tenors Julius Patzak, der wegen seiner verunstalteten rechten Hand selten ein Engagement bekam. 282 Michaela Kuklová 35 Böhm 1994: 93. 36 Ebd.: 92. 37 Vgl. ebd.: 104. 38 Ebd.: 108. Max Böhm erlebte unter der Leitung des berühmten Paul Barnay zwei Saisonen am Stadttheater. Er stellt das Reichenberger Theater als Unterhaltungs‐ stätte dar, wo viele Luststpiele, Operetten und Boulevardstücke gespielt wurden, die ihm ausreichend Raum für sein Komödiantentum und seine Späße boten. Im Mittelpunkt seiner Anekdoten, die in den einzelnen Aufführungen verortet sind und in denen oft auch Bühnenbild, Kostüme und Proben beschrieben werden, positioniert er sich als Urheber zahlreicher erfolgreicher Streiche. Auch Kinder‐ vorstellungen, deren Publikum er sehr mochte, nutzte er, um seine Kolleg_innen zum Lachen zu bringen. Generell reflektierte er den Publikumskontakt und die Publikumsreaktionen intensiv: „Tosender Applaus, der einem Erzkomödianten in den Ohren wohltut wie anderen ein ganzes Chopinkonzert.“ 35 Der komische Faktor ist ein wichtiger Teil seiner Rollenauffassungen: In der Operette Olly Polly brachte ich eine an sich unbedeutende Nebenrolle zum rauschenden Erfolg. Wieder beflügelte mich mein Talent zum Parodieren zu einem ‚Hitʻ. Ich spielte den Hoteldetektiv in Maske und Gehabe des großen blonden Hans von der Waterkant. Ich hatte den Anzug mit den größten Karos ausgesucht und viel Goldstaub in den Haaren und die Augenhöhlen irrsinnig blau geschminkt. Die Zuschauer bogen sich vor Lachen, als ich den nichtssagenden Operettensatz „Hände hoch, Mr. Brown! Sie sind also der Dieb, der uns seit Wochen zum Narren hält. Folgen Sie mir unauffällig! “ mit rauher, whiskygebeizter Stimme des ‚Supermannesʻ Hans Albers brachte. 36 Die heitere Atmosphäre der zweiten Saison unter Direktor Barnay erfuhr in der Erzählung von den leichtsinnigen Späßen, die er mit drei jungen Kollegen spielte, bis zur düsteren Vorahnung der nahenden politischen Ereignisse nach‐ trägliche Sinnstiftung, wobei der bei den Streichen verwendete Deckname Fantomas wie ein Vorzeichen wirkt. Sein unermüdliches Spaßbedürfnis recht‐ fertigt er rückblickend ähnlich wie Eckhardt mit eigener Unreife und dem Noch-Nicht-Erwachsensein. 37 Teilweise wird das Stadttheater auf einen Ort reduziert, in dem Scherze vom Beschmieren der Türklinken mit Senf oder Leim zu Vorsätzlichkeiten auf der Bühne ausarten. Bei einer lustigen Szene auf der Bühne ernst zu bleiben, wurde von Böhm als unentbehrlicher Lernprozess bezeichnet: „Da konnte man lernen, sich eisern selbst zu bemeistern! Ein einziges unbedachtes Gelächter hätte das Chaos zur Folge gehabt.“ 38 283 „Bei uns in Reichenberg.“ 39 In der Theatergeschichte gibt es große Forschungsdesiderata zu diesen Theatern. Über das Karlsbader Theater gibt es lediglich eine Abhandlung von KAUFMANN 1932. 40 HÖRBIGER 1994: 85. Durch ihre Ausschweifungen waren Böhm und seine Kollegen auch in den naheliegenden Lokalen bekannt, wo sie auf fremde Kosten tranken. Hervorge‐ hoben werden die Geschichten mit Felix Knüpfler aus Brünn, der als humorloser Mensch galt und dadurch als unbeliebter Kollege zahlreichen Streichen ausge‐ setzt war. Dadurch, dass die ganze Knüpfler-Episode vor der Atmosphäre der Radiosendungen erzählt wird, in denen Hitler die Besetzung des Sudetenlandes ankündigt, erhält die als Charakterschwäche angeprangerte Humorlosigkeit auch eine politische Dimension. Topos Sommerengagement Mit dem Engagement an Kurorttheatern 39 werden gleich zwei wichtige Topoi angesprochen: häufige Orts- und Engagementwechsel und die existenzielle Unsicherheit. Der Schauspielberuf zeichnet sich durch einen ständigen Engage‐ ment- und Ortswechsel aus, sei es durch Gastauftritte, Tournees, ein besseres Angebot an einem anderen Stadttheater oder die Sommerengagements. Von Reichenberg aus wurde Paul Hörbiger ans Deutsche Theater nach Prag gerufen, Eckhardt wurde nach einem solchen Sommerengagement dann nicht mehr in der Tschechoslowakei angestellt und ging nach Bad Ischl in Österreich. Max Böhm blieb an unterschiedlichen nord- und westböhmischen Bühnen tätig. Zum Engagementwechsel kam es meistens nach zwei bis drei Saisonen, um möglicher Langeweile beim Theaterpublikum durch Abwechslung und neue Schauspieler_innen zuvorzukommen. Aber der Wechsel hing teilweise auch mit finanziellen Problemen zusammen. Der Schauspielerberuf ist prinzipiell mit einer großen existentiellen Unsicherheit verbunden, was als zweiter wich‐ tiger Topos in vielen Autobiographien thematisiert wird wie zum Beispiel bei Hörbiger: „Das ist doch kein Beruf fürs Leben [...].“ 40 Die ständigen Sorgen um das finanzielle Auskommen begleiten vor allem Schauspieler_innen an den kleineren Stadttheatern, wo die Gagen nicht hoch waren und wo nicht das ganze Jahr über gespielt wurde. Der Spielbetrieb am Stadttheater Reichenberg lief - ähnlich wie an anderen Stadttheatern (mit Ausnahme von Prag und Brünn) - von Oktober bis März oder April. An Kurorttheatern wurde von Mai oder Juni bis August oder September gespielt. Dabei übernahmen diese Theater gleich zwei Funktionen: Das Engagement an einer Kurortbühne versprach einerseits gute Verdienstmöglichkeit und andererseits intensive Berufserfahrung mit noch größerem Lernpotenzial als das Engagement am Stadttheater. Franz Eckhardt wurde ‚nur‘ in Karlsbad engagiert, das Engagementrepertoire von Max Böhm 284 Michaela Kuklová 41 ECKHARDT 1989: 57. 42 Ebd. 43 BÖHM 1994: 97. 44 „Da konnte man lernen, lernen, lernen bei diesen großen Könnern [...].“ Ebd.: 98. 45 Ebd.: 102. war umfangreicher. Er spielte an den drei bekannten Kurorttheatern in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad, später am Teplitzer Theater und nicht zuletzt an kleinen Wanderbühnen zwischen Asch und Böhmisch Leipa. Eckhardt und Böhm bewerten diese Berufserfahrungen sehr positiv; beide waren unter Oskar Basch, dem Direktor dieses „Schnellkunst-Unternehmens“ 41 , in Karlsbad engagiert. Fritz Eckhardt berichtet: Das Karlsbader Theater war ebenfalls von Helmer und Fellner erbaut worden und fast so groß wie das Stadttheater in Reichenberg. Der Kurtheaterbetrieb war für uns alle äußerst anstrengend. In Karlsbad ging es im Sommer noch geschäftiger zu als in Reichenberg, wo ich monatlich ja schon drei bis vier Premieren zu spielen hatte. Da das Kur-Publikum, das auch das unsere war, teils rasch wechselte, teils über lange Zeit in Karlsbad blieb, mußten wir immer neue Stücke herausbringen. Und von einer Spezialisierung war keine Rede. Jeder Engagierte mußte sowohl im Schauspiel als auch in der Operette mitmachen, und sogar in der Oper habe ich gesungen [...]. 42 Ähnlich erinnert sich Max Böhm einige Jahre später: Sommerengagement an die Kurtheater von Marienbad und Karlsbad. Heitere Ent‐ spannung für die Kurgäste. Beliebter Tummelplatz prominenter Gaststars aus der ganzen Welt. Wirkungsvollste Schulung für junge Schauspieler — wie sehr fehlt heute dem Nachwuchs die sudetendeutsche Provinz! Welche unerhörte Routine bekam man bei dem rasanten Repertoirewechsel: „Du mußt heut’ abend den Turnlehrer spielen! Ein Kollege ist erkrankt! “ [...] Ich spielte täglich etwas anderes: Verbrecher, Diener, Reporter, Greise, Gerichtsvollzieher, einen Malayen usw. 43 In diesen zwei Zitaten werden die charakteristischen Aspekte der Theaterar‐ beit an den Sommerbühnen angesprochen: fast keine Probezeit und ständiger Rollenwechsel, was auch zahlreiche Missgeschicke oder Textaussetzer bei den Aufführungen zur Folge hatte. Auch hier taucht der Topos der Gaststars auf, der wiederum zwiespältig bewertet wird. 44 Böhm sieht ein, dass er neben der Komi‐ kerin Gisela Werbezirk oder dem Komiker Paul Morgan sein Selbstbewusstsein stärken und als Komiker großen Applaus und Lachanfälle beim Publikum hervorrufen konnte, aber zugleich fühlte er, dass seine Persönlichkeit teilweise verdrängt wurde: „Sie werden begreifen, daß es mir in diesem Kurtheaterenga‐ gement nur selten gelang, meine eigene, ganz persönliche Note zu finden.“ 45 285 „Bei uns in Reichenberg.“ 46 Vgl. ebd.: 126. 47 ECKHARDT 1989: 62. 48 Christoph SEIFENER 2005 untersucht insbesondere die Autobiographien der Schau‐ spieler_innen, die sich in ihren Texten sehr intensiv mit der Exilerfahrung auseinan‐ dersetzen. 49 KUKLOVÁ 2019. Dies passierte ihm eher an Wandertheatern, an denen er durch unterschiedliche spontane und ungeplante Kulturereignisse seine Begabung für das Kabarett entdeckte. 46 In Eckhardts Anekdoten zur Karlsbadener Zeit kommen die gleichen Gast‐ schauspieler_innen vor wie bei Böhm, wobei die Bewertungen sich unter‐ scheiden. Der erwähnte Paul Morgan wird - anders als bei Böhm - eher als untalentierter Komiker dargestellt. Im Mittelpunkt seiner Erinnerungen stehen ebenfalls zahlreiche Opernaufführungen. Im Sommertheater fehlte die Ernsthaftigkeit vielleicht sogar noch mehr als im Stadttheaterbetrieb. Eckhardt enthüllt sich dabei sogar als Urheber eines Streichs, der seinem angebeteten Tenor Leo Slezak gespielt worden war: „Bei der dritten und letzten Vorstellung seines Gastspiels heckte ich Lausbub eine kleine Intrige gegen ihn aus.“ 47 Konstruktion ethnischer und politischer Identität In den Autobiographien der Schauspieler_innen, die in den 20er und 30er Jahren an den böhmischen und mährischen Theatern tätig waren, ist zu beob‐ achten, dass sie im Verlauf der Erzählung auch Themen behandeln, die nicht nur das Theater betreffen, sondern von allgemeiner sozialer oder politischer Natur sind. 48 Gerade im untersuchten Zeitraum (1918-1945) änderten sich die Arbeitsbedingungen in der Tschechoslowakei, bzw. im Protektorat Böhmen und Mähren ab 1939 rasant. Die Darstellungen des künstlerischen Werdeganges fließen in die Bildung ihrer ethnischen, religiösen und politischen Identität als Künstler_innen ein. 49 Insbesondere bei den jüdischen Schauspieler_innen rückt das Ringen um jüdische Identität zunehmend ins Zentrum der Darstel‐ lungen. Die Erfahrungen mit Antisemitismus, Nationalitätenkonflikten und Krieg bilden eine Folie, vor der an frühere Lebensphasen und traditionelle Überlieferungen erinnert wird. Es kommt zu Unsicherheiten und einem Paradigmenwechsel bei der Insze‐ nierung der Künstleridentität. Am prägnantesten kommt das bei Böhm zum Ausdruck. Im Engagement am Theater Bremen macht er eine neue Erfahrung: „Ich war zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden und als ganz normal 286 Michaela Kuklová 50 BÖHM 1994: 158. 51 Z. B.: ČAPKOVÁ 2005, HÖHNE 2017, KOELTZSCH 2012, NEKULA 2006. 52 Vgl. BÖHM 1994: 58. 53 HÖRBIGER 1994: 130. angesehen. Dabei war es eine schizophrene Situation: War ich nun Schauspieler und nebenbei Soldat? Oder war ich Soldat und nur nebenbei Schauspieler? “ 50 Die Identitäten der Schauspieler_innen werden durch individuelle soziale Kontakte und Kontexte geprägt. 51 Der bislang geschützte Theaterraum wurde durchlässig. Ihre Schilderungen dazu belegen, wie sich ihr politisches Bewusst‐ sein entwickelt. Dies wird als allmählicher, in manchen Fällen auch schmerz‐ hafter Prozess beschrieben, der aber am, im und durch das Theater verlief. Deutlich wird das etwa bei Max Böhm, den seine Eltern in den schrecklichen Dingen der Politik nicht aufgeklärt hatten, 52 und der das Heraufkommen des Nationalsozialismus am Stadttheater Reichenberg erlebte. Paul Hörbiger be‐ zeichnete sich als Kaisermischung; seine Mutter kam aus Bechin, geboren wurde er in Ungarn, im Ersten Weltkrieg hatte er für die Monarchie gekämpft. Großen Wert legte er als Komiker auf die eigene Mehrsprachigkeit, zur Ziehharmonika sang er ungarische, tschechische, deutsche und österreichische Volkslieder. Erfolge auf der Bühne sammelte er so reichlich wie der Komiker Max Böhm mit dem Böhmakeln: Meine Partner waren Hermann Thimig und Oskar Homolka. Ich legte meinen Toni mit böhmischem Akzent an, schließlich hatte ich nach siebenjährigem Aufenthalt in Reichenberg und Prag zumindest die Grundbegriffe des Tschechischen erlernt. 53 Die kritischen 30er Jahre verbrachte Hörbiger im Engagement am Berliner Theater. Er fokussiert darauf, inwieweit das Theaterleben durch die Natio‐ nalsozialisten beeinflusst wurde. Anekdotenhaft werden seine Skandale mit ‚jiddeln‘ geschildert oder wie man es schafft, jüdische Kolleg_innen anzustellen. Hervorheben kann man auch die in humorvollem Ton erzählten Begegnungen mit Hitler und Göring. Die Anekdote übernimmt in diesem Fall eine weitere Funktion: Es ist eine Bewältigungsstrategie und für ihn scheinbar der einzige gangbare Weg, diese Zeit zu beschreiben. Im Jahre 1938, nach dem Münchner Abkommen, kommt Max Böhm für eine Saison aus Berlin ins Engagement nach Reichenberg zurück und nimmt wahr, wie die alten Werte, die blühende Theatertradition, die gesamte Stadtat‐ mosphäre, und die benachbarten Kurorte durch die Besetzung von SS-Truppen schleichend zugrunde gehen. Er sieht, dass das Publikum, das mit Alltagssorgen kämpft, das Interesse am Theater verloren hat. Er ist sich dessen bewusst, 287 „Bei uns in Reichenberg.“ 54 BÖHM 1994: 132. 55 Ebd.: 131. dass „die Robitscheks, die Pflugbeils, die Grinzweigs“ 54 im Publikum fehlen und das dortige Engagement in dieser Zeit bewertet er als „die uninteressanteste Spielzeit“. 55 Seinen Darstellungen der bedrückenden Lage im Protektorat und in der Kriegszeit stehen Schilderungen seines Privatlebens gegenüber: Der gesellschaftliche Faktor des Reichenberger Theaterlebens ist in Böhms Erinne‐ rungen besonders stark hervorgehoben. Geschildert werden die wertvollen Freundschaften und das fröhliche Beisammensein. Gerade diese Treffen und Kontakte halfen ihm und seinen jüdischen Schauspielkolleg_innen, die um ihr Leben fürchteten, dabei, existenzielle Grenzsituationen zu überstehen. Resümee Unter Beachtung der kommunikationspragmatischen Zugänge und soziokul‐ turellen Funktionen könnten Autobiographien von Schauspieler_innen als bedeutende Medien kultureller Sinnstiftungsprozesse für theatergeschichtliche Fragestellungen zur deutschsprachigen Theaterlandschaft in der damaligen Tschechoslowakei gelesen werden. Die neue Autobiographieforschung be‐ trachtet Autobiographien als sozialen Akt. In diesem Sinne können Autobio‐ graphien von Schauspieler_innen als Orte untersucht werden, an denen diese ihre persönliche und vor allem die Gruppenidentität als Künstler_innen ver‐ handeln, wobei die einzelnen Topoi dieser Konstruktionen wie der schwierige Anfang, der Einfluss einzelner Direktoren und andere Faktoren herausgear‐ beitet werden. In diesem Beitrag wurde auf drei Schauspieler fokussiert, die ihre Karriere zu unterschiedlichen Zeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Reichenberger Stadttheater begannen. Dieses Engagement war entschei‐ dend für sie, sie wurden für das passende Rollenfach entdeckt und sammelten grundlegende Berufserfahrungen. Dadurch schreiben sie dem Stadttheater eine wesentliche Funktion in ihrer Karriere und auch eine bedeutende Position unter den deutschsprachigen Theatern in den böhmischen Ländern zu. Die Deu‐ tungen der kulturellen Prozesse am Stadttheater können die bisherigen, eher unzureichenden theatergeschichtlichen Untersuchungen zum Reichenberger Stadttheater komplementieren, die ihren Schwerpunkt auf das Repertoire und die einzelnen Aufführungen legten. In ihren Wahrnehmungen des Eigenen und des Fremden nutzen die Schau‐ spieler_innen auch Stereotype und reduzierte Bilder, die vor allem in den An‐ ekdoten vorkommen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die 288 Michaela Kuklová Erzähler_innen um exemplarische Darstellungen bemühen. Anekdoten werden als bedeutendes narratives Mittel in den Schauspieler_innen-Autobiographien wahrgenommen und übernehmen mehrere Funktionen: Die Schauspieler_innen drücken durch ihre Begabung, Geschichten zu erzählen, ihre Zugehörigkeit zum ‚Komödiantentum‘ aus; sie präsentieren sich als Komiker; durch die Charakterisierung des Ensembles oder der Tagesroutine am Theater bieten sie ein paralleles Bild des Theaterbetriebs. Nicht zuletzt fungiert das anekdotische Erzählen als Strategie zur Bewältigung vergangener Ereignisse. Das weist darauf hin, dass in den Autobiographien des untersuchten Zeitraums 1918-1945 zuneh‐ mend die gesellschaftspolitischen Umstände reflektiert werden und diese auch einen wichtigen Faktor bei den Identitätsentwürfen der Schauspieler_innen als Künstler_innen darstellen. Literatur Autobiographien BÖHM, Max (1994): Bei uns in Reichenberg. Unvollendete Memoiren fertig erzählt von Georg Markus. (1. Auflage 1983). Wien: Tosa Verlag. ECKHARDT, Fritz (1989): „Ein Schauspieler muss alles können.