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Schreiben im Widerspruch

2022
978-3-7720-5776-2
A. Francke Verlag 
Marion Acker
10.24053/9783772057762
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Ist Zusammengehörigkeit auf Worte angewiesen? Bedeutet ein,Mehr' an Sprachigkeit zugleich ein ,Mehr' an Zugehörigkeit? Diese Studie fragt nach der Bedeutung des Sprechens und Schreibens für die Mitteilung und den Vollzug von Gefühlen der Zugehörigkeit. In Auseinandersetzung mit dem Werk zweier literarischer Gegenwartsautorinnen, Herta Müller und Ilma Rakusa, entwickelt sie das affektpoetologische Programm eines Schreibens im Wi(e)derspruch, das literaturwissenschaftliche Verfahren erstmalig mit Ansätzen der sozialwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung verbindet und sich an ein interdisziplinär aufgeschlossenes Lesepublikum richtet. Marion Acker zeigt, dass Zugehörigkeit eine vielgestaltige Herausforderung ist, die im Schreiben der beiden Autorinnen immer wieder aufs Neue aufgenommen wird und das Potenzial besitzt, normative Annahmen zu hinterfragen. Für Ihre Arbeit erhielt die Autorin bei der Vergabe des "Tiburtius-Preises 2022 - Preis der Berliner Hochschulen" einen der drei Anerkennungspreise.

L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa Schreiben im Widerspruch Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Mainz) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 4 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa Marion Acker https: / / orcid.org/ 0000-0003-4945-7848 Die Publikation wurde ermöglicht durch eine Ko-Finanzierung für Open-Access-Mono‐ graphien und -Sammelbände der Freien Universität Berlin und des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten SFB 1171 Affective Societies der Freien Universität Berlin (Projektnummer: 258523721). Zugleich: Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin, 2021. D 188 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057762 © 2022 · Marion Acker Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8776-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5776-2 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0226-7 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 1 13 1.1 19 1.2 22 1.3 33 1.4 37 2 43 2.1 44 2.2 48 53 2.3 58 2.3.1 60 2.3.2 61 2.3.3 66 2.4 73 2.4.1 74 2.4.2 77 84 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Zugehörigkeit‘: Ein vielschichtiger Begriff . . . . . . . . . . . . . . . „Belonging matters“: Material und Forschungsstand . . . . . . . . Mit Bachtin zusammen denken: Zugehörigkeit, Sprache und soziale Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben im Wi(e)derspruch: Argumentationslinien und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Schreiben gegen diese Identität“: Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homogenität und Reinheit: Zur rituellen Performanz von Gemeinsamkeit in „Das schwäbische Bad“ . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuität und Wandel: Sprachliche Praktiken des Grenzerhalts in „Dorfchronik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt: Zur Monologizität des Dorfes in der Erzählung „Niederungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das autoritäre Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die unausgesprochene Tatsache des Zusammengehörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glückliche Objekte, dissidente Subjekte . . . . . . . . . . . . . Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang: Niederungen, Herztier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Kreislauf der Nicht-/ Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Anbindung und Loslösung . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 87 3.1 91 3.2 98 3.2.1 106 3.2.2 111 3.2.3 117 3.3 131 142 4 149 4.1 155 4.1.1 158 4.1.2 166 4.2 170 4.2.1 173 4.2.2 185 4.2.3 195 4.3 208 4.3.1 208 4.3.2 214 227 5 235 5.1 235 5.2 249 5.3 253 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa . . . . . . . „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der emphatischen Beschwörung des Nomadischen zur Ambivalenz seiner Bewertung in Mehr Meer . . . . . . . . . . . . . . Sammeln als Praxis des place-making . . . . . . . . . . . . . . „Ich sammelte die Welt“: Verortung in und durch Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetik der Liste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Suche nach der Form: Mehr Meer, Mein Alphabet, Herztier Vielstimmiges Ringen um Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . Zur Dialogizität der Erinnerungspassagen . . . . . . . . . . . Diktatorisches Erzählen? Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intimes Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungehörige Formen des Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits des Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialogische Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Horchen zum Gehorchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gespaltene Zungen, große Augen und feine Ohren: Das Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit . . . . . . . . . . . . . Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion . . . . . . . . . Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . Musikalisch, rhizomatisch, traumatisch: Forschungsstimmen Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 5.4 259 5.4.1 259 5.4.2 275 285 6 287 293 297 299 299 305 329 331 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . „So verlassen wie sonst nichts auf der Welt“: Im Tal bei den Kühen oder die Kunst, sich selbst zuzugehören . . . „Alleinsein als Glück“: Die Haut der Jalousien oder Zugehörigkeitszauber im Siesta-Zimmer . . . . . . . . . . . . Viertes Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kein letztes Wort: Schlussreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstracts und Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen und Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Danksagung So vielfältig wie das relationale Gefüge, aus dem diese Studie hervorgegangen ist, so zahlreich sind auch die Menschen und institutionellen Kontexte, denen ich mich verbunden und zu tiefem Dank verpflichtet fühle. Die vorliegende Arbeit ist im Teilprojekt „Geteilte Gefühle. Zugehörigkeit in der transkultu‐ rellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ des DFG-geförderten Sonderfor‐ schungsbereichs 1171 Affective Societies entstanden. Sie wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin eingereicht und dort am 7. Juli 2021 erfolgreich verteidigt. Mein erster und allergrößter Dank gehört Professorin Dr. Anne Fleig, die als Teilprojektleiterin und Erstbetreuerin doppelt Anteil am Entstehungs‐ prozess dieser Arbeit nahm und meinen akademischen Werdegang wesentlich mitgeprägt hat. Ihr ermutigender Zuspruch und wohlwollender Widerspruch sowie ihr fortwährendes Vertrauen in meine Arbeit waren mir Antrieb und Ansporn zugleich. Professor Dr. Jürgen Brokoff danke ich nicht nur für die Über‐ nahme des Zweitgutachtens, sondern auch für seine wichtigen Hinweise und Denkanstöße, die mir dabei geholfen haben, mich auf verschiedene Konzepte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion einzulassen, ohne die eigene kritische Distanz preiszugeben oder den literaturwissenschaftlichen Anspruch aufzuheben. Herzlich danken möchte ich auch dem Kolloquium von Professorin Fleig, das meine Arbeit von ihren ersten Entwürfen an mitverfolgt und mit konstruktivem Gehör sowie wegweisenden Anregungen zu ihrem Gelingen beigetragen hat. Für Worte der Gelassenheit, selbstlose Hilfsbereitschaft und nicht zuletzt für die gelebte Dialogizität im Rahmen unserer gemeinsamen Projektarbeit bin ich meinem Kollegen Matthias Lüthjohann unendlich dankbar. Aus den fachübergreifenden Diskussionen im Sonderforschungsbereich habe ich viele theoretische Impulse bezogen, die sich für meine Arbeit als enorm produktiv erwiesen haben. Die von Dr. Dominik Mattes und Dr. Omar Kasmani geleitete Themengruppe zum Konzept ‚belonging‘ hat mein Nachdenken über Nicht-/ Zugehörigkeit maßgeblich vorangetrieben und verdient daher hervor‐ gehobenen Dank. PD Dr. Jonas Bens und Dr. Robert-Walter Jochum danke ich für Gespräche und kollegialen Rat. Neben der intellektuellen Infrastruktur verdanke ich dem Sonderforschungsbereich die finanzielle Förderung dieser Arbeit durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Ein von ihm finanzierter Forschungsaufenthalt in Bern ermöglichte es mir zudem, das Schweizerische Literaturarchiv aufzusuchen. Für das Interesse an meiner Arbeit sowie für die Möglichkeit, Einsicht in Dr. Ilma Rakusas Vorlass zu nehmen, möchte ich mich namentlich bei der Leiterin des Literaturarchivs, PD Dr. Irmgard Wirtz Eybl, bedanken. Dr. Rakusa danke ich für ihre freundliche Erlaubnis, bislang unveröffentlichtes Archivmaterial zitieren und abdrucken zu dürfen. Teile der vorliegenden Publikation fußen auf Ergebnissen, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Geteilte Gefühle“ erarbeitet und bereits an anderen Orten veröffentlicht worden sind. Insbesondere handelt es sich um folgende Publikationen: ● Acker, Marion / Fleig, Anne: Die Aufrichtigkeit der Mehrsprachigkeit: Au‐ tofiktion, Autonarration oder das Konzept dialogischer Autorschaft bei Yoko Tawada. In: Sonja Arnold / Stephanie Catani / Anita Gröger u. a. (Hrsg.): Sich selbst Erzählen. Autobiographie - Autofiktion - Autorschaft. Kiel: Ludwig 2018, S. 19-36. ● Acker, Marion: Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachig‐ keit bei Herta Müller. In: Dies. / Anne Fleig / Matthias Lüthjohann (Hrsg.): Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Ge‐ genwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, S. 85-101. ● Acker, Marion / Fleig, Anne: „Der Schein des Dazugehörens“: Zugehörig‐ keit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen. In: Dagmar Freist / Sabine Kyora / Melanie Unseld (Hrsg.): Transkulturelle Mehrfach‐ zugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen. Räume - Materialitäten - Erinnerungen. Bielefeld: Transcript 2019, S. 153-168. Für die Genehmigung, Passagen aus diesen Beiträgen in wörtlicher oder modi‐ fizierter Form wiederverwenden zu dürfen, möchte ich dem Kieler Ludwig, dem Transcript sowie dem Narr Francke Attempto Verlag danken. Beim Narr Francke Attempto Verlag und besonders bei seinem Lektor Tillmann Bub möchte ich mich außerdem ganz herzlich für die hervorragende Zusammenarbeit und die geduldige Betreuung des Publikationsprozesses bedanken. Für die Aufnahme in die Reihe Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism danke ich zudem den Herausgebern Professor Dr. Till Dembeck und Professor Dr. Rolf Parr. Den abschließenden Dank möchte ich meinem privaten Umfeld aussprechen, welches das affektive Fundament dieser Arbeit bildet: Ronja Brier, Laura Brick, Silvia Follmann, Alisa Gögelein, Wiebke Schwinger, Daniel P. Ventura und Dr. Isabelle Zirden haben mir gezeigt, was es heißt, einen Ort zu haben, dem man sich fraglos zugehörig weiß. Zwei Menschen aus dem Kreis der Engsten möchte ich besonders erwähnen: Julia Walter und vor allem Denis Pieper gebührt zusätzlicher Dank für ihren scharfen Blick beim Korrekturlesen und die klugen Anmerkungen zum Manuskript. 10 Danksagung Meiner Familie und besonders meiner Tante Therese Schenker danke ich für ihren Rückhalt und Glauben an mich. Mein innigster Dank gilt meiner Mutter Annemarie Acker, die mich durch alle Höhen und ‚Niederungen‘ dieser Arbeit begleitet und mir stets bedingungslos zur Seite gestanden hat. Ihr und dem liebevollen Gedenken an meinen Vater Hermann G. Acker ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Oktober 2022 Marion Acker 11 Danksagung 1 Ulrike Ackermann, „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. Die Dichterin Herta Müller über Heimat, Diktatur, Dazugehören und den fremden Blick. In: Die Welt, 23.06.2004. URL: https: / / www.welt.de/ 103003411 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 2 Ilma Rakusa, Heimaten teilen. Warum nur wollen alle über Heimat reden? In: philoso‐ phie.ch. Swiss Portal for Philosophy, 09.08.2017. URL: https: / / www.philosophie.ch/ phi losophie/ highlights/ nachdenken-ueber-heimat/ heimaten-teilen (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 3 Vanessa May, Connecting Self to Society. Belonging in a Changing World. New York 2013, S. 3. 4 Ackermann, „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. 5 Joanna Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung. Göttingen 2012, S. 8. 1 Einleitung „Irgendeine Form von Zugehörigkeit braucht jeder Mensch“ 1 , hat Herta Müller einmal gesagt. Ilma Rakusa befindet ähnlich lapidar: „Zugehörigkeiten sind wichtig, wir sind soziale Wesen mit Emotionen.“ 2 In Übereinstimmung mit gängigen Definitionen dieses Begriffs postulieren beide Autorinnen, dass Zuge‐ hörigkeit als anthropologisches Phänomen anzusehen ist, als ein „basic human need“ 3 , welches sich in der Beziehung zwischen Menschen und ihren sozialen wie räumlich-materiellen Umwelten manifestiert. Zugehörigkeit ist immer relational konstituiert und kann sich in verschiedenen Formen realisieren - „Freunde […] oder ein Ort“ 4 nennt Müller als Beispiele. Die geäußerte Annahme, dass Zugehörigkeit ein allen Menschen gemeinsames existenzielles Grundbe‐ dürfnis sei, leuchtet intuitiv ein. Und doch wirkt sie überraschend aus dem Mund bzw. der Feder zweier Autorinnen, deren Texte der Wunsch anzutreiben scheint, Zugehörigkeiten abzulegen oder nomadisch ungebunden zu leben. Damit ist bereits jenes Spannungsfeld angezeigt, dem der Titel dieser Arbeit sicht- und hörbaren Ausdruck verleiht. Die verbindenden und trennenden Eigenschaften, die der Begriff ‚Nicht-/ Zugehörigkeit‘ in sich vereint, sind These und Programm zugleich: Ziel ist es, die ambivalenten Dynamiken, Brüche und Widersprüche herauszuarbeiten, die das vermeintlich „Einfachste der Welt, nämlich die Verortung im vertrauten sozialen Gefüge“ 5 zu einer vielgestaltigen Herausforderung werden lassen, die in der Bewegung des Schreibens immer wieder aufs Neue aufgenommen wird und sich als unabgeschlossener Prozess darstellt. Als Müller 2009 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, fasste sie ihren unwahrscheinlichen Werdegang in dem folgenden Satz zusammen: „Der Bogen 6 Herta Müller, Tischrede. In: Dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München 2011, S. 22-24, hier S. 22. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚Schnee‘ nachgewiesen. 7 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders., Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1980, S. 43. 8 Anders Olsson, Award Ceremony Speech, 10.12.2009. URL: https: / / www.nobelprize.or g/ prizes/ literature/ 2009/ ceremony-speech/ (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 9 Herta Müller, Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. München 2014, S. 46 f. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Apfelkern‘. 10 Für einen knappen historischen Überblick vgl. Gerhard Seewann, Banat. In: Holm Sundhaussen / Konrad Clewing (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wien / Köln / Weimar 2016, S. 127-129. 11 Jürgen Brokoff, Herta Müller (2009). In: Claudia Olk / Susanne Zepp (Hrsg.), Nobel‐ preisträgerinnen. 14 Schriftstellerinnen im Porträt. Berlin / Boston 2019, S. 227-248, hier S. 227. 12 Esther Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 174-185, hier S. 174. - Zu von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst.“ 6 Die Erfahrung des Nicht-bei-sich-Seins beschreibt sie als ein wiederkehrendes Motiv, das sich in verschiedenen Lebenskontexten aktualisiert und eine spezifische Form der Autorschaft profiliert, die aus der Skepsis gegenüber einem Gefühl allzu wohliger Übereinstimmung ihren politischen und moralischen Impetus bezieht. Man darf hier wohl an den berühmten Imperativ denken, den der exilierte Phi‐ losoph Theodor W. Adorno in seinen Minima Moralia (1951) aufgestellt und mit dem er sich gegen eine falsche Sehnsucht nach Zugehörigkeit ausgesprochen hat: „Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“ 7 Für die künstlerische Umsetzung dieser Maxime, mithin für den „großen Mut […] pro‐ vinzieller Unterdrückung und politischem Terror kompromisslos Widerstand“ 8 zu leisten, hat Müller die höchste Auszeichnung erhalten, die Autorinnen und Autoren zuteilwerden kann. Geboren wurde Müller am 17. August 1953 in einem, wie sie selbst sagt, „fingerhutkleinen Dorf am Rand der Welt“ 9 im heute rumänischen Teil des Banats - einer vielsprachig und multikulturell geprägten Region an der Schnittstelle zwischen Ostmittel- und Südosteuropa, die bis 1919 zum Habsburger Reich gehörte und in der bis heute verschie‐ dene Bevölkerungsgruppen leben, darunter die deutschsprachige Minderheit der sogenannten „Banater Schwaben“. 10 Ähnlich wie andere Autorinnen und Autoren, die in regionaler und kulturräumlicher Hinsicht von den Rändern eines „imaginären oder tatsächlichen Zentrum[s] deutschsprachiger Literatur“ 11 herkommen und „ihre Erstsprache als minoritäre Sprache innerhalb einer anderssprachigen nationalen Mehrheit erworben“ 12 haben, ist die Erfahrung 14 1 Einleitung denken wäre hier beispielsweise an Franz Kafka und Paul Celan oder, in der neueren Gegenwartsliteratur, an Autorinnen wie die 1971 in einem ungarischen Dorf geborene und als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit aufgewachsene Terézia Mora, deren Frühwerk bereits verschiedentlich mit demjenigen Müllers verglichen worden ist. Vgl. Meike Herrmann, Der fremde Blick auf die Provinz. Zur Rezeption von Herta Müller: Niederungen, Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer und Terézia Mora: Seltsame Materie. In: András F. Balogh (Hrsg.), Regionalität und Fremde. Berlin 2007, S. 175-190; René Kegelmann, Ortlosigkeit und innere Räume. Interkulturelles literarisches Lernen mit der frühen Prosa von Herta Müller und Terézia Mora. In: Marc-Oliver Carl / Sieglinde Grimm / Nathalie Kónya-Jobs (Hrsg.), Ost-Geschichten. Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse. Göttingen 2020, S. 223- 244. 13 Herta Müller, In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Dies., Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 7-39, hier S. 27. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚König‘ nachgewiesen. - Zur Bedeutung der „Gemengelage verschiedener Sprachen, Sprachstandards und -register - Deutsch, Rumänisch, Mundart, Hochdeutsch und so weiter -“ für Müllers Schreiben vgl. auch Norbert O. Eke / Christof Hamann, „Das Schöne ist das Durchsichtige“. Gespräch mit Herta Müller. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 3-23, hier S. 13. 14 Paola Bozzi, Der fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers. Würzburg 2005, S. 20. 15 Bereits Eke hat die „Außenseiterrolle Herta Müllers als Autorin“ konstatiert, die sich in einer „Poetik des Randes“ niederschlage. Feststellungen wie diese gehören seither zu den wiederkehrenden Topoi der Müller-Forschung. Norbert O. Eke, Augen/ Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in Bildern. Annäherung an Herta Müller (Einleitung). In: Ders. (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Paderborn 1991, S. 7-21, hier S. 12. 16 Antje Harnisch, Ausländerin im Ausland. Herta Müllers Reisende auf einem Bein. In: Monatshefte 89/ 4 (1997), S. 507-520, hier S. 510. 17 Norbert O. Eke, Der ‚eigene Kalender‘ des Erinnerns. Die Wahrheit der erfundenen Wahrnehmung in Herta Müllers Romanen, Erzählungen und Essays. In: German Life and Letters 73/ 1 (2020), S. 72-84, hier S. 72. dieses mehrsprachigen Lebensumfelds für Müllers Schreiben zentral. Das Rumä‐ nische - Müllers Zweitsprache, die sie mit 15 Jahren am Gymnasium in der Stadt Temeswar bzw. Timișoara zu lernen begann - ist in ihren Texten unterschwellig stets präsent, es „schreibt […] immer mit“ 13 . Doch verweigert sich dieses mehr-deutsch-sprachige Schreiben der einfachen Gleichung von Mehrsprachig‐ keit und Mehrfachzugehörigkeit. Müller gilt allgemein als eine Autorin, die sich gegen jegliche Vereinnahmung wehrt, „weder in ihrem Leben noch in ihrem Werk die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sucht“ 14 und sich als Außenseiterin positioniert. 15 „Nicht Geborgenheit oder Zugehörigkeit“ 16 , sondern Gefühle der Nicht-Zugehörigkeit sind affektives Movens eines Schreibens, das sich mit „der doppelten Herkunftslast zweier Diktaturen“ 17 befasst. Literarisch zum Tragen kommt diese in den Dorf- und Provinztexten aus Erzählbänden wie Niederungen (1982) oder Barfüßiger Februar (1987), welche die nationalsozialistischen Ver‐ 15 1 Einleitung 18 Vgl. etwa Martina Wernli, „Diese Diktaturen sind immer noch da“. Herta Müller als engagierte Autorin. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 162-173, hier S. 162. 19 Herta Müller, In der Falle. Göttingen 1996, S. 19 f. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Falle‘. 20 Schwedische Akademie, Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2009. Pressemitteilung, 08.10.2009. URL: www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ 2009/ press_ty. html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). strickungen der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien problematisieren, in den - vorrangig im städtischen Raum angesiedelten - Diktaturromanen Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1994) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997), in denen Müller die Mechanismen von Verfolgung und Überwachung, sozialer Isolation und politischer Opposition zur Darstellung bringt, aber auch in dem Lagerroman Atemschaukel (2009), welcher die Zwangsdeportation von Rumäniendeutschen in die stalinistischen Gulags nach Ende des Zweiten Weltkriegs thematisiert. Die doppelte Herkunftslast, die Müller mit vielen ihrer Figuren teilt und welche die Forschung auch als eine doppelte Minderheitenposition beschreibt, 18 wird durch die 1987 vollzogene Emigration nach Berlin nicht einfach abgestreift: „In Deutschland angekommen, sah ich mich zweimal neben mir selber stehen: Einmal als etwas anderswoher Mitgebrachtes, das hierher nicht paßt. Und einmal als etwas Dortgebliebenes, das in unerträglich weiter Entfernung herumläuft, und nicht mitzubringen war.“ 19 Im selben Jahr, als das Nobelpreiskomitee Müllers „Landschaften der Hei‐ matlosigkeit“ 20 lobte, wurde die 1946 im heute slowakischen Rimavská So‐ bota als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen geborene, seit 1953 in Zürich lebende Schriftstellerin, Übersetzerin und promovierte Literaturwissen‐ schaftlerin Ilma Rakusa für ihr autobiographisch geprägtes Buch Mehr Meer. Erinnerungspassagen mit dem höchstdotierten Literaturpreis der Schweiz aus‐ gezeichnet. In diesem schildert „die überall Fremde“, wie es im Klappentext heißt, „eine Kindheit und Jugend in Mitteleuropa, als dieses Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gerade seine politischen und kulturellen Konturen neu eingeschrieben bekam“. Schenkt man den Charakterisierungen von Jury, Verlagen und anderen Stimmen des Literaturbetriebs Glauben, so scheinen Nicht-Zugehörigkeit, Fremdheit, Entfremdung, Einsamkeit und Heimatlosigkeit die literarischen Gefühlswelten beider Autorinnen zu bestimmen. Aufgrund der Wandlungen, die Rakusas Werk in engem Zusammenhang mit seiner Rezeption und der Selbstpositionierung der Autorin vollzogen hat, ist dieses Bild aber zu differenzieren. Während Rakusas Frühwerk, zu dem der Kurzroman Die Insel (1982) sowie die Erzählbände Miramar (1986) und Steppe (1990) gehören, vor‐ 16 1 Einleitung 21 Zur Rezeption vgl. die gesammelten Rezensionen, die Rakusa als Teil ihres Vorlasses dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hat. Zu Rakusas Auseinandersetzung mit dem Diskurs um eine weibliche Ästhetik vgl. etwa Ilma Rakusa, Frau und Literatur - Fragestellung zu einer weiblichen Ästhetik. In: Christa Köppel / Ruth Sommerauer (Hrsg.), Frau - Realität und Utopie. Zürich 1994, S. 273-296; vgl. auch die Korrespondenz mit Siegfried Unseld über einen geplanten, jedoch nicht zustande gekommenen Band zum Thema „Weibliche Ästhetik“ für die edition suhrkamp: Siegfried Unseld, Briefe an die Autoren. Hrsg. von Rainer Weiss. Frankfurt am Main 2004, S. 127 (= Brief vom 01.02.1984 an Ilma Rakusa). 22 Vgl. Ilma Rakusa, Wir machen Heimat. In: Neue Zürcher Zeitung, 13.12.2016. URL: h ttps: / / www.nzz.ch/ feuilleton/ an-vielen-orten-zu-hause-wir-machen-heimat-ld.134092 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Ilma Rakusa, Damit Europa zur Heimat werden kann, brauchen wir ein gemeinsames Narrativ. In: Martin W. Ramb / Holger Zaborowski (Hrsg.), Heimat Europa? Göttingen 2019, S. 326-331. 23 Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin 2005. 24 Dies zeigt sich in literaturgeschichtlichen Darstellungen, in denen Müllers Werk unter Überschriften wie „Nach 1989: Literatur deterritorial, transnational, multilingual“ (Sandra Richter, Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. 2., verbesserte Auflage. München 2017, S. 433-466, bes. S. 448-452) oder „Literatur aus naher Fremde“ (Michael Opitz / Carola Opitz-Wiemers, Tendenzen in der deutschsprachigen Gegen‐ wartsliteratur seit 1989. In: Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 9., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2019, S. 766-772, bes. S. 767) rubriziert wird. Vgl. außerdem Almut Todorow, Das Streunen der gelebten Zeit. Emine Sevgi Özdamar, Herta Müller, Yoko Tawada. In: Klaus Schenk (Hrsg.), Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. rangig im Kontext der kontrovers geführten Debatte um eine weibliche Ästhetik rezipiert wurden, an der sich die Autorin durch Universitätsvorträge, Essays und verschiedene wissenschaftliche Aufsätze auch selbst beteiligt hat, 21 rückt Rakusa seit ihrer 2005 abgehaltenen Chamisso-Poetikvorlesung Zur Sprache gehen und dem Erscheinen von Mehr Meer die Kultur- und Sprachgrenzen über‐ schreitenden Aspekte ihres Lebens und Schreibens in den Vordergrund und par‐ tizipiert in ihrer Arbeit als Publizistin und Essayistin an Streitdebatten wie dem aktuellen Heimatdiskurs. 22 In Wechselwirkung dazu wird sie seit der Jahrtau‐ sendwende verstärkt als Vertreterin einer inter- und transkulturellen deutsch‐ sprachigen Gegenwartsliteratur „ohne festen Wohnsitz“ 23 wahrgenommen, die sich durch die Verarbeitung von Erfahrungen der Mehrsprachigkeit, des Orts‐ wechsels und der Migration fixierenden Identitätszuschreibungen widersetzt und die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ aus ihrer Oppositionsstarre hebt. Dies stellt eine Verbindung zu Müller dar, die - obschon ihre Erstsprache das Deutsche ist - ebenfalls als wichtige Stimme einer inter- und transkulturellen Literatur gilt und daher häufig in einer Reihe mit Autorinnen wie beispielsweise Yoko Tawada oder Emine S. Özdamar verhandelt wird. 24 Müllers Texte „zählen zu jenen Werken, die für die aktuelle Literaturwissenschaft Ausgangspunkt 17 1 Einleitung Tübingen / Basel 2004, S. 25-50 oder Maria S. Grewe, Estranging Poetic. On the Poetic of the Foreign in Select Works by Herta Müller and Yoko Tawada. Ann Arbor 2009. 25 Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers, S. 174 f. 26 Ilma Rakusa, Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz 2009, S. 18. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚MM‘. 27 Eine Musilsche Wortprägung, die Rakusa in ihrem Essay „Zwischen Märchen und Melancholie. Triester Erinnerungssplitter“ verwendet. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur 54 (1995), S. 78-79, hier S. 79. 28 Bei meiner Literaturrecherche bin ich lediglich auf einen Aufsatz gestoßen, der sich mit beiden Autorinnen in vergleichender Perspektive beschäftigt: Gudrun Lörincz, Translinguale Räume. Sprachliche Gleichzeitigkeit als kulturelle Mobilität. In: Thomas Bremer / Susanne Schütz (Hrsg.), Interculturalism and Space in Literature and Media (= Reflexionen des Gesellschaftlichen in Sprache und Literatur. Hallesche Beiträge. Bd. 4). Halle 2016, S. 133-146. URL: http: / / digital.bibliothek.uni-halle.de/ pe/ content/ tit leinfo/ 2317557 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). sind, lange etablierte Ordnungskriterien wie die der eindeutigen nationalen und sprachlichen Zugehörigkeit von Autor und Werk zu hinterfragen“ 25 - nicht nur, weil sie die Einwanderung nach Deutschland thematisieren (z. B. Reisende auf einem Bein, 1989), sondern auch, weil sie Dynamiken der kollektiven Abgrenzung und Identitätsstiftung in einer historisch mehrsprachigen und multiethnisch besiedelten Grenzregion problematisieren, die durch wechselnde nationale Zugehörigkeiten und politische Regime geprägt wurde. Das Bewusst‐ sein um die historische Bedingtheit nationaler und territorialer Zugehörigkeiten artikulieren auch Rakusas Erinnerungspassagen, in denen die Ich-Erzählerin die osteuropäischen Schauplätze ihrer Familiengeschichte bereist - „[a]ll diese Städte mit neuen Namen und hybriden Identitäten“ 26 - und die verschiedenen Lebensorte ihrer Kindheit beschreibt, allen voran die heute zu Italien gehörende Stadt Triest. Das Erlebnis der Vielsprachigkeit, die wechselvolle Historie und das „kakanische Erbe“ 27 dieser Stadt hat Rakusa auch in anderen Texten zum Gegenstand der Reflexion und zum Ausgangspunkt der Erzählung ihrer eigenen Autorschafts-Werdung gemacht. Auf dieser Grundlage soll im Folgenden nach dem Verbindenden und Tren‐ nenden der literarischen Nicht-/ Zugehörigkeitsentwürfe Müllers und Rakusas gefragt und zum ersten Mal ein ausführlicher Vergleich zwischen beiden Autorinnen durchgeführt werden. 28 Die konkreten Lebens- und Erfahrungszu‐ sammenhänge, die nicht nur Hintergrund, sondern maßgeblicher Beweggrund des Schreibens im Widerspruch sind, vermitteln fundamentale Einsichten in die Multidimensionalität des Zugehörigkeitsbegriffs, der unauflöslich mit seinem Gegenteil verbunden ist und sich mitnichten auf ein heimeliges Gefühl von Zuhause - „a sense of feeling ‚at home‘“ 29 - reduzieren lässt. 18 1 Einleitung 29 So lautet eine verbreitete Definition des Begriffs ‚belonging‘. Marco Antonsich, Sear‐ ching for Belonging - An Analytical Framework. In: Geography Compass 4/ 6 (2010), S. 644-659, hier S. 648. Vgl. auch May, Connecting Self to Society, S. 82 f. 30 ‚gehören‘. In: Wolfgang Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https: / / www.dwds.de/ wb/ etymwb/ geh%C3% B6ren (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 31 In der sprichwörtlichen Redewendung „Wer nicht hören will, muss fühlen“ ist diese Bedeutungsdimension des ‚Hörens‘ im Sinne von ‚gehorchen‘ noch heute präsent. 32 Heinz Wismann, Begriffe der Zugehörigkeit im europäischen Vergleich. In: Rudolf von Thadden / Steffen Kaudelka / Thomas Serrier (Hrsg.), Europa der Zugehörigkeiten. 1.1 ‚Zugehörigkeit‘: Ein vielschichtiger Begriff Ich glaube, man unterschätzt sein Horchen auf die Wörter. Herta Müller (König, 27) Das Wort ‚Zugehörigkeit‘ hat ein breites Bedeutungsspektrum. In diesem Abschnitt möchte ich eine erste Annäherung an den Zugehörigkeitsbegriff unternehmen, indem ich seinen etymologischen Spuren folge, das Wort in seine semantischen Bestandteile zerlege und seine konnotativen Beiklänge ergründe. In Anlehnung an Müller möchte ich also versuchen, auf das Wort zu „horchen“. Mit dieser Formulierung bewegen wir uns bereits im etymologi‐ schen Zusammenhang der ‚Zugehörigkeit‘: Im deutschen Wort ‚Zugehörigkeit‘ steckt nämlich das Wort ‚gehören‘, das sich vom althochdeutschen ‚gihōren‘ herleitet und in der Geschichte seiner Verwendung verschiedene Bedeutungen durchlaufen hat: „Noch in mhd. Zeit gilt die Bedeutung vom Simplex hören, nämlich ‚akustisch wahrnehmen, vernehmen‘, auch ‚zuhören, gehorchen‘, woraus sich im 14. Jh. der Sinn der Zugehörigkeit (zu einer Familie und dgl.) und des Besitzes und Eigentums entwickelt.“ 30 Damit sind wesentliche Aspekte des Zugehörigkeitsbegriffs angesprochen: Die auditive Dimension verweist auf die fundamentale Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung für die Herstellung von Zugehörigkeit. Darüber hinaus impliziert die etymologische Verwandtschaft zwischen ‚hören‘, ‚horchen‘, ‚gehorchen‘, ‚hörig sein‘ eine Form sozialer Beziehung, die weniger dialogisch (im Sinne eines wechselseitigen Hörens und Gehörtwerdens), als vielmehr hierarchisch bestimmt ist. In feudalen Herrschaftsbeziehungen war der Zuhörende der, welcher auf andere hören musste, also der Hörige bzw. der Leibeigene. 31 Oder, wie es Heinz Wismann in seiner etymologischen Erörterung des Zugehörigkeitsbegriffs ausdrückt: „Der Begriff der Zugehörigkeit steht, wenn man genau hinhört, im ideellen Bedeutungshorizont der Hörigkeit. Hörigkeit aber meint Abhängigkeit“, um genauer zu sein, „die Abhängigkeit von einer Form des Befehls“ 32 . Obwohl 19 1.1 ‚Zugehörigkeit‘: Ein vielschichtiger Begriff Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung. Göttingen 2007, S. 11-13, hier S. 11 f. 33 May, Connecting Self to Society, S. 3. 34 Vgl. Monique Scheer, Alltägliche Praktiken des Sowohl-als-auch. Mehrfachzugehörig‐ keit und Bindestrich-Identitäten. In: Dies. (Hrsg.), Bindestrich-Deutsche? Mehrfachzu‐ gehörigkeit und Beheimatungspraktiken im Alltag. Tübingen 2014, S. 7-27, hier S. 14. 35 Dieses ambivalente Spannungsverhältnis beschreibt Elspeth Probyn in beinahe poeti‐ schen Wendungen: „Auf direktere Weise evoziert belonging Bilder des Weggehens, man sieht sich seine Besitztümer und sein Gepäck von Ort zu Ort karren. Belonging erinnert einen also an das Ankommen und trägt doch den Duft des Weggehens an sich - es bezeichnet die Zwischenräume zwischen Sein und Sehnen, Kommen und Gehen.“ Elspeth Probyn, Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs. In: Marie-Luise Angerer (Hrsg.), The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten. Wien 1995, S. 53-68, hier S. 55. der Begriff heute oftmals mit angenehmen Konnotationen - einem „feeling at ease“ 33 - verbunden wird, erinnert der historische Kontext seiner Entstehung daran, dass Zugehörigkeitsverhältnisse immer in soziale Machtverhältnisse eingebettet sind. Diese basale Erkenntnis gilt es für die spätere Analyse zu beachten - und zwar sowohl hinsichtlich des Zusammenhangs von Räumen und Regimen der Zugehörigkeit als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Autorschaft und Sprache. Welche semantischen Implikationen hat der Begriff in anderen Sprachen? Diese Frage stellt sich umso mehr, als die Begegnung mit mehreren Sprachen für das Schreiben und die Poetik der hier zur Diskussion stehenden Autorinnen konstitutiv ist. Ferner bildet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Zu‐ gehörigkeit ein interdisziplinäres, vorwiegend englischsprachig geprägtes For‐ schungsfeld, das im deutschsprachigen Raum erst allmählich Gestalt annimmt. Wie der deutsche Begriff ‚Zugehörigkeit‘ zeigt auch das englische ‚belonging‘ - zumal im Plural - ein Besitzbzw. Eigentumsverhältnis an. Als Gerundium hat ‚belonging‘ sowohl substantivische als auch verbale Eigenschaften. Das Wort birgt eine Dimension des Seins, aber auch des Tuns, was auf den performativen Charakter der Zugehörigkeit verweist. 34 Darüber hinaus ist dem englischen ‚be‐ longing‘ eine affektive Dimension eingeschrieben, die den Begriff maßgeblich mitkonstituiert. Zwar spricht man auch im Deutschen - analog zum englischen ‚sense of belonging‘ - von ‚Zugehörigkeitsgefühlen‘. Die Sehnsuchtskompo‐ nente (‚longing‘) verleiht dem Begriff aber eine nostalgische Tönung, die sich im Deutschen so nicht widerspiegelt. Der englische Ausdruck versteht Zugehörigkeit nicht nur als etwas selbstverständlich Gegebenes, sondern auch als schon Entbehrtes. Die Besitzdimension, die er impliziert, wird gleichsam konterkariert durch ein Moment der Distanz, mithin der Unverfügbarkeit des Ersehnten. 35 20 1 Einleitung 36 Marco Antonsich merkt allerdings an, dass sich die englische Wendung „I belong here“ nicht immer wörtlich in andere Sprachen übersetzen lasse, sondern - etwa im Französischen - mit „Ici je suis chez moi“ wiederzugeben sei. Vgl. Antonsich, Searching for Belonging, S. 646. - Dies ist eine interessante Beobachtung - nicht nur, weil sie auf Probleme von Übersetzung und somit auf die semantische Komplexität von Zugehörigkeitsbegriffen aufmerksam macht, sondern auch, weil sie dafür sensibilisiert, präpositionalen Lokalangaben bei der Analyse von Nicht-/ Zugehörigkeit Beachtung zu schenken. So lässt sich Müllers mehrfach artikuliertes Gefühl, „neben“ sich zu stehen als ein Ausdruck von Nicht-Zugehörigkeit deuten. Zur Selbst-Zugehörigkeit als Gefühl des Bei-sich-Seins siehe Kapitel 4.3.1 und 5.4.1 dieser Arbeit. 37 Ich folge hierin Wismann; seine These, dass der französische Begriff „eine gewisse Dis‐ tanz bestehen [lässt] zwischen dem Teil und dem Ganzen, von dem er Teil ist“, während die deutsche Begrifflichkeit „letztlich auf totale Anpassung hinausläuft“, erschließt sich mir allerdings nicht. Wismann, Begriffe der Zugehörigkeit im europäischen Vergleich, S. 11 und S. 13. 38 Vgl. Bernhard Waldenfels, Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4. Frankfurt am Main 1999, S. 107. 39 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 10 f. Die entsprechenden Ausdrücke in den romanischen Sprachen wie das fran‐ zösische ‚appartenance‘, das rumänische ‚apartenență‘ oder das italienische ‚appartenenza‘ stellen demgegenüber den Aspekt der Teilhaftigkeit in den Vordergrund. 36 ‚Dazugehören‘ bedeutet hier also Teil von etwas, beispielsweise einem Kollektiv, zu sein, ohne dass damit zwangsläufig ein Aufgehen des Teils im Ganzen impliziert wäre. 37 Etymologisch gehen diese Ausdrücke auf das la‐ teinische Verb ‚pertinere‘ zurück, das in Verbindung mit der Präposition ‚ad‘ die Bedeutung von ‚sich auf jemanden/ etwas beziehen‘ bzw. ‚zu jemandem/ etwas gehören‘ hat und sich vom Stammwort ‚tenere‘ (‚halten‘, ‚festhalten‘) herleitet. Im Unterschied zur akustischen Sinnebene des Wortes ‚Zugehörigkeit‘ schwingt in den romanischen Wörtern also ein Moment des Taktilen mit. 38 Und schließlich transportiert die unverkennbare Nähe dieser Wörter zum französischen ‚ap‐ partement‘, rumänischen ‚apartament‘ oder italienischen ‚appartamento‘ eine räumlich-wohnliche Qualität, die es in der Analyse ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Aus diesen Ausführungen wird zum einen deutlich, dass der Zugehörigkeits‐ begriff immer ein Beziehungsverhältnis beschreibt, weshalb er der Forschung als eine vielversprechende Alternative zum Begriff der ‚Identität‘ erscheint: Der Begriff der ‚Zugehörigkeit‘ nehme wichtige Dimensionen des Identitätsbegriffs auf, sei aufgrund seiner relationalen Verfasstheit aber besser geeignet, „den gegenwärtigen Komplexitäten […] der menschlichen Beziehungen, ihrem situa‐ tiven und prozesshaften Charakter, ihren Ambivalenzen und Paradoxien auf die Spur zu kommen“ 39 , wie Joanna Pfaff-Czarnecka meint. Der Zugehörigkeits‐ begriff geht sowohl über ein kategoriales Identitätsverständnis als auch über 21 1.1 ‚Zugehörigkeit‘: Ein vielschichtiger Begriff 40 Vgl. Scheer, Alltägliche Praktiken des Sowohl-als-auch, S. 17: „‚Zugehörigkeit‘ stellt schon allein deshalb den besseren analytischen Begriff für die Untersuchung kultureller Bindungen dar, weil wir daran gewöhnt sind, ihn im Plural zu verwenden. Während ‚meine Identitäten‘, ‚Zuhausen‘ oder ‚Heimaten‘ uns schwer über die Lippen gehen, sind ‚Zugehörigkeiten‘ flexibler. Sie beziehen sich eher auf kleinere Einheiten (Familie, Freundeskreis, Glaubenstradition, Berufsstand, politische Orientierung, soziales Mi‐ lieu), während ‚Identität‘ mit homogen gedachten und zur Naturalisierung neigenden Großkategorien wie ‚Geschlecht‘, ‚Nation‘ und ‚Kultur‘ in Verbindung gebracht wird.“ 41 Wismann, Begriffe der Zugehörigkeit im europäischen Vergleich, S. 12. formale Mitgliedschaft hinaus. Auch widersetzt er sich weniger einem plurali‐ schen Gebrauch. 40 Zum anderen lässt sich festhalten, dass ‚Zugehörigkeit‘ (‚be‐ longing‘) ein semantisch vielschichtiger Begriff ist, dessen konkrete Bedeutung sich erst aus dem Kontext seiner jeweiligen Verwendung ergibt. Je nachdem, welcher Aspekt seiner Bedeutung betont werden soll, lässt der Begriff unter‐ schiedliche Auslegungen zu: „als eine Form des hörenden Gehorsams“ 41 , als ein Handeln bzw. Tun, als ein Zustand des Seins, als ein Modus des Habens oder auch des sehnsuchtsvollen Nicht-Habens. Die semantische Vielschichtigkeit des Zugehörigkeitsbegriffs impliziert, dass er sich einer definitorischen Fixierung entzieht. Eine a-priori-Festlegung wäre für die Frage, welches Verständnis von Zugehörigkeit im Untersuchungsmaterial selbst entwickelt wird, auch gar nicht produktiv. Mit Müller und Rakusa stehen zwei literarische Autorinnen im Zentrum dieser Arbeit, zu deren beider Sprachethos ein aufmerksames Ohr gehört, das die Vokabeln auf ihre semantischen und klanglichen Facetten hin prüft und dabei ‚Unerhörtes‘ im buchstäblichen Sinne zutage fördert. Welche affektiven Konnotationen die beiden Autorinnen mit dem Wort ‚Zugehörigkeit‘ verbinden und welche Aspekte seiner Etymologie sie in ihren Texten besonders akzentuieren, soll die Analyse zeigen. Es gilt also, den Begriff in seinen pluralen Bedeutungsdimensionen ernst zu nehmen, um der Vielgestaltigkeit literarischer Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit angemessen zu begegnen. 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand Die Vielgestaltigkeit literarischer Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit spiegelt sich exemplarisch in der Autorinnen- und Textauswahl wider, die meiner Arbeit zugrunde liegt und als kritischer Beitrag zur Zugehörigkeitsforschung zu ver‐ stehen ist. Grundsätzlich schließe ich mich dem relationalen und dynamischen Begriffsverständnis an, das in der Forschung zu Zugehörigkeit und belonging vorherrschend ist. Gerade im literaturwissenschaftlichen Kontext spricht vieles für eine solche Auffassung, da sie Zugehörigkeiten nicht als etwas Vorgege‐ 22 1 Einleitung 42 Bettina Dausien / Paul Mecheril, Normalität und Biographie. Anmerkungen aus migra‐ tionswissenschaftlicher Sicht. In: Wolf-Dietrich Bukow u. a. (Hrsg.), Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden 2006, S. 155-175, hier S. 155; vgl. auch Tuuli Lähdesmäki / Tuija Saresma / Kaisa Hiltunen u. a., Fluidity and Flexibility of ‚Belonging‘. Uses of the Concept in Contemporary Research. In: Acta Sociologica 59 (2016), S. 233-247, hier S. 236 und S. 240 f. - Kerstin Meißner betrachtet das „Zusammendenken von Zugehörigkeit und Migration“ als eine unzulässige „dis‐ kursive Setzung, in der beide Begriffe aufeinander reduziert werden und auf diese Weise die Vielfalt und Dynamik sich überlagernder Prozesse der Ver- und Entbindung […] unberücksichtigt bleiben.“ Sie lehnt es daher ab, sich auf das Themenfeld der Migration zu beschränken. Eine Kritik, der ich mich anschließe. Vgl. Kerstin Meißner, Relational Becoming. Soziale Zugehörigkeit als Prozess. Bielefeld 2019, S. 42. benes, sondern als etwas Gemachtes und zugleich Machbares begreift, das durch Sprache und Erzählen hervorgebracht und aktiv (mit-)gestaltet werden kann. Die durch sie bedingte Fokussierung auf Bewegungsphänomene als Untersuchungsgegenstände sehe ich jedoch als eine problematische Verengung an. Auch wenn es vielfältige Studien zum Thema Zugehörigkeit gibt, bewegen sich diese Arbeiten hauptsächlich im Kontext aufeinander bezogener Phäno‐ mene von Globalisierung, Transnationalismus, Mobilität und Migration. Bettina Dausien und Paul Mecheril bezeichnen Zugehörigkeit sogar als „zentralen Topos der Migrationsforschung“ 42 . Wenngleich keinesfalls in Abrede zu stellen ist, dass Fragen der Zugehörigkeit in Prozessen der Migration eine besondere Brisanz zukommt und Erfahrungen des displacements das Potenzial besitzen, fest geglaubte Selbstverständlichkeiten zu irritieren, setzt sich diese Arbeit zum Ziel, Dynamiken der Nicht-/ Zugehörigkeit auch und gerade für Kontexte herauszuarbeiten, die weniger offensichtlich durch Bewegung gekennzeichnet sind. Mit den Werken der hier zu analysierenden Autorinnen eröffnet sich ein Spektrum unterschiedlicher Kontexte, Formen und Konstellationen der Nicht-/ Zugehörigkeit. Obwohl Erfahrungen der Migration für das Werk beider Autorinnen von zentraler Bedeutung sind, sind die Poetiken der Nicht-/ Zuge‐ hörigkeit nicht gleichzusetzen mit Poetiken der Migration. Zumal an Müllers Texten zeigt sich, dass eine solche Annahme zu kurz greifen würde. Während Bewegung und Wanderschaft, Passagen und Grenzüberschreitungen zwar zu den Grundmotiven von Rakusas Schreiben zählen, werden Fragen der Zugehö‐ rigkeit bei Müller nicht erst im Kontext von Migration relevant. Vielmehr zeigen Müllers Dorftexte das Prekäre der Zugehörigkeit im vermeintlich Stabilen und Vertrauten. Entgegen einer Perspektive auf Zugehörigkeit, die einseitig die Kreativität des ‚Machens‘ betont, sehen sich ihre Figuren Räumen der Zugehörigkeit ausgesetzt, die sie nicht (mit-)geschaffen haben und die sie auch 23 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand 43 Martin Kagel, Tod. In: Norbert O. Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch. Stuttgart 2017, S. 221-227, hier S. 226. 44 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 7. 45 Ilma Rakusa, Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005. Mit einem Nachwort von Walter Schmitz sowie einer Bibliografie. Dresden 2006, S. 16 und S. 9. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Sprache‘. 46 Rakusa wurde 2019 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. In der Begründung (nachzu‐ lesen auf der Homepage der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft unter der URL: https: / / h einrich-von-kleist-gesellschaft.de/ kleist-preise/ kleist-preis-2019/ , zuletzt abgerufen am 26.09.2022) häufen sich die Attribute, die Rakusa öfters zugeschrieben werden: „gebo‐ rene Kosmopolitin und Europäerin“, „femme de lettres“, „polyglotte Intellektuelle“. nicht verändern können. In den Diktaturromanen spitzt sich die Bedrängnis des Individuums und die Einschränkung seiner Handlungsspielräume weiter zu, sodass die Frage nach dynamischen Performanzen der Nicht-/ Zugehörigkeit der literarisch dargestellten „Starre des Lebens im Dorf und unter der Diktatur“ 43 zu widersprechen scheint. „Belonging matters! “  44 Diese Diagnose hat Pfaff-Czarnecka bereits 2012 for‐ muliert. Das Wort ‚belonging‘, sein deutschsprachiges Pendant ‚Zugehörigkeit‘ und mit ihm verknüpfte Termini wie ‚home‘, ‚Heimat‘, ‚Heim‘, ‚Zuhause‘ sind heute omnipräsent - in Werbekampagnen, in Ausstellungen, Theaterfestivals, Filmen, Literatur, in politischen Reden, Parteiprogrammen und sogar in Minis‐ teriumsnamen. Zugehörigkeitsgefühle sind in den globalisierten und durch Mi‐ gration pluralisierten Welten des 21. Jahrhunderts nicht etwa obsolet geworden, sondern vielfältig herausgefordert. Insbesondere im Zusammenhang mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ seit 2015 sind Fragen nach Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit verstärkt zum Gegenstand öffentlicher Thematisierungen geworden. Pfaff-Czarneckas Feststellung trifft somit weiterhin und womöglich in noch stärkerem Maße zu - dies auch mit Blick auf den anhaltenden Anstieg der mehrheitlich sozialwissenschaftlich orientierten, empirisch fundierten For‐ schungsliteratur zum Thema belonging. Gilt sie auch für die hier zur Diskussion stehenden Autorinnen? Richtet sich die Poetik der „schreibenden Nomadin“ mit den „Luftwurzeln“ 45 nicht viel eher auf ein beyond belonging, jenseits kollektiver Anbindungen, lokaler Fixierungen und nationaler Paradigmen? Widersprechen Mobilität und affektive Ortsbezogenheit einander? Inwieweit zielt der Topos des Nomadischen auf alternative Formen der Zugehörigkeit? Wie artikulieren und worauf beziehen sich diese? Während Rakusa in der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person als eine kosmopolitische „femme de lettres“ 46 gilt, deren außergewöhnlich vielseitiges Schaffen sich an der Schnittstelle von wissenschaftlich-theoretischem und literarischem Diskurs bewegt und daher Züge einer poetria docta trägt, hat 24 1 Einleitung 47 Norbert O. Eke, Biographische Skizze. In: Ders. (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 2-12, hier S. 10. 48 Als Beispiele lassen sich Veranstaltungen, Interviews, offene Briefe und Zeitungsartikel anführen, in denen Müller Position gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bezieht, über den Zustand der Demokratie in Deutschland reflektiert (Forum Bellevue, 29.06.2020), den unangemessenen Gebrauch des Wortes ‚Diktatur‘ im Zusammenhang der Corona-Pandemie kritisiert, zum Rechtsruck in den europäischen Gesellschaften Stellung nimmt oder sich für regimekritische Künstler und Schriftsteller aus China einsetzt (Liu Xiaobo, Liao Yiwu, Ai Weiwei). Die öffentlichen Auftritte und Beiträge der Autorin zu aktuellen politischen Entwicklungen zeigen deutlich, dass sich Müllers Kritik - anders, als es ihr gelegentlich vorgeworfen wurde - „nicht nur auf die Vergangenheit, sondern genauso auf heutige Macht- und Unterdrückungsprozesse [richtet]“. Für eine genauere Analyse von Müllers außerliterarischem Engagement vgl. Wernli, „Diese Diktaturen sind immer noch da“, S. 167-171, Zitat: S. 167. 49 Herta Müller, Herztier. Roman [1994]. München 2007, S. 239. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚H‘. 50 Ackermann, „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. 51 „In general, belonging is regarded as positive, and as something to be achieved.“ Lähdesmäki u. a., Fluidity and Flexibility of ‚Belonging‘, S. 238. sich Müller seit ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik als eine Autorin etabliert, die als „Expertin für das Leben in totalitären Systemen“ 47 angesehen wird und in dieser Rolle auch regelmäßig dazu eingeladen wird, das politische Zeitgeschehen in Deutschland, Europa und der Welt zu kommentieren und zu analysieren. 48 Es steht zu vermuten, dass das Werk einer Autorin, deren Leben und Schreiben sich „im Takt der Schwellen“ (MM, 21) wiegt, andere Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit ausprägt, als das Werk einer Autorin, die vom „Takt der Aussichtslosigkeit“ 49 erzählt und sich thematisch „an die Diktaturerfahrung gebunden“ 50 fühlt. Diese Gebundenheit erweist sich als eine höchst zwiespältige Angelegenheit: Einerseits hat sie Müller Anerkennung in Form zahlreicher Preise eingebracht und sie zu einer beachteten Stimme im literarischen und gesellschaftspolitischen Diskurs gemacht. Andererseits wirken in dem artiku‐ lierten Gefühl, an die Diktaturerfahrung angebunden zu sein, Dynamiken von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit in einer Weise zusammen, die nach einer weiteren Spezifizierung des oben zitierten Ausspruchs verlangen. Nicht nur unternimmt Müller eine Umkehrung der normativ konnotierten Sichtweise von belonging als einem erstrebenswerten Gut und non-belonging als einer zu überwindenden Form der Relation, 51 indem sie dieses Gefühl unter negativem Vorzeichen als ‚Nicht-Loskommen‘ (vgl. König, 185) deutet. Weil das beharrliche Schreiben bzw. Sprechen über die eigene Diktaturerfahrung auch ein politisches Anschreiben bzw. Ansprechen gegen die Diktatur und mithin ein Beharren auf Nicht-Zugehörigkeit ist, müsste es zudem heißen: Un-/ belonging matters! 25 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand 52 Vgl. grundlegend hierzu Jan Slaby / Rainer Mühlhoff / Philipp Wüschner, Affektive Re‐ lationalität. Umrisse eines philosophischen Forschungsprogramms. In: Undine Eberlein (Hrsg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge. Bielefeld 2016, S. 69-108. 53 Vgl. ebd., S. 75 sowie Birgitt Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten. Eine emotions‐ theoretische Perspektive auf Migration. Working Paper SFB 1171 Affective Societies Nr. 4 (2016), S. 7. 54 Lähdesmaki u. a., Fluidity and Flexibility of ‚Belonging‘, S. 242. Sowohl Müller als auch Rakusa können mittlerweile auf ein mehrere Jahr‐ zehnte umspannendes Werk zurückblicken, das selbst dann, wenn es von zeitlich Vergangenem wie der rumänischen Diktatur unter Nicolae Ceaușescu oder räumlich Entferntem wie einem „Dorf am Rand der Welt“ (Apfelkern, 47) handelt, zu unserer unmittelbaren Gegenwart mit ihren aktuellen Herausforde‐ rungen spricht. Fragen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit sind für beide Autorinnen Fragen von Gewicht, wobei dieses Gewicht im Sinne der thematischen Relevanz, aber durchaus auch in seiner physischen Dimension zu verstehen ist: Zugehörigkeit wird in den Texten der beiden Autorinnen als körperlich praktizierte, leiblich wirksame und mitunter als Bürde empfundene (An-)Bindung an bestimmte Erfahrungskontexte, Herkünfte, soziale Räume, Landschaften, Dinge und Sprachen geschildert, weshalb ich in dieser Arbeit auch vielfach den Terminus ‚Gefühle‘ von Nicht-/ Zugehörigkeit verwende. Dabei knüpfe ich an ein Begriffsverständnis an, welches Gefühlsphänomene nicht ausschließlich im Inneren von Individuen verortet, sondern ihre sozialen und relationalen Aspekte in den Vordergrund stellt. 52 Unter Gefühlen von Zugehörigkeit verstehe ich demnach das subjektive, leibliche Erleben eines spezifischen affektiv-relationalen Verbundenseins mit der Umgebung, 53 das entgegen der positiven Konzeptualisierung von ‚belonging‘ „as a desirable end‐ destination and non-belonging as inherently negative“ 54 keineswegs immer mit Wohlgefühlen wie Geborgenheit, Sicherheit, Wärme und Vertrauen assoziiert sein muss. Wie meine Differenzierungen des „Belonging matters! “ andeuten sollten, geht es in dieser Arbeit nicht nur darum, zu zeigen, dass die Auseinandersetzung um Nicht-/ Zugehörigkeit für Müller und Rakusa von zentraler Bedeutung ist. Anhand des Untersuchungsmaterials, das Romane, Erzählprosa, Reden, Essays, Poetik-Vorlesungen, Gespräche und Interviews der beiden Autorinnen umfasst, will ich vielmehr die je spezifischen Ausprägungen des komplexen Zusammen‐ hangs zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit analysieren, die sich in ‚geteilten Gefühlen‘ artikulieren. Die Semantik der ‚geteilten Gefühle‘, die aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit dazu geeignet ist, der Vielgestaltigkeit literari‐ scher Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit Rechnung zu tragen, verweist auf 26 1 Einleitung 55 Für theoretische Grundannahmen des Projekts vgl. Marion Acker / Anne Fleig / Mat‐ thias Lüthjohann, Affektivität und Mehrsprachigkeit - Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive. In: Dies. (Hrsg.), Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dy‐ namiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2019, S. 7-31. Wieder‐ verwendung (bes. in Kap. 5.3 dieser Arbeit) mit freundlicher Genehmigung durch den Narr Francke Attempto Verlag. 56 Vgl. Marion Acker, Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller. In: Dies. / Fleig / Lüthjohann (Hrsg.), Affektivität und Mehrsprachig‐ keit, S. 85-101. Wiederverwendung (bes. in Kap. 5 dieser Arbeit) mit freundlicher Genehmigung durch den Narr Francke Attempto Verlag; Dominik Mattes / Omar Kas‐ mani / Marion Acker / Edda Heyken, Belonging. In: Jan Slaby / Christian von Scheve (Hrsg.), Affective Societies - Key Concepts. New York 2019, S. 300-309, zu Müller: S. 305-307; Marion Acker / Anne Fleig, „Der Schein des Dazugehörens“: Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen. In: Dagmar Freist / Sabine Kyora / Melanie Unseld (Hrsg.), Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhis‐ torisches Phänomen. Räume - Materialitäten - Erinnerungen. Bielefeld 2019, S. 153- 168. DOI: 10.14361/ 9783839445280-010. Wiederverwendung mit freundlicher Genehmi‐ gung durch den transcript Verlag. 57 Vgl. Marion Acker / Anne Fleig, Die Aufrichtigkeit der Mehrsprachigkeit: Autofiktion, Autonarration oder das Konzept dialogischer Autorschaft bei Yoko Tawada. In: Sonja Arnold u. a. (Hrsg.), Sich selbst Erzählen. Autobiographie - Autofiktion - Autorschaft. Kiel 2018, S. 19-36. Wiederverwendung (bes. in Kap. 4.3.2 dieser Arbeit) mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag Ludwig (Kiel). 58 Zu Rakusa liegen bislang nur kleinere Arbeiten vor, auf die ich mich punktuell beziehen werde: Dennis Yücel, „Sie hat ein Sprachorchester in ihrem Kopf “. Am 24. November wird die Schweizer Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa im Deutschen Theater mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet - ein Interview mit den Literaturwissenschaftler‐ innen Anne Fleig und Marion Acker. In: campus.leben. Das Online-Magazin der Freien Universität Berlin, 22.11.2019. URL: https: / / www.fu-berlin.de/ campusleben/ campus/ 20 19/ 191122-ilma-rakusa-kleist-preis/ index.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Ma‐ rion Acker, Kleist-Preis für Ilma Rakusa. Ein Kurz-Porträt. In: Affective Societies Blog, den Forschungskontext, in dem diese Arbeit entstand. Im Rahmen des Projekts „Geteilte Gefühle. Entwürfe von Zugehörigkeit in der transkulturellen deutsch‐ sprachigen Gegenwartsliteratur“, das Teil des Sonderforschungsbereichs Affec‐ tive Societies an der Freien Universität Berlin ist und an dem ich von 2015 bis 2019 beteiligt war, bin ich gemeinsam mit Anne Fleig und Matthias Lüthjohann der Frage nachgegangen, wie in und durch Sprache Gefühle ‚geteilt‘ werden und so Zugehörigkeit sprachlich und affektiv vollzogen wird. 55 Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit, die in verschiedenen Publikationen dokumentiert sind, fließen in die vorliegende Untersuchung mit ein. Insbesondere knüpft diese Ar‐ beit an Überlegungen zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit, Autorschaft und geteilten Gefühlen von Zugehörigkeit an, die in drei Beiträgen über Müller 56 und einem Aufsatz über Tawada 57 anhand poetologischer Texte der Autorinnen entwickelt wurden und im Vergleich mit Rakusa 58 stärker an Kontur gewinnen, 27 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand 13.05.2019. URL: https: / / affective-societies.de/ 2019/ sfb-1171/ kleist-preis-fuer-ilma-rak usa-ein-kurz-portraet/ (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 59 Hervorzuheben ist die 2010 gegründete Forschungsgruppe „Fields of Belonging - Interpreting Jewish Literatures“, die in dem Sammelband Passages of Belonging (hrsg. von Carola Hilfrich, Natasha Gordinsky und Susanne Zepp, Bielefeld 2019) die Ergeb‐ nisse ihrer internationalen Zusammenarbeit präsentiert und dabei auf einschlägige Forschungsarbeiten, u. a. von Vikki Bell, Anne Marie Fortier und Elspeth Probyn, zum Thema belonging rekurriert. Eine der wenigen literaturwissenschaftlichen Monogra‐ phien, die Ansätze der belonging-Forschung rezipiert und diskutiert, ist die Monogra‐ phie von Linda Shortt, die unter dem Titel German Narratives of Belonging. Writing Generation and Place in the Twenty-First Century (Oxford 2015) Texte von Reinhard Jirgl, Christoph Hein, Angelika Overath, Uwe Timm, Peter Schneider, Stephan Wackwitz, Florian Illies und Juli Zeh untersucht. Schließlich lässt sich noch der in Acta Germanica. German Studies in Africa 46 (2018), S. 136-150 erschienene Aufsatz „Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Zugehörigkeit als Thema literarischer Texte“ von Andrea Leskovec nennen, der ausgehend von Pfaff-Czarneckas Konzeptualisierungsvorschlag Verhandlungen von Zugehörigkeit in Lukas Bärfuss’ Roman Hundert Tage (2008), Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) und Michael Roes’ Weg nach Timimoun (2006) analysiert. auf der Basis eines um Romane und Erzähltexte vergrößerten Textkorpus weiter plausibilisiert, analytisch vertieft und um neue Frageperspektiven und Erkenntnisse bereichert werden. Die Doppelsemantik von ‚teilen‘ bezieht sich auf die Ambiguität von ‚geteilt‘ im Sinne von ‚trennen‘ und ‚verbinden‘, die auch in der Assoziation der ‚ge‐ mischten‘ Gefühle mitschwingt. Sie betont darüber hinaus den kommunikativen Aspekt der ‚Mitteilung‘: sie zielt auf die im Schreiben und Sprechen mitgeteilten Gefühle von Zugehörigkeit, die sowohl Autorinnen bzw. Autoren und Lese‐ rinnen bzw. Leser als auch Erzählinstanz und Figuren mit anderen teilen und sie mit ihren kulturellen und gesellschaftlichen Umgebungen verbinden. Geteilt sind diese Gefühle aber auch, weil sie Ambivalenzen und Brüche aufweisen und Differenz zum Bestehenden ausdrücken. Geteilte Gefühle adressieren daher immer auch Fragen der Nicht-Zugehörigkeit. Ausgehend von diesem Verständnis, wird die Analyse des Schreibens im Wi‐ derspruch einen doppelten Beitrag leisten: zum einen zur internationalen, sozi‐ alwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung, in der germanistische Perspektiven ein weitgehendes Desiderat bilden und die in der Literaturwissen‐ schaft - mit wenigen Ausnahmen - 59 bislang nicht rezipiert wurde. Ein Grund hierfür könnte sein, dass die sprachliche Thematisierung von Zugehörigkeit in der Forschung zu belonging häufig als Krisensymptom interpretiert wird, weshalb die Frage, inwieweit Sprache für die Entstehung von Zugehörigkeitsge‐ fühlen bedeutsam oder sogar konstitutiv sein könnte, gar nicht erst ins Blickfeld gerät. Zugehörigkeit besteht, solange nicht über sie gesprochen wird. „Sobald sie 28 1 Einleitung 60 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 20. 61 Der einzig mir bekannte Beitrag, der, wie schon der Titel signalisiert, die Zugehörig‐ keitsfrage dezidiert in den Mittelpunkt stellt, stammt von Christina Rossi: „Vor dem Schreiben steht die Zugehörigkeitsfrage“. Perspektiven des Exils und des Nachexils im Werk der rumäniendeutschen Schriftsteller Herta Müller und Richard Wagner. In: Bettina Bannasch / Katja Sarkowsky (Hrsg.), Nachexil/ Post-Exile. Exilforschung - Ein internationales Jahrbuch. Bd. 38. Berlin 2020, S. 272-294. Rossi diskutiert diese Frage im Kontext von Müllers politisch begründeter Ausreise in die Bundesrepublik, wobei sie sich auf Prosatexte bezieht, die zwischen 1987 und 1989 entstanden sind (Barfüßiger Februar und Reisende auf einem Bein). Mir ist demgegenüber wichtig zu betonen, dass die Nicht-/ Zugehörigkeitsproblematik in Müllers Werk nicht erst mit der Migration nach Deutschland beginnt, sondern in einem Kontinuum mit vergangenen Erfahrungen steht, weshalb ich die Dorf- und Diktaturtexte in mein Korpus miteinbeziehe bzw. besonders jene Texte eingehend analysiere, in denen verschiedene, sprachlich und kul‐ turell differente Nicht-/ Zugehörigkeitsräume sukzessive durchquert oder ineinander geblendet werden. Dazu gehören der Roman Herztier (vgl. Kap. 2.4.2 und 4.2), aber auch Texte wie die Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale 2017 „Ein Ausweg nach innen“ (vgl. Kap. 5.4.2). explizit zum Thema wird, geht zumindest ein Teil ihrer Selbstverständlichkeit verloren.“ 60 Diese Aussage birgt zwei Annahmen: erstens die Annahme eines als vorgängig imaginierten Seins-Zustands unhinterfragter Selbstverständlichkeit; zweitens, dass das sprachliche Reflexiv-Werden von Zugehörigkeit notwendig als Verlust empfunden werden muss. Diese beiden Annahmen werden in der Analyse kritisch zu überprüfen sein. Es wird sich zeigen, dass Sprache in den lite‐ rarischen Nicht-/ Zugehörigkeitsentwürfen weniger als Medium der Zerteilung einer ehemals intakten Ganzheit fungiert, sondern als Ort der Mitteilung und des performativen Vollzugs von Zugehörigkeit in Erscheinung tritt und sogar selbst zum Objekt affektiver Bezugnahme und Zugehörigkeitsgefühle wird. Um diese performative Dimension zu akzentuieren und zu signalisieren, dass Zugehörigkeiten aus literaturwissenschaftlicher Perspektive keineswegs als gegebene biographische Tatsachen anzusehen, sondern auf der poetologischen Textebene zu verorten sind und in den Bewegungen des Schreibens und seiner Reflexion hervorgebracht und gestaltet werden, gebrauche ich in dieser Arbeit den Terminus ‚Poetiken‘ der Nicht-/ Zugehörigkeit. Zum anderen möchte diese Arbeit einen neuen Beitrag zur interkulturellen Germanistik und hier speziell zur Rakusa-Forschung sowie zur - weitaus umfangreicheren - Müller-Forschung leisten. Der Begriff der ‚Zugehörigkeit‘ taucht in der Forschung zu den beiden Autorinnen zwar immer wieder auf, er wird aber - ebenso wie in weiten Teilen der Literatur- und Kulturwissenschaft - eher unreflektiert gebraucht. 