“ Mein Leben in Anekdoten. München: Herbig. HÖRBIGER, Paul (1994): Ich hab für euch gespielt. Erinnerungen. Aufgezeichnet von Georg Markus (3. Aufl.). (1. Auflage 1979). München: Herbig. Sekundäre Literatur BACHMANN-MEDICK, Doris (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kultur‐ wissenschaften. Reinbek / Hamburg: rowohlt. BRATTON, Jacky (2003): New Readings in Theatre History. 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After 1918 in Czechoslovakia, he became involved as a contributor to the local social democratic and cosmopolitan press in Brno/ Brünn and led a local association of Germanlanguage freethinkers who after 1923 declared themselves as proletarian free thought movement. Between 1925 and 1930, as chairman of the International of Proletarian Freethinkers, based in Vienna, and with many activities in Czechoslovakia, he mediated between Social Democratic and Communist groups within the International, and was intensively active in the developing the programme and public strategies of the socialist freethinkers in Czechoslovakia and Central Europe. At the same time, however, he set himself against both Austrian and Czechoslovak (Germanlanguage) Social Democracy being a member of the latter until 1934, in whose programmes of the late 1920s and early 1930s he does not find a sufficiently principled advocacy of atheism and democratic socialism. Hartwig thus represents a type of international left-wing intellectual, both representative and victim of the sharpening of political agendas on the left and the usurpation of the agenda of proletarian free thought movements in Central European context. 2 TRAMER 1967: 102. 3 TRAMER 1952: 81. 4 Zusammen mit seiner Familie, einschließlich seiner Tochter Mela Hartwig-Spira (1893 Wien - 1967 London), einer österreichisch-britischen Autorin, deren Rekanonisierung dem Droschl-Verlag in Graz zu verdanken ist (Roman Bin ich ein überflüssiger Mensch, Keywords free thought; cosmopolitism; socialism; social democracy; Austria; Cze‐ choslovakia; interwar period; Brno Das Leben Theodor Hartwigs (1872 Wien - 1958 Brünn), laut eines 1967 in der Schweiz publizierten Erinnerungstextes eines „fast legendär gewordenen“ 2 „Altmeisters der Freidenkerbewegung, eines bewährten und allseits bekannten Sozialisten, eines Literaten und vorzüglichen Kenners der psychoanalytischen Forschungsmethoden“ 3 , wäre ein hervorragender Romanstoff. Dennoch muss es hier aus zweierlei Gründen nur knapp nacherzählt werden. Zum einen hat von dem „fast legendärem“ Status, dessen sich Hartwig zumindest bei den Freidenkern erfreute, in die heutige Zeit nichts überdauert: Vor dem Status muss zunächst seine Arbeit erst rekonstruiert werden. Daraus ergibt sich der zweite Grund: Hartwigs Positionierungen im Spannungsfeld politischer und intellektueller Parteibildungen der Linken seiner Zeit sind in einer gewissen Hinsicht noch weit spannender als Hartwigs Namensänderung, seine vom Atheismus begleitete Konversion zum Katholizismus, seine Strafversetzungen als Professor, das Leben im Versteck während der Kriegszeit oder als ‚Deutscher‘ im ‚ent-deutschten‘ Brünn der 1950er Jahre. Der Beitrag verfolgt ein anderes Ziel als Hartwigs langes, konflikt- und ereignisreiches Leben minutiös zu rekonstruieren. Vielmehr wird es darum gehen, Theodor Hartwig als einen in‐ ternational tätigen linken Intellektuellen zu charakterisieren, dessen Tätigkeit, sei es in der Schulreformbewegung nach 1900 oder in der (proletarischen) Freidenkerbewegung nach 1923, sowohl in lokalen - Wiener, Brünner, Prager usf. - Kontexten aufgeht als auch die jeweils unterschiedlichen Verflechtungen bzw. Gegenüberstellungen dieser Kontexte sichtbar macht. Insbesondere Hart‐ wigs intellektuelle, organisatorische und Agitationsarbeit für die Freidenker‐ bewegung soll hier als Beispiel für die weitgehende intellektuelle und im wei‐ teren Sinne auch kulturelle Zusammengehörigkeit Zentraleuropas vorgestellt werden, die jedoch lokale Schwerpunktsetzungen nicht ausschließt, sondern erst verständlich macht. Hartwig repräsentiert somit ‚synekdochisch‘ die dichte intellektuelle und politische Kontaktzone Zentraleuropa. Theodor Hartwig wurde am 25. November 1872 in Wien als Theodor Herzl geboren, den Nachnamen Hartwig nahm er 1895 4 an, gleichzeitig mit der 294 Jan Budňák 2001; Roman Das Weib ist ein Nichts, 2002; Novellen und Erzählungen Das Verbrechen, 2004; Roman Inferno, 2018). 5 FEILCHENFELDT 2010: 399. 6 Bereits am 15. Mai 1896 hielt Hartwig in der Wiener Ethischen Gesellschaft einen Vortrag mit dem Titel „Die Gottes- und Jenseitsidee“, vgl. Neues Wiener Journal, Nr. 919, 15. 5. 1896, S. 4. Die Nähe der Ethischen Gesellschaft zum Freidenkertum ist kaum zu bestreiten, auch wenn über den Inhalt von Hartwigs Vortrag nichts Näheres bekannt ist. Vgl. auch FRAISL 2001. 7 Autor einer extrem erfolgreichen Broschüre Mathematik zum Selbstunterricht, erste Ausgabe 1901, die 1902 ihre 26. Lieferung erreichte (Illustriertes Wiener Extrablatt 1902, Nr. 274, 5. Oktober 1902, S. 34). Nochmal verlegt wurde das Buch vom Wiener Perles- Verlag in 3 Bänden zwischen 1904 und 1906. 8 FEILCHENFELDT 2010: 399. 9 TRAMER 1952: 81. 10 G212 I., Schriften Nr. 4588, 52320 und 52329: Hartwig Theodor (*25.11.1872), Brno - Grohova 34a/ 12. Es handelt sich dabei vor allem um Akten, die seine Pensionierung ab 30. Juni 1925 und die Überweisung seiner Pension betreffen. 1947 wurde ihm die Pension aufgrund nicht vorhandener Bestätigung darüber, dass ihm die tschechoslowa‐ kische Staatsbürgerschaft nicht entzogen wurden, vorübergehend aberkannt. Er musste dann lange mit tschechoslowakischen Behörden verhandeln. Den Akten ist auch zu entnehmen, dass seine Tschechischkenntnisse - die Orthographie ausgenommen - passabel waren. 11 Nach Prag zieht er im September 1939 aus Angst vor Verfolgung und insbesondere seinen „Feinden“ unter den Brünner Deutschen (vgl. Mährisches Landesarchiv, Fonds G212), die ihm laut seiner Angabe von 1945 übelgenommen hätten, eine „antifaschis‐ tische Broschüre im Verlag ‚Volná myšlenka‘ [Der freie Gedanke, d.i. tschechische bürgerliche Freidenker, JB] in Prag“ veröffentlicht zu haben. Diese Broschüre ist auch auf Deutsch, und zwar 1933 im Verlag der US-amerikanischen Freidenker in Wisconsin unter dem Titel Der Faschismus in Deutschland, erschienen. 12 So z.B. bei der letzten Versammlung der Brünner Ortsgruppe des Bundes der proleta‐ rischen Freidenker in der ČSR am 24. Februar 1939 [sic! ], bei der die Anwesenden die Auflösung der Ortsgruppe - der letzten in der Tschechoslowakei - beschlossen Konversion 5 zum Katholizismus, die jedoch, gemessen an seinem späteren radikalen Antiklerikalismus und Atheismus mit großer Wahrscheinlichkeit bereits zu dem Zeitpunkt offenbar nur formell war. 6 Als Mathematiklehrer 7 bzw. Mittelschulprofessor war er von 1895 bis 1925 tätig, ab 1902 in Wiener Neustadt, ab 1905 in Berlin 8 , 1906-1910 in Steyr und ab 1910 an der Ersten deutschen k. u. k. Staatsrealschule in Brünn ( Johannesgasse). 1925 verließ Hartwig sein Lehramt, lebte jedoch, seit 1918 tschechoslowakischer Staatsbürger 9 , weiter vorwiegend in Brünn. Hartwigs Akten im Brünner Mährischen Landesarchiv 10 belegen, dass er sich nach 1918 dauerhaft nur entweder in Prag (1933-1938 und 1939-1945 11 ) oder eben in Brünn aufhielt. Auch in den späten 40er und in den 50er Jahren gibt er immer wieder Brünn als Wohnsitz an und ist in der Stadt auch an historisch entscheidenden Momenten präsent. 12 295 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen haben (Mährisches Landesarchiv, Fonds B26 Polizeidirektion, Karton 2585, Nr. 75588, 191-192). 13 Vgl. HARTWIG 1919: 163. „Wenn irgendeine Überzeugung, so bedarf der Kosmopoli‐ tismus dieser Propaganda der Tat.“ Darunter versteht Hartwig, dass „jeder Einzelne [...] den Kampf, den er selbst gegen seine Animalität führt, nach außen projizieren und an der Humanisierung der Welt praktisch Anteil nehmen“ sollte. 14 Damit soll nicht nahegelegt werden, dass es ein in sich geschlossenes, monadenhaftes Subjekt Hartwig gäbe, das gegen die Vielfalt der (vorgegebenen) Kontexte ausgespielt wäre. Vielmehr soll an Hartwigs Beispiel die teils sehr ähnliche, teils aber auch anders ausgestaltete politische und intellektuelle Lage in Österreich und in der (tschechischsowie deutschsprachigen) Tschechoslowakei erschlossen werden. Im vorliegenden Beitrag soll Theodor Hartwig als ein Intellektueller vorge‐ stellt werden, dessen marxistische Gesinnung und intellektuelles Engagement sich nicht primär als Theoriearbeit äußerten, obgleich Hartwig starkes konzep‐ tuelles Denken hatte und haarscharfer Begriffsarbeit fähig war. Vielmehr war er aber ein Intellektueller, der danach strebte, ein breites Publikum zu begreifen und zu erreichen: ein Intellektueller für Proletarier. Die meisten Texte, die er ver‐ fasst hat, sind als billige Heftausgaben in diversen Freidenker- oder Monistenaffinen Verlagen erschienen, tragen saftige, polemische Titel wie Die „Privat‐ sache“ Religion, Prinzip oder Taktik oder Die Lüge von der „religiös-sittlichen“ Erziehung und lassen sich durchaus als Propaganda bezeichnen - freilich in dem damaligen, gewissermaßen vor-nationalsozialistischen, wertneutralen Sinn des Wortes, wie Hartwig ihn übrigens auch selbst verwendet. 13 Hartwigs Propa‐ ganda ist allerdings dadurch besonders, dass es eben keine Parteipropaganda ist. Hartwig hatte zwar zwischen Mitte 20er und Mitte 30er Jahre hohe Posten in der tschechoslowakischen und internationalen Freidenkerbewegung inne und hatte auch als Herausgeber starken Einfluss auf die Freidenkerpresse, befand sich aber nahezu ununterbrochen im Spannungsfeld verschiedener politischer Akteure, die das politische Potential der (proletarischen) Freidenkerbewegung für sich nutzen wollten, während Hartwig und die von ihm geleiteten Vereine und Publikationsplattformen - gleichwohl mit wesentlichen inneren Spannungen - auf marxistischen (aber eben nicht kommunistischen oder austromarxistischen) Grundsätzen bestanden. Eine der Aufgaben des vorliegenden Beitrags wird es daher sein, die unterschiedlichen Zusammenhänge zu beschreiben, die Hartwig in Österreich, in der (deutschsowie tschechischsprachigen) Tschechoslowakei und im deutschen Gesamtsprachraum mit seinem Denken betreten hat bzw. in die er geraten ist. 14 Hartwigs Laufbahn eines öffentlichen Intellektuellen soll im Folgenden dem Strukturprinzip der Orte bzw. der Räume folgen, in denen er aktiv war: in Wien und in Brünn als Realschulprofessor (1906-1925), Autor der Brünner kosmopoli‐ 296 Jan Budňák 15 Archivfonds Erste deutsche k. k. Staatsrealschule in Brünn, Johannesgasse, Archiv der Stadt Brünn, Fonds N57, Vgl. auch Brünner Zeitung, 28. Juni 1911, Nr. 146, 1. Hartwig kommt aus Steyr. 16 Im Katalog auf das Schuljahr 1925/ 26 wird er nicht mehr angeführt. 17 Sie wurden auch in Buchform veröffentlicht (HARTWIG 1928). 18 Noch in Wien ist in mehreren Auflagen seine Schule der Mathematik zum Selbstun‐ terricht erschienen sowie mehrere Einleitungen zu Themen aus der Mathematik, Geometrie und Physik. tischen Zeitschrift Die Wahrheit (1919-1923) und Vorstandsmitglied der Brünner Freidenker (1921-1923) bzw. der proletarischen Freidenker (1923-1929); in Wien als 1. Vorsitzender der Internationale proletarischer Freidenker (1924-1931), in der allerdings tschechoslowakische Akteure deutscher und tschechischer Zunge ein maßgebliche Rolle spielten, und Exponent von kommunistisch-sozialdemokra‐ tischen Auseinandersetzungen um Einfluss in der Freidenkerbewegung; in Prag (bzw. der gesamten Tschechoslowakei, und darüber hinaus auch europaweit) als Akteur von Auseinandersetzungen zwischen dem proletarischen/ marxistischen und dem nicht-proletarischen Flügel der Freidenkerbewegung; und schließlich als ein die tschechoslowakisch-österreichische Grenze überschreitender Akteur in der Auseinandersetzung um das Wesen des Freidenkertums im Hinblick auf dessen politische Praxis, und damit auch als ein Grenzgänger (und z.T. auch ‚Spielball‘) zwischen der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Partei. Prolog - Lehrer und Bildungsreformer: Wien, Brünn Theodor Hartwig kommt nach Brünn im Jahre 1910 15 als Professor für Ma‐ thematik, geometrisches Zeichnen und Schönschreiben an der 1. deutschen Staatsrealschule in der Johannesgasse ( Jánská). Dort unterrichtet er bis 1925. 16 Bezeichnend ist, dass von seiner Tätigkeit vor 1919, als in Brünn die Kosmo‐ politische Gesellschaft gegründet wird und mit der Zeitschrift Die Wahrheit an die Öffentlichkeit tritt, für die sich Hartwig als Vortragender und Autor betätigt, überhaupt nichts in sozialdemokratischen Blättern der Stadt (z.B. Volksfreund) vorkommt. Die Berichterstattung über Hartwigs öffentliche Auf‐ tritte finden sich ausschließlich in der deutschliberalen Tageszeitung Tagesbote aus Mähren und Schlesien. Das entbehrt angesichts der Art und Weise dieser Betätigungen nicht einer gewissen Logik, da diese sich zumeist auf gut besuchte, mit Lichtbildern gut ausgestattete Vorträge aus Hartwigs Gebirgsaufenthalten, zumeist in den Alpen beschränken. 17 Soweit ich feststellen konnte, beschränkte sich Hartwigs ‚progressive‘ Aktivität in seinem ersten Brünner Jahrzehnt (1910-1919) auf die Gründung der Wandervogel-Gruppe an seiner Schule. Als Intellektueller tritt er lediglich in seiner Eigenschaft als Naturwissenschaftler 18 297 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 19 1912 bringt er in Wien noch die Studie Das Schulwesen Österreichs vom volkswirtschaft‐ lichen Standpunkt heraus. 20 Vgl. den Beitrag „Schulreform in Österreich“ von Hans Kleinpeter in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 4, Heft 4, 122-124 (KLEINPETER 1908). 21 Ebd. 22 HARTWIG 1908. 23 Ebd. an die Öffentlichkeit, indem er die Relativitätstheorie Einsteins den Lesern des Tagesboten vorstellt. Ferner polemisiert er mit Prager Experten, die Einsteins Theorie in Brünn vortragen. Der zeitweilige Rückzug 19 von radikaleren öffentlichen Betätigungen ist bei Hartwig insofern begründet, als er 1910 nach Brünn durchaus ‚strafversetzt‘ wurde. Die Tätigkeit, die er als Lehrer und vor allem als Bildungsreformer, Vertreter des Wiener Vereins für Schulreform  20 und sein Sprachrohr vor 1910 in Wien und Niederösterreich ausgeübt hat, war nämlich radikal genug - und hatte für ihn recht negative Folgen. Der Verein für Schulreform wurde 1907 in Wien gegründet, zu seinen Vordenkern gehörten u. a. Hans Kleinpeter und der deutsche Reformpädagoge Ludwig Gurlitt, und zu seinen Förderern z.B. Ernst Mach oder T. G. Masaryk. 21 Das Thema Bildungsreform hatte vor und um 1910 ein hohes mediales Potential, das sich z.B. an dem wöchentlich erscheinenden Beiblatt der Wiener Tageszeitung Die Zeit ablesen lässt, das den Titel Die pädagogische Zeit trägt. Gerade dort tritt zwischen 1908 und 1910 auch Theodor Hartwig häufig an die Öffentlichkeit. Seine - sowie des Vereins für Schulreform - wichtigste Agenda war die Durchsetzung eines neuen Mittelschultypus, der zwischen Gymnasium und Realschule angesiedelt wäre. Als ‚Realgymnasien‘ sind diese Mittelschulen auch ab 1909 ins Leben gerufen worden. An Hartwigs Beiträgen zu dieser Thematik ist dabei zum einen die Modernität seiner bil‐ dungspolitischen Vorschläge interessant, zum anderen auch sein (nicht nur verbaler) Radikalismus bei deren Begründung und Durchsetzung. Im Beitrag „Bürgerschule und Mittelschulreform“ 22 in der Zeit geht er davon aus, dass die erwartete Neuorganisation der Mittelschulen zunächst nur die Unterstufe betreffen wird, und schlägt dazu die „volle Einheitlichkeit der Unterstufe“ 23 vor. Dann zieht er sofort gegen den ‚Erzfeind‘ dieser Pläne ins Feld: Damit ist zugleich gesagt, daß der altsprachliche Unterricht im Untergymnasium fallen muß. Die Beschäftigung mit Latein und Griechisch stützt sich in erster Linie auf das Studium der Grammatik, und ein derartiger Vorgang ist nicht nur mit Rücksicht auf das jugendliche Alter der Schüler gänzlich verfehlt und unpädagogisch, sondern auch geeignet, die Schüler allen praktischen Berufen zu entfremden. Die Unterstufe soll aber auch eine Vorbereitung für höhere Fachschulen [...] bieten, und es ist 298 Jan Budňák 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Vgl. DIE ZEIT 1909. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. daher die Einführung einer modernen Fremdsprache, beziehungsweise einer zweiten Landessprache statt Latein und Griechisch, dringend zu wünschen. 24 Hartwigs Vorschläge laufen - größtenteils mit dem Verein für Schulreform sowie mit gegenwärtigen pädagogischen Konzepten konform - auf einen einheitli‐ chen bzw. vereinheitlichenden Schultypus hinaus, dessen Unterricht nach dem „individualisierenden Prinzip“ verlaufen würde und die Schüler_innen nicht „uniformiert“ 25 . Den wohl entscheidenden Wendepunkt hat Hartwigs bildungspolitisches Engagement in Wien mit seiner Funktion als Schriftführer des Elternbundes erreicht. Hartwig ging da einen offenen und öffentlichen Streit mit seinen Lehrerkollegen von den Vereinen Mittelschule und Realschule  26 ein, die ihn daraufhin zu einer „Versammlung“ im „Hörsaal 41 der philosophischen Fakultät, einem der größten Säle der Universität“, der „gesteckt voll“ 27 war, vorgeladen haben. Anwesend waren Vertreter des Unterrichtsministeriums, Landesschu‐ linspektoren, Regierungsräte, „beinahe sämtliche Direktoren der Wiener Mit‐ telschulen, zahlreiche Professoren, Hochschüler und Lehramtskandidaten und Kandidatinnen.“ 28 Die einleitende Rede des Vertreters dieser ‚Bildungsfront‘ war „maßvoll, mit sorgfältiger Vermeidung jedes schroffen Ausdruckes“ und „wurde oft von Beifallsstürmen unterbrochen, jeder Satz wurde bejubelt.“ Der Redner sprach sich gegen die Pauschalverdächtigungen, die in der letzten Zeit gegen die Lehrerschaft erhoben worden seien, beklagte es, daß in die Herzen der Eltern und Schüler Mißtrauen gegen die Schule gesät wird, streifte auch die Tätigkeit des Elternbundes, der es vielleicht nicht schlecht meint, aber Böses hervorgerufen hat mit einigen kritischen Worten und sprach zum Schluß sein Bedauern darüber aus, daß selbst aus der Mitte des Standes gegen die Lehrerschaft Beschuldigungen erhoben wurden. 29 „Nun betrat Prof. Hartwig das Podium,“ heißt es unmittelbar darauf, „um sich gegen die Anwürfe zu verteidigen.“ 30 Hartwig erklärt, die Stelle im Elternbund habe er niedergelegt, er habe die Kritik nur „in seinem Namen“ geäußert. Er nehme aber kein Wort davon zurück und unterstütze sogar die Presse, wenn sie kritische Stellungnahmen der Eltern und der Bildungsreformer publik macht. 299 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 31 Ebd. 32 HARTWIG 1910: „Die beiden letzten Vorträge [u.a. der Vortrag „Forderungen zur Mittelschulreform“ von H. Kleinpeter, JB] wurden der pädagogischen Sektion zugeteilt, trotzdem sie es gewiß verdient hätten, in einer Vollversammlung behandelt zu werden. Man wollte es aber offenbar vermeiden, daß die große Frage der Mittelschulreform, die stets zu heftigen Auseinandersetzungen Gelegenheit gibt, eingehend behandelt werde.“ 33 Hartwig will offensichtlich mit seinen Texten eine Art Gesamtprofil des Kosmopoli‐ tismus darstellen. Er verankert den Kosmopolitismus zunächst historisch durch eine ‚Ahnengalerie‘ („Comenius, der Kosmopolit“, „Kants Weltbürgertum“, „Goethe als Kosmopolit“, „Ein Kosmopolit des 17. Jahrhunderts“ [gemeint ist Thomas Hobbes, JB]), dann versucht er, die Überschneidungen mit verwandten intellektuellen und politischen Gedankensystemen zu erörtern („Internationalismus, Pazifismus, Kosmopolitismus“, „Freimaurertum und Kosmopolitismus“, ja sogar in Essays wie „Kain, Moses und Jesus“ und „Christentum und Kosmopolitismus“). Aus diesen Essays zur Standortbestimmung Nachher erklärt der Präfekt des Elternbundes, dass dieser sich mit Hartwig nicht identifiziere, aber trotzdem scharf angegriffen werde. Wenn sich Hartwig etwas später noch zu Wort melden will, wird er „niedergeschrien.“ 31 Nach diesem Kollektivmobbing Hartwigs durch die nahezu gesamte Professionsvertretung schreibt er noch Beiträge für die (Pädagogische) Zeit, z.B. einen langen Bericht über den „Mittelschultag“ im März 1910, der allerdings mit Bitterkeit 32 formuliert ist; aber nach seinem Abgang nach Brünn im Sommer 1910 verschwinden seine pädagogischen Beiträge in der Zeit vollständig. Kosmopolit, Sozialist, Freidenker: Brünn, Prag, Tetschen-Bodenbach Das intellektuelle und politische Klima - die tschechische Sozialdemokratie wurde bei der ersten Parlamentswahl im April 1920 mit 25,7% zur stärksten und die deutsche Sozialdemokratie mit 11,1% zur drittstärksten Partei - der jungen Tschechoslowakischen Republik war für Hartwigs publizistische Tätigkeit eine Art ‚Lebenswasser‘. Seine Tätigkeit dieser Jahre entfaltet sich sogar im Einver‐ nehmen mit dem institutionalisierten Vereins- (Kosmopolitische Gesellschaft, Freie Vereinigung sozialistischer Akademiker) und Parteienbetrieb (Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei bzw. ihre Tageszeitung Volkswille). Die Geltung dieser günstigen Synergie mutet zunächst eher lokal bzw. regional an, d.h. auf Brünn beschränkt, speist sich aber durchaus aus überregionalen, zentraleuropäischen Quellen. Hartwig bringt da zunächst seine ‚Wiener‘ bildungspolitische Expertise und seine Lehrererfahrung in Anschlag. Sein erster ‚Programmbeitrag‘ im ersten Jahrgang der Brünner kosmopolitischen Zeitschrift Die Wahrheit, zu deren philosophisch-soziologischem ‚One-Man-Think-Tank‘ 33 er in kurzer Zeit 300 Jan Budňák des Kosmopolitismus ist Hartwigs Buch Der kosmopolitische Gedanke (HARTWIG 1924) hervorgegangen. 34 HARTWIG 1919. 35 HARTWIG 1920a. 36 Ebd. 37 Hartwig war spätestens seit 1919 Mitglied der DSAP. 1934 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, vgl. SOZIALISTISCHE AKTION 1934 und VOLKSFREUND 1934. 38 VOLKSFREUND 1921. avanciert, heißt „Schule und Kosmopolitismus“. 34 Dort kommt er zwar auch auf die Schulreformbewegung zu sprechen (sie habe „die Abschaffung des Religionsunterrichtes und die Einführung der Morallehre verlangt“), argumen‐ tiert aber viel genereller, ‚intellektueller‘ als in der Pädagogischen Zeit zehn Jahre vorher. Die Schule soll nicht nur ein „Unterrichtsinstitut“ sein, sondern eine „Erziehungsanstalt“, die Menschen zur Vorurteilsfreiheit erziehen soll. Die Religion wird hier zum pars pro toto jeder Art von „Unduldsamkeit“, die den Konfessionen und den Nationalismen gemeinsam ist; ihr Gegenteil ist bei Hartwig eben der Kosmopolitismus. Im sozialdemokratischen Volksfreund lässt er zu demselben Thema wiederum seinen inneren Marxisten zu Wort kommen. Dem sozialdemokratischen ‚Tageszeitungspublikum‘ gegenüber aktualisiert er die Ziele der Schulreformbewegung, besonders das Konzept der Einheitsschule bzw. der einheitlichen Unterstufe, mit Hinweis auf die Aufgabe der Schule, „zur Milderung der bestehenden sozialen Gegensätze“ 35 beizutragen. Die ge‐ genwärtige Mittelschule bezeichnet er als „Klassenschule“, die „die ‚materiell‘ geeigneten, wenn auch unbegabten Schüler, frühzeitig ‚verbildet‘“, und nennt sie die „Pflanzstätte geistigen Hochmutes und ein Kampfmittel des Kapitalismus, um den geistigen Arbeiter in dauernden Gegensatz zu dem manuellen Arbeiter zu bringen, während beide doch als Proletarier in gleicher Weise der Ausbeutung durch den Unternehmer ausgeliefert sind.“ 36 Für „eine Einheitsschule bis zum vollendeten 14. Lebensjahr“ spricht sich der „Gen. Prof. Hartwig“ 37 auch im Vortrag „Humanistische und realistische Bildung“, der im Jänner 1921 in der Brünner Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker gehalten wurde. 38 Hartwig ist in diesen Jahren in Brünner so‐ zialistischen Kreisen aktiv: für den Volksfreund berichtet er regelmäßig z.B. über die Vortragstätigkeit in der Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker, bei der sich Brünner und Wiener linke Intellektuelle sozusagen die Hand reichen. Hartwig schreibt nahezu ‚korreferierend‘ über den Vortrag des Mendel- Forschers und Direktors der Brünner Volkshochschule Hugo Iltis zur „Verer‐ bungsforschung und Menschheitsaufstieg“ (28. und 30. April 1920) oder über die Brünner Vorträge des Mitbegründers der Wiener Ethischen Gesellschaft Wilhelm Jerusalem („Individuum und Menschheit“, 27. 5. 1920 in der Brünner 301 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 39 WESSELY 2011. 40 HARTWIG 1920b. Hartwigs wichtigste Agenda bei Verhandlungen der Brünner deut‐ schen ‚Theaterversammlung‘ ist, ein eigenes neues Theater zu bauen: „Nach zweijäh‐ rigem Kampfe scheint es mir gelungen zu sein, die an der Erhaltung unseres Theaters interessierten Kreise [...] zu überzeugen, daß nur ein eigenes, großes Theater die Frage lösen kann. Vgl. HARTWIG 1921a). 1920 schlägt er dazu eine „Nationalsteuer“ vor und Ende 1921 zeigt er sich zuversichtlich, dass sich diese Lösung durchgesetzt hat. Zum Bau eines neuen deutschen Theaters ist es aber in der Zwischenkriegszeit nicht gekommen. 41 Vgl. BUDŇÁK 2019. Die zitierten Berufsbezeichnungen entnehme ich dem Adreßbuch von Groß-Brünn von 1922. deutschen Technik, am Tag darauf in der Kosmopolitischen Gesellschaft). Im so‐ zialdemokratischen Volksfreund sowie in der kosmopolitischen Wahrheit äußert er sich wiederholt zu der sog. Brünner Theaterfrage, dem wohl umstrittensten kulturpolitischen Thema der ersten Republikjahre in der Stadt, bei dem es darum ging, welches Ensemble in welchem Saal spielen durfte und wie oft. 39 Seine Beiträge zu dieser explosiven Frage zeigen, dass es um 1920 durchaus nicht unmöglich war, sich für die „deutsche Kultur in Brünn“ einzusetzen und mit Ausdrücken wie „das Deutschtum“ zu arbeiten und zugleich die Augen offen zu halten für die bestehende ‚inter-kulturelle‘ Pluralität der Stadt: Übrigens bin ich kürzlich dahin aufgeklärt worden, daß „zwischen den Angestell‐ tengruppen beider Theater und deren künstlerischen Leitern ein vorbildlich gutes Einvernehmen“ besteht, so daß zu hoffen ist, daß bald beide Orchester vereinigt abwechselnd unter der Leitung eines deutschen und eines tschechischen Dirigenten spielen werden, was bekanntlich wirklich und wahrhaftig seinerzeit in Prag der Fall war. [...] [I]ch kann es nicht oft genug wiederholen: die Erhaltung des Deutschtums in Brünn ist mehr eine kulturelle als eine politische Frage. Mit der deutschen Kultur steht und fällt das Deutschtum in Brünn! 40 Nach 1920/ 21 nutzt Hartwig die kosmopolitische Wahrheit zunehmend als Publikationsplattform. Sein Interesse verschiebt sich dabei allerdings auf die Problematik des Freidenkertums. Damit scheint er der Trajektorie der ganzen Brünner Kosmopolitischen Gesellschaft zu folgen. Nachdem 1921 die Brünner Ortsgruppe des Tschechoslowakischen Freidenkerbundes gegründet wurde, tauchen in der Wahrheit wiederholt Beiträge zu diesem Thema auf. Es wäre auch überraschend, wenn das nicht der Fall wäre: Der Herausgeber der Wahrheit, „Produktenhändler“ und „Likörerzeuger“ Edmund Rosenberg, 41 wird bei der ersten Ausschusswahl des Brünner Freidenkerbundes am 9. Oktober 1921 zu dessen Schriftführer gewählt und Theodor Hartwig zu dessen stellvertretendem Obmann. Obmann des Vereins wird Josef Gajdeczka, Literaturprofessor an der Brünner deutschen Technik und der Volkshochschule sowie Kritiker des 302 Jan Budňák 42 „Wer ist ein Freidenker? Ein Mensch, der sich diesen Titel beilegt, muß frei sein (natürlich innerlich frei, denn äußere Abhängigkeit hat mit freiem Denken nichts zu tun). Er muß frei sein von allen Vorurteilen der Religion und des sogenannten Nationalgefühls.“ Vgl. ROSENBERG 1921. Rosenberg lehnt es konsequenterweise, das Freidenkertum auf Konfessionslosigkeit einzuschränken. 43 Hartwig schrieb auch - aber eben nur sehr vereinzelt - sozialistisch ausgerichtete Beiträge für die Wahrheit, z.B. „Sozialismus und Kosmopolitismus“ (HARTWIG 1921b). Dort versucht er, diese beiden Strömungen zu harmonisieren: „Dieser ‚ethische‘ Sozia‐ lismus führt notwendig zum Kosmopolitismus, sowie der Kosmopolitismus umgekehrt auch den sozialen Ausgleich anstreben muß, da Ausbeuter und Ausgebeutete innerhalb einer Rasse, innerhalb einer Nation eigentlich zwei verschiedene Menschenrassen darstellen, welche sich mit derselben oder mit noch größerer Heftigkeit bekämpfen, als die Angehörigen feindlicher Völker“ (Ebd., 152). 