61 Der Schwerpunkt der bisherigen Rakusa-For‐ schung liegt auf Fragen von Gattung und Gattungsbezeichnung, 62 auf der Insze‐ nierung von Mehrsprachigkeit 63 sowie auf den Themen der Reise, der Grenze, 29 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand 62 Vgl. Carmel Finnan, Cartographies of Self. Ilma Rakusa’s Autobiographical Narrative Mehr Meer. Erinnerungspassagen. In: Valerie Heffernan / Gillian Pye (Hrsg.), Transi‐ tions. Emerging Women Writers in German-language Literature. New York 2013, S. 209-223; Sieglinde Klettenhammer, „Ich ist viele“. Transkulturelle Konstruktionen des Selbst in Ilma Rakusas Autobiographie Mehr Meer. Erinnerungspassagen. In: Christine Meyer / Leslie A. Adelson (Hrsg.), Kosmopolitische ‚Germanophonie‘. Postnationale Perspektiven in der deutsch-sprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2012, S. 247- 271; Barbara Jesenovec, Die poetische Autobiographie Mehr Meer von Ilma Rakusa. In: Acta Neophilologica 45 (2012), S. 97-108. 63 Vgl. Walter Schmitz, Ilma Rakusa. Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit. In: Barbara Siller / Sandra Vlasta (Hrsg.), Literarische (Mehr)Sprachreflexionen. Wien 2020, S. 138- 168; Silke Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“. Zu Ilma Rakusas Poetik der Mehrsprachigkeit. In: Till Dembeck / Georg Mein (Hrsg.), Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2013, S. 381-400; Katrin Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich. Mehrsprachigkeit in den Autobiografien von Ilma Rakusa und Elias Canetti. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/ 2 (2012) S. 19-32; Dirk Weissmann, L’horizon utopique d’une totalité des langues et cultures. Plurilinguisme et écriture plurilingue chez Ilma Rakusa. In: Germanica. La littérature interculturelle de langue allemande 51 (2012), S. 149-163; Monika Straňá‐ ková, Literatur als fremde Sprache - fremde Sprache(n) in der Literatur. Anmerkungen zum mehrsprachigen Schreiben von Irena Brezna und Ilma Rakusa. In: Michaela Bürger-Koftis / Hannes Schwaiger / Sandra Vlasta (Hrsg.), Polyphonie - Mehrspra‐ chigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010, S. 388-403. 64 Vgl. Eszter Pabis, Migration erzählen. Studien zur ‚Chamisso-Literatur‘ deutsch-unga‐ rischer Autorinnen der Gegenwart. Göttingen 2020, zu Rakusas Mehr Meer: S. 181- 198 (= Kap. „Die Poetik der Grenzüberschreitung“); Antonella Catone, „Der Osten war unsere Bagage“. Literarische Erinnerungsreisen in Ilma Rakusas Prosatexten. In: Annette Bühler-Dietrich / Friederike Ehwald / Altina Mujkic (Hrsg.), Literatur auf der Suche. Studien zur Gegenwartsliteratur. Berlin 2018, S. 69-81; Sabine Egger, ‚Eastern European Turns‘ - Zur Dynamisierung von Räumen und Identitäten in Texten Lutz Seilers und Ilma Rakusas. In: Monika Wolting (Hrsg.), Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Göttingen 2017, S. 285-296; Anna Pastuszka, „Die Bewegung trägt“. Das transitorische Ich in den Streifzügen und Passagen von Ilma Rakusa. In: Dies. / Jolanta Pacyniak (Hrsg.), Zwischen Orten, Zeiten und Kulturen. Zum Transitorischen in der Literatur. Frankfurt am Main 2016, S. 101-110; Anna Pastuszka, „Transit, Transfinit. Transnationality“. Die Grenzgänge von Ilma Rakusa. In: Kwartalnik Neofilologiczny 3 (2004), S. 545-558. 65 Lena Wetenkamp hat in ihrer Monographie Europa erzählt, verortet, erinnert. Eu‐ ropa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Würzburg 2017) dem Werk Rakusas ein größeres Kapitel (S. 224-334) gewidmet und dabei u. a. die „Ordnungsstif‐ des Unterwegsseins und des Nomadischen. 64 Für meine Analyse von Mehr Meer bieten mir insbesondere Beobachtungen, die sich auf die formale Gestaltung des Textes beziehen, wertvolle Anknüpfungspunkte. Häufig ist beispielsweise der diskontinuierliche, fragmentarische Charakter der Erinnerungspassagen hervor‐ gehoben oder Rakusas Lust an der Liste 65 konstatiert worden. Derartige Befunde gilt es für die spezifische Fragestellung meiner Arbeit produktiv zu machen: In‐ 30 1 Einleitung tung und Bewahrung durch Listen“ (S. 295-315) genauer untersucht - allerdings ohne Bezug auf Fragen von Zugehörigkeit, die den Fokus meiner Analyse bilden. 66 Vesna K. Horvat, Transkulturalität der ‚Schweizer‘ Autorin Ilma Rakusa. In: Acta Neophilologica 41 (2008), S. 57-64, hier S. 57. Vgl. auch Pastuszka, „Transit, Transfinit. Transnationality“, S. 545. - Zum Transkulturalitätsansatz, der Kulturen nicht als stati‐ sche, nebeneinander bestehenden Blöcke konzeptualisiert, sondern ihre gegenseitige Durchdringung apostrophiert, vgl. Wolfgang Welsch, der den Begriff Anfang der 1990er Jahre in die Diskussion einbrachte: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 20 (1992), S. 5-20. 67 Vgl. beispielsweise Paola Bozzi, Langsame Heimkehr oder der Betrug der Dinge. Zu Affinitäten zwischen Herta Müller und Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke. In: Philologie im Netz 6 (1998), S. 1-20. URL: http: / / web.fu-berlin.de/ phin/ phi n6/ p6t1.htm (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 68 Vgl. hierzu als neueste Studie: Hanna Zehschnetzler, Dimensionen der Heimat bei Herta Müller. Berlin / Boston 2021. Für einen Forschungsüberblick zum Heimattopos in Müllers Werk vgl. ebd., S. 5 f. wieweit beinhaltet die non-lineare Erzählstruktur der Erinnerungspassagen eine Absage an die bereits problematisierte Vorstellung von belonging „as a desirable enddestination“? Lassen sich auflistende Textverfahren als formales Korrelat von Erfahrungen multipler Zugehörigkeiten begreifen? Wie verhält sich das additive Nebeneinander auf Listen versammelter belongings zum Transkultu‐ ralitätsansatz, für den Rakusas Schaffen häufig als „Paradebeispiel“ 66 steht? Fragen wie diese geben einen Eindruck vom Vorgehen meiner Arbeit, das die Analyse literarischer Strukturen und Verfahren, Praktiken des (Auf-)Schreibens und Weisen des Sprechens konsequent auf Nicht-/ Zugehörigkeit zu beziehen und mit aktuellen Forschungsansätzen zu ‚belonging‘ und ‚Zugehörigkeit‘ ins Gespräch zu bringen versucht. Ein solches Vorgehen kommt auch in der Untersuchung von Müllers Werken zum Tragen, die häufig der Anti-Heimatliteratur zugeordnet werden. 67 Obwohl die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Zugehörigkeit‘ eng miteinander verwoben sind und einen gemeinsamen Problemzusammenhang bilden, geht es in dieser Arbeit nicht darum, Müllers emotionale Ablehnung des Heimatbegriffs nochmals zu erörtern. 68 Vielmehr richtet sich der Fokus meiner Analyse auf die spezifische Dynamik, die in Räumen wirksam wird, die als starr und unbeweglich dargestellt sind. Diese Dynamik ist gekennzeichnet durch die doppelte Bewegung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die sich formal in Kreisstrukturen niederschlägt. Sie herauszuarbeiten ist erstens deshalb so wichtig, weil sie das Kräftefeld konstituiert, aus dem das Schreiben im Widerspruch entsteht. Zweitens, weil sie verdeutlicht, dass es weitaus zu kurz gegriffen wäre, einen Gegensatz zwischen Rakusas mobilen, transgressiven und multiplen Zugehö‐ rigkeiten auf der einen und Müllers multiplen „Herkünften“ 69 bzw. mehrfachen 31 1.2 „Belonging matters“: Material und Forschungsstand 69 Zu Müllers pluralischen Herkünften vgl. Brokoff, Herta Müller (2009), S. 227-248. 70 Vgl. Anja K. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegen‐ wartsliteratur. W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld 2008; Tonia Marişescu, Raumfigurationen in Herta Müllers Niederungen. In: Mauerschau 1 (2010): Raum und Zeit, S. 70-81. 71 Obwohl die „Korrelation von literarischen und poetologisch-autobiographischen Texten“ in der Müller-Forschung bereits früh bemerkt wurde, ist eine weitergehende Reflexion dieses Verhältnisses bisher ausgeblieben, wie Irene Husser - bis heute zutreffend - analysiert: Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik. Überlegungen zum literaturwissenschaftlichen Potential von Herta Müllers poetologischen Essays. In: Jens Christian Deeg / Martina Wernli (Hrsg.), Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur. Würzburg 2016, S. 261-278, hier S. 271. Nicht-Zugehörigkeiten auf der anderen Seite zu konstruieren. Für die Beschrei‐ bung der gegenläufigen Bewegungen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehö‐ rigkeit, die sowohl im dörflichen Lebensraum als auch in der städtischen Diktatur aufeinandertreffen, bieten die Studien von Anja K. Johannsen und Tonia Marişescu, welche sich mit der klaustrophobischen Raummetaphorik, Figuren der Stillstellung und des Einschlusses in Niederungen und Herztier befassen, eine gute Grundlage. 70 Die Beobachtung, dass Müller in diesen Texten Räume entwirft, die das Subjekt einsperren und gefangen halten, fundiert meine These, dass, anders als es sich in der Zugehörigkeitsforschung bisweilen darstellt, Nicht-Zugehörigkeit ein genauso begehrenswertes, aber schwierig zu erreichendes Ziel sein kann wie das Dazugehören. Weiterhin reagiert meine Arbeit auf ein Desiderat der Müller-Forschung, indem sie die Interdependenzen zwischen dem Roman Herztier und den poeto‐ logischen Texten der Autorin herausarbeitet und danach fragt, inwieweit durch diese gegenseitigen Bezugnahmen ein geteilter Raum der Zugehörigkeit ent‐ steht, der die Autorin mit ihren Figuren verbindet und sie zugleich voneinander trennt. 71 Das bedeutet, dass das Textkorpus meiner Arbeit weitaus mehr Texte umfasst, als ‚nur‘ die literarischen Werke im engeren Sinne (Niederungen und Herztier). Genau dieses im „engeren Sinne“ wird meiner These zufolge sowohl von Rakusa als auch von Müller verkompliziert, wenn nicht nachdrücklich infrage gestellt und zwar auf zweifache Weise: erstens durch die textinterne Gattungsvielfalt von Texten wie Mehr Meer und Herztier, die eine demonstrative Öffnung in Richtung alltagspraktischer Formen des Schreibens und Sprechens vollzieht und somit die Teilhaftigkeit der Literatur an der Redevielfalt des sozialen Lebens betont; zweitens durch das text- und gattungsübergreifende Wiedererzählen bestimmter ‚Versatzstücke‘ von Erinnerung, dem in der Rakusa- und Müller-Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. 32 1 Einleitung 72 Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman. In: Ders., Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S. 154-300, hier S. 159. - Dass Bachtin Anti-Formalist war, bildet keinen Widerspruch zur ideologiekritischen Lesart seines Konzepts der ‚Rede- und Stimmenvielfalt‘. Dass diesem Konzept ein antiautoritärer und demokratischer Impetus innewohnt, zeigt sich in Bachtins Insistenz auf der Gleichrangigkeit und Selbstständigkeit verschiedener Stimmen, die im polyphonen Roman erklingen. Die Slawistin Sylvia Sasse, die neben Renate Lachmann als eine der profiliertesten Bachtin-Expertinnen gilt, unterstützt diese Lesart: Die horizontale und a-hierarchische Dimension, die Bachtins Theorie des Dialogischen kennzeichnet, sei „der totalitären Perspektive entgegengesetzt“ und seinerzeit genauso wenig system‐ konform gewesen wie die Theoreme der russischen Formalisten. Wie die Formalisten wurde Bachtin während der Stalinzeit mit einem Publikationsverbot belegt, woraus sich die verspätete (erst in den 1960er Jahren einsetzende) Rezeption seines Schaffens erklärt. Selbst Bachtins erstes Buch, Probleme des Schaffens von Dostoevskij (1929), stieß auf wenig Resonanz, da Bachtin zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung schon verhaftet und aus politischen Gründen nach Kasachstan verbannt worden war. Es ist eine traurige Ironie der Produktions- und Rezeptionsgeschichte, dass ausgerechnet der „Philosoph des Dialogischen“, wie Sasse pointiert zusammenfasst, „die meiste Zeit seines Schreibens ohne Antwort [blieb]“. Sylvia Sasse, Michail Bachtin. Zur Einführung. Hamburg 2010, S. 79 und S. 8. 1.3 Mit Bachtin zusammen denken: Zugehörigkeit, Sprache und soziale Lebenswelt Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand hat die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Zugehörigkeit sowie nach der Beziehung zwischen Literatur und Lebenswelt als zentrale Herausforderung für die vorliegende Untersuchung herausgestellt. Um dieser zu begegnen, knüpfe ich an den Sprachphilosophen und Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895-1975) an, dessen Konzepte der ‚Dialogizität‘, des ‚polyphonen Romans‘ und der ‚Sprechgattungen‘ den wichtigsten theoretischen Bezugspunkt dieser Arbeit bilden, wobei es um eine wechselseitige Beziehung geht: Bachtins Konzepte bieten, wie ich meine, neue Perspektiven auf die Texte der beiden Autorinnen. Umgekehrt verspricht deren hochreflexive Auseinandersetzung mit Sprache und Mehrsprachigkeit aber auch, neue Sichtweisen auf Bachtin zu eröffnen. Eine weitere Begründung für diesen Ansatz liegt im historischen und kultur‐ politischen Entstehungskontext, in dem Bachtin seine Theoreme entwickelt hat. Seine Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache, Literatur und Gesellschaft lassen sich als theoretischer Gegenentwurf zur stalinistischen Repression und überhaupt zu den vereinheitlichenden Tendenzen totalitärer Systeme lesen, welche die „soziale Vielfalt der Rede“ 72 zu unterdrücken bzw. den Machtanspruch einer Stimme durchzusetzen versuchen. Aufgrund dieser 33 1.3 Mit Bachtin zusammen denken: Zugehörigkeit, Sprache und soziale Lebenswelt 73 Petra Meurer, Diktatorisches Erzählen. Formelhaftigkeit bei Herta Müller. In: Iris Denneler (Hrsg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität. Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 177-194. 74 Ebd., S. 178. 75 „Die einheitliche Sprache ist nicht gegeben, sondern immer ein Projekt und steht in jedem Augenblick des sprachlichen Lebens der tatsächlichen Redevielfalt gegenüber.“ Bachtin, Das Wort im Roman, S. 164. ideologiekritischen Implikationen liefert Bachtins theoretisches Konzept der ‚Dialogizität‘ einen Schlüssel zur Interpretation von Müllers Texten, die sich nicht nur thematisch mit dem Leben in totalitären Verhältnissen auseinander‐ setzen, sondern ihre Strukturen auch sprachlich nachmodellieren. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die These von Petra Meurer, die in Bezug auf Müllers Roman-Trilogie Der Fuchs war damals schon der Jäger, Herztier und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet den Begriff des „diktatorischen Erzäh‐ lens“ 73 geprägt hat. Aus der Perspektive von Bachtins Theoremen wird dieses diktatorische Moment, das sich zum Beispiel im „Einsatz des Spruchhaften“ 74 zeigt, als Teil einer pluralen Sprachbzw. Sprech-Wirklichkeit wahrnehmbar, welche die Texte reflektieren und gestalten. Die diktatorischen oder, in der Terminologie Bachtins, monologischen Formen des Sprachgebrauchs stehen in Müllers Romanen und Erzählungen neben und im Widerstreit mit anderen Formen des Schreibens und Sprechens, wodurch vorgeführt wird, dass die Dynamik des sprachlichen Lebens niemals gänzlich stillzustellen ist und der Versuch totalitärer Regime, die Vielfalt der Rede und somit auch die Pluralität sozialer Standpunkte auszuschalten, immer ein unvollständiges Unterfangen bleiben muss. 75 In kritischer Absetzung von Meurers These werde ich Müllers Roman Herztier daher als ein vielstimmiges Gebilde beschreiben und, gemäß dem oben skizzierten Vorgehen, zeigen, wie diese Vielstimmigkeit unter dem Gesichtspunkt von Nicht-/ Zugehörigkeit zu interpretieren ist - nämlich als Suche nach Fluchträumen der Zugehörigkeit in spezifischen Sphären respektive Gattungen des Sprechens. Insbesondere in seiner Studie Probleme der Poetik Dostoevskijs (1929/ 63) und dem späteren Aufsatz „Das Wort im Roman“ (1934/ 35) entwickelt Bachtin sein Dialogizitätskonzept, das Sprache nicht als eine abstrakte Entität begreift, son‐ dern der konkreten Realität ihres Gebrauchs Priorität zuspricht. Für Bachtin sind sprachliche Äußerungen prinzipiell dialogisch. Die Dialogizität, die Sprache in literarischen wie außerliterarischen Zusammenhängen strukturiert, trägt insofern ein prekäres Moment in sich, als sie stets dadurch gefährdet ist, von monologischen (normierenden, vereinheitlichenden, autoritativen) Kräften unterdrückt zu werden. Von ihr geht umgekehrt aber auch ein jedweden mono‐ 34 1 Einleitung 76 Brigid Haines / Margaret Littler, Gespräch mit Herta Müller. In: Brigid Haines (Hrsg.), Herta Müller. Cardiff 1998, S. 14-24, hier S. 17. 77 Zu den verschiedenen Rezeptionslinien der Sprach- und Literaturtheorie Bachtins vgl. Sasse, Michail Bachtin, S. 8-19. 78 Renate Lachmann, Migration der Konzepte. In: Gun-Britt Kohler (Hrsg.), Blickwechsel. Perspektiven der slawischen Moderne. Wien 2010, S. 19-44, hier S. 25. 79 Ilma Rakusa, Farbband und Randfigur. Vorlesungen zur Poetik. Graz 1994, S. 133. Explizite Referenz auf Bachtin: S. 134. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Farbband‘. logischen Machtanspruch gefährdendes, subversives Moment aus. Dialogizität und Monologizität bezeichnen zwei widerstreitende Prinzipien, die sowohl im Bereich von Sprache und Literatur als auch im Bereich des Sozialen und Politischen wirken. Schon in frühen Erzählungen wie „Niederungen“ oder „Dorfchronik“ macht sich Müller, wie zu sehen sein wird, diese Prinzipien auf unterschiedliche Art und Weise literarisch zunutze, um die „erste Diktatur, die [sie] kannte“ 76 - das banatschwäbische Dorf - als einen einschnürenden Lebenszusammenhang vorzuführen. Wenn Bachtin in einer wissenschaftlichen Arbeit als theoretische Referenz auftaucht, sollte immer gefragt werden: Welcher Bachtin genau? Bachtin wurde vor allem in den poststrukturalistischen Literaturwissenschaften und den Post‐ colonial Studies rezipiert und hierdurch einem größeren Publikum bekannt. 77 So beziehen sich etwa Julia Kristevas Konzept der ‚Intertextualität‘ oder die Forschung zu kulturellen Hybridisierungsprozessen auf Bachtins Überlegungen zur Dialogizität. Meine kurzen Ausführungen haben aber schon deutlich werden lassen, dass ich mich weniger auf die Bachtin-Rezeption beziehe, sondern mich vorrangig für Bachtin als kritischen Analytiker von Sprachverwendung interes‐ siere und seine theoretischen Texte, die sich durch „Mehrfachlesbarkeit“ 78 kenn‐ zeichnen und aufgrund ihres offenen, häufig fragmentarischen Charakters stark interpretationsbedürftig sind, dabei einer eigenständigen Deutung unterziehe. Der Bachtin der Intertextualitätstheorie spielt in dieser Arbeit nur insoweit eine Rolle, als sich Rakusa in ihren Poetikvorlesungen offen auf ihn bezieht, wenn sie ihre „Neigung zum Zitat“ 79 kommentiert und ihre eigene Autorschaft reflektiert: „Der Dialog mit Büchern […] ist konstitutiv für mein Schreiben. Und wenn diese Spielart des Schriftstellers naserümpfend poeta doctus genannt wird, sei’s drum.“ (Farbband, 140) Dieses Zitat thematisiert nicht nur Dialogizität im Sinne von Intertextualität. Weil das Wort der Autorin offensichtlich von fremden Wörtern affiziert wird, pejorative Meinungen antizipatorisch in sich aufnimmt („nase‐ rümpfend“) und mit einem Gestus achselzuckender Gleichgültigkeit polemisch auf sie reagiert („sei’s drum“), erweist es sich selbst als dialogisch gebrochen und strukturiert. Es bietet somit ein gutes Beispiel für die performative Vorführung eines dialogischen Konzepts von ‚Autorschaft‘, das ich in Auseinandersetzung 35 1.3 Mit Bachtin zusammen denken: Zugehörigkeit, Sprache und soziale Lebenswelt 80 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 178. 81 Erstmals publiziert wurde der (fragmentarisch gebliebene) „Sprechgattungen“-Aufsatz im Jahr 1978. Vgl. Sasse, Michail Bachtin, S. 176. 82 Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München 2005, S. 25. 83 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 210. 84 Ders., Sprechgattungen. In: Ders., Sprechgattungen. Hrsg. von Rainer Grübel, Renate Lachmann und Sylvia Sasse. Übersetzt von Rainer Grübel und Alfred Sproede. Mit einem Nachwort von Renate Lachmann und Sylvia Sasse. Berlin 2017, S. 7-60, hier S. 10. mit Bachtin und anhand von Texten der beiden Autorinnen entwickeln werde. Kennzeichnend für dieses Autorschaftskonzept ist ein spezifischer Umgang mit Sprache, der mit dem Wortfeld der ‚Zugehörigkeit‘ verbunden ist: Bachtin zu‐ folge behandelt der dialogische Autor die Sprache nicht als „gehorsames Organ“, er geht „nicht ganz und ungeteilt in ihr auf “ 80 , sondern setzt sich zu ihr relational in Bezug. Wenn ich diese Relationalität als eine ‚affektive‘ bestimme, dann ist damit ein spezifisches Beziehungsverhältnis gemeint, das sich insbesondere in der Wahrnehmung der Sprache(n) in ihrer körperlichen Materialität und Eigenpräsenz niederschlägt und somit über die bloße Repräsentationsfunktion sprachlicher Zeichen hinausgeht. Indem ich Bachtin als Theoretiker eines dialogisch verantwortlichen Spre‐ chens und Schreibens profilieren und ihn als solchen analytisch produktiv machen werde, schlage ich eine alternative, wenn nicht gar entgegengesetzte Perspektive zu seiner poststrukturalistischen Lektüre vor. Mit dem Konzept der ‚Sprechgattungen‘, das Bachtin Anfang der 1950er Jahre in seinem gleich‐ namigen Aufsatz 81 skizzierte und durch das er seine Überlegungen zur Gattung des Romans auf nichts weniger als „das gesamte Universum der menschlichen Rede“ 82 auszudehnen versuchte, referiere ich zudem auf einen Ansatz, der in der literaturwissenschaftlichen Bachtin-Rezeption vergleichsweise wenig zur Kenntnis genommen wurde. Schon in seinem bereits erwähnten Essay „Das Wort im Roman“ hat Bachtin das Moment der Gattungsvielfalt als zentrales Charakteristikum des polyphonen Romans hervorgehoben: „Der Roman ist für verschiedene Gattungen, sowohl künstlerische (eingebettete Novellen, lyrische Stücke, Poeme, kleine dramatische Szenen usw.) als auch außerkünstlerische (alltägliche, rhetorische, wissenschaftliche, religiöse, u. a.) Gattungen offen.“ 83 Bachtins erweiterter Gattungsbegriff umfasst eine Vielzahl an Formen des Sprechens, die sich nicht auf literarische Gattungen beschränken, sondern mündliche und schriftliche „Äußerungen aus den verschiedensten Bereichen menschlicher Tätigkeit und Kommunikation“ 84 umfassen. Literari‐ sche Gattungen sind bei Bachtin, der zwischen den ‚primären‘ Gattungen der (mündlichen oder schriftlichen) Alltagskommunikation und ‚sekundären‘ Gattungen unterscheidet, lediglich ein Spezialfall von ‚Sprechgattungen‘: „Der 36 1 Einleitung 85 Ebd. [Herv. M. A.]. 86 Gerade die Verbindung dieser beiden Kriterien hat im literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskurs zu einer ‚Prekarisierung‘ wirklichkeitsbezogener Formen des Spre‐ chens bzw. zu einer Konzeptualisierung von Literatur geführt, die sich durch ihre Abkapselung von der (Sprech-)Wirklichkeit des sozialen Lebens definiert. 87 Diese erste Bedeutungsdimension kommt in den Charakterisierungen von Müllers Schreiben und Autorschaft häufig zum Tragen, wie die oben zitierte Äußerung aus der Nobelpreis-Laudatio von Anders Olsson, aber auch verschiedene Forschungsbeiträge belegen, auf die explizit hinzuweisen ist, weil sie sich in Nähe zum Titel dieser Arbeit bewegen. So diskutiert ein von Pia Janke und Teresa Kovacs herausgegebener Sammelband unter der Überschrift Schreiben als Widerstand (Wien 2017) Elfriede Jelinek und Müller als zwei Autorinnen, die sich in ihren Texten gegen Totalitarismus, Gewalt und Ausgrenzung auflehnen. Dieses widerständige und subversive Moment hat auch Norbert O. Eke in verschiedenen Publikationen als konstitutiv für Müllers Schreiben hervorgehoben, vgl. etwa den Aufsatz: Von Taschentüchern und anderen Dingen, oder: Die „akute Einsamkeit des Menschen“. Herta Müller und der Widerspruch. In: literatur für leser 34/ 2 (2011), S. 71-81. Die Grundthese meiner Arbeit ist demgegenüber zugleich weiter und enger gefasst: Weiter insofern, als ich dem Schreiben im Widerspruch mul‐ tiple Bedeutungsdimensionen abgewinne, seine ambivalenten Dynamiken analysiere und damit Deutungsansätze kritisiere, die Müllers Schreiben auf eine Geste des ‚Gegen‘ reduzieren. Enger insofern, als ich Müllers „Poetik des Widerspruchs“ (ebd., S. 81) spezifischer als eine Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit bestimmen werde. Roman als Ganzes ist eine Äußerung gleicher Art wie die Repliken des All‐ tagsdialogs oder ein persönlicher Brief, aber er ist im Unterschied zu ihnen eine sekundäre (komplexe) Äußerung.“ 85 Künstlerisch-literarische Gattungen kennzeichnet Bachtin zufolge weniger ihre Fiktionalität und Literarizität, 86 sondern vielmehr ihr Vermögen, verschiedene primäre Gattungen in sich zu integrieren und zu transformieren. Nur durch diese Durchlässigkeit kann das Schreiben im Widerspruch in kommunikativen Austausch mit seiner sozialen Umwelt treten und verändernd auf sie einwirken. 1.4 Schreiben im Wi(e)derspruch: Argumentationslinien und Thesen Die Vieldeutigkeit des ‚Schreibens im Widerspruch‘ lässt die Thesen und Argumentationslinien vorausahnen, die in den einzelnen Kapiteln ausgearbeitet werden. Die erste Bedeutungsdimension ist die des ‚Gegen‘, 87 des Einspruchs oder des Protests gegen erdrückende Zugehörigkeitsregime. Mit dem Begriff des ‚Zugehörigkeitsregimes‘, den ich von Pfaff-Czarnecka übernehme, ist angezeigt, dass Zugehörigkeit mehr als ein individuelles Bedürfnis beschreibt: 37 1.4 Schreiben im Wi(e)derspruch: Argumentationslinien und Thesen 88 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 79. 89 Floya Anthias, Identity and Belonging. Conceptualisations and Political Framings. KLA Working Paper Series No. 8 (2013), S. 6. URL: https: / / kompetenzla.uni-koeln.de/ sites/ fi leadmin2/ WP_Anthias.pdf (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 90 Anders als in ihren Poetik-Vorlesungen und Interviews vermeidet Müller in ihrer Erzählprosa die Verwendung abstrakter Begriffe wie ‚Heimat‘ oder ‚Identität‘. 91 Reinhard Hübsch, Nachrichten aus der Resig-Nation. Rundfunkgespräch. Südwestfunk, Forum im Zweiten - Kultur, 10.10.1989. In: Wilhelm Solms (Hrsg.), Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Marburg 1990, S. 288-310, hier S. 303. 92 In der Zugehörigkeitsforschung werden diese Dynamiken unter dem Begriff ‚Politiken der Zugehörigkeit‘ analysiert. Vgl. hierzu einschlägig die Studie von Nira Yuval-Davis, The Politics of Belonging. Intersectional Contestations. London u. a. 2011. Der Begriff ‚Regime der Zugehörigkeit‘ irritiert durch seine Spannung. Er kombiniert die den menschlichen Formen der Vergemeinschaftung inhärente Gemütlichkeit, Schutz und Wärme mit Konnotationen, die das Gegenteil evozieren. Der Sinn des Wortes ‚Regime‘ ist durch die Politikwissenschaft geprägt und verweist auf Konstel‐ lationen, die autoritär und einschränkend sind. 88 Eine solche Konstellation stellt der soziale Raum des Dorfes dar, den Müller in ihrem Erzählband Niederungen als ein starres Regime der Gleichförmigkeit charakterisiert, in dem die Imagination einer kollektiven ‚Identität‘ aufs Engste mit einer Vorstellung von Raum als abgeriegeltem Machtcontainer zusammen‐ hängt. In der Analyse ausgewählter Erzählungen dieses Bandes zeigt sich, dass, - wie Floya Anthias einräumt - „belonging too can be used in a unitary way and is not necessarily freer of those essentialising and totalising concerns found in identity.“ 89 Obwohl der Identitätsbegriff in den Erzählungen nicht vorkommt, 90 rekurrieren die Texte auf seine Kernbedeutung, indem sie das Moment einer gleichbleibenden Homogenität betonen. Im zweiten Kapitel werde ich Müllers „Schreiben gegen diese Identität“ 91 (im starken und eigentlichen Sinn des Wortes) näher umreißen und im weiteren Fortgang der Arbeit zeigen, dass sich Müllers kritische Auseinandersetzung mit kollektiven Identitätskonstruk‐ tionen nicht auf die banatschwäbische Dorfgemeinschaft beschränkt, sondern immer dort zum Zuge kommt, wo Dynamiken von Inklusion und Exklusion wirksam sind, die Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten regulieren. 92 Besonderes Augenmerk gilt dabei spezifischen Sprechhandlungen, die „Bei uns in Deutschland“ - so der Titel eines Vortrags (König, 176-185) - hegemoniale Zugehörigkeitsordnungen sichtbar und die Stadt zum Dorf machen (hierzu Kap. 4.3.2). Die zweite Bedeutungsdimension bezieht sich auf das simultane Neben-, Gegen- oder Ineinander von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Der Trennungsstrich, der in meiner Schreibweise von ‚Nicht-/ Zugehörigkeit‘ zum 38 1 Einleitung 93 Wenn ich die ambivalente Dynamik geteilter Gefühle von Zugehörigkeit als Bewegung zwischen Anbindung und Loslösung beschreibe, so knüpfe ich damit einerseits an Müllers eigene Terminologie, andererseits aber auch an ein Zugehörigkeitsverständnis an, wie die Erziehungswissenschaftlerin Kerstin Meißner es in ihrer anregenden, von Jean-Luc Nancy, Gilles Deleuze und anderen Theoretikerinnen und Theoretikern inspirierten Studie Relational Becoming - mit Anderen werden entwickelt hat. Vgl. Meißner, Relational Becoming, S. 209-217 (= Kap. „Oszillation zwischen Anbindung und Loslösung“). Vorschein tritt, soll in diesem Sinne keine Alternative, sondern die Ambivalenz zum Ausdruck bringen, die in der gleichzeitigen Anwesenheit widersprüch‐ licher Gefühle liegt und die auf sämtlichen Ebenen der Texte - von der kompositionellen Makrostruktur bis in die syntaktische Struktur der Sätze hinein - ausgestaltet wird. Auf thematischer Ebene gilt mein Augenmerk bestimmten Semantiken und Motiven, in denen sich die widerspruchsvolle Dy‐ namik geteilter Gefühle von Zugehörigkeit prägnant verdichtet. Dazu gehört - in Müllers Werk - die Semantik der ‚Verstrickung‘ (Kap. 2.4), die schon im Niederungen-Band anzufinden ist und im späteren Roman Herztier sowie in diversen Interviews und Poetik-Vorlesungen weiterentwickelt wird. Nicht nur verweist diese Semantik auf die Einbindung des Subjekts in Zugehörigkeitsre‐ gime, die als erstickendes Korsett erlebt und als etwas physisch Konkretes beschrieben werden. Auch macht sie grundlegend darauf aufmerksam, dass Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit unmittelbar aneinandergebunden sind, Zugehörigkeit mithin Nicht-Zugehörigkeit impliziert - und umgekehrt. Mit dieser These ist zugleich postuliert, dass das Verhältnis von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit kein einfaches Entweder-Oder ist, sondern als wech‐ selseitiger Prozess zwischen Anbindung und Loslösung verstanden werden muss. 93 Bei Rakusa trägt diese Dynamik weitaus weniger aporetische Züge und verdichtet sich vor allem im Motiv des Nomadischen, dessen textübergreifenden Bewegungen und ambivalenten Bewertungen ich im dritten Kapitel dieser Arbeit nachgehe. Ein weiteres Motiv, dem im fünften Kapitel größerer Raum gewidmet ist, ist das Motiv der Haut, das von Müller und Rakusa als ein Ort gestaltet wird, an dem Erfahrungen von Nicht-/ Zugehörigkeit in ihrer leiblich-sinnlichen Dimension spürbar, (un-)stimmige Ich-Welt-Beziehungen manifest und Möglichkeiten eines metamorphischen Zugehörig-, aber auch Anders-Werdens imaginiert werden. Die dritte Bedeutungsdimension zielt auf den morphologischen Bestand‐ teil des ‚Spruchs‘ im Widerspruch und sein Verhältnis zum Schreiben. Im vierten Kapitel werde ich zeigen, dass die Poetiken der Nicht-/ Zugehörigkeit weniger sprach-, als sprech- und gattungsbezogen gedacht werden müssen. Überschrieben ist dieses Kapitel mit dem Titel „Prekäre Gattungen - Prekäre 39 1.4 Schreiben im Wi(e)derspruch: Argumentationslinien und Thesen 94 Paul Mecheril, Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehö‐ rigkeit. Münster 2003, S. 295-299; Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 19 f.; vgl. auch Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten, S. 8 f. - Insoweit Zugehö‐ rigkeit nie nur eine Frage subjektiver Empfindung, sondern auch der Anerkennung von außen ist, könnte man - etwa in Anschluss an Judith Butlers Überlegungen zur exis‐ tenziell begriffenen ‚precariousness‘ des Menschen - fragen, inwieweit Zugehörigkeit aufgrund ihrer fundamentalen Relationalität bzw. Angewiesenheit auf andere immer schon prekär ist. Eine solche Perspektive würde dem in der Zugehörigkeitsforschung verbreiteten Verlust-Narrativ, welches - wie der Giddens-Verweis in der nächsten Fußnote signalisiert - auch ein spezifisches Narrativ der Moderne reproduziert, entge‐ genwirken. Jedenfalls wäre es äußerst interessant, die Überlegungen zur Prekarität von Zugehörigkeit an die philosophische Debatte um diesen Begriff anzuschließen. Butlers Arbeiten sind hierfür grundlegend. Vgl. Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence. London / New York 2004; dies., Frames of War. When is Life Grievable? London 2009. 95 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main 2006. Zit. nach Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten, S. 8. 96 Thomas Roberg, Bildlichkeit und verschwiegener Sinn in Herta Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. In: Ralph Köhnen (Hrsg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Frankfurt am Main 1997, S. 27-42, hier S. 34. Zugehörigkeiten“, womit ein Zusammenhang angedeutet ist, dessen Ausfüh‐ rung der umfangreichste Teil meiner Arbeit gewidmet ist. Wann, unter welchen Umständen und warum wird Zugehörigkeit prekär oder als prekär empfunden? Die Forschung hat verschiedene Termini eingeführt, um prekäre und nicht-pre‐ käre Zugehörigkeitsverhältnisse voneinander abzugrenzen: So differenziert Mecheril zwischen den Idealtypen „fragloser“ und „fraglicher“ Zugehörigkeit oder unterscheidet Pfaff-Czarnecka zwischen „being“ und „belonging“, 94 wobei ‚being‘ eine Zugehörigkeit im Seinszustand unmittelbarer, präreflexiver Selbst‐ verständlichkeit beschreibt, ‚belonging‘ dagegen den Prozess der Reflexiv-Wer‐ dung und mithin des Verlusts „ontologischer Sicherheit“ 95 oder existenzieller Vertrautheit meint. Diese Verlust-Perspektive wird von Müller rigoros, von Rakusa in Teilen zurückgewiesen. Während Zugehörigkeit in Müllers „Poetik der Risse“ 96 immer schon problematisch, prekär erscheint, beschwören Ra‐ kusas Kindheitserinnerungen die Imagination eines paradiesischen Urzustandes herauf, den sie als „unwiederbringlich verloren“ (MM, 304) beklagen. Die Vervielfältigung von Zugehörigkeiten im Prozess der Migration bedeutet bei Rakusa auch eine Multiplizierung von Sehnsuchtsorten und -objekten, die in „Vermissenlisten“ (MM, 304) gesammelt und aufbewahrt werden. In diesen Listen (Kap. 3.2.3) deutet sich bereits der enge Zusammenhang von Zugehörig‐ keit und Gattung an, der bislang noch nicht erforscht wurde und in Kapitel 4 ausgearbeitet wird. Dabei wird zu zeigen sein, dass besonders jene Gattungen 40 1 Einleitung 97 ‚wi(e)der‘. In: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21. URL: https : / / www.woerterbuchnetz.de/ DWB? lemid=W19082 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 98 Zur Performativität von Zugehörigkeit vgl. (im Anschluss an Judith Butler) Vikki Bell, Introduction. In: Dies. (Hrsg.), Performativity and Belonging. London 1999, S. 1-10; Julia Bennett, Doing Belonging. A Sociological Study of Belonging in Place as the Outcome of Social Practices. Manchester 2012; Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 28 f. Vgl. auch Meißner, die ihrer Studie einen Begriff von ‚Zugehörigkeit‘ zugrunde legt, der „nicht Zustände, sondern relationale Prozesse der Anbindung und Loslösung erfasst und ein Doing Belonging zur Prämisse erhebt“. Meißner, Relational Becoming, S. 11. zu Orten der Reflexion und Artikulation ambivalenter, multipler oder prekärer Erfahrungen von Zugehörigkeit werden, die ihrerseits einen unsicheren Status haben: Listen, Interviews, Selbstgespräche, bestimmte Formen der mündlichen Alltagsrede, Tagebuch und Brief - es sind gerade diese, hinsichtlich ihrer Literaturhaftigkeit prekären Gattungen, die das Schreiben im Widerspruch vielstimmig und welthaltig machen. Die vierte Dimension, die im Titel mitschwingt, ist schließlich hörbar, in der heutigen Orthographie aber nicht mehr sichtbar: Die Präposition ‚wider‘ und das Adverb ‚wieder‘ haben eine gemeinsame Etymologie und sind ihrer Schreibweise und Bedeutung nach erst seit dem 17. Jahrhundert voneinander geschieden. 97 Der Aspekt der Wiederholung verweist auf ein übergeordnetes Interesse meiner Arbeit, das sich - mehr oder weniger exponiert - wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel zieht und aus unterschiedlichen Blick‐ winkeln beleuchtet wird. Das Schreiben im Wi(e)derspruch bringt zum einen die performative Dimension von Zugehörigkeit zur Geltung, 98 indem es demons‐ triert, wie in alltäglichen Interaktionen ein kollektives ‚Wir‘ entsteht, welches sich durch repetitive Handlungsvollzüge, rituelle Verkörperungsprozesse und sprachliche Rituale immer wieder neu hervorbringt und aufrechterhält (Kap. 2 und Kap. 4.3.2). Im Unterschied zu Müller ist Rakusa weniger an der kollektiven Performanz von Zugehörigkeit und ihren Inklusions- und Exklusionsmecha‐ nismen interessiert. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich stärker auf individuelle Praktiken der materiellen Selbstverortung (wie etwa das Sammeln, Kap. 3.2.1 und Kap. 3.2.3), die der Flüchtigkeit der nomadischen Existenzweise etwas Verlässliches entgegensetzen. Zum anderen ist dieses Schreiben als eines zu charakterisieren, das selbst performative Bewegungen vollzieht und somit nicht nur der Darstellung von Nicht-/ Zugehörigkeiten, sondern auch ihrer Erzeugung und Fortschreibung dient. Mich interessieren die Richtungen, die das Schreiben im Wiedererzählen spezifischer ‚Versatzstücke‘ von Erinnerung nimmt sowie die Impulse, von denen es angetrieben wird. Das wiederholende 41 1.4 Schreiben im Wi(e)derspruch: Argumentationslinien und Thesen Fortschreiben beschreitet den Weg zurück in die eigene Erinnerung. Während dieses ‚Zurück‘ bei Müller im Zeichen des Versuchs steht, Auswege oder Fluchtlinien zu (er-)finden, die eine befreiende Transformation verfestigter Affektstrukturen ermöglichen, re-präsentieren Rakusas Wiederholungen eher ein emphatisches Konzept von ‚belonging‘, das den Akzent auf die Sehnsuchts‐ dimension des ‚longing‘ lenkt. Anders als Müller geht es Rakusa nicht darum, sich von biographisch bedeutsamen Orten fortim Sinne von wegzuschreiben, sondern vielmehr darum, die Bindung an diese Orte zu bestätigen und neu zu festigen. Die Performanzen von Nicht-/ Zugehörigkeit, die im wiederholenden Schreiben praktiziert werden, bewegen sich so im Spannungsfeld zwischen einem undoing und redoing belonging, woraus sich der Titel des fünften Kapitels ergibt. In diesem Kapitel frage ich danach, wie sich die affektive Dimension der Zugehörigkeit mit dem Aspekt ihrer Dauerhaftigkeit vermitteln lässt. Denn während unter dem Begriff der ‚Zugehörigkeit‘ im Allgemeinen eine längerfristige, wiewohl verschiedenen Wandlungen ausgesetzte Form der relationalen Verbundenheit verstanden wird, zielt ‚Affekt‘ auf die Intensität des Augenblicks. Ausgehend von einer Konzeptualisierung von Wiederholung als Affektgeschehen arbeite ich die gattungsübergreifende Hervorbringung und Verfestigung affektiver Dynamiken zu rekurrenten Mustern heraus und zeige hierdurch auf, wie Affektivität strukturbildend wirken kann. Darüber hinaus lege ich dar, dass der permanente Rekurs auf spezifische Konstellationen der Nicht-/ Zugehörigkeit im Erlebensraum der Kindheit ein Konzept von ‚Autor‐ schaft‘ prä- und rekonfiguriert, dessen Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit einerseits zu romantisierenden Projektionen neigt, sich andererseits aber offen für die Wahrnehmung von Dissonanzen zeigt. Das Hauptanliegen dieser Arbeit - die Vielgestaltigkeit literarischer Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit aufzuzeigen - lässt sich nicht auf einen Aspekt redu‐ zieren, sondern wartet mit einem Bündel von Thesen auf, die sich verdichten: zum vielsagenden Schreiben im Wi(e)derspruch. 42 1 Einleitung 99 Hübsch, Nachrichten aus der Resig-Nation, S. 303. Neben Müller haben an diesem Rundfunkgespräch auch die Schriftsteller Gerhardt Csejka, Werner Söllner, William Totok und Richard Wagner teilgenommen. 100 Diese ist in der Müller-Forschung bereits eingehend untersucht worden. Vgl. insbeson‐ dere die Studie Kisten, Krypten, Labyrinthe von Johannsen. 101 Lähdesmäki u. a., Fluidity and Flexibility of ‚Belonging‘, S. 236. 102 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 11. 2 „Schreiben gegen diese Identität“: Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller „Es war ein Schreiben gegen diese Identität, auch gegen dieses Banat-Schwä‐ bische Dorf, gegen diese sprachlose Kindheit, die alles unterdrückte.“ 99 So äußerte sich Müller in einem Rundfunkgespräch im Oktober 1989 über den bestimmenden Impuls ihres Schreibens. Ich möchte dieses Zitat als Anregung und Leitfaden für dieses Kapitel nehmen, welches sich mit dem sozialen Raum des Dorfes im Erzählband Niederungen und im Roman Herztier befasst. Mir geht es dabei weniger um die Raumdarstellung als solche, 100 als vielmehr um den dörflichen Raum als ambivalenten Bezugspunkt der Nicht-/ Zugehörig‐ keit. Dabei knüpfe ich an rezente Ansätze der sozialwissenschaftlichen belon‐ ging-Forschung an, die ‚Zugehörigkeit‘ oft als ein räumliches Konzept - „spatial concept“ 101 - begreift. Nicht nur betrachten diese Ansätze Zugehörigkeit als eine soziale Ressource, die durch räumliche Praktiken des ‚place-making‘ (re-)pro‐ duziert wird. Auf die kürzeste Formel gebracht, bezeichnet ‚Zugehörigkeit‘ eine „emotionsgeladene soziale Verortung“ 102 und hat somit selbst eine räumliche Dimension. Gefühle der Nicht-/ Zugehörigkeit entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern vollziehen sich in bestimmten - sozialräumlichen, kulturellen, historischen - Kontexten und nehmen auf sie Bezug. Mithin entstehen sie als Antwort auf diese Kontexte. Wenn ich Müllers Poetik als eine Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit beschreibe, so ist damit impliziert, dass diese Antwort nicht so eindeutig ausfällt, wie es das obige Zitat zunächst nahelegt. Die dreifache Wiederholung des Wortes „gegen“ manifestiert eine Haltung der Widerständigkeit dem dörflichen Zugehörigkeitsraum gegenüber. Diese Haltung wird in Müllers Texten auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck gebracht. Sie zeigt sich, wie im Weiteren genauer darzustellen sein wird, auf formaler Ebene etwa in der Anlage der Erzählperspektive, im Sprachgebrauch des Erzählinstanz, im Modus der satirischen Kritik kollektiver und zugleich kol‐ 103 Astrid Schau, Leben ohne Grund. Konstruktion kultureller Identität bei Werner Söllner, Rolf Bossert und Herta Müller. Bielefeld 2003, S. 311. 104 Zur stilistischen Heterogenität von Müllers früher Prosa vgl. ausführlich die Mono‐ graphie von Julia Müller, Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil. Köln / Weimar / Wien 2014, bes. S. 115-178. lektivierender Praktiken der Zugehörigkeit, in der Thematisierung tabuisierter Sujets bis hin zu expliziten Protestäußerungen der Figuren. Während die ersten drei Unterkapitel unter den Schlagwörtern ‚Homoge‐ nität‘, ‚Kontinuität‘ und ‚Monologizität‘ bzw. ‚Sprachlosigkeit‘ einige wesent‐ liche Charakteristika des dörflichen Kollektivs beleuchten, an denen Müllers Kritik ihren Anstoß nimmt, rückt das vierte Kapitel die im Spannungsfeld von ‚Anbinden‘ und ‚Losbinden‘ liegende Ambivalenz der Zugehörigkeit in den Vordergrund. Den Fluchtpunkt der Argumentation bildet die These, dass sich Müllers Schreiben - anders als von der Forschung bisweilen angenommen - mitnichten auf eine „Geste der Absonderung“ 103 reduziert. Viel eher ist dieses Schreiben als ein Schreiben im Wi(e)derspruch im doppelten Wortsinn zu bezeichnen: Der Versuch des Sich-Herausschreibens aus erdrückenden Zugehö‐ rigkeitsregimen ist nicht nur ein „Schreiben gegen“, sondern gestaltet sich als relationaler, zwischen Annäherung und Distanzierung oszillierender Prozess eines immer wieder neuen Sich-in-Beziehung-Setzens. 2.1 Homogenität und Reinheit: Zur rituellen Performanz von Gemeinsamkeit in „Das schwäbische Bad“ Auch wenn die Erzählungen in Müllers Niederungen-Band hinsichtlich ihrer formalen und stilistischen Gestaltungsprinzipien ein eher uneinheitliches Bild ergeben, 104 so lässt sich doch ein gemeinsamer Gegenstand feststellen: die dörfliche Lebenswelt. Was die verschiedenen Texte inhaltlich miteinander ver‐ bindet, ist die Beschreibung grundlegender Mechanismen kollektiver Identität, genauer gesagt die Problematisierung einer ‚starken‘ Identitätskonzeption, wie Rogers Brubaker und Frederick Cooper sie in ihrem vielbeachteten Aufsatz „Beyond ‚Identity‘“ (2000) definiert haben: Strong notions of collective identity imply strong notions of group boundedness and homogeneity. They imply high degrees of groupness, an ‚identity‘ or sameness 44 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 105 Rogers Brubaker / Frederick Cooper, Beyond ‚Identity‘. In: Theory and Society 29/ 1 (2000), S. 1-47, hier S. 10. - In diesem Aufsatz formulieren die beiden Autoren gewich‐ tige Argumente für eine Abkehr vom Terminus der ‚Identität‘. Sein Gebrauch sei derart ubiquitär geworden, dass er zugleich alles und nichts bedeute. Die Zugehörigkeitsfor‐ schung hat sich dieser Kritik angeschlossen, jedoch zugleich darauf hingewiesen, dass eine gänzliche Abschaffung des Identitätsbegriffs - besonders im Sinne der ‚kollektiven Identität‘ - kaum realistisch sei. Vgl. Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 24. 106 Herta Müller, Das schwäbische Bad. In: Dies., Niederungen. Prosa. München 2010, S. 13-14. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚N‘ nachgewiesen. between group members, a sharp distinctiveness from nonmembers, a clear boundary between inside and outside. 105 Homogenisierung nach Innen und Abgrenzung nach Außen lassen sich dem‐ zufolge als konstitutive Merkmale von ‚kollektiver Identität‘ festhalten. „Das schwäbische Bad“, eine satirische Erzählung über das allwöchentliche Reini‐ gungsritual einer banatschwäbischen Familie, deren Mitglieder sich in ein und demselben, immer kälter und schmutziger werdenden Wasser nacheinander „graue Nudeln“ von der Haut reiben, hebt auf genau diese Merkmale ab: Die Mutter hebt den kleinen Arni aus der Badewanne. […] Die Mutter steigt in die Badewanne. Das Wasser ist noch heiß. Die Seife schäumt. Die Mutter reibt graue Nudeln von ihrem Hals. Die Nudeln der Mutter schwimmen auf der Wasseroberfläche. Die Wanne hat einen gelben Rand. Die Mutter steigt aus der Badewanne. Das Wasser ist noch heiß, ruft die Mutter dem Vater zu. Der Vater steigt in die Badewanne. Das Wasser ist warm. Die Seife schäumt. Der Vater reibt graue Nudeln von seiner Brust. Die Nudeln des Vaters schwimmen mit den Nudeln der Mutter auf der Wasseroberfläche. Die Wanne hat einen braunen Rand. Der Vater steigt aus der Badewanne. Das Wasser ist noch heiß, ruft der Vater der Großmutter zu. Die Großmutter steigt in die Badewanne. Das Wasser ist lauwarm. Die Seife schäumt. Die Großmutter reibt graue Nudeln von ihren Schultern. Die Nudeln der Großmutter schwimmen mit den Nudeln der Mutter und des Vaters auf der Wasseroberfläche. Die Wanne hat einen schwarzen Rand. Die Großmutter steigt aus der Badewanne. Das Wasser ist noch heiß, ruft die Großmutter dem Großvater zu. Der Großvater steigt in die Badewanne. Das Wasser ist eiskalt. Die Seife schäumt. Der Großvater reibt graue Nudeln von seinen Ellbogen. Die Nudeln des Großvaters schwimmen mit den Nudeln der Mutter, des Vaters und der Großmutter auf der Wasseroberfläche. […] Der Großvater lässt das Badewasser aus der Badewanne rinnen. Die Nudeln der Mutter, des Vaters, der Großmutter und des Großvaters kreisen über dem Abfluss. 106 45 2.1 Homogenität und Reinheit 107 Josef Zierden, Deutsche Frösche. Zur „Diktatur des Dorfes“ bei Herta Müller. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 30-38, hier S. 32. 108 Zur Inzest-Thematik vgl. auch die kurze Geschichte „Meine Familie“ (N, 15-16) und die Erzählung „Dorfchronik“ (N, 125-138, hier 127 f.). 109 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 12 und S. 29. 110 Zierden, Deutsche Frösche, S. 33. 111 J. Müller, Sprachtakt, S. 141. Der Text könnte geradezu als eine Allegorie identitärer Zugehörigkeitspolitik und der ihr korrespondierenden Vorstellung des Raums als Behältnis gelten. Die Beschreibung des „nach Generationen und Geschlechtern hierarchisch geordnet[en] und getrennt[en]“ 107 Badevorgangs veranschaulicht die homoge‐ nisierende Wirkung des Reinigungsrituals. Individualität wird dem familiären Kollektiv nicht nur untergeordnet; sie löst sich, wie Josef Zierden treffend herausgestellt hat, geradezu in ihr auf, was zum einen darin zum Ausdruck kommt, dass „[d]ie Nudeln der Mutter, des Vaters, der Großmutter und des Großvaters“ (N, 14) zu einer inzestuös angehauchten, schwarzen Schmutzmasse verschmelzen. 108 Zum anderen spiegelt sich der vereinheitlichende Effekt dieser „Performanz der Gemeinsamkeit“ 109 auf sprachlich-formaler Ebene wider: „In der mechanisch-seriellen Repetition der Vorgangsbeschreibung verliert auch die Sprache ihre Individualität.“ 110 Die wörtlichen Wiederholungen entsprechen dem repetitiven Charakter des Rituals und betonen dessen performative Qualität. Laut Julia Müller ist darüber hinaus entscheidend, dass sich „im Verlauf dieses auf den ersten Blick, und auch sprachlich so gestalteten, einförmigen Baderituals einige Details“ 111 wandeln: Die Differenz in der Wiederholung hebt die Veränderung der Badebedingungen hervor, die sich sukzessive vollzieht und Schein (die Behauptung: „Das Wasser ist noch heiß“) und Wirklichkeit (die Feststellung: „Das Wasser ist eiskalt.“) zunehmend auseinanderklaffen lässt. Erst im Verlauf des Erzählvorgangs wird das satirische Ziel des Textes ersichtlich: Am Ende der Erzählung fühlen sich alle „frisch gebadet“ (N, 14), obwohl beschrieben wurde, wie sich das Wasser allmählich zu einer schwarzen Brühe verfärbt. In dieser komischen Diskrepanz manifestiert sich das kollektive Imaginäre der Gemeinschaft. Von der Gemeinschaft als spezifisch ‚deutsch‘ propagierte, rituell-perpetuierte Wert‐ vorstellungen - hier konkret: der Wert der Reinheit bzw. Sauberkeit und der, auch armutsbedingten, Sparsamkeit - werden als Grundlage kollektiver Grenzziehungen durchschaut und ihres fiktiven Gehalts entblößt. ‚Reinheit‘ wird letztlich als eine ‚schmutzige‘ Idee entlarvt und das scheinbar harmlose Familienritual somit in ein negatives Licht gerückt. 46 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 112 In mehreren Erzählungen - etwa in „Faule Birnen“ (vgl. N, 108) und in „Niederungen“ (vgl. N, 66) - wird das Motiv der Keuschheit aufgerufen. 113 Hans-Martin Gauger, Über die Reinheit der Sprache. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 38 (1984), S. 964-969, hier S. 964. 114 In theoretischer Anknüpfung an die amerikanische Kulturhistorikerin Mary Douglas, deren Werke zum Thema ‚Reinheit‘ als richtungsweisend gelten, sichern Reinheits‐ normen, -praktiken und -vorstellungen die Grenzen eines als bedroht imaginierten sozialen Körpers. Sie dienen dazu, dessen Integrität zu erhalten. Vgl. Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. London 1966. Zur abgrenzenden Funktion des Reinen vgl. auch Christina von Braun, Zum Begriff der Reinheit. In: Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis 6/ 11 (1997), S. 6-25. 115 Ähnlich wie in der Erzählung „Das schwäbische Bad“ bedient sich Müller in der Haupterzählung „Niederungen“ der Wiederholung als literarischem Stilmittel, um die Putzbesessenheit der Mutter zu persiflieren. Die permanente Wiederholung des Wortes „Besen“ führt zur Übertreibung (vgl. N, 78 f.). Wie in der Erzählung „Das schwäbische Bad“ bewirkt die Handlung genau das Gegenteil dessen, was erreicht werden soll: „Vom täglichen Aufwaschen“ werden „die Bretter der Fußböden faul“ (N, 75) und der Hof schmutzig: „Mutter ging mit ihrem gekauften Besen […] zum Brunnenrohr und pumpte viel Wasser drauf. Das Wasser floss klar in den Besen hinein und rann dreckig heraus in den Hof.“ (N, 78 f.) Die inversive Pointe ist dieselbe wie in der Erzählung „Das schwäbische Bad“, allerdings gibt die Erzählung keine Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Mutter kollektiv geteilten Wertvorstellungen entspringt. Eher scheint es sich um einen individuellen Tick zu handeln. Anders stellt es sich hingegen in der Erzählung „Dorfchronik“ dar: „Die Häuser im Dorf sind sauber. Die Hausfrauen putzen, wischen, kehren und bürsten den ganzen Tag, […].“ (N, 133) 116 In der Forschung zu belonging zirkuliert die Formel von der „schmutzigen Arbeit des Grenzerhalts“ („dirty work of boundary maintenance“) als eine Definition für Die Reinheitsthematik beschränkt sich nicht nur auf „Das schwäbische Bad“, sondern durchzieht den gesamten Niederungen-Band. Neben alltäglichen Formen der Sauberkeit thematisiert der Band auch Reinheitsvorstellungen im sexuellen Bereich. 112 Für den Erzählband insgesamt charakteristisch ist eine Überblendung unterschiedlicher Bedeutungsfelder und Praktiken von ‚Rein‐ heit‘ - ein Begriff „voller suggestiver Resonanzen“ 113 , in dem die Geschichte seiner politischen Funktionalisierung und ideologischen Vereinnahmung ge‐ nauso mitschwingt wie Religiöses und Theologisches, Moralisches und Tabui‐ siertes. Insofern ‚Reinheit‘ immer mit Abgrenzung zu tun hat, 114 kann die mar‐ kante Präsenz dieser Thematik als Kritik einer Zugehörigkeitspolitik verstanden werden, die auf einer homogenisierenden Identitätskonstruktion beruht. Müller problematisiert die Verankerung kollektiv geteilter Werte in ritualförmigen Alltagspraktiken - wobei die inversive Pointe darin besteht, diese, am Wert der Reinheit orientierten Praktiken als ein ‚schmutziges Geschäft‘ auszuweisen. 115 ‚Schmutzig‘ deswegen, weil sie als Instrument kollektiver (ethnisierender) Grenzziehungen dienen. 116 Gestützt wird diese Deutung zusätzlich durch text‐ 47 2.1 Homogenität und Reinheit ‚Politiken der Zugehörigkeit‘ (‚politics of belonging‘). Auch wenn diese, von John Crowley geprägte Formulierung nicht unproblematisch ist, weil sie reproduziert, was sie eigentlich problematisiert, scheint mir der satirische Witz von Müllers Texten damit gut getroffen zu sein. Vgl. John Crowley, The Politics of Belonging. Some Theoretical Considerations. In: Andrew Geddes / Adrian Favell (Hrsg.), The Politics of Belonging. Migrants and Minorities in Contemporary Europe. Aldershot 1999, S. 15-41, hier S. 30. 117 Herta Müller, Dankrede zur Verleihung des Förderpreises des Adam-Müller-Gutten‐ brunn-Literaturkreises 1981. In: Neue Banater Zeitung, 07.06.1981. Zitiert nach: Herta Haupt-Cucuiu, Eine Poesie der Sinne. Herta Müllers „Diskurs des Alleinseins“ und seine Wurzeln. Hamburg 2011, S. 81-82, hier S. 82. 118 Antonsich, Searching for Belonging, S. 648. externe Aussagen der Autorin über die ethnozentrisch ausgerichtete Struktur des banatschwäbischen Dorfes: „Der Kult, den sie [die Schwaben, Anm. M. A.] aus den imaginären Werten: Ordnung, Fleiß und Sauberkeit machen“, so Müller, sei „nichts als eine fadenscheinige Rechtfertigung für ihre Intoleranz“ 117 . Neben ritualisierten Alltagspraktiken, gemeinsam geteilten Norm- und Wert‐ orientierungen, Traditionen und Vorstellungsmustern bildet die Sprache einer Gemeinschaft einen konstitutiven Bestandteil ihrer ‚Identität‘. „Language can certainly be activated in the politics of belonging“ 118 - gerade deshalb steht Müller ihr skeptisch gegenüber. Während „Das schwäbische Bad“ die Bedeutung ritueller Handlungen für die (Re-)Produktion kollektiver Identität thematisiert, beschäftigt sich die Erzählung „Dorfchronik“ mit der Rolle von Sprache bei der ‚Arbeit des Grenzerhalts‘. Ihr wendet sich das folgende Unterkapitel zu. 2.2 Kontinuität und Wandel: Sprachliche Praktiken des Grenzerhalts in „Dorfchronik“ Die Erzählung „Dorfchronik“ spielt in einem „schwäbische[n] Dorf “ (N, 128), das zwar detailreich beschrieben, jedoch namentlich und örtlich nicht näher bestimmt wird. Weder beinhaltet der Text eine Handlung im üblichen Sinne noch weisen die in ihm vorkommenden Figuren individuelle Züge auf. Ähnlich wie in der Erzählung „Das schwäbische Bad“ sind sie vielmehr statisch und ein‐ dimensional konzipiert, tragen keine Namen, sondern lediglich Berufsbezeich‐ nungen wie etwa „die Kindergärtnerin“ (N, 126), „der Bürgermeister“/ „Richter“ (N, 128), „der Friseur“/ „Rasierer“ (N, 130) oder „der Postmann“/ „Postträger“ (N, 132). Die nahezu vollständige Abwesenheit von Figurenrede lässt das geschilderte Dorf als ein Geisterdorf erscheinen, das von der Erzählstimme in geradezu mnemotechnischer Manier abgeschritten und schließlich hinter sich gelassen wird. Entgegen dem Titel, der eine Chronik, also eine zeitliche Abfolge, 48 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 119 Norbert O. Eke, „Überall, wo man den Tod gesehen hat“. Zeitlichkeit und Tod in der Prosa Herta Müllers. In: Ders. (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung, S. 74-94, hier S. 87. 120 Der Text spielt deutlich auf die Entleerung der banatschwäbischen Dörfer im Zuge zunehmender Auswanderung an. Vgl. N, 130: „Seitdem das Dorf immer kleiner wird, weil die Leute, wenn nicht nach Deutschland, dann wenigstens in die Stadt abwandern, werden die Kehrweihfeste immer größer und die Trachten immer festlicher, […].“ 121 René Kegelmann, Figurenkonstellationen. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 176-184, hier S. 177. ankündigt, präsentiert der Text in erster Linie die Topographie des Dorfes, das räumliche Nebeneinander der spezifischen Gebäude und Institutionen. Wie in der Erzählung „Das schwäbische Bad“ erscheint das Gemeinsame auch hier reduziert auf das Gleichartige: Die Ähnlichkeit der Häuser, die, wie es heißt, „alle gleich rosagetüncht“ sind und „die gleichen braunen Rolläden“ (N, 133) haben, markiert eine Uniformität, deren statischer Charakter durch das Mittel der Wiederholung zusätzlich unterstrichen wird. Die sprachliche Monotonie verstärkt den Eindruck einer „Entzeitlichung des Raums“ 119 , wie er auch in anderen Texten Müllers zum Tragen kommt. Andererseits ist gerade dieser Erzählung ein historischer Index eingeschrieben, der es erlaubt, den Raum in der Zeit zu situieren. Zwischen der Zeit der „Naturkundestunden“ und der Zeit der „Landwirt‐ schaftslehre“ (N, 125) wird im dritten Absatz des Textes eine Zäsur markiert, die sich durch die gesamte Erzählung zieht und eine paradoxe Wirkung erzielt: Die Veränderung, die sie signalisiert, stellt das Moment der Beharrung, die Kontinuität der kollektiven Identität nur umso deutlicher zur Schau. Der Text zeichnet das Bild einer Gemeinschaft, die von dem Bestreben geleitet ist, sich gleich zu bleiben im Wandel der Zeit. Dieses Bestreben wird unter dem Druck politischer Umbrüche und demographischer 120 Entwicklungen sogar zusätzlich forciert. Es findet seinen Ausdruck im Bewahren bzw. Wiederbeleben der alten Traditionen - im Dorf wird „statt Walzer und Foxtrott wieder Polka“ (N, 132 [Herv. M. A.]) getanzt. Vor allem aber spiegelt es sich im Sprachgebrauch des Dorfes wider, wie René Kegelmann konstatiert hat: „Die kollektive Geschlos‐ senheit des Dorfes geht soweit, dass sie sich bis hinein in die mikrostilistischen Mittel wie die Wortwahl seiner Bewohner abbildet.“ 121 Von allen Texten des Erzählbandes kommt Mehrsprachigkeit am exponier‐ testen in „Dorfchronik“ zum Tragen. Und zwar sowohl auf der Ebene der dar‐ gestellten Welt (‚histoire‘) als auch auf der Ebene ihrer literarischen Vermittlung (‚discours‘). Durch die ständige Wiederholung der Formel „[…], was im Dorf […] genannt wird“ reflektiert der Text sein eigenes Verfahren. Er gibt deutlich zu erkennen, dass in ihm mehr als eine Sprache anwesend ist. Der Gegensatz 49 2.2 Kontinuität und Wandel 122 Vgl. Anca-Elena L. Holden, The Hybridization and Dissolution of the Banat-Swabian Cultural Identity in Herta Müller’s „Dorfchronik“. In: literatur für leser 34/ 2 (2011), S. 83-95. zwischen Kontinuität und Wandel, aus welchem die Erzählung ihre spezifische Spannung bezieht, wird sprachlich inszeniert und ausagiert: Die sozialistische Transformation des Landes, wie sie sich beispielsweise in der - zwischen 1949 und 1962 vollzogenen - Kollektivierung der Landwirtschaft (vgl. N, 135) und anderen im Text thematisierten historisch-politischen Begebenheiten niederschlägt, wird als ein Benennungswechsel gekennzeichnet, dem das Dorf abwehrend gegenübersteht. Dem Verfahren der Mehrsprachigkeit kommen in Müllers Erzählung unter‐ schiedliche Funktionen zu. Eine seiner wichtigsten Funktionen besteht meiner Lesart zufolge darin, die Rolle der Sprache bei der ‚Arbeit des Grenzerhalts‘ zu beleuchten. Verfehlt wäre es allerdings, die Mehrsprachigkeit als einen Aus‐ druck von Hybridität oder Transkulturalität zu deuten, wie Anca-Elena Holden es vorschlägt. 122 Das Gegenteil ist der Fall. Das Prinzip der Gegenüberstellung verschiedener Rede- und Ausdrucksweisen, die Konfrontation von dörflichem Sprachgebrauch und offizieller Redeweise, dient nicht der Darstellung einer Überschreitung von Grenzen, sondern veranschaulicht vielmehr ihre Befesti‐ gung. Im Festhalten am ‚eigenen‘ Sprachgebrauch offenbart sich ein statisches, Veränderung verneinendes Identitätsverständnis, das Vorstellungen fluider, multipler oder hybrider Identität diametral entgegensteht, dabei aber durchaus widerständige Züge trägt. Die Ablehnung der offiziellen Redeweise mit ihren ideologischen Verfälschungen impliziert ein Moment der Verweigerung gegen‐ über dem staatlich oktroyierten Sprachgebrauch und dem damit intendierten Bewusstseinswandel. Inwiefern kommt dem Verfahren der Mehrsprachigkeit eine kritische Funk‐ tion zu? Und welche Position bezieht die Erzählstimme? Indem sie den Sprach‐ gebrauch des Dorfes mit dem offiziellen Jargon kontrastiert, werden die Deu‐ tungs- und Bewertungsunterschiede der jeweiligen sozialen Zusammenhänge deutlich. Auffällig ist dabei, dass diese Unterschiede teilweise sehr groß sind und einen entsprechenden bissig-entlarvenden Effekt haben (etwa „nach Parfüm riech[en]“ vs. „nach Parfüm stinken“, N, 130; „dunkle[ ] dampfende[ ] Räum‐ lichkeiten, in denen gekocht, gegessen, gewaschen, gebügelt und geschlafen wird“ vs. „Sommerküche“, N, 134; „Verstaatlichung“ vs. „Enteignung“, N, 135; „zu Tode gegessen, zu Tode getrunken“ vs. „zu Tode gearbeitet“, N, 137), teilweise allerdings der Bewertungsunterschied auch nicht unmittelbar erkennbar oder marginal ist (z. B. „kreuzen“ vs. „paaren“, N, 127; „Frisierstube“ vs. „Friseur‐ laden“, N, 129). Bei manchen Gegenüberstellungen nimmt die Erzählstimme 50 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 123 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 204. einen abfälligen Standpunkt ein: Im Dorf gibt es aus ihrer Sicht Menschen, „die schwachsinnig sind, was im Dorf anständig genannt wird, die so tun, als würden sie zuhören, die aber an etwas ganz anderes denken, falls es ihnen überhaupt gelingt zu denken.“ (N, 129) Die schwankende Bewegung der Erzählstimme, die an manchen Stellen die Sprache des Dorfes und an anderen wieder den offiziellen Sprachgebrauch übernimmt, markiert eine ambivalente Position, die sich keiner der beiden Seiten zuschreibt. Die grundlegende doppelte Aversion der Erzählstimme äußert sich selten explizit, sondern allein durch die Gegenüberstellung der verschiedenen Ausdrucks- und Redeweisen, die sich wechselweise in ein kritisches Licht rücken. Die ‚Sprachen‘ stehen nicht nur nebeneinander, sondern ironisieren bzw. demaskieren sich gegenseitig. Im Anschluss an Bachtin lässt sich dieses Bezugsgeschehen als dialogisch bezeichnen: Der Autor bzw. Erzähler bringt seine Wertungsintentionen nicht direkt zum Ausdruck, sondern er gebraucht die eine oder andere Sprache, um seine Intentionen keiner von ihnen gänzlich auszuliefern; er benutzt diesen Wechselruf, diesen Dialog der Sprachen in jedem Moment seines Werkes, um selbst sprachlich gleichsam neutral, Dritter im Zwiestreit zu bleiben (wenngleich vielleicht ein parteiischer Dritter). 123 Anders gesagt benutzt er die Sprache ohne in ihr aufzugehen, mit ihr voll und ganz zu verschmelzen. An die Stelle einer Identifikation mit dem Sprachmaterial tritt ein Modus der Distanz, welcher der dialogisch wechselseitigen Beleuchtung der Sprachen die Bühne überlässt. Die Sprache ist somit nicht nur Medium, son‐ dern auch Inhalt der literarischen Darstellung; sie wird selbst zum Gegenstand erhoben und als ein Schauplatz divergierender Deutungsmuster, ideologischer Spannungen und Sichtweisen der Welt vorgeführt. Das Verfahren der dialogischen Gegenüberstellung hebt die Relationalität sprachlicher Bedeutungen hervor. Dem Leser bzw. der Leserin wird fortlau‐ fend vor Augen geführt, dass ein Wort seine Bedeutung nicht einfach ‚hat‘, sondern sich diese Bedeutung erst aus der Beziehung zu anderen Wörtern ergibt. ‚Bedeutung‘ meint dabei insbesondere die konnotativen Besetzungen, Färbungen und Wertakzente, die ein Wort in einem spezifischen historischen und sozialen Kontext prägen und über seine denotative Bezeichnungsfunktion hinausgehen. Die Bezeichnung „Spitzenvorhänge“ (N, 134) beispielsweise wird erst durch die Konfrontation mit dem Ausdruck „Nylonvorhänge“ (N, 134) als Euphemismus erkennbar - und als solcher entlarvt. Die beiden Ausdrücke sind 51 2.2 Kontinuität und Wandel 124 In ihrer Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ differenziert Müller zwischen dem banatschwäbischen Dialekt, dem schulischen Hochdeutsch, der deut‐ schen Literatursprache, der als ‚sinnlich‘ qualifizierten rumänischen Landessprache und der ideologischen (unsinnlichen) rumänischen Staatssprache, woraus ersichtlich wird, dass die These, die der Titel der Vorlesung formuliert, nicht vom Konstrukt einer einheitlichen Nationalsprache ausgeht, sondern von der Vorstellung, dass jede Sprache in sich mehrsprachig ist. Die Forschung bezeichnet diese Koexistenz mehrerer ‚Sprachen‘ bzw. Varietäten innerhalb einer Sprache, die bereits Bachtin erkannt und als „innere Aufspaltung jeder Sprache im je einzelnen Moment ihres geschichtlichen Daseins“ beschrieben hat (Das Wort im Roman, S. 157), als ‚binnensprachliche Mehr‐ sprachigkeit‘. Vgl. Till Dembeck, Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11/ 1 (2020), S. 163-176, hier S. 168. 125 Vgl. dazu Jenny Watson, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. German as a Site of Fascist Nostalgia and Romanian as the Language of Dictatorship in the Work of Herta Müller. In: Peter Davies / Andrea Hammel (Hrsg.), Edinburgh German Yearbook. Vol. 8. New Literary and Linguistic Perspectives on the German Language, National Socialism, and the Shoa. Edinburgh 2014, S. 143-158, hier S. 149. referenzidentisch, jedoch nicht bedeutungsgleich. Mit ihnen verbinden sich unterschiedliche Sichtweisen auf Welt. Nicht nur erscheint „Dorfchronik“ damit als literarische Vorwegnahme der poetologischen Kernaussage Müllers, dass in jeder Sprache - und sogar in jeder Sprachvarietät - andere Augen sitzen (vgl. König, 7-39). 124 Sie verleiht diesem Ausspruch auch eine ideologiekritische Komponente, indem sie die Verlogen‐ heit beider Redeweisen - der offiziellen Sprache ebenso wie der Sprache des Dorfes - ausstellt. So wird einerseits die Scheinhaftigkeit der öffentlichen Kom‐ munikation (vgl. N, 135), andererseits aber auch die Perpetuierung faschistoider Denkmuster im Sprachgebrauch des Dorfes bloßgelegt, der teilweise auf die Rhetorik und das Vokabular des Nationalsozialismus zurückgreift. 125 Die Kritik hat also eine doppelte Stoßrichtung: Der Sprachgebrauch des Dorfes erweist sich als nicht weniger ideologisch als die „verordnete Sprache“ (König, 31) des Regimes. Gelegentlich behauptet sich die Erzählstimme als eine Instanz, die über die richtige Sicht der Dinge verfügt. So etwa, wenn sie der beschönigenden Redeweise des Dorfes die „Wirklichkeit“ gegenüberstellt: Die Helden, die im Dorf Gefallene genannt werden, sind, um zu beweisen, dass sie nicht vergebens gestorben sind, was im Dorf den Heldentod gefunden haben genannt wird, weil man wahrscheinlich annimmt, dass sie ihn gesucht haben, auf demselben Friedhof gleich zweimal begraben: einmal im Grab der jeweiligen Familie und einmal unter dem Heldenkreuz. In Wirklichkeit liegen sie aber irgendwo in einem Massengrab, was im Dorf im Krieg geblieben genannt wird. (N, 137 f.) 52 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 126 Friedrich C. Delius, Jeden Monat einen neuen Besen. In: Der Spiegel 31 (1984), S. 119- 123, hier S. 121. Die weitere Rede vom „Heldenkreuz“, auf welchem „die Namen aller Helden aller Fronten aller Kriege […] verzeichnet“ (N, 138 [Herv. M. A.]) sind, ist aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit bemerkenswert. Im übertragenen Sinne lässt sich das Wort ‚verzeichnen‘ als ein kritischer Kommentar auf das ‚verzerrte‘ bzw. ‚falsch gezeichnete‘ Geschichtsbild der Dorfbewohner verstehen, welches durch die Erzählstimme eine korrigierende, entheroisierende Gegendarstellung erfährt. Schon in „Dorfchronik“ kristallisiert sich ein zentraler Zug von Müllers sprachkritischer Poetik heraus: Ihren Ansatzpunkt hat diese Kritik nicht in der Sprache als einem abstrakten System, sondern in der sozialen Realität ihres Gebrauchs. Vor diesem Hintergrund ist auch das Diktum Jorge Semprúns zu verstehen, das Müller in einer ihrer Poetik-Vorlesungen zustimmend zitiert: „Semprun sagt: ‚Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.‘ Er weiß um das minimale Einverständnis mit den gesagten Inhalten, das man braucht, um dazuzugehören.“ (König, 30) Nicht die Sprache an und für sich selbst, sondern das in ihr und durch sie Ausgesagte ist für Zugehörigkeit fundamental. Bereits die frühe Erzählung „Dorfchronik“ manifestiert eine für Müllers Werk insgesamt prägende Haltung der Distanz, des Sich-nicht-Identifizierens, des Nicht-einverstanden-Seins mit den sprachlich vermittelten Inhalten „beide[r] Heimatfraktionen“ (König, 30). Exkurs: „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ In Anbetracht der teils latenten, teils offen zutage tretenden Mehrsprachigkeit der Texte erscheint die in der frühen Kritik anzutreffende Behauptung, Müllers Niederungen zeichneten sich durch ein „jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ 126 aus, bemerkenswert. Was ist darunter zu verstehen? Die Formulierung ist - wie aus dem Kontext der gesamten, die sprachlichen Qualitäten der Autorin lobenden Rezension hervorgeht - durchaus als positive Wertung gemeint, sie wird inhaltlich aber nicht weiter konkretisiert und lässt daher verschiedene Deu‐ tungsmöglichkeiten zu. „Jargonfrei“ könnte erstens bedeuten, dass sich Müllers Literatur der Sprache der Diktatur und ihren korrumpierenden Einflüssen zu entziehen versteht - etwa so, wie es Richard Wagner beschrieben hat: 53 Exkurs: „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ 127 Richard Wagner, Im Zeichen des Kaderwelschs. In: Der Spiegel 42 (2009), S. 148-149, hier S. 148. 128 Zu diesem Ausdruck, der aus dem Sprachgebrauch der Minderheit stammt, vgl. eine Stelle in Herztier: „Der Großvater, der Frisör, der Uhrmachertoni, der Vater, der Pfarrer und Lehrer nannten Deutschland das Mutterland. Obwohl Väter für Deutschland in die Welt marschiert waren, war es das Mutterland.“ (H, 238) 129 In der Sprache von Deleuze und Guattari ausgedrückt, würde ‚Reinheit‘ hier also die Beseitigung des „Deterritorialisierungskoeffizient[en]“ bedeuten, der eine „kleine Literatur“ - das heißt, die Literatur „einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient“ - kennzeichnet. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Lite‐ ratur. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main 1976, S. 24. 130 Vgl. Delius, Jeden Monat einen neuen Besen, S. 119: „Ihr vor zwei Jahren bei Kriterion in Bukarest erschienener Band Niederungen, der nun, verbessert und erweitert, von Rotbuch vorgelegt wird, ist eine doppelte Entdeckung.“ - Die Behauptung, dass der Band „erweitert“ wurde, ist nur teilweise zutreffend. Zwar enthält die Rotbuch Ausgabe Texte, die in der Bukarester Erstausgabe fehlen („Faule Birnen“, „Drückender Tango“, „Das Fenster“). Die „direkt politisch[en]“ (Apfelkern, 47), das kommunistische Regime kritisierenden Erzählungen „Die Meinung“, „Inge“ und „Herr Wultschmann“ hat der traditionell linksorientierte Rotbuch Verlag - wahrscheinlich aus weltanschaulichen Gründen - aber weggelassen. Überdies wurde die Haupterzählung stark gekürzt, das Buchcover verändert und die Reihenfolge der Texte modifiziert. Wiebke Sievers erkennt Der Kommunismus war ein Ort der Sprachregelung, des Jargons. Man schrieb im Zei‐ chen des Kaderwelschs. Seine Obszönität beherrschte die Titelseiten der Zeitungen. Um vom Gewicht der Welt zu schreiben, vom wahren Gewicht, musste man sich dieser Art Sprache entziehen. Herta Müllers Texte suchten sich von Anfang an einen jargonfreien Raum, und das war zunächst einmal der Raum der Kindheit. 127 „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ kann zweitens als Bezugnahme auf die Tren‐ nung der banatschwäbischen Minderheit vom sogenannten „Mutterland“ 128 verstanden werden. Die vorgebliche ‚Reinheit‘ der Sprache resultiert in dieser Lesart nicht aus einem ideologiekritischen Impuls, sondern aus der peripheren Herkunft der Autorin. Die dieser Lesart zugrunde liegende Annahme dabei wäre, dass die geographische Abgeschiedenheit bzw. die spezifische ‚Sprach‐ insel‘-Situation der banatschwäbischen Enklave den Erhalt archaischer Sprach‐ formen begünstigt hätte. „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ kann drittens aber auch heißen, dass Müllers Sprache frei von Varietäten ist, deren Ausdrücke als Zugehörigkeitsmarker zu einer bestimmten sozialen Gruppe, hier konkret: der Gruppe der banatschwäbischen Minderheit fungieren. Die vermeintliche ‚Reinheit‘ von Müllers Sprache ergibt sich in dieser Ausdeutung nicht aus der peripheren Herkunft der Autorin, sondern aus der Abwesenheit bzw. Tilgung ihrer Spuren. 129 Für diese Lesart spricht der Prozess der sprachlichen Bereinigung - in der Rezension ist von ‚Verbesserung‘ 130 die Rede -, den 54 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller in diesen Änderungen eine gezielte Disambiguierung (Zuspitzung „auf den Schrecken und die Grausamkeit des Dorfes und der Familie“) möglicher Lesarten. Vgl. Wiebke Sie‐ vers, Von der rumäniendeutschen Anti-Heimat zum Inbild kommunistischen Grauens: Die Rezeption Herta Müllers in der BRD, in Großbritannien, in Frankreich und in den USA. In: Renate Rechtien / Karoline von Oppen (Hrsg.), Local/ Global Narratives. Amsterdam / New York 2007, S. 299-316, hier S. 300-304, Zitat: S. 302. 131 J. Müller, Sprachtakt, S. 163-165. Wie die pejorativen Formulierungen zeigen, erbringt J. Müller keine neutrale Deskription der verschiedenen Textfassungen und ihrer Unter‐ schiede. Ihre Beschreibung steht vielmehr selbst im Horizont der standardsprachlichen Norm, die hier - wahrscheinlich unreflektiert - als Wertmaßstab übernommen wird. 132 Vgl. Sievers, Von der rumäniendeutschen Anti-Heimat zum Inbild kommunistischen Grauens, S. 301: „Doch wo genau liegen die Unterschiede zwischen den beiden veröf‐ fentlichten Versionen von Niederungen [gemeint sind die Bukarester und die Rotbuch Fassung, Anm. M. A.]? Zum einen bestehen diese in kleinen eher unbedeutenden stilistischen Varianten (aus dem Fahrradsattel wird der Sitz und aus der Invasion die Belagerung), die implizieren, dass diese doch nicht ganz deutsche Autorin das Deutsche nicht angemessen beherrscht.“ Dieser Lesart schließe ich mich grundsätzlich an, unter Einbezug der Hanser Fassung werde ich im Folgenden jedoch zeigen, dass die sprachlichen Änderungen gerade nicht als „unbedeutend“ einzustufen sind. 133 Herta Müller, Niederungen. Prosa. Bukarest 1982, S. 56. Müllers Erzählung durchlaufen hat und der im Vergleich der Vorstufen und verschiedenen Fassungen von „Niederungen“ sichtbar wird: Wie Julia Müller in ihrer Monographie aufgezeigt hat, wurden bereits für die Veröffentlichung in Buchform etliche Änderungen und Überarbeitungen vorgenommen, die eine Anpassung an die standardsprachliche Norm deutlich werden lassen: „Sprachliche Schwächen“ und „Schnitzer“ sowie „nicht ganz einwandfreie grammatische Konstruktionen“ 131 wurden berichtigt, sprachliche Regionalismen geglättet, Spuren von Mündlichkeit abgeschliffen. Weitere ‚Rei‐ nigungsarbeit‘ hat dann Müllers westdeutsche Lektorin erbracht, wie ein Ver‐ gleich der (zensierten) Bukarester Fassung von 1982 und der Westberliner Rotbuch Fassung von 1984 deutlich macht. Der Weg ins ‚Zentrum‘ des bundes‐ deutschen Literatur- und Kulturbetriebs verlief über den Weg der Norm, das heißt über die zunehmende Verringerung der Distanz zur deutschen Literatur- und Hochsprache. Schließlich ist interessant zu sehen, dass einige dieser Ein‐ griffe in der 2010 veröffentlichten, laut editorischer Notiz „definitive[n] Ausgabe der Niederungen“ von Müller selbst wieder rückgängig gemacht wurden. Dies lässt darauf schließen, dass Abweichungen von der standardsprachlichen Norm des Deutschen der Autorin nicht als Fehler unterlaufen sind, weil sie - wie es die Eingriffe durch das Lektorat des Rotbuch Verlags nahelegen - diese Norm unzureichend beherrscht, 132 sondern von ihr bewusst eingesetzt werden. Ein gutes Beispiel ist das Wort „Geschau“ 133 , das in gängigen Wörterbüchern nicht aufzufinden ist und in der Rotbuch Fassung durch das Wort „Blick“ 134 ersetzt 55 Exkurs: „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ 134 Dies., Niederungen. Prosa. Berlin 1984, S. 71. 135 Dies., Der Fuchs war damals schon der Jäger. Roman. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 13. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Fuchs‘. 136 Dies., Über den Kopf der Weinreiben. In: Dies., Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987, S. 24-25, hier S. 24. 137 Wie u. a. Bozzi gezeigt hat, nutzt Müller ihre Mehrsprachigkeit „positiv als Möglichkeit produktiver Sprach- und Bildimpulse“. Bozzi, Der fremde Blick, S. 120. 138 Zu dieser vgl. in historischer und systematischer Perspektive David Gramling, Einspra‐ chigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit. In: Till Dembeck / Rolf Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017, S. 35-44. Siehe auch Kap. 4.2.3 dieser Arbeit. 139 Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, S. 53. 140 Vgl. hierzu Andreas Gardt, Nation und Sprache in der Zeit der Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin / New York 2000, S. 169-198. worden ist - eine Änderung, die Müller in der Hanser Fassung zurückgewiesen hat. Dort haben die Katzen wieder ein „Geschau“ (N, 77). In Anbetracht der zentralen Rolle, die das Wortfeld des ‚Sehens‘ in Müllers Texten einnimmt, sind solche Änderungsvorgänge keine Nichtigkeit. Der Ausdruck „Geschau“ kommt auch in vielen anderen Texten Müllers vor, zum Beispiel in dem Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger, wo Hähne und Männer „das gleiche Geschau“ 135 haben, in der kurzen Erzählung „Über den Kopf der Weinreben“, wo „die Zinnien […] jeden Sommer ein anderes Geschau [hatten]“ 136 , oder auch in der Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001/ 03), wo ein Leitsatz lautet: „Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden.“ (König, 27) Genauso wie das Rumänische gehört das dörfliche Idiom zum lebensweltlichen Kontext von Müllers Schreiben und ist als eine unter vielen Sprachen, von denen ihre Texte zehren, 137 ernst zu nehmen. „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ stellt sich aus der Perspektive der Lekto‐ rats- und Veröffentlichungsgeschichte des Niederungen-Bands als das Produkt eines Literaturbetriebs dar, welcher sich an der ‚Norm der Einsprachigkeit‘ 138 orientiert und nach Maßgabe dieser Norm Ein- und Ausschlüsse reguliert. Das Ideal der sprachlichen Reinheit hat eine lange, bis in die antike Rhetorik zurückreichende Tradition. Darüber hinaus ist der Reinheitsbegriff eng „mit der Frage des Hochdeutschen verbunden, das sich als einheitliche und verbindliche überregionale Sprachnorm […] über einen längeren Zeitraum herausgebildet“ 139 hat und im Prozess der Nationenbildung 140 von entscheidender Bedeutung war. Wie eng das Reinheitsideal mit Fragen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehö‐ rigkeit verknüpft ist, zeigt die wirkmächtige Spiegel-Rezension von Friedrich C. 56 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 141 Bozzi, Der fremde Blick, S. 48. 142 Delius, Jeden Monat einen neuen Besen, S. 121. 143 Ein anderes eindrückliches Beispiel für ein solches zugehörigkeitspolitisches Manöver, welches das vielschichtige Kriterium der sprachlichen ‚Reinheit‘ argumentativ und rhetorisch funktionalisiert und damit die Bedeutung der Mehrsprachigkeit relativiert, ist der langjährige Erbstreit zwischen dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Nationalbibliothek Israels um Kafkas Nachlass. In ihrem instruktiven Essay Who owns Kafka? hat Judith Butler die unterschiedlichen Argumentationsstrategien analysiert, derer sich die beiden Prozessparteien bedienten, um ihren Besitzanspruch auf die Manuskripte zu rechtfertigen: Während die Nationalbibliothek diesen Anspruch mit Kafkas Zugehörigkeit zum jüdischen Volk begründete („he comes to belong primarily to the Jewish people, and his writing to the cultural assets of the Jewish people“), führte das Deutsche Literaturarchiv Kafkas Zugehörigkeit zur deutschen Sprache und das Argument der sprachlichen ‚Reinheit‘ ins Feld: „In focusing on just how perfectly German his language is, the archive joins in a long and curious tradition of praise for Kafka’s ‚pure‘ German. […] So although Kafka was certainly Czech, it seems that fact is superseded by his written German, which is apparently the most pure - or, shall we say, purified? Given the history of the valuation of ‚purity‘ within German nationalism, including National Socialism, it is curious that Kafka should be made to stand for this rigorous and exclusionary norm. In what ways must Kafka’s multilingualism and his Czech origins be ‚purified‘ in order to have him stand for a pure German? “ Judith Butler, Who Owns Kafka? In: London Review of Books 33/ 5 (2011), S. 3-8. URL: https: / / www.lrb.co.uk/ v33/ n05/ judith-butler/ who-owns-kafka (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 144 Delius, Jeden Monat einen neuen Besen, S. 121. Delius, aus welcher die fragliche Formulierung stammt. „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ wird hier als ein Wertungskriterium unter anderen herangezogen; als ein Maßstab, welcher den Zugang zum literarischen Feld reguliert und die - auf dem bundesdeutschen Buchmarkt noch unbekannte - Autorin „vom Rand einer Randgruppe“ 141 gewissermaßen ins ‚Zentrum‘ katapultiert. Zwar signalisiert der Rezensent selbst Problembewusstsein, indem er den Reinheitsbegriff in Anführungszeichen setzt; gleichzeitig aber funktionalisiert er ihn für seine Argumentation. Die Dichotomie von ‚Reinheit‘ und ‚Unreinheit‘ wird dabei mit einer weiteren Opposition korreliert, und zwar mit der Opposition zwischen „deutschsprachiger“ und „rumäniendeutscher“ 142 Literatur: Die ‚Reinheit‘ der Sprache befreit die Autorin vom Status der Minderheit und begründet ihre Zu‐ gehörigkeit zur deutschsprachigen (National-)Literatur. Das Lob der ‚Reinheit‘ wird somit als ein zugehörigkeitspolitisches Manöver erkennbar, 143 das „Herta Müller aus der rumäniendeutschen Literatur heraushebt und in die Reihe der besten deutschsprachigen Autorinnen“ 144 versetzen soll. Müllers Debütband stieß in der bundesdeutschen Literaturkritik „auf durch‐ wegs positive Resonanz“ 145 , wobei einhellig die besonderen sprachlichen Qua‐ litäten der Texte gelobt und hervorgehoben wurden. 146 In der deutschspra‐ 57 Exkurs: „Jargonfreies, ‚reines‘ Deutsch“ 145 Wiebke Sievers, Deutschsprachige Rezeption in Rumänien und Mitteleuropa. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 248-252, hier S. 248. Zur bundesdeutschen Rezeption von Müllers Niederungen-Band vgl. auch Norbert O. Eke, Herta Müllers Werke im Spiegel der Kritik (1982-1990). In: Ders. (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung, S. 107- 130, bes. S. 117 f. 146 Vgl. René Kegelmann, „An den Grenzen des Nichts, dieser Sprache …“. Zur Situation rumäniendeutscher Literatur der achtziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld 1995, S. 125-133, hier S. 60 f. 147 Zu diesem Vorwurf, der von Seiten der banatschwäbischen Minderheit und ihrer ‚Landsmannschaft‘ gegen Müller erhoben wurde, vgl. Brokoff, Herta Müller (2009), S. 234. chigen Presse in Rumänien aber wurde die Autorin - ähnlich wie Elfriede Jelinek - als „Nestbeschmutzerin“ 147 verunglimpft. An dieser Spaltung hat die rezeptionsweisende Spiegel-Rezension von Delius - Mitgründer und Lektor für Literatur des Rotbuch Verlags, in dem auch Müllers Niederungen-Band 1984 als Lizenzausgabe erschienen war - aktiv mitgewirkt. Zugespitzt könnte man sagen, dass Delius’ Rezension ihre Absicht in dem Maße erreicht wie sie ihren Gegenstand verfehlt hat. Einerseits beförderte sie Müllers Anerkennung als Autorin auf dem Buchmarkt der Bundesrepublik; andererseits läuft das Ideal sprachlicher ‚Reinheit‘ den Intentionen des Buches gerade zuwider. Nicht nur ignoriert Delius, dass Mehrsprachigkeit bzw. der Umgang mit unterschiedlichen Sprachvarietäten für Müllers Schreiben von konstitutiver Bedeutung ist und sogar zum literarischen Prinzip erhoben wird; er wertet diese auch implizit ab, indem er mit hierarchischen Dichotomien operiert (‚Zentrum‘ vs. ‚Peripherie‘; ‚Reinheit‘ vs. ‚Unreinheit‘; ‚Mehrheit‘ vs. ‚Minderheit‘; ‚deutschsprachige‘ vs. ‚rumäniendeutsche‘ Literatur). Lob und Kritik verraten hier mehr über den Kritiker, den Literatur- und Kulturbetrieb seiner Zeit, über Voraussetzungen von Autorschaft und Bedingungen von Zugehörigkeit als über Müllers Schreiben selbst. 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt: Zur Monologizität des Dorfes in der Erzählung „Niederungen“ Während sich die Erzählung „Dorfchronik“ des Verfahrens der Mehrsprachig‐ keit bedient, um miteinander konkurrierende ‚Sprachen‘ bzw. Weltansichten aufeinandertreffen zu lassen, scheint die Titelerzählung dadurch charakterisiert zu sein, dass sie sich innerhalb des Wertungshorizonts nur einer Sprache bewegt. Von einem Widerstreit der ‚Sprachen‘ ist in „Niederungen“ - zumindest auf der 58 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 148 Vgl. Morwenna Symons, Room for Manoeuvre. The Role of Intertext in Elfriede Jelinek’s Die Klavierspielerin, Günter Grass’s Ein weites Feld, and Herta Müller’s Niederungen and Reisende auf einem Bein. London 2005, S. 133-155, hier S. 116. 149 Ebd. 150 Für eine Problematisierung dieser editorischen Formulierung, die sich am Buchende der Hanser Fassung findet, vgl. das Schlusskapitel dieser Arbeit (Kap. 6). 151 Vgl. etwa Ralph Köhnen, Terror und Spiel. Der autofiktionale Impuls in frühen Texten Herta Müllers. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 18-29, hier S. 20. manifesten Textebene - nichts zu spüren, was nicht nur in der Literaturkritik, sondern auch in der Müller-Forschung gelegentlich dazu geführt hat, die ‚Rein‐ heit‘ der Sprache („purity of language“ 148 ) als ein hervorstechendes Merkmal dieser Erzählung zu betrachten. Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Ex‐ kurses dürfte jedoch klar geworden sein, dass dieser Befund nicht unproblema‐ tisch ist: Der weitgehende Verzicht auf fremdsprachige Einsprengsel, dialektale Ausdrücke und umgangssprachliche Wendungen („exclusion of any Romanian words“, „absence of colloquialisms“ 149 ) ist in einem nicht zu unterschätzenden Maße redigierenden Eingriffen geschuldet, sodass Thesen, die sich unmittelbar aus der Sprachgestalt des Textes, zumal in seiner Fassung von 1984, ableiten, mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind. Ein kritischer Apparat zu den verschiedenen Textfassungen des Niederungen-Bands stellt bis heute ein Desi‐ derat der Müller-Forschung dar. Ein solcher Apparat könnte näheren Aufschluss über die monolingualisierenden Eingriffe bieten, welcher die Zweitausgabe von 1984 unterlag und die Müller - wie aus der Überarbeitung zur „definitive[n] Ausgabe der Niederungen“ 150 zu schließen ist - als unzureichend empfand. In der vorgeblichen ‚Reinheit‘ des Sprachgebrauchs spiegeln sich nicht die sprachästhetischen Reinheitsambitionen der Autorin Herta Müller, sondern der ‚monologische‘ Impetus der dargestellten Welt wider. Mit diesem Begriff soll in Anlehnung an Bachtin eine spezifische Form der Sprachverwendung bezeichnet werden, die zum Geschlossenen, Autoritären, ja sogar Totalitären neigt. Der dörfliche Monologismus ist Ausdruck eines Machtverhältnisses, in dem Zugehörigkeit „als eine Form des hörenden Gehorsams“ (Wismann, vgl. Kap. 1.1) erscheint. Mein Interesse gilt jedoch nicht nur den monologischen Strukturen, welche den dörflichen Raum beherrschen, sondern auch ihrem subversiven Gegenpart: der Dialogizität. Die bisherige Forschung hat bereits zeigen können, dass die Erzählung ihr kritisches Einspruchspotenzial gegen die oppressive Ordnung des Dorfes aus der literarischen Gestaltung einer kind‐ lichen Perspektive gewinnt. 151 Demgegenüber möchte ich im Folgenden eine Deutung vorschlagen, die das subversive Moment im Changieren zwischen den Perspektiven, in der (latenten) Mehrsprachigkeit sowie in der (expliziten) Emo‐ tionalität des Textes erkennt. Um diesen Deutungsansatz zu begründen, werde 59 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 152 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 229. 153 Ebd., S. 230. 154 Ebd. 155 Iulia-Karin Patrut, „Schwarze Schwester“ - „Teufelsjunge“. Ethnizität und Geschlecht bei Paul Celan und Herta Müller. Köln 2006, S. 119-204 (= Kap. „Omnipräsenz der Gewalt“). ich, zumindest punktuell und exemplarisch, die verschiedenen Fassungen, in denen der Text vorliegt, mit einbeziehen. 2.3.1 Das autoritäre Wort Der soziale Raum des Dorfes präsentiert sich in der Erzählung „Niederungen“ als eine Welt der Verbote und Gebote: „Das darf man nicht“, „das muss man tun“ (N, 17). Es herrscht „das autoritäre Wort“ 152 des Großvaters, das Fragen versagt und Antworten verweigert. Gleich zu Beginn der Erzählung wird somit ein bestimmter einstimmiger, monologischer Worttypus aufgerufen, der wider‐ spruchsfreien Gehorsam und „bedingungslose Anerkennung“ 153 einfordert. Das autoritäre Wort ist nach Bachtin durch seine Dialogunfähigkeit charakterisiert: „Man kann es nicht teilen“ 154 , es steht absolut und isoliert für sich alleine da, statt in Beziehung mit anderen Wörtern zu treten. Neben der großväterlichen Rede lassen sich in „Niederungen“ noch weitere Varianten dieses Worttypus finden, der wesentlich durch seine starre Sinnstruktur gekennzeichnet ist. Beispielhaft sind insbesondere die „sehr lehrreich[en]“ (N, 74) Wandtücher der Mutter mit selbstgestickten Sinnsprüchen, Verhaltensregeln und Lebensweis‐ heiten. Wie das untersagende Wort des Großvaters haben diese Wendungen oftmals mahnenden bzw. warnenden Charakter. In der Unbeweglichkeit ihrer Form manifestieren sich der Stillstand und die Stagnation der dörflichen Welt, offenbaren sich das schablonierte Denken und die Autoritätsgläubigkeit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Die Harmonie, die diese Sprüche propagieren oder vorzuspiegeln suchen, entlarvt der Text als „fadenscheinig“ (N, 74). Sie wird aufs Deutlichste konterkariert durch die „Omnipräsenz der Gewalt“ 155 , welche die dörfliche Welt bestimmt. Neben den direkten Anwendungen physi‐ scher Gewalt (vgl. z. B. N, 47, 65), lässt sich das Schweigen als eine latente Form von Gewalt begreifen. Das Schweigen, als Unterdrückung von Rede, bedeutet weitaus mehr als nur die Abwesenheit von Worten. Wie im Verlauf der weiteren Argumentation zu sehen sein wird, steht es in einem unglücklichen Zusammenhang mit dem autoritären (monologischen) Diskurs des Dorfes. Es ist zugleich Effekt und (Re-)Produzent eines machtvollen Gefühls- und 60 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 156 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der bäuerlichen Familie bindet Frauen an Haus und Hof - eine ebenfalls als „stumm“ gekennzeichnete Tätigkeitssphäre: „[S]ie gehen stumm in ihren Häuserwänden ein und aus, und hinter ihren Rücken lehnen sich die Türen krächzend an die Zimmer an. / Mittags brechen sie ihr Schweigen durch Zurufe, die den Hühnern gelten, […].“ (N, 35) 157 ‚Zugehörigkeit‘ und ‚Zusammengehörigkeit‘ lassen sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen. Für Pfaff-Czarnecka stellt sich die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen als eine Frage der Perspektive dar: Der Begriff der ‚Zugehörigkeit‘ fokussiere die Beziehung eines Individuums zu einem Wir-Gefüge, während sich der Begriff der ‚Zusammengehörigkeit‘ von der Akteurs-Perspektive löse bzw. von der Sichtweise des Kollektivs ausgehe. Vgl. Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 22. Zugehörigkeitsregimes, das scheinhafte Züge trägt und den Einzelnen in Angst und Einsamkeit gefangen hält. 2.3.2 Die unausgesprochene Tatsache des Zusammengehörens Das Schweigen ist eine wiederkehrende Thematik in Müllers Werk, die im Zusammenhang mit der bäuerlichen Lebensweise steht. Einer Lebensweise, „die sich den Gebrauch von Wörtern nicht zur Gewohnheit macht“ (König, 47), in der sich das Sprechen weitgehend auf Verbote und Gebote, vorgefertigte ‚Spruchware‘ sowie auf Funktionales reduziert: Wörter begleiteten die Arbeit nur dann, wenn mehrere zusammen etwas taten und einer auf den Handgriff des anderen angewiesen war. Aber auch da nicht immer. Schwerstarbeit wie Säcketragen, Umgraben, Hacken, mit der Sense mähen war eine Schule des Schweigens. Der Körper war zu beansprucht, um sich im Reden zu verausgaben. (König, 8) Ganz ähnlich wird in der Erzählung „Niederungen“ die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft als ein schweigsames Tun charakterisiert: „Die Männer fuhren, auf krächzenden Wagen zusammengedrängt, ins Feld hinaus und blieben bei der Arbeit stumm. Sie zogen die Sensen durchs Gras und schwitzten von der Arbeit und vom Schweigen.“ 156 (N, 43) Im kommunikationsarmen Dorf der Kindheit gilt Sprechen als unnötige ‚Verdopplung‘ (vgl. König, 8) des Tuns. Genauso scheint es sich auch mit der ‚Zusammengehörigkeit‘ 157 zu verhalten, deren Existenz nicht durch Worte oder Gesten, sondern durch konkrete Gegenstände bezeugt wird. In seiner materiell verbürgten Evidenz bedarf das Zusammengehören keiner Worte, um sich auszudrücken - so könnte man die These reformulieren, die Müller im Gespräch mit Angelika Klammer entfaltet: 61 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 158 Dieses und vorhergehendes Zitat: Joanna Pfaff-Czarnecka, Heimat und Zugehö‐ rigkeit in Europa. Vortrag, 06.10.2012. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., S. 1. URL: https: / / www.kas.de/ c/ document_library/ get_file? uuid=a7e66f48-7adc-cbb1-e050 -ccfa6c6a1e4c&; groupId=252038 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). Die Leute, bei denen der Körper den ganzen Tag funktioniert, reden ja nicht über sich. Geredet wird nur über die Handgriffe der Arbeit. Wenn aber jemand kein Wort über sich sagt, wodurch existiert dann das Zusammengehören? Vielleicht ist es nur eine Tatsache, die so stark ist, dass man gar kein Gefühl braucht. Oder das Gefühl ist da, aber von der Tatsache nicht getrennt. Vielleicht war die Tatsache des Zusammengehörens so stark, dass man das Gefühl nicht spürte. Es war für alle normal, dass wir zusammengehören, das wurde nicht mit Worten oder Gesten ausgedrückt. Es hat doch etwas Klares und Gültiges, wenn man zusammen am Tisch sitzt, wenn man die gleiche Tür benutzt, das gleiche Besteck und den gleichen Kochtopf, wenn die Kleider nebeneinander auf der Wäscheleine hängen, dann gehört man zusammen, das haben die äußeren Dinge garantiert. Ich weiß nicht, ob die anderen sich einsam fühlten, ob sie sich jemals gewünscht haben, dass man mehr aufeinander eingeht. Ich glaube es gar nicht, an meiner Dorftrauer sollte damals niemand herumbohren. Dass man über sich selber spricht, bei mir kam das auch erst im Nachhinein in der Stadt. (Apfelkern, 17 f.) Bedarf „die Tatsache des Zusammengehörens“ einer Beglaubigung durch Worte? Steht Sprache dem Zusammengehörigkeitsgefühl - sofern überhaupt von einem ‚Gefühl‘ die Rede sein kann - entgegen oder wird dieses Gefühl durch sprachliche Performanz allererst hervorgebracht? Das relativierende „vielleicht“ markiert eine Unsicherheit hinsichtlich des Zusammenhangs von Sprache, Gefühl und Zusammengehörigkeit, deren Verhältnis zueinander kom‐ plex und widersprüchlich erscheint. Einerseits betrachtet Müller das Zusammengehören als eine „Tatsache“, die als selbstverständlich gegeben erscheint und in dieser Selbstverständlichkeit nicht eigens artikuliert werden muss. Gerade diese unausgesprochene Dimen‐ sion gilt in der Forschung zu belonging als eine der „kostbarsten Eigenschaften“ der Zugehörigkeit oder Zusammengehörigkeit. Ihre „Leichtigkeit“ 158 käme ab‐ handen, sobald sie explizit zum Thema würde. Das Sprechen über Gefühle der Zugehörigkeit wäre demnach nicht nur genauso überflüssig wie die Ver‐ dopplung des Tuns im Wort, sondern bereits Ausdruck einer Verlusterfahrung: des Verlusts unhinterfragter Selbstverständlichkeit. Sprache bzw. Sprechen und Zugehörigkeit scheinen sich so gesehen geradezu antithetisch gegenüber‐ zustehen. Der Mangel an Gefühlsausdruck ist nicht unbedingt Ausdruck des Gefühlsmangels. Im Gegenteil: Die Abwesenheit eines Sprechens über Gefühle 62 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 159 Im Roman Reisende auf einem Bein verdichten sich die Nicht-Zugehörigkeitsempfin‐ dungen der aus Ceauşescus Rumänien vertriebenen Protagonistin Irene in einem Graffito, das sie auf einer Hauswand im Westberlin der späten 1980er Jahre findet und auf ihr eigenes Lebensgefühl bezieht: „KALTES LAND KALTE HERZEN“. Herta Müller, Reisende auf einem Bein [1989]. Frankfurt am Main 2010, S. 97. 160 Vgl. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 165-179. 161 Dazu gehören Metaphern wie „Insel“ (König, 160), „Kiste“ (N, 95, 100; König, 10, 165; Apfelkern, 31, 48; Schnee, 22), „Sack“ (N, 34, 63, 69, 99), „Fass“ (N, 103) usw. der Zugehörigkeit kann ihr Vorhandensein als selbstverständliche Tatsache bestätigen. Andererseits erzeugt der Mangel an Kommunikation Gefühle der Isolation und eine unterkühlte soziale Temperatur, die in der Erzählung „Niederungen“ bis unter den Gefrierpunkt sinkt. Insgesamt kommen die Lexeme ‚kalt‘ und ‚Kälte‘ im Text 29-mal, die Lexeme ‚Frost‘, ‚frösteln‘, ‚frostig‘, ‚frieren‘, ‚einge‐ froren‘, ‚gefroren‘, ‚erfroren‘ 12-mal und Wörter, die das Lexem ‚Eis‘ beinhalten, 11-mal vor. Die Skala der Kälteempfindungen, welche die Erzählung durchmisst, bezieht sich nur vordergründig auf die meteorologischen Verhältnisse. Vor allem verdeutlicht diese Semantik eine soziale Atmosphäre, die von der Prot‐ agonistin, die selbst „an den Augäpfeln“ (N, 71) friert, leiblich gespürt und sinnlich wahrgenommen wird. 159 Die poetologischen Texte bedienen sich einer ähnlichen Sprache, um das dörfliche Zusammenleben zu charakterisieren: In ihrer Vorlesung „Wie Wahrnehmung sich erfindet“ spricht Müller von „der kalten Nähe“ (Teufel, 21), welche die sozialen Beziehungen im Dorf und in der Familie prägte. In einer anderen Rede wird diese Nähe zur Enge und in einen spannungsvollen Gegensatz zur affektiven Vereinzelung der Familienmit‐ glieder gebracht, die in ihrer Sprachlosigkeit unverbunden aneinander vorbei existieren: „Ich glaube, wir schwiegen uns, alle wie wir waren, in diesem Haus und Hof eng aneinander vorbei.“ (König, 82) Äußerungen wie diese heben ex negativo die konstitutive Bedeutung von Sprache für Gefühle der Zugehörigkeit hervor. Bemerkenswerterweise steht das Schweigen, hier als Zeichen von Einsamkeit, mit einer spezifischen Raumvorstellung in Verbindung. Müller konzeptualisiert es als einen „stabilen, in sich geschlossenen Zustand“, als ein Behältnis, in dem „alles […], was über lange Zeit nicht gesagt wird, sogar was niemals gesagt wird“ (König, 74 f.), verwahrt wird. „Figuren des Einschlusses“ 160 charakterisieren folglich nicht nur den Raum des dörflichen Kollektivs, sondern auch den Raum des mit sich ins Schweigen eingeschlossenen Einzelnen. Dieses Entsprechungsverhältnis manifestiert sich am deutlichsten in einer spezifischen Raum-Metaphorik, die sowohl in Müllers literarischen Texten als auch in ihren poetologischen Texten und Interviews zum Tragen kommt. 161 63 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 162 So der Titel einer Erzählung aus dem Band Drückender Tango. Prosa. Bukarest 1984, S. 23-24. 163 Marişescu, Raumfigurationen in Herta Müllers Niederungen, S. 7. 164 Müller, Niederungen, Bukarester Fassung, S. 73. 165 Jörg Zirfas, Die Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt. Über Bildung, Ge‐ schmack und Essthetik. In: Eckart Liebau / Ders. (Hrsg.), Die Bildung des Geschmacks. Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung. Bielefeld 2011, S. 17-44, hier S. 27. Sprach- und Kommunikationslosigkeit erzeugen ein elementares Gefühl der Einsamkeit, das der Idee von ‚Heimat‘ als Ort familialer Geborgenheit und af‐ fektiver Verbundenheit eine deutliche Absage erteilt. Dieses Gefühl wird von der Protagonistin in den „Niederungen“ nicht nur individuell empfunden, sondern als kollektive Grundbefindlichkeit der Dorfgemeinschaft wahrgenommen. Wie das Dorf als Ganzes, wirken die Figuren voneinander isoliert und abgekapselt - gefangen in der „Schachtel der Einsamkeit“ 162 bildet jede für sich eine Insel. Orte der Geselligkeit und Begegnung, soziale Treffpunkte wie zum Beispiel das Wirtshaus werden zu „Orte[n] der Vereinsamung“ 163 : „Im Wirtshaus wurde nicht gelacht und nicht gesungen. […] / Die Männer saßen einzeln an den Tischen und gossen sich das brennende Getränk in den Hals […].“ (N, 43) Die Ausstattungsgegenstände im öffentlichen Raum haben ihre soziale und kommunikative Funktion eingebüßt. Es gibt kein dialogisches Miteinander, sondern nur ein sprach- und beziehungsloses Nebeneinander, wie aus einer Stelle der Bukarester „Niederungen“-Fassung zusätzlich hervorgeht: „Es waren sehr viele Bänke mit sehr vielen Leuten auf der Straße, aber sie saßen alle allein da und wechselten kein einziges Wort, als dürfe zwischen den Häusern nicht geredet werden.“ 164 Sowohl das Leben ‚draußen‘ als auch die häusliche Binnensphäre sind durch die Spannung zwischen räumlicher Nähe und gleichzeitiger Distanz gekennzeichnet. Das folgende Arrangement der Nicht-/ Zugehörigkeit bringt diese Ambivalenz besonders deutlich zur Geltung: „Wir sitzen alle rund um den Tisch. Jeder isst und denkt an etwas. / Ich denke an etwas anderes, wenn ich esse. Ich sehe nicht mit ihren Augen, ich höre nicht mit ihren Ohren. Ich habe auch nicht ihre Hände.“ (N, 45) Die gemeinsame Mahlzeit stellt ein konstitutives Element des Familienlebens dar, ein Ritual, dem im Allgemeinen eine gemeinschaftsbildende Kraft zugeschrieben wird - Essen verbindet, schafft Gemeinsamkeit und symbolisiert soziale Zugehörigkeit. „Wenn man zusammen am Tisch sitzt, […] dann gehört man zusammen“ (Apfelkern, 17), wie Müller im oben zitierten Gespräch mit Klammer sagt. Der Esstisch figuriert als „ein sym‐ bolischer Ort des Übergangs“ 165 , der die vereinzelten Familienmitglieder zu einer Gemeinschaft verknüpft; durch seinen Gebrauch wirkt er „wie ein Bindeglied, 64 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 166 Sebastian Schinkel, Familiäre Räume. Eine Ethnographie des ‚gewohnten‘ Zusammen‐ lebens als Familie. Bielefeld 2013, S. 218. 167 Auch in Herztier wird diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit von gefühltem Getrennt- und physischem Zusammensein am Tisch erlebt: „Weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen. Wir saßen zusammen am Tisch, aber die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten, wenn wir uns trafen.“ (H, 83) Für eine nähere Interpretation dieser Stelle siehe Kap. 4.2.1 dieser Arbeit. 168 Zu diesem Motiv vgl. auch die Analyse bei Schau, Leben ohne Grund, S. 307 f., S. 311 und S. 318 f. das zwischen den Sitzenden einen festen räumlichen Zusammenhang als Grup‐ pierung schafft und der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit eine ebenso konkrete wie sinnbildliche Form verleiht“ 166 . Die Erzählung „Niederungen“ rückt dem‐ gegenüber weniger das einheitsstiftende Moment der gemeinsamen Mahlzeit, sondern die Isolation der um den Tisch versammelten Familienmitglieder in den Vordergrund. Nicht das Verbindende, das körperliche Miteinander, der Akt der Teilhaftigkeit wird betont. Die gemeinsame und zugleich einsame Mahlzeit hebt vielmehr das Trennende, Differente ins Bewusstsein der Ich-Erzählerin. 167 Die Sitzordnung am Esstisch macht die patriarchalischen und (ge‐ schlechts-)hierarchischen Machtverhältnisse in der bäuerlichen Familie an‐ schaulich: Jedes Familienmitglied hat seinen festen Platz; der Großvater sitzt am Tischende. Das gemeinsame Essen unterliegt strengen Regeln, allen voran dem Verbot, beim Essen zu sprechen: „Niemand redet mehr ein Wort. Mein Hals ist trocken. Ich darf kein Wasser verlangen, weil ich beim Essen nicht sprechen darf. / Wenn ich groß bin, werde ich Eisblumen kochen, ich werde beim Essen reden und nach jedem Bissen Wasser trinken.“ (N, 47) Im Wunsch des Kindes, Eisblumen 168 zu kochen, verdichtet sich das affektive Dilemma der Nicht-/ Zu‐ gehörigkeit, das im Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft entsteht: Einerseits artikuliert sich darin das Verlangen, gegen die körperlichen und sprachlichen Verhaltensnormen aufzubegehren, die den Einzelnen mundtot machen und fraglose Unterwerfung verlangen. Das Kochen der Eisblumen wird einerseits lesbar als rebellischer Akt gegen eine bestimmte Zugehörigkeits‐ ordnung, impliziert andererseits aber auch eine Sehnsucht nach emotionaler Wärme und Auflösung festgefügter Identitätsmuster. Mithin symbolisiert dieser Wunsch das Verlangen nach einer anderen Form der Zugehörigkeit, die nicht bloß auf „äußeren Dinge[n]“ (Apfelkern, 17), dem Teilen von materiellen (z. B. Esstisch, Kochtopf) und immateriellen (z. B. Werten, Bräuchen, Gewohnheiten) Gütern, entleerten Ritualen und hohlen Traditionen beruht. Bilder der Kälte und der eisigen Starre durchziehen die Erzählung motivisch und versinnbildlichen die Härte und Lieblosigkeit der dörflichen Welt, deren verfestigte Strukturen das Kind aufzubrechen begehrt. 65 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 169 Claudia Becker, ‚Serapiontisches Prinzip‘ in politischer Manier. - Wirklichkeits- und Sprachbilder in „Niederungen“. In: Eke (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung, S. 32-41, hier S. 35. 170 Vgl. J. Müller, Sprachtakt, S. 167. 2.3.3 Glückliche Objekte, dissidente Subjekte Müller wird häufig eine nüchterne und „emotionslose“ 169 Sprache attestiert, in welcher sich - so die naheliegende These - die Gefühlskultur der bäuerlichen Welt widerspiegelt. In dieser Kultur, erläutert Müller, war es „mit allen Gefühlen so wie mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl, Gefühle waren nur unsichtbar vorhanden“ (Apfelkern, 25). Nicht nur steht die scheinbare Emotionslosigkeit des Stils in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur überspannten Empfindsamkeit des kindlichen Ichs der „Niederungen“, seiner ausgeprägten Empathie, die der Gefühl- und Mitleidslosigkeit der Erwachsenenwelt deutlich kontrastiert. Der Text spricht auch explizit über Emotionen. Während sich die Erzählstimme in „Dorfchronik“ eines neutralen, bisweilen sarkastischen Ton‐ falls bedient und sich jeglicher Verbalisierung von Emotionen enthält, werden negative Gefühle wie Einsamkeit, Angst, Hass und Ekel in „Niederungen“ ausdrücklich artikuliert. Hier zeichnet sich allerdings ein deutlicher Unterschied zwischen den verschiedenen Fassungen ab. Das Hauptstück des Erzählbandes wurde, wie Julia Müller in ihrer Monographie über Herta Müllers literarische[n] Darstellungsstil nachgewiesen hat, für die Westberliner Ausgabe von 1984 „am stärksten bearbeitet“ 170 bzw. gekürzt. Zugunsten einer Vereinheitlichung des Duktus und Versachlichung des Erzähltons wurden dabei insbesondere solche Stellen und Passagen gestrichen, die Emotionswörter enthalten. Hier einige markante Beispiele: 66 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 171 Zur Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Emotionen vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 47-54. 172 Es gibt lediglich wenige Stellen, die den deiktischen Gestus der „Dorfchronik“ aufweisen (vgl. N, 18 f.). 173 Dies markiert zugleich einen wichtigen Unterschied zu den poetologischen Texten, die explizit über Mehrsprachigkeit reflektieren: „Der wilde Wein heißt im Dialekt ‚Tintentrauben‘, weil seine schwarzen Beeren die Hände verfärben mit Flecken, die sich in die Haut fressen für viele Tage.“ (König, 9 f.) Bukarester Fassung (1982) Rotbuch Fassung (1984) Hanser Fassung (2010) „MUTTER, GIB DOCH ZU, DASS DU EINSAM BIST.“ (S. 23) gestrichen (S. 38) „MUTTER, MAN SIEHT, DASS DU EINSAM BIST.“ (S. 41) „Vater ist ein todtrauriges Tier.“ (S. 67) gestrichen (S. 85) „Vater ist ein todtrauriges Tier.“ (S. 93) „Vaters Singen und Mut‐ ters Reden mischen sich zu Schweiß in meinem Gesicht. Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen. Beide und alle im Dorf kennen das Wort einsam nicht, wissen nicht, wer sie sind.“ (S. 68) gestrichen (S. 86) „Vaters Singen und Mut‐ ters Reden vermischen sich. Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen. Beide und alle im Dorf kennen das Wort einsam nicht, wissen nicht, wer sie sind.“ (S. 94) Tab. 1: „Niederungen“-Fassungen im Vergleich Stellen wie diese ihres Emotionsgehalts wegen als banal oder kitschig abzutun, wäre zu kurz gegriffen. Es handelt sich um mehr als bloß sentimentalisierende Ausschmückungen. Die explizit-lexikalische 171 Darstellung von Emotionen fun‐ giert als ein Mittel der Dialogisierung und Mehrsprachigkeit. Als solches erfüllt sie mindestens drei wichtige Funktionen: Erstens, die Funktion der Sprachreflexion. Im Vergleich zur Erzählung „Dorfchronik“ kommt Mehrsprachigkeit - die Verwendung unterschiedlicher Sprachvarietäten - in der Erzählung „Niederungen“ zwar weniger deutlich zum Tragen. 172 Austriazismen wie „Kasten“ (N, 26, 65, 99), „Gehsteig“ (N, 32), „Maschen“ (N, 72) oder „Stiegen“ (N, 89) und Dialektwörter wie „Geschau“ (N, 77) oder „Tintentrauben“ (N, 17) werden nicht als solche markiert, son‐ dern selbstverständlich gebraucht. 173 Sie dienen gewissermaßen dazu, den dorf‐ sprachlichen Horizont abzustecken, in dem sich die kindliche Protagonistin und die übrigen Figuren bewegen. Dieser wird immer dann verlassen, wenn Emotionsausdrücke verwendet werden, die im Dialekt des Dorfes eine Leerstelle 67 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 174 Diese Stelle bildet darüber hinaus ein Beispiel für ‚latente‘ Mehrsprachigkeit. Das Dia‐ lektwort, welches in der Erzählung nur unsichtbar präsent ist, tritt im poetologischen Diskurs an die manifeste Textoberfläche: „Das Wort ‚einsam‘ gibt es nicht im Dialekt, nur das Wort ‚allein‘. Und dieses hieß ‚alleenig‘, und das klang wie ‚wenig‘ - und so war es auch.“ (König, 12) Zu Müllers „alleeniger“ Kindheit siehe Kap. 5.4.1 dieser Arbeit. Zur Unterscheidung zwischen ‚latenter‘ und ‚manifester‘ Mehrsprachigkeit vgl. Giulia Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin 2011, S. 61. 175 Vgl. N, 93: „Wir schauen weg von unserer Einsamkeit, von uns selbst und ertragen die anderen und uns selber nicht, und die anderen neben uns ertragen uns auch nicht.“ - Interessanterweise schließt sich die Ich-Erzählerin durch den Gebrauch der ersten Person Plural hier selbst in das Kollektiv mit ein, während sie sich an anderen Stellen, welche die Einsamkeit thematisieren, aus ihm auszunehmen scheint. 176 Herta Müller, Wie Wahrnehmung sich erfindet. In: Dies., Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1991, S. 9-32, hier S. 10. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚Teufel‘ nachgewiesen. bilden, wie beispielsweise das Wort ‚Einsamkeit‘: „Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen.“ 174 (N, 94) Nicht nur macht diese Stelle auf die Begrenztheit des dorfsprachlichen Horizonts aufmerksam, indem sie ihn überschreitet. Sie reflektiert auch die sprachliche Bedingtheit des Welt- und Ich-Bezugs: Weil die Dorfbewohnerinnen und -bewohner das Wort ‚einsam‘ nicht „kennen“ (N, 94), also weder imstande sind, ihren emotionalen Zustand zu benennen noch willens sind, ihn wahrzunehmen, 175 sind sie sich selbst und einander fremd. Dem unmittelbaren Erleben stellt Müller die sprachliche Repräsentation als etwas Sekundäres und Nachträgliches entgegen: „Ich kann heute ‚Angst‘ sagen. Und ich kann ‚Freude‘ sagen. Es trifft nicht mehr zu. Ich rede darüber. Ich lebe nicht mehr darin.“ 176 Diese Differenz wird nicht nur poetologisch reflektiert, sondern auch literarisch produktiv gemacht. In der Erzählung „Niederungen“ findet sie ihre Umsetzung im spannungsvollen Kontrast zwischen einer kind‐ lichen Wahrnehmungsperspektive, die Unmittelbarkeit suggeriert, indem sie sinnliche Eindrücke registriert, aber (noch) nicht begrifflich fixiert und einer retrospektiv-reflektierenden, räumliche und zeitliche Distanz signalisierenden Sichtweise auf das Erlebte. Dem Oszillieren zwischen Dialekt- und Hochsprache entspricht das Oszillieren zwischen den Perspektiven. Die Verwendung von Emotionswörtern dient dazu, die Perspektive des erzählenden bzw. erinnernden Ichs zu akzentuieren und in ihrer Differenz zur Perspektive des erlebenden Ichs zu markieren. Sie übernimmt also, zweitens, eine erzähltechnische Funktion. Drittens impliziert die Thematisierung von Gefühlen eine oppositionelle Dimension: die Dimension der Verweigerung gegen die repressive Harmonie der dörflichen Welt. Indem der Text zur Sprache bringt, was in der dörflichen 68 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 177 Für eine Einführung in die zentralen Begrifflichkeiten von Hochschilds Konzept der ‚Gefühlsarbeit‘ (‚emotion work‘) vgl. Sighard Neckel, Arlie Russell Hochschild: Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. In: Konstanze Senge / Rainer Schützeichel (Hrsg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie. Wiesbaden 2013, S. 168-175. 178 Dieses und vorhergehende Zitate: Herta Müller, Das Ticken der Norm. In: Dies., Hunger und Seide. Essays. München 2015, S. 95-108, hier S. 95. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚HS‘ nachgewiesen. 179 Zu Zugehörigkeit als Täuschungsarbeit vgl. Acker / Fleig, „Der Schein des Dazugehö‐ rens“. Welt mit Schweigen belegt ist, vollzieht er einen Bruch mit den dörflichen Gefühlsnormen. Der Emotionssoziologin Arlie R. Hochschild zufolge zeigen diese Normen an, was und wie wir in einer bestimmten sozialen Situation fühlen sollen (‚feeling rules‘) oder welcher emotionale Ausdruck (‚display rules‘ bzw. ‚expression rules‘) als sozial angemessen und erwartet gilt. 177 Die Gefühlsnormen wirken häufig auf einer impliziten Ebene - sie müssen nicht erst thematisiert werden, sondern sprechen gleichsam eine stumme Sprache. Indem der Text die Regeln vor Augen führt, welche die Gefühlskultur des Dorfes bestimmen und dem Einzelnen vorschreiben, welche Gefühle er in welcher Situation zu fühlen, zu zeigen oder zu verbergen hat, durchbricht er das Schweigen der Norm. Der Bruch mit der Norm bringt diese zum Vorschein: Das Sprechen über Gefühle, der direkte Ausdruck von Emotionen wird in der Welt der „Niederungen“ als eine Form abweichenden Verhaltens betrachtet und dementsprechend tabuisiert sowie - gegebenenfalls gewaltsam - sanktioniert (vgl. N, 49, 65). Zugleich opponiert der Text gegen die Norm des Schweigens, indem er soziales Leid artikuliert und unerwünschte Gefühle explizit verbali‐ siert. Der Ausdruck ‚Norm‘ und seine sprachlichen Ableitungen ‚normal‘ und ‚Nor‐ malität‘ konstituieren ein Wortfeld, dem Müller mit rigoroser Skepsis begegnet. Diese Wörter seien „nur haltbar im Kollektiv“. Sie stellen sich „immer gegen den einzelnen“; mithin stehen sie für den „Zwang, zur Gemeinschaft zu gehören“, für ein lügenhaftes System gegenseitiger Kontrolle und Abhängigkeit, das „um den Preis jedes Unglücks“ 178 aufrechterhalten wird. In Übereinstimmung mit Hochschilds Konzept der ‚emotion work‘ (Gefühlsarbeit im Alltag) operiert Müller mit einer Semantik, die das Dazugehören als einen kontinuierlichen Anstrengungsprozess kenntlich werden lässt. Sie macht darauf aufmerksam, dass der „Schein des Dazugehörens“ (Teufel, 13) und die Täuschungsarbeit, 179 die er erfordert, mit emotionalen Kosten verbunden ist. Auf diese Kosten kommt Müller in ihrer 1991 erschienen Poetik-Vorlesung „Wie Wahrnehmung sich erfindet“ deutlich zu sprechen: Aus Angst vor sozialer Ausgrenzung habe sie bereits früh gelernt, ihre Umgebung über ihre wirklichen Gefühle hinwegzu‐ 69 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 180 Die soziale Verpflichtung, in bestimmten Situationen bestimmte Gefühlsregeln zu befolgen wird zum Beispiel in einer längeren Passage über das Ritual der Totenwache thematisiert und als Zwang zur Selbstmanipulation apostrophiert: Neben dem räumli‐ chen Arrangement („kerzenbeleuchtetes Zimmer“ mit schwarz verhängtem Spiegel), Rosenkranzgebeten und der Besprengung des Toten mit Weihwasser gehört zum Reglement dieses Rituals auch ein bestimmtes Ausdrucksgebaren. Um den sozialen Erwartungen zu entsprechen, „zwingen sich [die Töchter] Tränen ins Gesicht“ (N, 67 f.) - sie fühlen keine Trauer, sondern stellen sie äußerlich bzw. körpersprachlich dar und leisten somit eine als ‚surface acting‘ bezeichnete Form der ‚Gefühlsarbeit‘ (vgl. Arlie R. Hochschild, The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling [1983]. Updated with a New Preface. Berkeley u. a. 2012, S. 33 und S. 35-38). In der Buka‐ rester „Niederungen“-Fassung deutet diese Stelle zudem auf die geschlechtsspezifische Dimension der Gefühlsregeln hin. Während sich Mütter und Töchter im Haus des Toten aufhalten, bleiben „die Männer […] im Hof und gehen auf und ab und erzählen von der Arbeit im Feld und vom Wein in den Kellern“. (Müller, Niederungen, Bukarester Fassung, S. 46). In der räumlichen Trennung manifestieren sich die unterschiedlichen emotionalen Rollenerwartungen gegenüber den Geschlechtern. Vgl. auch die Erzählung „Die Grabrede“ (N, 7-12), die von der Trauerfeier um den verstorbenen Vater der Ich-Erzählerin handelt und somit ebenfalls ein hochgradig ritualisiertes Geschehen zur Darstellung bringt, die mit ihm verknüpften Gefühlserwartungen allerdings nicht erfüllt, sondern ein alptraumhaftes Angstszenario entwirft, welches das Verhältnis zwischen strafendem Kollektiv und abweichendem Individuum in aller Eindringlichkeit problematisiert. täuschen und wurde sich dabei selbst „zum eignen [sic! ] Ungeheuer“ (Teufel, 13). Der Terminus des ‚Ungeheuers‘ verweist auf ein Gefühl der Selbstentfremdung, auf einen emotionalen Zustand, in dem das Ich sich selbst unheimlich wird. Die Rede vom „Schein des Dazugehörens“ bezieht sich auf den Widerspruch zwischen sozial erwarteten und ‚tatsächlich‘ empfundenen Gefühlen, der in Müllers „Niederungen“-Erzählung vor allem da deutlich zutage tritt, wo pro‐ totypisch emotionale Szenarien wie etwa Hochzeiten oder Trauerrituale 180 geschildert werden. Um den „Schein des Dazugehörens“ (Teufel, 13) aufrechtzu‐ erhalten, verstecken die Figuren ihre wirklichen Gefühle, wie folgendes Beispiel illustriert: Als wir zu Hause ankamen, hatten die Frauen im Dorf schon ganze Körbe voll Kuchen gebacken, und die Männer hatten schon ein junges schönes Rind geschlachtet. Die Klauen lagen auf dem Mist. Ich sah sie, als ich durchs Tor in den Hof trat. Und ich ging auf den Dachboden weinen, damit mich niemand sieht, damit niemand erfährt, dass ich keine glückliche Braut bin. Ich wollte damals sagen, ich will nicht heiraten, aber ich sah das geschlachtete Rind, und Großvater hätte mich umgebracht. (N, 20) Die Multiperspektivität eröffnet der unterdrückten weiblichen Stimme einen Raum zur Artikulation, indem er die Mutter vom Tag ihrer Hochzeit berichten lässt. Die Heirat „wird von der Braut als Opfer für das Wohl der Gemeinschaft 70 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 181 Bozzi, Der fremde Blick, S. 72. 182 Der Dachboden figuriert dabei als ein Ort des Rückzugs und der Zuflucht - wie im Übrigen auch die wiederkehrende Raumfigur der Toilette. Sie hat eine dem Dachboden analoge Funktion: Für die Ich-Erzählerin ist sie der einzige Ort, an dem sie sich der familiären Kontrolle zeitweise entziehen und ihre Emotionen ohne Rücksicht auf die herrschenden Gefühlsregeln ausleben kann. Vgl. N, 48 f.: „Ich ging fertig gekämmt und angezogen in den Hinterhof und sperrte mich ins Klo ein und zog die Hosen runter, setzte mich auf das stinkige Gehäuse und weinte laut. Ich wollte nicht ertappt werden, und wenn ich draußen Schritte hörte, wurde ich plötzlich still, denn ich wusste, dass man in diesem Haus nicht ohne Grund weinen durfte.“ 183 Vgl. Schau, Leben ohne Grund, S. 285 f. 184 Sara Ahmed, Das Glücksversprechen. Eine feministische Kulturkritik [2010]. Aus dem Englischen von Emilia Gagalski. Münster 2018, S. 67. 185 Vgl. ebd., S. 73-75: „Die Familie ist beispielsweise ein glückliches Objekt, eins, das bindet und bindend ist. Wir hören den Ausdruck ‚glückliche Familien‘ und wir nehmen die Verbindung dieser Worte in der Vertrautheit ihrer gefühlsbedingten Resonanz wahr.[…] Die glückliche Familie ist einerseits ein Objekt (etwas, das uns berührt, uns anzieht) und andererseits zirkuliert sie auch durch Objekte. […] Der Tisch an sich ist ein glückliches Objekt, insofern er die Familienform über die Zeit sicherstellt. Er ist das, was […] der Familie die Form als soziale Zusammenkunft, als materielle Sache, verleiht, um die herum sich die Familie versammelt.“ erachtet und als Zwangshandlung“ 181 empfunden. Der kollektive Erwartungs‐ druck, der von der Familie und Dorfgemeinschaft ausgeht, charakterisiert diese als ein individualitätsfeindliches Zugehörigkeitsregime; als einen sozialen Machtzusammenhang, der zum Schweigen zwingt und die Figuren zur Konfor‐ mität und zum Gehorsam drängt. Um das Glück aller zu wahren, zeigt die Braut ihre Gefühle nicht öffentlich, sondern im Geheimen. Sie entzieht sich dem überwachenden Auge („damit mich niemand sieht“) des dörflichen Kollektivs. 182 Die Erzählung der Mutter - eine von drei Passagen, in denen eine andere Stimme als die der kindlichen Ich-Erzählerin zu vernehmen ist - 183 problema‐ tisiert den sozial auferlegten Zwang, der von bestimmten, glückbringenden Objekten ausgeht. Sara Ahmed zufolge wird Glück bzw. Glücklichsein durch die Nähe zu gewissen, materiellen oder auch immateriellen Objekten versprochen: Ich habe vorgeschlagen, dass Glück/ lichsein gewissen Objekten zugesprochen wird, die als soziale Güter im Umlauf sind. Wenn wir durch diese Objekte Vergnügen empfinden, werden wir in die richtige Reihe gebracht, sind auf dem richtigen Weg. Wir werden entgegen entfremdet - sind kein Teil einer gefühlsbedingten Gemeinschaft - wenn uns die Nähe zu gewissen Objekten, die als gut gelten, kein Vergnügen bereitet. 184 Als Beispiele für solche vielversprechenden Objekte („happy objects“) nennt Ahmed unter anderem den familiären Esstisch 185 und den Hochzeitstag - Dinge, 71 2.3 Von der Sprachlichkeit zur Sprachlosigkeit der dargestellten Welt 186 Dies., Spaßverderberinnen. Feminismus und die Geschichte des Glücklichseins. In: Gerlinde Mauerer (Hrsg.), Frauengesundheit in Theorie und Praxis. Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften. Bielefeld 2010, S. 53-84, hier S. 66. 187 Ebd., S. 70. 188 Ebd., S. 68. 189 Vgl. ebd., S. 66 sowie dies., Das Glücksversprechen, S. 68 f. 190 Vgl. hierzu auch Claudia Spiridon, Die Funktion des Schweigens in Herta Müllers Erzäh‐ lung „Niederungen“. In: Germanistische Beiträge der Lucian-Blaga-Univ. Sibiu / Her‐ mannstadt 39 (2016), S. 156-173, hier S. 158: „Das Schweigen stabilisiert sowohl die patriarchalische Ordnung in der Familie der Ich-Erzählerin, wie auch die gesellschaft‐ liche Ordnung im Dorf.“ 191 Vgl. Ahmed, Das Glücksversprechen, S. 101. die in Müllers Erzählung Entfremdung statt Identifikation hervorrufen. So erlebt die Mutter am Tag ihrer Hochzeit einen der Situation unangemessenen, „unpassenden Affekt“ 186 : Entgegen der (antizipierten) sozialen Erwartung ist sie „keine glückliche Braut“ (N, 20). Sie wird auf die ‚falsche‘ Art von dem ‚richtigen‘ Objekt berührt und damit zur „gefühlten Fremden“ 187 . Dass es sich dabei nicht um ein individuelles Einzelschicksal, sondern um ein kollektiv geteiltes, generationenverbindendes Gefühlsgeschehen und mithin um ein strukturelles Merkmal der dörflichen Geschlechterbeziehungen bzw. der Institution ‚Ehe‘ handelt, wird daran ersichtlich, dass „die alten Frauen“ des Dorfes auf ihren Hochzeitsbildern „traurige Gesichter“ (N, 37) haben. Die Erfahrung der Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen sozial erwartetem und tatsächlich empfundenem Gefühl macht Müllers Figuren zu „Fremden in der Tischgesellschaft des Glücks“ 188 . Das dissidente (vom lateini‐ schen Verb ‚dissidere‘: ‚auseinander sitzen‘, ‚voneinander entfernt sitzen‘) Mo‐ ment ihrer Prosa liegt in der Entschleierung der trügerischen Dorfidylle, in der Thematisierung dessen, was hinter dem Schein der Zugehörigkeit und unter der Oberfläche des Schweigens „würgt und frisst“ (HS, 96). Im Anschluss an Ahmed, die sich in ihrer philosophisch feministischen Auseinandersetzung mit Politiken des Glücklichseins maßgeblich auf das Konzept der ‚Gefühlsarbeit‘ von Hoch‐ schild bezieht, 189 lässt sich „Niederungen“ als eine Kritik des Glücks, genauer: der Mechanismen eines von normativen Konzepten des ‚Glücklichseins‘ her‐ rührenden Unterdrückungszusammenhangs lesen, der durch Schweigegebote oder Sprechverbote aufrechterhalten wird. 190 Von Unterdrückten, so Ahmed, werde oftmals verlangt, sich glücklich zu zeigen, was als Zeichen dafür diene, dass man sich angepasst hat oder angepasst wurde. 191 Vor diesem Hintergrund wird der - durch die Schreibweise in Versalien zusätzlich verstärkte - Appell der Ich-Erzählerin „MUTTER, GIB DOCH ZU, DASS DU EINSAM BIST“ 192 in seiner widerständigen Dimension begreifbar: Er versteht sich als Aufforderung, die 72 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 192 Müller, Niederungen, Bukarester Fassung, S. 23. In der Hanser Fassung erscheint der Appell-Charakter der Anrede abgeschwächt: „MUTTER, MAN SIEHT, DASS DU EINSAM BIST.“ (N, 41) 193 An einer Stelle werden Schweigen und Täuschung sogar unmittelbar in Zusammenhang gebracht: „Alle, die da standen, logen durch ihr Schweigen.“ (N, 62) 194 Michael Günther, Froschperspektiven. Über Eigenart und Wirkung erzählter Erinne‐ rung in Herta Müllers „Niederungen“. In: Eke (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung, S. 42-59, hier S. 56. Zum Glück vgl. auch Ute Weidenhiller, „Über das Glück nichts, sonst ist es keines mehr“. Von der Paradoxie des Glücks bei Herta Müller. In: Deeg / Wernli (Hrsg.), Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 73-91. 195 Marika Griehsel, „Die Sprache hat andere Augen.“ Transcript of the telephone interview with Herta Müller immediately following the announcement of the 2009 Nobel Prize in Literature, 08.10.2009. URL: https: / / www.nobelprize.org/ prizes/ literature/ 2009/ mull er/ 25728-interview-with-herta-muller-german/ (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). Mauer aus Schweigen und Täuschung zu durchbrechen, 193 mehr noch die Idee des Glücks selbst fallen zu lassen, die sich als Schauplatz sozialer Machtstruk‐ turen und ihrer Perpetuierung, ja als eigentliche Unglücksursache erweist. Dorf und Familie stehen im Bann einer alles aufzehrenden „Unglücksmechanik“ 194 , die durch die Nicht-Thematisierung nonkonformer Gefühle verschleiert oder verborgen wird: „[W]ir sind eine glückliche Familie, verdammt noch mal, […] verdammt noch mal, das Glück frisst uns das Leben.