44 DIE WAHRHEIT 1923. deutschliberalen Tagesboten aus Mähren und Schlesien. Während sich Rosenberg aber für ein radikal liberales Konzept des Freidenkertums einsetzt, 42 schlägt Hartwig einen explizit sozialistischen, direkt auf Marx Bezug nehmenden Weg zum Freidenkertum ein. Diese Spaltung der Freidenkerbewegung entlang der Achse zwischen liberal-individuellen (Rosenberg) und sozialistisch-klassenbe‐ wussten Perspektiven 43 (Hartwig) führte auch zu der ‚Übernahme‘ der Brünner Freidenker-Ortsgruppe durch den Bund der proletarischen Freidenker in der Tschechoslowakei. Am 6. Oktober 1923 wurde bei der Hauptversammlung die Namensänderung beschlossen und Hartwig zum neuen Obmann der Brünner proletarischen Freidenker gewählt. Gajdeczka und Rosenberg sind aus dem Verein ausgetreten und haben einen eigenen „Freidenkerbund auf vollständig unpolitischer Grundlage“ 44 gegründet, der jedoch keine weitere Aktivität ent‐ faltete. Proletarischer Freidenker im politischen Feld Zentraleuropas: Brünn, Wien, Teplitz-Schönau, Tetschen-Bodenbach, Essen, Prag usf. Die Brünner proletarischen Freidenker haben ihren Vorsitzenden, Hartwig, bald auf eine internationale Laufbahn katapultiert. Im folgenden Abschnitt will ich kurz die Entwicklungsgeschichte der (proletarischen) Freidenkerinterna‐ tionalen in der Zwischenkriegszeit nachzeichnen, mit besonderer Rücksicht auf die Rolle Hartwigs in diesem Prozess. Vor allem will ich mich dabei auf drei Spannungsfelder konzentrieren, sie aber nicht eines nach dem an‐ deren, sondern miteinander verschränkt behandeln: 1. die Entwicklung der internationalen proletarischen Freidenkerbewegung zwischen diversen sozia‐ listischen und kommunistischen Strömungen, 2. Hartwigs Auseinandersetzung 303 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 45 KAISER 1981. 46 Ebd., 189ff. mit zeitgenössischen sozialdemokratischen Parteiprogrammen in Österreich und der Tschechoslowakei sub specie seiner Auffassung des Freidenkertums, und schließlich 3. die Darstellung seiner Freidenkertätigkeit im Kontext der tschechoslowakischen (tschechischsprachigen) Freidenkerbewegung. Bei der Beschreibung der Entwicklung der internationalen proletarischen Freidenkerbewegung in der Zwischenkriegszeit folge ich der umfassenden, minutiös recherchierten Monographie Jochen-Christoph Kaisers Arbeiterbewe‐ gung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiser‐ reich und Weimarer Republik. 45 Dieses Buch enthält sogar mehr, als es mit „Kaiserreich und der Weimarer Republik“ verspricht, da es vor allem in der Zwi‐ schenkriegszeit nicht primär Deutschland, sondern viel eher die internationalen Interaktionen in der Freidenkerbewegung ins Visier nimmt. So rekonstruiert Kaiser auch die Gründung der Proletarischen Freidenkerinternationale (IPF), die sich 1924/ 25 von dem traditionsreichen, überparteilichen Internationalen Freidenkerbund (IFB, Sitz Brüssel, gegründet 1880) abgespalten hat, nachdem ihre Forderung an ‚Brüssel‘, die ganze IFB auf eine marxistische Basis zu stellen, von dieser - wenig überraschend - nicht akzeptiert wurde. Die Forderung, die ganze IFB durch einen Linksruck zu politisieren, ist im Oktober 1924 beim ersten internationalen proletarischen Freidenkerkongress in Wien beschlossen worden und nach deren Ablehnung ist die Proletarische Freidenkerinternationale im Mai/ Juni 1925 beim Kongress im tschechoslowakischen Teplitz-Schönau/ Teplice entstanden. Hartwig ist dort zum 1. Vorsitzenden der IPF gewählt worden, Generalsekretär wird der Österreicher Karl Frantzl. 46 ‚Zentraleuropäisch‘ interessant sind diese Verhandlungen aus zweierlei Hin‐ sicht. Zum einen waren bei dem Wiener sowie bei dem Teplitzer Kongress zahlreiche tschechoslowakische Freidenker aktiv: tschechisch-, deutsch-, aber vor allem zweisprachige. Zum zweiten hat sich - vor allem beim Teplitzer Gründungskongress der IPF 1925 - schon eindeutig die politische Grenzziehung kenntlich gemacht, an der die internationalen proletarischen Freidenker 1930 definitiv scheitern sollen: die zwischen der ‚evolutionären‘ (sozialistischen) und der ‚revolutionären‘ (kommunistischen) Linken innerhalb der proletarischen Freidenkerbewegung. Zum ersten Punkt, der ‚tschechoslowakischen Spur‘ bei den Gründungskon‐ gressen der IPF 1924 und 1925: Beim Wiener Freidenkerkongress im Oktober 1924 führte das Wort für die tschechoslowakische Delegation das damalige Mit‐ glied der Exekutive der Brüsseler Internationale Theodor Bartošek aus Brünn, 304 Jan Budňák 47 Volná myšlenka wurde 1904 gegründet. Ihre gleichnamige Zeitschrift erschien seit 1905. Theodor Bartošek (1877-1954) hatte den Vorsitz zwischen 1910 und 1925 inne. 1925 trat er der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei bei. 48 VOLNÁ MYŠLENKA 1922. „předseda [...] ku konci vyzýval přátele německé národnosti ku spolupráci za účelem konsolidování našeho života jak v ohledu kulturním a politi‐ ckém, tak i sociálním a morálním. My, čeští volní myslitelé, podáváme svým přátelům německé národnosti srdečně a upřímně pravici. Naše přátelství znamená v Brně velmi mnoho.“ 49 1885 Třešť/ Triesch - 1958 Potsdam, aktiv in kommunistischen Parteien in Österreich, Deutschland, der Tschechoslowakei, der DDR. Chefredakteur des Ruhrecho (1920-21), des Vorwärts, der Roten Fahne. 50 KAISER 1981: 192. Vorsitzender des tschechoslowakischen Freidenkerbundes Volná myšlenka. 47 Die Brünner tschechisch- und deutschsprachigen Freidenker hatten zu dem Zeit‐ punkt schon eine reiche gemeinsame Vorgeschichte. Am 12.2.1922 berichtet z.B. das zentrale Organ der tschechoslowakischen Freidenker Volná myšlenka von einer sehr harmonischen gemeinsamen Diskussionssitzung der ‚deutschen‘ und der ‚tschechischen‘ Freidenker in Brünn. Der tschechische Vorsitzende „forderte abschließend die deutschen Freunde zur Mitarbeit auf, um unser öffentliches Leben in kultureller und politischer, sozialer und moralischer Hinsicht zu kon‐ solidieren. Wir, tschechische Freidenker, reichen unseren deutschen Freunden herzlich und ehrlich die rechte Hand. Unsere Freundschaft bedeutet in Brünn sehr viel.“ 48 Im Oktober 1924 berichtet Volná myšlenka ausführlich von dem sozialistischen Freidenkerkongress in Wien, unter anderem auch davon, dass Bartošek und Hartwig im Ottakringer Arbeiterheim vor einem großen Publikum gesprochen haben. Ein Jahr später sollte Bartošek ein ähnlicher sozialistischer Coup, der Hartwig 1923 mit dem Brünner Freidenkerbund gelungen ist, bei den tschechischen Freidenkern missglücken: Am 28. 9. 1925 führt Bartošek, zu dem Zeitpunkt bereits als Vorsitzender von Volná myšlenka abgewählt, seine Unabhängige sozialistische Arbeiterpartei (Nezávislá socialistická strana dělnická) in die KPTsch, und Volná myšlenka bleibt Mitglied der unpolitischen Brüsseler Internationale (IFB). Beim Teplitzer Gründungskongress der IPF ist es wiederum der zu diesem Zeitpunkt tschechoslowakische Freidenker und Kommunist Viktor Stern 49 , der mit seinem Referat für einiges Aufsehen sorgt. Stern, der das zweite Grund‐ satzreferat des Kongresses nach Hartwig hält, „argumentierte konsequent im Sinne marxistisch-leninistischer Denkkategorien und ordnete proletarisches Freidenkertum den Erfordernissen des politischen Kampfes unter.“ 50 Mit seiner Forderung, jede Zusammenarbeit mit nichtsozialistischen Gruppen abzulehnen, setzt sich Stern zwar nicht durch, aber es gelingt ihm, die Wiener Richtlinien der 305 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 51 Ebd.: 205ff. Die ‚sozialistische‘ IPF (mit Hartwig und auf sein Bestreben hin) fusioniert 1931 mit der ‚Brüsseler‘ Freidenkerinternationale, von der sie 1924/ 25 abgesprungen ist. Gemeinsam bilden sie die Internationale Freidenkerunion (IFU). Die kommunistischen Freidenker werden zwar in Deutschland schon 1932 aufgelöst, die kommunistische Freidenkerinternationale vereinigt sich jedoch - im Zuge der sog. Volksfrontpolitik der Komintern nach 1935 - mit der IFU im Jahre 1936 (bei einem in Prag stattfindenden Kongress) wieder. Die dadurch entstandene Weltunion der Freidenker (WUF) konnte aber vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keine notable Tätigkeit entfalten. 52 Hartwig ist Verfasser von einer Reihe von Popularisierungstexten, die in sozialistischen und Freidenkerverlagen in Österreich, der Tschechoslowakei und z.T. auch darüber hinaus stets als deren ‚Flaggschiffe‘ herausgegeben wurden. Das überhaupt erste Buch der Wiener „Freidenkerbücherei“ (erschienen im Freidenkerverlag) ist Hartwigs Die „Privatsache“ Religion (1926), der 2. Jahrgang dieser „Bücherei“ wird von Hartwig Broschüre Die Lüge von der „religiös-sittlichen“ Erziehung (1927) eröffnet. Hartwigs eigenartig fiktionalisierte Auseinandersetzung mit dem Freitod seines Sohnes Kurt (Vorbei... Skizzen und Reflexionen, 1927) ist im Wiener Anzengruber-Verlag - Brüder Suschitzky erschienen, der sich auf monistische, pazifistische, sozialistische Themen konzentrierte, vgl. LECHNER 1994. Die Mitschrift seiner öffentlichen Polemik mit dem „Kapuzinerpater Columban“ Mit oder ohne Gott? Eine Kapuzinerpredigt in sozialistischer Beleuchtung ist 1926 im anderen Wiener linken Verlag erschienen, nämlich bei Rudolf Cerny. Cerny übernahm später auch die „Freidenkerbücherei“. IPF in entscheidenden Punkten, z.B. im Primat des ökonomischen (d.h. Klassen-) Kampfes, zu beeinflussen. Mit dieser Kontroverse innerhalb der proletarischen Freidenkerbewegung wird das ganze Spannungsfeld ihrer späteren Entwicklung abgedeckt: zentraleuropäisch und tschechoslowakisch, sozialistisch und kom‐ munistisch. Die geringste Rolle scheint dort übrigens der Umstand zu spielen, dass Hartwig die ‚deutschen‘ und Stern die ‚tschechischen‘ proletarischen Freidenker aus der Tschechoslowakei repräsentiert. Auch insofern ist Hartwigs Freidenkerengagement mit seiner früheren Tätigkeit für die Kosmopolitische Gesellschaft durchaus kompatibel. Wieder in der Tschechoslowakei (Tetschen-Bodenbach/ Děčín) ist es 1930 auch zur Spaltung der IPF in einen sozialdemokratischen und einen kommunis‐ tischen Verband gleichen Namens gekommen. 51 Die ganze Existenz der IPF war auch durch diese seit dem Gründungskongress bestehenden Meinungsver‐ schiedenheit geprägt und geplagt, und Hartwig musste als 1. Vorsitzender und Programmatiker 52 der IPF zwischen 1925 und 1930 noch manche Streite wie den mit Viktor Stern ausfechten. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass er genauso fest die Positionen der Sozialdemokratie vertreten hat wie seine kommunistischen Gegner die Positionen der KP, ganz im Gegenteil: als proletarischer Freidenker tritt er wiederholt gegen die Kulturpolitik der SPÖ sowie der DSAP auf. Hartwig verwendete z.B. explizit diejenigen Punkte von Otto Bauers „Linzer Programm“ der SPÖ (1926), die dieser auch in seiner 306 Jan Budňák 53 BAUER 1927. 54 HARTWIG 1927: 3. 55 Ebd.: 5-6. 56 Ebd.: 6. Broschüre Sozialdemokratie, Religion und Kirche  53 formuliert hat. In Hartwigs Prinzip oder Taktik betitelten Schrift, die er explizit als ‚Auftragsarbeit‘ des Bundes der proletarischen Freidenker in der Tschechoslowakei stilisiert, 54 nimmt er sich kein Blatt vor den Mund und greift den ‚großen Gegner‘ direkt an, und mit ihm auch die am Kieler Parteitag (22.-27.5.1927) verabschiedete Resolution der deutschen Sozialdemokratie (SPD): Sein [Bauers, JB] Kommentar zum Linzer Programm ist [...] ein Versuch, aus taktischen Erwägungen marxistische Prinzipien zu „biegen“ und er bewegt sich damit auf einer Linie, die auch auf dem Kieler Parteitag der SPD merklich war. In einer dort gefaßten Resolution heißt es: „Die politischen und sozialen Ziele der Arbeiterbewegung sind völlig unabhängig von der religiösen Überzeugung und den weltanschaulichen Meinungen ihrer einzelnen Glieder. / Mit diesem Satz hat die SPD den Boden des kommunistischen Manifestes verlassen, denn dieses Manifest baut sich auf einer ganz bestimmten „weltanschaulichen Meinung“, nämlich auf dem historischen Mate‐ rialismus, der grundsätzlich jede Mystik ablehnt. Jede Weltanschauung beinhaltet auch eine Lebens- und Gesellschaftsanschauung, das heißt in jeder Weltanschauung steckt bereits Politik. [...] Das Parteireglement beginnt sozusagen mit dem Satze: „Marxismus ist Privatsache.“ 55 Hartwig stellt sich aber auch nicht so dogmatisch, wie es hier vielleicht den Anschein hat: Er räumt durchaus „Konzessionen“ an den status quo ein, er betont Aufklärungs- und Bildungsarbeit etwa mit dem ländlichen Proletariat, handelt überaus taktisch; das „Prinzip“ allerdings dürfe nicht verleugnet werden. Das sei falsch und kontraproduktiv: „Übrigens können wir Sozialisten durch Verschleierung unserer Prinzipien niemanden täuschen, am allerwenigsten - unsere Klassengegner! “ 56 Hartwigs links-sozialdemokratische Oppositionshal‐ tung gegenüber dem religiösen Aspekt von Bauers Austromarxismus ist auch von der KPÖ bemerkt, richtig interpretiert und sofort im politischen Kampf eingesetzt worden, wie zeitgenössische, recht schadenfrohe Beiträge aus der kommunistischen Roten Fahne belegen: Was Otto Bauer bis nun als ‚kommunistische‘ Schimpferei bezeichnet hat, hört er nun, zum Teil in noch schärferen Worten, aus dem Munde des Vorsitzenden der 307 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 57 DIE ROTE FAHNE 1927. 58 Die Zeitschriften der proletarischen Freidenker, v. a. den Atheist. Organ der Gemein‐ schaft proletarischer Freidenker (1924-1931) bzw. Organ der Internationalen-Freidenker‐ union (1931-33? ), dessen Herausgeber Theodor Hartwig war, stehen mir leider nur bruchstückhaft zur Verfügung. 59 VOLKSFREUND 1934. Ein ähnlicher Artikel über Hartwig wurde auch im Prager Sozialdemokrat (UT: Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik) abgedruckt, vgl. SOZIALISTISCHE AKTION 1934. 60 Vgl. BACHSTEIN 1970: „Programmdiskussion und Krise in der DSAP in der Tschecho‐ slowakischen Republik“. 61 VOLKSFREUND 1934. Proletarischen Freidenkerinternationale. / Sozialdemokratische Arbeiter, bildet euch nun euer Urteil! 57 Auch für die deutsche Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei (DSAP) war Hartwig mit der Zeit zu links. Aus der Partei ausgeschlossen - und von der lokalen sozialdemokratischen Presse denunziert, u.a. auch dem Brünner Volksfreund, den er 14 Jahre vorher mit Berichten aus der Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker beliefert hat - wurde er im März 1934. Anlass dafür waren Hartwigs Beiträge in Freidenkerzeitschriften, die im Volksfreund  58 - mit deutlich abwertender Tendenz - wie folgt zusammengefasst werden: Er, der selbst schon ein betagter Herr ist, faselte in einem im Freidenkerorgan erschienenen Artikel von der ‚vollständigen Verkalkung des Parteiapparates‘, was noch eine der zartesten Blüten in dem duftenden Strauß von wüsten Schmähungen der Führung der Partei war, die er sich nach kommunistischem Muster damals leistete. 59 Die Wahrheit ist aber, dass Hartwigs Kritik am „verkalkten Parteiapparat“ der DSAP nur ein kleiner Teil einer ähnlich ausgerichteten innerparteilichen Kritik war, die in den Jahren 1934/ 1935 zunächst zu einer „Programmdiskussion“ führte und sich dann - nach der niederschmetternden Niederlage in der Parlamentswahl im Mai 1935 mit dem Ergebnis 3,64% für die DSAP - als eine „Krise“ 60 niederschlug, aus der sich die Partei nie mehr erholt hat. Die wichtigste Plattform der innerparteilichen Opposition, die auch durch den zitierten Volks‐ freund-Artikel mit Hartwig in Verbindung gebracht und regelrecht bespien wird, war die sog. Sozialistische Aktion, die in Brünn zwischen 1934 und 1936 eine gleichnamige Halbmonatsschrift herausgab. Im Volksfreund steht dazu: Neben Henlein, den Kommunisten und der deutschen Schriftleiterpresse, die dem Krakeelerblatt, das sich anmaßend ‚Sozialistische Aktion‘ nennt, eifrigst Reklame machen, ist ihm noch ein neuer Förderer erstanden, nämlich der im März d. J. aus der Partei ausgeschlossene Herr Professor Hartwig. 61 308 Jan Budňák 62 PŘÍTOMNOST 1934. Martin K. Bachstein identifiziert den anonymen Verfasser dieses Artikels als Emil Franzel (1901-1976). Franzel war (sudeten-)deutscher Historiker und in der Zwischenkriegszeit in der DSAP tätig, vgl. BACHSTEIN 1970: 317ff. 63 MZA Brno, Fonds G212 I., Schriften Nr. 4588, 52320 und 52329: Hartwig Theodor (*25.11.1872), Brno - Grohova 34a/ 12. 64 1947: Die Tragödie des Schlafzimmers. Beiträge zur Psychologie der Ehe; 1948: Der Existen‐ tialismus. Eine politisch reaktionäre Ideologie; 1952: Hamlets Hemmungen. Psychologische Studie. 65 Z.B. HARTWIG 1948. Hartwig hat - darin sind sich die beiden gegnerischen Blätter einig - ein Rundschreiben an die proletarischen Freidenker verfasst, in dem er sie zur Unterstützung der Sozialistischen Aktion auffordert. Mit der Sozialistischen Aktion verband Hartwig vor allem ihr radikaler, demokratisch und sozialistisch begründeter Antifaschismus: Die Gründe für den Aufstiegs der nationalistischen Sudetendeutschen Partei haben sie in der „Armut der deutschen Bevölkerung“ in der Tschechoslowakei erblickt, d.h. in der sozialen, nicht der nationalen Frage, und haben daher schon 1934 auf der Kooperation der DSAP mit ausschließ‐ lich demokratischen Parteien bestanden - ohne Unterschied der Nationalität. Logischerweise hat die Sozialistische Aktion auch in tschechischsprachigen Zeitschriften, z.B. in Přítomnost [Gegenwart] Ferdinand Peroutkas, für ihr Programm Werbung gemacht. 62 Epilog und Fazit Zu den vielen ‚Querlagen‘ in Hartwigs äußerst produktivem Leben - lokal und international, österreichisch und tschechoslowakisch, sozialistisch, aber weder sozialdemokratisch noch kommunistisch - gehört auch die letzte Paradoxie seines Lebens, als ‚proletarischer Atheist‘ nach 1948 in einem Staat ‚gefangen‘ gewesen zu sein, der sich selbst als proletarisch und auch atheistisch definierte: der kommunistischen Tschechoslowakei. Soweit seiner Korrespondenz mit tschechoslowakischen Behörden Glauben geschenkt werden kann, war er nach 1945 auf die Pension angewiesen, die er als ehemaliger Mittelschullehrer und ‚zertifizierter Antifaschist‘ vom tschechoslowakischen Staat bekam, und zu alt, um noch umzuziehen. 63 Von Brünn aus publizierte Hartwig nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings noch im Wiener Cerny-Verlag 64 und im Schweizer Organ der Freigeistigen Vereinigung der Schweiz (UT) Der Freidenker  65 . Dort wurde er auch - und hier schließt sich der Kreis - von seinem ehemaligen Schüler und 309 Theodor Hartwig, proletarischer Freidenker in translokalen Zusammenhängen 66 Die letzte Erwähnung Hartwigs findet sich im Freidenker - anlässlich seines 100. Geburtstags - im November 1972. Mitarbeiter aus der Schulreformbewegung der 1900er Jahre Friedrich Tramer wiederholt geehrt, das letzte Mal im Jahre 1968. 66 Trotz der zahlreichen ‚Trans-Positionierungen‘, die Hartwigs Laufbahn eines linken Intellektuellen nicht nur begleitet, sondern vielmehr ausgemacht haben, ist diese doch im Grunde auf einige wenige gemeinsame Nenner zurückführbar: Sozialismus, Kosmopolitismus/ Internationalismuss und Atheismus. Aus dem vorliegenden Beitrag ergeben sich dabei für mich zwei Schlussfolgerungen: Eins: Dass Hartwig mit seiner ‚Melange‘ aus diesen drei an sich nicht unüblichen, dem ‚Zeitgeist‘ der (frühen) Zwischenkriegszeit nicht unverwandten Schwerpunkten so oft und gründlich zwischen die politischen Fronten geraten ist, gibt m. E. Aufschluss darüber, wie intensiv sich weltanschauliche Themen an den sich verschärfenden politischen Programmen gerieben haben. (Hartwig hat aber zu dieser Politisierung von ‚Weltanschauungen‘ auch selbst maßgeblich beigetragen). Zwei: Hartwigs Tätigkeit und sein Leben waren in dem Sinne zentraleuropäisch, dass sie an Sprach- und Staatsgrenzen nicht haltgemacht haben. Hartwig agierte zwar auch lokal, aber vor allem translokal, und fand Möglichkeiten von Transfer und Appropriation von Wissen, Erfahrung und Vernetzung. Zumindest unter den politisch links stehenden Intellektuellen, mit denen er zu tun hatte, war dies auch keine Ausnahme. Weder Hartwig noch Andere sollten also von der Forschung nationalpolitisch bzw. nationalphilolo‐ gisch ‚eingesperrt‘ werden. Literatur BACHSTEIN, Martin K. (1970): Programmdiskussion und Krise in der Deutschen Sozi‐ aldemokratischen Arbeiterpartei (DSAP) in der Tschechoslowakischen Republik. In: Bohemia 11, Nr. 1, S. 308-323. BAUER, Otto (1927): Sozialdemokratie, Religion und Kirche. Ein Beitrag zur Erläuterung des Linzer Programms. Wien: Volksbuchhandlung. BUDŇÁK, Jan (2019): Nationalismuskritik in der Brünner kosmopolitischen Zeitschrift Die Wahrheit und der (Inter-)Aktionsradius der Brünner Kosmopoliten. In: Nekula, Marek (hrsg.): Zeitschriften als Knotenpunkte der Moderne/ n. Prag - Brünn - Wien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 197-222. DIE ROTE FAHNE (1927): Ein sozialdemokratisches Urteil über Otto Bauer. Professor Hartwig über das Linzer Programm. In: Die Rote Fahne 10, Nr. 238, 9. 10. 1927, S. 9. DIE WAHRHEIT (1923): Freidenkerbund. In: Die Wahrheit 4, S. 229-230. 310 Jan Budňák DIE ZEIT (1909): Die Mittelschullehrer kontra Elternbund. In: Die Zeit 8, Nr. 2332, 21. 3. 1909, S. 6. FEILCHENFELDT, Konrad (hrsg.) (2010): Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhun‐ dert. Biographisches und bibliographisches Handbuch. Band XIV Halm - Hauptmann. Berlin/ New York: Walter de Gruyter, S. 399. FRAISL, Bettina (2001): Nachwort. In: Hartwig, Mela: Bin ich ein überflüssiger Mensch? Graz: Droschl, S. 157-171. 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In a contrasting way, the activities of both movements are analyzed, just as are analyzed publishing platforms (books and magazines), on which both European intellectuals after World War I tried to formulate the foundations of their concepts and appeal to the audience. Instead of the predominant contrast between the ‘good European’ Coudenhove Kalergi and the allegedly ‘evil’ Rohan in the literature, the present paper attempts to refine this contrast by focusing on later written memoirs of both authors, interpreting various forms of self-styling arguments, procedures and narratives. Finally, this contrast then relates to the different concepts of magazines that these Europeans published in the 1920s and 1930s. Keywords Europe, Pan-Europe, fascism, monarchy, democracy, memoirs, stylization, narratives. 1 Zu Rohan: BOCK 1999; PAUL 2003. Zu Coudenhove-Kalergi: CONZE 2009; CONZE 2005b; PAUL 1999. Zu beiden vergleichend: PAUL 2005. 2 Vgl. PAUL 2005: 24. Zugegeben: In der langen Geschichte der österreichisch-tschechoslowakischen intellektuellen Nachbarschaft wären sicherlich bekanntere und wohl auch be‐ deutsamere Protagonisten zu finden. Dass im Folgenden gerade R. Coudenhove- Kalergi und K. A. Rohan analysiert werden, ist somit zunächst zu rechtfertigen. Aus den Coudenhove-Kalergi und Rohan gewidmeten Studien 1 geht klar hervor, dass es ein grober Fehler wäre, diese Intellektuellen als schlichtweg wirkungslos beiseite zu legen. Insbesondere in der geistigen Atmosphäre der Zwischen‐ kriegszeit stellte das Programm Europa eine der am offensivsten artikulierten Lösungen für die Krise, in der sich die Welt nach 1918 befand, dar. Und gerade Coudenhove und Rohan beteiligten sich, so amateurhaft ihr Einstieg in die große Welt der europäischen (Geistes)Politik ihren Zeitgenossen anmuten mag 2 , zunehmend wirkungsvoll an der in den frühen 1920er Jahren einsetzenden europäischen Bewegung, die mit uralten Erbfeindschaften (Deutschland contra Frankreich) aufzuräumen suchte und den im Ersten Weltkrieg eskalierenden und nach ihm vielerorts nach wie vor dominierenden Nationalismen ein Kon‐ zept entgegensetzte, das ein übernationales Europa im Sinne hatte. Dass dieses als Kuppelbau der nationalen Säulen angedachte Europa, gegen einen zu engen Nationalismus der Rechten sowie uferlosen Internationalismus der Linken konzipiert, zu der Zeit nicht nur durch Intellektuelle rezipiert wurde, sondern dank der Unterstützung der Industriellen und Diplomaten recht schnell in die Politik eingegangen ist, ist unter anderem auf die unermüdliche Aktivität von Coudenhove und Rohan zurückzuführen. Sie beide haben aus der Überzeugung heraus agiert, um das nach dem Krieg ruinierte Europa konsolidieren und wirtschaftlich sowie intellektuell konkurrenzfähig (gegen andere Kontinente und Weltmächte) machen zu können, müsse man die europäisch gesinnten Macht- und Geisteseliten zueinander bringen. Denn nur so sei ein regulierender Bewusstseinsprozess in Gang zu setzen, der von Europa aus die nationalen Egoismen anerkennen, sie aber durch europäische Gemeinsamkeiten nach und nach auffangen würde. Das europäisch formulierte respektvolle Verständnis der einzelnen Nationen untereinander bildet den gemeinsamen Nenner dessen, worum sich Coudenhove und Rohan bemühten, darin freilich keine Ausnahme‐ fälle, vielmehr (nur) einige der vielen Akteure der international und durchaus interdisziplinär angelegten europäischen Netzwerke der Zwischenkriegszeit. Rechtfertigen lässt sich folgender Beitrag auch durch den Hinweis darauf, dass die Aktivitäten von Coudenhove und Rohan sogar über die Zwischen‐ kriegszeit hinaus für die Forschung relevant sein könnten, sofern deren Nach‐ 314 Aleš Urválek 3 Vgl. CONZE 2009; vgl. CONZE 2005b: 105-106. wirkung auch in der Nachkriegszeit unumstritten ist. Die von Coudenhove und Rohan herausgegebenen Zeitschriften Paneuropa (1924-1938) und Europäische Revue (1925-1944) haben zwar den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt, doch von ihren Herausgebern gilt das indes mitnichten. Coudenhove ist zumindest bis zu seinem Tod im Jahre 1972 mit seinem paneuropäischen Projekt vom nachkriegseuropäischen Einigungsprozess nicht wegzudenken. Rohan zog sich zwar nach 1945 weitgehend aus der Politik zurück, in seinem Falle wirkte indes sein Konzept in einer transformierten Form nach, indem es zur Grundlage der 1947 gegründeten Zeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken wurde. Auffällig ist weiterhin, dass die nach 1945 verfassten Memoiren von Couden‐ hove und Rohan bis jetzt kaum einer literatur- oder kulturwissenschaftlichen Analyse unterzogen wurden, was überraschen mag, bedenkt man das festge‐ stellte hohe Grad an Selbstpropaganda und -marketing, zu dem insbesondere Coudenhove neigte. Insofern könnte es aufschlussreich sein, die unterschiedli‐ chen Strategien der Selbststilisierung, die auch den Memoiren dieser beiden Intellektuellen eigen sind, eingehend zu analysieren, etwa im Anschluss an die Untersuchungen von Vanessa Conze, die bereits auf einige Formen der maßlosen Selbststilisierung (selbstbezogene Propaganda) in Coudenhoves Zeitschriften und Memoiren hingewiesen hat, um vor deren unreflektierter Übernahme in historischer Forschung zu warnen. 3 Und nicht zuletzt verbinden diese zwei Persönlichkeiten in mehrerer Hinsicht Österreich und die Tschechoslowakei, insofern sie biographisch an den Grenzen zu situieren sind. Und zwar im territorialen sowie temporären Sinne, der darüber hinaus zugleich ein multiplizierter ist. Rohan wie Coudenhove haben europäisch gefühlt, gelebt haben sie in Österreich wie auch in der Tschechoslowakei. Und zwar sowohl in der Zeit, als es diese zwei Staaten noch nicht gegeben hat, wie auch nach deren staatspolitischer Gründung. Bewohner einer Grenzzeit waren sie, insofern in der Zeit nach dem Zerfall der Monarchie die bis dahin sich allenfalls sprachlich manifestierenden (Kronland)Grenzen innerhalb der Mon‐ archie nun zu Staatsgrenzen der Republiken Tschechoslowakei und Österreich geworden sind. Und zugleich Bewohner eines mehrfachen Grenzraums, an dem sowohl sprachliche Grenzen (zwischen Tschechisch und Deutsch) auszumachen sind, als auch diejenigen zwischen österreichisch-ungarischer Monarchie und dem deutschen Reich, ohne allerdings lebensgeschichtlich spürbar oder zumin‐ dest bestimmend gewesen zu sein. Denn: Karl Anton Rohan, geboren 1898 in Loosdorf, wuchs im Schloss Albrechtsberg in Niederösterreich sowie in Prag (im 315 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen 4 Der Zusammenbruch traf Rohan mit 20 Jahren, verloren habe er durch ihn „politische Heimat, väterliches Erbe und einen vorgezeichneten Weg durchs Leben […] Albrechts‐ berg war mir zugedacht, so wurde ich Österreicher und übernahm das Gut, das nach dem Tode meiner Mutter in meinen Besitz überging.“ ROHAN 1954: 56. 5 COUDENHOVE-KALERGI 1966: 39. Palais Rohan, dem heutigen Sitz des tschechischen Schulministeriums), doch bis 1918 4 zugleich im Schloss Sychrov im heutigen Nordböhmen auf. Und Richard Coudenhove, geboren 1894 in Tokio, kam 1896 mit zwei Jahren nach Ronsperg (tschechisch Poběžovice, unweit von Domažlice/ Taus), in dessen Schloss er wie auf einer Insel zwischen den Nationen und deren Grenzen aufwuchs: „Im Westen, zehn Kilometer entfernt, war die Reichsgrenze, die Österreich von Deutschland schied, und im Süden, nur fünf Kilometer weit, lag die Sprachgrenze, an der die deutsche und die slawische Welt zusammenstießen.“ 5 Von diesen übernationalen Prädispositionen her mutet es keineswegs über‐ raschend an, dass Coudenhove und Rohan recht bald nach dem Zerfall der Monarchie zu Exponenten einer übernational konzipierten Idee von Europa geworden sind, bei deren Geburt eben die Nachbarschaft zwischen Österreich und der Tschechoslowakei Pate stand. Und genauso einleuchtend die Hypo‐ these, deren biographische Situierung an den Grenzen dürfte unsere beiden Protagonisten dafür sensibilisiert haben, dass es heilsam sei, stets den Blick über die eigenen Grenzen zu werfen, um sich den übernationalen Gemeinsamkeiten zu stellen. Dieser Schritt über die Grenzen der jeweils gegebenen (nationalen oder ethnischen) Perspektive war zu der Zeit mitnichten selbstverständlich, darum das hohe Grad an intellektueller Propagandaleistung, die Rohan und Coudenhove in ihre Bemühungen investiert haben. Die europäischen Eliten mussten zunächst davon überzeugt werden, dass es zukunftsträchtig sei, sich den europäischen Überbau bewusst zu machen, von dem aus man die nationalen Eigenarten nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie bejahend in dem über‐ greifenden Europa auffangen würde. Blickt man auf diese europäischen Ansätze, darf man sich durch den hohen Grad an Alteritätsaffinität nicht dazu verleiten lassen, die Konzepte von Cou‐ denhove und Rohan, oder sogar alle Europaideen der Zwischenkriegszeit für in dem Sinne demokratische zu halten, in dem wir heutzutage dazu neigen, Europa und Demokratie zu identifizieren. Denn damals gab es nicht das eine, womöglich demokratische Europa, sondern gleich mehrere Europakonzepte mit einer entsprechenden Pluralität von Werten, die im jeweiligen Fall realisiert werden sollten. Die uns heute gängige Gleichsetzung von Europa und einem liberalen, pluralistischen, freiheitlichen und demokratischen Europa war für die Zwischenkriegszeit bei weitem nicht so gegeben gewesen, vielmehr setzte sie 316 Aleš Urválek 6 Vgl. CONZE 2005a: 205. 