“ (N, 93) Während Glück gemeinhin als etwas Gutes imaginiert wird, analysiert Müller die unglücklichen Folgen des Glücklichseins und riskiert damit - symbolisch gesprochen - selbst des Tisches verwiesen zu werden, wie die heftigen Reaktionen der deutsch‐ sprachigen Minderheit auf ihr erstes Buch gezeigt haben: „die haben mich ja ex-kommuniziert.“ 195 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang: Niederungen, Herztier Wie bis hierher gezeigt werden konnte, macht Müller vor allem auf die ne‐ gativen Aspekte kollektiver Eingebundenheit aufmerksam wie beispielsweise den Druck der Anpassung, die Mechanismen der Inklusion und Exklusion, die soziale Kontrolle, die Normen, Verbote und Tabus. Ihr besonderes Augen‐ merk richtet sich dabei auf die Sprache in ihren Varietäten und konkreten Gebrauchszusammenhängen: die Sprache als einem kollektiven Grenz- und Identitätsmarker, als Mittel der Täuschung und Entstellung der Wirklichkeit, als Ausdruck von Weltansicht, als Instrument der Autorität. Müllers Schreiben ent‐ springt einem kritischen Impuls gegen die starre, Einheits- und Reinheitsidealen verpflichtete Identitätskonzeption des banatschwäbischen Dorfes, dessen mo‐ 73 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang 196 Hübsch, Nachrichten aus der Resig-Nation, S. 303. 197 Der Behauptung von Bianca Bican, dass „Müller nicht die These eines dialogischen Schreibens“ vertrete, kann ich folglich nicht zustimmen. Bianca Bican / Gerhard Scheit, „Das Ausgelassene der Sprache im Teufelskreis der Diktaturen“. Literatur, Sprache und totale Herrschaft bei Jelinek und Müller. In: Janke / Kovacs (Hrsg.), Schreiben als Widerstand, S. 276-283, hier S. 278. 198 Bachtin unterläuft den Gegensatz zwischen Monolog und Dialog, indem er aufzeigt, dass monologisches Sprechen dialogisch strukturiert sein kann und, umgekehrt, der Dialog (in seiner herkömmlichen Bedeutung als Wechselrede zwischen mindestens zwei Personen) monologischen Charakter haben kann. Solche monologischen Dialoge finden sich auch im Werk Müllers, am prominentesten vielleicht in Reisende auf einem Bein, wo die Figuren häufig aneinander vorbeireden und keine Kommunikation im Sinne gegenseitigen Verstehens zustande kommt. Vgl. Teufel, 67 f. 199 Müller, Dankrede. Zit. nach Haupt-Cucuiu, Eine Poesie der Sinne, S. 82. nologische (das heißt repressive, auf Unterdrückung beruhende) Strukturen die Texte nicht nur abbilden, sondern auch dialogisch subvertieren. Das Anschreiben „gegen diese Identität“ 196 wird somit präziser greifbar als ein dialogisches Schreiben, 197 das aus changierenden Perspektiven erzählt und dabei auch andere Stimmen als die der Autorin miteinbezieht. Dass Müller ihr Schreiben an anderer Stelle mit dem „Diskurs des Allein‐ seins“ (Teufel, 57-73) in Zusammenhang bringt, bildet keinen Widerspruch zu dieser These. Mit Bachtin, der seine Theorie der Dialogizität am Beispiel von Dostojewskis Erzählmonologen entwickelt hat, lässt sich argumentieren, dass auch und gerade das Selbstgespräch, die ‚Alleinrede‘, dialogischen Charakter aufweisen kann. 198 Das Schreiben als Selbstgespräch (siehe auch Kap. 4.3.1) ‚antwortet‘ auf die Erfahrung der Sprachlosigkeit, aus welcher es zugleich einen Ausweg eröffnet (vgl. Teufel, 62). Es wird bei Müller zu einem Ort der Selbstaneignung und Selbstzugehörigkeit, weil es ihr gewährt, sich der eigenen Kindheit rückzuversichern: „Als mein Vater gestorben war, dachte ich immer öfter daran, daß es meine Kindheit vor lauter Stummheit nicht gibt, daß sie mir nicht gehört. Ich begann, Erlebnisse aus meiner Kindheit aufzuschreiben, um mir diese durch die Sprache anzueignen.“ 199 Hier wird bereits deutlich, dass Müllers „Schreiben gegen“ nicht nur zugehörigkeitsnegierenden, sondern zugleich konstruktiven, zugehörigkeitsstiftenden Charakter trägt. 2.4.1 Im Kreislauf der Nicht-/ Zugehörigkeit Das „Schreiben gegen“ ist immer auch eine Suche nach Fluchtwegen. Der Versuch der Herauslösung aus erdrückenden Machtverhältnissen mündet in Ambivalenzen und paradoxe Performanzen, die das Dazugehören als einen Verstrickungszusammenhang kenntlich werden lassen. Dies zeigt sich bereits in 74 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 200 Julia Müller, Frühe Prosa. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 14-24, hier S. 17. 201 Holden, The Hybridization and Dissolution of the Banat-Swabian Cultural Identity, S. 94. der Erzählung „Dorfchronik“, die in der Forschung vergleichsweise wenig Auf‐ merksamkeit gefunden hat: Stilistisch-formal betrachtet gehört „Dorfchronik“ einer Gruppe von Texten an, die nach gängiger Forschungsmeinung „keine nennenswerte Fortsetzung“ 200 in Müllers Œuvre findet. Schon hier findet sich aber jene Nicht-/ Zugehörigkeitsdynamik präfiguriert, die in den nachfolgenden Texten in Variationen wiederkehrt. In dieser Hinsicht kommt der Erzählung „Dorfchronik“ eine geradezu exemplarische Bedeutung für Müllers Schreiben im Widerspruch zu. Während die kindliche Perspektive der „Niederungen“ Nähe und Unmittel‐ barkeit suggeriert, dominiert in „Dorfchronik“ eine distanzierte, an manchen Stellen ironisch-sarkastische Erzählhaltung. Die dörflichen Institutionen, öf‐ fentlichen Plätze, Läden, Straßen und Häuser werden betont emotionslos von einer offenbar ortskundigen Stimme präsentiert, die sich - wie das kollektivie‐ rende „unser“ (N, 131) signalisiert - als ein der Dorfgemeinschaft zugehöriges Mitglied zu erkennen gibt, jedoch erst in den letzten beiden Absätzen als „Ich“ in Erscheinung tritt: Ich schließe das schwarze Friedhofstor hinter mir. Hinter dem Friedhof liegt die Wiese, die im Dorf Hutweide genannt wird. Auf der Hutweide stehen vereinzelte Bäume. Ich klettere auf einen Baum, der am Rand der Wiese steht, der aber ebensogut in der Dorfmitte stehen könnte, falls er nicht gar in der Dorfmitte steht. Ich halte mich mit beiden Händen an einem Ast fest und sehe die Kirche des Nachbardorfes, auf deren dritter Treppe sich ein Marienkäfer den rechten Flügel putzt. (N, 138) Der pronominale Wechsel erscheint zunächst abrupt: „Distinct in tone, structure and content“ 201 hebt sich das Ende der Erzählung deutlich vom Rest des Textes ab, was auch typographisch (durch eine Leerzeile) zum Ausdruck kommt. Die Geste der Schließung markiert nicht nur das Ende der Erzählung, sondern auch den Flucht- und Zielpunkt einer Bewegung der Dezentralisierung, die weg von der „Dorfmitte“ (N, 125) hin zum „Rand“ (N, 138) einer Wiese außerhalb des Dorfes führt. Damit wird ein Prozess der Emanzipation angedeutet, der sich gleichermaßen als Ablösung von territorialen Bindungen (‚detachment‘) wie als Aufbruch zu neuen (Wahrnehmungs-)Horizonten jenseits umzäunter Räume der Zugehörigkeit gestaltet. Nicht zufällig ist der Friedhof als Ort der Trennung und des (endgültigen) Abschieds die letzte Station der Besichtigung: Sie besiegelt symbolisch das Ende des Dorfes, dessen zunehmender Verfallsprozess bereits zu Beginn der Erzählung sinnbildlich umschrieben wird. 202 Der Akt der Loslösung 75 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang 202 Die Bäume im Dorf gehen schneller ein als zu gedeihen. Vgl. N, 125: „Die Pappeln wachsen jährlich fünf Zentimeter an den oberen Astspitzen und verdorren fünfzehn an den unteren.“ 203 Holden, The Hybridization and Dissolution of the Banat-Swabian Cultural Identity, S. 94. 204 Hier drängt sich das Bild eines immerwährenden, nicht enden wollenden Teufelskreises auf, das Müllers Nobelvorlesung den Titel gibt. Vgl. Schnee, 7-21 (= „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“). 205 Ackermann, „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. 206 Holden, The Hybridization and Dissolution of the Banat-Swabian Cultural Identity, S. 95. wird als performative Geste vollzogen, durch welche die narrative Instanz gesteigerte Präsenz gewinnt, aber auch an Halt verliert. Das Heraustreten aus dem vertrauten Raum bringt den eigenen Standort ins Wanken, birgt aber auch die Möglichkeit der Neuverortung. Entgegen der Interpretation von Holden deutet die oszillierende Bewegung zwischen Zentrum und Peripherie demnach mehr auf eine Verunsicherung und Desorientierung des Ich als auf die Auflösung kollektiver Grenzziehungen im Sinne einer Hybridisierung der banatschwäbischen Identität und Kultur hin. 203 Der letzte Abschnitt der Erzählung nimmt auf den Anfang Bezug, sodass eine Kreisstruktur entsteht. Das Ich findet sich scheinbar wieder dort, wo es herkam: in der Dorfmitte. Der Weg des Hinter-sich-Lassens, der distanzierenden Loslösung von altbekanntem Territorium folgt keiner linearen Entwicklungs‐ logik, sondern wird als ein aporetisches Projekt gekennzeichnet, das in der Dialektik von Re- und Deterritorialisierung gefangen bleibt. 204 Der Kreislauf der Nicht-/ Zugehörigkeit wirft Müllers Erzählerinnen und Protagonistinnen, mithin das schreibende Subjekt selbst immer wieder an den Anfang zurück. Das damit verknüpfte Gefühl der Unentrinnbarkeit, des Nicht-entkommen-Könnens bildet für Müller ein wesentliches Bestimmungsmerkmal von Heimat, wie aus einem Interview mit Ulrike Ackermann hervorgeht: „Heimat ist das, was man nicht los wird [sic! ] und was man nicht ertragen kann. Je mehr man sich losreißen will, umso mehr verstrickt man sich darin.“ 205 Es lässt sich festhalten, dass bereits dieser frühe Text einer für Müllers Schreiben richtungsweisenden Bewegung folgt: Er wird deutbar als der Versuch, sich aus dem Dorf und seinem doppelten Macht- und Sprachregime weg- oder herauszuschreiben. Der Schluss der Erzählung verbildlicht die Ambivalenz dieser Dynamik: Die Herauslösung aus kollektiven Bezügen und deren bin‐ denden Normen bewirkt einerseits eine Auflösung fester Gewissheiten, ande‐ rerseits eine Freisetzung von Subjektivität, die mit dem Stichwort „unrealistic“ 206 nur sehr unzulänglich beschrieben ist. So ‚putzig‘ der letzte Satz der Erzählung 76 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 207 Stig Sæterbakken, Jeder Satz ist ein Ereignis. In: Helgard Mahrdt / Sissel Lægreid (Hrsg.), Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller. Würzburg 2013, S. 177-190, hier S. 180. 208 Müller, Niederungen, Rotbuch Fassung, S. 41. 209 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 93. 210 ‚Angst‘ leitet sich etymologisch von ‚Enge‘ ab und birgt somit eine physisch-räumliche Dimension. Vgl. das Lemma ‚Angst‘. In: Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. URL: https: / / www.dwds.de/ wb/ etymwb/ Angst (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). - Zum angstbesetzten, „klaustrophobische[n] und gewissermaßen ago‐ auch daherkommen mag - er birgt ein widerständiges Potenzial. Schon hier deutet sich nämlich ein Verfahren an, das für Müllers Texte charakteristisch werden soll: Der mikroskopische Blick aufs Detail, das genaue Hinsehen, das Ganzheit negiert und gegen „jede abstrakte Totalität, oder auch: jede totali‐ täre Abstraktion“ 207 opponiert. „Da aber im Banat alle Dörfer Nachbardörfer sind“ (N, 130) und sich in ihren Strukturen gleichen, muss fraglich bleiben, ob der Marienkäfer, welchen die Erzählinstanz aus der Vogelperspektive des erkletterten Baumes erblickt, einen glücklichen Ausweg verspricht. 2.4.2 Zwischen Anbindung und Loslösung Der Wunsch nach Loslösung aus erdrückenden Regimen der Zugehörigkeit bildet sowohl ein Kernelement des Erzählbands Niederungen als auch des Romans Herztier. Als Diktatur en miniature gleicht das Dorf einer von aller Welt abgeschnittenen „schwarzen Insel“ 208 ; es steht, klein und verschlossen, „wie eine Kiste in der Gegend“ (N, 100). Wie die Wanne in „Das schwäbische Bad“ evoziert das Bild der Kiste die Vorstellung eines Raumes als Container oder Behälter und vermittelt damit zugleich ein Konzept von ‚Identität‘ als geschlossener Entität. Im Gegensatz zu den positiven Konnotationen, die dem Begriff von ‚Zugehö‐ rigkeit‘ als einem Gefühl des Aufgehobenseins anhaften, transportiert diese Bildsprache Gefühle der Enge und des Gefangenseins. Die Charakterisierung des Dorfes als hermetisch abgeschlossene Enklave verdeutlicht, wie schwierig es ist, „aus einem durch kollektive Bande stabilisierten Zugehörigkeitsraum wieder herauszukommen“ 209 . Ferner deutet sie darauf hin, dass Zugehörigkeit für Müller kein erstrebenswertes Ziel, sondern eher eine Konstellation der Ausweglosigkeit beschreibt, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. In sprachlichen Bildern wie dem des „zugeschnürten Dorfes“ (N, 121) verdichtet sich das Erstickende der sozialen Beziehungen, konkretisiert sich das Gefühl der Angst in seiner räumlichen und physisch bedrückenden, bereits etymologisch verbürgten Erfahrungsdimension. 210 Die Semantik des ‚Zuschnürens‘, des ‚An‐ bindens‘, der ‚Schlinge‘, des ‚Stricks‘ oder der ‚Verstrickung‘, die in Variationen 77 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang raphobische[n]“ Raumerleben in Müllers Texten vgl. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 173. 211 Siehe dazu meine Analyse des kurzen Prosastückes „Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch“ (Kap. 4.3.1). 212 „Der deutsche Frosch“- eine Metapher, die Müller schon in der Erzählung „Niede‐ rungen“ (vgl. N, 103) verwendet, um die ethnozentrische Ideologie der dörflichen Gemeinschaft und das bedrückende Lebensgefühl in ihr zu beschreiben - „schnürte das ganze zappelnde Dorf zusammen. Dieses Aneinanderziehen und Wegstoßen, […]“ (Teufel, 21). 213 Herta Müller, Wie kommt man durchs Schlüsselloch? In: Corina Caduff / Reto Sorg (Hrsg.), Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München 2004, S. 141-148, hier S. 143. in verschiedenen Texten Müllers wiederkehrt und das erzählerische Werk mit den poetologischen Äußerungen der Autorin verknüpft, fungiert als Ausdruck ambivalenter Dynamiken von Nicht-/ Zugehörigkeit und würgender Bande der Gegenseitigkeit. Sie verdeutlicht, dass ‚Heimat‘ und Zugehörigkeit bei Müller stets zwiespältige Gefühle hervorrufen, die einer doppelten Bewegung von Anziehung und Abstoßung unterliegen. Diese Bewegung kann sich verschieden artikulieren. Sie kann - wie in der Erzählung „Dorfchronik“ - performativ vermittelt, körperlich ausagiert, 211 metaphorisch 212 verdichtet oder auch defini‐ torisch zugespitzt werden. Ähnlich wie im schon zitierten Interview mit Ulrike Ackermann (siehe Kap. 2.4.1) beschreibt Müller in ihrem Poetik-Vortrag „Wie kommt man durchs Schlüsselloch? “ das Dazugehören als ein Gefühl, „in das man sich, während man es abstreift, nur tiefer verstrickt“ 213 . Auf Grundlage dieser Bestimmung können ihre Texte - im ursprünglichen Sinn dieses Wortes (lat. ‚textum‘) - als affektive ‚Gewebe‘ verstanden werden, in denen Ängste, Sehnsüchte und Widersprüche als mobilisierende Kräfte wirksam werden: Wie später die Protagonisten in Herztier (vgl. H, 55), ist das Kind in den „Nie‐ derungen“ von Fluchtgedanken erfüllt. In einem Moment fragiler Zärtlichkeit, der ins Brutale kippt, wird es sich bewusst, dass es „keine Eltern hatte, dass diese beiden niemand für mich waren“ und fragt sich, weshalb es „da in diesem Haus, in dieser Küche mit ihnen saß, ihre Töpfe, ihre Gewohnheiten kannte“, weshalb es „nicht von hier weglief, in ein anderes Dorf, zu Fremden und in jedem Haus nur einen einzigen Augenblick blieb, und dann weiterzog, noch bevor die Leute schlecht wurden“ (N, 72 f.). ‚Fremdheit‘ ist hier gleichbedeutend mit Ungebundenheit und wird als Gegenmodell zu einer Form der Zusammen‐ gehörigkeit entworfen, die - um noch einmal Müllers eigenen Ausdruck zu gebrauchen - lediglich auf „äußeren Dingen“ (Apfelkern, 17) wie dem Teilen von materiellen Ressourcen und Gewohnheiten beruht. Lediglich der vorbei‐ fahrende Zug eröffnet eine Fluchtperspektive; doch wird diese Möglichkeit nur 78 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 214 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 168. 215 Die Forschung hat „die Schwierigkeit des Gelingens von Freundschaft unter den Bedingungen der Diktatur“ als „inhaltliches Zentrum des Romans“ benannt. Tanja van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware. Gedicht-V/ Zerstörung in Herta Müllers Roman Herztier. In: Deeg / Wernli (Hrsg.), Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 151-164, hier S. 152. Ähnlich erblickt Moyrer im Ausloten der „Grenzen zwischen Freundschaft, Vertrauen und Verrat unter den Bedingungen der Diktatur“ das Kernthema des Romans. Monika Moyrer, Herztier. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 41-94, hier S. 42. angedeutet, um sie in der resignativen Einsicht der Unentrinnbarkeit gleich darauf wieder aufzuheben: Sooft ich mit Großvater unten im Tal Sand ausheben war, fuhr ein schönerer Zug am Fluss vorbei. Ich hörte ihn von weitem. Er machte tiefe rhythmische Geräusche, und es waren Köpfe in seinen Fenstern. Ich sprang vor Freude in die Höhe und winkte. […] Er führt seine schönen Frauen in die Stadt, und ich werde hier sterben neben einem Haufen Pferdemist, auf dem die Fliegen brummen. (N, 83 f.) Die Stadt wird hier in Opposition zum beengten Lebensgefühl im dörflichen Mikrokosmos gebracht. Im Wunschdenken der Ich-Erzählerin erscheint sie als ein positiv besetzter Sehnsuchtsraum, der eine Befreiung von den Stricken der Zugehörigkeit verspricht. Was für die Ich-Erzählerin in den „Niederungen“ ein Wunschtraum bleibt, wird für die Protagonisten des Romans Herztier Wirklich‐ keit. Sie verlassen ihre Dörfer, um in der Stadt zu studieren und ein neues Leben zu beginnen. Doch werden ihre Hoffnungen schnell desillusioniert: Die Machtstrukturen, die den dörflichen und den städtischen Raum beherrschen, erweisen sich als strukturanalog. Mehr als ein bloßer Schauplatz der Narration, bildet der abgeschottete Raum des Dorfes, der Raum der Kindheit, einen zentralen Bezugspunkt von Müllers Schreibens. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die thematische Ausein‐ andersetzung mit der städtischen Diktatur bzw. mit dem totalitären Regime Rumäniens. Verschiedentlich, am pointiertesten vielleicht in Herztier, hat Müller die strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Erfahrungsräumen betont: „In einer Diktatur kann es keine Städte geben, weil alles klein ist, wenn es bewacht wird.“ (H, 52) Die Zustände der städtischen Welt gleichen denen der dörflichen Welt, was sich in der „Verwandtschaft der Raumfiguren“ 214 , aber auch in der mit Rückblenden arbeitenden Erzählstruktur sowie in der komplexen inhaltlichen Motivtechnik des Romans niederschlägt. In die eigentliche Romanhandlung, welche die Möglichkeit von Freundschaft unter totalitären Lebensverhältnissen zum Thema hat, 215 „sind fragmentierte Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin als Retrospektiven eingeschoben, die 79 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang 216 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 169. - Die folgende Passage beispielsweise nimmt sich wie eine Variation der oben zitierten Stelle aus den „Niederungen“ (vgl. N, 72) aus: „Ich wurde im Zischton angeredet. Auf die Hände hat man mir geschlagen […]. Aber niemand hat je gefragt, in welchem Haus, an welchem Ort, an welchem Tisch, in welchem Bett und Land ich lieber als zu Hause gehen, essen, schlafen oder jemanden lieben würde in Angst.“ (H, 42); vgl. dagegen H, 212: „Lieber soll die Großmutter immer singen, die Mutter immer Teig über den Tisch ziehen, der Großvater immer Schach spielen, der Vater immer Milchdisteln abhacken, als sich auf einmal wer weiß wie zu ändern. Lieber sollen diese hier so häßlich einfrieren, als andere Leuten [sic! ] werden, denkt sich das Kind. Lieber zwischen Häßlichen im Zimmer und im Garten zu Hause sein, als Fremden zu gehören.“ Dieses Wiedererzählen in Varianten wird mich später noch ausführlicher beschäftigen (siehe Kap. 5 dieser Arbeit). 217 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 169. 218 Teresa Kovacs, Widerständiges Schreiben. Subversion bei Elfriede Jelinek und Herta Müller. In: Janke / Dies. (Hrsg.), Schreiben als Widerstand, S. 237-252, hier S. 241. häufig stark an die ‚Niederungen‘ erinnern“ 216 . Im Wechselspiel der Zeitebenen wird „die strukturelle Verwandtschaft der Gewalterfahrungen und der perma‐ nenten Kontrolle in der dörflichen Gemeinschaft bzw. der Familie auf der einen Seite und derjenigen durch den Staat auf der anderen hervorgehoben“ 217 . Obwohl die (namenlose) Ich-Erzählerin und ihre Freunde Edgar, Georg und Kurt vom Dorf in die Stadt ziehen, hört der Raum, den sie scheinbar hinter sich gelassen haben, nicht auf, sie in der Gegenwart einzuholen. Die Briefe, welche die Mütter den vier Protagonisten ins Studierendenwohnheim schicken, um ausführlich von ihren Krankheiten zu berichten, lassen „das Dorf mit seinen Strukturen und Kontrollmechanismen beständig in die Stadt eindringen“ 218 . Sie bieten ein besonders eindrückliches Beispiel für die unauflöslichen Fesseln der Zugehörigkeit zum dörflichen Herkunftskontext: Die Krankheiten, dachten sich die Mütter, sind eine Schlinge für die Kinder. Sie bleiben in der Ferne angebunden. Sie wünschten sich ein Kind, das die Züge nach Hause sucht, durch Sonnenblumen oder Wald fährt und sein Gesicht zeigt. Ein Gesicht sehen, dachten sich die Mütter, in dem die angebundene Liebe eine Wange oder eine Stirn ist. Und hier und da die ersten Falten sehen, die ihnen sagen, daß es uns im Leben schlechter geht als in der Kindheit. Aber sie vergaßen dabei, daß sie dieses Gesicht nicht mehr streicheln und nicht mehr schlagen durften. Daß es ihnen nicht mehr möglich war, es zu berühren. Die Krankheiten der Mütter spürten, daß Losbinden für uns ein schönes Wort war. (H, 54) Die Briefe der Mütter fungieren als ein Mittel emotionaler Erpressung, um die Bande der Zugehörigkeit - hier ins Bild der „Schlinge“ gefasst - über die räumliche Distanz hinweg aufrechtzuerhalten. Die Stelle steht in einem 80 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 219 Ricarda Schmidt, Metapher, Metonymie und Moral. Herta Müllers Herztier. In: Haines (Hrsg.), Herta Müller, S. 60. 220 Vgl. Patrut, „Schwarze Schwester“ - „Teufelsjunge“, S. 160; Grazziella Predoiu, Rumä‐ niendeutsche Literatur und die Diktatur. „Die Vergangenheit entlässt dich niemals“. Hamburg 2004, S. 52; Marisa Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub. Berlin / Boston 2014, S. 271; Ricarda Schmidt, Metapher, Metonymie und Moral, S. 67; Valentina Glajar, The German Legacy in East Central Europe. As Recorded in Recent German Literature. Columbia 2004, S. 132. 221 Ahmed beschreibt diese ‚Klebrigkeit‘ als eine „form of relationality, or a ‚withness‘, in which the elements that are ‚with‘ get bound together. One can stick by a friend. One can get stuck in traffic. Some forms of stickiness are about holding things together. Some are about blockages or stopping things moving. When a sign or object becomes sticky it can function to ‚block‘ the movement (of other things or signs) and it can function to bind (other things or signs) together. Stickiness helps us to associate ‚blockages‘ with ‚binding‘“. Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh 2004, S. 91; zu Ahmeds Konzept des ‚Klebrigen‘ siehe auch Meißner, Relational Becoming, S. 116 und S. 138-142. größeren Verweisungszusammenhang und bildet mit anderen Motiven, die als erzählerische „Bindungselemente“ 219 fungieren, ein Gefühls- und Bedeutungs‐ gewebe, das den ganzen Roman durchzieht. Aus diesem Gewebe greife ich im Folgenden zwei motivische Fäden heraus, durch welche die These von der Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang eine weitere Bekräftigung erfährt: zum einen das Motiv des Gürtels und zum anderen das Motiv der mitgebrachten Maulbeerbäume, das im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Stelle mit den Briefen der Mütter aufgerufen wird: „Wir gehörten ganz zu denen, die Maulbeerbäume mitbrachten und zählten uns in den Gesprächen nur halb dazu.“ (H, 54) Das Motiv der Maulbeerbäume hat in der Forschung verschiedene Deutungen erfahren: als Zeichen der Erinnerung, als Symbol der Herkunft, als Bild des Aufbruchs, als Zeugnis der Vergangenheit, als Metapher der Träume von einem besseren Leben sowie als Ausdruck einer Identität des Dazwischen, die im Spannungsfeld von dörflicher Herkunftskultur und rumänischer Stadtkultur entsteht. 220 Als Ergänzung dazu möchte ich mit Ahmed eine Lesart vorschlagen, welche die Maulbeerbäume als Symbol einer ‚klebrigen‘ („sticky“) Bindung an den dörflichen Zugehörigkeitsraum interpretiert. 221 Die Klebrigkeit dieser Bindung steht dem Wunsch nach Loslösung entgegen, den die Figuren mitein‐ ander teilen. Sie verhindert oder blockiert die Bewegung des ‚Hinaus‘, sodass aus den Dörflern auch keine Städter werden können: „Ich erzählte von Säcken mit den mitgebrachten Maulbeerbäumen, von den Höfen alter Leute und von Lolas Heft: aus der Gegend hinaus und hinein ins Gesicht. Edgar nickte und Georg sagte: Alle bleiben hier Dörfler.“ (H, 52) Selbst ein Ortswechsel kann die 81 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang 222 Petra Renneke, Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne. Heidelberg 2008, S. 255. 223 Herta Müller, Um Gottes willen nicht Marx. In: Dies., Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg 1992, S. 46-51, hier S. 48. 224 Dies., Zwischen den Augen zwischen den Rippen. In: Dies., Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett, S. 17-20, hier S. 17. 225 Ackermann, „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. - In einer ähnlichen Bildsprache bezeichnet die Autorin Terézia Mora den Zugehörigkeitsraum ihrer mittelosteuropäi‐ schen Herkunft als ein „Bündel“ bzw. als ein „Erbe“, das ihr ohne eigenes Zutun mitgegeben worden sei (Terézia Mora, Das Kreter-Spiel. Oder: Was fängt die Dichterin mit ihrer Zeit an. In: Sprache im technischen Zeitalter 183/ 45 (2007), S. 333-343, hier S. 334). Und die Ich-Erzählerin von Rakusas Mehr Meer spricht vom „Osten“ als einer „Bagage“ (MM, 14), die sie auf allen Reisen unweigerlich begleitet. „mitgebrachte Gegend“ (H, 43, 55), die Spuren der Herkunft, nicht auslöschen. Die im Roman vielfach wiederkehrende Rede von „Gegenden in den Gesichtern“ (H, 41) verweist auf den körperlichen Aspekt dieser Anhaftung: Lola kam aus dem Süden des Landes, und man sah ihr eine arm gebliebene Gegend an. Ich weiß nicht wo, vielleicht an den Knochen der Wangen, oder um den Mund, oder mitten in den Augen. […] In Lolas Heft las ich später: Was man aus der Gegend hinausträgt, trägt man hinein ins Gesicht. (H, 9 f.) Hier zeigt sich, wie „Topographien sich zu […] Physiognomien konfigurieren“ 222 , sich in den Körper einschreiben und an ihm sichtbar werden. Die These, dass Menschen ihre räumlichen und sozialen Herkunftskontexte aufgrund der ‚Klebrigkeit‘, die dieser Beziehung anhaftet, nicht einfach abstreifen können, kommt nicht nur in den literarischen Texten im engeren Sinne zum Ausdruck. In einer ihrer Kolumnen für die Schweizer Monatszeitschrift Du spricht Müller - mit fast identischen Formulierungen wie in Herztier - von Rumänien als dem „zerbrochene[n] mitgebrachte[n] Land“ 223 . Die Beziehung „zwischen einem Land und einer Person“ wird nicht als eine vom Individuum selbstbestimmt wählbare und aus freien Stücken aufrechterhaltene Form der Relation, sondern als eine körperliche (An-)Bindung verstanden, die auf Reziprozität beruht: „Das ist ein Gewicht, das man annimmt, auch wenn man es nicht erträgt. Man trägt dieses Land: an den Fußsohlen, an den Fingerspitzen, im Nacken und an der Kehle. / Das Tragen ist gegenseitig.“ 224 Die Rede vom „Gewicht“ der Zugehörigkeit verweist in ihrer Doppeldeutigkeit sowohl auf die affektive Bin‐ dungskraft als auch auf die Last dieser Beziehung. Die Herkunft lässt sich nicht abschütteln - sie ist, wie Müller in einem Interview erklärt, eine ungewollte Mitgift: das „Gepäck, das man mitkriegt“ 225 und überallhin mitschleppt. 82 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 226 In dieser Erzählung werden abermals alte Dorfrituale angeprangert, Kerweih und Trachtenkleid repräsentieren dabei Elemente des Einfügens in die Zwangsgemeinschaft des Dorfes, welcher sich die namenlose Ich-Erzählerin (vergeblich) zu entziehen versucht. Die Zugehörigkeit des Individuums zum dörflichen Kollektiv wird hier metaphorisch als einschnürendes Korsett beschrieben, an welchem die Erzählerin fast zu ersticken droht: „Die Mutter zieht mir die achte Schnur um die Hüften. Die Schnüre sind weiß und eng. Die Schnüre sind heiß und drücken an den Hüften und zerdrücken mir den Atem im Hals.“ (N, 118) - Zum Motiv des Nägelschneidens, das ebenfalls schon im Erzählband Niederungen vorgebildet ist, vgl. N, 46 f. und 73. 227 Vgl. H, 7: „Ich kann mir heute noch kein Grab vorstellen. Nur einen Gürtel, ein Fenster, eine Nuß und einen Strick. Jeder Tod ist für mich wie ein Sack.“ Für den Leser bzw. die Leserin erschließt sich erst rückblickend die synekdochische Bedeutung dieser Dingsymbole: „Mit dem Gürtel hat sich die Kommilitonin Lola erhängt; Georg stürzt sich aus dem Fenster eines Übergangsheims in Deutschland; Tereza hat ein Krebsge‐ schwür, das ihren Tod verursacht; und Kurt erhängt sich. Die Todesinstrumente und -ursachen werden zu empirischen Symbolen für mörderische Verhältnisse […].“ Roxana Nubert / Ana-Maria Dascălu-Romitan, Das Bild der Diktatur in Herta Müllers Roman Herztier - Mit besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Mittel. In: Germanistische Beiträge 36 (2015), S. 13-32, hier S. 21. Das Gürtel-Motiv in Herztier versinnbildlicht den besitzergreifenden und gewaltsamen Aspekt der Zugehörigkeit als einer Praktik der Anbindung, wobei ‚Anbindung‘ hier ganz wörtlich zu verstehen ist: Ein Kind läßt sich die Nägel nicht schneiden. Das tut weh, sagt das Kind. Die Mutter bindet das Kind mit den Gürteln ihrer Kleider an den Stuhl. Das Kind hat trübe Augen und schreit.[…] Auf einen Gürtel, auf den grasgrünen, tropft Blut. Das Kind weiß: Wenn man blutet, dann stirbt man. Die Augen des Kindes sind naß und sehen die Mutter verschwimmen. Die Mutter liebt das Kind. Sie liebt es wie eine Sucht und kann sich nicht halten, weil ihr Verstand genauso an die Liebe angebunden ist, wie das Kind an den Stuhl. (H, 14) Auf das Festbinden, das als Disziplinierungsmaßnahme schon in der Erzäh‐ lung „Das Fenster“ in Niederungen auftaucht, 226 reagiert das Kind mit dem ohnmächtigen Ruf: „Losbinden, losbinden.“ (H, 17) Die Mutter-Kind-Beziehung wird somit abermals durch den Gegensatz von Anbindung und Loslösung charakterisiert. Im Verlauf der Erzählung wird das Gürtel-Motiv, das schon am Romananfang aufgerufen wird und dort, als zunächst rätselhaftes Dingsymbol auf eine von vier Todesarten verweist, 227 wiederholt aufgegriffen und durch unterschiedliche Kontextualisierungen nach und nach mit Bedeutung angerei‐ chert. Vor Lolas Tod sieht die Ich-Erzählerin am Rücken ihrer Kommilitonin eine „grindige Schnur“ (H, 22), was zum einen als Vorausdeutung auf das verhängnis‐ volle Schicksal der Protagonistin - ihren vorgeblichen Selbstmord - betrachtet 83 2.4 Zugehörigkeit als Verstrickungszusammenhang 228 Vgl. Bozzi, Der fremde Blick, S. 81. 229 Vgl. Friederike Reents, Trauma. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 227-235, hier S. 232. - Nach Lolas Tod trägt die Ich-Erzählerin „keinen Gürtel mehr“ (H, 41), was auf ein Gefühl der schuldhaften Verstrickung hinweisen könnte. 230 Beverley D. Eddy, Testimony and Trauma in Herta Müller’s Herztier. In: German Life and Letters 53/ 1 (2000), S. 56-72, hier S. 69 f. 231 Kovacs, Widerständiges Schreiben, S. 241. 232 Meißner, Relational Becoming, S. 209. werden kann, zum anderen den Körper als Ort der Einschreibung machtvoller Zugehörigkeitsverhältnisse problematisiert. 228 Dass sich Lola mit dem Gürtel der Ich-Erzählerin erhängt (vgl. H, 30), weckt in der Ich-Erzählerin nicht nur alte Kindheitstraumata, 229 sondern führt auch zu einer Überlagerung und Verknüp‐ fung verschiedener Nicht-/ Zugehörigkeitsräume. Die im Dorf herrschenden Anbindungspraktiken kehren im Kontext der städtischen Diktatur in noch drastischerer Form wieder: „The mothers’ attempts to prevent their children’s pursuit of freedom and happiness is replicated in the Ceauşescu state, which, on the one hand, ‚ties‘ its citizens by preventing them from travelling abroad, and, in more extreme cases, by hanging them with a belt or rope.“ 230 Dass sich die Figuren aus dieser doppelten Anbindung nicht zu lösen vermögen, verdeutlicht nicht zuletzt auch die geschlossene Rahmenstruktur des Romans (vgl. Kap. 4.2.1). Die Technik der motivischen Verknüpfung „lässt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig präsent werden“ 231 . Sie erzeugt eine räumlich-zeitliche Simultaneität, welche die unterdrückenden - und mehr noch mörderischen - Effekte beider Zugehörigkeitsregime thematisiert und damit zugleich die nor‐ mativ aufgeladene Vorstellung von Zugehörigkeit als einem erstrebenswerten Gut negiert. Der Roman beschreibt einen Entwurf von Zugehörigkeit als oszillierende „Bewegung zwischen Anbindung und Loslösung“ 232 und legt dabei den Nachdruck einerseits auf die ‚Klebrigkeit‘ der emotionalen Anbindung, die verhindert, dass die Figuren den Raum ihrer Herkunft hinter sich lassen können, sowie andererseits auf die Kontinuität einschnürender Erfahrungen der Zugehörigkeit. Erstes Zwischenresümee Müllers Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit ist von einer grundlegenden Ambiva‐ lenz bestimmt: Einerseits ist diese Poetik von einem widerständigen Impetus geleitet. Andererseits signalisiert der stete Rekurs auf die dörfliche Lebenswelt eine geradezu „verzweifelte Bindung“ 233 an diesen Raum. Müllers Schreiben ist 84 2 Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Herta Müller 233 Marişescu, Raumfigurationen, S. 80. 234 Vgl. Werner Jung, Kein Ort. Nirgends. Herta Müllers Poetik der Ortlosigkeit nebst einigen Bemerkungen zur Poetik des Raumes allgemein. In: Andrea Benedek u. a. (Hrsg.), Interkulturelle Erkundungen. Leben, Schreiben und Lernen in zwei Kulturen. Teil 1. Frankfurt am Main u. a. 2012, S. 349-359. demnach nicht ‚ortlos‘ 234 , sondern bleibt im Grunde einem Ort verhaftet, den es in immer neuen Anläufen umkreist, an den es zurückkehren muss, um sich von ihm zu entfernen. Im paradoxen Kräftefeld von Anziehung und Abstoßung erkunden Müllers Texte Möglichkeiten der Loslösung aus kollektiven Zugehö‐ rigkeitsregimen und stellen damit zugleich die spezifische Bindungskraft von biographisch bedeutsamen Orten, Räumen und Landschaften unter Beweis. Sie unterstreichen überdies die Performanz der Zugehörigkeit, die weder als selbstverständlich gegebene Tatsache noch als etwas per se Positives und Erstrebenswertes erscheint, sondern sich als eine fortgesetzte, immer wieder neu aufgenommene Herausforderung erweist. Aus den bisher analysierten Texten lässt sich festhalten, dass Müller ‚Zugehörigkeit‘ in mehrfacher Hinsicht begreift: als eine Relation der Abhängigkeit, als sich gegenseitig bedingende Prozesse der Anbindung und Ablösung, als Verstrickungszusammenhang sowie als eine Konstellation der Ausweglosigkeit. Welche Entwürfe von Zugehörigkeit im Vergleich dazu Rakusas Texte artikulieren, wird im folgenden Kapitel näher zu untersuchen sein. 85 Erstes Zwischenresümee 235 Elsbeth Pulver, Aussparen - mit Sprache umstellen. Zu neuen Texten von Ilma Rakusa. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.08.1991, S. 25-26, hier S. 25. 236 Anna Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, empirische Anrufung und Lifestyle-Em‐ blem. Auf Spurensuche im Globalen Norden. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), S. 32-38, hier S. 32. 237 Ich schließe mich hier der Interpretation von Anna Lipphardt an, die das ‚Nomadische‘ als „wandernden Begriff “ im Sinne Bals versteht und - mit durchaus kritischer Intention - die ‚Reisen‘ nachvollzieht, die zur Verbreitung und Popularisierung dieses Konzepts in unterschiedlichen Feldern (wie Kunst, Wirtschaft oder Mobility Studies) beigetragen haben. Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 32 f. 238 Ebd., S. 34. 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa „Ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit geht mir völlig ab“ (Sprache, 9), hat Ilma Rakusa in einer ihrer Poetik-Vorlesungen gesagt und sich dabei auf ihren wechselvollen Werdegang bezogen, den sie als prägend für das eigene Schreiben empfindet. In Übereinstimmung mit dieser Selbstaussage hat schon die frühe Kritik bemerkt, dass Rakusas Erzählband Steppe „von einer ungewöhn‐ lichen, kosmopolitischen Lebenserfahrung“ 235 bestimmt ist. Diese Erfahrung manifestiert sich besonders im Motiv des Nomadischen, das sich durch alle Werke der Autorin zieht und sich im Spannungsfeld von lebensweltlicher Konkretion, künstlerischer Selbstreflexion und metaphorischer Abstraktion bewegt. Das folgende Kapitel setzt sich zum Ziel, die komplexe Gemengelage zu analysieren, in welcher sich das Nomadische in seiner mehrfachen Bedeutung als literarisches Motiv, theoretisches Konstrukt und lebensweltlich verankerte, poetologische Leitvokabel im wechselseitigen Prozess zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung ausdifferenziert. Nicht nur steht das ‚Nomadische‘ - im weitesten Sinne seiner Bedeutung - für eine Lebensform, die durch „ein hohes Maß an Mobilität“ 236 geprägt ist, sondern der Begriff selbst ‚wandert‘. Mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal lässt sich das Nomadische als ein ‚travelling concept‘ verstehen, das nicht an disziplinäre Grenzen gebunden ist, sondern in und zwischen verschie‐ denen Kontexten zirkuliert und im Vollzug dieser Bewegung seine Bedeutung transformiert. 237 Einige Eckpunkte seiner jüngeren Begriffsgeschichte seien hier kurz umrissen: Als „theoretische Figur“ 238 wurde der Nomade von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem 1980 ver‐ öffentlichten Buch Milles Plateaux entworfen und mit positiven Konnotationen 239 Das Konzept einer ‚kleinen Literatur‘ (‚littérature mineure‘), das Deleuze und Guat‐ tari am Beispiel Kafkas entwickelt haben und auf das in der interbzw. transkultu‐ rellen Literaturwissenschaft sowie in der Forschung zu literarischer Mehrsprachigkeit häufig Bezug genommen wird, steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des ‚Nomadischen‘: „Das Problem einer kleinen Literatur“ ist für Deleuze und Guattari gleichbedeutend mit der Frage, „wie […] man in der eigenen Sprache Nomade“ wird. Deleuze / Guattari, Kafka, S. 28 f. 240 Vgl. Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 34 f. 241 Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Cambridge, Massachusetts / London 2000, S. 361 f. 242 Rosi Braidotti, Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual. Difference in Contemporary Feminist Theory. New York 1994, S. 19. 243 Mieke Bal, Kulturanalyse. Frankfurt am Main 2006, S. 13; vgl. auch Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 33. besetzt. Mit ihrer Befürwortung des Nomadischen als subversive Kraft, als Modell des Werdens, als Form des Denkens und nicht zuletzt als literarische Schreibweise 239 haben Deleuze und Guattari maßgeblich zur Erfolgsgeschichte des Begriffs beigetragen und einen wichtigen Impuls für alternative Entwürfe von Subjektivität jenseits essentialistischer Fixierungen geliefert. Andere Auto‐ rinnen und Autoren, wie zum Beispiel die feministische Theoretikerin Rosi Brai‐ dotti, der Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser oder das Autorenduo Michael Hardt und Antonio Negri, haben dieses Konzept aufgegriffen und die in ihm mitschwingenden Wertungen und Momente von Flexibilität, Ungebundenheit und kosmopolitischer Offenheit noch deutlicher betont. 240 Im Zusammenhang der meine Arbeit leitenden Fragestellung nach einer Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit ist bezeichnend, dass die Attraktivität des No‐ madischen für diese Theoretiker und Theoretikerinnen, so unterschiedlich ihre Zielrichtung im Einzelnen auch ist, wesentlich in seinem Widerstandspotenzial gegen kategoriale Festschreibungen, mithin im Aspekt der Nicht-Zugehörig‐ keit liegt: Für Hardt und Negri birgt das Nomadische das Versprechen einer Befreiung aus den Ketten der Zugehörigkeit; im Kampf gegen „the slavery of be‐ longing to a nation, an identity, and a people“ repräsentiert das Nomadische für sie die durchweg positive - „entirely positive“ - Möglichkeit einer „resistance to bondage“. 241 In ähnlich hochgestimmten Tönen schwärmt Braidotti in ihren Schriften zum Nomadischen von Nicht-Orten, „where all ties are suspended […]. Oases of nonbelonging, spaces of detachment.“ 242 An dieser euphorischen Stilisierung des Nomadischen als einer Oase der Nicht-Zugehörigkeit wird besonders gut deutlich, was Bal in ihren Überlegungen zu ‚travelling concepts‘ schreibt: dass Begriffe nie unschuldig, also „niemals bloß deskriptiv“, sondern „programmatisch und normativ“ 243 sind. 88 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 244 Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 32. 245 Der polnische Originaltitel heißt wörtlich übersetzt so viel wie ‚Läufer‘ und referiert auf eine russisch-orthodoxe Wandersekte des 18. Jahrhunderts, die durch Besitzverzicht und ständiges Unterwegssein dem Bösen zu entfliehen suchte. Die Forschungsliteratur hat verschiedentlich Vergleiche zwischen Rakusa und Tokarczuk gezogen, als deren gemeinsamer Nenner sie „das Vorrecht der Bewegung vor der Ruhe“ erachtet. Alena Mrázková Zelená, Die Bewegung in der Migrationsliteratur am Beispiel von Ilma Rakusas Erinnerungsbuch Mehr Meer. In: Bernd Neumann / Andrey Talarczyk (Hrsg.), „Nicht von hier und doch nicht fremd“. Autobiografisches Schreiben über die Herkunft aus einem anderen Land. Aachen 2015, S. 97-113, hier S. 99. Parallel zur Etablierung des Nomadischen als postmoderne Denkfigur und seiner Verbreitung im Bereich der Cultural Studies trat der Nomade zunehmend auch in außeruniversitären Diskurs- und Praxisfeldern in Erscheinung, wie die Kulturanthropologin Anna Lipphardt analysiert: „Vertreter aus zahlreichen, ganz unterschiedlichen professionellen Milieus [beziehen sich] in ihrer Selbst‐ bezeichnung auf den Nomaden - von der sogenannten creative class über den Medien- und IT-Bereich bis hin zu Management und Unternehmensberatung. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich nomadische Selbstreferenzierungen au‐ ßerdem unter Backpackern, Lifestyle-Migranten und den sogenannten Superrei‐ chen.“ 244 Während der etymologisch auf das griechische Wort ‚nomos‘ (= Weide) zurückgehende Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung die spezifische Wirtschaftsform tribal organisierter, zyklisch umherziehender Wanderhirten meint, gilt heute jegliche bewegliche Lebensweise als „nomadisch“. Der Aus‐ druck ist zu einem Schlagwort geworden, das auf die Mobilität von globalen ökonomischen Eliten genauso wie auf flüchtende und migrierende Menschen verschiedenster Herkünfte angewandt wird und deshalb eine problematische Nivellierung sozialer Unterschiede und Machtverhältnisse in sich birgt. Großen Anklang fand die Figur des Nomaden auch im Bereich von Literatur und Literaturwissenschaft. Insbesondere in der transkulturellen Gegenwartslite‐ ratur haben das Nomadische und die mit ihm verbundenen Motive der Bewe‐ gung (etwa der Reise) und Grenzüberschreitung mittlerweile konventionellen Charakter gewonnen. Bezugnahmen auf das Nomadische tauchen bereits pro‐ minent im Titel zahlreicher Texte auf: Zu denken wäre da beispielsweise an Saša Stanišićs essayistische Erzählung „Doppelpunktnomade“ (2005), an Olga Tokarczuks Roman Bieguni  245 (2007, dt. Unrast) oder an Ilija Trojanows kom‐ plementäre Buchprojekte Der Weltensammler (2006) und Nomade auf vier Konti‐ nenten (2007). Darüber hinaus inszenieren sich viele Autorinnen und Autoren im Rahmen ihrer öffentlichen Selbstdarstellung als Nomadinnen bzw. Nomaden, allen voran Rakusa, die sich in ihrer Poetik-Vorlesung Zur Sprache gehen (2006) als „schreibende Nomadin, unterwegs mit einem work in progress“ (16) 89 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 246 Schon eine kurze Recherche erbringt eine Fülle von Resultaten: Walter Fähnders (Hrsg.), Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen 2007; Michaela Haberkorn, „Treibeis“ und „Weltensammler“. Konzepte nomadischer Identität in den Romanen von Libuše Moníková und Ilija Trojanow. In: Helmut Schmitz (Hrsg.), Von der nationalen zur internationalen Lite‐ ratur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam u. a. 2009, S. 243-261; René Kegelmann, Nomaden der Großstadt. Figurenkonstellationen in Terézia Moras Romanen Alle Tage (2004) und Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009). In: Wechselwirkungen 2 (2012), S. 203-212; Dorothee Kimmich, Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen Sprache. Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoglu und der Weltliteratur als „Littérature mineure“. In: Özkan Ezli / Dies. / Annette Werberger (Hrsg.), Wider den Kulturenzwang. Migra‐ tion, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S. 297-315; Johannes Preschl, Sprachnomaden. Statt einer Migrationsliteratur. Literarische Entdeckungsreisen und transkulturelles Schreiben. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8/ 2 (2017), S. 165-175. bezeichnet. Angesichts solcher Verbreitung ist es nicht verwunderlich, dass das Motiv des Nomadischen auch das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat und zu einem beliebten Kongress- und Publikationsthema sowie zu einer Standardreferenz im Vokabular der inter- und transkulturellen Literaturwissen‐ schaft avanciert ist. 246 Dieses Kapitel geht den ‚Wanderungen‘ nach, die das Motiv des Nomadi‐ schen im Werk Rakusas über Gattungs- und Genregrenzen hinweg vollzieht. Leitend dafür sind folgende Fragen: Wie wird das Nomadische in verschie‐ denen Äußerungskontexten thematisiert und inszeniert? Was genau meint der Begriff des ‚Nomadischen‘ bei Rakusa, mit welchen Wertungen wird er verbunden? Welchen Wandlungen unterliegt das Nomadische im Vergleich von Früh- und Spätwerk der Autorin? Inwieweit partizipieren diese Wandlungen an den theoretischen und gesellschaftlichen Diskursen ihrer Zeit? Welche Zuspitzung erfährt die für diese Arbeit grundlegende Frage nach Entwürfen der ‚Nicht-/ Zugehörigkeit‘ im Motiv des Nomadischen? Läuft die „Poetik des No‐ madischen“ (Sprache, 99) auf die emphatische Beschwörung einer Poetik der Nicht-Zugehörigkeit hinaus? Hat sie nur zugehörigkeitsverneinende Funktion oder gewinnt sie auch eine produktive Seite? Während sich das erste Unterkapitel mit dem Erzählband Steppe und seiner impliziten Poetik befasst, wendet sich das zweite Unterkapitel der Darstellung des Nomadischen in Rakusas autobiographisch geprägtem Erinnerungsbuch Mehr Meer zu: Ausgehend von den Ambivalenzen, mit denen das Nomadische in diesem Text behaftet ist, arbeite ich die Konturen einer ‚Gegenpoetik‘ heraus, die sich in Strategien des place-makings zeigen und ziehe hierbei auch erste Vergleiche zu Müller. Das dritte Unterkapitel rückt die wechselseitigen 90 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 247 Zum Begriff der ‚Autorpoetik‘ vgl. Matthias Bickenbach, Autorpoetik. In: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart / Weimar 2001, S. 38 f.; zur Unterscheidung zwischen expli‐ ziter, diskursiver Autorpoetik und immanenter Textpoetik vgl. Gero Guttzeit, Writing Backwards? Autorpoetik bei Poe und Godwin. In: Matthias Schaffrick / Marcus Willand (Hrsg.), Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin / Boston 2014, S. 379-403, bes. S. 381 f. Beziehungen in den Fokus, die sich zwischen den literarischen Texten und ihren immanenten Poetiken, der expliziten Autorpoetik und der (Forschungs-)Rezep‐ tion herausbilden. 247 Insgesamt soll damit gezeigt werden, dass der Begriff des ‚Nomadischen‘ im Werk Rakusas kein stabiles Konzept von ‚Nicht-/ Zugehörig‐ keit‘ bezeichnet, sondern Veränderungen durchläuft, die sowohl seine Gattungs‐ bedingtheit reflektieren als auch seine Kontextabhängigkeit widerspiegeln. Grundsätzlich gilt für alle Literatur, dass sie nicht für sich allein existiert, sondern immer in einem Kontext steht, aus dem sie hervorgeht und dessen Teil sie wird. Gerade bei einer Autorin wie Rakusa, deren Werk aus der Auseinandersetzung mit wissenschaftlich-theoretischen Debatten lebt und aus ihr entsteht, spielt dieser Konnex zwischen Text und Kontext eine bedeutende Rolle. Anhand des Nomadenmotivs soll ein wesentlicher Grundzug von Rakusas Schaffen herausgearbeitet werden: nämlich seine ausgeprägte Theorieaffinität, die das Werk dieser Autorin von Anfang an prägt. Der Begriff des ‚Nomadischen‘ ist mittlerweile so dehnbar geworden, dass er die Grenze zur Beliebigkeit streift. Ins Positive gewendet bedeutet dies aber auch, dass er offen und variabel ist. Die Art und Weise, wie Rakusa das Nomadische in verschiedenen Texten thematisiert und ausgestaltet, gibt Auf‐ schluss darüber, wie sie sich als Autorin im literarischen Feld positioniert und welche Stellung sie in den wissenschaftlichen und politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um ‚Heimat‘, ‚Identität‘ und ‚Zugehörigkeit‘ bezieht. Der Rekurs auf die theoretische Denkfigur des Nomadischen ist folglich kein Selbstzweck, sondern fungiert als ein Vehikel, um verschiedene Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit zu transportieren und ein spezifisches Konzept von ‚Autorschaft‘ zu profilieren. 3.1 „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas Ohne Zweifel lassen sich viele Argumente dafür finden, dass Rakusas Poetik, wie sie selbst behauptet, im Zeichen des Nomadischen steht. Zumal das - hier exem‐ 91 3.1 „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas 248 Ilma Rakusa, Gehen. In: Dies., Steppe. Erzählungen. Frankfurt am Main 1990, S. 53-56, hier S. 54. Alle folgenden Zitate aus diesem Band werden im Text mit der Sigle ‚Steppe‘ nachgewiesen. 249 Braidotti, Nomadic Subjects, S. 34. plarisch durch den 1990 erschienenen Erzählband Steppe vertretene - Frühwerk Rakusas präsentiert das Nomadische als eine erstrebenswerte, im ständigen Werden begriffene Lebensform und bewegt sich somit in Übereinstimmung mit der postmodernen Nomadologie, die ungefähr zu der Zeit die Bühne des theoretischen Diskurses betritt, als Rakusa ihre ersten literarischen Texte veröffentlicht. So heißt es in einer kurzen Erzählung mit dem programmatischen Titel „Gehen“: Den Zustand der Namenlosigkeit aufrechterhalten, hier, später, überall. Im Dazwi‐ schen. Braunes Eichenlaub aus dem Vorjahr, und kümmerlich das Rinnsal. In der camera obscura des Kopfs steht Moder unverknüpft neben Sprachstille. Ich kommt vor, aber en passant. Ein Ich der wandelbaren Bezüge, Durchgangsstationen. Unver‐ knüpfte Sprachstille, ja, während das Licht auf den Stein verweist, der Salamander auf einen alten Traum. Weiter! 248 Besonders dieser Text, der eine Wanderung in einem Tal der südfranzösischen Vaucluse zum Thema hat, kann exemplarisch für einen nomadischen Subjekt‐ entwurf stehen. Die für das nomadische Subjektverständnis charakteristische „idea of passing through“ 249 findet hier ihre literarische Ausformung: Das Ich dieser Erzählung „behauptet“ kein „Terrain“ (Steppe, 56), sondern durchquert es. „Durch“ lautet denn auch der vielfach wiederholte Leitterminus dieser Er‐ zählung, die das Prinzip der Veränderung gegen ein Identitätsverständnis stellt, das die Idee der Dauerhaftigkeit und Permanenz schon im Begriff enthält. Das Gehen als Bewegungsform korrespondiert dabei mit dem „Ich der wandelbaren Bezüge“, das nicht das Ankommen an einem bestimmten Ziel, sondern das Unterwegssein selbst als Konstituens der eigenen Existenz erkennt: „Man muß hindurch, ohne je anzukommen.“ (Steppe, 56) Sätze wie diese lesen sich fast wie eine Paraphrasierung der philosophischen Nomadologie, wie Deleuze und Guattari sie Anfang der 1980er entworfen haben. Die provisorisch-mobile Lebensweise der Nomaden zeichnet sich nach Deleuze und Guattari dadurch aus, dass sie sich stets im Übergang befindet. Der Nomade kennt zwar Orte, die er als feste Anlaufpunkte immer wieder aufsucht, zum Beispiel Weideplätze oder Wasserstellen. Aber diese Punkte sind den Wegen „streng untergeordnet“, sie bilden lediglich temporäre Zwischenstationen: „Die Wasserstelle ist nur da, um wieder verlassen zu werden, jeder Punkt ist eine Verbindungsstelle und existiert nur als solche. […] Das Leben der Nomaden 92 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 250 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Vouillié. Berlin 1992, S. 522 f. 251 Ebd., S. 525. 252 Für Braidotti, die das Nomadenkonzept von Deleuze und Guattari aufgreift und ihm eine feministische Wendung verleiht, steht die Nomadin „for the kind of subject who has relinquished all idea, desire, or nostalgia for fixity“. Rosi Braidotti, Nomadic Subjects, S. 22. 253 Ilma Rakusa, Voran. In: Dies., Miramar. Erzählungen. Frankfurt am Main 1986, S. 111- 117, hier S. 117. 254 Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler, Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen [1995]. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Hamburg 2007, S. 149. 255 Braidotti, Nomadic Subjects, S. 16. 256 Das Nomadische ist in der Philosophie von Deleuze und Guattari an eine Topographie des glatten, unstrukturierten und offenen Raumes gebunden, für den besonders das Meer, aber auch die Wüste, die Steppe oder das Eis als Beispiele stehen. Während sich der Nomade in einem glatten Raum „ohne Grenzen und Einfriedungen“ verteilt, ihn durchquert und sinnlich erfährt, ohne ihn sich anzueignen, wird der „Raum der Sess‐ haftigkeit […] durch Mauern, Einfriedungen und Wege zwischen den Einfriedungen eingekerbt“. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 523 f. ist ein Intermezzo.“ 250 Als Paradigma einer transitorischen Lebensweise, die mit einem Terminus aus der Musik als der flüchtigsten aller Künste beschrieben wird, birgt das Konzept des ‚Nomadischen‘ eine prinzipielle Zurückweisung statischer Raum- und damit korrelierender Identitätsvorstellungen. Die Figur des Nomaden ist „deterritorialisiert par excellence“ 251 . Sie verkörpert Offenheit und Beweglichkeit, entzieht sich identitärer Zuordnung und ist somit Ausdruck einer Subjektkonzeption, die der Fixiertheit abschwört. 252 „Weg mit dem Halt“ und „weiter! “ (Steppe, 54), „kein Ankommen bitte“ (Steppe, 56) oder auch: „Voran voran! “ 253 - in vielen Texten Rakusas wird Bewe‐ gung nicht nur positiv konnotiert, sondern explizit zu einer Forderung, ja sogar zum Imperativ erhoben. Mit dem postmodernen Nomaden und seinen mobilen Wahlverwandten (wie dem Flaneur oder dem Vagabunden) teilen Rakusas Figuren eine „Furcht vor Gebundenheit und Festlegung“ 254 . Was sie miteinander verbindet, ist eine regelrechte Angst vor Stillstand und ortsgebundener Sesshaf‐ tigkeit (vgl. Sprache, 99); mit Blick auf die frühe Prosa, besonders den Erzählband Steppe, lässt sich daher durchaus von einem „flirt with radical unbelonging“ 255 sprechen - um einen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem Braidotti nomadische Schreib- und Existenzweisen charakterisiert. Bereits der Titel des Bandes, der - ähnlich wie Müllers Niederungen - aus einem einzigen, nicht näher bestimmten Wort besteht, entzieht sich der Festlegung und steht eigentümlich bezugslos da: Steppe. Kein konkreter, loka‐ lisierbarer Ort wird hier aufgerufen, sondern eine Landschaft des Übergangs, ein nomadischer Raum, in der Bewegung das vorherrschende Element ist. 256 93 3.1 „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas 257 Egger, ‚Eastern European Turns‘, S. 294. 258 Das Nomadische ist weder bei Deleuze und Guattari noch bei Braidotti notwendig mit physischer Mobilität verbunden: „Es gibt Reisen auf der Stelle, Reisen an Intensität, […].“ Gilles Deleuze, Nietzsche. Ein Lesebuch. Übersetzt von Ronald Voullié. Berlin 1979, S. 121. „Not all nomads are world travelers; some of the greatest trips can take place without physically moving from one’s habitat. It is the subversion of set conventions that defines the nomadic state, not the literal act of traveling.“ Braidotti, Nomadic Subjects, S. 5; vgl. auch die Erzählung „Gehen“: „Das Gehen setzte sich fort, als ich lag. Als ich krank aus der Waagrechten in die ferne Hügellandschaft blickte, durch ein winziges Fensterquadrat. […] Unterwegs auch jetzt. Unterm Nomadenstern, […].“ (Steppe, 55) 259 Im Unterschied zu Rakusas Erzählung, in der eine Stimme prophezeit „[u]nd wirst nie angekommen sein“ (Steppe, 72), hat die Reise in Tschechows Erzählung ein konkretes Ziel: Sie endet mit der Ankunft in der Stadt. - Das Originalzitat lautet in der deutschen Übersetzung von Ada Knipper und Gerhard Dick: „Die Ferne war so deutlich zu sehen wie am Tage, aber da verschwand schon ihre zartviolette, von der Dämmerung umschattete Färbung, und die Steppe verbarg sich in der Dunkelheit wie die Kinder von Moisej Moiseič unter der Bettdecke.“ Anton Čechov, Die Steppe. Die Geschichte einer Reise. In: Ders., Die Steppe. Erzählungen 1887-1888. Hrsg. und mit Anmerkungen von Peter Urban. Zürich 1976, S. 291-393, hier S. 327. Ausdrücklich wieder aufgenommen wird das Wort zwar nur in der gleichna‐ migen Titelerzählung. Dort aber wird es facettenreich umspielt und zu einer existenziellen Metapher stilisiert, deren Bedeutung eine leitgebende Funktion für den ganzen Band erhält: Während der Beginn der Erzählung noch einen geo‐ graphisch fixierbaren Raum bezeichnet, die baschkirische Steppe (vgl. Steppe, 66), weitet sich der Begriff im Verlauf der Erzählung zu einem - so Sabine Egger - „offenen Sprachfeld“ 257 , welches sich einer vereindeutigenden Lesart verwehrt. Spätestens im dritten Abschnitt wird deutlich, dass das sprechende ein zugleich schreibendes Ich ist, dessen Nomadentum („Ich schlendere in der Steppe herum“, Steppe, 67) an keine äußere, körperliche Bewegung gebunden ist, sondern sich auf der Stelle vollzieht: 258 „Vom Schreibtisch aus begehe ich im Wechselschritt die Graslandsenke, Hochsteppe, kotierend.“ (Steppe, 68) Die Steppe wird von ihrer konkreten Referenz gelöst und zum Zielpunkt einer imaginären Reise ins Unbestimmte transformiert: „Wäre Ankommen eine Lösung, aber wo? “ (Steppe, 68) Darauf folgt ein leicht modifiziertes, wortwörtliches Zitat aus Anton Tschechows 1888 erschienener Erzählung „Die Steppe. Die Geschichte einer Reise“: „‚Verbarg sich die Steppe in der Dunkelheit wie die Kinder von Mojsej Mojsejewitsch unter der Bettdecke.‘“ 259 (Steppe, 68) Das Zitat wird zwar grafisch als solches markiert, seine Quelle aber nicht explizit benannt, wodurch das zentrale Lexem des Textes eine sichtliche literarische Überformung, zugleich aber auch eine Verrätselung erfährt. Im nächsten Satz wird die Steppe dann „selbst zum Akteur“ 260 und zu einem Sinnbild der Bewegung, das dem Imperativ 94 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 260 Egger, ‚Eastern European Turns‘, S. 294. 261 Schreiben und Schrift werden in den Texten des Bandes immer wieder mit Stillstand assoziiert, vgl. etwa die Erzählung „Wladimir“ (Steppe, 15-21). des Schreibens als einem fixierenden Festhalten-Wollen kontrastiert und durch die dynamisch-unruhige Typographie zusätzlich unterstrichen wird: 261 Die Steppe kommt und geht. Tagein, tagaus, mit wechselndem Wind. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, Otto, jage ich der fliehenden Ferne nach. Und nach mir: Sonnenglut und das langgezogene Lied. Schreib. Langgezogen? Schreib das Gras auf. Anascha, Lilienschweif, Steppenraute, Grashüpfer, Hüpfer, zerreißt zirpend die Luft, rosa funkelnde Flügel. Der Fleck wird kleiner, so klein, daß mein Zurückbleiben, sein Wegdriften, mein Zurückbleiben, sein sein Punkt. Otto, ich seh dich nicht! Wie? Ich seh dich nur trübe. Wie? Durch den Abschied, gewesen. Wie? Du könntest mich mißverstehen: ich sehe dein Fehlen, Otto, deine Abwesenheit Wie? Verglimmende Pupillen. Aufschreiben! (Steppe, 68 f.) Im letzten Abschnitt wird das Bewegungsmotiv wieder aufgegriffen und wei‐ terentwickelt: „Ach der Himmel, Kasimir, ich besinge ihn. Seit ich mich durchs Leben steppe, wölbt er sich groß […].“ (Steppe, 70) Durch die begriffliche Asso‐ ziierung mit dem klangähnlichen, etymologisch aber nicht verwandten Verb ‚steppen‘ wird der Steppe eine tänzerische, leicht komische Facette verliehen, bevor am Ende dann ihre existenzielle Überhöhung und Transzendierung ins Allgemeine erfolgt: „Eigentlich hat jeder seine Steppe. Einige kommen zwar nicht an, aber alle ihre Ortsveränderungen sind Vorbereitungen auf die Steppe.“ (Steppe, 72) So wenig wie sich die Figuren auf eine Identität festlegen lassen (wollen), indem sie sich bewegen, „um keine Stelle einzunehmen“ (Steppe, 67), so wenig lassen sich die paratextuell als Erzählungen ausgewiesenen Texte auf resümier‐ 95 3.1 „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas 262 Beat Mazenauer, Eine Ferne, die so nahe ist. Erzählungen von Ilma Rakusa. In: Brugger Tagblatt, 29.12.1990. 263 Am deutlichsten findet sich dieses Simultaneitäts-Verfahren in der Erzählung „Liniatur“ (Steppe, 66-72) umgesetzt. 264 Ein gängiger Vorwurf der Kritik lautet daher auch, dass Rakusas Texte für die Lese‐ rinnen und Leser schwer zugänglich seien. Vgl. etwa Pulver, Aussparen - mit Sprache umstellen, S. 25. bare Inhalte reduzieren. Will man doch so etwas wie einen roten Faden oder ein übergeordnetes Thema ausmachen, das die verschiedenen Erzählungen des Bandes zusammenhält, so wäre dies die Beziehung zwischen Ich und Du, die in verschiedenen Versuchsanordnungen durchgespielt wird: „Rakusa skiz‐ ziert“, wie ein Rezensent schrieb, „Möglichkeiten von Begegnungen zwischen Menschen, die immer auch ganz anders ausgehen könnten. Nie kommen diese Begegnungen bei ihr zum Stillstand. Sie sind permanenter Prozess, immer in Bewegung zwischen Hingezogensein und Trennung, Beginn und Abschied, nicht eigentlich fassbar, stets gefährdet.“ 262 Anders als Müller, die in ihren Dorftexten die Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv problematisiert, sind in Rakusas Frühwerk ganz andere Themen und Problemkonstellationen vor‐ herrschend. Häufig geht es um den Antagonismus der Geschlechter, scheiternde oder gescheiterte Paarbeziehungen, das Vexierspiel gegenseitiger Annäherung und Verfehlung, meistens zwischen Mann und Frau: „Wie sagt man doch: Die Würfel sind gefallen. A wollte mit B. B wollte mit A. Nichts zu machen. Etwas wollte nicht […]“ (Steppe, 9), lautet der Einstieg in die den Band eröffnende Erzählung „Halbzeit“. Wie an einem Reißbrett wird hier eine Beziehungskons‐ tellation entworfen, die Möglichkeit von Verbindung und Trennung angedeutet. Die Anspielung auf Stéphane Mallarmés Ein Würfelwurf (frz. Un coup de dés, 1897) darf dabei als Hinweis auf das Erzählverfahren verstanden werden, das partiturengleich verschiedene ‚Geschichten‘ parallel laufen lässt, die um desolate Paarkonstellationen kreisen. 263 Andere Texte lassen das Paarthema schon im Titel aufscheinen: „Wir“, „Wanda und Johann“, „Ada, Ady“. Rakusa selbst bezeichnet diese frühen Texte als „Liebesstories“ (vgl. Sprache, 18), wobei von einer „Story“ im Sinne einer chronologischen Abfolge von Ereignissen mit Anfang, Mitte und Ende kaum die Rede sein kann. Eher handelt es sich um höchst verdichtete, zum Lyrischen neigende Prosaminiaturen, die über einen hohen Grad an Intertextualität verfügen und aus Andeutungen und Ausspa‐ rungen bestehen, die einer Programmatik offener und pluraler Bedeutungen verpflichtet sind und hierdurch - paradoxerweise - bis an die Grenze des Hermetischen reichen. 264 96 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 265 Doris Schweitzer, Topologien der Kritik. Kritische Raumkonzeptionen bei Gilles De‐ leuze und Michel Serres. Berlin 2011, S. 169. Der Offenheit des nomadischen Raum- und Subjektentwurfs entspricht eine Schreibweise, die in gewisser Weise selbst das Weite sucht, indem sie Vieldeutigkeit hervorbringt und auf sprachliche Fixierung verzichtet. In diesem Sinne kann die folgende Stelle aus der Erzählung „Die Tür zum Meer“ auch poetologisch gedeutet werden: Und ich stellte mir vor, daß das leicht zu beschreiben sei. Das Meer unter mir. Blau, nein weiß, nein grün, nein eins mit dem Himmel, nein kraus, nein glatt, nein alles das und noch mehr. Wie fass ich das Bewegte. Es ist so schön. Ich spar es aus. (Steppe, 48) Dies liest sich wie eine Fortführung des alten rhetorischen Unsagbarkeitstopos, dessen inhärentes Paradox bekanntlich darin besteht, wortreich aufzuzählen, was sich nicht beschreiben lässt. Bemerkenswert ist an dieser Passage auch, dass „das Bewegte“ - hier konkret das Meer, das aufgrund seiner Weite und Offenheit eine „Strukturnähe“ 265 zur Steppe aufweist und somit ebenfalls einen nomadischen Raum bezeichnet - in ästhetische Kategorien überführt wird: „Es ist so schön.“ (Steppe, 48) Im Unterschied zu der Ich-Erzählerin aus „Steppe“, die hartnäckig bei dem Versuch bleibt, „auf[zu]schreiben“ (Steppe, 69), wird sich das Ich dieser Erzählung bewusst, dass das Schöne nicht verweilen, sondern allenfalls im Unausgesprochenen zwischen den Zeilen mitschwingen kann. Es gelangt zu dem Schluss, dass „das Bewegte“ mit Worten nicht zu fassen und deshalb besser auszusparen sei. Neben den poetologischen Passagen, die auf literarische Verfahrensweisen reflektieren, die Versprachlichung sinnlicher Erfahrungen thematisieren oder das Schreiben als Akt der fixierenden Benennung problematisieren, lassen sich in den Erzählungen verschiedene Stellen finden, die, wenn man so etwas wie einen ‚impliziten Leser‘ annehmen möchte, auch als Anweisungen für eine adäquate Rezeption begriffen werden können. Die Beschreibung eines „Geisteszustand[s], der […] auf das Verstehen verzichtet“ (Steppe, 71), in der Erzählung „Steppe“ oder auch die Bitte „treiben Sie mich nicht in die Enge ihrer Vorstellungen“ (Steppe, 15) der Ich-Erzählerin aus der Erzählung „Wladimir“ wären demnach als Appell an die Lesenden zu verstehen, die Offenheit und Vieldeutigkeit der Texte nicht nur auszuhalten, sondern ihnen auch wohlwol‐ lend zu begegnen. 97 3.1 „Flirt with radical unbelonging“? Das Nomadische im Frühwerk Rakusas 266 Vgl. erläuternd Markus Schroer, Mobilität ohne Grenzen? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit. In: Winfried Gebhardt / Ronald Hitzler (Hrsg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wies‐ baden 2006, S. 111-121, hier S. 116: „Die positive Konnotierung der Bewegungstypen […] ist alles andere als selbstverständlich. Bis vor kurzem noch hatten wir es hin‐ 3.2 Von der emphatischen Beschwörung des Nomadischen zur Ambivalenz seiner Bewertung in Mehr Meer Während Rakusas frühe Prosa durch eine affirmative Bezugnahme auf das Nomadische gekennzeichnet ist, weicht diese Emphase in den späteren Texten einer stärkeren Betonung von Ambivalenz und Mehrfachzugehörigkeit. Diese Veränderung geht mit einer Hinwendung zum Autobiographischen einher: Rakusa selbst bezeichnet ihr 2009 erschienenes Erinnerungsbuch Mehr Meer als „unverhohlen autobiographisch[ ]“ (Bildungsroman, 28) und auch ihr jüngstes Werk Mein Alphabet (2019) versammelt unter den alphabetisch angeordneten Stichworten autobiographische Lebensstationen der Autorin, darunter Erinne‐ rungen an Kindheitsorte wie Ljubljana und Triest, Städtebeschreibungen und Reiseberichte, Alltagsbeobachtungen zu Dingen wie „Bett“, „Joghurt“ oder „Pan‐ toffeln“, aber auch Reflexionen über Sprache und Literatur sowie die Hommage an andere Autorinnen und Autoren (z. B. Danilo Kiš, Péter Esterházy, Friederike Mayröcker, Marina I. Zwetajewa, Anton Tschechow). In beiden Werken ist das Motiv des Nomadischen weiterhin präsent und verweist auf die „Kofferkindheit“ (MM, 311; MA, 20), die an wechselnde Orte und Sprachen gebunden war. Anders als im Erzählband Steppe, wo die metaphorische Erhöhung des Motivs ins Allgemeinmenschliche dem Nomadischen eine universale und überindividuelle Dimension verleiht, betonen die stärker autobiographisch geprägten Texte jedoch besonders dessen Verankerung in konkreten, lebensweltlichen Bezügen. Dies kann als ein Reflex auf die vielfältige Kritik verstanden werden, welche die theoretische Mode der Nomadologie aus den 1980/ 90er Jahren erfahren hat. Die Ambivalenzen des Nomadischen in Mehr Meer, die sich zunächst und am deutlichsten auf semantischer Ebene zeigen, nehmen diese Kritik in sich auf; sie deuten auf eine Distanznahme der Autorin zur Verklärung des Nomadischen und somit auch zum eigenen (postmodern inspirierten) Frühwerk hin. Abwertende Wendungen wie „Stigma des Nomaden“ (MM, 35) und „früh er‐ lernte[s] Herumzigeuern“ (MM, 36) erinnern daran, dass die positive Bewertung mobiler Lebensweisen keineswegs selbstverständlich, sondern auf einen histo‐ rischen Bedeutungswandel zurückzuführen ist, in dessen Folge nomadische Mobilität nicht mehr als Bedrohung der Sesshaften wahrgenommen und als krankhaft bewertet, sondern als Sinnbild von Freiheit gefeiert wurde. 266 Auch 98 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa sichtlich der ortsgebundenen Lebensweise des Sesshaften auf der einen und der mobilen Lebensweise des Nomaden auf der anderen Seite mit einer genau gegenteiligen Bewertung zu tun. Nomadenvölker wurden eindeutig negativ konnotiert. Sie galten als unzivilisierte, wilde Stammesgemeinschaften, die ohne einen festen Wohnsitz umherschweifen, sich damit jeglichem Zugriff entziehen und für den Sesshaften eine Provokation darstellen, weil sie sich nicht an die Gesetze halten müssen, denen diese unterstehen. Der räumlich Ungebundene gilt deshalb generell als verdächtig. Er ist der Störfaktor in einer auf territorialisierten Ansprüchen und Grenzziehungen aufgebauten Gesellschaft.“ Zur historischen Abwertung und Pathologisierung von Nichtsesshaftigkeit vgl. auch Isabel Toral-Niehoff, Der Nomade. In: Eva Horn / Stefan Kaufmann / Ulrich Bröckling (Hrsg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin 2002, S. 80-97. 267 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 92. 268 Vgl. das Gedicht „Anders“, das Rakusas Lebensalphabet eröffnet: „Das Lammfellmän‐ telchen drückte nicht / aber sie schauten / schauten mich an wie eine Blöde / wo kommt die her / was will die hier / bei uns / uns war nicht ich war nicht mein / Mantel meine Sprache mein Kleid / alles anders / du bist anders / kicherten sie“ (MA, 5). Das Lammfellmäntelchen fungiert bereits in Mehr Meer als ambivalent besetztes Kleidungs‐ stück, das einerseits Schutz und Wärme spendet, andererseits mit Ausgrenzung und Nicht-Zugehörigkeit zur neuen sozialen Umgebung in der Schweiz assoziiert ist: „Die Nachbarskinder fanden es [das Kind, Anm. M. A.] komisch. Fanden komisch, […] daß es an kalten Tagen einen langen Lammfellmantel trug, daß es immer ein bißchen abseits stand.“ (MM, 89) Auf der Innenseite des Schutzumschlags von Mehr Meer sind zwei Fotos abgedruckt, die in ihrer vergleichenden Gegenüberstellung ein narratives Moment besitzen: Die Fotos dokumentieren Rakusas Werdegang vom Kind im Lammfellmantel zur gelehrten Autorin (mit Bücherwand im Hintergrund) und setzen damit ein symbolisch hochcodiertes Signal für eine autobiographische Lesart des Textes. Neologismen wie „Kofferpathologie“, „Koffertrauma“ oder „Nomadenhypothek“ (MM, 34, 36, 191) belegen, dass das Nomadische und die mit ihm verbundenen Motive der Reise und des Unterwegsseins in Mehr Meer nicht ausschließlich positiv belegt sind. Ähnlich wie für Müller der dörfliche Zugehörigkeitskontext eine Bürde darstellt (vgl. Kap. 2.4.2), ist Rakusas Lebensbuch von einer Semantik durchzogen, die auf die beschwerenden Aspekte von Herkunft und nomadischer Mobilität verweist. So wird „der Osten“ einerseits als sinnlich erinnerter Sehn‐ suchtsraum ausgestaltet, andererseits als eine „Bagage“ (MM, 14) bezeichnet, die sich nicht abschütteln lässt und mit Erfahrungen von Anderssein, Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit verbunden ist. Die Zuschreibungen „Emigranten, Ausländer“ (MM, 108) werden durch ihren wiederholten Gebrauch mit negativer affektiver Valenz aufgeladen und zu „sticky signs“ 267 , die am Körper der als ‚anders‘ 268 Wahrgenommenen hängen bleiben: „das haftete an uns“ (MM, 108). Im semantischen Kontext dieser leiblich spürbaren Anhaftungen beschreibt der Terminus der „Hypothek“ (MM, 191) einen belastenden Umstand, während der „Koffer“ (MM, 34) als konkretes Sinnbild einer nomadischen Lebensweise die 99 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer unterschiedlichen Facetten des Zugehörigkeitsbegriffs in Spannung zueinander treten lässt: Einerseits beherbergt er die wenigen materiellen Habseligkeiten (belongings) der Nomaden-Familie, andererseits aber markiert er ein zeitliches und räumliches ‚Dazwischen‘, in dem die Sehnsucht nach Zugehörigkeit (belonging) einsetzt. In der Wahrnehmung des Kindes wird er zu einem unheimli‐ chen, gleichzeitig vertrauten und bedrohlichen Gegenstand, der mit Gefühlen der Unsicherheit und Desorientiertheit assoziiert ist: Das Seltsame war, wie schnell sich alles um den Koffer herum entwirklichte: das Bett, auf dem er lag, die Wände, das Zimmer, das mir eben noch vertraut gewesen war. Kaum begann er sich die Dinge einzuverleiben, schuf er einen imaginären Raum zwischen den Zeiten, in dem ich ratlos und verunsichert herumstand. Die Melancholie rührte vom Gefühl der Distanz zu buchstäblich allem. Noch waren wir nicht fort, aber auch nicht mehr da, und je länger das Packen dauerte, desto lähmender empfand ich es. Ich wurde ja auch nicht gefragt. Das Weggehen entschieden die anderen. Die Eltern, die Umstände. Du kommst mit. Ich ging mit. Ins Unbekannte. Ins nächste Provisorium. Eine Kindheit lang. Überstürzt war der Aufbruch nie. Kein Drauflosrennen, bei dem ein Schuh zurück‐ bleibt, leer. Wir flohen nicht, wir packten Koffer. Die Habe in Koffern, das war’s. Also doch leichtes Gepäck. Umzugswagen brauchten wir nicht. Das schwer Bewegliche blieb zurück. Wir wohnten meist zwischen fremden Möbeln, die wir, kaum hatte ich mich an sie gewöhnt, wieder verließen. Und schon wieder blickte ich in den Schlund der Koffer. Ihre Treue war fraglos. Das Wort Plaid. Das Wort Pelzhandschuh. Die weichen, flauschigen, wärmenden Dinge. Fast gewichtlos. Denn das Schleppen der Koffer war eine Plackerei. Was nicht auf Rädern fährt, ist eine Last, und sei der ganze Besitz darin versammelt. Ich kann den Anblick von Koffern nicht ertragen. Sagt Richard. Wem sagst du das. Man hört auf zu verstehen, wohin man gehört. Sind Orte so wichtig? Ich meine schon. (MM, 34 f.) Ich zitiere diese Passage deshalb so ausführlich, weil sie mehrere Aspekte gleich‐ zeitig anspricht, die Rakusas gewandeltes Verhältnis zum Nomadischen zum Ausdruck bringen: der erste Aspekt betrifft die Umstände bzw. Beweggründe, die das Nomadentum der ‚Kofferfamilie‘ veranlassen; der zweite Aspekt bezieht sich auf seine gefühlsmäßige Bewertung; der dritte Aspekt thematisiert die Bindung zu konkreten Orten und Objekten, die als bedeutsame Parameter von Zugehörigkeit gelten. Im Folgenden werde ich genauer auf diese Aspekte eingehen, sie im größeren Zusammenhang des Textes deuten und erörtern, inwieweit sich in ihnen eine Zurückweisung der euphorischen Sichtweise auf das Nomadische artikuliert. 100 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 269 Im postmodernen Diskurs hat sich das Nomadische zu einem Sinnbild für eine kosmopolitischen Lebensweise ausgeweitet, die mit der Mobilität realer (ruraler) Nomadinnen und Nomaden ebenso wenig zu tun hat wie etwa mit den konkreten Erfahrungen von Geflüchteten (vgl. Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 37). Einer der vielfach vorgebrachten Vorwürfe gegenüber dem Konzept des ‚Nomadischen‘ lautet folglich, dass es nicht unterscheidet zwischen den privilegierten ‚Edelnomaden‘, also jenen, die freiwillig mobil sind wie zum Beispiel Konferenz-, Business- oder Künstlernomaden, und jenen, die sich aufgrund von Verfolgung, Krieg oder anderen Be‐ drohungen gezwungenermaßen auf Wanderung begeben. Zur Kritik am ahistorischen, eurozentristisch konnotierten und undifferenzierten Gebrauch des Nomadenbegriffs vgl. einschlägig Caren Kaplan, Questions of Travel. Postmodern Discourses of Displace‐ ment. Durham / London 1996; Tim Cresswell, Imagining the Nomad. Mobility and the Postmodern Primitive. In: Georges Benko / Ulf Strohmayer (Hrsg), Space and Social Theory. Interpreting Modernity and Postmodernity. Oxford / Malden 1997, S. 360-379; vgl. auch Sara Ahmed, Home and Away. Narratives of Migration and Estrangement. In: Dies., Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality. New York 2000, S. 77-95. 270 Braidotti, Nomadic Subjects, S. 17. 271 Pastuszka, „Transit, Transfinit. Transnationality“, S. 555. - Beständig streut die Erzäh‐ lerin historische Exkurse zu den Orten und Städten ein, die sie auf ihren verschiedenen Reisen kennengelernt hat. So handelt beispielsweise ein Kapitel von den - nachträglich wahrgenommenen - Schattenseiten der Kindheitsstadt Triest und ihrer in Faschismus und Nationalsozialismus verstrickten Historie (vgl. MM, 81-84). Das Kapitel zum Geburtsort der Erzählerin beginnt mit einem historischen Abriss, der über die wech‐ selhaften territorialen Zugehörigkeiten der heute in der Slowakei gelegenen Stadt Rimaszombat/ Rimavská Sobota informiert (vgl. MM, 25). In Stellen wie diesen spiegelt sich das Anliegen der Autorin wider, „persönliche Geschichte vor dem Hintergrund der ‚großen‘ Geschichte“ (Sprache, 75) zu erzählen. a) Beweggründe des Nomadischen Während der postmoderne Diskurs zum Nomadentum häufig für seine roman‐ tisierende und nivellierende Sichtweise kritisiert wurde, 269 macht die zitierte Passage deutlich, dass das Nomadentum der „Kofferkindheit“ (MM, 311) - im Gegensatz zu den freiwilligen Reisen des erwachsenen Ich - alles andere als eine „chosen condition“ 270 , aber auch keine erzwungene Flucht („Wir flohen nicht“) beschreibt. Rakusa differenziert also durchaus zwischen verschiedenen Formen der Mobilität, die innerhalb des übergeordneten Bedeutungsfeldes von Nomadentum allzu leicht zu verschwimmen drohen. Ihr Buch, das entlang der Lebensstationen der Autorin (Rimaszombat/ Rimavská Sobota, Budapest, Ljubl‐ jana, Triest, Zürich) auch „ein Stück mitteleuropäischer Geschichte“ 271 erzählt, behandelt das Nomadentum nicht als theoretisches Abstraktum, sondern als etwas leiblich Erlebtes und konkret Situiertes. Weil die Erzählperspektive - ähnlich wie in Müllers „Niederungen“ - über weite Strecken eine kindliche ist, werden die Ursachen und Motive der Mobilität im Text nicht explizit benannt. Sie bleiben dem Kind verborgen oder werden allenfalls als Fragen aufgeworfen: 101 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 272 Vgl. MM, 227: „Der Staatenlosenpaß verhinderte, daß ich zu meinen Großeltern nach Maribor fahren konnte.“ Kaum ist die Ich-Erzählerin in Besitz eines Schweizer Passes, beginnt ihre „Rückkehr in den Osten“. 1960 reist sie nach Prag, wo sie sich an den Braunkohlegeruch ihrer Kindheit erinnert fühlt und ein Gefühl von „zu Hause“ (MM, 253) erlebt. Die Reflexion über Freiheit und Mobilität ist auch immer da präsent, wo es um die Thematik der Grenze und ihre Doppeldeutigkeit als limitierende Trennlinie und als Ort des Übergangs geht. Vgl. hierzu die Kapitel „XV. Grenzen“ (MM, 74-76) und „XLVII. Am Neusiedlersee“ (MM, 206-214). „Trieb uns Neugier? “ (MM, 48) „Warum mußten wir Triest und das Meer verlassen? “ (MM, 146) Erst aus der Retrospektive kann die Ich-Erzählerin die politischen Hintergründe anklingen lassen, mit denen die permanenten Orts‐ wechsel ihrer „Kofferkindheit“ (MM, 311) und ihr (vorläufiges) Sesshaftwerden in der Schweiz ursächlich verbunden waren: „Vater, so erfuhr ich später, wollte in ein demokratisches Land. Wollte stabile Verhältnisse für sich und seine Familie.“ (MM, 87) Außerdem reflektiert sie die Bedingungen, unter welchen Mobilität ermöglicht oder beschränkt wird und nimmt somit einen zentralen Kritikpunkt gegenüber dem Konzept des ‚Nomadischen‘ auf. Aufgewachsen in der Zeit des Eisernen Vorhangs, hat sie ein Bewusstsein davon, dass die Möglichkeit zu reisen ein Privileg darstellt, das ihr aufgrund ihres Status als Staatenlose selbst jahrelang verwehrt war. 272 Der Zustand der Nicht-Zugehörigkeit (zu einem Na‐ tionalstaat) wirkt sich als handfeste Limitierung der eigenen Bewegungsfreiheit aus und erscheint demnach weitaus weniger begehrenswert, als es die irrige Gleichsetzung von Ungebundenheit und Bewegung im nomadischen Diskurs der Postmoderne suggeriert. b) Gefühlsmäßige Bewertung Die schon aus dem Erzählband Steppe bekannte „Melodie“ des „Weiter, immer Weiter“ (MM, 87) kehrt in Mehr Meer wieder und übernimmt, gepaart mit einer auffälligen Häufung von Orten der Flüchtigkeit (wie z. B. Bahnhöfen), eine Art leitmotivische Funktion. Doch wird diese Melodie nicht einfach nur wiederholt. Sie wird auch verändert bzw., um in der musikalischen Metaphorik des Textes zu bleiben, in eine andere Tonlage transponiert: Das nomadische ‚Dazwischen‘ wird nicht mehr zu einer sehnsüchtigen Utopie verklärt, vielmehr wird der Übergang von einem zum anderen Provisorium, der Zustand zwischen Aufbruch und Ankunft als Strapaze, mithin als eine für das Kind leidvolle und beängstigende Erfahrung apostrophiert. Die Wahrnehmung der mit dieser Erfahrung verbundenen Wörter bleibt davon nicht unaffiziert: Als würden die Gefühle in die Bedeutung der Wörter übergehen, empfindet das Kind „Reise“ als „ein halbtrauriges Wort“ (MM, 48). 102 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 273 Vgl. hierzu sowie zu anderen rekurrenten Motiven Klettenhammer, „Ich ist viele“, S. 259 f. 274 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 35. Ähnlich wie für Müller das Dazugehören ein hochgradig ambivalentes Geschehen darstellt, das sich im Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstoßung bewegt, sind Reisen und Unterwegssein in Mehr Meer von geteilten oder gemischten Gefühlen bestimmt, die von der Erzählinstanz reflexiv erfasst, benannt und entsprechend kommuniziert werden: „Schrecken“ vs. „Anziehung“ (MM, 21), „Angst“ vs. „Neugier“ (MM, 165), „Entdeckungslust“ vs. „Schutz‐ bedürfnis“ (MM, 184), „Vorfreude“ vs. „Vorangst“ (MM, 259), „Fernweh“ vs. „Wehmut“ (MM, 263) - in solchen Gegenüberstellungen gelangt der „paradoxe Mechanismus“, der die Ich-Erzählerin seit ihrer frühesten Kindheit „gefangen“ nimmt (MM, 184), aufs Deutlichste zum Ausdruck. Wie für Müllers Figuren die Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit ein unentrinnbares Muster bildet, manifestiert der offen artikulierte Zwiespalt der Gefühle eine affektive Grundkonstellation, die im nomadischen Leben der Ich-Erzählerin kontinuierlich wiederkehrt. Diese Grundkonstellation spiegelt sich auch in der Komposition des Buches wider, dessen einzelne Kapitel oftmals kontrapunk‐ tisch, wie Stimme und Gegenstimme, aufeinander bezogen sind. Wie der Kon‐ trapunkt ist der Text nicht streng linear, sondern in der Art eines polyphonen Gefüges organisiert, in dem einzelne Motive wiederkehren, sich mit anderen Motiven verbinden und mehrere Stimmen bzw. Gefühlslagen gleichberechtigt und gleichzeitig miteinander konkurrieren. c) Affektive Bindungen Orte und Dinge sind konstitutiv eingebunden in diesen Widerstreit der Gefühle, welcher die Ambivalenz des Nomadischen zum Ausdruck bringt. Wo ständig zwischen Sprachen und Orten gewechselt wird, bleiben verlässlich nur die Dinge: „Ihre Treue war fraglos“, heißt es dazu im obigen Zitat. Während der Pelzhandschuh aufgrund seiner materialen Beschaffenheit der Erzählerin ein Gefühl von Geborgenheit spendet (vgl. MM, 45: „Nur mit ihm fühle ich mich geborgen, er war mein kleines, kuscheliges Zuhause.“), ist ihr der Anblick von Koffern vertraut und verhasst zugleich. Die Häufigkeit, mit der diese beiden Motive im Text vorkommen, 273 unterstreicht die „Kraft der Bande zwischen Menschen und Objekten“, die laut Pfaff-Czarnecka einen „ebenso wichtigen Beitrag zur sozialen Verortung leisten“ 274 wie die Dimensionen der Gemeinsam‐ keit und Gegenseitigkeit. Weit davon entfernt, das Nomadische zum ‚Lifestyle‘ zu verklären, handelt Mehr Meer von den Befremdungsmomenten, die das Einfinden in neue Lebens‐ 103 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 275 Vgl. Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten, S. 9. 276 May, Connecting Self to Society, S. 79-81. 277 Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten, S. 19. kontexte bzw. die Herauslösung aus vertrauten Zusammenhängen mit sich bringen und die „umso gravierender [sind], je unterschiedlicher die jeweiligen Lebenswelten strukturiert sind“ 275 . Der Übergang von der Wärme des Südens in die Kälte des Nordens ist von schroffen Gegensätzen geprägt, die sich in „wi‐ dersprüchliche[n] Gefühlen“ (MM, 87) manifestieren und die Protagonistin ihre tiefe sensorische Verankerung in Barcola/ Triest, dem vielfach beschworenen Ort glücklicher Kindheitstage, spürbar werden lassen: „Zurück blieb das Meer, die Helle. Noch nie hatte ich solche Berge gesehen. Noch nie solche Mengen Schnee.“ (MM, 87) Mit einer Mischung aus Staunen und Erschrecken wird sie der „unwirschen Winterlandschaft“ ansichtig und beginnt die Charakteristika des verlassenen Ortes, seine Farben, Gerüchen, Temperaturen und Lichtverhält‐ nisse zu vermissen: „Wasser, Wind, Wärme, Stein, Weiß, Blau, Muschel, Tang, Immergrün, Lorbeer, Rosmarin, […].“ (MM, 50) Die Stadt am Meer wird zu einem Sehnsuchtsort, dessen synästhetische Beschreibung die Eingebundenheit des Ich in seine materielle Umgebung veranschaulicht und zu beständigen Vergleichen anregt: „Hier war nicht Triest mit seinen lauen Nächten“ (MM, 108), „[k]eine Strandfelsen wie in Barcola, keine Brandung, nicht das Geräusch ans Ufer schwappenden Wassers.“ (MM, 204) Die Aufzählungen dessen, was in der neuen Umgebung alles nicht zu finden oder wahrzunehmen ist, befördert eine verlustorientierte Sicht auf das Dazugehören als einem sinnlichen Bezugs‐ geschehen: „Immer fehlt etwas.“ (MM, 304) Erst die Erfahrung der Entortung macht dem Ich seine Verbundenheit bewusst und lässt das Dazugehören zu einem defizitär strukturierten Verlangen werden, das niemals „hier“, sondern immer anderswo gelegen scheint. „Sind Orte so wichtig? “ (MM, 35) Gegenüber einer allzu euphorischen Noma‐ dologie, die mit der einseitigen Überbetonung des Fluiden und Mobilen „the need to belong“ 276 ignoriert, wirft die zitierte Passage die Frage auf, „inwieweit Men‐ schen konkreter, sinnlich erfahrbarer Räume, Orte und Landschaften bedürfen, um sich zugehörig zu fühlen“ 277 . Sowohl Müller als auch Rakusa betonen in ihren autobiographisch fundierten Texten die affektive Bindungskraft, die von bestimmten Orten und Räumen ausgehen kann, wenn auch unter diametral unterschiedlichen Vorzeichen. Beide Autorinnen thematisieren die prägende Bedeutung ihrer Kindheitsorte. Während Müller die Bindung an diesen Raum als eine Relation der Abhängigkeit begreift und ihr aporetische Züge verleiht, mischen sich den Kindheitserinnerungen Rakusas sentimentale Töne bei: Insbe‐ sondere die Kindheitsstadt Triest wird im unsteten Leben der Ich-Erzählerin zu 104 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 278 Catone, „Der Osten war unsere Bagage“, S. 70. einem wichtigen Fixpunkt und Anker der Erinnerung. Nicht der Wunsch nach „Losbinden“ (vgl. Kap. 2.4.2) steht hier im Vordergrund, sondern der Wunsch nach Rückgewinnung jener Topographien, die mit dem „Glücksgefühl“ der „Geborgenheit und Zusammengehörigkeit“ (MM, 78) verbunden sind, wird zum bestimmenden Schreibimpuls. Demgegenüber verdrängt die metaphorische Reduktion des Nomadischen auf ein hochmobiles, von allen Bindungen befreites Lebensmodell sowohl jene aus dem Blickfeld, die - wie Müllers Figuren - ihre Bindungen zu einem Raum nicht loswerden können, als auch jene, die - wie das Kind in Mehr Meer - diese Bindungen nicht lösen wollen. Die „vielen Wander‐ unge[n]“ (MM, 245), denen die Erzählerin seit ihrer frühen Kindheit ausgesetzt war, münden keineswegs in ein Plädoyer für Bindungslosigkeit. Sie löschen den Wunsch nach Zugehörigkeit nicht aus, sondern bringen ihn allererst hervor. „Ich komme von weit, um meine hiesige Zugehörigkeit zu testen“ (MM, 28), lautet demgemäß einer der Schlüsselsätze, in dem sich dieses Lokalisierungs‐ bedürfnis artikuliert. Unterwegssein und Bewegung sind kein Selbstzweck, sondern entspringen der Frage, „wohin man gehört“ (MM, 35). Diese Frage wird zum Ausgangspunkt und zur Triebfeder einer „Suchbewegung“ 278 , die sich nicht nur im Motiv der Reise niederschlägt, sondern auch den Anstoß zur schreibenden Selbsterkundung gibt. Gewissermaßen als Kontrapunkt zum Nomadentum rückt Mehr Meer die vielfältigen Strategien in den Mittelpunkt, mittels derer das Ich versucht, ein Gefühl der Verankerung zu gewinnen, man könnte auch sagen: sich zu reterritorialisieren. Das passive Ausgeliefertsein an eine nomadische Lebensweise („Ich wurde ja auch nicht gefragt“, „Mich hatte auch keiner je gefragt“, MM, 34, 87) wird somit ins Aktive gewendet und die performative Dimension von Zugehörigkeit im Sinne eines ‚doing belonging‘ zum Ausdruck gebracht. Im Folgenden will ich diese Strategien und Praktiken, zu denen ganz wesentlich die Motivik des (Wörter-)Sammelns, die Aneignung von Sprachen und Welt im Prozess des Spracherwerbs sowie Verfahren des Auflistens und der Inventarisierung von Erinnerungen gehören, näher betrachten. Denn in ihnen artikuliert sich, worauf es mir in diesem Kapitel ankommt: auf Rakusas implizite Kritik am (postmodernen) Nomadentum, in welcher sich die Konturen einer Gegenpoetik und zugleich eine Distanznahme gegenüber dem eigenen Frühwerk abzuzeichnen scheinen. 105 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 279 „Daß sie mich spielend überdauern können, ist gut.“ (MM, 314); vgl. auch das Kapitel „Dinge“ in Mein Alphabet, in dem Rakusa fast gleichlautend bekennt: „Ich liebe Dinge, […] weil mir der Gedanke gefällt, dass sie mich überdauern.“ (MA, 20) 3.2.1 Sammeln als Praxis des place-making „Ich sammelte, um eine eigene Welt aufzubauen. Um der Zugluft meiner spielzeuglosen Nomadenkindheit etwas Festes entgegenzusetzen. Heute sind es die Dinge, aus denen mir Geschichte entgegenschlägt, meine eigene.“ (MM, 312) Der Akt des Sammelns, dessen Bedeutung schon dadurch hervortritt, dass ihm in Mehr Meer ein eigenes Kapitel gewidmet ist, wird von der Ich-Erzählerin als eine widerständige Praxis gedeutet, die in einem oppositionellen Verhältnis zur Nomadenkindheit steht und als eine Art „Gegengift“ (MM, 184) zu ihr fungiert. Weiterhin macht das obige Zitat deutlich, dass die Sammeltätigkeit ein narratives Moment enthält: Muscheln, Schuhe, Bücher, Postkarten, Mitbringsel von Reisen, Schallplatten - jeder Gegenstand hat seine singuläre Geschichte. Was die gesammelten Gegenstände, so disparat sie auf den ersten Blick er‐ scheinen mögen, miteinander verbindet und zusammengehörig macht, ist ihr biographischer Bezug auf die Ich-Erzählerin, auf Stationen, Begegnungen und Begebenheiten ihres nomadischen Lebensweges. Als materialisierte Erinnerung werfen sie einen Anker in der Zeit, sind „Träger eines bestimmten Moments“, „Zeugen einer Konstellation“ (MM, 311), Speicher und Spur eines gelebten Lebens, aus der sich eine Geschichte entziffern lässt, mithin die „eigene“. Durch ihren überdauernden 279 Charakter trotzen sie der Flüchtigkeit der nomadischen Existenzweise, gewähren „Halt“, mehr noch, sie schaffen ein „Zuhause“ (MM, 314). Damit vermitteln sie ähnliche Gefühlsqualitäten wie das Triester „Siesta‐ zimmer“ (vgl. Kap. 5.4.2), der Traum, das Lesen oder auch die sakralen Rituale, Kirchen und Gottesdienste: Die gesammelten Gegenstände erzeugen einen (Gegen-)Raum, welcher der Bewegung des Nomadischen insofern kontrapunk‐ tisch gegenübersteht, als er die materielle Manifestation einer Sehnsucht nach Bleibendem darstellt. Mit dem Aufschwung der Material Culture Studies ab den 1990er Jahren hat sich die Thematik des Sammelns zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt, auf dem verschiedenste Disziplinen von der Philosophie bis zur Psychologie vertreten sind. Befragt man die Forschung zu den Motiven des Sammelns, so wird man mit einer Fülle von Erklärungsansätzen konfrontiert, die von der anthropologischen Bestimmung des Menschen als homo collector über die Befriedigung ästhetischer Bedürfnisse, das „Besitzergreifen von Welt und mithin Macht“ bis hin zur Kontingenzbewältigung reichen - um nur einige wenige der vielen möglichen Beweggründe zu nennen, die zum Sammeln 106 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 280 Vgl. Justin Stagl, Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns. In: Aleida Assmann / Monika Gomille / Gabriele Rippl (Hrsg.), Sammler - Bibliophile - Exzentriker. Tübingen 1998, S. 37-54; Alois Hahn, Soziologie des Sammlers. In: Norbert Hinske / Manfred J. Müller (Hrsg.), Sammeln - Kulturtat oder Marotte? Trier 1984, S. 11-19. Zitat: Sarah Schmidt, Sammeln - Sammlungen. In: Susanne Scholz und Ulrike Vedder (Hrsg.), Handbuch Literatur & materielle Kultur. Berlin / Boston 2018, S. 82-90, hier S. 87. 281 „Objekte […] re-präsentieren dem eigenen Selbst ständig das eigene Selbst und erzählen die eigene Lebensgeschichte in einer Weise, die sonst unmöglich wäre.“ Susan M. Pearce, Museums, Objects, and Collections. A Cultural Study. Leicester u. a. 1992, S. 47; zum Sammeln als Erzählung vgl. auch das Kapitel „Vielsagende Objekte. Das Sammeln aus narrativer Perspektive“. In: Bal, Kulturanalyse, S. 117-146. 282 Vgl. hierzu das dritte Kapitel „Dimensionen der Zugehörigkeit: Bindungen, Anhaf‐ tungen, Verortungen“ in Pfaff-Czarneckas Monographie Zugehörigkeit in der mobilen Welt (S. 34-46) und die Kapitel „Material Objects“ sowie „Making a ‚Home‘ with Objects“ in Mays Connecting Self to Society (S. 144-146). 283 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 35. führen. 280 Ganz offensichtlich überlagern und verbinden sich in Mehr Meer verschiedene Motive, die zum Sammeln antreiben, allen voran der Wunsch nach Selbstvergewisserung und Selbstverortung, nach Aneignung von Welt, aber auch nach Erinnerungsbewahrung und narrativer Vergegenwärtigung des eigenen Lebens und des eigenen Selbst. 281 Konstitutiv für die Thematisierung des Sammelns in Mehr Meer ist sein Zusammenhang mit der Erfahrung des Nomadischen und somit seine Einbettung in das Wechselspiel von Verortung und Fluidität. In den gesammelten Gegenständen findet diese Erfahrung ihren materiellen Niederschlag. Sie ist in ihnen ‚aufgehoben‘ im doppelten Sinne des Wortes: in den Dingen wird die Erfahrung des Nomadischen einerseits konserviert und aufbewahrt; andererseits wird sie durch den festhaltenden Impuls, welcher dem Sammeln zugrunde liegt, wenn nicht negiert, so doch wenigstens relativiert. Obwohl zum Sammeln eine reiche Forschung existiert, gibt es keine Literatur, die sich speziell auf das Thema der Zugehörigkeit fokussiert. Umgekehrt hat sich die Zugehörigkeitsforschung zwar punktuell mit der Beziehung zwischen Menschen und der materiellen Welt der Objekte befasst, 282 allerdings ist mir keine Studie bekannt, die sich mit dem Sammeln als performativer Praxis der Selbstverortung oder des doing belonging auseinandersetzt. Gerade in der Relation des Sammlers zu seinen Sammlungsgegenständen tritt jedoch jene „Kraft der Bande“ 283 , die Menschen und Objekte aneinanderknüpft, besonders deutlich zutage. In Rakusas Thematisierung des Sammelns werden verschiedene Dimen‐ sionen von Zugehörigkeit aktualisiert und reflektiert - allen voran das „Be‐ 107 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 284 Ebd., S. 24. 285 Eine ähnliche Ambivalenz wie der Begriff ‚Heimsuchung‘ weist auch die Rede von der „Heimlichkeit der Sprache“ (MM, 28) auf. Das Heimliche ist das Vertraute, aber auch das Verborgene. In letzterem Sinne nähert sich das Wort seinem Gegenteil, dem Unheimli‐ chen, an: „[H]eimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ Sigmund Freud, Das Unheimliche [1919]. In: Ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917-1920. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte. Hrsg. von Anna Freud u. a. Frankfurt am Main 1966 (= 3. Auflage), S. 227-268, hier S. 237. Zu verschiedenen Formen eines ‚heimlichen‘ Sprechens im Roman Herztier vgl. Kap. 4.2 dieser Arbeit. streben der Akteure […], sich durch materielle und immaterielle Anbindungen zu verorten“ 284 , das sich schon im Zusammenhang des Koffermotivs und anderer Dingmotive (wie dem Pelzhandschuh) artikulierte. Dass diese Anbindungen ein reziprokes Verhältnis beschreiben, die gesammelten Dinge also nicht nur ihrer Sammlerin, sondern auch die Sammlerin den gesammelten Dingen gehört, deutet das folgende Zitat an: „Inzwischen schauen mich die im Laufe langer Jahre gesammelten Dinge verschwörerisch an. Als wollten sie mich heimsuchen, mahnen.“ (MM, 313) Woran mahnen die Dinge und worin liegt ihre Verschwö‐ rung? Verbünden sich die Dinge untereinander gegen ihre Besitzerin oder stehen sie mit ihr im Bunde? Dem schillernden Verhältnis der Ich-Erzählerin zu ihren Objekten entspricht die Ambivalenz des doppelsinnigen Begriffs der ‚Heimsuchung‘ 285 , der widersprüchliche Konnotationen in sich trägt. Die Vor‐ stellung, von den Dingen ‚heimgesucht‘ zu werden, lässt den wohligen Beiklang des ‚Heims‘ in sein affektives Gegenteil kippen. Während die gesammelten Gegenstände einerseits „Schutz“ und „Stabilität“ (MM, 314) spenden, üben sie andererseits eine bedrohliche Wirkung auf die Ich-Erzählerin aus. Der Wechsel vom Konjunktiv II („als wollten sie“) zum Indikativ Präsens erhebt dieses Gefühl in den Rang einer Gewissheit: „Sie sind viele, ich bin allein. Ihre Übermacht quillt aus Schränken und Regalen, stellt sich auf Simsen und Tischen zur Schau.“ (MM, 313) Das Sammeln wird somit als eine Relation des Habens profiliert, die keine vollständige Verfügungsmacht über die Dinge impliziert, sondern ihnen einen gewissen Grad an ‚Unabhängigkeit‘ (vgl. MM, 314) attestiert. Dem passiven Gefühl des Heimgesucht-Werdens stellt der Text das Sammeln als eine aktive Praxis der Beheimatung gegenüber. Es ist die Suche nach einem ‚Heim‘ und somit nach einem Ort, an dem sich das Subjekt seiner selbst und seiner eigenen Geschichte versichern kann, die das Sammeln antreibt und seinen Grundimpuls bildet. Mehr als eine persönliche Obsession, fungiert das Sammeln als ein Mittel des ‚Sich-heimisch-Machens‘. In ihm spiegelt sich das Bedürfnis, 108 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 286 Schon Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ den Gedanken aufgestellt, dass der Sammler in den Gegenständen seiner Sammlung „wohnt“. Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. In: Ders., Gesammelte Schriften - Sieben Bände. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 4/ 1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972, S. 388-396, hier S. 396. - Für weitere Parallelen zwischen Rakusas und Benjamins Gedanken zum Sammeln siehe auch das folgende Unterkapitel. Die Rakusa-Forschung hat Benjamins „Rede über das Sammeln“ bisher zwar nicht in die Interpretation von Mehr Meer einbezogen, dafür jedoch anderweitige Verbindungslinien gezogen: „Der Untertitel Erinnerungspassagen verweist auf Walter Benjamins Passagenwerk. In seiner Fragmenthaftigkeit und mit einem Fokus auf die Kindheit ist Rakusas Text zudem mit Benjamins autobiografischen Skizzen Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu verbinden.“ Stéphane Maffli, Migrationsliteratur aus der Schweiz: Beat Sterchi, Franco Supino, Aglaja Veteranyi, Melinda Nadj Abonji und Ilma Rakusa. Bielefeld 2022, S. 238. 287 Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 398. 288 Vgl. hierzu Moore: „[O]ur concept of home gains meaning through taking journeys away. Through the absence of home, home itself gains meaning.“ Jeanne Moore, Placing Home in Context. In: Journal of Environmental Psychology 20 (2000), S. 207-217, hier S. 211. einen Ort des Wohnens und des Bleibens zu schaffen, an dem sich das Ich beheimatet fühlt. 286 Gemäß der kontrapunktischen Anlage des Buches folgt auf die miteinander korrespondierenden Kapitel „Vom Vermissen“, „Vom Sammeln“ und „Vom Vergessen“ ein Kapitel zum „Wind“, das zugleich den Abschluss des Buches bildet. Silke Pasewalck ist diesem Motiv in Rakusas Erinnerungsband genauer nachgegangen und hat eine nomadische Lesart dazu vorgeschlagen: Als nicht fassbares, sich in Bewegung befindliches Element sei der Wind als eine Chiffre für die prinzipielle Ortlosigkeit des (post-)modernen Subjekts zu begreifen. Im Motiv des Windes artikuliere sich ein „nomadisches Identitätsverständnis“, das „gegen die Vorstellung eines festen Wohnorts“ 287 opponiert und an eine positive Bejahung des Flüchtigen appelliert. Diese Interpretation ist insofern kritikbedürftig, als sie nur den einen Pol des zwischen Bewegung und Verortung changierenden Spannungsfeldes thematisiert, aus dem der Text seine Dynamik bezieht. Zwar weiß die Ich-Erzählerin: „Im Wind ist ein schwieriges Wohnen“ (MM, 320). Trotzdem ist der Text von einer Semantik durchzogen, die genau dieses Bedürfnis zum Ausdruck bringt: „Ich brauche ein Häuschen, ein Kabäus‐ chen, wenigstens eine Ahnung davon.“ (MM, 245) Die „windisch[e]“ (MM, 320) Existenz ist also keine Absage an den Wunsch oder das Bedürfnis nach einem Zuhause. Vielmehr ist es gerade die Abwesenheit des Zuhauses, das seiner Bedeutung Nachdruck verleiht. 288 109 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 289 Paolo Boccagni, Ein neuer Fokus auf die Verknüpfung von Migration und Zuhause. In: Hans Peter Hahn / Friedemann Neumann (Hrsg.), Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration. Frankfurt am Main 2019, S. 37-76, hier S. 51. 290 Vgl. hierzu etwa die sprichwörtliche Rede vom Haus als „zweiter Haut“ (MA, 21). 291 Vgl. hierzu etwa die Definition von Zugehörigkeit „as feeling at home“ bei Antonsich, Searching for Belonging, S. 646. 292 Vgl. MM, 312: „Von System konnte keine Rede sein, denn mein Sammeln war nie sys‐ tematisch, hatte es nie auf Vollständigkeit abgesehen.“ - Äußerungen wie diese geben Anlass, darüber nachzudenken, inwieweit die zusammengetragenen Gegenstände in ihrer Gesamtheit eine Sammlung oder eher ein Sammelsurium ergeben. Laut Monika Schmitz-Emans gehört das Sammelsurium zu den „Grenzformen der eigentlichen Sammlung“: „Als ‚Sammelsurien‘ zu charakterisieren wären Kollektionen von formal und inhaltlich heterogenen Dingen, hinter deren Diversität kein gemeinsamer begriff‐ licher Nenner steckt […].“ (Monika Schmitz-Emans, Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur. Fallstudien und Poetiken. Hildesheim 2019, S. 454.) Weil die Ich-Erzählerin in Mehr Meer keinen Wert auf Ordnung und Systematik legt und darüber hinaus „nicht nur aktiv sammelt“, sondern „auch aufbewahrt, was [ihr] zugeflogen kam“ (MM, 313), müsste präzise von einem ‚Sammel‐ surium‘ gesprochen werden. Andererseits nimmt die Ich-Erzählerin die gesammelten Gegenstände nicht als disparate Einzelstücke, sondern als eine miteinander verbundene „Gemeinschaft“ (MM, 311) wahr. Die Heimsuche der Ich-Erzählerin perpetuiert weitgehend die normative Bedeutungskonzeption, die dem Alltagsverständnis dieser Begrifflichkeiten innewohnt. Hier zeichnet sich ein weiterer zentraler Unterschied zwischen den beiden Autorinnen ab: Während Müllers „Niederungen“-Erzählung die „präskriptiven Grundlagen des Zuhauses“ 289 infragestellt, indem sie es als einen gewaltvollen Verstrickungszusammenhang beschreibt, wird das Zuhause von der kindlichen Protagonistin in Mehr Meer als etwas wahrgenommen, das fehlt und dadurch latent idealisierte Konturen erhält. Einerseits werden Haus und Zuhause als schutzgebende Fluchtpunkte in einem ansonsten unsicheren (no‐ madischen) Dasein apostrophiert und stellenweise sogar naturalisiert. 290 Ande‐ rerseits lenkt die Betonung des ‚Bauens‘ (vgl. MM, 312, 107) die Aufmerksamkeit auf den prozessualen Charakter der Herstellung eines Zuhauses. Damit wird ein Verständnis formuliert, welches das Zuhause nicht als etwas selbstverständlich Vorhandenes, sondern als etwas zu Machendes begreift. Wenn ‚Zugehörigkeit‘ bedeutet, sich zu Hause zu fühlen, 291 dann wird dieses Gefühl nicht als etwas ein für alle Mal Gegebenes aufgefasst, sondern als ein Schaffensprozess, der sich in und durch bestimmte Praktiken vollzieht. Rakusa reflektiert auf das Sammeln als eine affektive Praxis, die keiner systematischen Ordnung gehorchen muss, 292 sondern eine Form des place-making ist, durch die das Subjekt sich aktiv einen Raum der Zugehörigkeit kreiert. „Das Wort Liebe ist wichtig“ (MM, 312), vermerkt die Erzählerin von Mehr Meer und führt an anderer Stelle weiter 110 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 293 Yücel, „Sie hat ein Sprachorchester in ihrem Kopf “. aus: „Ich liebe Dinge, nicht aus materiellen Gründen, sondern weil sie eine Umgebung bilden, die ich mitgestalte.“ (MA, 20) Die gesammelten Gegenstände bilden einen persönlichen Mikrokosmos; sie fungieren als eine Art „Spiegel“ (MA, 20), in dem sich die Sammlerin wie in einem veräußerten Teil ihrer selbst erkennt. Unter den verschiedenen Dingen, die sich die Ich-Erzählerin auf ihrer no‐ madischen (Lebens-)Reise aneignet, nimmt ein bestimmter Gegenstand eine herausgehobene Bedeutung ein: die Sprache, die in Mehr Meer nicht nur als Medium des Ausdrucks fungiert, sondern selbst zum Sammlungsgegenstand wird und somit einen Verdinglichungsprozess erfährt. Die gesammelten Wörter bilden gleichsam den „entorteten Ort“ 293 , an dem das nomadische Ich ein Gefühl von Zuhause erlebt. Dieses Gefühl kann auf verschiedene Sprachen und Schauplätze verteilt sein, was mich zur These meines nächsten Kapitels bringt: der multiplen Mehrfach-Verortung in und durch Sprache. 3.2.2 „Ich sammelte die Welt“: Verortung in und durch Sprache Im Kapitel „Grenzen“ unterzieht die Erzählerin das nomadische Dasein ihrer „Kofferkindheit“ (MM, 311) einer Inventur: Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren. Ich hatte einen Pelzhandschuh. Den hatte ich. Vater und Mutter hatte ich. Ein Kinderzimmer hatte ich nicht. Aber drei Sprachen, drei Sprachen hatte ich. Um überzusetzen, von hier nach dort. (MM, 76) Die Sprachen werden auf der ‚Haben‘-Seite der nomadischen Existenzweise ver‐ bucht, genauso wie der Pelzhandschuh, der, obschon „ans Ungarische gewöhnt“, an den „ersten slowenischen Gehversuchen“ (MM, 47) der Erzählerin teilnahm und somit eng mit dem Prozess des Spracherwerbs verbunden ist. Dieser Prozess wird bezeichnenderweise als eine Sammeltätigkeit beschrieben, deren Gegenstand ein doppelter ist, nämlich Wörter und Welt: „Den Pelzhandschuh ans Gesicht gedrückt spitzte ich die Ohren. VRT. Garten. SMRT. Tod. Ich lernte NOČ, VLAK, DAN, KRUH. Ich lernte stumm, ich sammelte die Welt.“ (MM, 111 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 294 Wie Schneider-Özbek dargelegt hat, folgt Mehr Meer dem „Erzählmuster einer Sprach‐ bildungsreise, die als Reise zu sich selbst stilisiert wird“. Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich, S. 24. 295 Monika Körte / Sarah Schmidt, Die Beschreibbarkeit der Dinge und die Dinglichkeit der Sprache. Zur Einleitung. In: Sarah Schmidt (Hrsg.), Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. Paderborn 2016, S. 31-41, hier S. 36. Die Wahrnehmung der Sprachen in ihren sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten ist ein genereller Grundzug der mehr-deutsch-sprachen Gegenwartsliteratur, der sich auch bei anderen Autorinnen als den hier zur Diskussion stehenden zeigt: so etwa bei Özdamar oder Tawada. 296 Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389. 297 Vgl. Christian Moser, Profanierungen des Erinnerns. Überlegungen zum Zusammen‐ hang von Sammlung, Spiel und Selbstdarstellung (Colleen Moore, Walter Benjamin, Michel Leiris). In: Regine Strätling (Hrsg.), Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis. Bielefeld 2012, S. 259-288, hier S. 267; vgl. 45) Der Sprachlernprozess, dessen Thematisierung in Mehr Meer breiten Raum einnimmt, 294 wird vom Gehör geleitet und lässt die signifikante Seite der Sprache spürbar und erlebbar werden: Er eröffnet und forciert Wahrnehmungen, die sich stärker auf die Materialität der Sprachen als auf ihren Bezeichnungscharakter beziehen. Sprachen sind für die Ich-Erzählerin „mehr als nur Verständigungs‐ mittel“; sie bilden „eigengesetzliche Welten mit einem spezifischen Klang“ (MM, 227). Sprache erschöpft sich demnach nicht in ihrer Kommunikationsfunktion, sondern verfügt über eine eigenwertige Materialität, die sich „ganz konkret in ihrem physischen Laut“ 295 manifestiert. Diese auffällige Fokussierung auf die Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Mate‐ rialität von Sprache entspricht dem besonderen Verhältnis, das der Sammler zu den Gegenständen seiner Sammlung hegt und um das es Walter Benjamin in seiner „Rede über den Sammler“ (1931) geht. Auch wenn Benjamin in diesem Text primär von sich als Bücher-Sammler spricht, so lassen sich seine grundlegenden Überlegungen zur Theorie und Praxis des Sammelns auch auf andere Sammlungsgegenstände wie zum Beispiel ‚Sprachdinge‘ beziehen. Laut Benjamin entbindet der Sammler die Gegenstände von ihrer Gebrauchsfunk‐ tion. Seine Beziehung zu den Dingen ist vor allem affektiv besetzt. Nicht nur haben die Dinge für den Sammler einen Erinnerungs- und Liebhaberwert, der aus ihrer spezifischen Biographie und der Verbindung mit den Orten, aus denen sie stammen, hervorgeht. Sie verfügen auch über eigene Physiognomien. „Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt“ 296 , notiert Benjamin. Ihre Auf‐ merksamkeit gilt der Oberfläche, den Gesichtern der Dinge und ihrer äußeren Erscheinung, die sie nicht mit einem distanzierten Auge betrachten, sondern sich sinnlich-taktil zu eigen machen. 297 Dorothee Kimmich hat hierzu bündig formuliert: „Sammler […] sind die Spezialisten für die Stofflichkeit, für Form, 112 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa auch José Brunner, Einführung. In: Ders. (Hrsg.), Erzählte Dinge. Mensch-Objekt-Be‐ ziehungen in der deutschen Literatur. Göttingen 2015, S. 7-18, hier S. 11. 298 Dorothee Kimmich, Lebendige Dinge bei Walter Benjamin und Robert Walser. In: Dogilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik 110 (2009), S. 9-29, hier S. 17. 299 Vgl. etwa Schnee, 13. 300 Ilma Rakusa, Die Insel. Erzählung. Frankfurt am Main 1982, S. 23 f. 301 Özdamars Erzählerin definiert sich als „Wörtersammlerin“ (Emine S. Özdamar, Mutter‐ zunge. Erzählungen [1990]. Berlin 2010, S. 51). Sie „sucht arabische Wörter, die es noch in türkischer Sprache gibt“ (ebd., S. 31), um über den Umweg der „Großvaterzunge“ ihre „Mutterzunge“ wiederzufinden (vgl. ebd., S. 14). Die Listen, die sie dabei aufstellt (vgl. ebd., S. 31, S. 41 und S. 48 f.), „prägen die Erzählung optisch wie inhaltlich“. Anne-Rose Meyer, Buchstäblich fremd. Historische, politische und ästhetische Dimensionen ara‐ bischer, japanischer und lateinischer Schrift in interkultureller Literatur: Frischmuth - Şenocak - Özdamar - Schami. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12/ 2 (2021), S. 131-143, hier S. 138. - Stanišićs Herkunft ist nicht nur ähnlich fragmentarisch und hybrid strukturiert wie Rakusas Mehr Meer, sondern enthält auch eine Fülle von Listen, darunter zum Beispiel eine Vokabelliste (Saša Stanišić, Herkunft. München 2019, S. 137) oder auch „eine Reihe von Dingen, die ich hatte: Mutter und Vater. Großmutter Kristina, die Mutter meines Vaters, die immer wusste, was mir fehlt. […] Eine Furcht vor Nierenbohnen. Interessante Gefühle gegenüber meiner Englischlehrerin. […] Eine Menge an Büchern. […] Eine Kindheit in einer kleinen Stadt an der Drina. […] Häufig Kopfschmerzen. […] Einen undenkbaren Krieg.“ (Ebd., S. 11 f. und S. 16 f.) Die sich über mehrere Seiten erstreckende Auflistung der Besitztümer (belongings), die das Kind im Bosnien des Jahres 1991 hatte, könnte als Anspielung auf das berühmte Farbe, Geruch und Textur der Dinge, für deren Materialität, nicht für ihre Brauchbarkeit, Funktion.“ 298 Als eine solche Spezialistin gibt sich auch Rakusas Ich-Erzählerin zu erkennen, wenn sie „die Regale mit der Nase abtaste[t], um die Provenienz der Bücher festzustellen“ (MM, 313) oder die Wörter fremder Spra‐ chen immer wieder in ihrer Materialität wahrnimmt. Diese Hingabe an einen sinnlichen Wahrnehmungsmodus wird im Text - ähnlich wie bei Müller - 299 typographisch durch die Großschreibung markiert: Die Wörter „VRT“, „SMRT“, „NOČ, VLAK, DAN, KRUH“ (MM, 45) werden aus dem Textfluss hervorgehoben und wie Fundstücke präsentiert, die als etwas Kostbares anzusehen bzw. als etwas Tast- und Fühlbares zu begreifen sind. Das Motiv des Wörtersammelns taucht bereits in Rakusas Frühwerk auf. Schon der Protagonist ihres ersten Prosabuchs Die Insel präsentiert sich als ein „Wortklauber“ und „Wortaufstöberer“, der die Wörter sinnlich zu erfahren versucht - „so, als hörte er [sie] zum erstenmal“. 300 Es handelt sich - auch über das Werk von Rakusa hinaus - um ein wiederkehrendes Motiv der transkultu‐ rellen Gegenwartsliteratur, das häufig eng mit Prozessen der Sprachaneignung zusammenhängt und für das am prominentesten vielleicht Özdamars Erzähl‐ band Mutterzunge (1990), aber auch das preisgekrönte Buch Herkunft (2019) von Saša Stanišić einsteht. 301 Transkulturelle Autorinnen und Autoren sowie 113 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer „Inventur“-Gedicht von Günter Eich gedeutet werden; ein wenig erinnert ihr Duktus aber auch an Rakusas (weiter oben bereits zitierte) Kindheitsliste: „Ich hatte einen Pelzhandschuh. Den hatte ich. Vater und Mutter hatte ich. Ein Kinderzimmer hatte ich nicht. Aber drei Sprachen, drei Sprachen hatte ich.“ (MM, 67) 302 Yoko Tawada, Überseezungen [2002]. Tübingen 2013 (= 4. Auflage), S. 34. 303 Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389 - Auch in Mehr Meer wird das (Wörter-)Sammeln als eine Praxis beschrieben, die ihren Ursprung in der Kindheit nimmt: vgl. MM, S. 130. 304 Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus, S. 390. 305 Esther Kilchmann, Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/ 2 (2012), S. 109- 129, hier S. 121. 306 Natürlich liegt bei diesem Motiv auch der Gedanke an Müllers „Wörtertische“ und Bild-Text-Collagen nahe. Vgl. hierzu Sarah Schmidt, Fremdeigene Wortreste - Sprache als Sammlung in Herta Müllers Collagen. In: Dies. (Hrsg.), Sprachen des Sammelns, S. 593-620. ihre wörtersammelnden Erzählerinnen und Erzähler treten in einen sinnlichen Kontakt zur Sprache, sie sind von der physisch wahrnehmbaren Außenseite der Sprache fasziniert und lenken den Blick auf ihre phonetischen, visuellen und materiellen Qualitäten. Yoko Tawada, eine weitere wichtige Exponentin dieses Feldes, erklärt dazu: „Eine Sprache, die man nicht versteht, liest man äußerlich. Man nimmt ihr Aussehen ernst.“ 302 Das (Wörter-)Sammeln ist - laut Benjamin - eine „[k]indhafte“ 303 Tätigkeit. In den Texten der mehr-deutsch-sprachigen Gegenwartsliteratur erscheint es dementsprechend häufig mit der Inszenierung eines kindlichen Blicks auf Sprache und Welt verknüpft. Als „Verfahren der Erneuerung“ 304 kann es dazu dienen, eingeschliffene Wahrnehmungsweisen zu desautomatisieren und Ver‐ fremdungseffekte zu erzielen. In dem Maße, wie die kommunikative Funktion von Sprache in den Hintergrund rückt, gewinnt die materielle Gestalt der Wörter an Gewicht. Ihre „spezifische Dinghaftigkeit“ 305 fällt in den Blick. Das Sammeln von Wörtern impliziert eine Verdinglichung von Sprache, wobei ‚Verdinglichung‘ hier nicht im marxistischen Sinne eine spezifische Form der Entfremdung meint, sondern im Gegenteil das Verhältnis einer aneignenden Bezugnahme auf die Wörter und die Welt beschreibt. Als Praxis der Aneignung stellt das Wörtersammeln 306 einen spezifischen Modus der Besitzergreifung dar, der in Bezug auf das Deutsche am deutlichsten zum Tragen kommt: „Nach drei Sprachen, die ich zuvor erlernt hatte, war diese vierte Fluchtpunkt und Refugium. Hier wollte ich mich niederlassen, hier baute ich mir mein Haus. Solide sollte es sein.“ (MM, 107) Wie bereits angedeutet, lenkt die metaphorische Rede vom „Hausbau“ die Aufmerksamkeit auf den Herstellungsaspekt der Zugehörigkeit als eines Pro‐ 114 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 307 Zu dieser Dualität vgl. Iris Levin, Sich-Niederlassen, Zugehörigkeit und das migranti‐ sche Zuhause/ Haus. In: Hans Peter Hahn / Friedemann Neumann (Hrsg.), Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration. Frankfurt am Main / New York 2019, S. 77-112, hier S. 81. 308 Ilma Rakusa, Über mich. Vorstellungsrede bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1996. URL: www.ilmarakusa.info/ Mich.pdf (zu‐ letzt abgerufen am 19.05.2022). 309 Dies., Der Tumult des Kopforchesters. In: Uwe Pörksen / Bernd Busch (Hrsg.), Einge‐ zogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Göttingen 2008, S. 76-80, hier S. 76. 310 Vgl. MM, 105: „Ich wähle das Buch aus, bestimme wann, wo, wie schnell und wie oft ich lese. Es gehört mir, ich streichle seinen Einband, fahre über seine rauhen oder feinen Seiten, studiere die Illustrationen.“ zesses, der sowohl materielle Komponenten (das Haus als physischer Ort) als auch affektive Qualitäten (das Haus als Ort der Zuflucht, der Geborgenheit und Sicherheit) beinhaltet. 307 Der Wunsch nach Zugehörigkeit und einem Gefühl von Zuhause, der durch die nomadische Bewegung nicht ausgelöscht, sondern allererst hervorgebracht wird, scheint im Deutschen als dem Ort, in dem die Erzählerin sich niederlässt und sesshaft wird, seine Erfüllung gefunden haben. Obwohl mehrsprachig sozialisiert, fühlt sie sich erst in dieser Sprache wirklich ‚heimisch‘ und angekommen. Unter allen Sprachen kommt dieser somit eine herausgehobene Bedeutung im Gefüge der Zugehörigkeiten zu, was auch die poetologischen Aussagen der Autorin belegen. Ihre Wahl des Deutschen als (ausschließliche) Schreibsprache begründet Rakusa damit, dass sie nur in dieser Sprache „über alle Ausdrucksregister“ 308 verfüge. Wie die Protagonistin aus ihrem Erinnerungsbuch Mehr Meer hat sie in dieser Sprache Lesen und Schreiben gelernt und versucht, sich „die Welt sowie die Gegenwelt der Literatur anzueignen“ 309 . Das Hochbzw. Schrift-Deutsche ist eng mit der Welt der Bücher verbunden, die einen Gegenraum zum Nomadischen und zugleich einen Raum der Abgren‐ zung gegenüber der Ungarisch sprechenden Familie und der Schweizer Dialekt sprechenden Umwelt bilden (vgl. MM, 106). Während sich die Ich-Erzählerin dem Nomadentum ihrer frühen ‚Kofferkindheit‘ hilflos ausgeliefert fühlte, wird das Eintauchen in die Lebenswelten fiktiver Figuren als ein aktiver und selbstbestimmter Vorgang beschrieben, in dem sich Erlebtes und Erlesenes gegenseitig durchdringen. 310 Nicht nur löst die identifikatorische Lektüre - etwa von Dostojewskis Schuld und Sühne (1866) - in der Ich-Erzählerin Gefühle der Zugehörigkeit aus; sie ermöglicht es auch, dem „wirkliche[n] Leben“ (MM, 108) zu entkommen. Bemerkenswerter Weise wird der schweizerische Lebens‐ alltag von der Ich-Erzählerin in Mehr Meer als ähnlich bedrückend empfunden wie der Dorfalltag in Müllers „Niederungen“. Analog zur klaustrophobischen 115 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 311 „Die Kleinheit des Balkons wird erwähnt, der Begriff ‚Block‘, der einen Akzent auf Brutalität, Kanten und Härte setzt, wird anstelle von ‚Haus‘ oder ‚Gebäude‘ gleich zweimal verwendet. Der Wald, eigentlich ein Ort der Natur, der durchaus positiv konnotiert sein kann, stellt eine ‚Wand‘ dar.“ Stéphane Maffli, Migrationsliteratur aus der Schweiz, S. 249; Zitate im Zitat: MM, 108. 312 Zur Problematik von Wahrheit und Wahrhaftigkeit siehe auch Kap. 4.1 dieser Arbeit. 313 Sarah Schmidt, Sprachen des Sammelns. Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Sprachen des Sammelns, S. 13-30, hier S. 17. - ‚Lesen‘ (von lat. ‚legere‘) bedeutet im etymologischen Sinn ‚sammeln‘, ‚zusammenlesen‘. 314 Konstitutiv für den Nomaden im deleuzianisch-guattarischen Sinne ist sein nicht-pos‐ sessives Verhältnis zum Raum bzw. seine Verweigerung, „sich den Raum, den er durchquert, anzueignen“. Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 523. Raummetaphorik in Müllers „Niederungen“ (vgl. Kap. 2.4.2) vermitteln in Mehr Meer „mehrere Elemente […] Oppressionsgefühle“, wie Stéphane Maffli gezeigt hat. 311 Eine weitere auffällige Parallele zu Müller bildet die Semantik des ‚Scheins‘: Während die Rede vom „Scheins des Dazugehörens“ (vgl. Kap. 2.3.3) bei Müller auf die Kluft zwischen äußerlichem Tun und subjektivem Erleben und mithin auf die Normen und Konformitätszwänge des dörflichen Zugehörigkeitsregimes verweist, gründet dieser Schein in Mehr Meer auf der Erfahrung, „Emigranten, Ausländer“ (MM, 108) zu sein: „Wir waren fremd, wir gehörten nicht wirklich dazu. Ich wollte niemanden bloßstellen. Auch Mutter nicht, die es zu ihrem höchsten Ziel machte, Fassung zu bewahren, den äußeren Schein zu retten. / Fassung. Fassade. Das gehörte zusammen. Und das war mir zutiefst suspekt. Meine Bücherwelten logen nicht.“ (MM 109 f.) Die Literatur wird als ein Ort der Wahrhaftigkeit wahrgenommen, 312 an dem eine alternative, nicht scheinhafte, sondern selbsterwählte und ‚erlesene‘ Form der Zugehörigkeit entstehen kann. Aus dem Gelesenen - wobei das Lesen selbst als „eine Spielart des Sam‐ melns“ 313 begriffen werden kann - erschafft sich die Erzählerin eine eigene Welt, sodass aus dem ‚Haus‘ der Sprache ein Raum des Rückzugs und der sich abkapselnden Innerlichkeit wird, welcher dem offenen Raum des Nomadischen und seiner grenzüberschreitenden Bewegung deutlich kontrastiert: „Mein In‐ nenleben hatte einen anderen Zungenschlag. Diesen pflegte und hegte ich wie etwas kostbares Eigenes.“ (MM, 106) Die Semantik von ‚Haus‘, ‚Aneignung‘, ‚Verfügung‘ und ‚Besitz‘ manifestiert eine Form der Zugehörigkeit, die mit dem Nomadischen unverträglich scheint und doch komplementär darauf bezogen bleibt. 314 Sammeln und Nomadentum stehen in einer relationalen Abhängigkeit zueinander und können deshalb kaum getrennt voneinander betrachtet werden. Insofern beide Diskurse ein je spezifisches Verhältnis zur Sprache und zum 116 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 315 Hier bestätigt sich die These, „dass literarische Praktiken und Thematisierungen des Sammelns häufig einen implizit oder explizit geführten poetologischen Diskurs mitführen“. Schmidt, Sprachen des Sammelns, S. 21. 316 Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 398. 317 Vgl. Müller, Dankrede. Zit. nach Haupt-Cucuiu, Eine Poesie der Sinne, S. 82; Apfelkern, 41 f.; „Alles, was ich tat, das hieß jetzt: warten“. Die ausgewanderte rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller im Gespräch mit Klaus Hensel. In: Frankfurter Rundschau, 08.08.1987. 318 Pabis, Migration erzählen, S. 190. 319 Ebd. 320 Vgl. Braidotti, Nomadic Subjects, S. 22. Schreiben zum Ausdruck bringen, ist ihnen eine poetologische Dimension eingeschrieben. 315 Dem Zusammen- und Widerspiel von poetologischem Diskurs und Gegen‐ diskurs gehorcht die kontrapunktische Komposition des Buches. Mehr Meer endet zwar, wie Pasewalck dargelegt hat, im Zeichen einer „‚Poetik des Noma‐ dischen‘“ 316 , das Schreiben bezieht seinen Antrieb jedoch aus einem anderen Impetus. Das Buch beginnt mit Erinnerungen an den Vater, der bei seinem Tod nichts Persönliches hinterließ, obwohl „[e]r wollte. Wollte einiges aus seinem Leben aufschreiben, weil ich ihn darum gebeten hatte. Für die Nachwelt, sagte ich, für uns, sagte ich. Er trug sich so lange mit dem Gedanken, bis es zu spät war“ (MM, 7). Ähnlich wie Müller, die in Interviews wiederholt erklärt hat, dass sie angefangen hatte zu schreiben, weil ihr Vater gestorben war, 317 bringt auch Rakusas Erzählerin ihren Schreibimpuls in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Vaterfigur. Am Anfang des Buches steht das Versäumnis des Festhaltens, das für die Erzählerin den Anstoß dafür gibt, sich schreibend zu sammeln. Es ist die Geste des erinnernden Festhaltens und damit der „Schutz vor der Vergänglichkeit“ 318 , von welcher der Text seinen Ausgang nimmt. 3.2.3 Poetik der Liste Während der Erzählband Steppe einen sprachkritisch fundierten ‚Affekt‘ gegen das schreibende Festhalten artikuliert, manifestiert sich in Mehr Meer eine andere Haltung gegenüber dem fixierenden Impuls „dieser älteste[n] Kultur‐ technik der Verewigung“ 319 : „Ich schaue und halte fest. Ich lege Erinnerungs‐ fährten, konstruiere Gedächtnisinventare. […] Die Liste beruhigt. Die Liste buchstabiert die Welt.“ (MM, 129) Wenn das nomadische Subjekt als eine Figu‐ ration zu verstehen ist, die jede Vorstellung von und jegliches Begehren nach Fixierung aufgegeben hat, 320 dann findet sich hier ein geradezu gegenteiliges Konzept vor: Die Erzählerin präsentiert sich als eine passionierte Sammlerin 117 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 321 Zur Liste bei Rakusa vgl. auch das Kapitel „Ordnungsstiftung und Bewahrung durch Listen“ in Wetenkamps Monographie Europa erzählt, erinnert, verortet (S. 295-315). 322 Ilma Rakusa, Listen, Litaneien, Loops - zwischen poetischer Anrufung und Inventur. München 2016, S. 9. und Listenliebhaberin, deren Antriebsfaktor das (schriftliche) Festhalten des Momentanen und Fixieren des Vergangenen ist. Der Text reflektiert nicht nur thematisch auf den Akt des Sammelns. Im Aufstellen von Listen und Collagieren von Erinnerungssplittern praktiziert er selbst sammelnde Schreibverfahren. 321 Häufig vollzieht sich die Reflexion über die Liste selbst in Gestalt einer Auflistung, sodass Inhalt und Form zusam‐ menfallen. Im Kapitel „Notate, Listen“ listet die Erzählerin die verschiedenen Funktionen auf, die Listen ihrer Meinung nach erfüllen können: „Meine Listen haben nie aufgehört. Und heute frage ich mich, warum sie mich so hartnäckig begleiten, ein Leben lang. Was sind sie: Nachweis, Hinweis, Ausweis, Ordner, Orientierungshilfe, Speicher, Inventar, Résumé, Halt? Sie halten zusammen, was sonst disparat auseinanderstiebt.“ (MM, 129) Rakusas Erinnerungspoetik bedient sich der „suggestive[n] Kraft“ 322 der Liste, um die Atmosphäre eines bestimmten Ortes oder das Bild einer bestimmten Person heraufzubeschwören und sich Vergangenes wieder zu vergegenwärtigen. Das Auflisten wird damit als ein Akt der Anrufung deutbar, der in der Benennung das (wieder-)erschafft, wovon er spricht. Die aufzählende Re-Präsentation des Vergangenen erreicht dort eine besondere Intensität, wo durch Wiederholung und anaphorische Parallelisierung ein rhythmisierender Effekt entsteht: Ich erinnere: ein melancholisches, über der markanten Nase etwas zu eng liegendes, mausbraunes Augenpaar. Ich erinnere: den über eine Näharbeit oder ein winziges Gebetbuch gebeugten Kopf. Ich erinnere: die schmalen Hände, […] Ich erinnere: ihren langsamen, bedächtigen Gang, […] Ich erinnere: ihre rührende Sparsamkeit, […] Ich erinnere: die orange-braun-gestreiften Hausschuhe aus Wollstoff mit einer Me‐ tallspange […] Ich erinnere: ihre Klagen über Blähungen und saures Aufstoßen, […] Ich erinnere: ihr dünnes, silberweißes Haar, […] Ich erinnere: ihre Sanftheit, […] (MM, 19 f.) Wie die Beschreibung der Großmutter zeigt, sind Rakusas Erinnerungslisten nicht allein Bestandsaufnahme, Registratur, rückblickende Dokumentation; sie reflektieren zugleich, was sie tun. Die zehnmalige Wiederholung des Ausdrucks „ich erinnere“ weist das Listenmachen als eine vom Subjekt intentional und aktiv 118 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 323 Vgl. Umberto Eco, Die unendliche Liste. München 2009, S. 137. 324 Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus, S. 523 und S. 664. - In Übereinstimmung mit der Theorie von Deleuze und Guattari zeichnet sich der nomadische Raum bei Rakusa durch seine sinnlich-affektiven Qualitäten aus; dem Element des Windes, dem in Mehr Meer sogar ein eigenes Kapitel gewidmet ist und das vor allem als klangliches Ereignis vollzogene Erinnerungspraktik aus, die auf die evokative Macht der Sprache - oder man könnte auch sagen: ihr Präsenzversprechen - vertraut. „Ich erinnere“ wird zu einer Beschwörungsformel, die das Vergängliche zu bannen und dem Vergessen entgegenzuwirken versucht. Der anti-nomadische Impuls des Listenmachens greift immer dort, wo sich etwas aufgrund seiner Vergänglichkeit, Flüchtigkeit oder Unfassbarkeit zu entziehen droht. In seiner eindrucksvollen Kulturgeschichte der Liste hat Umberto Eco das Unsagbare als eine entscheidende Ursache für sprachliche Aufzählungen in der Literatur betrachtet. Schon bei Homer stehe die Liste im Zeichen des Versuchs, das Unsagbare dennoch zu sagen und in eine Form zu bringen. 