7 Zur Geschichte des Kulturbundes am ausführlichsten: MÜLLER 2005. Die Bezeichnung „Verband für kulturelle Zusammenarbeit“ ist laut T. Heise adäquater, da „Europäischer Kulturbund“ als nachträgliche Synthese „einen europäischen Zentralismus der Kultur‐ bünde“ suggeriere. HEISE 2019: 92. sich erst in den 1960er Jahren durch. Für die 1920er Jahre ist demgegenüber von einer Pluralität der Konzepte auszugehen, wo eben die demokratischen kaum dominierten. In Überzahl waren vielmehr diverse elitäre, konservative, imperial oder hegemonial geprägte Europa-Visionen, nicht selten von dezidiert antimoderner und antiliberaler Prägung. 6 Als es hieß, für das jeweilige Konzept Aufmerksamkeit zu gewinnen, gingen Coudenhove und Rohan ähnlich vor. Nach der vorbereitenden Phase hieß es, schnell durch Texte und persönliche Ansprachen Unterstützung der gleichge‐ sinnten Intellektuellen, Politiker, Ökonomen, Industriellen und Diplomaten zu gewinnen. Parallel dazu wurden jeweils programmatische Schriften verfasst: So publizierte Coudenhove 1923 Paneuropa, Rohan rückte bereits in demselben Jahr mit Europa nach. Um die Wirkung zu steigern, mussten die Konzepte institutionalisiert werden: Darum wurden noch in demselben Jahr in Wien die Paneuropa-Union (Coudenhove) und - schon 1922 - der Kulturbund (Rohan) gegründet, dem 1924 die Gründung der Dachorganisation Verband für kulturelle Zusammenarbeit  7 folgte. Dieser Schritt erfolgte bereits im Zuge der massiven Internationalisierung, als die Bewegungen netzwerkartig über den österreichi‐ schen Raum hinaus ausgeweitet wurden. Es dauerte nicht lange, bis rund um Europa im regelmäßigen Takt ambitionierte Tagungen und Kongresse veranstaltet wurden, an denen hochkarätige Namen der europäischen Kultur und Politik unermüdlich ihre Statements zu Europa präsentierten. Um den Be‐ wegungen noch mehr Gehör zu verschaffen, gründete man als Multiplikatoren Zeitschriften; am Anfang deren Reihe steht 1922 Der Zeitgeist, dessen Erscheinen Rohan nach einem vielversprechenden Start nach drei Nummern einstellen musste. Im April 1924 ging dann Coudenhove mit der Zeitschrift Paneuropa an den Start, 1925 folgte dann im zweiten Anlauf Rohan mit seiner Europäischen Revue. In den Zeitschriften wurde mitunter über die Tagungen referiert, um das jeweilige Europakonzept im Bewusstsein der Leser zu verankern und unverwechselbar zu machen. Um den strukturellen Parallellauf beider Projekte ist es erst in der 1930er Jahren mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten geschehen. Ihnen gegen‐ über nahm man jeweils eine diametral unterschiedliche Strategie ein, von der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und vom Anschluss Österreichs wurde man jeweils anders betroffen. Um es kurz zu sagen: Die Zeit‐ 317 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen 8 Dazu im Detail: Vgl. PAUL 2003: 546ff. schrift Paneuropa wurde samt der gesamten Paneuropa-Union 1938 verboten, Coudenhove schaffte es in letzter Sekunde, Österreich vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht zu verlassen. Der Kulturbund löste sich zwar auch nach 1933 auf, doch es ist belegt, dass Rohan am 12. März 1938 den Anschluss Österreichs ans NS-Deutschland als eine willkommene Revolution begrüßte, und - vor allem - Europäische Revue durfte noch lange, konkret bis 1944 erscheinen. In Anbetracht dessen wäre es wohl am plausibelsten, den Kontrast von diesem Trennpunkt aus herauszuarbeiten, an dem Coudenhove aufgrund seiner dezidiert antinationalsozialistischen Einstellung, die in Paneuropa sowie in der gesamten Paneuropa-Union in der zweiten Hälfte der 1930er an den Tag gelegt wurde, zu flüchten gezwungen wird, um nach den schwierigen Exiljahren nach Europa zurückzukehren und seinen Kampf wieder aufnehmen zu können. Von dem Punkt aus also, an dem Rohan als frisches NSDAP-Mitglied 1938 den Anschluss begrüßt, da er in ihm seine Hoffnung bestätigt sieht, das im Kulturbund und in der Europäischen Revue vertretene Europabild sei mit den NS-Plänen doch irgendwie kompatibel zu machen, so paradox das aus heutiger Perspektive erscheinen mag. Die von Rohan gegründete Europäische Revue konnte zwar nach wie vor erscheinen, allerdings nicht mehr unter Rohan, der bereits 1936 auf Druck der Reichsregierung den Herausgeberposten verlassen musste, 1938 aus dem Titelblatt getilgt wurde 8 und sich ins intellektuelle Abseits zurückzog, aus dem er auch nach dem Krieg, abgesehen von gelegentlichen Texten für die Sudetendeutsche Landsmannschaft und eben seinen Memoiren, nicht mehr herauskommen wird. Der Kontrast dieser Jahre um das Jahr 1938, von dem an man unterschiedliche Wege gegangen ist, kann in der Tat nicht größer sein: Der Flucht in letzter Sekunde und dem achtjährigen Exil bei gleichzeitig unermüdlich fortgesetztem Kampf um paneuropäische Ideale vor allem in Amerika (Coudenhove) wäre das typisch konservative Pokerspiel mit den Nationalsozialisten (Rohan) gegenüberzustellen, bei dem man immer schlechtere Karten hatte, so dass man kaltgestellt wurde und sich in die mehr oder weniger resignierte Form der inneren Emigration zurückzog. Folglich wäre auch die von den Nazis verbotene Zeitschrift Paneuropa mit der nun von dem NS-Propagandaministerium subventionierten und daher geleiteten Europäischen Revue zu kontrastieren, die im Dezember 1936 Rohans Nachfolger Joachim Moras übernahm. Somit hätte man auf der Seite von Coudenhove einen kompromisslosen Schluss jedweder Aktivität zu verbuchen, durch die man sich in den Jahren der Totalität irgendwie hätte kompromittieren können, 318 Aleš Urválek 9 Dies von PAUL 2003 und BOCK 1999 genau nachgewiesen. 10 Nach PAUL 2005: 25 stimmten Coudenhove und Rohan in den Anfangsphasen in folgenden Punkten überein: „Ablehnung des Bolschewismus, des Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie bei gleichzeitiger Befürwortung von Autorität, Hierarchie und Führertum oder des Konzeptes von ‚Adel des Geistes‘ (Coudenhove) beziehungsweise vom „Neuen Adel) Rohan…“. Coudenhove habe sich selbst nicht zur Demokratie bekannt, im Jahre 1933 beteuerte er, seine Ideen seien niemals demokra‐ tisch, sondern stets aristokratisch gewesen. Vgl. PAUL 1999: 166. 11 Max Clauss in der Rundfunksendung SDR vom 20. 11. 1981. Zitiert nach MÜLLER 2005: 347. während man es bei Rohan mit einem zwangsbedingten Ausstieg zu tun hätte, dem eine lange Phase der Koketterie mit den Nationalsozialisten vorausging, die nach 1938 nur um den Preis gravierender Konzessionen ans NS-Regime fortgesetzt werden konnte, die so weit gingen, dass man Schwierigkeiten hat, in der Europäischen Revue der letzten Halbdutzend Jahre mehr als nur, freilich manchmal kunstreich kaschierte (leise ferngeleitete), Propaganda der Nationalsozialisten zu erblicken. 9 Allerdings, wenn man den Kontrast zwischen Coudenhove und Rohan nur von diesem Punkt aus herausarbeiten würde, wäre das gewonnene Kontrastbild ein plakatives. Darin wäre alles von dem erwünschten Selbstbild Coudenhoves überschattet, das dieser mit derartigem Erfolg von sich entworfen hat. Freilich: Dass Rohan in den 1920er Jahren recht einseitig dazu tendierte, die Vorteile eines unpolitischen und jungkonservativen Europakonzepts gegen das vernunftphi‐ losophische Konzept Paneuropas auszuspielen, das in seinen Augen dezidiert politische Ziele verfolgte und daher zwangsläufig als massendemokratisch und daher propagandistisch abzutun war, ist unumstritten, so sehr Rohans Konstrukt dem ideologischen Zwang zur falschen Disjunktion erlag (wer nicht richtig konservativ sei, sei zwingend falsch demokratisch und vice versa). Denn von Demokratie wollte in den 1920er Jahren selbst Coudenhove wenig wissen, insofern er seinem Konzept dezidiert aristokratische Konturen 10 gab. Bemerkenswerter ist vielmehr, dass dieser aristokratische Ansatz Coudenhoves aufgrund seiner Selbststilisierung in den Hintergrund gerückt und von dem Selbstbild eines guten Demokraten überschattet wurde, dessen Verführungs‐ kraft folgende Studie widerstehen will. Um es noch einmal deutlich zu machen: Der von 1938 aus konstruierte und der Überzeugungskraft der Selbstbilder von Coudenhove folgende Kontrast würde einen immer schon demokratischen „guten Europäer“ aus Wien, der konsequent den Nazis widersteht, sich und seine Zeitschrift nie kompromittiert, um dann nach dem Krieg sein unbeflecktes Profil zur Geltung bringend seine europäische Mission fortsetzt, dem „verdächtigen Profaschisten“ 11 Rohan gegenüberstellen, 319 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen dessen Zeitschrift sich als Nazipropaganda völlig kompromittiert und darum für die Nachkriegszeit keine Anschlussmöglichkeit mehr bietet. Aufschlussreicher, als diesen Kontrast unreflektiert zu übernehmen, könnte es sein, an den Memoiren der beiden Protagonisten anzusetzen. Die Analyse der darin ver‐ wendeten narrativen Selbststilisierungsverfahren dürfte mit abschließendem Blick auf die jeweiligen Strategien, zu denen Coudenhove und Rohan in ihren Zeitschriften gegriffen haben, ein kulturwissenschaftlich angemesseneres Bild der beiden Protagonisten vermitteln. Somit werden im Folgenden die nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Memoiren von Coudenhove und Rohan auf ihre narrativen Selbstbildfunktionen sowie punktuell auf die Korrespondenzen hin zu den jeweiligen Zeitschriften untersucht. Karl Anton Rohan (9. 1. 1898-17. 3. 1975) war um etwas mehr als drei Jahre jünger als Richard Nikolaus Coudenhove (16. 11. 1894-27. 7. 1972), verstorben sind sie allerdings beide mit 77 Jahren. Ihre Memoiren haben sie nicht im letzten Lebensabschnitt, sondern bereits in dem ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst. Den Auftakt bildet Coudenhove im Jahre 1949 mit Der Kampf um Europa: aus meinem Leben, 1958 folgt als zweiter Versuch Eine Idee erobert Europa: meine Lebenserinnerungen, 1966 leicht überarbeitet und erweitert zu Ein Leben für Europa. Rohan liegt mit Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen, erschienen 1954, zeitlich dazwischen. Bereits an den Titeln sind auch schon unterschiedliche Akzente auszumachen. Während Coudenhove das sich erinnernde Ich in den Vordergrund rückt („mein Leben“, „meine Erinnerungen“), kommt Rohan ohne die Hervorhebung der Ich-Perspektive aus. Wird bei Rohan Europa zu Heimat erklärt, versteht Coudenhove Europa noch im Kampf begriffen. Diesen Kampf um Europa setzt Coudenhove (via Doppelpunkt) in einen kausalen Zusammenhang mit seinem eigenen Lebenskampf; in den einzelnen Versionen variiert allenfalls das Maß der Explizitheit, mal wird mittels des Lebens für Europa gekämpft oder gelebt, mal wird Europa durch die eine (eben paneuropäische) Idee erobert. Somit hat man es bei Coudenhove mit einem sich aktiv in Szene setzenden Ich zu tun, das zu schildern sucht, wie sein Leben zum Kampf um Europa wird, das eben zur Aufgabe dieses Lebens erklärt wird. Ein Ich, das nur zu sich finden kann, solange es Europa an dessen Idee heranführt. Rohan führt im Titel ein zu erinnerndes Europa ein, das nicht erobert werden muss, da es als Heimat schon gegeben ist. Coudenhove macht Europa zu seiner Aufgabe, versteht es als Ergebnis seiner unermüdlichen Aktivität. Rohans Europa gehört nicht mehr erobert, dürfte eher mit Gegebenheiten zu tun haben, an die sich die Menschen allenfalls emotional binden, sie weniger rational herbeiführen können. 320 Aleš Urválek 12 COUDENHOVE-KALERGI 1966: 17. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd.: 20. 17 Ebd.: 29. 18 Ebd. Aufschlussreich könnte somit die grundlegende Ebene des jeweiligen Memo‐ irentextes sein, auf der „Ich versus Geschichte“, bzw. „subjektive Geschichte versus Weltgeschichte“ einander gegenüberstehen. Coudenhove führt diese Ebene bereits im Vorwort mit einer klaren Stellungnahme ein: zu schildern sei „ein ungewöhnliches Menschenleben in Verbindung mit einem unwahrscheinli‐ chen Kapitel der Weltgeschichte“ 12 . Die zu verzeichnende Lebenslinie ist überaus rund und folgt einer doppelten Ambition: Man beginnt mit der „Lebensge‐ schichte eines halbjapanischen Kindes und endet mit den ersten Erfolgen des eu‐ ropäischen Einigungswerkes“, 13 um „Autobiographie und Europageschichte“ 14 als Fragmente nach folgendem Schema miteinander zu verkoppeln: „Mein persönliches Schicksal ist dem historischen Geschehen verbunden wie die kleine Schneeflocke der mächtige Lawine, die sie ins Rollen gebracht hat.“ 15 . Das Ich gibt sich bescheiden klein, aber zugleich recht ambitiös als der zentrale Impulsgeber, ohne den die große Geschichte sich nie in Bewegung gesetzt hätte. In dieses Schema (bescheiden klein, doch zentral) fügen sich viele Szenen ein: Wenn die Karawane der drei Wagen mit dem einjährigen Coudenhove, der in Tokio als Sohn einer Japanerin und eines Österreichers auf die Welt gekommen ist, sich dem Ronsperger Schloss nähert, wird es so geschildert, als würde in die böhmische Provinz die große Welt höchstpersönlich einkehren, ein Anblick, „den sich die Ronsberger niemals hätten träumen lassen“ 16 . Der kleine Richard, einer großen reichen Adelsfamilie angehörend, wird nun einem Stammbaum eingegliedert, dessen Mitglieder sich bereits in die Annalen der Weltgeschichte, oder zumindest der Weltliteraturgeschichte eingeschrieben haben. Ob Goethe, Heine oder Wagner, immer gab es in dieser Familie jemanden, von Coudenhove penibel notiert, an dessen Größe anzuschließen war. Und dies, obwohl Coudenhove, wie man erfährt, seine Geburt als Siebenmonatskind fast nicht überlebt hätte. Doch bald zeigte sich, dass hier ein Individuum das Licht der Welt erblickte, das, nur scheinbar schwach („Mein Leben schien an einem Faden zu hängen“ 17 ), es mit der Welt und deren Kräften wird durchaus aufnehmen können, wie kurz danach von einer Zeugin bestätigt wird: „Dieses Kind […] wird am Leben bleiben und eines Tages ein berühmter Mann sein! “ 18 Es folgen weitere Urszenen für Coudenhoves aktivistische Omnipotenzphantasien: Als ein kleiner 321 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen 19 Ebd.: 33. 20 Ebd.: 37. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd.: 34. 24 ROHAN 1954: 6. 25 Ebd. 26 Ebd.: 11. Bub betrachtete er den riesigen Globus im Zimmer seines Vaters, wobei ihm die ganze Welt auf Kleinformat reduziert schien: als runder Erdball sowie „eng verbunden mit unserer weitverzweigten Familie“ 19 . So weit und fremd auch die Welt sein kann, sie kann immer schon als kleiner und vor allem verbindbar gedacht werden. Damit einhergehend auch die für sich reklamierte Gewohnheit „nicht in nationalen Begriffen, sondern in Kontinenten“ 20 zu denken, zu der Coudenhove als Kind „eines Europäers und einer Asiatin“ 21 prädisponiert ge‐ wesen sein will, mit der typischen weltanschaulichen Konsequenz: „In unseren Augen waren sie verschieden, aber gleichwertig.