323 Rakusa bewegt sich durchaus in dieser Tradition, wenn sie die sinnliche Fülle ihrer Kindheitsorte in Formen der Liste einzufangen versucht: „Das Meer war blau und grün und türkis und grau und aschfarben und schwarz, aber auch weiß und rosa und rot und orange und golden und silbern. […] Es verweigerte sich jeder Bestimmung. Ich lernte, seine Wandlungsfähigkeit, seine Unfaßbarkeit zu lieben.“ (MM, 71) Ähnlich wie in der Erzählung „Die Tür zum Meer“ (vgl. Kap. 3.1) ist es auch hier die changierende Farbigkeit des Meeres, seine unbeschreibliche Sinnlichkeit, welche die Liste oder Aufzählung (wie weite Teile der Forschung verwende ich beide Begriffe synonym) provoziert und produziert. Die Liste bezeugt die Faszinationskraft, die „jenes Meer (das bestimmte)“ (MM, 304) auf die kindliche Ich-Erzählerin auszuüben vermochte. Zugleich ist sie eine Strategie des Umgangs mit den Grenzen des Darstellbaren. Spätestens hier ist es an der Zeit, über den anspielungsvollen Titel des Buches nachzudenken, der aus zwei gleichklingenden, aber bedeutungsverschiedenen Wörtern besteht: Mehr Meer. Dieses phonetische Verfahren lenkt die Aufmerk‐ samkeit erstens auf die Materialität des sprachlichen Zeichens und weist damit auf das Thema des Spracherwerbs hin, welcher sich häufig am Klang der Sprache orientiert und im Prozess des Sammelns (lautliche) Ähnlichkeiten und (semantische) Unterschiede zwischen den Wörtern registriert. Zweitens ist der Titel bereits in sich ambivalent strukturiert: Einerseits kündigt sich schon hier das Zentralmotiv des Nomadischen an. Mit dem „Meer“ in Mehr Meer wird der Archetyp des nomadischen Raumes aufgerufen, ein „Raum ohne Grenzen und Einfriedung“, der laut Deleuze und Guattari weder Mitte noch Zentrum hat, „von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt“ 324 und somit 119 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer beschrieben wird - „Der Wind hat keine Farbe, aber er tönt: singt, pfeift, stöhnt und tobt sich aus.“ (MM, 319) - kommt dabei eine hervorgehobene Bedeutung zu. Für eine ausführliche Interpretation von Rakusas „Winderinnerungen“ vgl. Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 394-398. 325 Eco, Die unendliche Liste, S. 137. 326 Matthias Schaffrick / Niels Werber, Die Liste, paradigmatisch. In: Zeitschrift für Litera‐ turwissenschaft und Linguistik 187 (2017), S. 303-316, hier S. 306. durch eine besondere Sinnlichkeit gekennzeichnet ist. Andererseits erschließt sich nach der Lektüre des Buches, dass der Titel durchaus eine konkrete Referenz aufweist, nämlich das adriatische Meer von Triest, das gleichsam das affektive Gravitationszentrum des Werks bildet. Neben der ‚klassischen‘ Deutung des Meeres als Sehnsuchtsmetapher, lässt sich der Titel drittens auch als vorwegnehmende Reflexion auf die im Text praktizierte Poetik der Liste und dem ihr zugrunde liegenden „Verlangen nach ‚mehr‘“ 325 verstehen. Im Ruf nach Mehr Meer wird der Ruf nach einem Konzept des ‚multiple belonging‘ laut, welches im Verfahren der Liste seine literarische Umsetzung findet. In mehrerlei Hinsicht lässt sich das sammelnde Textverfahren der Auf‐ zählung als formales Korrelat eines spezifischen Entwurfs von Zugehörigkeit betrachten, der Vorstellungen einer stabilen, an einen Ort gebundenen Zugehö‐ rigkeit ebenso infrage stellt wie ein radikal deterritorialisiertes Verständnis von Zugehörigkeit. Zugespitzt lässt sich die These vertreten, dass die Liste eine privilegierte Ausdrucksform multipler Verortungen darstellt. Um diese These begründen zu können, ist es notwendig, auf formale Besonderheiten und Operationsweisen der Liste sowie ihre „sozialen Effekte“ 326 einzugehen. An vielen Stellen wird der Fluss der Erzählung durch Listen und Aufzäh‐ lungen durchbrochen und der Nominalstil zum poetischen Prinzip erhoben. Das folgende Zitat abstrahiert von der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wahr‐ nehmungen, indem es bestimmte Orte mit bestimmten Gerüchen assoziiert und damit die Funktionsweise von Erinnerung demonstriert: Verläßlich: der Braunkohlegeruch (Ljubljana), der Geruch nach Tang und frittierten Sardinen (Triest), Zypressenduft (Triest, Grado), der Geruch nach regennassem Immergrün (Triest), der Geruch nach Zuckerwatte und gerösteten Mandeln (alle Jahrmärkte meiner Kindheit), der Geruch nach abgestandenem Fett und Pisse (Pro‐ vinzbahnhöfe Osteuropas), Javelwassergeruch (ungeziefergeplagter Süden), dumpfer Weihrauchgeruch (Italiens Kirchen), Jodgeruch (alte Apotheken). (MM, 316) Hier lässt sich noch einmal sehen: Nicht nur Dinge, sondern auch etwas so Ephemeres wie sinnliche Wahrnehmungen werden in Mehr Meer zum Sammlungsgegenstand. Sie verbinden sich zu einem heterogenen Ensemble 120 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 327 Ann Cotten, Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen. Wien 2008, S. 23. 328 Schaffrick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 308. 329 Vgl. Urs Stäheli, Das Soziale als Liste. Zur Epistemologie der ANT. In: Friedrich Balke / Maria Muhle / Antonia von Schöning (Hrsg.), Die Wiederkehr der Dinge. Berlin 2012, S. 83-101, hier S. 98. aus Erinnerungsfragmenten, das eine Vielheit von Bezügen wiedergibt. Doch steht der sinnliche Gehalt dieser Aufzählung in einem eigentümlichen Span‐ nungsverhältnis zu ihrer nüchternen Gestalt. Listen und Aufzählungen haftet etwas Langweiliges an, ihre repetitive Struktur erzeugt eine Einförmigkeit, die der Darstellung von Vielheit zu widersprechen scheint. Jede Liste ist eine Abstraktion und Vereinfachung, weil sie aus einer Fülle von Möglichkeiten einzelne Elemente selektiert und aus ihrem Zusammenhang isoliert. Die - von Eco übernommene - Behauptung, dass die Liste „ein Verlangen nach ‚mehr‘“ zum Ausdruck bringe, kann folglich leicht durch ihr Gegenteil ersetzt werden: Ist es nicht viel eher das Verlangen nach ‚weniger‘, nach Verringerung von Komplexität und Übersichtlichkeit, das sich im Herstellen von Listen artikuliert? Das allen Listen Gemeinsame ist ihr paradigmatisches Prinzip. Listen, so die Schriftstellerin Ann Cotten, sind „Paradigmakonstrukte“ 327 . Der Begriff des ‚Pa‐ radigmas‘ ist Roman Jakobson entlehnt, demzufolge jede sprachliche Äußerung zwei Grundoperationen vollzieht: Selektion (Auswahl aus einem Repertoire lautähnlicher oder sinnverwandter Wörter) und Kombination (Satzbildung bzw. Verknüpfung der ausgewählten Elemente zu einer größeren Einheit). Während die paradigmatische Achse der Selektion auf Äquivalenzbeziehungen zwischen sprachlichen Elementen beruht, ist auf der syntagmatischen Achse der Kombi‐ nation das Prinzip der Kontiguität, das heißt der Nachbarschaft oder Berührung, maßgeblich. Die Liste als ein paradigmatisches Gebilde zu begreifen, bedeutet demnach, die Gleichwertigkeit, mithin die Austauschbarkeit ihrer Elemente zu unterstreichen: „Durch den Eintrag auf der Liste werden die Elemente zu Bestandteilen dieser oder jener Liste vereinheitlicht, ganz gleich wie heterogen die einzelnen Elemente der Liste auf den zweiten Blick sein mögen,“ 328 so Matthias Schaffrick und Niels Werber in ihren grundlegenden Überlegungen zu Funktionsweisen der Liste. Aber wie stark ist die Identität einer Liste ausge‐ prägt? Sind ihre einzelnen Elemente einem gleichmacherischen Identitätszwang unterstellt? Die Liste stiftet einen losen und beweglichen Zusammenhalt, indem sie eine bestimmte Menge von mitunter höchst unterschiedlichen Elementen in einen gemeinsamen Rahmen überführt, der vielfältige Kombinations- und Ver‐ knüpfungsmöglichkeiten bereitstellt. 329 Damit schafft sie einen ambivalenten 121 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 330 „Parataxe statt Hypotaxe, Tendenz zur Elliptik, kombiniert mit melodischer Rhythmi‐ zität“ (Sprache, 50) - so beschreibt Rakusa ihren Stil. Zur Parataxe bei Rakusa vgl. auch Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 305-307; zur Parataxe bei Müller vgl. beispielsweise Hiroshi Yamamoto, „Überall, wo ich bin, hat alles, was sich da befindet, den Riß.“ Kontamination, Komposita und Parataxe bei Herta Müller. In: Neue Beiträge zur Germanisitik 17/ 2 (2019), S. 135-152 oder Julia Ogrodnik, die das anti-hierarchische und demokratisierende Moment dieses Stilmerkmals betont und es als Ausdruck einer „Poetik des Widerstands“ deutet. Julia Ogrodnik, Musik im Werk Herta Müllers. Exemplarische Analysen zu Atemschaukel, den Romanen, Erzählungen und Collagen. Berlin 2018, S. 107. Raum der Nicht-/ Zugehörigkeit, der verbindende und trennende Eigenschaften, homogenisierende und heterogenisierende Effekte in sich vereint. Mit diesen Eigenschaften ähnelt die Liste dem Konstruktionsprinzip der Para‐ taxe, das Sätze und Satzglieder durch beiordnende Konjunktionen (syndetisch) miteinander verbindet oder unverbunden (asyndentisch) nebeneinanderstellt, und das sowohl bei Müller als auch Rakusa eine intensive Verwendung findet. 330 Listen und parataktische Satzkonstruktionen können als formales Pendant zu geteilten Gefühlen von Zugehörigkeit gelten, weil sie deren Brüche und Ambivalenzen bis in die sprachlichen Strukturen hinein umsetzen. Müllers und Rakusas Texte adressieren ihre Leserinnen und Leser nicht nur auf einer kognitiven, sondern auch auf einer affektiv-emotionalen Ebene, indem sie sich stilistischer Darstellungsmittel bedienen, die das Verbindende und Trennende geteilter Gefühle von Zugehörigkeit reflektieren. „Und immer weiter, und immer Abschied nach nirgendwo.“ (MM, 31 [Herv. M. A.]) Mit Vorliebe bedient sich die Erzählerin von Mehr Meer kurzer, elliptischer und parataktischer Sätze wie dieser, um die nomadische Lebenspraxis rhythmisch zu artikulieren bzw. als eine Kette von affektiven Zäsuren zu profilieren, in der sich Abschied an Abschied reiht. Auch Müller macht sich Verfahren der Kombination von Disjunktion und Konjunktion in auffälliger Weise zunutze, um Gefühle der Nicht-/ Zugehörigkeit auf sprachlich-syntaktischer Ebene zu gestalten und die gespaltenen, von Zerrissenheit geprägten Gefühlswelten ihrer Figuren spürbar zu machen. So dient der parataktische Satzbau in „Niederungen“ nicht nur dazu, den Eindruck einer kindlichen Sprechweise zu simulieren, sondern wird auch dazu eingesetzt, Ambivalenzen der Nicht-/ Zugehörigkeit auszudrücken. Im folgenden Zitat imaginiert die Ich-Erzählerin ihren eigenen Tod, um sich vor den Augen des dörflichen Kollektivs der Liebe ihrer Mutter zu versichern: „Ich stellte mir vor, dass sie sich fragen werden, warum ich denn so unerwartet gestorben bin. Und Mutter wird viel um mich weinen, und das ganze Dorf wird sehen, wie gern sie mich gehabt hat.“ (N, 85 [Herv. M. A.]) Wie Rakusa leitet Müller ihre Sätze häufig mit der Konjunktion „und“ ein. Durch ihre exponierte 122 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 331 Vgl. etwa Teufel, 13 [Herv. M. A.]: „Meine größte Arbeit war, das, was im Kopf stand, zu verstecken. Das Täuschen war die Arbeit meiner Kindheit. Wußte ich doch sehr genau, daß man als ‚krank‘ erklärt werden konnte. Und wie rasch so was ging. Und wie endgültig das war und blieb […] Und ich wußte auch, daß es hinter der Norm nichts mehr gab, wodurch man dazugehörte, in einem kleinen Dorf. Und ich wollte dazugehören.“ Zur Zugehörigkeit als Täuschungsarbeit siehe Kapitel 2.3.3 dieser Arbeit und Acker / Fleig, „Der Schein des Dazugehörens“. 332 Robert E. Belknap, The List. Uses and Pleasures of Cataloguing. Yale 2004, S. 15. 333 Vgl. den gleichnamigen Abschnitt bei Stäheli, Das Soziale als Liste, S. 96-100. Stellung am Satzanfang wird ihre verbindende Funktion besonders akzentuiert, die durch die trennende Interpunktion aber umso wirkungsvoller gebrochen wird. Dieses Verfahren kommt auch in anderen Texten - wie beispielsweise im Kurzroman Reisende auf einem Bein oder in den Poetikvorlesungen - ausgiebig zum Tragen, um geteilte Gefühle von Zugehörigkeit für die Leserinnen und Leser affektiv nachvollziehbar zu machen. 331 Der unmittelbare Zusammenhang von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörig‐ keit wird von den Autorinnen nicht nur immer wieder reflektiert, er wird von ihnen durch parataktische Reihung, fragmentierte Syntax und additive Aufzählungsverfahren auch sprachlich und formal nachvollzogen. Gemeinsam ist diesen Mitteln ihre widersprüchliche Wirkung, die gleichzeitig Verbindung und Trennung signalisiert und die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem, Einheit und Vielheit aufwirft: By accretion, the separate units cohere to fulfill some function as a combined whole, and by discontinuity the individuality of each unit is maintained as a particular instance, a particular attribute, a particular object or person. Like the conjunction and, the list joins and separates at the same time. Each unit in a list possesses an individual significance but also a specific meaning by virtue of its membership with the other units in the compilation (though this is not to say that the units are always equally significant). 332 Bezogen auf das obige Beispiel (vgl. MM, 316) ist es offensichtlich der Ge‐ ruch, welcher den gemeinsamen Bezugspunkt der aufgezählten Zugehörigkeitsbzw. Erinnerungsorte bildet. Die Geruchseindrücke formen ein gemeinsames Paradigma; sie sind dadurch äquivalent, dass sie in ein und derselben Liste versammelt sind und dem gleichen semantischen Bereich angehören. Es gehört zur „Ambivalenz der Liste“ 333 , dass sie einerseits Einheit in die Vielheit des Wahrgenommenen bringt, andererseits die einzelnen Elemente als eigenstän‐ dige, singuläre Entitäten nebeneinander koexistieren und in ihrer Heterogenität bestehen lässt. Während die additive Struktur der Reihung ein gleichwertiges Nebeneinander des Verschiedenen suggeriert, weist die mehrfache Evokation 123 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 334 Deutlicher als im deutschen Wort ‚Erinnerung‘ schwingt in den englischen Wörtern ‚recollection‘ und ‚remembrance‘ die Vorstellung eines verlorenen Ganzen mit, dessen einzelne Teile zerstreut wurden und wieder eingesammelt werden müssen. Vgl. Jan Assmann, Re-Membering - Konnektives Gedächtnis und jüdisches Erinnerungsgebot. In: Michael Wermke (Hrsg.), Die Gegenwart des Holocaust. ‚Erinnerung‘ als religions‐ pädagogische Herausforderung. Münster 1997, S. 23-46, hier S. 24. 335 Matthias Schaffrick, Listen als populäre Paradigmen. Zur Unterscheidung von Pop und Populärkultur. In: KulturPoetik 16/ 1 (2016), S. 109-125, hier S. 111; vgl. auch Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 302 f. 336 Friedmar Apel, Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Müller. In: Eke (Hrsg.), Die erfundene Wahrnehmung, S. 22-31, hier S. 29. 337 Zur „Liste als Anti-Erzählung“ vgl. Cotten, Nach der Welt, S. 131-190 und Schaff‐ rick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 305 -307. der Kindheitsstadt Triest diesem Ort eine herausgehobene Bedeutung im multiplen Gefüge der Zugehörigkeiten zu. Dass die Aufzählung durch ihr paradigmatisches Äquivalenzprinzip alle Zugehörigkeiten auf die gleiche Ebene projiziert, muss also nicht bedeuten, dass zwischen diesen Zugehörigkeiten ein egalitäres Verhältnis herrscht. Gerade auf der Grundlage ihres paradigmatischen Prinzips können Listen Hierarchien etablieren und Bedeutungsunterschiede generieren. Die im Text als Frage formulierte These von der ‚Wichtigkeit‘ (vgl. MM, 35) der räumlichen Verortung lässt sich demnach wie folgt paraphrasieren: Trotz oder gerade wegen der nomadischen Mobilität sind Zugehörigkeitsorte wichtig, mitunter aber nicht gleichgewichtig. Der Selektionsprozess der Erinnerung bildet das Konglomerat optischer, akustischer, taktiler, gustatorischer und olfaktorischer Sinneseindrücke nicht vollständig ab, sondern schneidet aus dem sinnlichen Erfahrungszusammen‐ hang einzelne Fragmente heraus. Als Werkzeug und Produkt der Erinnerung 334 kann die Liste immer nur Teileindrücke und nie das Ganze der Erfahrung wie‐ dergeben. Aufgrund ihrer strukturellen Unabgeschlossenheit hält sie aber die Option der Erweiterung bereit. Sie rekurriert „qua Form auf ihre Fortsetzbarkeit und Unvollständigkeit“ 335 und weist somit stets über sich selbst hinaus. Dass die Liste nicht „das Ganze“ (MA, 88) abbilden kann, ist kein Manko, sondern ein Potenzial: „Die Aufzählung als eine Aneinanderreihung diverser, ja disparater Momente […] kommt ohne logische Scharniere aus.“ (MA, 86) Sie korreliert mit einem Zugehörigkeitsentwurf, der sich für die sinnlich-affektiven Erfahrungsweisen des Subjekts interessiert und Brüche und Widersprüche nicht glättet oder verdeckt, sondern nachdrücklich offenlegt. Ähnlich wie sich Müllers Schreiben als „Trennungsarbeit“ 336 charakterisieren lässt, das mit jeglichen Einheits- und Ganzheitsvorstellungen bricht, wirken Rakusas Listen der Illusion eines kohärenten Subjekts entgegen. Durch ihre anti-narrative Struktur 337 verweigern sie sich einer linearen Entwicklungslogik und der Etablierung 124 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 338 Stäheli, Das Soziale als Liste, S. 98. 339 Vgl. hierzu erläuternd ders., Listing the Global: Dis/ Connectivity beyond Representa‐ tion? In: Distinktion. Scandinavian Journal of Social Theory 13/ 3 (2012), S. 233-246, hier S. 240: „Precisely because the list has no intrinsic order, numerous groupings and regroupings are possible. The suppressed connections within the paratactic order produce resonances, new affinities - in brief, they establish new connections […]. The basic order of the list (which seems often as totally unordered) offers not simply chaos but calls for a more complex order. It generates a virtual space for recombinations, inventions, and narratives.“ Vgl. auch Belknap, demzufolge Listen über das Vermögen verfügen, „to spark endless connections and inclusions in a multiplicity of forms“. Belknap, The List, S. 2. 340 Stäheli, Das Soziale als Liste, S. 91; zur ‚schwachen‘ Identität der Liste vgl. außerdem den Abschnitt „The weak identity of a list“. In: Ders., Listing the global, S. 238 f. 341 Ders., Das Soziale als Liste, S. 88. 342 Zur Offenheit der Liste vgl. ebd., S. 94. 343 Vgl. Schaffrick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 306. eines kausallogischen Erzählganzen. Sie schaffen einen „Möglichkeitsraum“ 338 , in dem eine Vielheit von Zugehörigkeiten zu Geltung gelangen, Heterogenes miteinander verknüpft und immer wieder neu in Beziehung treten kann, 339 ohne einen sinnhaften Zusammenhang vorauszusetzen oder eine vereinheitlichende Identität durchzusetzen. Urs Stäheli, der sich in verschiedenen Beiträgen mit der Liste unter sozialtheoretischen Gesichtspunkten auseinandergesetzt hat, fasst diese Einsicht folgendermaßen zusammen: „Die Liste ermöglicht es, von heterogenen Einheiten zu sprechen, ohne diese mit Identitätszumutungen zu überfrachten.“ 340 Als Medium für „heterogene Versammlungen“ 341 lässt sie alternative Entwürfe von Zugehörigkeit denkbar werden, die sich jenseits essentialistischer bzw. ‚starker‘ Identitätskonzepte bewegen und die Annahme eines festen Wesenskerns abwehren. Allmählich dürfte verständlich werden, weshalb Rakusa - als eine Autorin, die sich selbst einen strengen Willen zur Form attestiert (vgl. Sprache, 15) - auf die vermeintlich anspruchslose Poetik der Liste zurückgreift, um ihren multiplen Zugehörigkeiten und der Variabilität ihrer Relationalität Ausdruck zu verleihen. So wie die Ausbildung von Zugehörigkeiten als ein unabschließbarer Prozess zu begreifen ist, so kann eine Liste prinzipiell verändert und um weitere Elemente ergänzt werden. 342 Im Gegensatz zu Narrativen, müssen die einzelnen Elemente einer Liste weder einer chronologischen Reihenfolge folgen noch kausal auseinander hervorgehen. 343 Die Liste sperrt sich den Kohärenzan‐ forderungen autobiographischer Selbstdarstellung und mit ihr verbundener Identitätskonzepte. Statt der Konstruktion eines einheitlichen und vollständigen Lebensganzen, bietet sie die Möglichkeit, die Gleichzeitigkeit verschiedener Zugehörigkeiten in ihrer heterogenen Vielfalt hervortreten zu lassen. Durch 125 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 344 Belknap, dessen Monographie sicherlich zu den wichtigsten literaturwissenschaftli‐ chen Arbeiten über die Liste gehört, erkennt in der „suggestion of plenitude“ einen zentralen Effekt der Liste. Belknap, The List, S. 3. 345 Vgl. Ilma Rakusa, Schriftsteller und Übersetzer - ein Zwillingsberuf ? In: Prospero 12 (2005), S. 31-39, hier S. 35. 346 Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 398. 347 Lena Wetenkamp, „Gefühlsalphabete“. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affek‐ träume bei Ilma Rakusa. In: Acker / Fleig / Lüthjohann (Hrsg.), Affektivität und Mehr‐ sprachigkeit, S. 241-260, hier S. 242. ihre ambivalente Beschaffenheit kann sie Vielheit und Fülle suggerieren und gleichzeitig das autobiographisch motivierte Bedürfnis nach Selbstvergewisse‐ rung, Zusammenfassung, Rück- und Überblick bedienen. 344 In ihrem Erinnerungsbuch beschreibt die Erzählerin, wie mit jedem neuen Ort eine neue Sprache dazukommt. Die Darstellung des polyglotten Lebenslaufs folgt einem Gestus der Mehrung und gewinnt dadurch selbst eine aufzählungs‐ förmige Gestalt, die suggeriert, dass mit dem ‚Mehr‘ an Sprachigkeit auch ein ‚Mehr‘ an Zugehörigkeit einhergeht. Zwischen den angesammelten Sprachen und Zugehörigkeiten besteht aber kein gleichrangiges Verhältnis. Vielmehr misst Rakusa dem Deutschen als Schreib- und Literatursprache eine übergeord‐ nete Bedeutung bei. Es ist diese und nur diese Sprache, in welcher sie Vielfalt zu modellieren und ihre Utopie eines mehrsprachigen Schreibens zu verwirklichen sucht. 345 Aus der Sicht von Konzepten wie dem Ansatz der ‚Transkulturalität‘, der - wie das Konzept des ‚Nomadischen‘ - Momente der Grenzüberschreitung zentral thematisiert, ließe sich kritisieren, dass die Begriffe ‚Mehrsprachigkeit‘ und ‚Mehrfachzugehörigkeit‘ ein additives und beziehungsloses Nebeneinander ver‐ schiedener Sprachen und Zugehörigkeiten nahelegen, statt ihr wechselseitiges Sich-Durchdringen zu reflektieren. Für Rakusa scheint ein solches Verständnis von Zugehörigkeit jedoch wenigstens teilweise zuzutreffen. Denn während sie einerseits das Konzept einer mehr-deutsch-sprachigen Schreibsprache entwirft, die laut Pasewalck „die Grenzen zu anderen Sprachen […] durchlässig“ 346 werden lässt, werden die verschiedenen Sprachen andererseits als „getrennte Entitäten“ 347 wahrgenommen, wie Lena Wetenkamp erläutert hat. Die differie‐ renden Forschungspositionen rühren meines Erachtens von im Werk selbst angelegten Divergenzen her, die aus dem Oszillieren zwischen einer Poetik des Nomadischen und einer Poetik der Liste resultieren. Wie bis hierher deutlich geworden sein sollte, zeichnet sich Rakusas Erinne‐ rungsbuch durch ein exzessives Austragen von Gegensätzen aus, und zwar auf sämtlichen Ebenen der Darstellung - angefangen von der Ebene der Semantik bis hin zur kompositionellen Makrostruktur. Die Poetik der Liste 126 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 348 Vgl. Urs Stäheli, Indizieren - Die Politik der Unsichtbarkeit. In: Martin Stempf‐ huber / Elke Wagner (Hrsg.), Praktiken der Überwachten. Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0. Wiesbaden 2019, S. 17-42, hier S. 18. 349 Vgl. Jack Goody, Woraus besteht eine Liste? In: Sandro Zanetti (Hrsg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, S. 338-396, hier S. 384. Zur „Politik der Liste“, die sich auch als eine politics of belonging beschreiben ließe, vgl. auch Stäheli Das Soziale als Liste, S. 88. 350 Beate Binder, Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hrsg.), Zwischen Emotion und Kalkül. Heimat als Argument im Prozess der Moderne. Dresden 2010, S. 189-204, hier S. 198. 351 Vgl. Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 299. - In ihrem jüngsten Buch Mein Alphabet (2019) bedient sich Rakusa der Form des Alphabets als strukturierendem, Ordnung stiftendem Prinzip. bildet einen konstitutiven Bestandteil dieses Spiels mit Gegensätzen. Aus den für sie charakteristischen Operationsweisen ergibt sich ihre antinomische Stellung zum Nomadischen von Rakusas Erinnerungspassagen. Weil das Listenmachen ‚auflistbare‘, also distinkte, voneinander abgrenzbare Elemente voraussetzt, 348 widerspricht es den Konzepten nomadischer Fluidität und Entgrenzung. Es praktiziert keine Grenzüberschreitung, sondern basiert im Gegenteil auf Grenz‐ ziehungen, die Ein- und Ausschlüsse produzieren. 349 Die (Gegen-)Poetik der Liste artikuliert einen doppelten Einspruch: gegen das postmoderne Zelebrieren einer völligen Deterritorialisierung von Bindungen einerseits und gegen einen Begriff von ‚Heimat‘ als exklusiver Raumbindung andererseits. Mobilität und Zugehörigkeit bilden in Mehr Meer keine Antithese, denn mit den transgressiven Bewegungen zwischen Orten und Sprachen spannen sich „Beziehungen und Loyalitäten über verschiedene Lokalitäten und verteilen sich auch Gefühle der Zugehörigkeit über den Raum“ 350 . Die To‐ pographien der Kindheit verdichten sich in den Erinnerungen der Ich-Erzählerin zu einer Sinneslandschaft (‚sensescape‘), die mit Assoziationen an Gerüche, Geschmäcker, Farben und Klänge, aber auch mit Sprachen und Gesten verknüpft ist: „Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen, die Speisen, die Gesten. Gefühlsalphabete.“ (MM, 14). Während Räume und Regime der Zugehörigkeit bei Müller immer schon miteinander verwoben sind, besteht Rakusa bzw. die Erzählerin von Mehr Meer auf ihrer Trennung. Nur auf dieser Basis kann der Raum der Kindheit zu einem Ort nostalgischer Reminiszenzen und sehnsuchtsvoller Rückbesinnung werden. Der Ausdruck „Gefühlsalphabete“ verweist dabei nicht nur auf die affektiven Dimensionen multipler Zugehörigkeiten, sondern evoziert mit dem Begriff des ‚Alphabets‘ wiederum eine spezifische Spielart der Liste und somit die Vorstellung eines Nebeneinanders separierter Elemente. 351 127 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 352 Rakusa, Wir machen Heimat. 353 Zur „Kontingenz der Liste“ vgl. den gleichnamigen Abschnitt bei Schaffrick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 303-305. 354 Dieses und vorhergehende Zitate: Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 103. 355 Stäheli, Das Soziale als Liste, S. 95. Auch das folgende, einem Zeitungsartikel zum Thema „Wir machen Heimat“ entnommene Zitat signalisiert durch die Fülle des Aufgezählten eine reiche Pluralität, indem es auf die Vielzahl der ‚Orte‘ rekurriert, denen sich die Autorin verbunden fühlt. Es beschreibt einen Entwurf von Zugehörigkeit, der jenseits kategorialer Zuschreibungen verläuft und die Eindeutigkeit nationaler Zuord‐ nungen in der konkreten Vielfalt räumlicher Bezüge und affektiver Bindungen auflöst: Denn mein Zuhause ist ebenso die deutsche Sprache wie meine Familie, die Literatur wie die Musik (von Bach bis Bartók), die Bucht von Triest wie das Bergeller Dorf Bondo, das Maria-Theresia-Gelb auf dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermon‐ archie wie die österreichisch-ungarische Küche (mit Gulasch, Topfenknödel und Palatschinken). In dieser Mehrfachverankerung fühle ich mich geborgen. 352 Weil das Erstellen von Listen auf einem Akt der Selektion beruht, sind Listen kontingent. 353 Diese Kontingenz wird für einen Zugehörigkeitsentwurf funk‐ tionalisiert, der ‚Heimat‘ nicht als etwas natürlich Gegebenes, sondern als Wahlmöglichkeit, als etwas Bewegliches und flexibel Gestaltbares begreift und mit dem bildlichen Ausdruck der Mehrfachverankerung umschreibt. Die Metapher des Ankers verweist nicht nur auf den für Rakusa so wichtigen (Hetero-)Topos des Meeres, sondern beinhaltet darüber hinaus ein Moment der Selbstbestimmtheit: Anders als etwa das statische Bild der Wurzel, in welchem „eine auf die Gemeinschaft bezogene Ursprungsmetaphorik“ mitschwingt, sug‐ geriert die Ankermetapher, dass man „am Ort der Wahl vor Anker gehen; die Anbindungen nach dem eigenen Gutdünken wählen [kann]. Mit der Metapher des Ankers lässt sich die Zugehörigkeit“, so Pfaff-Czarnecka, „als Möglichkeit (‚be-coming‘) denken.“ 354 Im Gegensatz zu Müllers Konzept der ‚Zugehörigkeit‘ als einer Konstellation der Ausweglosigkeit, kommt bei Rakusa damit ein deutlich optimistischerer Zugehörigkeitsentwurf zum Tragen, welcher den überkommenen, topographisch festgelegten, exklusiven Heimatbegriff dadurch öffnet und modifiziert, dass er ihm in und durch Formen der Aufzählung die „Vision einer im Prinzip unbegrenzten Inklusion“ 355 entgegenstellt. Nicht nur bringen Rakusas Listen die Multiplizität ihrer Zugehörigkeiten zum Ausdruck; sie neigen auch dazu, diese Multiplizität in immer neuen 128 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 356 Rakusa, Damit Europa zur Heimat werden kann, brauchen wir ein gemeinsames Narrativ, S. 327. 357 Klappentext zu: Ramb / Zaborowski (Hrsg.), Heimat Europa? 358 Stellvertretend für ein zeitgemäßes, nicht mehr nur territorial gedachtes, „plurale[s], offene[s] und performative[s] Heimat-Verständnis“ vgl. Edoardo Costadura / Klaus Ries / Christiane Wiesenfeldt, Heimat global: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Heimat global. Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion. Bielefeld 2019, S. 11-42, hier S. 36. 359 Stellvertretend für die Ablehnung eines solchen Umdeutungsversuchs vgl. den pro‐ grammatischen Aufruf „Deheimatize It! “ der Politikwissenschaftlerin Bilgin Ayata: „Dem vermeintlichen Potenzial von Heimat im Plural stehe ich skeptisch gegenüber. Nicht weil ich die Kraft und Notwendigkeit einer alternativen Kulturpolitik anzweifele, sondern weil ich den Begriff Heimat für nicht zu retten erachte. Ich halte es für verlorene Liebesmüh, den Heimatbegriff zu pluralisieren oder gar zu unterwandern, um seinen regressiven Komponenten entgegenzuwirken. Stattdessen möchte ich dafür plädieren, unsere politischen Diskurse und Referenzrahmen zu deheimatisieren.“ Bilgin Ayata, „Deheimatize It! “. In: Norbert Sievers / Ulrike Blumenreich / Sabine Dengel / Christine Wingert (Hrsg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/ 20, Thema: Kultur. Macht. Heimaten. Heimat als kulturpolitische Herausforderung. Bielefeld 2020, S. 39-44, hier S. 39. Paraphrasen zu reproduzieren, indem sie durch Wiederholung und Variation eine Vervielfältigung des Vielfältigen bewirken: Meine Heimaten wären: meine Familie und meine Freunde, die Literatur, alle meine Sprachen, ganz besonders aber die deutsche, in der ich schreibe und denke, die Musik (von Johann Sebastian Bach bis Béla Bartók), ein kleines Bergdorf im schweizerischen Bergell, der Braunkohlegeruch meiner Kindheit, das Maria-Theresia-Gelb kakanischer Bahnhofs- und Schulgebäude, Pasta, Palatschinken und Mohnbeugel. 356 Das Zitat entstammt einem Essay, den Rakusa für den 2019 erschienenen Sam‐ melband Heimat Europa verfasst hat. Auch diese Liste steht also im Kontext einer Debatte, die darum kreist was, „Heimat in einer zunehmend von Mobilität und geprägten Gesellschaft“ 357 heißt. Eine Frage, die spätestens seit der sogenannten europäischen „Flüchtlingskrise“ von 2015 eine hohe mediale, politische und auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und zu der Rakusa in ihren Essays und Zeitungsartikeln eine dezidierte Position vertritt. Im Streitwort ‚Heimat‘ treffen divergierende Positionen und Redeintentionen gleichzeitig aufeinander. Immer geht es dabei auch um Definitionshoheit: Man will, so das gängige Argument derer, die sich für eine dynamische und pluralische Neudefinition von ‚Heimat‘ einsetzen, den Begriff nicht ‚kampflos‘ aufgeben, seine Verwendung nicht jenen überlassen, die ihn als eine Chiffre für Ausgrenzung missbrauchen. 358 Diesem forcierten Bedeutungswandel stehen die Heimatskeptiker äußerst kritisch gegenüber. 359 Für sie ist dieser Begriff unauflöslich mit der gewaltvollen Geschichte seines Gebrauchs - insbesondere 129 3.2 Ambivalenz des Nomadischen in Mehr Meer 360 Die Beantwortung der Frage, inwiefern es sinnvoll ist, den Heimatbegriff unabhängig von, ja sogar entgegen seiner semantischen Implikationen und historischen Konnota‐ tionen zu verwenden, hängt meines Erachtens stark davon ab, welche Sprachauffassung die Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmer explizit oder implizit vertreten und ihrer eigenen Positionierung zugrunde legen. Begreifen wir das sprachliche Zeichen nicht als fixe Entität, sondern als wandelbares, durch den konkreten Sprechakt mit neuer Bedeutung aufladbares Element, dann steht dem Versuch seiner semantischen Umprä‐ gung im Prinzip nichts entgegen. Betrachten wir das einzelne Wort hingegen eher als eine Art historisches Archiv, in dem sämtliche Spuren seines Gebrauchs gespeichert und jederzeit (re-)aktivierbar sind, wird diesem Versuch eher mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Ablehnung zu begegnen sein. 361 Jan Urbich betrachtet diese „Renaissance“ als „ein ganz wesentliches Charakteristikum des anbrechenden 21. Jahrhunderts“. Jan Urbich, „Heimwärts kam ich spät gezogen“. Das Subjekt der Heimkehr in Dichtung und Philosophie der Moderne. Eine kurze Problemgeschichte. Göttingen 2020, S. 7. seiner Instrumentalisierung in der nationalsozialistischen Ideologie - verwoben und dadurch nachhaltig diskreditiert, mithin so stark belastet worden, dass sich seine Verwendung und Neubestimmung verbietet. 360 In genau diesem Spannungsfeld zwischen Umdeutung und Ablehnung be‐ wegen sich auch die hier zur Diskussion stehenden Autorinnen. Während Müller aus einer sprachskeptischen Einstellung heraus sich immer wieder vehement gegen den Heimatbegriff als Basis kollektiver Identitätsstiftung ausgesprochen und ihn wegen seiner Ideologieanfälligkeit auch „nie für [s]ich in Anspruch“ (Teufel, 123) genommen hat, macht sich Rakusa verschiedene publizistische Plattformen zunutze, um für einen offenen und inklusiven Hei‐ matbegriff zu votieren. Mit einer solchen Konzeptualisierung reiht sich Rakusa in den Reigen derer ein, die den Begriff von seinen ausgrenzenden Konnota‐ tionen zu befreien bzw. so weit zu fassen versuchen, dass er sich reaktionären Vereinnahmungen entzieht. In ihren Zugehörigkeitslisten findet eine Pluralität von „Heimaten“ Platz, die meist in derselben oder einer ähnlichen Anordnung aufgeführt werden und verschiedene Dimensionen der sozialen, räumlichen, sinnlichen und sprachlichen Zugehörigkeit miteinander kombinieren. In der Einleitung zu diesem Großkapitel habe ich mich dafür ausgesprochen, die außerliterarischen Theorie-Diskurse zu berücksichtigen, innerhalb derer sich Rakusas Werk situiert und verschiedene Entwürfe von Zugehörigkeit artikuliert. So wie das Frühwerk den euphorischen Tenor des Postmoderne-Dis‐ kurses wiedergibt, indem es das „unverankert“ (Steppe, 54) ungebundene Dasein des Nomaden zur conditio des Subjekts stilisiert, so trägt auch das in Mehr Meer und anderen (neueren, nach der Jahrtausendwende erschienenen) Texten entwickelte Konzept der ‚Mehrfachverankerung‘ die Signatur seiner Zeit, indem es an der „Renaissance von Heimat“ 361 partizipiert und in der Debatte um diesen 130 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 362 Rakusa, Wir machen Heimat. 363 Vgl. die Jury-Begründung für die Verleihung des Kleist-Preises 2019 an Ilma Rakusa auf der Homepage der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. URL: https: / / heinrich-von-kl eist-gesellschaft.de/ kleist-preise/ kleist-preis-2019/ (zuletzt abgerufen am 26.09.2022); Michael Braun, Ilma Rakusa im Porträt. Das polyglotte Unterwegskind. In: Der Ta‐ gesspiegel, 20.02.2017. URL: https: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ ilma-rakusa-im-portr aet-das-polyglotte-unterwegskind/ 19412370.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Martin Ebel, Laudatio zu Ilma Rakusa: Mehr Meer, 2009. URL: https: / / schweizerbuc hpreis.ch/ wp-content/ uploads/ 2017/ 07/ Laudatio-M-Ebel-Ilma-Rakusa-Mehr-Meer.pdf (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). Begriff Stellung bezieht. Diese Stellungnahmen erfolgen zum Teil ganz explizit. Sie äußern sich aber auch subtiler in einer Poetik, die sammelnde Textverfahren praktiziert und damit zugleich vollzieht, wofür sie inhaltlich votiert: Für ein Denken von ‚Heimat‘ und ‚Zugehörigkeit‘ in der „Mehrzahl“ 362 . 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik „Polyglotte Intellektuelle“, „poeta docta“ [sic! ], „europäische femme de lettres“, „geborene Kosmopolitin“, „zwischen vielen Sprachen changierende Weltpoetin“, „Nomadin“ - 363 so lauten die geläufigen Attribute, die Rakusa zugeschrieben werden. Sie decken sich weitestgehend mit den Selbstdarstellungen der Autorin, die sich in ihren Poetik-Vorlesungen als eine „schreibende Nomadin“ (Sprache, 16) sieht, sich über ihre „Luftwurzeln“ (Sprache, 9) definiert und in ihren Texten immer wieder das Unterwegssein thematisiert und inszeniert. Die Selbstdarstel‐ lungen der Autorin finden ihren Widerhall im Figurenarsenal ihrer Texte, die von „Nomaden“ (Steppe, 13), „pannonischen Herumstreuner[n]“ (Steppe, 55) und der autobiographisch geprägten Erfahrung der „Kofferkindheit“ (MM, 311) handeln. In der Befürwortung des Nomadischen als Existenz- und Schreibweise scheinen explizite Autorpoetik und immanente Textpoetik ein Entsprechungs‐ verhältnis aufzuweisen. Diese Beobachtung weist auf eine wichtige, sowohl für Rakusa als auch für Müller geltende These meiner Arbeit voraus: die These einer engen Verwobenheit und wechselseitigen Bezogenheit zwischen literarischen und poetologischen Texten, die Gattungsgrenzen durchlässig werden lässt und die Literaturwissenschaft vor große theoretische und methodologische Herausforderungen stellt. Die folgenden Ausführungen wollen diese Heraus‐ forderungen am Beispiel der Bewegungen, welche das Motiv des Nomadischen in Rakusas Werk vollzieht, exemplarisch umreißen. 131 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 364 Vgl. etwa Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 398; Gabriella Sgambati, Die Selbstübersetzung im transkulturellen Raum am Beispiel Ilma Rakusas. In: Ana Bernardo / Fernanda Mota Alves / Ana Margarida Abrantes (Hrsg.), Vom Experiment zur Neuorientierung. Forschungswege der Germa‐ nistik im 21. Jahrhundert. Berlin 2017, S. 153-160, hier S. 157; Mrázková Zelená, Die Bewegung in der Migrationsliteratur am Beispiel von Ilma Rakusas Erinnerungsbuch Mehr Meer, S. 99. 365 Mit Rakusas früher Prosa, zu der die Erzählbände Steppe (1990) und Miramar (1986) zählen, hat sich die Forschung bislang wenig beschäftigt. 366 Schamma Schahadat, Sichtbare Übersetzer - transkulturelle Biographien. Am Beispiel von Karl Dedecius und Ilma Rakusa. In: Dies. / Stepán Zbytovsky (Hrsg.), Übersetzungs‐ Im Anschluss an Bal und Lipphardt habe ich vorgeschlagen, das Nomadische als ein ‚travelling concept‘ zu begreifen, um seine Beweglichkeit zu unterstrei‐ chen und die Transformation seiner Bedeutung im Vergleich von Rakusas Früh- und Spätwerk nachzuzeichnen. Angesichts der Ambivalenzen und Divergenzen, welche die implizite Poetik von Mehr Meer kennzeichnen, ist es erstaunlich, dass die Forschung ausgerechnet dieses Werk als Ausweis einer emphatischen „Poetik des Nomadischen“ (Sprache, 99) gesehen hat. 364 Wie ich gezeigt habe, propagiert Mehr Meer keinen nomadischen im Sinne eines vollkommen deter‐ ritorialisierten Zugehörigkeitsentwurfs. Die Orte, Räume und Landschaften, denen die Ich-Erzählerin auf ihrer Reise begegnet, sind mehr als nur flüchtige Durchgangsstationen, sondern haften dauerhaft an der Erinnerung. Als Anker- und Fixpunkten kommt ihnen eine zugehörigkeitsstiftende Bedeutung zu. Mit dem Reisen und Unterwegssein ist in Mehr Meer keine Aufkündigung von Ortsbezügen gemeint, stattdessen wird die Möglichkeit multipler Zugehörigkeit und simultaner Mehrfachverortung aufgezeigt. Will man hingegen Belege für eine „Poetik des Nomadischen“ im hochgestimmten Ton der postmodernen Theoriebildung sammeln, so wird man, wie ich dargelegt habe, besser im Frühwerk Rakusas fündig. 365 Als lebensweltlich verankerte, poetologische Leitvokabel steht das Noma‐ dische mit einer ganzen Reihe anderer Schlagworte im Zusammenhang - wie zum Beispiel „Grenzgängertum“ (Sprache, 10), „Daheim im Dazwischen“ (Sprache, 11), „hybride Identitäten“ (MM, 18) -, die Rakusas Selbstverständnis als transkulturelle Autorin ausdrücken und einen theoretischen Resonanzraum eröffnen, den die Forschung mit naheliegenden Referenzen aufgefüllt hat: Mit ihrer transkulturellen Genealogie und Biographie ist Rakusa das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als nomadisches Subjekt bezeichnen: Verkörperung eines mythischen Bildes der Deterritorialisierung, eine wandernde Intellektuelle, die nicht migriert, sondern sich permanent bewegt und Grenzen überschreitet. 366 132 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa landschaften. Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld 2016, S. 19-40, hier S. 36. 367 Leonhard Herrmann / Silke Horstkotte, Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stutt‐ gart 2016, S. 206. 368 Julika Griem, Standards für Gegenwartsliteraturforschung. In: Germanisch-Romani‐ sche Monatsschrift 65/ 1 (2015), S. 97-114, hier S. 101. 369 Johanna Bohley, Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als „Form für Nichts“. In: Dies. / Julia Schöll (Hrsg.), Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahr‐ hunderts. Würzburg 2011, S. 227-242, hier S. 227; vgl. auch die Diagnose eines „Zeitalter[s] der Poetikvorlesungen“ im gleichnamigen Artikel von Matteo Galli. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68/ 776 (2014), S. 61-65. 370 Vgl. Gerhard Kaiser / Torsten Hoffmann (Hrsg.), Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Paderborn 2014. Nicht nur wird in diesem Zitat Rakusas Selbstbeschreibung unhinterfragt reproduziert; sie wird auch sogleich mit einer spezifischen theoretischen (Denk-)Figur identifiziert, die von Deleuze und Guattari in den 1980er Jahren eingeführt wurde und sich seither als Schlüsselterminus in den Debatten um die conditio des postmodernen Subjekts etabliert hat. Diese Vorgehensweise stellt ein durchaus gängiges Prozedere der (gegenwarts-)literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis dar und ist aus zwei Gründen problematisch: Der erste Grund ist eher grundlegender Art und bezieht sich auf den methodo‐ logischen Umgang mit autorseitigen Aussagen und dem Status von Gegenwarts‐ literatur als akademischem Untersuchungsobjekt. Wie bei Müller machen poe‐ tologisch-diskursive Texte einen erheblichen Anteil von Rakusas literarischem Gesamtwerk aus. Es gibt vier publizierte Vorlesungen zur Poetik (Farbband und Randfigur, 1994; Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen, 2006; Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Stefan Zweig Poetikvorlesung, 2014; Listen, Litaneien, Loops — zwischen poetischer Anrufung und Inventur, 2016), in denen die Autorin nicht nur über „ihre eigenen Überzeugungen und Ansprüche, über Einflüsse und Kontexte ihres Schreibens“ 367 reflektiert, sondern immer wieder auch als Leserin ihrer eigenen Texte in Erscheinung tritt und sich somit aktiv an der Deutung ihres Werks beteiligt. Dies stellt keine Besonderheit dar, sondern lässt sich in einen größeren Trend einordnen, der aus „veränderte[n] akademische[n] Kontaktzonen für Schriftsteller und Forscher“ resultiert und Julika Griem zufolge „Distanzprobleme und Rollenkonflikte“ 368 produziert. Die Poetik-Vorlesungen, bei denen ein Autor oder eine Autorin dazu einge‐ laden wird, einen oder mehrere poetologische Vorträge an einer Universität zu halten, erleben seit den Nullerjahren eine „außerordentliche Konjunktur“ 369 . Andere Arten poetologisch-diskursiver Texte wie beispielsweise autoreflexive Essays oder Autoreninterviews verzeichnen einen ähnlichen Aufschwung. 370 133 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 371 Carlos Spoerhase, Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68/ 776 (2014), S. 15-24, hier S. 21. 372 Ebd., S. 22. 373 Vgl. ebd.: „Einem Autor, der zu seinem Text befragt wird oder in wissenschaftlich ge‐ rahmten Poetikdozenturen Informationen über sich, seinen Produktionsprozess, seine Schreibmotive und Intentionen preisgibt, wird nämlich just der privilegierte Zugang zu seinen Texten zuerkannt, den ihm die Literaturwissenschaft immer noch häufig programmatisch abspricht. Zwar haben ‚Autorargumente‘ schon immer und selbst noch zu Hochzeiten antihermeneutischer Programmatik die praktische Interpretationsarbeit dominiert, doch ihr forcierter Einsatz in der Forschung zur Gegenwartsliteratur wird zumeist gar nicht mehr als wissenschaftstheoretisches Problem, sondern als erfreuliche Bereicherung und Bestätigung wahrgenommen: Entweder adelt der Autor nachträglich den Interpreten seines Texts durch seine freundliche Zustimmung, oder aber der Interpret bewegt sich von vornherein auf den zuvor vom Autor vorgegebenen Spuren.“ 374 Gundela Hachmann, Poeta doctus docens. Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung. In: Sabine Kyora (Hrsg.), Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014, S. 137-155, hier S. 140. Ob diese Entwicklung dem Druck der Aufmerksamkeitsökonomie, dem Wandel institutioneller Rahmenbedingungen oder einem gesteigerten Authentizitäts‐ begehren geschuldet ist, müsste diskutiert werden. Fest steht, dass mit der Ausdifferenzierung der Gattungen, in denen sich „vom Autor verbürgtes Wissen über sich und seine literarische Produktion“ 371 manifestiert, notwendigerweise die Instanz des Autors selbst wieder verstärkt in den Fokus rückt. Zumal in der Forschung zur Gegenwartsliteratur sei, moniert Carlos Spoerhase, eine „unkontrollierte Aufwertung autorzentrierter Interpretationsverfahren“ 372 zu beobachten, die, methodisch unreflektiert, den auktorialen Selbstauskünften ein Deutungsmonopol zugesteht, den Text auf eine von potenziell vielen mög‐ lichen Lesarten beschränkt und die professionellen Textinterpretinnen und -interpreten zu Gehilfinnen und Gehilfen des Autors werden lässt. 373 Auktoriale Selbstkommentare fungieren als Instrumente der Rezeptionslen‐ kung; sie beeinflussen nicht-professionelle Leserinnen und Leser ebenso wie literaturwissenschaftliche Interpretationen. Darüber hinaus bilden sie „wichtige Foren zur Konstruktion der öffentlichen Person […], als welche ein Autor oder eine Autorin sich wahrnehmen lassen will“ 374 . Sie produzieren und repro‐ duzieren spezifische Autorbilder, die sich im Grenzbereich zwischen Fiktion und Autobiographie, ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘, Intimität und Öffentlichkeit bewegen und dürfen deshalb nicht als bloße Erklärungshilfen zum vermeintlich ‚eigentlichen‘ literarischen Werk gelesen bzw. als dokumentarisches Quellen‐ material behandelt werden. Genau dies ist aber in weiten Teilen der Rakusa-Forschung der Fall, wie Wetenkamp kritisch bemerkt hat: Der unreflektierte Rückgriff auf auktoriale 134 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 375 Wetenkamp, „Gefühlsalphabete“, S. 258. 376 Der Begriff geht auf einen Aufsatz von Boris Tomaševskij zurück: Literatur und Biographie [1923]. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 49-61. 377 Sabine Boomers, „It’s a No-mad Nomad World“. Bruce Chatwin als Protagonist okziden‐ taler Mobilitätslust. In: Winfried Gebhardt / Ronald Hitzler (Hrsg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 51-65, hier S. 51. 378 Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus [1999]. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2003; vgl. auch Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 35 f. und S. 38 sowie Schroer, Mobilität ohne Grenzen? , S. 118. Diskurse der Selbstpräsentation hätte zur Konsequenz, dass sich Literaturpro‐ duktion und -interpretation „in einem nicht abschließbaren Zirkel drehen“ 375 . Zudem kann er vergröbernde Effekte zur Folge haben und würde, auf die spezifische Fragestellung meiner Arbeit bezogen, in einen plakativen Gegen‐ satz zwischen den beiden Autorinnen und ihren Zugehörigkeitsentwürfen einmünden: auf der einen Seite Müller, ‚das Mädchen vom Lande‘, das der provinziellen Enge von Dorf und Diktatur vergeblich zu entfliehen versucht; auf der anderen Seite Rakusa, die Intellektuelle, Nomadin und Weltbürgerin, deren Leben und Schreiben sich in kosmopolitischer Weite entfaltet. Neben den methodologischen Bedenken gegenüber einer literaturwissen‐ schaftlichen Praxis, die ‚biographische Legenden‘ 376 wie etwa die mittlerweile zum Topos geronnene Selbstdarstellung Rakusas als „schreibende Nomadin“ lediglich affirmiert, verdoppelt oder fortschreibt, betrifft ein zweiter Kritikpunkt die Assoziation dieser Aussagen mit bestimmten Theoremen, die sich im Hallraum der Autorpoetik fast unweigerlich aufdrängen. Mit der Kurzschlie‐ ßung von poetologischer Selbstinszenierung und philosophischer Nomadologie werden auch die wertenden Implikationen übernommen, welche die Beschwö‐ rung der befreienden Wirkung deterritorialisierender Kräfte bei Deleuze und Guattari, Braidotti und anderen enthält. Nicht nur übersieht eine solche vor‐ schnelle Referenzierung die Widersprüche und Ambivalenzen, die Rakusas Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit charakterisieren. Sie ist auch deshalb zu kriti‐ sieren, weil der postmoderne Theorienomade mittlerweile viel von seinem eins‐ tigen Subversionspotenzial eingebüßt hat. Es ist inzwischen mehrere Jahrzehnte her, dass Deleuze und Guattari den Nomaden als eine Figur des Widerstands entworfen haben. Flexibilität, Grenzüberschreitung und Beweglichkeit - all das, wofür der Nomade steht - sind seither zum festen Bestandteil im Repertoire „neoliberaler Zumutungen“ 377 geworden. Sie haben sich zu sozialen Normen verfestigt, die den „neuen Geist des Kapitalismus“ 378 bestimmen. „Der Theori‐ enomade leistet heute keinen Widerstand mehr, er schwimmt mit dem Strom“ 379 , 135 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 379 Lipphardt, Der Nomade als Theoriefigur, S. 38. 380 Vgl. Schroer, Mobilität ohne Grenzen? , S. 118: „Die mobile Gesellschaft konstituiert ihre eigenen Gesetze von Einschluss und Ausschluss, Inklusion und Exklusion. Wer nicht ausgeschlossen werden, sondern dazugehören will, muss mobil sein oder doch zumindest Mobilität inszenieren können. Langst hat sich eine Ordnung herauskristal‐ lisiert, in der sich die Bewertung von Sesshaftigkeit und Nichtsesshaftigkeit nahezu umgedreht zu haben scheint. War einst der Wanderer derjenige, der den Argwohn der Sesshaften auf sich zog, weil er als ebenso unstet wie unzuverlässig galt, so macht sich heute verdächtig, wer nicht dauernd unterwegs ist.“ wie Lipphardt diese Entwicklung treffend resümiert. In einer vernetzten und globalisierten Welt, die unter dem Imperativ der Mobilität auch neue Nicht-/ Zugehörigkeitsregime produziert, 380 scheinen sich die althergebrachten Bewer‐ tungen von Sesshaftigkeit und Nomadentum geradezu in ihr Gegenteil verkehrt zu haben: Nicht mehr das nomadische, sondern das immobile und ortsverhaftete Subjekt, das sich dem Diktat der Flexibilität widersetzt, gilt heute als suspekt. Aus diesen Einwänden ist keinesfalls die Konsequenz abzuleiten, die poeto‐ logischen Texte, die Rakusas literarisches Werk nicht nur begleiten, sondern als integraler Bestandteil desselben anzusehen sind, aus der literaturwissen‐ schaftlichen Betrachtung auszuklammern. Vielmehr will ich dafür argumen‐ tieren, (auch) zu diesen Texten einen analytischen Abstand einzunehmen. Das heißt genauer: Ich will sie in ihrem dialogischen Kontext situieren, ihre institutionellen und gattungsmäßigen Rahmenbedingungen reflektieren, statt sie unhinterfragt zu reproduzieren oder sie voreilig mit einem bestimmten Theorem zu amalgamieren. Worauf antwortet und wogegen richtet sich Rakusas Behauptung, „eine schreibende Nomadin zu sein“? - Erst im Horizont dieser Frage wird sich zeigen können, dass das Nomadische in Rakusas Poetik nicht nur als Gegenpol zum Bestreben nach Verortung fungiert, sondern selbst zugehörigkeitsstiftende Funktion übernimmt. Die poetologische Selbstaussage, „eine schreibende Nomadin zu sein“ hat sowohl zugehörigkeitsverneinende Bedeutung als auch eine produktive, herstellende Dimension. An ihr lässt sich somit der statische Gegensatz zwischen Zugehörigkeit (korreliert mit Abhängig‐ keit, Verbzw. Anbindung, Verortung, Stagnation) und Nomadentum (korreliert mit Freiheit, Ungebundenheit, Ortlosigkeit, Bewegung) entkräften bzw. eine der Generalthesen dieser Arbeit bekräftigen: Wenn sich das Nomadische als Konzept von ‚Zugehörigkeit‘ begreifen lässt, so ist damit zugleich gesagt, dass Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit unmittelbar aneinander gebunden sind, Nicht-Zugehörigkeit mithin Zugehörigkeit impliziert - und andersherum. Rakusas Selbstinszenierung als „schreibende Nomadin“ erfolgt nicht zufällig im Rahmen eines Veranstaltungsformats, das in seiner Ausrichtung auf ein akademisches Publikum und ein Ideal des poeta doctus bzw. der poetria 136 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 381 Bohley moniert in diesem Zusammenhang die auffällige Homogenität in der Berufungs‐ politik der Universitäten, die bevorzugt Autorinnen und Autoren mit fortgeschrittenen Bildungsabschlüssen (Promotion) einladen und sich damit am „Ideal des poeta doctus“ orientieren. Bohley, Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 234. 382 In der Einleitung ihres Buches sagt Braidotti sogar ganz explizit, dass die Figur der Nomadin autobiographisch fundiert ist. Vgl. Braidotti, Nomadic Subjects, S. 1 und S. 6 f. 383 Boomers, „It’s a No-mad Nomad World“, S. 61. - Vgl. auch Žižek, der kritisch zu bedenken gibt, „dass die ‚kosmopolitischen‘ intellektuellen Eliten, die es verachtenswert finden, wenn man an seinen lokalen oder sonstigen Wurzeln hängt, ihrerseits einem recht exklusiven Kreis angehören und ihre kosmopolitische Wurzellosigkeit somit das Kennzeichen einer tiefen und starken Zugehörigkeit ist. (Aus diesem Grund ist es vollkommen obszön, die elitären ‚Nomaden‘, die im Flieger die Welt umkreisen, auf eine Stufe mit Flüchtlingen zu stellen, die verzweifelt auf der Suche nach einem sicheren Ort sind, an dem sie sich zugehörig fühlen können […]).“ Slavoj Žižek, Der Mut der Hoffnungslosigkeit [2017]. Aus dem Englischen von Frank Born. Frankfurt am Main 2018, S. 298 f. docta ähnlich elitäre Züge trägt wie das Konzept des ‚Nomadischen‘ im post‐ modernen Theoriediskurs. 381 Natürlich muss man fairerweise sagen, dass die Philosophinnen und Philosophen des Nomadischen im akademischen Betrieb ihrer Zeit eher Randpositionen einnahmen. Die Denkerinnen und Denker des Peripheren bewegten sich selbst an der Peripherie, sodass die Theoriefigur des Nomadischen die Züge eines Selbstporträts erhält. 382 Einerseits mutet es unangemessen an, ausgerechnet jenen Denkerinnen und Denkern Elitismus vorzuwerfen, deren Theorieentwürfe sich sowohl inhaltlich als auch stilistisch gegen die gleichsam eingesessenen (akademischen) Autoritären absetzen und sich für minoritäre Kräfte, marginale Existenzen und nomadische Formen der Subjektivität einsetzen. Andererseits artikuliert sich in dieser Parteinahme „durchaus ein ausgesprochen elitäres Ansinnen“, denn „das Lob der Ungebun‐ denheit und Flexibilität [negiert] die Lokalisierungsbedürfnisse derjenigen, die gezwungenermaßen im Unsteten leben müssen. Nicht jeder Erdbewohner kann es sich leisten, heimatlos zu sein oder wünscht sich, dem Spiel frei flottierender Neuanfänge und Identitäten nachzugehen.“ 383 Aus dieser, mittlerweile selbst topisch gewordenen Kritik heraus war mir die Hervorhebung der Ambivalenzen des Nomadischen in Mehr Meer ein so wich‐ tiges Anliegen. Statt einer positiv-verklärenden Perspektive auf Zugehörigkeits‐ losigkeit, lässt die Herstellung von Orten, die Dauer und Besitz versprechen, ein Bedürfnis nach langfristiger Bindung und somit eine implizite Distanznahme vom postmodernen Nomadentum durchklingen. Die Wanderungen, die das Motiv des Nomadischen im Werk Rakusas unternimmt, ist zugleich eine Bewe‐ gung der Kritik, welche die Wandlungen des Diskurses nach- und mitvollzieht und sich insofern als zeitgebunden zu erkennen gibt. 137 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 384 Klettenhammer, „Ich ist viele“, S. 247. 385 Zugehörigkeit entsteht laut Pfaff-Czarnecka „durch das Wechselspiel (1) der Wahrneh‐ mungen und der Performanz der Gemeinsamkeit, (2) der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und (3) der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen“. Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 12. 386 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs [1929]. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm nach der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage 1963. München 1971, S. 66. Während Mehr Meer die Unfreiwilligkeit der Nomadenkindheit problemati‐ siert und sich hierdurch vom „Lob der Ungebundenheit“ distanziert, das noch die frühen Texte bestimmt, folgt die poetologische Selbstaussage, eine „schreibende Nomadin“ zu sein, einer anderen Stoßrichtung der Kritik. Dies zeigt deutlich das Selbstporträt, mit dem Rakusa ihre 2005 abgehaltenen Dresdner Chamisso-Poe‐ tikvorlesungen Zur Sprache gehen eröffnet hat: Zugegeben, meine Herkunftsgeschichte ist nicht ganz einfach. Geboren wurde ich in Rimavská Sobota (Rimaszombat) in der Slowakei, nicht als Slowakin, sondern als Tocher einer Ungarin und eines Slowenen. Meine Mutter, der ungarischen Minderheit entstammend, lernte meinen Vater in Budapest kennen. Zusammen kehrten sie während des Krieges nach Rimavská Sobota, in die Heimatstadt meiner Mutter zurück. Dort kam ich 1946 zur Welt, dort verbrachte ich meine ersten zwei Lebensjahre. Dann zogen wir los: zuerst nach Budapest, später nach Ljubljana, in die Heimat meines Vaters. Und schließlich nach Triest […]. Beim rastlosen Umherziehen führte ich keine Puppen und Plüschtiere mit, sondern leichtes Sprachgepäck: Ungarisch und Slowenisch. In Triest […] lernte ich Italienisch und schnappte einige Brocken Englisch auf. […] Mit fünf zog ich nach Zürich, hier kam Deutsch hinzu. (Sprache, 7 f.) Diese Selbstbeschreibung mobilisiert den Topos des Nomadischen in Antwort und Reaktion auf kursierende nationalliterarische Festschreibungen, die Rakusa „bald als slowakische, bald als ungarische und bald als Schweizer Schriftstel‐ lerin ausweisen“ 384 . Der Akt der korrigierenden Richtigstellung situiert das Nomadische im Spannungsfeld von Selbstbild und öffentlicher Wahrnehmung und führt die Reziprozität der Zugehörigkeit vor Augen, die sich als wechsel‐ seitiger Prozess zwischen Eigen- und Fremddeutung vollzieht. 385 Rakusa nutzt das Podium der Poetik-Vorlesung, um sich gegen die Zuschreibungen aus dem öffentlichen Diskurs zu wehren. Mit Bachtin könnte man sagen, dass Rakusa gegen die „Bestimmungen ihrer Person im Munde anderer Menschen [kämpft]“ 386 , indem sie Behauptungen, die ihrer eigenen Selbstwahrnehmung widersprechen, als „unemphatisch“ (Sprache, 9) kritisiert oder mit Äußerungen wie „ungelogen: ich bin eine deutschsprachige Schriftstellerin“ (Sprache, 8) zugleich reaktiv und antizipierend fremde Repliken in die eigene Rede mitein‐ 138 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 387 Als eine solche Inszenierung von ‚Bildung‘ lässt sich auch Rakusas Erinnerungsbuch Mehr Meer begreifen, in dem die Autorin Elemente des klassischen Bildungsromans aufgreift und „(transkulturell) funktionalisiert“ (Schahadat, Sichtbare Übersetzer, S. 30), was nochmals den engen Zusammenhang von poetologischen und literarischen Texten belegt. 388 Die Arbeit mit Zitaten lässt sich als Vorführung von (literarischer) Bildung verstehen, die auch die literarischen Texte prägt und der Autorin früh den Vorwurf des Elitismus eingebracht hat. In ihren poetologischen Texten hat Rakusa dazu dezidiert Stellung bezogen (vgl. Farbband, 140). 389 Ilma Rakusa, Zur Sprache gehen. Typoskript aus dem Jahr 2005. Gesichtet im Vorlass, einsehbar im Schweizerischen Literaturarchiv unter der Signatur A-05-b. bezieht und gegen sie Stellung nimmt. Die Nacherzählung ihres ‚nomadischen‘ Lebensweges ist durchsetzt mit Worten, die deutlich responsiven Charakter haben und die Dialogizität der Rede hervortreten lassen. Sie zeigt die wech‐ selseitigen Kommunikationsstrukturen, die sich zwischen Rakusa und ihrer Leserschaft herausgebildet haben und zielt auf einen Selbstentwurf, welcher sich von nationalen Zugehörigkeitskategorien distanziert und dem Publikum einen anderen Blick auf Leben und Werk der Autorin offeriert, indem er eine spezifische Form von Bildung inszeniert: Rakusa präsentiert sich in ihrer Poetik-Vorlesung als eine Autorin, die qua ihrer ‚nomadischen‘ Sozialisation ein umfangreiches kulturelles Kapital angesammelt hat, das die Beherrschung mehrerer Sprachen, ein „Bewußtsein für Andersheit“ (Sprache, 10), ein Gespür für Pluralität und Differenz sowie andere Fähigkeiten beinhaltet, die man heute unter Stichwörtern wie „kosmopolitische“ oder „transnationale Kompetenzen“ zusammenfasst. 387 Abgerundet wird diese Darstellung durch einen Habitus weltliterarischer Belesenheit, welcher die Infragestellung nationalliterarisch verengter Sichtweisen noch einmal zusätzlich unterstreicht. 388 (Zeltlos) zur Sprache gehen sollte übrigens der ursprüngliche Titel der Vor‐ lesungen lauten. 389 Das Motiv des Nomadischen erscheint in dieser Fassung dahingehend radikalisiert, dass es - über das Moment von Bewegung hinaus - eine vollkommene Unbehaustheit und Schutzlosigkeit signalisiert. In den Vorle‐ sungen wird es einerseits in zugehörigkeitsnegierender Absicht (Ablehnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation und ihrer Literatur) funktionalisiert, andererseits beinhaltet es eine legitimierende Komponente: Indem Rakusa ihre Vortragsreihe mit der Darstellung ihrer eigenen „Bildungsgeschichte“ (Sprache, 9) eröffnet, erfüllt und bestätigt sie die Erwartungen, die mit der Poetikdozentur verbunden sind. Die Berufung zu dieser Position gilt als eine Auszeichnung, die den jeweiligen Redner oder die jeweilige Rednerin „in den Habitus eines poeta doctus und Intellektuellen versetzt“ 390 , damit aber auch unter einen besonderen Performanzdruck stellt. Sowohl der innertextuelle 139 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 390 Katharina Meiser, Dimensionen des Politischen in Poetikvorlesungen. In: Stefan Neuhaus / Immanuel Nover (Hrsg.), Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin / Boston 2019, S. 163-182, hier S. 164. 391 Hachmann, Poeta doctus docens, S. 149. 392 Vgl. Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, S. 261. 393 Walter Schmitz, Das Ich im Netz der Sprache. Zu Ilma Rakusas Schreiben. In: Ilma Rakusa, Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005. Dresden 2006, S. 193-251, hier S. 221. Verweis auf höhere Bildungsabschlüsse („Studiert habe ich […]“, Sprache, 8) als auch die detaillierte Vita und die ausführliche Bibliographie im Anhang, der die wissenschaftlichen Arbeiten unter einer eigenen Überschrift aufführt, dokumentieren den Bildungsgang der Autorin und stellen als Ausweis ihrer akademischen Qualifikation eine implizite Rechtfertigung der mit dieser Rolle verbundenen Ansprüche dar. Schon der institutionelle Rahmen der Poetik-Vor‐ lesung unterstreicht die „Anforderung zur Bildung“, die laut Gundela Hachmann einem „doppelten Zweck“ unterliegt, „indem sie gleichermaßen die Marke des Autors auf dem Buchmarkt wie auch der Hochschule oder veranstaltenden Institution auf dem Bildungsmarkt zu profilieren verhilft, also unmittelbar den ökonomischen Interessen beider Parteien dient“. 391 Sowohl Müller als auch Rakusa sind studierte Philologinnen und erfüllen somit die - sich zunehmend nach akademischen Qualitätskriterien bemes‐ senden - Bildungsvoraussetzungen des Poetikdozenten. Während Müllers poetologische Texte eher von einer anti-akademischen Haltung geprägt sind, wie gelegentliche polemische Spitzen an die Adresse der „Literaturprofis“ (König, 144) und „Feinschmecker der Analyse“ (Schnee, 164) verraten, 392 können Rakusas Poetik-Vorlesungen durchaus als Ausweis ihrer interdisziplinären Kreativität gelten. Rakusa ist beides, Schriftstellerin und promovierte Litera‐ turwissenschaftlerin in Personalunion, und diese doppelte Funktion gehört zum Kennzeichen ihrer öffentlichen Autor-Person. Walter Schmitz hebt im Nachwort zu den Poetik-Vorlesungen entsprechend hervor, dass Rakusa - entgegen der Konvention ihrer Trennung - „nie eine Grenze zwischen dem Wissen, den Wissenschaften und der Literatur gesehen“ 393 hätte. Die Poetik-Vor‐ lesung ist jene Gattung, die das Feld von Bildung und Wissenschaft mit dem literarischen Feld zusammenbringt und so ihre gegenseitige Durchdringung und Entgrenzung fördert. In ihr wird die Verschränkung dieser beiden Felder gewissermaßen auf eine institutionelle Basis gestellt. Die Würdigung Rakusas als grenzüberschreitende Autorin gilt daher indirekt auch der Institution, die der Sprecher der Aussage repräsentiert und die den Rahmen für eine wechselseitige Vermarktung beider Akteure formiert. 140 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 394 Beschreibungstext zur Dresdner Chamisso-Poetikdozentur auf der Website der Tech‐ nischen Universität Dresden (Zentrum Mittleres und Östliches Europa). URL: http s: / / tu-dresden.de/ gsw/ slk/ zmoe/ projekte/ Chamisso/ chamisso_dozentur_2012 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). - Zur Geschichte des Adalbert-von-Chamisso-Preises siehe Beatrice Occhini, „Es [ist] offenbar leichter, einen neuen Staat als eine neue Literatur zu gründen“: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis als Konsekrationsinstanz. In: Christoph Jürgensen / Antonius Weixler (Hrsg.), Literaturpreise. Geschichte und Kontexte. Stutt‐ gart 2021, S. 281-301. 395 Brief vom 03.12.2003, einsehbar im Schweizerischen Literaturarchiv unter der Signatur A-05-b. 396 Hachmann, Poeta doctus docens, S. 149. Die Chamisso-Poetikdozentur wurde unter der Leitung von Schmitz von 2000 bis 2011 am MitteleuropaZentrum der Technischen Universität Dresden veran‐ staltet und mit Mitteln der Robert-Bosch-Stiftung finanziert. Sie gehörte zum Begleitprogramm des kontrovers angesehenen Adalbert-von-Chamisso-Preises und wurde an jene Autoren und Autorinnen vergeben, die „aufgrund ihrer spezifischen Prägungen prädestiniert sind, Fragen nach Migrationserfahrungen, freiwilliger oder erzwungener Mobilität sowie nach Alteritäts- und Identi‐ tätskonzepten in das Zentrum biographischer und poetologischer Reflexion zu stellen“ 394 . Der erste Träger der Chamisso-Poetikdozentur war der Schrift‐ steller und promovierter Germanist Yüksel Pazarkaya, ihm folgten 2001 der Lyriker und interkulturelle Literaturwissenschaftler Gino Chiellino sowie 2004 der Dichter Adel Karasholi. Bemerkenswert ist Rakusas Korrespondenz mit Schmitz, aus der sich ein Moment der differenzierenden Distanznahme gegen‐ über dem spezifischen Profil des Preises herauslesen lässt: Zum Inhaltlichen: Wie ich schon gegenüber Herrn Fröschle erklärte, kann es in meinem Fall nicht um Interkulturalität (wie etwa bei Herrn Pazarkaya oder Herrn Karasholi) gehen. Ich bin insofern eine ‚untypische‘ Chamisso-Preisträgerin, als ich Deutsch schon als Kind (in Zürich) erlernt und meine literarischen Arbeiten ausnahmslos in deutscher Sprache verfasst habe. Ich fühle mich als deutschsprachige Schriftstellerin (nicht-deutscher Herkunft). Meine Mehrsprachigkeit spielt dagegen beim Übersetzen eine wichtige Rolle. 395 Obwohl die Poetik-Vorlesung eine offene Form darstellt, ist „Bildung als Perfor‐ manz […] tatsächlich eine der Hauptfunktionen des Genres“ 396 . Jedoch erschöpft sich diese Performanz nicht in ihrer ökonomischen, vermarktungsstrategischen Dimension und sie reicht, zumal bei einer Autorin wie Rakusa, auch weit über ein quantifizierbares, lediglich an formalen Abschlüssen orientiertes Bildungs‐ verständnis hinaus. Der Topos des Nomadischen legt ein erfahrungsgeleitetes, lebensweltlich fundiertes und affektiv grundiertes Verständnis von Bildung als 141 3.3 Das Nomadische als Schlüsselterminus in Rakusas Autorpoetik 397 Vgl. Sprache, 7: „Mein Ohr war auf Sprachen sensibilisiert […].“ 398 Auch in anderen Vorlesungen spielt das Thema der Bildung eine zentrale Rolle; vgl. in gattungstheoretischer Hinsicht die 2014 veröffentliche Stefan Zweig Poetikvorlesung Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚Bildungsroman‘. 399 Zum Nexus von Gattung und Institution vgl. Kevin Kempke, „Ich kann das gar nicht“ - Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung. In: David-Christopher Assmann / Ders. / Nicola Menzel (Hrsg.), Leider Nein! Die Absage als kulturelle Praktik. Bielefeld 2020, S. 167-182 sowie seine kürzlich erschienene Dissertation über Vorle‐ sungsszenen der Gegenwartsliteratur. Die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution (Göttingen 2021). prozessualer Selbst-Werdung zugrunde, das mehr als ‚Wissen‘ und ‚Gelehrsam‐ keit‘ umfasst. ‚Bildung‘ meint bei Rakusa vor allem Wahrnehmungsschulung im Sinne aisthetischer Bildung. Ihre nomadische „Bildungsgeschichte“ (Sprache, 9) ist die Geschichte einer sammelnden Aneignung von Sprache und Welt, die den Sinnen und der Sinnlichkeit eine hohe Priorität einräumt und ein gesteigertes Wahrnehmungsvermögen mit sich bringt. 397 Zusammenfassend gesagt lässt sich Rakusas nomadisches Bildungsnarrativ als ein Ausdruck von Nicht-/ Zugehörigkeit deuten, der mit einer Geste auk‐ torialer Souveränität Widerspruch gegen falsche Zuschreibungen erhebt. Zu‐ gleich wird mit diesem Narrativ ein Zugehörigkeitsbekenntnis formuliert, in dem sich nicht nur Rakusas transnationale Verortung artikuliert, sondern auch ein Entwurf von Autorschaft, der Zugehörigkeit vollzieht, indem er Bildung inszeniert. 398 Das ratiolastige Bildungsideal des poeta doctus, an welchem sich die Poetik-Vorlesung als Gattung und Institution orientiert, 399 wird dabei sowohl reproduziert als auch um andere, sinnlich-affektive Dimensionen erweitert und modifiziert. Die poetologische Selbstaussage, „eine schreibende Nomadin“ zu sein, birgt somit, bezogen auf den akademischen Kontext, in dem sie steht, gleichermaßen affirmative, Zuweisungen von Zugehörigkeit bestätigende wie kritische, Zuweisungen von Zugehörigkeit ablehnende Potenziale. Zweites Zwischenresümee Dieses Kapitel ist den Bewegungen des Nomadischen durch verschiedene Texte (und Kontexte) gefolgt, um den Bedeutungswandel, die Reinterpretationen und Transformationen herauszuarbeiten, die dieses vielschichtige Motiv im Vergleich von Früh- und Spätwerk sowie von literarischer Prosa und poeto‐ logischem Diskurs erfährt. Mein Hauptaugenmerk galt dabei der Frage von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit: Während der frühe Erzählband Steppe 142 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 400 Zu dieser Konstellation der Gegenseitigkeit vgl. Eke, der die Beziehung zwischen dem eingeladenen Autor bzw. der eingeladenen Autorin und der einladenden Institution in Anlehnung an die Tauschtheorie von Marcel Mauss als ein wechselseitiges System von „Gabe“ und „Gegengabe“ beschreibt, das zur „wechselseitigen Generierung von Prestige“ beitrage. Inwieweit die Einladung auf eine Poetikdozentur von dem einge‐ ladenen Autor bzw. der eingeladenen Autorin als prestigeträchtig wahrgenommen wird, hängt allerdings stark vom spezifischen Profil der jeweiligen Poetikdozentur ab. Wie der oben zitierte Brief von Rakusa an Walter Schmitz zeigt, wirkt „die Liste der jeweiligen Vorgänger“ auf den Neuberufenen bzw. die Neuberufene nicht immer als ein nobilitierend empfundener „Verstärker“. Vielmehr kann sie auch zu einem Bedürfnis nach Abgrenzung führen. Zitate: Norbert O. Eke, ‚Reden‘ über Dichtung. Poetik-Vorle‐ sungen und Poetik-Dozenturen im literarischen Feld. In: Kalina Kupczyńska / Nadine J. Schmidt (Hrsg.), Poetik des Gegenwartsromans. Text + Kritik Sonderband. München 2016, S. 18-29, hier S. 23 f. die Ungebundenheit des nomadischen Subjekts zelebriert und damit den eupho‐ rischen Tenor des postmodernen Theoriediskurses reproduziert, schreibt Mehr Meer das Motiv des Nomadischen nicht ungebrochen, sondern mit geteilten Gefühlen fort. Der Widerspruch der Gefühle führt zu einer Poetik, die zwischen Bewegung und Fixierung changiert und ein Verständnis von sozialer Verortung artikuliert, das einerseits gegen die Annahme einer radikalen Deterritorialisie‐ rung von Bindungen opponiert und andererseits auf den Heimatdiskurs seiner Gegenwart reagiert, indem es für eine listenförmige und somit prinzipiell offene, bewegliche, Heterogenität und Pluralität ermöglichende Konzeption von ‚Zugehörigkeit‘ eintritt. Insofern sich Rakusa in ihrer Poetik-Vorlesung Zur Sprache gehen als „schrei‐ bende Nomadin“ (16) bezeichnet, zugleich aber auch darauf beharrt, nicht „(nur) Luftwurzeln“ (9) zu haben, bestätigen und authentifizieren sich die immanente Textpoetik und die explizite Autorpoetik gegenseitig. Doch habe ich auch dafür argumentiert, auf den Gattungskontext und die institutionelle Einbettung dieser Äußerungen zu achten, denn die Poetik-Vorlesung charakterisiert eine besondere Konstellation der Gegenseitigkeit, welche die enge Verschränkung von Literatur und Literaturwissenschaft augenfällig macht und die sowohl der einladenden Institution als auch dem bzw. der Eingeladenen symbolisches Kapital in Form von Anerkennung verleiht. 400 Über das Motiv des Nomadischen inszeniert sich Rakusa als eine kosmopolitische poetria docta und erwidert somit die Anerkennung, die sie durch ihre Berufung zur Poetikdozentur erfuhr - Erwiderung im Sinne von Entsprechung und Übereinstimmung, aber auch im Sinne der richtigstellenden Gegenrede. Insgesamt macht diese spezifische Funktionalisierung des Nomadenmotivs deutlich, dass Zugehörigkeit als rela‐ tionales Phänomen prozesshaft hervorgebracht wird: Zugehörigkeit ist nicht 143 Zweites Zwischenresümee 401 Eigentlich würde ein Vergleich mit Müllers Kurzroman Reisende auf einem Bein hier auf der Hand liegen, dessen Protagonistin Irene in der Forschung verschiedentlich als Figuration eines postmodernen, nomadisch-weiblichen Großstadtsubjekts gedeutet wurde. Vgl. dazu beispielsweise Bozzi, Der fremde Blick, S. 114 oder Margaret Littler, Beyond Alienation. The City in the Novels of Herta Müller and Libuše Moníková. In: Haines (Hrsg.), Herta Müller, S. 36-55, die sich auf Braidottis Konzept des ‚Nomadi‐ schen‘ bezieht. - Eine Deutung, die ich für unplausibel halte, denn Irene zieht nicht aus Lust an der Bewegung durch die Großstadt, sondern ist eine Getriebene, die aufgrund ihrer Diktaturerfahrung nicht zur Ruhe kommen kann. 402 Man denke hier beispielsweise an das „Heldenkreuz“ in der Erzählung „Dorfchronik“ (vgl. Kap. 2.2 und 2.4.1), das die „Namen aller Helden aller Fronten aller Kriege“ (N, 138) versammelt und gewissermaßen eine Liste in der Liste darstellt. Das für die gesamte Erzählung charakteristische Erzählverfahren folgt einem Modus der Aufzäh‐ lung, welcher den dokumentarischen Gestus der Chronik übernimmt, zugleich aber das für sie konstitutive Organisationsprinzip unterminiert, indem er sich nicht an der zeitlichen Sukzession von Ereignissen, sondern am Raum orientiert. - Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, die verschiedenen Arten und Funktionen von Listen und Aufzählungen in Müllers Werk genauer zu untersuchen. In der Forschung gibt es dazu, soweit ich sehe, bislang nur vereinzelte Ansätze. Zum Aufzählungscharakter der Erzählung „Niederungen“ vgl. Günther, Froschperspektiven, S. 43 f.; zu den Listen in Herztier vgl. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 198-200. nur eine Frage der Selbstdefinition, sondern auch der an- und verkennenden Zuschreibung von außen. Im Verlauf des Kapitels habe ich bereits punktuell Vergleiche zu Müller gezogen; die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sich bis hierher zeigen, will ich nun erläutern: 401 a) Reflexion auf Zugehörigkeit Sowohl in Müllers als auch Rakusas autobiographisch fundierten Kindheits‐ darstellungen werden Gefühle von Nicht-/ Zugehörigkeit zum Gegenstand der Reflexion - allerdings nicht immer explizit, sondern häufig vermittelt über bestimmte Bilder und Motive, formale Verfahren und literarische Kom‐ positionstechniken. Bei Rakusa erfolgt diese Reflexion über das Motiv des Nomadischen, dessen Ambivalenzen sich unter anderem im kontrapunktischen Aufbau ihres Erinnerungsbuches widerspiegeln. Zudem macht sich Rakusa sprachliche Verfahren der Vervielfältigung zunutze, um ihrer sprachlich-kultu‐ rellen Mehrfachzugehörigkeit Ausdruck zu verleihen. Auch in Müllers Texten finden sich verschiedene Arten der Aufzählung, die jedoch weniger als formales Korrelat eines spezifischen Entwurfs von Zugehörigkeit dienen, sondern eine Memorial-Funktion übernehmen und darüber hinaus in ideologiekritischer, mythendestruierender Absicht eingesetzt werden. 402 Im Unterschied zu Rakusas nomadischem Werdens-Narrativ, das sich durch die Passagenräume der Erinne‐ 144 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa 403 Giddens, Konsequenzen der Moderne. Zit. nach Röttger-Rössler, Multiple Zugehörig‐ keiten, S. 8. 404 Grazziella Predoiu, Faszination und Provokation bei Herta Müller. Eine thematische und motivische Auseinandersetzung. Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 55. rung bewegt und damit inszeniert, wie ein sukzessives ‚Mehr‘ an Zugehörigkeit entsteht, artikulieren Müllers Texte das Bedürfnis nach einer Herauslösung aus erdrückenden Machtverhältnissen, doch verhindert die Kreisläufigkeit ihrer Bewegung die Überwindung der Zugehörigkeit zum dörflichen Kollektiv. Beide Autorinnen machen sich schließlich sammelnde Textverfahren zunutze, um sinnliche Eindrücke und Erinnerungen wiederzugeben: Wie Rakusa verzichtet Müller auf eine kausallogische Verknüpfung, wenn sie den Kindheitseindrücken ihrer Protagonistin aus der Erzählung „Niederungen“ die Form einer fragmenta‐ risch und assoziativ wirkenden Aufzählung verleiht. Während das aufzählende Verfahren in dieser Erzählung dazu dient, die Wahrnehmungsperspektive des erlebenden (kindlichen) Ich zu vergegenwärtigen und von der Perspektive des erzählenden Ich abzuheben, oszillieren Rakusas „Vermissensliste[n]“ (MM, 304) stärker zwischen dem retrospektiven Charakter der Erinnerung und ihrer unmittelbaren Re-Präsentation. b) (Nicht-)Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit Folgt man der in der Zugehörigkeitsforschung geläufigen Unterscheidung zwischen ‚being‘ und ‚belonging‘ (vgl. Kap. 1.4), dann ist die literarische Reflexion von Gefühlen der Nicht-/ Zugehörigkeit immer schon Ausdruck eines Verlusts „ontologischer Sicherheit“ 403 . Beide Autorinnen teilen die gemeinsame Grunderfahrung, „dass es nichts Selbstverständliches gibt“ (Sprache, 31). Im Unterschied zu Rakusa betrachtet Müller diese Erfahrung jedoch nicht als Folge von Migration. Bei Müller führt nicht erst das Verlassen ihres Herkunfts‐ ortes zu Gefühlen der Nicht-Zugehörigkeit und Fremdheit. Diese Gefühle kommen vielmehr „aus den vertrauten Dingen“ (König, 147), mithin liegen sie in der Erfahrung eines doppelten Macht- und Sprachregimes begründet, dessen monologische Struktur die Niederungen reflektieren. Während Mehr Meer eine verlustorientierte Sicht auf Zugehörigkeit wirft, sperren sich Müllers Texte gegen ein solches, melancholisch grundiertes Sehnsuchtsnarrativ. Die Rede vom „Verlust“ der Selbstverständlichkeit setzt einen Zustand voraus, der diesem Verlust vorgelagert war. Entgegen der theoretischen Annahme eines präreflexiven Seins-Zustands unhinterfragter Selbstverständlichkeit erscheint das Einverständnis zwischen Ich und Welt bei Müller jedoch von Anfang an gebrochen. Kindheit und Dorf werden in Müllers Texten durchgängig als „ne‐ gative Idyllen“ 404 gezeichnet. Damit formuliert Müller eine klare Absage an die 145 Zweites Zwischenresümee Vorstellung einstmals ungebrochener, intakter Zugehörigkeit und den Mythos vom verlorenen Kindheitsparadies, wie ihn Rakusas Triest-Erinnerungen noch durchscheinen lassen. c) Dimensionen der Zugehörigkeit Während Müller den Hörigkeit verlangenden, besitzergreifenden Aspekt von ‚Zugehörigkeit‘ als einer Praktik der ‚klebrigen‘ Anbindung betont, stellt Ra‐ kusas Erinnerungsbuch die im Begriff enthaltene Sehnsuchtskomponente in den Vordergrund. Gleichwohl hat Zugehörigkeit für sie nicht nur eine rückwärtsge‐ wandte, sondern auch eine performativ-produktive Seite, die sich in bestimmten Praktiken der Verortung wie etwa dem (Wörter-)Sammeln manifestiert. Anders als für Rakusa steht für Müller weniger die Frage der Herstellung von Zugehö‐ rigkeit im Vordergrund, als vielmehr das Problem, wie man ihr entkommt. Ihre Figuren sehen sich machtvollen Räumen der Zugehörigkeit ausgesetzt, die sie nicht mit hervorgebracht haben und die in ihrer statischen Abgeschlossenheit auch kaum veränderlich erscheinen, womit ich beim nächsten Vergleichspunkt wäre. d) Räume der Zugehörigkeit Auf den ersten Blick scheinen Müllers geschlossene Raumkonstruktionen, in welchen sich das Erstickende der gemeinschaftlichen Bande zum Ausdruck bringt, der Weite und Offenheit des nomadischen Raumes, welcher bei Ra‐ kusa als Steppe und Meer imaginiert wird, deutlich zu kontrastieren. Doch habe ich in meiner Analyse von Mehr Meer gezeigt, dass das Nomadische nie ohne sein Gegenteil zu haben ist. Der Drang nach Bewegung und die Sehnsucht nach Verortung treiben sich gegenseitig hervor und bilden demnach gleichwertige Bestandteile im Zugehörigkeitsentwurf der Erzählerin. Rakusas Zugehörigkeitsentwurf ist genauso wenig ‚ortlos‘ wie derjenige Müllers. Beide Autorinnen thematisieren in ihren Werken die affektiven Anhaftungen, die sie - unter diametralen Vorzeichen - mit den Orten ihrer Kindheit verbinden. Während Müllers Schreiben im Grunde einem Ort verhaftet bleibt, den es in immer neuen Anläufen umkreist, an den es zurückkehren muss, um sich von ihm zu lösen, artikulieren Rakusas Texte ein Gefühl multipler Verortung, wodurch Zugehörigkeit weniger als eine Konstellation der Ausweglosigkeit, sondern als aktiv gestaltbare Möglichkeit erscheint. e) Heimat- und Identitätskritik Das Gefühl multipler Verortung birgt ein widerständiges Moment gegenüber einem Begriff von ‚Heimat‘, der keinen Plural kennt. Beiden Autorinnen ge‐ 146 3 Multiple Zugehörigkeit und Mehrfachverortung bei Ilma Rakusa meinsam ist eine Konzeption von ‚Zugehörigkeit‘, die sich gegen essentialis‐ tische Vorstellungen von ‚Heimat‘ und ‚Identität‘ richtet: Im Unterschied zu Müller, deren Kritik der identitären Zugehörigkeitspolitik des Dorfes, ihren ho‐ mogenisierenden Praktiken und repressiven Wirkungen gilt, ist Rakusa hierbei weniger an dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv interessiert, als vielmehr am Bildungsprozess eines nomadischen Subjekts, welches sich nicht als eine fixe Größe, sondern als ein „Ich der wandelbaren Bezüge“ (Steppe, 54) darstellt. Ein Subjekt, das der Gleichung von ‚Herkunft‘, ‚Identität‘ und ‚Heimat‘ widerspricht und dem die Auffassung zugrunde liegt, dass Zugehörigkeit nicht etwas ursprünglich Gegebenes, sondern etwas zu Schaffendes, Unabgeschlos‐ senes und potenziell beliebig Vermehrbares ist. 147 Zweites Zwischenresümee 405 Ruth Klüger, Zum Wahrheitsbegriff der Autobiographie. In: Magdalene Heuser (Hrsg.), Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, S. 405-410, hier S. 405. 406 Ebd., S. 406. 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Die Frage nach der Lüge im Schrifttum setzt die Möglichkeit wahrhaftigen Sprechens voraus. Sie wird jedoch bei uns, in der Literaturwissenschaft, in Frage gestellt durch Theorien, die diese Möglichkeit eines Durchbruchs zur Wirklichkeit, insofern die Wirklichkeit ein Teil der Wahrheit ist, in der Sprache überhaupt nicht anerkennen. Der Wahrheitsbegriff sei überholt, hören wir, […]. 405 Dieses Zitat entstammt einem Vortrag von Ruth Klüger (1931-2020), in welchem sich die Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende vehement gegen die Theoreme vom „Tod des Autors“ und die von ihnen postulierte Unmöglichkeit wahrhaftigen Sprechens wendet. Als antithetisches Beispiel zu ihrem eigenen autobiographischen Werk dient ihr Roland Barthes’ Roland Barthes par Roland Barthes (1975), wo „der Zweifel an der Ganzheit“ 406 das prekär gewordene Subjekt in einen fragmentarischen Haufen alphabetisch arrangierter Themen zerfallen lässt. Ausgerechnet diese Form der Anordnung hat auch die listenaffine (vgl. Kap. 3.2.3) und literaturtheoretisch versierte Autorin Ilma Rakusa, die schon in ihrem splitterhaften Erinnerungsbuch Mehr Meer konstatierte: „Ich feilsche nicht um das Ganze“ (MM, 316), für ihr jüngstes Buch Mein Alphabet gewählt, das wichtige Momente ihres bewegten Lebens von A bis Z (wieder-)erzählt. Impliziert die Wahl dieser Form die Aufkündigung der Möglichkeit eines wahrhaftigen Spre‐ chens, wie Klüger meint? Oder liegt in dieser Form eine eigene Wahrhaftigkeit? Sieglinde Klettenhammer gibt auf derartige Fragen eine differenzierte Antwort, wenn sie zwischen der „Literaturwissenschaftlerin“ und der „Schriftstellerin“ Rakusa unterscheidet: Wenngleich die Literaturwissenschaftlerin Rakusa um den dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Diskurs vom ‚Tod des Autors‘ und um sprach- und subjektkritische Positionen im Zuge des linguistic turn weiß, die gerade die Gattung Autobiographie und das Subjekt zur Disposition stellen, und die Debatten um ‚Fiktion‘ und ‚Wahrheit‘ bzw. ‚Wahrhaftigkeit‘ der Autobiographie […] kennt, so bleibt für die Schriftstellerin Rakusa die Frage nach der Selbstbehauptung des Ich […] nach wie vor virulent. 407 407 Klettenhammer, „Ich ist viele“, S. 255. 408 Anja Tippner / Christopher F. Laferl, Einleitung zu Ruth Klüger. In: Dies. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Stuttgart 2016, S. 321 f., hier S. 322. 409 Eke / Hamann, „Das Schöne ist das Durchsichtige“, S. 9 f. 410 „einmal ging ich unterwegs verloren / einmal kam ich an wo ich nicht war“. Herta Müller, Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München 2005, o. P. 411 Barbara Breysach, Klüger, Ruth. In: Andreas B. Kilcher (Hrsg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar 2012, S. 285-287, hier S. 285. 412 Ruth Klüger, unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien 2008, S. 199 f. 413 Diesen Ausdruck verwendet Müller sowohl in Bezug auf sich selbst (vgl. etwa Schnee, 36 oder König, 185) als auch in Bezug auf Klüger (vgl. Falle, 39) und andere Autorinnen und Autoren, mit welchen sie sich in ihren Poetik-Vorlesungen beschäftigt (u. a. Theodor Kramer, Jean Améry, Primo Levi, Paul Celan, Jorge Semprún, Georges-Arthur Goldschmidt). Auch wenn Müller „keinen Zweifel lässt an der Unvergleichbarkeit ihrer Erfahrungen in der neostalinistischen Diktatur des Ceauşescu-Regimes und der jüdi‐ Selbiges lässt sich für die Schriftstellerin Herta Müller sagen: Auch für ihre lite‐ rarische Arbeit bleibt die Frage nach der Selbstbehauptung des Ich und nach der Möglichkeit eines wahrhaftigen Sprechens virulent. Mit den „postmoderne[n] Relativierungsversuche[n], die der Sprache nicht zubilligen wollen, das Ich und seine Geschichte zum Ausdruck zu bringen“ 408 , teilt Müller zwar eine grundle‐ gende Sprachskepsis. Diese Skepsis resultiert jedoch keinesfalls aus der Rezep‐ tion literaturtheoretischer Debatten, sondern rührt von der unmittelbaren Er‐ fahrung zweier Zugehörigkeitsregime, ihren konkreten Sprech-Wirklichkeiten und den in ihnen wirksamen Normen des Sagbaren und des Unsagbaren her: „Ich hatte und habe für Theorien nie Zeit gehabt, weil ich immer bedrängt wurde von dem, was war und was sein musste.“ 409 Wie Klüger, die Müller zu jenen Menschen zählt, deren Freundschaft sie sich „gewünscht und vorgestellt habe, wenn [sie] Halt suchte in Ceaușescus Rumänien“ (Falle, 6), praktiziert sie ihr Schreiben aus einer existenziellen Dringlichkeit heraus. Die Verbindung zwischen beiden Au‐ torinnen zeigt sich in gegenseitigen intertextuellen Bezugnahmen: Ein Auszug aus einem Collagen-Gedicht 410 von Müller steht als titelgebendes Motto über Klügers autobiographischem Buch unterwegs verloren (2008), das vom verletzten „Leben nach dem Überleben“ 411 , von der doppelten Diskriminierung - als Frau und als Jüdin - im amerikanischen Universitätsbetrieb, von zerbrochenen Beziehungen und Verlusten sowie von Gefühlen der Nicht-/ Zugehörigkeit zu lebensgeschichtlich bedeutsamen Orten erzählt. Über das Verhältnis zu ihrer Geburtsstadt Wien schreibt Klüger: „Die Stadt gehört mir, wie eine Wunde, die nicht heilt, mir gehört. Und umgekehrt, gehöre ich der Stadt? […] Gehören wir einander? “ 412 Was Müller mit Klüger teilt, ist die Erfahrung, dass von „Beschädigungen“ 413 eine affektive Bindungskraft ausgeht, der aufgrund der 150 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen schen Verfolgungserfahrung in der Zeit des Nationalsozialismus“ (Eke, Biographische Skizze, S. 3), so signalisiert dieser doppelte Bezug doch ein Verbundenheitsgefühl mit den genannten Autorinnen und Autoren. 414 Vgl. Falle, 9. Klügers weiter leben widmet Müller eine von insgesamt drei Vorlesungen (vgl. Falle, 25-40). 415 Vgl. Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache, S. 247. 416 Vgl. Klüger, Zum Wahrheitsbegriff der Autobiographie, S. 409. - Zu Klügers theore‐ tischer Bezugnahme auf Lejeune und moralisch begründetem Beharren auf Fakten‐ wahrheit vgl. genauer Robert Walter-Jochum, Nach der Authentizität. Affekte in autobiografischen Texten und ihre Nutzung zur Authentizitätssimulation am Beispiel von Ruth Klüger und Wolfgang Herrndorf. In: Kalina Kupczynska / Jadwiga Kita-Huber (Hrsg.), Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic. Bielefeld 2019, S. 75-90, bes. S. 79-84. 417 Paola Bozzi, Autofiktionalität. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 158-166, hier S. 166; vgl. auch Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, S. 267. 418 Köhnen (Hrsg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Reziprozität von Zugehörigkeitsbeziehungen schwerlich zu entkommen ist. In ihren Bonner Poetik-Vorlesungen In der Falle (1996), deren Titel auf eine Textstelle in Klügers Buch weiter leben. Eine Jugend (1992) anspielt, 414 beschäftigt sich Müller mit Autorinnen und Autoren, deren Schreiben dem persönlich Erlebten verpflichtet und untrennbar mit ihm verbunden ist (vgl. Falle, 5). Auch wenn viele der Aussagen, die Müller über Klügers autobiographisches Schreiben und Umgang mit Sprache trifft, „auf ihre eigenen Texte und auf ihre Konzeption von Literatur projiziert werden [können]“ 415 , unterscheidet sich ihr Wahrhaftigkeitsverständnis doch grundlegend von demjenigen Klügers. Anders als für Klüger, die - ähnlich wie Philippe Lejeune - die Wahrhaftigkeit des Au‐ tobiographischen durch die performative Identifikation des Autors mit seinem Erzähler verbürgt sieht und dabei eine strenge Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Schreiben zieht, 416 stehen Fiktion und Wirklichkeit bei Müller nicht als einander ausschließende Gegensätze gegenüber, sondern sind gegenseitig miteinander verbunden. Fiktionalisierung und Literarisierung des Erlebten bedeuten für sie keinen Bruch mit dem Bemühen um wahrhaftige Darstellung. Ganz im Gegenteil braucht Müller „die Fiktionalität für ihre (autobiographisch motivierten) Vorhaben“ 417 . Wo der „Druck der Erfahrung […] die Sprache in die Dichtung [treibt]“ 418 , ist der Begriff der ‚Autofiktion‘ nicht weit. Sowohl Müller als auch Rakusa bedienen sich dieses vielschichtigen Terminus in ihren poetologischen Texten, um ihr autobiographisch geprägtes Werk als künstlerisch zu legitimieren, was auf die Prekarität um Wahrhaftigkeit bemühter Formen des Sprechens und Schreibens verweist, die beide Autorinnen offenbar verspüren, ansonsten bräuchten sie nicht auf der Literarizität ihres Schreibens zu insistieren. 419 Im 151 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 419 Die Autofiktion gilt - produktionsästhetisch betrachtet - als strategisch kluge Variante, einem autobiographischen Text literarischen Status zu verleihen. Im Anschluss an Genette, der Fiktionalität als hinreichendes Literarizitätskriterium begreift, erläutert die Autofiktionstheoretikerin Marie Darrieussecq diesen Kniff einer Literarisierung durch Fiktionalisierung folgendermaßen: „Pour faire sa place ‘à coup sûr’ dans le champ littéraire, […], l’autobiographe n’a pour solution que l’autofiction. […] Puisque tout fiction est littérature, faisons entrer l’autobiographie dans le champ de la fiction.“ (Marie Darrieussecq, L’autofiction, un genre pas sérieux. In: Poétique 27 (1996), S. 367-380, hier S. 372 f.) Aufgrund der problematischen Gleichsetzung von Fiktionalität und Literarizität wird das autobiographische Genre narratologisch zumeist im Bereich des faktualen Erzählens verortet. Diese Zuordnung liefert zugleich das Argument für die Missachtung, wenn nicht gar Verneinung ihrer sprachkünstlerischen Aspekte. 420 Martina Wagner-Egelhaaf, Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe - Barthes - Özdamar. In: Ulrich Breuer / Beatrice Sandberg (Hrsg.), Autobio‐ graphisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006, S. 353-368, hier S. 359. ersten Unterkapitel dieses Abschnitts werde ich Rakusas und Müllers Rekurs auf den Autofiktionsbegriff unter dem Gesichtspunkt ihrer Autorschaftsinsze‐ nierung etwas näher diskutieren und weiter darlegen, weshalb dieser Begriff, der im Umkreis des französischen Poststrukturalismus entstanden ist, für die Frage nach der (Un-)Möglichkeit wahrhaftigen Sprechens nur geringe Expli‐ kationskraft besitzt. Wie schon angedeutet, sieht sich weder Müllers noch Rakusas Schreiben den theoretischen Prämissen verbunden, die sich diesem Begriff im Kontext seiner Entstehung eingeschrieben haben. Weder setzen Müllers und Rakusas Texte die Möglichkeit eines wahrhaftigen Schreibens und Sprechens als selbstverständlich voraus noch bleiben sie bei der Einsicht in die „Unverfügbarkeit autobiographischer Wahrheit“ 420 stehen. Vielmehr loten sie diese Möglichkeit in einer Sprach- und Formsuche aus, die sich als unab‐ geschlossener work in progress vollzieht. Die Wahrhaftigkeit, die im Prozess des Durchprobierens verschiedenster Gattungen des Sprechens hervorgebracht wird, wendet sich gegen eine Trennung von Literatur und Leben, um auf ihr beruhende Gattungshierarchien zu entkräften. Sowohl das Werk von Müller als auch das Werk von Rakusa zeichnen sich durch eine ausgeprägte Gattungsvielfalt aus, die Lyrik und erzählerische Prosa, aber auch Essays, Reden und Poetik-Vorlesungen umfasst. Bemerkenswert ist, dass sich diese Vielfalt nicht nur im Blick auf das Gesamtwerk beider Autorinnen, sondern auch innerhalb einzelner Texte beobachten lässt. Es ist diese interne Gattungsvielfalt, die zum Entstehen von Polyphonie beiträgt und auf der daher das Augenmerk des folgenden Kapitels liegt. Sie umfasst nicht nur literarische Gattungen (wie etwa Lyrik), sondern auch und vor allem solche, die häufig als ‚Textsorten‘ (z. B. Interviews, Listen) bezeichnet werden und wegen 152 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 421 Vgl. Bachtin, Sprechgattungen, S. 9 f.; vgl. auch Stephan Kurz, Gattungstheorie als universelles Erklärungsmodell. In: Zagreber Germanistische Beiträge 27 (2018), S. 315- 322, hier S. 317 f. 422 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 209. ihres Wirklichkeitsbezugs aus dem Gegenstandsbereich der literaturwissen‐ schaftlichen Forschung exkludiert bzw. in die Disziplin der Linguistik verwiesen werden. Mit dem interdisziplinären Grenzgänger Bachtin, dessen Denken sich an der Schnittstelle von (Sozio-)Linguistik, Philologie und (Sprach-)Philosophie vollzieht, werde ich argumentieren, dass es gerade diese, hinsichtlich ihrer Literaturhaftigkeit prekären Gattungen sind, welche die künstlerische Prosa vielstimmig - und das heißt bei Bachtin immer auch: welthaltig - machen. Bachtin beschränkt sein Konzept der ‚Sprechgattungen‘ nicht auf den Bereich der Literatur, sondern erweitert den engen Gattungsbegriff der Literaturwissen‐ schaften in Richtung alltäglicher (mündlicher und schriftlicher) Formen der ‚Sprech-Kommunikation‘; gleichzeitig nimmt er aber eine wichtige Differenzie‐ rung vor, die es überhaupt erst ermöglicht, den Wechselwirkungen zwischen Leben und Literatur nachzuspüren: Die Unterscheidung zwischen ‚primären‘ Gattungen des Sprechens einerseits und ‚sekundären‘ Gattungen des Sprechens andererseits betont ihre Interaktion, ohne sie miteinander zu verschmelzen. Sie insistiert auf dem Bezug der Literatur zur Wirklichkeit der sozialen Kommunika‐ tion; zugleich schützt der Verweis auf die Prozesse künstlerischer Adaption und Transformation davor, die Einbindung primärer Gattungen wie zum Beispiel Brief oder Tagebuch für dokumentarische Eins-zu-eins-Wiedergaben dieser Sprech-Wirklichkeit zu halten. 421 Die Integration und Reflexion verschiedener Gattungen des Sprechens ist für Bachtin eine der „grundlegenden und wesentlichen Formen der Einführung und Organisation von Redevielfalt im Roman“ 422 . Als weitere Formen, die zum Aufbau einer polyphonen Romanwelt beitragen, wären perspektivische Pluralität, Mehrsprachigkeit und Intertextualität zu nennen. Im literarischen Text treten diese Formen nicht isoliert voneinander auf, sondern wirken zu‐ sammen, wie u. a. am Beispiel eines bekannten rumänischen Volkslieds, das Müller in ihrem Roman Herztier wiederholt zitiert, aber kommentarlos in deutscher Übersetzung präsentiert, zu sehen sein wird (vgl. Kap. 4.2.3). Auf der Basis von Bachtins Konzepten der ‚Dialogizität‘ und ‚Vielstimmigkeit‘ sowie seiner Theorie der ‚Sprechgattungen‘, welche die Gattungshaftigkeit sämtlicher Äußerungen des Sprechens betont und es somit erlaubt, die Teilhaftigkeit literarischer Kommunikation an der sozialen, durch Mehrsprachigkeit und Redevielfalt gekennzeichneten Sprech-Wirklichkeit hervorzuheben, werde ich in Auseinandersetzung mit Rakusas Mehr Meer und Mein Alphabet, Müllers 153 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 423 Thomas Wegmann, So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur. In: Ders. / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), „High“ und „low“. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin / Boston 2012, S. 217-233, hier S. 230. 424 Bachtin, Sprechgattungen, S. 56. Roman Herztier und verschiedenen Poetik-Vorlesungen der beiden Autorinnen folgende Thesen entwickeln: Ich werde zeigen, dass die Nicht-/ Zugehörigkeitspoetiken der beiden Auto‐ rinnen sprech- und gattungsbezogen gedacht werden müssen. Sie konstituieren sich, so meine These, als Sprechpoetiken, die im Durchgang durch verschie‐ dene - schriftliche oder mündliche - Gattungen der Rede, die Grenzen und Mög‐ lichkeiten eines wahrhaftigen Sprechens durchmessen. Zu diesen Gattungen gehören insbesondere jene, die - um noch einmal mit zu sprechen - einen „Durchbruch zur Wirklichkeit“ signalisieren, wie etwa: ● die Form der Liste (Kap. 4.1.1), „die als Beispiel par excellence für die Ent‐ grenzung zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Verfahren“ 423 gelten kann, ● die Formen des intimen und vertraulichen Sprechens, die über eine „be‐ sondere […] innere Aufrichtigkeit“ 424 verfügen - zum Beispiel das Selbstge‐ spräch (Kap. 4.1.2 und Kap. 4.3.1) oder autobiographische Selbstzeugnisse der Figuren wie Tagebuchaufzeichnungen und Briefe (Kap. 4.2.1), ● die Formen der mündlichen Alltagskommunikation - zum Beispiel das ungehörige Sprechen (Schimpfen und Fluchen, Kap. 4.2.2) oder die aus‐ grenzenden Redegattungen (Kap. 4.3.2), ● sowie Formen, die für Müller jenseits des Sprechens liegen (z. B. Volkslieder, Kap. 4.2.3). Gemäß der übergeordneten Zielsetzung meiner Arbeit interessiert mich, inwie‐ weit diese verschiedenen Gattungen des Sprechens zu Orten der Reflexion, der Darstellung und der performativen Hervorbringung multipler, prekärer oder ambivalenter Erfahrungen der Zugehörigkeit werden. Darüber hinaus werde ich im dritten Unterkapitel aufzeigen, dass die Poetiken der Nicht-/ Zugehörigkeit in dem Maße, wie sie Sprache als Sprechen konzeptualisieren, immer auch das (Zu-)Hören involvieren und somit eine zentrale Dimension des Zugehörig‐ keitsbegriffs mobilisieren: Die Auseinandersetzung mit der (Un-)Möglichkeit wahrhaftigen Sprechens birgt ethische und politische Implikationen. Sie mündet in ein Konzept von ‚Autorschaft‘, das als ein dialogisch verfasstes zu verstehen ist. 154 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 425 Pasewalck, „Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlaß nur auf die Sprache“, S. 390. 4.1 Die Suche nach der Form: Mehr Meer, Mein Alphabet, Herztier In immer neuen Formen und sprachlichen Abwandlungen erzählt Rakusa über ihr bewegtes Leben, ihre Kindheitserfahrungen, ihre Reisen und Begegnungen mit unterschiedlichen Sprachen, Menschen und Orten. Ihr Schreiben vollzieht sich als Formsuche, als performative Praxis eines Wieder- und Neu-Erzählens, das sich durch unterschiedliche Gattungen bewegt. Anders als bei Müller ist diese Suche aber weniger sprachkritisch motiviert: die Vielstimmigkeit, die sie hervorbringt, ist nicht durch Sprachskepsis gekennzeichnet, sondern verbindet sich „im Gegenteil mit einem Vertrauen in die Sprache als Gestaltungs- und Mög‐ lichkeitsraum“ 425 . Das poetologische Problem, an dem sich Rakusa nachhaltig abarbeitet, ist nicht so sehr die Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit, sondern das Problem, Fülle und Ordnung, Leben und Form in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. Die Ordnung der Literatur, die für Rakusa „eine Ordnung qua Form“ ist, soll „Disparates disparat sein […] lassen“, sie soll die Heterogenität der erfahrenen „Realität“ (Farbband, 172) nicht bezwingen, sondern zuallererst zur Geltung bringen. Die Suche nach der Form ist somit kein Selbstzweck, sondern entspringt dem Bestreben, das Material des wirklichen Lebens in eine ihm angemessene ästhetische Ordnung zu überführen, das heißt: ohne seine ‚Vielgesichtigkeit‘ preiszugeben. Es ist Rakusa wichtig zu betonen, dass der Stoff des erlebten Lebens nicht als Vorwand für spielerische Formexperimente dient (vgl. Sprache, 16). Vielmehr begreift sie die Form, die für sie gleichermaßen den Prozess der Formgebung wie dessen - immer nur vorläufiges - Resultat beschreibt, als Bedingung der Möglichkeit von „Welthaltigkeit“ (Sprache, 129). Rakusas Erinnerungspassagen inszenieren Übergänge zwischen verschie‐ denen Gattungen, die dazu dienen, die Suche nach der Form vorzuführen: Wasser, Wind, Wärme, Stein, Weiß, Blau, Muschel, Tang, Immergrün, Lorbeer, Rosmarin, Rebe, Oleander. Und Kinderschaukel und Faro und Miramar und Fische und Schiffe. Oder so: Das Geviert der Kindheit mit Leuchtturm und Bucht mit Schloß und Buchs mit Veranda und Fuchsmärchen mit Strand und istrischem Sand mit Vater Mutter und Brandung 155 4.1 Die Suche nach der Form 426 Zur (Un-)Form der Liste vgl. David Martyn, Einfach komplex. Zur Form und Lektüre der Aufzählung. In: Albrecht Koschorke (Hrsg.), Komplexität und Einfachheit. DFG-Sym‐ posion 2015. Stuttgart 2017, S. 203-220. 427 Antonella Catone, ‚Chamisso-Literatur‘. Ihr didaktisches Potenzial im universitären DaF-Literaturunterricht in Italien. Marburg 2016, S. 124. 428 Stäheli, Das Soziale als Liste, S. 88. mit Lutscheis und Wind aus dem Karst aber Angst keine Das Stenogramm eines Glücks, das in Wirklichkeit viele Gesichter hatte. (MM, 51) Der Gattungswechsel von der auflistenden, asyndetischen Form der Darstel‐ lung zu einer polysyndetischen Reihung, deren Glieder durch die mehrmals wiederholte Konjunktion „mit“ miteinander verbunden sind und die sich ty‐ pographisch als Gedicht präsentiert, macht sich zum einen die Technik des Selbstzitats zunutze: Der Neunzeiler „Das Geviert der Kindheit“ entstammt dem Gedichtband Ein Strich durch alles (1997). Solche intertextuellen Reminiszenzen und Rückgriffe auf frühere Werke finden sich in Mehr Meer viele; sie verleihen dem Text eine reflexive, selbst-historisierende Dimension, durch welche die Suche nach der Form in ihrer Prozessualität vorgeführt und als werkumspan‐ nendes Motiv ausgestellt wird. Zum anderen verweist dieser Gattungswechsel auf die basale Kontingenz des literarischen Textes, also auf die Tatsache, dass eine Geschichte - und sei es die eigene - mehrfach erzählt und in vielfacher Form dargestellt werden kann. Diese Kontingenz wird, wie der Ausdruck „oder so“ signalisiert, bewusst exponiert und inszeniert. Die scheinbar formlose 426 Anhäufung von Erinnerungsfragmenten weicht einer stärker rhythmisierten und strukturierten Form der Darstellung, die aus dem Textfluss hervorgehoben wird und nicht mehr allein auf die sinnliche Suggestionsmacht der Wörter vertraut, sondern sie arrangiert und organisiert. Im Übergang zwischen ver‐ schiedenen Gattungen, „von der Prosa zur Poesie“ 427 , gibt sich Erinnerung als ein unabschließbares Geschehen, als etwas Geformtes und zugleich Formbares, zu erkennen. Im dritten Kapitel habe ich argumentiert, dass die (Un-)Form der Liste, für die auch das obige Zitat ein Beispiel gibt, als Ort für „heterogene Versammlungen“ 428 fungiert, an dem sich Zugehörigkeit vermehrt und multipliziert. Die Liste schafft einen Möglichkeitsraum, der es Rakusa zufolge erlaubt, die „Crux der Sprache“, nämlich „keine Simultaneität, bloß Sukzessivität“ (Farbband, 15) vermitteln zu können, zu überwinden. Ein Raum, in dem eine Vielheit und Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeiten zu Geltung gelangen, Heterogenes miteinander verknüpft und immer wieder neu in Beziehung treten kann. Zugleich ist die Liste - als eine Form unter vielen - selbst Teil jener Heterogenität, die den Text in 156 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 429 Zu den Referenzen auf Bildungs-, Entwicklungs- und Künstlerroman vgl. Kletten‐ hammer, „Ich ist viele“, S. 253. 430 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 210. 431 Lena Wetenkamp, „Europa ist nicht Archiv, sondern Palimpsest“ - Europavorstellungen bei Ilma Rakusa. In: Tomislav Zelić / Zaneta Sambunjak / Anita Pavić Pintarić (Hrsg.), Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee. Würzburg 2015, S. 249-262, hier S. 260. 432 Antonella Catone, ‚Chamisso-Literatur‘, S. 115; Ulrich Weinzierl, Frankfurter Favo‐ riten I. Der Übergänger. Mehr Meer. Der Brenner und der liebe Gott. In: Die Welt, 10.10.2009. URL: https: / / www.welt.de/ welt_print/ kultur/ literatur/ article4795456/ Frank furter-Favoriten-I.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Volker Breidecker, Da reimt sich was, da stößt sich was. In einem lyrischen Parlando, das sich gelegentlich bis zum Stakkato steigert, schreibt sich Ilma Rakusa in ihren Erinnerungspassagen ostwärts: Mehr Meer. In: Süddeutsche Zeitung, 13.10.2009, S. 7; Martina Meister, Geschichte einer Rettung. Ilma Rakusas poetische Autobiographie erzählt von einer Jugend an den Bruchstellen der europäischen Geschichte. In: Die Zeit, 04.02.2010, S. 49. URL: https: / / www.zeit.de/ 2010/ 06/ L-B-Rakusa (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Gabriella Sgambati, Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung. Translationspoetiken in den Texten von Ilma Rakusa und Yoko Tawada. In: Lavinia Heller (Hrsg.), Kultur und Übersetzung. Studien zu einem begrifflichen Verhältnis. Bielefeld 2017, S. 275-302, hier S. 282. seiner Gesamtheit prägt. Notate, Listen, Märchen, Kinderreime und -lieder, litur‐ gische Gesänge, Selbstbefragungen, persönliche Anekdoten, imaginäre Dialoge, Gedichte, biographische Porträts, Städtebilder, Stillleben, Reiseskizzen, essayis‐ tische Reflexionen, Aphoristisches und Sprichwörtliches sowie der Bezug auf Erzählmuster des Bildungs- und Künstlerromans 429 schließen sich zu einem bruchstückhaften Ganzen zusammen, in dem der Stoff der Erinnerung zum Gegenstand mehrfacher Bearbeitungen wird und kontinuierlich neue Formen annimmt. Im Sinne Bachtins können diese heterogenen Gattungselemente und -referenzen, die auch Bezüge auf andere Kunstgattungen (wie Musik oder Ma‐ lerei) enthalten, als Konstituenten einer mehrstimmigen Komposition gedeutet werden. Als „Formen der verbalen Aneignung von Wirklichkeit“ bringen die verschiedenen Gattungen ihre je eigenen Sprachen, Stile und Tonlagen in die Konstruktion des Textganzen ein und spalten dessen „sprachliche Einheit“ 430 . Bachtin erachtet sie daher als einen äußerst wichtigen Faktor bei der Erzeugung von Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Aus dieser Heterogenität und Vielstimmigkeit erklärt sich auch, weshalb es so schwerfällt, „Rakusas Erinnerungspassagen einer bestimmten Gattung zuzuordnen“ 431 . „Kein konventioneller Roman, sondern eine Collage aus Er‐ zählungen“, „keine Memoiren, sondern autobiographische Miniaturen“, „ein langes Gedicht in 69 Strophen“, „poetische Autobiographie“, „autobiographi‐ scher Roman“ - 432 die Begriffsvielfalt zeigt die Unsicherheit, mit der die Lite‐ raturwissenschaft und -kritik dem Text gegenübertritt. Was jedoch immer 157 4.1 Die Suche nach der Form 433 Vgl. Claudia Müller, „Ich habe viele Namen“. Polyphonie und Dialogizität im auto‐ biographischen Spätwerk Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts. Paderborn 2009, S. 16. Müllers Buch ist eine der wenigen Monographien, die Bachtins Theorie des polyphonen, dialogischen Romans mit dem autobiographischen Gattungsdiskurs zu‐ sammenzubringen versucht. 434 Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 10; zur Einheit von Autor, Erzähler und Protagonist als Definitionskriterium für autobiographische Texte vgl. Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique. Paris 1975, S. 15: „Pour qu’il y ait autobiographie […], il faut qu’il y ait identité de l’auteur, du narrateur et du personnage.“ - Aus der monologischen Verfasstheit der Autobiographie erklärt sich womöglich auch Bachtins ambivalentes Verhältnis gegenüber dieser Gattung. Auf der einen Seite hat Bachtin „seine Abneigung gegen biographische Rekonstruktionen immer wieder formuliert. Keinesfalls wollte er sein eigenes Leben in eine abschließende Narration gepresst sehen. Seine Autobiographie stellte Bachtin nur äußerst widerwillig zusammen, so etwa wenn es eine bürokratische Notwendigkeit dafür gab“ (Dieter Thomä / Ulrich Schmid / Vincent Kaufmann, Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiogra‐ phie. München 2015, S. 100). Man könnte diese Widerwilligkeit als lebenspraktische Anwendung gewonnener Einsichten auf die eigene Person deuten. Denn genauso wie Bachtin verweigern sich Dostojewskis Romanfiguren jedweder Fixierung. Laut Bachtin führen sie die grundsätzliche Unabgeschlossenheit des Menschen vor Augen, der niemals mit sich selbst zusammenfällt: „Der Mensch ist nie mit sich selbst identisch. Die Identitätsformel: A ist A, ist auf ihn nicht anwendbar.“ (Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 67). Auf der anderen Seite hat Bachtin immer wieder auf das dialogische Potenzial der Autobiographie verwiesen und in seinen Ausführungen über die „eingebetteten Gattungen“ vor allem die des autobiographischen Diskurses hervorgehoben: „Tagebuch, Reisebeschreibung, Biographie, Brief “ nennt Bachtin in seinem Aufsatz Das Wort im Roman (S. 210) als ausdrückliche Beispiele für Gattungen, die den Roman vielstimmig und welthaltig machen. wieder betont und herausgestellt wird, ist der autobiographische Charakter der Erinnerungspassagen, was mich zu der Frage bringt, wie die Vielstimmigkeit des Textes mit seiner lebensgeschichtlichen Verankerung zusammenhängt. 4.1.1 Vielstimmiges Ringen um Wahrhaftigkeit Dieser Zusammenhang ist nicht selbstverständlich, gilt doch die Autobiographie als eine erklärtermaßen monologische Gattung, 433 die sich aufgrund der Einheit von Autor und erzählender Ich-Figur einer polyphonen Auffächerung der Redeinstanzen, der „Vielfalt selbstständiger und unvermischter Stimmen“ 434 , verweigert. Sowohl Rakusa als auch Müller gehen in ihrem Schreiben von ihrem persönlichen Erleben aus und haben immer wieder nachdrücklich die Untrennbarkeit der Literatur vom Leben betont. Gleichzeitig versuchen sie, naiv-biographistische Rezeptionsweisen ihres Werks abzuwehren, indem sie dessen Fiktionscharakter hervorheben und sich polyphoner Formen des Erzäh‐ lens bedienen, welche das Identitätspostulat von Autor, Erzähler und Figur un‐ 158 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 435 Lediglich eine Stelle in Rakusas Mehr Meer lässt ein Spiel mit dem Autornamen erahnen, wie Jesenovec (Die poetische Autobiographie Mehr Meer von Ilma Rakusa, S. 99) zutreffend beobachtet hat: „Nach dem Sommerkurs fuhr ich auf die andere Seeseite, Seewinkel genannt. Nach Illmitz, dessen Name wie prädestiniert für mich schien.“ (MM, 209) 436 Vgl. hierzu in beiden Texten die Passagen, in denen über „das Kind“ oder „ein Kind“ gesprochen wird: MM, 81, 89, 93, 100 f.; H, 14 f., 22, 47 f., 72 f., 166, 192. 437 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 209 f. terminieren. Weder in Rakusas noch in Müllers Texten findet ein Spiel mit dem Autornamen statt - die Ich-Erzählerinnen von Mehr Meer und Herztier bleiben namenlos. 435 Auch wirken beide Texte, trotz offensichtlicher biographischer Par‐ allelen, einer vereinheitlichenden Verschmelzung von Autorin und erzählender Ich-Figur entgegen, indem sie die Stimmen ihrer Erzählerinnen pluralisieren und perspektivisch aufbrechen. Am deutlichsten wird dies, wo die Texte aus der Ich-Form in die distanzierende Perspektive der dritten Person Singular wechseln und dadurch einen Bruch zwischen erlebendem und erzählendem Ich herbeiführen. 436 Neben dem Umschwung in die dritte Person wechselt die Erzählstimme von Mehr Meer an einigen Stellen auch in die Du-Form. Dieses Mittel wird weniger dazu eingesetzt, um den (realen) Leserinnen und Lesern ein Identifikationsangebot zu unterbreiten, als vielmehr dazu, die Beziehung zum eigenen Selbst als ein dialogisches Verhältnis zu reflektieren (vgl. MM, 39, 187, 321). Über diese Zersetzung des autobiographischen ‚Identitätspaktes‘ hinaus lässt sich das Fragmentarisch-Disparate, das aus der Heterogenität der „eingebet‐ teten Gattungen“ 437 entsteht und Rakusas Mehr Meer genauso wie Müllers Herztier prägt, als eine implizite Problematisierung der subjektphilosophischen Annahmen lesen, die dem traditionellen autobiographischen Diskurs zugrunde liegen. Rakusas Buch legt das Fragmentarische der Erinnerung offen, indem es statt einer rigiden Chronologie eine lose Abfolge von Erinnerungssplittern inszeniert und diese kontrapunktisch, polyphon organisiert. Der Text strebt keine Totalität der Lebensdarstellung an - „Ich feilsche nicht um das Ganze“ (MM, 316), heißt es in diesem Zusammenhang programmatisch -, sondern reflektiert in der Offenheit seiner Form die Prozessualität und das immer Unfertige des durch ihn hervorgebrachten Selbst- und Zugehörigkeitsentwurfs. Der Verzicht auf Ganzheit, die Absage an eine lineare Erzählung und die Entscheidung für eine fragmentierte Struktur gehören, wie Rakusa sagt, „zu den Prämissen des Buches“ (Bildungsroman, 26), was sich auch in selbstreflexiven Kommentaren der Ich-Erzählerin niederschlägt: „Die Zeit ist keine Fadenspule. Am Schnürchen aufgereiht ist nichts.“ (MM, 111) Rakusa beharrt darauf, dass 159 4.1 Die Suche nach der Form 438 Andrea Gerk, Ilma Rakusa über ihr Buch Mein Alphabet. „Die lyrische Form ist mir die liebste“. In: Deutschlandfunk Kultur, 27.08.2019. URL: https : / / www.deutschlandfunkkultur.de/ ilma-rakusa-ueber-ihr-buch-mein-alphabet-die-lyri sche-form.1270.de.html? dram: article_id=457327 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 439 Die Forschung hat die fragmentarische Struktur von Herztier verschiedentlich hervor‐ gehoben und sich dabei vor allem auf die eingestreuten Kindheitsrückblenden (vgl. etwa Moyrer, Herztier, S. 41), weniger aber auf die Formen- und Gattungsvielfalt des Romans bezogen, auf die ich in Kap. 4.2 genauer eingehen werde. die Form ein vielstimmiger work in progress und damit immer unabgeschlossen ist. Eindrücklich vorgeführt wird dies auch in ihrem jüngsten Buch, in dem Ra‐ kusa den Versuch unternimmt, das eigene Leben nochmal mit anderen Akzenten wieder- und neu zu erzählen. Wie schon Rakusas erstes, autobiographisch bestimmtes Erinnerungsbuch Mehr Meer, ist Mein Alphabet (2019) von dem Bestreben geleitet, die Disparität des angesammelten Lebens zu ordnen und zu gestalten, ohne die Brüche und Widersprüche, die es prägen, in einer falschen Einheit aufzuheben. Hierbei zeigt sich, dass Ordnung und Unordnung nicht einander ausschließende Gegensätze bilden, sondern sich gegenseitig bedingen. „Wie das Material ordnen? “ (MA, 185), lautet die poetologische Problemstellung, die der Text auch hier wieder selbstreflexiv thematisiert und auf die er durch die Art seiner formalen Gestaltung auch eine Antwort gibt. Die Formenvielfalt, die sich aus dem heterogenen Gemisch von Gedichten, Prosaminiaturen und Selbstinterviews ergibt, bedarf der „Konstruktion als Gerüst“ (MA, 185), um sich allererst zu konstituieren. Ein solches Gerüst stellt die Struktur des Alphabets dar, entlang derer sich das eigene Leben nicht-linear auffächern und in eine Ordnung bringen lässt: „[O]hne diese Struktur hätte ich mir das nicht erlaubt, ein dermaßen hybrides Buch zu schreiben“ 438 , bekennt Rakusa im Interview. Über die basale Ordnungsfunktion hinaus zeigt sich in der Entscheidung für diese Struktur auch der Wunsch, sich des eigenen Lebens mithilfe der Schrift und des Schreibens zu vergewissern. Eines Schreibens allerdings, das die gespro‐ chene Sprache ausdrücklich miteinbezieht und Authentizitätseffekte produziert, indem es primäre Gattungen der Rede - wie Interviews und Selbstgespräche - in sich integriert und damit den Ton der Autorin verfremdend wiedergibt. Auch Müllers Herztier bedient sich fragmentarischer Darstellungsweisen, 439 um geteilten Gefühlen von Zugehörigkeit Ausdruck zu verleihen. Gemäß dem spruchhaften Satz aus Herztier „Was nicht mehr ganz ist, kann man leicht teilen“ (H, 240) machen Müllers und Rakusas Texte die Brüche und Widersprüche von Zugehörigkeit für ihre Leserinnen und Leser nicht nur inhaltlich nachvollziehbar, sondern auch durch ihre Form hindurch (mit-)teilbar und erfahrbar. Die Brüchigkeit und Heterogenität der formalen Aufbauelemente 160 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 440 Vgl. Adorno, Minima Moralia, S. 55. 441 Vgl. hierzu MM, 23 f. (= Kap. „III. Das andere Gedächtnis“) und MM, 25-31 (= Kap. „IV. No memory“). verfügt über eine eigene Aussagedimension. In ihnen spiegelt sich nicht nur die Unmöglichkeit einer auf Kohärenz abzielenden Lebensbeschreibung sowie die Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung wider, sondern manifestiert sich auch ein politischer Impetus, der im Sinne von Adornos berühmtem Diktum, wonach das Ganze immer das Unwahre sei, 440 jedem totalitären Einheitsbegehren eine klare Absage erteilt. Sowohl Rakusa als auch Müller haben sich intensiv mit Fragen autobiogra‐ phischen Schreibens beschäftigt und in ihren poetologischen Texten über das Verhältnis von Wirklichkeit/ Wahrheit und Fiktion oder die Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses nachgedacht. In diesem Zusammenhang hat sich Rakusa bemerkenswerterweise auch explizit auf Müller bezogen: so etwa in ihrer 2014 veröffentlichten Poetik-Vorlesung Autobiographisches Schreiben als Bildungs‐ roman (10-12) oder in ihren 1993 abgehaltenen und 1994 in Buchform erschie‐ nenen Grazer Vorlesungen Farbband und Randfigur (105, 171). Auch Müllers poetologischer Schlüsselbegriff der ‚erfundenen Wahrnehmung‘ (vgl. Teufel, 9-31) fällt bei Rakusa als unmarkierte intertextuelle Referenz (vgl. Farbband, 173). Neben den poetologischen Schriften reflektieren die literarischen Texte beider Autorinnen über autobiographisches Schreiben, indem sie Erfahrungen des Disparaten in das Disparate ihrer Form aufnehmen, die fragmentierte Erinnerung selbstbezüglich thematisieren, 441 im Grenzbereich der Literatur angesiedelte ‚Textsorten‘ wie autobiographisches Interview, Tagebuch und Brief in sich integrieren oder die narrative Re-Konstruktion des eigenen Lebens als eine fortgesetzte Formsuche inszenieren. Hierbei ist wichtig festzuhalten, dass sich die hochreflexiven, zum Bruchstückhaften tendierenden Selbst- und Nicht-/ Zugehörigkeitsentwürfe der beiden Autorinnen zwar von der als ‚tra‐ ditionell‘ geltenden Vorstellung eines homogenen, sich selbst transparenten autobiographischen Subjekts distanzieren und gegen Ganzheitsvorstellungen opponieren, das Streben nach Aufrichtigkeit aber nicht suspendieren. So will Rakusa ihr Erinnerungsbuch Mehr Meer nicht als bloßes ‚Maskenspiel‘ à la de Man (vgl. Bildungsroman, 30) verstanden wissen und insistiert Müller auf der „Loyalität dem Wirklichen gegenüber“ (Schnee, 115). Aus diesem Grund ist auch Vorsicht davor geboten, die Texte der beiden Autorinnen allzu schnell unter dem Begriff ‚Autofiktion‘ zu subsumieren. Zwar nehmen beide Autorinnen in ihren Poetik-Vorlesungen auf diesen Begriff Bezug; das sollte aber nicht dazu führen, diese Selbstdeutung unhinterfragt zu repro‐ duzieren. Wie ich in Kapitel 3.3 argumentiert habe, sind diese - vermeintlich - 161 4.1 Die Suche nach der Form 442 Eke, Augen/ Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den Bildern, S. 18. 443 Hachmann, Poeta doctus docens, S. 150. 444 Haines / Littler, Gespräch mit Herta Müller, S. 14. außerliterarischen Ko-Texte der Literatur nicht als sekundäres Beiwerk zum ‚eigentlichen‘ literarischen Werk, sondern als integraler Bestandteil desselben aufzufassen. Weil sich die Poetik-Vorlesungen selbst in jenem „Grenzbereich“ 442 zwischen Autobiographie und literarischer Fiktion bewegen, welchen sie inhalt‐ lich thematisieren, indem sie auf den Begriff der ‚Autofiktion‘ referieren, können sie nur bedingt als Instrument der literaturwissenschaftlichen Analyse dienen. Sie sind selbst interpretationsbedürftig und fungieren somit nicht als Mittel, sondern Gegenstand von Analyse. Die Verwendung des Begriffs ‚Autofiktion‘ in den poetologischen Texten der Autorinnen ist nicht ohne den Rahmen zu verstehen, in dem die Äußerung vollzogen wird. Das heißt: Sie ist - wie jede Form der Äußerung - als gattungsbezogen zu betrachten. Wenn die Poetik-Vor‐ lesung als „prädestinierte[s] Forum“ 443 für die Inszenierung von Autorschaft angesehen werden kann, dann ist die Verwendung des Autofiktionsbegriffs im Rahmen dieses Gattungs- und Äußerungsformats weniger hinsichtlich seiner hermeneutischen Aussagekraft für die Interpretation des literarischen Werks interessant, als vielmehr für die Hervorbringung unterschiedlicher Entwürfe von Autorschaft relevant. Während Müller den Autofiktionsbegriff von dem Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt übernimmt und als durch sich selbst verständlich hinstellt - „Mir hat das Wort sehr eingeleuchtet“ 444 -, bietet Rakusa in ihrer Salzburger Stefan Zweig Poetik‐ vorlesung eine ausführlichere Begriffsbestimmung, die von Augustinus’ Confessiones (397-401 n. Chr.) bis zu den Einsichten der poststrukturalistischen Literaturtheorie reicht und das Konzept der ‚Autofiktion‘ vom Kontext seiner Entstehung her beleuchtet: Der französische Autor und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky, der den Begriff ‚autofiction‘ in den 1960er Jahren einführte, orientierte sich stark an der Lacanschen Subjekttheorie, wonach alle Formen der Identität nur als ‚fiktional‘ gelten können. In dieselbe Kerbe schlug Roland Barthes, als er 1968 den „Tod des Autors“ verkündete und schrieb: „Die Sprache kennt ein ‚Subjekt‘, aber keine ‚Person‘.“ Dass Barthes selbst zehn Jahre später eine (reich bebilderte) Autobiographie unter dem Titel Roland Barthes par Roland Barthes herausgab, zeigt die Problematik seiner frühen These. Der Diskurs vom Tod des Autors, als Folge des linguistic turn, zog sich weiter durch die dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Debatten, gilt aber als überholt. (Bildungsroman, 8) 162 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 445 Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, S. 266. 446 Susanne Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller über ihre zusammengeklebten Gedichte und über die Macht und das Versagen der Wörter. In: Der Spiegel, 27.08.2012, S. 128-132, hier S. 130. 447 Vgl. Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, S. 261. Der unterschiedliche Umgang mit dem Begriff der ‚Autofiktion‘ und dem theoretischen Ballast, der an ihm hängt, verweist auf verschiedene Entwürfe von Autorschaft. Dass Müller überhaupt auf diesen Begriff Bezug nimmt (vgl. auch Falle, 21 und Schnee, 214), ist für sich schon bemerkenswert. Denn im Unterschied zu Rakusa, die literaturwissenschaftliche Fachbegriffe nicht scheut, lässt sich der sprachliche und stilistische Duktus von Müllers Essays, Reden und Poetik-Vorlesungen „einem Sprechen zuordnen, das in seiner Unangestrengtheit und Informalität eine Realitätsnähe sucht“ 445 sowie „keine abstrakten Begriffe“ 446 mag. Dieser unprätentiöse Sprachgebrauch verweist auf die mündliche Vortragssituation der Poetik-Vorlesungen und ist insofern programmatisch zu verstehen, als Müllers Schreiben der erlebten Wirklichkeit verpflichtet ist und die Schönheit der Wörter an der Direktheit ihrer Aussage bemisst. Er kann aber aber auch als Versuch verstanden werden, sich jeglicher Vereinnahmung zu entziehen und weder den Versprechungen der politischen Ideologien noch den Verheißungen der Theorie „auf den Leim“ zu gehen, wie sich in Anspielung auf Müllers Collagearbeit formulieren lässt. Anders als Müller, deren Vorliebe fürs Konkrete eine antiakademische Haltung mani‐ festiert, 447 profiliert sich Rakusa als eine poetria docta, die mit den kultur- und literaturtheoretischen Diskursen ihrer Zeit wohl vertraut ist und deren Kenntnis sie bei ihrem Publikum auch voraussetzen kann. Rakusas Werk ist als ein theoriediskursgesättigtes zu charakterisieren, das von der Auseinander‐ setzung mit wissenschaftlichen Debatten lebt, aus ihr entsteht und sich immer wieder neu zu ihnen positioniert. Wie das Motiv des Nomadischen, dessen Wanderungen durch verschiedene Texte und Gattungen ich im dritten Kapitel dieser Arbeit nachvollzogen habe, lässt sich der zitierte Theorieabriss zum Begriff der ‚Autofiktion‘ als eine Performanz von literaturwissenschaftlichem Wissen begreifen. Ein handschriftlich beschriebener Notizzettel, der zwischen den drei Poetik-Vorlesungen, die Rakusa im Mai 2011 an der Universität Salzburg abgehalten hat, und deren Veröffentlichung in Buchform (2014) entstanden sein muss und sich in Rakusas Vorlass findet, belegt diese Performanz zusätzlich. Auf ihm sind, teilweise in Versalien, verschiedene Stichwörter aufgelistet, die Rakusas Beschäftigung mit der theoretischen Diskussion um ‚Autobiographie‘ und ‚Autofiktion‘ dokumentieren, zum Beispiel: „SURFICTION“, „FACTUAL FICTION“, „FICTION OF FACTS“, „FACTION“, „AUTOFICTION“, „AUTOBIO‐ 163 4.1 Die Suche nach der Form 448 Der Notizzettel findet sich in Rakusas Vorlass im Schweizerischen Literaturarchiv unter der Signatur A-05-c-03. 449 „Obwohl von den Poetikdozent*innen gar keine wissenschaftlichen Aussagen erwartet werden, tun sie doch so, als laste ein immenser akademischer Erwartungsdruck auf ihnen, der zurückzuweisen sei.“ Kempke, „Ich kann das gar nicht“, S. 173. - Wie Kempke in seinem Aufsatz ausführt, ist die Zurückweisung der gattungstypischen Erwartungen sowie der „latente Antiakademismus“ (ebd.), der sich durch die von ihm analysierten Frankfurter Poetik-Vorlesungen zieht und welcher sich auch bei Müller bemerkbar macht, nicht als Skandalon zu betrachten, sondern hat vielmehr selbst schon konventionellen Charakter gewonnen. 