“ 22 Da dem kleinen Coudenhove dabei spontan die Formel in den Sinn kommt „Alles ist möglich - nichts ist sicher“, 23 ordnet sich die ganze Szene einem Stilisierungsnarrativ unter, das sich wie folgt lesen lässt: Coudenhove will einer sein, dem die Welt schon immer nicht zu groß war, als dass er sie nicht hätte (zumindest gedanklich) verbinden und vernetzen können; zugleich einer, dem die Trennung der Welt in einzelne Nationen zu kleinkariert war, als dass er sie nicht hätte im übernationalen Sinne transzendieren wollen. Für beides gilt: Die Welt und die Weltgeschichte sind nicht dazu da, um ergeben akzeptiert zu werden, vielmehr gilt es, sie nach Plan zu modellieren, zu verbessern. Die Welt liegt in dieser Autobiographie vor dem Individuum da, um seine Träume wahrzumachen. Rohan gibt dem Leser bezüglich dieser Ebene wohl weniger, aber nicht minder klare Signale an die Hand. Der Leser möge zunächst entscheiden, ob er Rohans Heimat Europa als „Kulturanalyse oder -kritik, ein Reise- und Erinne‐ rungsbuch“ 24 lesen würde, ob ihm eher Europa oder Rohan wichtiger sei: Dieses autobiographische Ich gibt sich ostentativ bescheiden, denn „[b]emerkenswert ist nicht das Auge, aber das, was es gesehen hat“ 25 . Darum rückt Rohan mit seinen Augen überwiegend in den Hintergrund: „Nie mehr in meinem Leben hat sich die Welt so ausschließlich um mich gedreht, wie damals“ 26 , erinnert er sich an eine einzige Szene, in der er, das sechste Kind in der Familie, nicht das sechste Rad am Wagen war, sondern aufgrund einer Krankheit, kurz im Mittel‐ punkt des allgemeinen Interesses stehen durfte. Bestimmend für die inneren Hierarchien seiner Autobiographie sind eher Sätze wie „Nicht mein, sondern 322 Aleš Urválek 27 Ebd.: 195. 28 Ebd. 29 „Unser Familienleben war zeitlich und örtlich genau festgelegt. Das Jahr, sogar die Jahre bewegten sich in vorbestimmter Bahn. Wesentliche Abweichungen waren nicht vorstellbar und wären wie ein Weltuntergang empfunden worden.“ Ebd.: 17. 30 Beispiele gebe es haufenweise, ich wähle hier frei einige der offensichtlichsten: „Wir Kinder gerieten in das Räderwerk der Etikette…erfolgte nach strengem Ritus…die Schicksale sahen einander zum Verwechseln ähnlich….Der junge Herr rückte in der Regel“. Ebd.: 19, 21, 22. Dein Wille geschehe“ 27 , was „die Überschätzung der eigenen Bedeutung“ 28 verhindere. Insgesamt gibt sich das sich erinnernde Ich als untergeordnet, dem Weltlauf, den natürlichen und gesellschaftlich vorbestimmenden Rhythmen, Bahnen 29 , Ritualen, Regeln, Riten, Zeremonien und gesellschaftlicher Etikette 30 untergestellt. Die dem konservativen Weltbild inhärenten Hierarchien sind hier sehr markant und als verbindlich ausgestellt, so dass sich das Individuum in deren gesetzliche regulierte Bahnen einzuordnen hat, will es das die Stabilität garantierende Gleichgewicht nicht bedrohen. Das Narrativ bei Rohan ist ein dezidiert konservatives: Die Welt ist einem zu groß und unzugänglich, als dass man ihr seinen Willen aufzwingen könnte. Man lebt nicht, um sich von der Geschichte die Träume wahrmachen zu lassen, sondern um den die Menschen transzendierenden Kräften durch das eigene Leben eine Bestätigung zu geben. Was oben ist, ist mit Sinn zu erfüllen, wäre es auch die Oberfläche. Die nächste Ebene, an der ein Vergleich anzusetzen wäre, betrachtet die Art, wie die biographischen und geschichtsphilosophische Bahnen unserer Memoirenverfasser aufeinander bezogen werden. Inwiefern, so wäre hier zu fragen, versteht das autobiographische Ich im Augenblick des Verfassens seiner Memoiren das Ziel, um das es ihm geschichtsphilosophisch geht, als erreicht und vollendet. Coudenhove schildert sich darin als Alpha und Omega der überaus erfolgreichen Geschichte von Europa. Durch ihn sei die europäische Sendung formuliert worden, um ihn hätten sich die Exponenten geschart, von ihm seien die Abtrünnigen abgefallen, und durch ihn und seine Paneuropabewegung solle nun die Wiedervereinigung Europas gekrönt und vollendet werden. Dabei gilt 1949 in Der Kampf um Europa die europäische Sendung als zunächst nur halbwegs realisiert, zwar habe man den ersten großen Höhepunkt erreicht (1949, Europarat), doch am Horizont seien schon weitere Aufgaben zu sehen, die es zu bewältigen gelte. Als würde sich Coudenhove nach getaner Arbeit den ersten zufriedenen Rückblick gönnen, um aller zu gedenken, die an (sein) Europa geglaubt und ihm geholfen hätten, und, seiner Sache sicher, um das Zusammenkommen seiner (kleinen) Lebensgeschichte mit der (großen) Welt‐ geschichte feiern zu lassen. Eine Unio wird selbstsicher aus einer geradezu 323 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen 31 COUDENHOVE-KALERGI 1949: 297. 32 Ebd. 33 Ebd.: 374. 34 Ebd. olympischen Perspektive zelebriert, bei der mancher Irrweg nun als Umweg erscheint und die Träume von Coudenhove keine andere Wahl haben, als zur Wirklichkeit der Millionen zu werden, denn, zweifach, also menschlich und kosmologisch garantiert, diese Träume münden „in den großen Strom der Geschichte der Menschheit“ 31 , um wahrzumachen, was „in den Sternen geschrieben steht und sich erfüllen muß nach ewigem und dunklem Gesetz“ 32 . 17 Jahre später, in Ein Leben für Europa, Coudenhove hat inzwischen weitere Erfolge verbuchen können (1950 Karlspreis, 1957 Europäischer Zollverein), schwebt ihm mit der Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa nur noch das letzte seiner drei Ziele vor, und sosehr ihn der Kalte Krieg, sowie Rassenfeindlichkeit oder Europozentrismus betrüben, weicht er von seinem Optimismus um keinen Deut. Das Ideal „menschlicher Brüderlichkeit, über alle politischen, weltanschaulichen, sozialen und wirtschaftlichen Schranken hinweg“ 33 , auf das die Paneuropa-Bewegung hinarbeitet, soll nun nicht mehr mithilfe des Sternenhimmels, sondern vielmehr als Rückkehr zu den Wurzeln der paneuropäischen Bewegung, ja zu den biographischen Wurzeln des größten Paneuropäers und den idealen Prädispositionen seiner Familienkonstellation herbeigeführt werden: In diesem Geiste werden sich eines Tages die europäische Heimat meines Vaters und die japanische Heimat meiner Mutter die Hände reichen, um gemeinsam an der Or‐ ganisation der Menschheit zu einem friedlichen Staatenbund zusammenzuarbeiten. 34 Dass ein sich derart seiner Sendung bewusster Vorreiter des vereinigten Europas zu einer Selbstüberschätzung seiner Bedeutung tendieren wird, liegt auf der Hand. So inszeniert sich Coudenhove etwa als der überhaupt größte Gegner der Nationalsozialisten, gegen den sogar Goebbels einen Schauprozess angekündigt, aber dann doch nicht realisiert haben soll, weil dies eine Propaganda für und nicht gegen die Paneuropäische Bewegung gewesen wäre. Dass sich Goebbels danach für die Paneuropäer nicht mehr interessiert hat, interpretiert Couden‐ hove in selbstbezogener Manier wiederum als einen großen taktischen Plan, die Paneuropäer totzuschweigen, die sonst kaum zu schlagen gewesen wären. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, Coudenhoves anti‐ nationalsozialistische Haltung oder seinen unumstrittenen Opferstatus in Frage zu stellen, es soll lediglich auf die Relationen aufmerksam gemacht werden, bei deren Schilderung Coudenhove einer allzu menschlichen Augentäuschung 324 Aleš Urválek 35 COUDENHOVE-KALERGI 1966: 329. 36 Vgl. ROHAN 1954: 300-301. erliegt. Die Stilisierung seiner Nachkriegsaktivitäten läuft nun darauf hinaus, als der konkurrenzlose Europäer seit ehedem dargestellt zu werden. Stets gilt es bei Coudenhove, seine Vorreiterrolle geltend zu machen, um die Europabewegung der Nachkriegsjahre als den Kampf um das einzig wahre paneuropäische Erbe schildern zu können. Sehr schwer tut sich Coudenhove damit, die Rolle des Europavaters mit anderen teilen zu müssen. In seinen Augen sind alle europäischen Visionen, zumal die nachkriegseuropäischen, auf ihren einzigen Vater zurückzuführen, der Coudenhove heißt. Mit der patriarchalischen Geste eines Gottähnlichen, der alle Kinder für seine eigenen hält, erblickt er in allen Europabewegungen nach 1945 „Kinder der 1923 gegründeten Paneuropa- Bewegung. Oft waren es undankbare Kinder: aber auf jeden Fall Kinder. Diese Spaltungen waren Wachstumserscheinungen.“ 35 Der heroisierenden Geste eines kurz vor dem Ende des erfolgreichen euro‐ päischen Prozesses stehenden Coudenhove, der dessen Ernte allein einfahren will, ist bei Rohan eine Geste des Enttäuschten, Desillusionierten gegenüber‐ zustellen, dem seine Pläne und Träume von der großen Geschichte vereitelt wurden. Anstatt seine Erfolge zu feiern, ja sie durch Stilisierung noch größer zu machen, ist Rohan, wo es um politische Wirkung geht, über weite Strecken zurückhaltend. Wo der Leser gerne Ausführliches über Rohans erzwungenes Ende bei Europäische Revue oder sein heikles Spiel um die Macht mit den Na‐ tionalsozialisten erfahren würde, liefert Rohan meist im Stil eines Fragebogens, wohl nicht ohne ironische Intention à la Ernst von Salomon, nur Stichworte, Thesen und Literaturlisten. Mehr gibt er erst am Ende seiner Memoiren von sich preis, in den Kapiteln mit dem symptomatischen Titel Am Rande der Politik. Dieses Bild ist allerdings äußerst ambivalent: Einerseits erzählt darin Rohan recht ausführlich durch ein direktes Selbstzitat aus dem Jahre 1933, wodurch er sich von den Nazis abzusetzen bemühte: Auch er dachte an ein Reich, das aber anders als das Dritte Reich konzipiert war; auch ihm schwebte für Deutschland und Österreich die Position in der Mitte vor, die allerdings nicht unbedingt als ein mitteleuropäisches Instrument zur großdeutschen Hegemonie verstanden wurde, sondern im Sinne der Konservativen Revolution als etwas Bindendes, Verbindendes. 36 Als Leser werden wir dadurch dazu verleitet, Rohan zum Teil als Opfer nicht nur seines Idealismus, sondern auch der Nationalsozialisten zu betrachten, die über diese feinen Unterschiede hinweggesehen und Rohan aus der Redaktion der Europäischen Revue entfernt und dann auch (für einen Tag) verhaftet haben. Andererseits weicht diese Strategie, dank der man Rohan 325 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen 37 Ebd.: 303. 38 Vgl. ebd.: 332. für ein Opfer der Geschichte, die über ihn hinwegrollt, halten könnte, bald einem sehr verbitterten Ton, in dem der die Kriegsjahre dank guter Freunde „an einflußreichen Stellen“ 37 relativ problemlos überlebende Rohan mit allen abrechnet, die ihn nach 1945 nun haben zur Rede stellen und entnazifizieren wollen. So berechtigt zu fragen wäre, ob man solch komplizierte Fälle des lavierenden Opportunismus im Zuge der denazifizierenden reeducation fast zwei Jahre in amerikanischen und österreichischen Gefängnissen eingesperrt halten musste, so wenig Verständnis bringt man für einen auf, dem zu der Lage 1954 nichts Besseres einfallen will, als zu schreiben, der Hauptleidtragende der Nachkriegslage sei das deutsche Volk, ganz zu schweigen vom Hass auf die Alliierten und den antiwestlichen Ressentiments, in denen er sich ergeht, Treue zum Eid und Gehorsam zum Befehl stattdessen rehabilitierend. 38 Dass Rohan im Gegensatz zu Coudenhove seine Bedeutung in der großen Po‐ litik eher marginalisiert, ermöglicht ihm zugleich, die Geste der Bescheidenheit zu seinen Gunsten einzusetzen, indem er die Rolle eines von der Politik im Stich Gelassenen, Missbrauchten, zu Unrecht Behandelten, somit einen Opferstatus beansprucht, was angesichts seiner Rolle in den 1930er Jahren sehr fraglich ist. Auffällig ist beispielsweise, dass Rohan kein Problem damit hat, in seinen Memoiren über zwielichtige Personen wie etwa Carl Schmitt zu berichten, ohne auf dessen Rolle im Nationalsozialismus mit einem einzigen Wort einzugehen. Man kann es aber noch anders auf den Text zurückbeziehen: Einerseits margina‐ lisiert Rohan seine politische Wirkungsmacht und Ambitionen, ordnet sich der Geschichte unter, andererseits bedient er sich als Beobachter und Diagnostiker einer überragenden Position darüber. So etwa pflegt er in einer gebieterischen und recht unsympathischen Geste einzelne Nationen auf einige wenige ihnen zugeschriebene Eigenschaften zu reduzieren. Seine Memoiren werden dadurch nicht nur zu einem ‚who is who‘ der europäischen Geschichte des 20. Jahr‐ hunderts, also einer Auflistung der freilich interessanten Personen, denen Rohan begegnet ist, oder einem geradezu touristisch verfassten Baedeker der sehenswerten Landschaften und Regionen, sondern - vor allem - ein Tableau der einzelnen Nationen, deren einzelnen Menschen in völkisch-konservativer Manier, die jeweiligen Nationalcharaktere zugeschrieben und diese auf Klima, Landschaft und andere sogenannte Naturauswirkungen zurückgeführt werden. Mit Unbehagen muss man dann immer wieder lesen, dass etwa der Franzose von Natur aus xenophob sei, aus dem belgisch-holländischen Volksboden prächtige Händlercharakter erwachsen, der Engländer sich selten wundere, der Schweizer 326 Aleš Urválek 39 „Schon als Kind fiel mir auf, dass zwei der Führer der antitschechischen Bewegung in Ronsperg die ‚urgermanischen Namen‘ Dwořaček und Mrkwička trugen, während die beiden Tschechen, die im Schloß wohnten, unser Zentraldirektor und Mutters Mallehrerin, Bodenstein und Emminger hießen.“ COUDENHOVE-KALERGI 1966: 329. das Soldatenvolk bilde, der Italiener ein geborener Europäer sei, der Berliner kein Anarchist, der Österreicher ein Traditionalist, der Ungar ein Romantiker oder der Tscheche ein leistungsfähiger Arbeiter sei. Dies muss nicht verwundern, denn Rohan hält sich programmatisch einiges zugute darauf, Europa auf starken nationalen Säulen fußend zu denken, ein Nationalismus nationaler Substanzen ist ihm also durchaus eigen. Überraschend ist es allerdings, wenn man diesen Passagen Rohans Emphase zur Seite stellt, mit der er in den Memoiren seine Prädispositionen zu einem über- oder transnational denkenden Intellektuellen geltend macht. Einem, der zwischen den Nationen und deren Grenzen aufgewachsen ist, wollen, so der Gestus der Memoiren, auch alle nationalen Zuschreibungen wenig bedeutet haben. Er lernte zwar von klein auf zwischen Tschechen und Deutschen zu unterscheiden, aber zugleich lernte er, dass es wichtig ist, oberhalb des Kleinkampfes zwischen den Nationen, der nun einmal zum Leben an einer Sprachgrenze gehört, zu bleiben. Nationalistische Generalisierungen, so sein Fazit, die alles Gute für die eigene Nation in Anspruch nehmen und alles Schlechte dem anderen Volkstum zuweisen möchten, werde niemand ehrlich vertreten können, der jemals mit anderem Volkstum wirklich zusammengelebt habe. Hier dürfte zwischen den zur Schau gestellten biographischen Dispositionen und deren Umsetzung, bei der die Individuen doch auf ihre nationalen Zuschreibungen reduziert werden, ein Widerspruch bestehen, auf den freilich schon das Vokabular (Volkstum) hinweisen mag. Bei Coudenhove gibt es diesen Widerspruch nicht. Dieser behauptet bekanntlich als Kind eines Europäers und einer Asiatin von klein auf den nationalen Begriffen stets aus dem Wege gegangen zu sein, wobei ihn gerade das Leben auf dem Schloss Ronsperg im Umfeld mehrerer Grenzen für manche Übergänge zwischen vermeintlich realen national kodierten Gegensätzen sen‐ sibilisiert haben dürfte. 39 Seiner Überzeugung, die nationalen Zuschreibungen samt den Erbfeindschaften zwischen den Nationen würden auf Unwissenheit, Vorurteil und Volksbetrug beruhen, scheinen die Memoiren treu geblieben zu sein. Als 1918 diese im Umfeld der noch nicht voll greifbaren Grenzen verbrachte Lebensperiode mit dem Zusammenbruch der Monarchie und Gründung der Nachfolgestaaten ihr Ende gefunden hatte, ging für beide Europäer von ihrer adeligen Welt vieles verloren, zumindest ihre politische Heimat und der für sie vorgezeichnete Weg. Rohan übernahm das österreichische Gut, wurde zum 327 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen Österreicher, der bald seine Visionen von einem auf den Säulen der Nationen stehenden Europa umzusetzen anfing. Das neue europäische Bewusstsein, so Rohans Antwort auf den Verlust der alten Welt, soll durch die Zusammenarbeit des (alten) Adels mit dem (neuen) Geistesadel gefördert werden, was Rohan mit dem Kulturbund und seinen Zeitschriften bewerkstelligen wollte. Auch Coudenhove fühlte sich 1918 seiner politischen Heimat beraubt, staatenlos. Welche Staatsangehörigkeit ihm offiziell zugewiesen wird, erschien ihm aller‐ dings weniger wichtig, insofern er in diesem Augenblick den Schritt darüber hinaus, auf größere Gemeinschaften hin, zu tun gedachte: Zunächst die des Völkerbundes, die bald von seiner eigenen paneuropäischen Vision ersetzt wurde, einer Vision, für die er sich den Rest seines Lebens unermüdlich eingesetzt hat. Die Geschichte dieses massiven europäischen Engagements wird jedoch in den Memoiren unterschiedlich eingerahmt: Coudenhove hebt hervor, dass seine Abwendung von der alten Welt der eben zerfallenen Monarchie, die ja durch das neu zu gestaltende Paneuropa zu ersetzen war, mit einer radikalen Emanzipation vom vorgezeichneten Weg eines Adeligen einherging. Indem er die extravagante Schauspielerin Ida Roland heiratete, was ohne Bruch mit der Welt der adeligen Konventionen nicht möglich war, will er sich zugleich, so die Memoiren, gezielt der neuen Nachkriegswelt zugewendet haben, in deren Namen er sein Paneuropaprojekt zu konzipieren gedachte, sich als unermüdlicher Agent der neuen postaristokratischen, pazifistischen, ja demokratischen Entwicklung darstellend. Dieser narrative Rahmen des auf die posthabsburgische Moderne hin sich emanzipierenden Adeligen, der mit diesem Schritt auch die alte Welt hinter sich gelassen haben will, rückt dann in den Vordergrund die - allerdings erst später aufgetretenen - probürgerlichen und demokratischen Akzente mit dem Effekt, ein ‚Demokrat‘ von Anfang an gewesen zu sein. Dass Coudenhove, der freilich nie ein Chauvinist oder Antisemit gewesen ist, nach Unterstützung für sein Projekt mitunter bei vielen Antidemokraten zu suchen bereit gewesen war (etwa bei Mussolini) und erst wohl mit dem Aufstieg der Nazis zu einer probürgerlichen Haltung fand, verheimlichen die Memoiren zwar nicht, doch sie betten es in den Prozess ein, dessen Akteur lange Jahre jeden, selbst die Fa‐ schisten, für sein paneuropäisches Kalkül einspannte, um sich dann, angesichts der nationalsozialistischen Gefahr, im Namen der unantastbaren menschlichen Rechte als Gegner jeder Totalität, der linken wie der rechten, definitiv von allen Antidemokraten abzuwenden. Dass der Mensch vor den Eingriffen des Staates zu schützen ist, wird Coudenhove erst im Laufe der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eingeleuchtet sein, der Leser der Memoiren dürfte allerdings dem Eindruck erliegen, Coudenhove sei bereits 1923 das gewesen, was er erst im 328 Aleš Urválek 40 „Er bringt heran, nimmt es aber nicht für sich nicht in Besitz; er handelt, aber ohne das eigene Interesse im Auge zu haben; er arbeitet und vollendet, hängt aber sein Herz nicht daran; da er sein Herz nicht daran hängt, so geht ihm nichts verloren.“ Diese Maxime von Laotse notiert ROHAN 1954: 331, um den Bericht über seine Gefangenschaft nach dem Krieg abzuschließen. 41 Ansatzweise, da die Zeitschriften bereits insbesondere in den hier aufgelisteten Studien von I. U. Paul und H. M. Bock untersucht worden sind. 42 „Die Auflagen beider Zeitschriften waren mit sechsbis zehntausend Monatsheften anfangs gleich hoch.“ PAUL 2005: 24. 43 Europäische Revue wird allgemein für qualitätsvoller, Paneuropa für beliebter gehalten. 44 PAUL 1999: 193. 45 Seine beliebten Strategien waren etwa, die Texte in der Zeitschrift auf eine ‚entwederoder‘ Problemstellung auszulegen, oder darin Dialoge zwischen zwei fiktiven Kontra‐ henten abzudrucken, wobei sich der paneuropäische Part in diesem nur scheinbar Platonschen Dialog (scheinbar, da man nicht nach der Wahrheit sucht, sondern sie als bereits erkannte nur effektvoll inszeniert) immer als der wahre erwiesen hat. Kampf gegen die Nationalsozialisten geworden, also ein Demokrat. 1923 redete allerdings Coudenhove, ähnlich wie Rohan, dezidiert undemokratischen Werten der Hierarchie wie Autorität und Führertum das Wort. Bei Rohan geht es in den Memoiren weniger um die Emanzipation eines agilen Subjekts, das um jeden Preis in die Geschichte der posthabsburgischen Welt eingehen will. Der überwiegende Gestus ist hier ein passiver, dann erduldender und zunehmend enttäuscht resignierter, freilich hier und da mit stoischen Attitüden. 40 Während sich Coudenhove als Alpha und Omega seines Projektes gibt, schildert sich Rohan zunehmend als ein Leidtragender, der in seinem Kampf um Europa an den Nazis gescheitert ist, von den Alliierten bestraft wurde und nun im Kalten Krieg keinen anderen Ausweg sieht, als im abendländischen Sinne an das Erbgut der europäischen Hochkultur zu erinnern, was in seinem Falle freilich nicht ohne antibolschewistische und antikapitalistische Ressentiments geht. Abschließend ist ansatzweise 41 darauf hinzuweisen, dass der an den Me‐ moiren herausgearbeitete Kontrast zwischen Coudenhove und Rohan auch an deren Zeitschriften zu zeigen wäre, die Europa in einer ähnlich hohen 42 Auflage, aber mit unterschiedlicher Strategie und Qualität 43 thematisiert haben. Coudenhove hat Paneuropa in der Tat als „seine Stimme und sein Mikrophon“ 44 gehandhabt, um darin die paneuropäischen Gedanken verkünden und sie unter Anwendung unterschiedlicher wohlkalkulierter und mitunter kaschierter selbstpropagandistischer Mittel als die einzig mögliche Wahrheit 45 darstellen zu können. Sich selbst inszenierte er in den Mittelpunkt, indem er die Texte verfasste, andere über sich selbst und seine Bewegung in günstigen Tönen referieren, ja sich überhaupt wiederholt von meist stets denselben großen 329 Europa als Kuppelbau der nationalen Säulen Namen der Politik und Kultur ihre positive Meinung über Paneuropa und somit seine eigene Wichtigkeit sowie den raketenhaften Aufstieg seiner Bewegung bestätigen ließ. All dies in beachtlicher Konsequenz eben bis zu dem Punkt, in dem der paneuropäischen Wahrheit von den Nazis diese Stimme entzogen wurde. Und auf der anderen Seite Europäische Revue, die, sosehr sie das Konzept Rohans auch ins positive Licht stellte und etwa über die Kulturbund‐ tagungen fleißig berichtete, kaum als Organ einer dazu erklärten europäischen (Kulturbund)Wahrheit denn als Revue oder Rundschau zu betrachten ist. Somit kann man Europäische Revue für ein zutiefst problematisches, dennoch über weite Strecken offenes Forum der abendländisch konservativen europäischen Mehrstimmigkeit halten, das ihre Polyphonie von Anfang an inszeniert, dies in zunehmend schwindender Form in kulturellen Fragen sogar noch unter den Nazis leistet, während es sich in politischen Fragen als Zeitschrift nach 1933 Schritt für Schritt kompromittiert. Für diesen Ausgang der Zeitschriftgeschichte ist allerdings Rohan nur mittelbar verantwortlich, da er in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als Herausgeber verabschiedet wurde. Zu befragen wäre hierfür eine andere Persönlichkeit, die in den inkriminierten Jahren Rohans Stelle übernommen und sich zugleich darum verdient gemacht hat, dass Europäische Revue bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter einem neuen Namen als Zeitschrift an den Start gehen konnte. Diese Zeitschrift hieß Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken und einer ihrer Herausgeber war Joachim Moras, der Nachfolger von Rohan und, so die Schlusspointe, ein Europäer, der mit seinem Geburtsort Zittau (Žitava, Zytawa) ein an den Grenzen geborener Europäer schlechthin war. Literatur BOCK, Hans Manfred (1999): Das Junge Europa, das Andere Europa und das Europa der weißen Rasse. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1939. In: Grunewald, Michel [et al.]: Le discours europeen dans les revues allemandes (1933-1939) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939). (Convergences, vol. 11). Bern / Berlin: Peter Lang, S. 311-352. CONZE, Vanessa (2005a): Abendland gegen Amerika! Europa als antiamerikanisches Konzept im westeuropäischen Konservatismus (1950-1970). In: Behrendts, Jan [et al.]: Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Bonn: Dietz, S. 204-224. CONZE, Vanessa (2005b): Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas. Zürich: Muster-Schmidt. 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Kolonialismus als Kultur Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden 2002, 291 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3211-0 Band 3 Helene Zand Identität und Gedächtnis Die Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs 2003, 207 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3212-7 Band 4 Helga Mitterbauer Die Netzwerke des Franz Blei Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert 2003, 165 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-3213-4 Band 5 Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hrsg.) Eskalationen Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik 2003, XV, 215 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8006-7 Band 6 Amália Kerekes / Alexandra Millner / Peter Plener / Béla Rásky (Hrsg.) Leitha und Lethe Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns 2004, X, 297 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8063-0 Band 7 Vera Viehöver Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau 2004, 352 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8072-2 Band 8 Waltraud Heindl / Edit Király / Alexandra Millner (Hrsg.) Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918 2006, VIII, 273 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8131-6 Band 9 Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.) Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn 2006, VI, 295 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8133-0 Band 10 Telse Hartmann Kultur und Identität Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths 2006, XI, 213 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8170-5 Band 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl / Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen 2010, 409 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8239-9 Band 12 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext 2008, VIII, 293 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8301-3 Band 13 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens 2011, 447 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8366-2 Band 14 Daniela Finzi / Ingo Lauggas / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac/ Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext 2011, 257 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8434-8 Band 15 Emilija Man č i ć Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext 2012, 198 Seiten €[D] 45,- ISBN 978-3-7720-8466-9 Band 16 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap 2012, 348 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8467-6 Band 17 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive 2013, 326 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8475-1 Band 18 Thomas Grob / Boris Previ š i ć / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination 2013, 308 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8484-3 Band 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus 2016, 354 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8520-8 Band 20 Boris Previ š i ć / Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls 2015, 230 Seiten €[D] 52,- ISBN 978-3-7720-8526-0 Band 21 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevi ć / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis 2016, 706 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 Band 23 Clemens Ruthner Habsburgs ‚Dark Continent‘ Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert 2018, 401 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8603-8 Band 24 Clemens Ruthner / Tamara Scheer Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina, 1878-1918 Annäherungen an eine Kolonie 2018, 560 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8604-5 Band 25 Marijan Bobinac / Johanna Chovanec / Wolfgang Müller-Funk / Jelena Spreicer (Hrsg.) Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum 2018, 263 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8649-6 Band 26 Wolfgang Müller-Funk / Gábor Schein (Hrsg.) Péter Nádas’ Parallelgeschichten Lektüren, Essays und ein Gespräch 2020, 170 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8682-3 Band 27 Wolfgang Müller-Funk / Jan Bud ň ák / Tomáš Pospíšil / Aleš Urválek (Hrsg.) 30 Jahre Grenze und Nachbarschaft in Zentraleuropa Literatur, Kultur und Geschichte 2022, 331 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8723-3 Band 28 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk / Andrea Seidler / Jelena Spreicer / Aleš Urválek (Hrsg.) Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs Kollabierende Imperien, Staatenbildung und politische Gewalt 2021, 343 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8740-0 ISBN 978-3-7720-8723-3 Mit Beiträgen von Marijan Bobinac, Jan Budňák, Milka Car, Lukáš Fasora, Alfrun Kliems, Michaela Kuklová, Daniel Lyčka, Zdeněk Mareček, Alexandra Millner, Wolfgang Müller-Funk, Stefan Michael Newerkla, Friedrich Polleroß, Oliver Rathkolb, Aleš Urválek und Gertraude Zand. Ende 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei. Im vorliegenden Band wird dies zum Anlass genommen, die Geschichte der politischen, kulturellen und literarischen Grenzziehungen und Nachbarschaften im Zentraleuropa des 20. Jahrhunderts neu zu sichten. Die Überblicks- und Fallstudien lassen mit großer Deutlichkeit die zentraleuropäische Interkulturalität hervortreten - als Korrektiv des scheinbar durch Nationalismen und Eiserne Vorhänge getrennten Jahrhunderts. Durch paradoxe Wendungen wie „erträgliche Unzufriedenheit“ (Lukáš Fasora) oder „sensible Beziehungen“ (Oliver Rathkolb) auf den Punkt gebracht, wird in den Beiträgen die Koexistenz von Grenzlinien und Grenzüberschreitungen bei zentraleuropäischen „Konfliktgemeinschaften“ (Jan Křen) vorgeführt. Präsentiert werden Fallbeispiele aus österreichischer und tschechischer, aber auch im weiteren Sinne (post-)habsburgischer Geschichte und Literatur.