450 Vgl. beispielsweise das Bild des „gespenstischen Umzugs“, das die unabsehbare Eigendy‐ namik des Schreibprozesses zum Ausdruck bringt: „Wenn ich Gelebtes in die Sätze stelle, fängt ein gespenstischer Umzug an. Die Innereien der Tatsachen werden in Wörter verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort.“ (König, 85) 451 Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 225. GRAPHISCHER ROMAN“, „LITTÉRATURE INTIME“. 448 Rakusas Begriffsarbeit unterstreicht die dialogisch-kontextuelle Bezogenheit des Formats ‚Poetik-Vor‐ lesung‘, indem sie ein Konzept von ‚Autorschaft‘ erzeugt, das die gattungstypi‐ schen Erwartungen dieses Formats sensibel antizipiert und durch die ostentative Zurschaustellung theoretischer Gelehrsamkeit auch realisiert. Müller hingegen negiert diese verspürten  449 Erwartungen, indem sie sich als eine theorieferne Autorin inszeniert, die das Schreiben aus einer politischen und existenziellen Bedrängnis heraus praktiziert. Obwohl ihr Rekurs auf den Autofiktionsbegriff eher beliebig und wie zufällig aufgeschnappt wirkt und Müller diesem Begriff eine Reihe von alternativen Ausdrücken beiseite stellt, die „im eigenen Mund“ (Falle, 37) entstanden sind und die somit keine ‚fremden‘ Intentionen mit sich schleppen, 450 hat seine Verwendung ihre rezeptionslenkende Funktion nicht verfehlt: Eine Fülle von Forschungsliteratur hat viel Aufwand betrieben, Müllers Selbstaussage wissenschaftlich zu fundieren und bestätigend weiter zu prozessieren, statt sie in ihrer Gattungsbedingtheit zu reflektieren und die Widersprüche freizulegen, die den Rekurs auf diesen Begriff in Müllers Poetik prägen. Wenn es stimmt, dass ein Wort, wie Bachtin sagt, „sich bis zuletzt nicht von der Macht der konkreten Kontexte befreien [kann], deren Bestandteil es jeweils war“ 451 , dann erweist sich der Autofiktionsbegriff aufgrund seiner diskursiven Lebensgeschichte nur schwer vermittelbar mit Müllers Insistieren auf der Wahrheit der Erfahrungen und einer ihr verpflichteten Literatur: „Autobiographisches, selbst Erlebtes. Ja, es ist wichtig.“ (Teufel, 20) Weder Rakusas noch Müllers Schreiben geht konform mit den poststrukturalistischen Prämissen, die den Autofiktionsbegriff zu Beginn seiner Karriere prägten und 164 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 452 Bozzi, Autofiktionalität, S. 166. 453 Gerk, Ilma Rakusa über ihr Buch Mein Alphabet. 454 Vgl. Farbband, 134. Auch Rakusas Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2019 lässt Bachtins Dialogizitätskonzept als theoretische Referenz mitschwingen. Sie übernimmt dessen wertende Dichotomien (Dostojewski vs. Tolstoj, polyphon vs. monologisch): „Dostojewskijs fiebrige Prosa urteilt nicht, die polyphone Stimmenvielfalt erzeugt Streit und Kontroverse, auf Rechthaberei ist sie nicht aus. Sage mir einer, wer in den Brüdern Karamasow ideologisch den Sieg davonträgt: Iwan Karamasow, der Erzähler der ewig aktuellen ‚Legende vom Grossinquisitor‘ (der Mensch braucht nicht Freiheit, sondern Brot und Bevormundung) oder sein jüngster Bruder Aljoscha, der - gläubig und zukunftsgläubig - seine Hoffnung in die junge Generation setzt? Die Figuren agieren, reden, zeigen ihre Schwächen und Stärken. Ohne dass auktorial ein Urteil gefällt würde. Ganz anders als bei Tolstoj, dessen didaktisches Naturell mich stets irritierte.“ Ilma Rakusa, Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2019. In: Kleist-Jahrbuch 2020, S. 11-18, hier S. 13. sich ihm eingeschrieben respektive eingesprochen haben. Vielmehr bleibt für beide Autorinnen die Frage nach Möglichkeiten einer authentischen, wahrhaf‐ tigen Darstellung des eigenen Lebens virulent. Diese Authentizität hat weder zum Ziel, das Erlebte eins zu eins wiederzugeben, noch wird sie durch die Einheit von Autor und erzählender Ich-Figur verbürgt. Sie gestaltet sich vielmehr als ein nicht aufhörendes Ringen um und mit Sprache, als ein Prozess des Suchens und Erprobens verschiedener Formen, Gattungen und Stile, die der Individualität des Erlebten Rechnung tragen und es zugleich überindividuell anschlussfähig machen. Auf diesen Aspekt legen sowohl Müller als auch Rakusa großen Wert. So the‐ matisiert Müller „das Problem, nicht nur persönlichen, sondern auch kollektiven traumatischen Erfahrungen einen adäquaten Ausdruck zu geben“ 452 und Rakusa trachtet danach, „das Individuelle und das Universelle“ 453 zu verbinden. Durch polyphone Mittel soll die Singularität des subjektiven Erlebens überwunden und ein künstlerischer Mehrwert geschaffen werden, der das autobiographi‐ sche Unterfangen seiner egozentrischen, selbstbezüglichen Dimension enthebt. Bachtins ‚Polyphonie‘-Konzept, auf das sich die Slawistin und Dostojewski-Ken‐ nerin Rakusa mehrmals explizit bezieht, 454 was abermals ihre Theorieaffinität demonstriert, bleibt dabei nicht auf die Gattung des Romans beschränkt, sondern erfährt eine Ausweitung auf andere künstlerische Ausdrucksformen, wie zum Beispiel Lyrik: Als ich über Monate meinen Zyklus Love after love schrieb, suchten gekappte Gefühle einer gekappten Story nach einem adäquaten Ausdruck. Eine Liebesgeschichte war zu Ende gegangen, die Erinnerung daran noch hellwach und schmerzlich; Hader und Klang stritten sich, der innere Dialog (mit dem andern) wollte nicht abbrechen. Ich 165 4.1 Die Suche nach der Form 455 Damit nähert sich Rakusa einem Begriff von ‚Subjekt‘, wie Bachtin ihn in seinem frühen Werk Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit (1924) entwickelt hat. Vgl. Michail M. Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hrsg. von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid. Aus dem Russischen von Hans-Günter Hilbert u. a. Frankfurt am Main 2008. 456 Pabis, Migration erzählen, S. 191. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Mehr Meer. - Noch stärkeren Gebrauch von der Gattung des Autorinneninterviews macht Rakusa in ihrem ebenfalls stark autobiographisch geprägten Buch Mein Alphabet: Neben seiner Funktion als einer Form der dialogischen Selbstverständigung impliziert das Spiel mit dieser Gattung auch eine Reflexion über den zeitgenössischen Literaturbe‐ trieb, in dem das Interview als ein maßgebliches Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung dient. verfiel in ein emotionales rhythmisches Parlando, das sich auch einer zweiten Sprache, des Englischen bediente. Zu meinem eigenen Erstaunen entstanden lange Gedichte mit einem (für meine Begriffe) langen Atem. Darin wird lamentiert und gesungen, narrative Elemente vermischen sich mit litaneihaften. Ich habe zahlreiche Realia eingearbeitet - Orte, Episoden, Namen, Zitate −, doch getragen wird das Ganze von einem Ton elegischen Zorns (oder zorniger Trauer), der einen bestimmten Rhythmus hat. Dieser staccato-, ja raphafte Rhythmus ist es, der die Abgesänge strukturiert bzw. zusammenschweißt, der ihnen zu einer Form verhilft, die den persönlich-intimen Inhalt gewissermaßen transzendiert. (Sprache, 124 f.) Rakusa beschreibt, wie durch das Zusammenwirken von Mehrsprachigkeit, intertextuellen Anspielungen und Gattungsreferenzen eine Vielstimmigkeit entsteht, die „die subjektive Betroffenheit transzendiert“ (Sprache, 129) oder: das Autobiographische dialogisiert. 4.1.2 Zur Dialogizität der Erinnerungspassagen Eine solche Dialogisierung lässt sich auch in den Erinnerungspassagen beob‐ achten, in denen ein Ich entworfen wird, das nicht mit sich selbst identisch ist, sondern sich erst im Dialog mit einem - imaginär vorgestellten oder tatsächlich vorhandenen - ‚anderen‘ konstituiert und somit seine relationale Verfasstheit zu erkennen gibt. 455 Der Text beginnt mit der Erinnerung an ein Gespräch zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Vater und gestaltet sich auch im weiteren Verlauf häufig als ein Dialog mit verschiedenen, namentlich nicht genauer bezeichneten Personen - befragt wird die Erzählerin „wie in einem Autoreninterview u. a. von einem ‚P.‘ (135), einem ‚N.‘ (215), einem ‚M.‘ (315) oder auch von sich selbst (78).“ 456 Diese (Selbst-)Befragungen, die zum Teil ganze Kapitel strukturieren (z. B. „XVI. Helle Parenthese“), treiben den Text voran, auch wenn sie öfters nur rhetorische Funktion haben: „Sind 166 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 457 Zu diesen und weiteren sprachlichen Besonderheiten von Mehr Meer vgl. Jesenovec, Die poetische Autobiographie Mehr Meer von Ilma Rakusa, S. 104 f. 458 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 209. 459 Ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 287. 460 Christa Gürtler / Eva Hausbacher, Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenös‐ sischer Autorinnen. In: Eva Hausbacher u. a. (Hrsg.), Migration und Geschlechterver‐ hältnisse. Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden 2012, S. 122-143, hier S. 135. - Das „Dostojewskij“-Kapitel (MM, 157-164) bietet eine geraffte, teils mit direkten Zitaten gespickte Nacherzählung des Romans Schuld und Sühne, den Rakusa als Kind heimlich rezipiert („Nichts für dich, hieß es, du bist erst elf. Später. Der Schrank [gemeint ist der Bücherschrank der Eltern, Anm. M. A.] hatte einen Schlüssel, der Schlüssel steckte, wie gut. Und eines Abends, als meine Eltern ausgingen, wagte ich mich heran. An Dostojewski […].“ Farbband, 6) und immer wieder als zentrale Referenz für ihre literarische Sozialisation aufgerufen hat. Der Kontrast zu Müller könnte größer nicht sein: Während für Rakusa „eine ausgedehnte (Kanon-)Lektüre von Kindesbeinen an zum Autorweden dazu zählt“ (Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich, S. 25), erzählt Müller im Gespräch mit Klammer davon, dass in der dörflichen Welt ihrer Kindheit weder Lesen noch Schreiben vorgesehen gewesen seien. In ihrem Elternhaus hätte es lediglich zwei Bücher gegeben: zum einen den „Brockhaus“ und zum anderen das sogenannte „Doktorbuch“, „das immer ganz unten im Schrank versteckt gehalten wurde“ und für Kinder verboten war (Apfelkern, 53). Orte so wichtig? “ (MM, 35), „Keine Dissonanzen? “ (MM, 78), „Sind wir nicht immer umgezogen, windisch? “ (MM, 320) Stilmittel wie Interjektionen - „E che silenzio! “ (MM, 85), „Faites attention! “ (MM, 248) - sowie elliptische Fügungen und Selbstkorrekturen - „Ich hatte keine Freunde, oder doch: ich hatte Kesztye und meine Cousinen.“ (MM, 48) - verstärken den Eindruck eines sich im Vollzug befindlichen, lebendig-dialogischen Sprechens. 457 Durch Sprecherwechsel gekennzeichnete, in Repliken gegliederte Formen der Rede bilden in Mehr Meer nur die offensichtlichste Manifestation einer Dialogizität, die auch „im Rahmen äußerlich monologischer Konstruktionen verwirklicht“ 458 werden und sogar jedes einzelne Wort durchdringen kann. Bachtin nennt dieses Phänomen, das er am Beispiel der Romane Dostojewskis untersucht, „Mikrodialog“ oder „innere[n] Dialog“. 459 Das Wort der Ich-Erzäh‐ lerin, welcher die Lektüre von Schuld und Sühne bereits im Alter von zwölf Jahren „zum prägenden Erlebnis“ 460 wurde, erweist sich an vielen Stellen als innerlich dialogisiert, auch und gerade da, wo die Erzählerin mit sich alleine spricht. Die folgende Passage handelt vom Leningrad (heutiges St. Petersburg) der Breschnew-Ära, wo die Ich-Erzählerin 1969 ein Studienjahr verbringt, das sowjetische Alltagsleben kennenlernt und eine neue Form der Zugehörigkeit erfährt. In tagebuchartigen Notizen hält sie ihre Eindrücke fest: Dieser dekadente westliche Individualismus! Das russische Wir-Gefühl gibt sich überlegen. Im Freundeskreis erlebe ich es als Solidarität. Keine Steifheit im Umgang, 167 4.1 Die Suche nach der Form 461 Eigentlich will sie „nur in Bibliotheken für [ihre] Dissertation recherchieren“ (MM, 267) und „die Augen vor den Zumutungen“ (MM, 299) der Realität verschließen, doch verliert sie im Lauf der Zeit diese politische Unbekümmertheit. Aufgrund ihres Kontakts zu dissidenten Schriftstellern wie dem späteren Nobelpreisträger Joseph Brodsky (1940- 1966) wird sie auch selbst verfolgt und beschattet (vgl. MM, 301). keine Teilnahmslosigkeit. Bist du krank, kommen sie alle. Brechen Temporekorde in Hilfsbereitschaft. Du fällst nicht auseinander. Und wer renoviert die Stadt? Und wo ist die freie Presse? Und wann fängt die „lichte Zukunft“ an? Wer sein Kind taufen läßt, tut es „katakombenhaft“, um kein Aufsehen zu erregen. Sonst drohen Schikanen. Öffentlich wird wenig gelacht. Öffentlich werden keine Witze erzählt, keine heiklen Themen gestreift. Der Geheimdienst hat spitze Ohren. Auch das Studentenheim ist „verwanzt“. (MM, 295) Die Passage führt beispielhaft vor Augen, wie die Einheit des sprechenden Subjekts, die nach der ‚klassischen‘ Definition von Lejeune als Definitionskri‐ terium autobiographischen Erzählens gilt, durch das Eindringen polyphoner Sprachelemente gebrochen und vervielfältigt wird. Das Wort der Ich-Erzählerin nimmt offensichtlich fremde Wörter in sich auf und setzt sich zu ihnen in Bezug. Die Wörter, die im Text in Anführungszeichen erscheinen, sind dafür bezeichnend: Sie gleichen sich dem sie umgebenden Diskurs nicht an, sondern ragen wie Fremdkörper aus ihm heraus. Dieser distanzierte und distanzierende Sprachgebrauch hat zum einen die Funktion, die Unvertrautheit mit den neuen Lebensverhältnissen zum Ausdruck zu bringen. Während ihres Studienaufen‐ thalts erlebt die Erzählerin, was es heißt, in einem Überwachungsstaat zu leben, wo Räumlichkeiten „verwanzt“ werden. 461 Zum anderen polemisiert die Erzäh‐ lerin mit den fremden Wörtern, die ihre Rede bevölkern: Die hervorgehobenen Ausdrücke sind keiner konkreten Figur zuzuordnen, vielmehr ist die Rede der Ich-Erzählerin von einem nicht-personalisierten Sprechen durchzogen, welches man als Stimme des ideologischen Diskurses bezeichnen kann. So verweist der Begriff „lichte Zukunft“ auf die sozialistische Vision einer klassenlosen Gesellschaft, die die ganze Menschheit umfassen sollte - ein heilsgeschichtlich konnotiertes Narrativ, das in der realsozialistischen Propaganda hartnäckig wiederholt wurde und auf das übrigens auch Müller Bezug nimmt, wenn sie das allgemeine Gerede vom „Glück des Volkes in einer hellen Zukunft“ (HS, 58) heranzitiert, es als himmelschreiende „Lüge“ (Schnee, 173 f.) kritisiert und damit ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber jeglicher Utopie zum Ausdruck bringt. Nicht immer werden die fremden Repliken direkt in Anführungszeichen gesetzt. Und nicht immer sind es nur vereinzelte Worte, die als Stimme des 168 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 462 Wetenkamp, „Gefühlsalphabete“, S. 254. 463 Als „Poesie der Ahnungslosen“ beschreibt Müller die Redewendungen aus dem Dorf‐ dialekt (Eke / Hamann, „Das Schöne ist das Durchsichtige“, S. 15) und unterstreicht damit die schöpferischen Potenziale der Alltagssprache. Dies lässt sich als implizite Kritik an Devianz-Theorien der poetischen Sprache (z. B. Jakobson) verstehen, welche die künstlerische Sprache als ein Phänomen der Abweichung von der Norm der Alltagssprache betrachten und ihr somit einen Sonderstatus einräumen. Dagegen betont Bachtins Theorie der Sprechgattungen die Teilhaftigkeit der Literatur an der alltäglichen Sprechwirklichkeit und auch Müller schreibt: „Das Literarische ist ja nichts Einzigartiges, das sonst nirgends vorkommt. Es kommt auf Schritt und Tritt vor, in der ideologischen Diskurses in die Rede der Ich-Erzählerin eindringen; manchmal ist es sogar ein vollständiger Satz: Der Ausruf „Dieser dekadente westliche Individualismus! “ enthält einen indirekten polemischen Bezug zur Selbstwahr‐ nehmung der Ich-Erzählerin als „Bibliotheksmaus“, die sich in ihren „Studien über die Einsamkeit“ (MM, 294) mit einem - von ideologischer Warte aus gesehen - ‚unsozialistischen‘, ‚dekadenten‘ Thema beschäftigt. Die positive Bewertung des kollektivistischen ‚Ostens‘, die der zitierte Ausruf ex negativo zur Mitteilung bringt, wird von der Ich-Erzählerin als ein Diskurs analysiert, der auf eine überlegene Abgrenzung gegenüber dem imaginierten ‚anderen‘ zielt, aber auch als gelebte Solidarität spürbar wird und somit einen ambivalenten Akzent erhält. Geschult an der Lektüre Dostojewskis, inszeniert die Erzählerin im Kapitel „Notizen“ ein Gespräch mit sich selbst und den Stimmen, die ihr im neuen Umfeld zu Ohren dringen. Die Form des Selbstgesprächs ist nicht nur konstitutiv für die dialogische Struktur der Erinnerungspassagen, sondern wird auch immer wieder explizit thematisiert: Den Dialekt sprach ich auch, doch aus Zweckmäßigkeit. Er drang nicht in mich ein. Selbstgespräche führte ich auf Hochdeutsch, in der Sprache der Bücher. Das bedeutete Abgrenzung. Von Zuhause, wo das Ungarische die Familiensprache blieb, von der Umgebung, die Dialekt sprach. Mein Innenleben hatte einen anderen Zungenschlag. (MM, 106) Obwohl Rakusa - entgegen der Hierarchie von ‚Fremdsprache‘ und ‚Mutter‐ sprache‘ - mehreren Sprachen das Potenzial zuerkennt „Zugehörigkeit perfor‐ mativ umzusetzen“ 462 , kommt dem Hochbzw. Schriftdeutschen als Quelle literarischer Produktivität und als Sprache der auktorialen Selbstgespräche eine herausgehobene Bedeutung im multiplen Gefüge der Zugehörigkeiten zu. Während Müller dem im Dorf gesprochenen Dialekt eine eigene Poetizität abgewinnt, 463 der sie wichtige Impulse für ihr Schreiben entnimmt, bleibt der (Schweizer) Dialekt in Rakusas Sprach- und Sprechrepertoire auf bloße „Zweck‐ 169 4.1 Die Suche nach der Form Folklore, in den Sprichwörtern und Redewendungen, in den Bildern des Aberglaubens. Jede Sprache ist voller Metaphern.“ (Apfelkern, 23) 464 Für Beispiele vgl. Jesenovec, Die poetische Autobiographie Mehr Meer von Ilma Rakusa, S. 105. 465 Vgl. hierzu die Rede der Ich-Erzählerin von der „Heimlichkeit der Sprache“ (MM, 28). 466 Vgl. beispielsweise Günter Blamberger, Das Leben neu buchstabieren. Rede zur Verlei‐ hung des Kleist-Preises an Ilma Rakusa. In: Kleist-Jahrbuch 2020, S. 3-6, hier S. 5: „Vielstimmigkeit ist der Katalysator ihrer Kreativität, als Übersetzerin wie als Autorin.“ 467 Dies schlägt sich auch in verschiedenen Beiträgen des Sammelbands Schreiben als Widerstand nieder, der sich den beiden Nobelpreisträgerinnen Elfriede Jelinek und mäßigkeit“ beschränkt. Das bedeutet aber keine Perpetuierung der Dichotomie zwischen mündlicher und schriftlicher (literarischer) Rede; vielmehr entkräftet Rakusa diese Dichotomie, indem sie Formen oraler Poesie wie zum Beispiel Märchen, Lieder und Sprichwörter 464 in ihre Erinnerungspassagen integriert und im literarisierten (Selbst-)Gespräch ein Ich konzipiert, das sich relational konsti‐ tuiert. Als heimlicher  465 Ort der Nicht-/ Zugehörigkeit schafft das Hochdeutsche einerseits eine sprachliche Abgrenzung nach außen (gegenüber der Familie und dem Dialekt sprechenden Umfeld). Andererseits eröffnet es neue, imaginäre Räume der Zugehörigkeit. Über die Verbindung mit der Welt der Bücher, die in Mehr Meer nicht nur als mobiles Zuhause, sondern auch als ein wichtiger Gesprächspartner fungieren, tritt das Ich in Verbindung zu sich selbst: „Lesend entdecke ich mich selbst. Lesend entdecke ich das Andere […].“ (MM, 105) Die Redegattung des Selbstgesprächs fügt sich in die Reihe jener Gattungen, die eine besondere Intimität suggerieren und auf eine Erweiterung des litera‐ rischen Formenrepertoires in Richtung primärer Äußerungen des Sprechens hinzielen. Auch das nächste Kapitel wird sich mit Formen des Sprechens aus‐ einandersetzen, die eine solche Erweiterung signalisieren, indem sie Gattungen des alltäglichen Lebens als literarische Formen adaptieren und auf ihren doppelt prekären Status hin reflektieren: Die ‚heimlichen‘ Formen des Sprechens, um die es mir im Folgenden geht, sind prekär sowohl hinsichtlich des ungesicherten Orts, den sie im literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskurs einnehmen, als auch hinsichtlich der Formen der sozialen Zugehörigkeit, die sie ausbilden. 4.2 Diktatorisches Erzählen? Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier Im Unterschied zu Rakusa, die immer wieder für die Vielstimmigkeit ihrer Texte gewürdigt wird, 466 gilt Müller nicht gerade als eine Autorin, deren Erzähl‐ weise sich durch Polyphonie und Dialogizität auszeichnen würde. 467 Vielmehr 170 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Herta Müller in vergleichender Perspektive widmet. Als ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Autorinnen wird hervorgehoben, dass Jelineks Texte die Möglichkeit eines individuellen Sprechens infrage stellen; Müllers Texte hingegen würden die Mög‐ lichkeit eines solchen Sprechens nicht negieren, sondern sie durch ihre eigenwillige Bildmächtigkeit wirkungsvoll inszenieren. Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Isolde Charim, Im Teufelskreis der Wörter: Wortbilder und Teekesselchen. Über politische Poetikstrategien und poetische Politstrategien. In: Janke / Kovacs (Hrsg.), Schreiben als Widerstand, S. 209-216 und die Diskussion auf S. 217. 468 Meurer, Diktatorisches Erzählen, S. 178. 469 Ebd., S. 194. 470 Vgl. Bachtin, Sprechgattungen, S. 33: „Wir sprechen stets in bestimmten Sprechgat‐ tungen, […] ohne es zu ahnen, reden wir in verschiedenen Gattungen, ohne von deren Existenz zu wissen. Selbst wo wir ganz frei und ungezwungen plaudern, gießen wir unsere Rede in bestimmte Gattungsformen, welche bisweilen klischee- und schablo‐ nenhaft, dann wieder eher elastisch, plastisch und schöpferisch sind […].“ scheint es eine der wesentlichen Stärken ihres Werkes zu sein, die Eintönigkeit des dörflichen Lebensrhythmus und des rumänischen Alltags unter Nicolae Ceauşescu performativ vorzuführen. Die Müller-Forschung hat hierfür den Begriff des ‚diktatorischen Erzählens‘ gefunden. Dieser Begriff geht auf Petra Meurer zurück, die damit in ihrem vielfach rezipierten Aufsatz die sprachstilis‐ tischen und formalen Besonderheiten von Müllers Erzähltexten umschreibt. Der auffällige Einsatz spruchhafter Rede, formelhafter Techniken und Wieder‐ holungsstrukturen im Erzählen Müllers dient laut Meurer dazu, Macht und Gewalt darzustellen und die Diktatur indirekt zu kritisieren. Als diktatorisch seien diese Mittel auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht zu charakterisieren: Die jeweiligen Bedeutungen der Formeln seien absolut gesetzt, womit der Interpretationsspielraum autoritativ eingeengt und „die Lesart ‚gebieterisch‘ vorgegeben“ 468 werde. Übersetzt in die Terminologie Bachtins heißt dies, dass sich Müller der monologischen Strukturen der Herrschaftssprache bedient, sie in stilisierter Form nachmodelliert, um sie der Kritik auszusetzen. Obwohl diese Thesen wichtige Aspekte von Müllers Erzählweise erfassen, bewirken sie ein einseitiges Hervortreten des monologischen respektive „diktatorischen Gestus“ 469 der Texte. Die folgenden Ausführungen setzen sich demgegenüber zum Ziel, die Stimmen- und Gattungsvielfalt und mithin den Widerstreit zwischen verschiedenen Formen des Sprechens in Müllers Roman Herztier herauszuarbeiten. Weil für Bachtin jegliches Sprechen und Schreiben gattungsgebunden ist, 470 wäre ein mögliches Vorgehen, Müllers Roman Passage für Passage, Satz für Satz, Wort für Wort durchzugehen, um jede einzelne Äußerung auf ihren Gattungscharakter hin zu befragen. Die folgende Analyse schöpft den Reichtum und die Vielfalt der Sprechgattungen, die Müllers Roman in sich aufnimmt und 171 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 471 Schon Sigmund Freud hat auf diese Doppelbedeutung des Wortes ‚heimlich‘ hinge‐ wiesen (vgl. Kap. 3.2.1 dieser Arbeit), ich will den Begriff aber ohne psychoanalytische Implikationen verstanden wissen. 472 Bachtin, Sprechgattungen, S. 56. künstlerisch verarbeitet, nicht aus. Sie soll aber einen Eindruck von der Hete‐ rogenität der (mündlichen und schriftlichen) Sprechgattungen vermitteln, die in den Roman einfließen, die Monologizität der totalitären Sprache durchbrechen und seine Komplexität ausmachen. Die verschiedenen Sprechgattungen (auto‐ biographische Selbstzeugnisse, Tagebuch, Briefe, Flüche, Schimpfwörter, Lieder, Gedichte), die ich in den einzelnen Kapiteln vorstellen werde, umfassen sowohl schriftliche als auch mündliche Formen der Äußerung und weisen bei aller Heterogenität enge Beziehungen zueinander auf. Wollte man einen Oberbegriff finden, um ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben, so könnte man sie als Formen eines ‚heimlichen Sprechens‘ bezeichnen - ‚heimlich‘ im Sinne von ‚vertraut‘, aber auch im Sinne des ‚Verbotenen‘, ‚Geheimen‘ und ‚Verborgenen‘. 471 In den heimlichen Sphären der Rede loten die Figuren Möglichkeiten eines wahrhaf‐ tigen und unverfälschten Sprechens aus, das sich staatlicher Kontrolle entzieht und die Grenzen des Sagbaren überschreitet; eines Sprechens, in dem „Verbote und Konventionen des Sprechens“ fallen und das deshalb einen „besondere[n] nichtoffizielle[n] freie[n] Zugriff “ 472 auf die Wirklichkeit gestattet. Gemäß der übergeordneten Fragestellung dieser Arbeit werden bei der Untersuchung dieser heimlichen und nichtoffiziellen Formen des Sprechens ihre Eingebundenheit in und Verwobenheit mit Dynamiken der Nicht-/ Zugehörigkeit zu erörtern sein. Die Frage wird also sein, inwieweit die heimlichen Formen des Sprechens Möglichkeitsräume eröffnen, die sich der systematischen Zersetzung aller Vertrauensverhältnisse durch den totalitären Staat widersetzen; Räume, die als Refugien der Zugehörigkeit fungieren und einen Bereich markieren, in dem das Ich sich selbst zur Sprache bringen und dadurch auch in Relation mit anderen treten kann. Wenn ich bei der Erörterung dieser Frage Müllers Essays und Poetik-Vorle‐ sungen miteinbeziehe und somit die rein textimmanente Perspektive auf die in den Roman eingelassenen (Sprech-)Gattungen verlasse, so geht es mir darum, auf die Differenzen und Interferenzen zwischen beiden Diskursen hinzuweisen. Meine Kritik aus Kapitel 3.3 aufnehmend und umsetzend, betrachte ich die poetologischen Äußerungen der Autorin nicht als Erklärungshilfen für die literarischen Texte im engeren Sinne; viel eher will ich durch diesen Rekurs eine zentrale Funktion der poetologischen Rede(n) herausstellen: Indem Müller sich einerseits gegen eine autobiographische Lesart ihrer Literatur wehrt, andererseits aber Parallelen zwischen ihrem Leben und Werk offenlegt, schafft 172 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 473 Ebd., S. 7 und S. 10 f. 474 Ebd., S. 55. 475 Müllers „Wahrheitsmission als Autorin“ (Bozzi, Autofiktionalität, S. 159), aber auch die ihrer Figuren wird in der Forschung häufig mit dem Begriff des ‚Zeugnisses‘ umschrieben (vgl. z. B. Eddy, Testimony and Trauma in Herta Müllers Herztier, S. 56-72). sie einen geteilten Raum der Zugehörigkeit, der die Stimme der Autorin mit der ihrer Erzählerinnen und Protagonistinnen verbindet, sich aber gleichzeitig von ihnen distanziert und somit zugleich verknüpfende und trennende Momente in sich birgt. 4.2.1 Intimes Sprechen Sprachliche Gattungen sind Bachtin zufolge als „relativ stabile Typen von Äußerungen“ zu verstehen, die aus „verschiedenen Bereichen menschlicher Tätigkeit und Kommunikation“ stammen und in Abhängigkeit vom Grad ihrer Normierung oder Standardisierung „unterschiedliche Möglichkeiten zum sprachlichen Ausdruck von Individualität“ 473 bieten. Das Vermessen von Spiel‐ räumen der Individualität und Intimität in einem politischen System, das diese unterdrückt, kann im Anschluss hieran als eines der zentralen Anliegen von Müllers Roman gesehen werden. Es geht Müller weniger um eine Imitation diktatorischer Sprache, sondern vielmehr darum, die vielfältigen Sprachen und Sprechweisen anzudeuten, die das sprachliche Repertoire eines Individuums und einer Gemeinschaft bilden. Offizielle und inoffizielle, gehörige und ungehö‐ rige, diktatorische (monologische) und subversive Formen des Sprechens treten nebeneinander auf und gehen ineinander über. Müllers Roman nimmt verschie‐ dene Sprechgattungen in sich auf, um sie im Sinne eines Auslotens von Möglich‐ keiten durchzuprobieren. Seine Polyphonie ist zugleich Ergebnis und Ausdruck einer Suche nach wahrhaftigen, dem Zugriff der Macht entzogenen Sphären der Rede. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den „vertraulichen und den intimen Gattungen“ 474 , darunter Selbstzeugnisse wie Tagebuchaufzeichnungen und Briefe der Figuren, die sich als integraler Bestandteil in die polyphone Gesamtkomposition des Romans einfügen und in denen die Möglichkeiten eines wahren und wahrhaftigen Sprechens ausgelotet werden. Bereits der erste Satz, der zusammen mit dem Schlusssatz die formale Klammer des Romans bildet, stellt die Möglichkeit eines solchen Sprechens unter einen sprachskeptischen Vorbehalt. Er konfrontiert das Begehren nach einem direkten und unmittelbaren Sprechen mit dem Wissen um die Unzu‐ länglichkeit der Sprache und der daraus resultierenden Unmöglichkeit wahr‐ haftiger 475 Kommunikation: „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, 173 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier Der Anspruch, ‚Zeugnis‘ vom Leben unter diktatorischen Verhältnissen abzulegen, manifestiert sich im Roman Herztier beispielsweise in den Fotografien, die Kurt anfer‐ tigt, um den Diktaturalltag dokumentarisch festzuhalten (vgl. H, 168 f.), aber auch in den Listen mit Namen von Fluchttoten, welche die Protagonisten zusammenstellen und ins Ausland schicken (vgl. H, 173), womit eine weitere Gattung des Schreibens benannt ist, welche die Polyphonie des Romans mitkonstituiert. Keine dieser Gattungen ist inhärent subversiv, was gerade am Beispiel der Liste deutlich wird, die im Roman auch als ein Mittel der Folter und Demütigung fungiert: In einem Verhör wird die Protagonistin dazu gezwungen, sich vor dem Securitate-Hauptmann Pjele nackt auszuziehen, welcher ein in Rubriken gegliedertes Verzeichnis ihrer persönlichen Besitztümer (belongings) erstellt (vgl. H, 144 f.). Zur Funktion dieser und weiterer Listen im Roman Herztier vgl. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 198-200. 476 Zur Problematisierung der (Un-)Möglichkeit wahren Sprechens vgl. etwa auch die folgende Passage: „Das Kind redet weiter. Beim Reden bleibt etwas auf der Zunge liegen. Das Kind denkt sich, es kann nur die Wahrheit sein, die sich auf die Zunge legt, wie ein Kirschkern, der nicht in den Hals fallen will. Solange die Stimme beim Reden ins Ohr steigt, wartet sie auf die Wahrheit. Aber gleich nach dem Schweigen, denkt sich das Kind, ist alles gelogen, weil die Wahrheit in den Hals gefallen ist. Weil der Mund das Wort gegessen nicht gesagt hat.“ (H, 15) - Nubert und Dascălu-Romitan argumentieren, dass das im Eingangssatz des Romans angesprochene Dilemma zwischen Reden und Schweigen auf mehreren Ebenen zu deuten sei und zugleich eine existenzielle und poetologische Dimension enthalte: „Für die Figuren ist es wichtig zu entscheiden, worüber sie z. B. bei Vernehmungen reden oder besser schweigen sollten.“ Die Aussage zu Beginn des Romans berge darüber hinaus aber auch „eine allgemeine kritische Problemstellung“, indem sie ein „Ungenügen an der Sprache“ artikuliere, das sich in der Tradition der sprachskeptischen Moderne (Hugo von Hoffmannsthal) verorten lasse. Nubert / Dascălu-Romitan, Das Bild der Diktatur in Herta Müllers Roman Herztier, S. 224. 477 Meurer, Diktatorisches Erzählen, S. 180. sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich.“ (H, 7) Das artikulierte Dilemma zwischen Schweigen und Sprechen setzt einen resignativen Grundton, der am Ende des Romans (vgl. H, 252) noch einmal wiederholend verstärkt wird. Zugleich wird mit diesem Satz die grundlegende Herausforderung formuliert, der sowohl die Figuren als auch die Autorin selbst ausgesetzt sind und die im Verlauf des Romans immer wieder zum Vorschein tritt. 476 Das Sprechen wird selbst thematisch und dadurch hinterfragt und problematisiert. Durch seine sentenzenhafte Form präsentiert sich der Satz als eine objektive, Allgemeingül‐ tigkeit beanspruchende Wahrheit, als ein ‚absolutes Wort‘ (vgl. hierzu Kap. 2.3.1) und bietet insofern ein Beispiel für ‚diktatorische‘ bzw. - in Bachtins Terminologie - monologische Formen der Rede, wie Meurer sie u. a. für den Roman Herztier herausgearbeitet hat. Zugleich aber wird der diktatorische Spruchgestus durch das parenthetisch eingeschobene „Edgar sagte“ gestört: Indem die Aussage auf ein distinktes, individuelles Sprechersubjekt zurückge‐ führt wird, werde, laut Meurer, die „Subjektivität des Gesagten“ 477 akzentuiert 174 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 478 Es handelt sich zum einen um einen Essay, den Müller im Rahmen der Tübinger Poetik-Vorlesungen vorgetragen hat (vgl. König, 74-105), und zum anderen um einen Beitrag, den sie 2002 in der ihr gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Text + Kritik (S. 6-17) veröffentlicht hat und der eine Art Textcollage aus den 2001 abgehaltenen und 2003 erschienenen Poetik-Vorlesungen „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (König, 7-39) und „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich“ (König, 74-105) aus dem Band Der König verneigt sich und tötet darstellt. 479 Vgl. Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache, S. 266 f: „Zwischen dem Schweigen und dem Reden steht aber das Schreiben. […] Wenn der Anfang des Romans das Unan‐ genehme des Schweigens und das Lächerliche des Redens konstatiert und der Schluss des Romans diesen Satz wiederholt, kann man dies als eine geschlossene Struktur ansehen, in der das Schreiben sich dem Problem stellen muss, das eine und das andere zu überwinden […]. Es kann jedoch auch als Hinweis auf einen Prozess interpretiert werden, der nie zu Ende geht, auf einen immerwährenden Versuch, der immer von Neuem anfängt.“ - Als konkrete Beispiele für den Balance-Akt zwischen Schweigen und Sprechen nennt Müller die Sprechsituation des Verhörs als einem aufgezwungenen Redenmüssen sowie die - selbst in einer intimen Gesprächssituation unter Freunden - empfundene Schwierigkeit, diese Erfahrung vollständig zu verbalisieren, ohne für das Gegenüber „unheimlich“ zu werden: „Wie sollte ich reden, wenn ich der Freundin, die mich nach den Einzelheiten der Verhöre fragt, alles sagen will. […] Dem Reden hat das Schweigen die Waage gehalten. Wo das Schweigen von der Freundin falsch verstanden worden wäre, mußte ich reden, wo das Reden mich in die Nähe der Irren und somit der Absolutheitsanspruch der Aussage relativiert. Mehr noch wird der Inhalt des Gesagten durch den Akt des (mündlichen) Sprechens, der mittels des verbum dicendi „Edgar sagte“ deutlich als solcher hervorgehoben wird, selbst unterminiert. Der Spruch enthält seinen eigenen Widerspruch: Gegen die Einsicht in die Lächerlichkeit allen Sprechens wird offensichtlich dennoch und trotzdem gesprochen und auf die kollektive Erfahrung eines prekären „Wir“ Bezug genommen. Die Erfahrung der Sprachnot, die der Eingangssatz thematisiert, findet ihren Widerhall in den Poetik-Vorlesungen, in denen Müller ihre fundamentale Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Verständigung und Mitteilung durch Sprache und der Repräsentationsfähigkeit der Sprache überhaupt zum Ausdruck bringt. Im wechselseitigen Zusammenspiel zwischen poetologischer Rede und literarischen Äußerungen im engeren Sinne wird das Ringen um und mit Sprache als ein nicht abschließbarer Prozess und mithin als eine Erfahrung ausgewiesen, welche die Figuren mit ihrer Autorin teilen. So wird der den Roman eröffnende und beschließende Rahmensatz auch zum Titel gleich zweier Essays erhoben, 478 in denen Müller das Verhältnis von Schweigen und Sprechen als zentrales Spannungsmoment ihres Lebens und ihrer Literatur reflektiert, die Unzulänglichkeit der Sprache problematisiert und sich auf das Schreiben als etwas Drittes bezieht. 479 Obwohl sie der Überzeugung ist, dass das „Gelebte[…] 175 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier gestellt hätte, mußte ich schweigen. Ich wollte nicht unheimlich oder lächerlich werden für sie.“ (König, 78) 480 Christa Wolf, Kindheitsmuster. In: Dies., Werke in zwölf Bänden. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. Bd. 5. München 2000, S. 261. 481 Herta Müller, Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich. Kann Literatur Zeugnis ablegen? In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 6-17, hier S. 9. 482 Nubert / Dascălu-Romitan, Das Bild der Diktatur in Herta Müllers Roman Herztier, S. 224. 483 Bachtin, Sprechgattungen, S. 11. - Sowohl Müller als auch Rakusa haben eine Vor‐ liebe für Komposita und nutzen dieses Verfahren der Wortbildung für die Schöp‐ fung neuer Ausdrücke, was sie mit anderen mehr-deutsch-sprachigen Autorinnen verbindet. Als Beispiele aus Mehr Meer können Fügungen wie „Gefühlsalphabete“ (MM, 14), „Kopfmeer“ (MM, 62), „Teeterritorium“ (MM, 23), „Jalousienzauber“ (MM, 135), „Provisoriumsgefühl“ (MM, 176) oder „Kniesockenglück“ (MM, 192) genannt werden. Neben der Interpretation dieses Stilmittels als Ausdruck eines „individuellen Sprechbegehrens“ (Bachtin, Sprechgattungen, S. 35) zeigt sich hier auch der Hang beider Autorinnen, Disparates zu kombinieren. Die Tendenz zur Heterogenität und Fragmentarität manifestiert sich sowohl auf der Ebene des Textganzen, in der Formen- und Gattungsvielfalt, als auch auf der Ebene einzelner Wörter. Sie entspringt aber nicht dem „Geiste der Postmoderne“ (Svetlana Arnaudova, Zur Produktivität des Konzepts der Intersektionalität in Texten von Herta Müller, Catalin Dorian Florescu und Saša Stanišić. In: Renata Cornejo / Gesine Lenore Schiewer / Manfred Weinberg (Hrsg.), Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit. Bielefeld 2020, S. 107-120, mit Worten nicht kompatibel“ (König, 86) und eine mimetische Abbildung des Realen demnach nicht möglich ist, bleibt ihr Schreiben dennoch dem autobiographischen Anspruch auf Wahrhaftigkeit verpflichtet, den sie in einer mühevollen Suche nach dem passenden Ausdruck einzulösen versucht. Was Christa Wolf mit dem „Gebot“ aus Kindheitsmuster (1976) - „Es muß geredet werden“ 480 - imperativisch formuliert, wird bei Müller zurückhaltender als Frage und existenzieller Wunsch artikuliert: „Was kann das Reden? Wenn der Großteil am Leben nicht mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab. […] Dennoch. Der Wunsch: ‚Es sagen können‘.“ 481 Dieser Gestus des „Dennoch“ bestimmt den zunächst eher kontraintuitiv anmutenden Zusammenhang, der zwischen Müllers autobiographisch moti‐ viertem Vorhaben und der Polyphonie ihrer Texte besteht: Wie eingangs angedeutet, ist die Vielfalt der Redeweisen zugleich Vollzug und Manifestation eines Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsstrebens, das im Zeichen des Trotzdem nach einem „individuellen und angemessenen Ausdruck für das Einzigartige von Erlebtem“ 482 sucht. Am radikalsten prägt sich dieses Begehren in Müllers eigenwilliger Bildsprache und in ihren Wortneuschöpfungen aus. Neologisti‐ sche Wortkompositionen wie zum Beispiel die titelgebende Metapher „Herztier“ figurieren als „Träger eines Individualstils“ 483 , welcher sich der Konventionalität 176 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen hier S. 116), wie es in der Müller-Forschung vereinzelt angenommen wird. Vielmehr ist sie Zeichen eines Ringens um Wahrhaftigkeit, das darauf abzielt, den Brüchen und Widersprüchen der Zugehörigkeit einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Mithin artikuliert sich in ihr die „Beschädigung“ (König, 185) des Menschen durch die Diktatur. 484 Ulrike Growe, Das Nicht-Sagbare schreiben im „Überdruß der Münze die auf den Lippen wächst“. Über Herta Müllers Der Wächter nimmt seinen Kamm. In: Köhnen (Hrsg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung, S. 95-107, hier S. 105. 485 Bachtin, Sprechgattungen, S. 56. 486 Moyrer, Herztier, S. 46. 487 Ebd. 488 Bachtin, Sprechgattungen, S. 58. des Sprechens, seiner überindividuellen Gattungshaftigkeit, geradezu verwei‐ gert. Sie markieren den Typus eines zwischen poetischer Ausdruckskraft und hermetischem „Überlebenscode“ 484 angesiedelten Sprechens, welches in der Ge‐ fahr steht, den Charakter einer Privatsprache anzunehmen und sich hierdurch sozial zu isolieren. Die „Wörter […], die im eigenen Mund entstehen“ (Falle, 37), markieren den einen Pol auf der Skala der Sprech-Kommunikation; am anderen Pol dieses Kontinuums steht die „Ödnis der Parteisprache“, deren standardisierte „Fertigteile“ (Apfelkern, 76) keinen Raum für den Ausdruck von Individualität bieten. Zwischen den Extremen der klischeehaft verfestigten Formen der Rede auf der einen und der erfinderischen Formen der Rede auf der anderen Seite können die vertraulichen und intimen Sprechgattungen der Alltagskommuni‐ kation verortet werden, die Bachtin zufolge sowohl über schöpferische Aspekte als auch über eine „besondere […] innere Aufrichtigkeit“ 485 verfügen. Durch diese besondere Aufrichtigkeit sind die vertraulichen Sprechgattungen dafür prädestiniert, eine Form der Zugehörigkeit hervorzubringen, die - anders als in den Niederungen - nicht nur auf äußeren Dingen wie dem Teilen von materiellen Ressourcen oder entleerten Ritualen, sondern auf einem Gefühl des heimlichen Einverständnisses beruht. Von hier aus eröffnet sich eine andere Deutungsperspektive auf den ersten und letzten Satz des Buches: Dieser sugge‐ riert nicht nur, „dass es kein räumliches Entrinnen gibt“ 486 , er betont nicht nur den aporetischen Aspekt des Nicht-ausbrechen-Könnens, indem er die Hand‐ lung „wie eine Mauer“ 487 umschließt. Mit seiner ihm eigentümlichen Mischung aus Skepsis und Trotz eröffnet er auch einen sprach- und sprechreflexiven Raum, in dem „verschiedene Formen der primären Sprech-Kommunikation durchgespielt“ 488 und damit zugleich Möglichkeiten und Grenzen der Zugehörig‐ keit vorgeführt werden, die sich im Spannungsfeld von Freundschaft, Vertrauen und Verrat bewegen. Den Auftakt zur Romanhandlung von Herztier bildet der - vermutlich fingierte (vgl. H, 43) - Suizid Lolas, einer Kommilitonin und Zimmermitbe‐ 177 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 489 Dieses und vorhergehendes Zitat: Moyrer, Herztier, S. 41 und S. 45. 490 Anton Sterbling, „Am Anfang war das Gespräch“. Reflexionen und Beiträge zur Aktionsgruppe Banat und andere literatur- und kunstbezogene Arbeiten. Hamburg 2008, S. 98. 491 Zum Wandel, den die Ich-Erzählerin infolge ihrer Lektüre von Lolas Tagebuch vollzieht, vgl. Eddy, Testimony and Trauma in Herta Müller’s Herztier, S. 59 f. 492 Patrut, „Schwarze Schwester“ - „Teufelsjunge“, S. 200. In der Forschung wird Lola gelegentlich auch als „Alter Ego“ der Ich-Erzählerin gesehen. Vgl. etwa Sonia Sa‐ poriti, „Wenn am Leben nichts mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab“. Erin‐ nerungsarbeit und autofiktionales Schreiben im Werk Herta Müllers. In: Michaela wohnerin der Ich-Erzählerin. Als Vermächtnis hinterlässt Lola ein Heft mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, welches die Ich-Erzählerin in ihrem Koffer findet und das später wieder verschwindet. Dem Heft kommt in dreifacher Hinsicht eine zugehörigkeitsstiftende Bedeutung zu: Durch die Suggestion eines authentischen Zu-sich-selbst-Sprechens sorgen die Aufzeichnungen Lolas erstens für den Aufbau einer intimen Kommunikationssituation, die allein schon durch die Gattung des Tagebuchs bedingt ist und in der Ich-Erzählerin ein post‐ humes Gefühl der Übereinstimmung und der freundschaftlichen Verbundenheit auslöst. Aus den Aufzeichnungen erfährt sie die „heimliche[n] Gedanken“ ihrer Zimmermitbewohnerin, der sie „durch das Geschriebene und die unverfälschte Stimme, die sie im Tagebuch findet“ 489 , näherkommt. Sie realisiert: „Vielleicht hätte ich gerade Lola alles sagen können.“ (H, 34) Ein Satz, der vor dem Hintergrund des zitierten Romananfangs ein besonderes Gewicht gewinnt und in einem sozialen Umfeld, das von Angst und Misstrauen - „die eigentlichen Grundaggregatzustände der Diktatur“ 490 - durchdrungen ist, aufhorchen lässt. Zweitens bringen die Aufzeichnungen die Ich-Erzählerin auch sich selbst näher, indem sie sie zu einer kritischen Selbstreflexion anregen und von der opportunistischen Haltung abbringen, die sie bei Lolas posthumen Parteiaus‐ schluss noch eingenommen hatte (vgl. H, 32). 491 Bei der Lektüre von Lolas Tagebuch entdeckt sie Parallelen zu ihrer eigenen Lebensgeschichte und den Gewalterlebnissen ihrer Kindheit, was sie dazu bringt, von sich selbst zu erzählen. Formal wird die Zusammengehörigkeit der beiden Frauenfiguren durch eine wechselseitige Verschränkung ihrer beiden Stimmen umgesetzt. Die Stimme der Ich-Erzählerin und die Stimme Lolas, ‚eigene‘ und ‚fremde‘ Rede greifen ineinander und überlagern sich gegenseitig, wie Iulia-Karin Patrut treffend analysiert: „[D]ie eng verflochtenen poetischen Bilder aus den Auf‐ zeichnungen, an die sich die Ich-Figur erinnert, fließen zusammen mit den Gedanken, die sie selber aus der Ich-Perspektive entfaltet, und teilweise auch mit der metaphorischen Sprache der Erzählinstanz, etwa bei der Schilderung der Kindheitsszenen.“ 492 Die Ich-Erzählerin integriert Bilder und Formulierungen 178 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Bürger-Koftis / Hannes Schweiger / Sandra Vlasta (Hrsg.), Polyphonie. Mehrsprachig‐ keit und literarische Kreativität. Wien 2010, S. 39-58, hier S. 45. 493 Hinter den Figuren Edgar, Georg und Kurt stehen einzelne Mitglieder der sogenannten „Aktionsgruppe Banat“, ein kleiner Kreis junger und politisch engagierter Literaten, der 1972 in Temeswar gegründet und 1975 unter dem Druck der staatlichen Organe aufgelöst wurde. Obwohl Müller nie Mitglied der Aktionsgruppe war, erhielt sie von diesem Kreis „wichtige Impulse“ für ihr literarisches Schaffen und stand ihm auch nach seiner Auflösung nahe. Vgl. Brokoff, Herta Müller (2009), S. 238. 494 Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache, S. 265. In diesem Sinne formuliert auch Moyrer, Herztier, S. 46: „Lolas lakonische Sätze erschaffen die Poesie, welche die Erzählerin und ihre drei Freunde zusammenschweißt.“ 495 Über die Frage, in welchem Umfang Lolas Tagebuch im Prozess der mündlichen Rezitation und neuerlichen Verschriftlichung verändert oder sogar neu erfunden wird, lässt sich allenfalls spekulieren. So äußert etwa Patrut die Vermutung, dass aus Lolas Tagebuch in ihren eigenen Sprachgebrauch und lädt sie mit zusätzli‐ cher Bedeutung auf. Zunächst unscheinbar wirkende Wörter wie „Melonen“, „Schafe“ oder „Maulbeerbäume“ kehren im Text leitmotivisch wieder und werden somit zu Interpretamenten, welche die Wahrnehmung und Deutung der Alltagsrealität lenken. Schließlich und drittens wirken Lolas Aufzeichnungen als eine soziale und gemeinschaftsstiftende Ressource: Durch sie finden die vier Protagonisten des Buches zusammen, 493 durch sie formiert sich das oppositionelle ‚Wir‘, welches im ersten Satz des Romans aufgerufen wird und im weiteren Verlauf des Textes fortwährender Gefährdung durch das Regime ausgesetzt ist. Lolas Tagebuch wird zum „verbindende[n] Glied“ 494 zwischen der Ich-Erzählerin und ihren Freunden Edgar, Georg und Kurt und mithin zu einem heimlich geteilten Gut, das vor dem Zugriff der Macht geschützt werden muss: Ich erzählte von Blattflöhen, Schafen mit roten Füßen, Maulbeerbäumen und der Gegend in Lolas Gesicht. Wenn ich allein an Lola dachte, fiel mir vieles nicht mehr ein. Wenn sie zuhörten, wußte ich es wieder. Ich hatte von ihren starren Augen in meinem Kopf lesen gelernt. Ich fand im Schädelzerspringen jeden verschwundenen Satz aus Lolas Heft. Ich sagte ihn laut. Und Edgar schrieb viele Sätze in sein Heft. Ich sagte: Auch dein Heft wird bald verschwinden, […]. Doch Edgar sagte: Wir haben einen sicheren Platz in der Stadt, ein Sommerhaus in einem wilden Garten. Wir hängen das Heft, sagte Kurt, in einen Leinensack an die Unterseite des Brunnen‐ deckels. Sie lachten und sagten immer: Wir. (H, 43) Das Tagebuch wird in dem Roman nicht nur zitiert, sondern auch rezitiert und transformiert, indem es einen Medienwechsel vollzieht, zunächst aus dem Schriftlichen und Sichtbaren ins Mündliche und Hörbare, um im Anschluss wieder ins Schriftliche umgesetzt zu werden. 495 Es wird somit als etwas gezeigt, 179 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier die Ich-Erzählerin Lolas Heft „nachgedichtet“ haben könnte und es womöglich nicht Lolas Schreiben sei, welches die Erzählerin inszeniert, sondern „ihr eigenes“. Patrut, „Schwarze Schwester“ - „Teufelsjunge“, S. 200. 496 Pfaff-Czarnecka betrachtet ‚Gemeinsamkeit‘ als eine wesentliche Dimension der Zuge‐ hörigkeit und bestimmt sie näher als „Wahrnehmung des Teilens - des gemeinsamen Schicksals, kultureller Formen (Sprache, Religion, Lebensstil), Werte, Wissensvorräte, Erfahrungen und Erinnerungskonstruktionen“. Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 21. 497 H, 55. - Die Bücher aus dem Sommerhaus haben auch insofern eine zugehörigkeitss‐ tiftende Bedeutung, als sie, wie Moyrer betont, „eine Verbindung zwischen der in der Diaspora lebenden Minderheit und den deutsch-österreichischen Kulturzentren“ schaffen. Moyrer, Herztier, S. 43. - Neben den deutschsprachigen Büchern, zu denen Jean Amérys philosophischer Essay Hand an sich legen gehört (vgl. H, 111), und dem (wohl in rumänischer Sprache niedergeschriebenen, aber in deutscher Übersetzung präsentierten) Tagebuch Lolas halten die Protagonisten im Sommerhaus auch das (Anti-)Freundschafsgedicht von Naum versteckt (vgl. H, 86 f.), das als Motto des Romans fungiert (siehe Kap. 4.2.3). Es ist folglich zu bemerken, dass die heimliche ‚Gemeinschaft‘ der Bücher sich nicht über ethnische Kriterien definiert, sondern sich über nationale und kulturelle Grenzen hinweg konstituiert. Die „andere lesbare Wahrnehmung“, die in den Büchern „ein geheimes Dasein“ führt (Friedmar Apel, Kirschkern Wahrheit. Inmitten beschädigter Paradiese. Herta Müllers Herztier. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.1994, L 16), ist demzufolge nicht mono-, sondern transkulturell geprägt. Wie Lolas Tagebuch zählen die Bücher aus dem Westen zu den heimlichen Gattungen des Sprechens, weil sie gegen die Wahrnehmungs-, Denk- und Sprechverbote verstoßen, die Dorf und Diktatur gleichermaßen prägen. Dies bildet eine Parallele zu Rakusas Erinnerungen an ihre Leningrader Studienjahre, in denen die gemeinschaftliche Rezeption verbotener Literatur dem Freundeskreis dazu verhilft, Deutungsperspektiven zu entwickeln, die der offiziellen Lesart der Welt widersprechen: „Was uns ständig vorenthalten wird, finden wir in der Poesie unnachahmlich ausge‐ drückt.“ (MM, 281) das nicht stillsteht, sondern wieder- und weitergebeben wird und dadurch in Bewegung bleibt. Der Erinnerungsprozess stellt sich dabei als ein reziproker Vorgang dar, durch welchen das gegenseitige, sich im Verlauf des Romans zunehmend verstärkende und immer wieder auch explizit thematisch werdende ‚Aufeinanderangewiesensein‘ (vgl. H, 83, 217 f., 228) der Freunde hervorgehoben wird. Das Staunen der Ich-Erzählerin über das - durch den Doppelpunkt orthographisch abgesetzte, syntaktisch isolierte - Pronomen ‚Wir‘ macht auf die Nichtselbstverständlichkeit dieser Form von Verbundenheit aufmerksam, die sich - gemäß der Zugehörigkeitsdefinition von Pfaff-Czarnecka - 496 aus spezifischen Wissensvorräten (die „ins Land geschmuggelt[en]“ 497 Bücher aus dem Sommerhaus, die zusammen mit Lolas Tagebuch eine heimliche Gemein‐ schaft hinter dem Rücken des Staates bilden), aus einer gemeinsamen Sprache (die „Muttersprache, in der sich der Wind legte“ 498 ), aus geteilten Gefühlen (Misstrauen und Angst, die zugleich trennend und verbindend wirken), aus einer 180 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 498 H, 50. - Dieser Ausdruck nimmt die Ausführungen über die sinnliche Dynamik der Mehrsprachigkeit in „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ vorweg: „Im Dialekt des Dorfes sagte man: Der Wind GEHT. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach, sagte man: Der Wind WEHT. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich weh tun. Und im Rumänischen sagte man: Der Wind SCHLÄGT, vintul bate. Das Geräusch der Bewegung hörte man gleich, wenn man schlägt sagte, und da tat der Wind nicht sich, sondern anderen weh. So unterschiedlich wie das Wehen ist auch das Aufhören des Windes. Auf Deutsch heißt es: Der Wind hat sich GELEGT - das ist flach und waagerecht. Auf rumänisch heißt es aber: Der Wind ist STEHENGEBLIEBEN, vintul a stat. Das ist steil und senkrecht. Das Beispiel vom Wind ist nur eines von den ständigen Verschiebungen, die zwischen Sprachen bei ein und derselben Tatsache passieren. Fast jeder Satz ist ein anderer Blick. Das Rumänische sah die Welt so anders an, wie seine Worte anders waren. Auch anders eingefädelt ins Netz der Grammatik.“ (König, 24 f.). 499 Arendt vertritt einen relationalen Begriff des ‚Politischen‘. Sie begreift den Totalita‐ rismus als antipolitisches Phänomen, weil er den gemeinsamen Raum zwischen den Menschen, in dem laut Arendt das Politische entsteht, vernichtet. Vgl. Anna Hollen‐ dung, Politische Prekarität. Eine Bestimmung des Prekären im politischen Ereignis. Baden-Baden 2020, S. 117-162. 500 Vgl. Grit Straßenberger, Hannah Arendt. Zur Einführung. Hamburg 2015, S. 26-30 (= Kap. „Krisenstruktur der Moderne“). 501 Ebd., S. 19. ähnlichen Sozialisation und übereinstimmenden Einstellungen (Abgrenzung ge‐ genüber dem banatschwäbischen Herkunftsmilieu und kritisch-oppositionelle Haltung gegenüber dem staatlichen Regime) sowie aus einem gemeinsamen Anliegen (über die Opfer der Diktatur Zeugnis abzulegen) speist. Die Nichtselbstverständlichkeit freundschaftlicher Zu- und Zusammengehö‐ rigkeit verweist auf eine spezifische Grunderfahrung im System totalitärer Staaten, wie Hannah Arendt sie in ihrer - zuerst 1951 in New York erschienen, in deutscher Übersetzung 1955 publizierten - Studie zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft analysiert: auf das fabrizierte, intentional herge‐ stellte Gefühl der Verlassenheit und Isolation, welches die Beziehung zwischen den Menschen und somit das Politische selbst zerstört. 499 Arendt erörtert dieses existenzielle Gefühl im Kontext ihrer Überlegungen zur „Krisenstruktur“ der modernen Massengesellschaft, die ihrer Ansicht nach eine der historischen Voraussetzungen für die Entstehung des Totalitarismus als einer neuen Staats- und Herrschaftsform bildet. 500 Das Gefühl der Verlassenheit (engl. ‚loneliness‘) sei zwar keine genuine Erfindung totalitärer Herrschaftsapparate, sondern ein Problem der modernen Massen. Doch hätte erst der Totalitarismus, den Arendt als „die politische Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts“ 501 begreift und dessen Wesenszüge sie anhand des Vergleichs zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus beschreibt, 502 es verstanden, dieses Gefühl aktiv zu produzieren 181 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 502 Arendts Totalitarismus-Studie wurde ihrerzeit kontrovers rezipiert und insbesondere für die Parallelen, die sie zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus als zwei histo‐ rischen Ausprägungsformen totalitärer Herrschaft zieht, vonseiten Linksintellektueller kritisiert. Vgl. Straßenberger, Hannah Arendt, S. 19 f. 503 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism [1951]. New York 1973, S. 475 [Herv. M. A.]. - Vgl. zudem den Aufsatz von Haines, der diese Stelle ebenfalls zitiert: Brigid Haines, Humanity in Dark Times: Hannah Arendt and Herta Müller. In: German Life and Letters 73 (2020), H. 1: Herta Müller and the Currents of European History, S. 143-160, hier S. 152. Zu Arendt siehe überdies mein Schlussresümee zu diesem Kapitel. 504 Arendt, The Origins of Totalitarianism, S. 478. 505 Vgl. hierzu Anja Topolski, die in der Verlassenheitsthese den originellsten - „most original“ - Aspekt von Arendts Totalitarismus-Studie erblickt: „She acutely appreciates how the loss of the political is equally a loss of a sense of belonging, of being part of a community and at home in the world.“ Anja Topolski, Arendt, Levinas and a Politics of Relationality. London / New York 2015, S. XVII. 506 Zu Arendts Bild des Tisches und ihren Begriff von ‚Welt‘ vgl. Rahel Jaeggi, Welt/ Weltentfremdung. In: Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller (Hrsg.), Arendt-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2011, S. 333-335. - Zur Gleichzeitigkeit von Gemeinsamkeit und Trennung bei Tisch siehe auch meine „Nie‐ derungen“-Analyse in Kapitel 2.3.2 („Die unausgesprochene Tatsache des Zusammen‐ gehörens“) und 2.3.3 („Glückliche Objekte, dissidente Subjekte“). und politisch für sich zu nutzen: „But totalitarian domination as a form of government is new in that it […] bases itself on loneliness, on the experience of not belonging to the world at all, which is among the most radical and desperate experiences of man.“ 503 Arendts Thesen zur Zerstörung des Politischen und zum organisierten Gefühl der Verlassenheit - „organized loneliness“ 504 - des Menschen geben Aufschluss über die Produktion von Nicht-Zugehörigkeit in totalitären Herrschaftsverhältnissen. 505 Genau hier setzt auch Müller an, indem sie zeigt, wie die Verfolgung durch den Staat ein kollektives Gefühl der Angst erzeugt, das, weil es nicht (mit-)teilbar ist, vereinzelnd und isolierend wirkt. Dabei ist bemerkenswert, dass sich Müller einer Metapher bedient, die sich auch bei Arendt findet. Gemeint ist die Metapher des Tisches, die in Arendts Konzept einer gemeinsam geteilten ‚Welt‘ als sinnbildliche Konkretion jenes kommunikativen, zugleich trennenden und verbindenden Zwischenraums figuriert, der durch totalitären Terror vernichtet wird: 506 „Weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen. Wir saßen zusammen am Tisch, aber die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten, wenn wir uns trafen.“ (H, 83) Zum Gefühl der innerlichen Isolation, das die am Tisch zusammensitzenden und in ihrer Angst doch voneinander getrennten Dis-sidenten (aus dem Lateinischen, wörtlich: ‚auseinander sitzen‘) empfinden, fügt sich ihre räumliche Trennung: Dass die vier Protagonisten nach ihrem Studienabschluss von staatlicher Stelle an periphere Orte delegiert und über das 182 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 507 Vgl. Moyrer, Herztier, S. 41; vgl. erläuternd auch Müller: „In Rumänien war es eine allgemeine Pflicht, dass man drei Jahre nach dem Studium irgendwo in dem Beruf arbeitete, auf den hin man studiert hatte. Wo das war, entschied der Staat. Das war die beste Gelegenheit, uns so weit auseinander zu bringen, dass wir uns nur noch sehr selten sehen konnten.“ Eke / Hamann, „Das Schöne ist das Durchsichtige“, S. 11 f. 508 Neben den Briefen der Freundesgruppe gibt es auch noch die ausführlichen Briefe der schwäbischen Mütter mit ihren Nachrichten von Zuhause, auf die ich in Kapitel 2.4.2 eingegangen bin. 509 Die Bedeutung von Zensur und politischer Kontrolle spielt auch in Mehr Meer - zumin‐ dest punktuell - eine Rolle. In einem Kapitel („LXI. Konzerte mit Alexej“) berichtet die Erzählerin von der langjährigen Korrespondenz, die sie nach ihrem Weggang aus Leningrad mit einem der Freunde, die sie dort kennengelernt hatte, führte. Wie bei Müller wird dieser Briefwechsel mit einem, wenn nicht dem Grundgefühl des Lebens in totalitären Systemen in Zusammenhang gebracht: „Er [Alexej bzw. der Briefpartner der Ich-Erzählerin, Anm. M. A.] schrieb mir jeden Monat mehrseitige, handgeschriebene Briefe, die deutliche Spuren der Zensur zeigten […]. Ich war seine einzige Bekannte in Westeuropa. Daß er mir schreiben konnte, bedeutete nicht nur einen Ausweg aus privater Einsamkeit, sondern auch aus der Isolation der totalitaristischen Heimat […].“ (MM, 275) Für Alexej sind die Briefe zugleich Artikulationsmedium und Bewälti‐ gungsmittel von Einsamkeit bzw. ‚Verlassenheit‘. Im Unterschied zu Herztier, wo das ‚Aufeinanderangewiesensein‘ der Freunde als gegenseitig empfunden wird, wird die ganze Land verstreut werden - Georg ist Lehrer in einer von allem Verkehr abgeschnittenen Stadt „in den Wäldern“ (H, 97), Edgar, ebenfalls Lehrer, „war weit weggezogen in eine dreckige Industriestadt“ (H, 93), Kurt ist Ingenieur in einem Schlachthaus „am Rande eines Dorfes“ (H, 100) und die Ich-Erzählerin bleibt als Übersetzerin für eine Maschinenfabrik in der (namentlich nicht explizit genannten) Stadt Temeswar - stellt eine gezielte Maßnahme zur Zersetzung ihrer Zusammengehörigkeit dar. 507 Auch an den Briefen, welche die Freunde un‐ tereinander wechseln, um sich dieser Vereinzelungsmaßnahme zu widersetzen, zeigt sich das Hineinreichen des Staates in die intimsten Sphären des sozialen Lebens, sein Versuch, das Gefühl des „not belonging to the world at all“ (Arendt) aktiv zu schüren und hierdurch die Grundlagen politischer Handlungsfähigkeit zu zerstören. Wie das Tagebuch gehören die Briefe, welche die Freunde infolge ihrer räumlichen Trennung untereinander wechseln, zu den primären Sprechgat‐ tungen, die als Gebrauchsformen schriftlicher Alltagskommunikation in das polyphone Gefüge des Romans einfließen. 508 Für sie erfinden die Figuren eine Geheimsprache, um die Wahrheit zwischen den Zeilen zu verstecken: „Ein Satz mit Nagelschere für Verhör, sagte Kurt, für Durchsuchung einen Satz mit Schuhe, für Beschattung einen mit erkältet. Hinter die Anrede immer ein Ausrufezeichen, bei Todesdrohung nur ein Komma.“ (H, 90). Der von der Zensur 509 überwachte und kontrollierte Briefverkehr verdeutlicht die grenzver‐ 183 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier Beziehung zwischen der - mittlerweile wieder „in Westeuropa“ lebenden - Ich-Erzäh‐ lerin und ihrem Briefpartner aber als „unausgeglichen“ (MM, 275) beschrieben. 510 Das Zerbrechen von Einheit hat Müller auch in einem ihrer Essays als einen Effekt von Angst und Verfolgung beschrieben: „So bleibt das Fahrrad nicht lange Fahrrad, das Haarbleichen kann kein Haarbleichen bleiben, das Parfum kein Parfum, die Türklinke keine Türklinke, der Kühlschrank kein Kühlschrank. Die Einheit der Dinge mit sich selbst hatte ein Verfallsdatum. Alles rundum schien sich nicht mehr sicher zu sein, ob es das, oder dies oder etwas ganz anderes war. Über kurz und lang gab es nur noch nichtige Dinge mit wichtigen Schatten.“ (König, 134) letzenden Praktiken der Diktatur, die auch und gerade in jene Sphären der Rede vordringen, die dem Bereich des (ehemals) Privaten, Intimen zufallen und eine offene Kommunikation unmöglich machen. Darüber hinaus zeigt die Verwendung einer Geheimsprache, wie bestehende Wörter mit neuen Bedeutungen und Konnotationen besetzt und dadurch nicht nur vieldeutig und in sich mehrstimmig, sondern mitunter auch unbenutzbar werden. Die heimlich vereinbarten Bedeutungen haften so fest an den Wörtern und an den Gegenständen, die sie bezeichnen, dass sie sich vor allen anderen Bedeutungen aufdrängen und den Figuren, um eine Formulierung Müllers zu entlehnen, ‚in den Blick hineinwachsen‘ (vgl. König, 27), ihre Wirklichkeitswahrnehmung prägen und ihre Angst potenzieren: „Wenn ich an Schuhläden vorbeiging, dachte ich an Hausdurchsuchung.“ (H, 100) Die subversive Kommunikationsstrategie erweist sich als zwiespältig, da sie einerseits Möglichkeiten eines heimlichen Austauschs bietet, andererseits aber die Sicht auf die Realität verstellt, das Gewohnte und Vertraute unheimlich werden lässt und die Figuren in eine reflexiv gebrochene, ex-zentrische Position zu sich selbst und zur Sprache drängt: So stellt die Ich-Erzählerin fest, dass sie „aus den Gesten [ihrer] Hände draußen war. Und aus vielen Wörtern. Es waren nicht nur jene, die Edgar, Kurt, Georg und ich für diese Briefe vereinbart hatten.“ (H, 117) Beinahe neidisch blickt sie auf jene, die ein intaktes Verhältnis zur Sprache haben und für die Wort und Ding noch eine unzertrennliche Ganzheit 510 bilden: „Tereza sprach arglos. Sie redete viel und dachte wenig. Schuhe, sagte sie, und es waren nur Schuhe. Wenn der Wind die Tür zuschlug, fluchte sie genauso lange, wie wenn jemand auf der Flucht gestorben war.“ (H, 117) Mit der Figur der fluchenden Tereza ist eine weitere Gattung sprachlicher Kommunikation aufgerufen, die - wie die Gattung des Tagebuchs und die Gattung der Briefe - ihren Ort in der konkreten Lebenswelt bzw. in den alltäglichen Vollzügen der Kommunikation hat und als nicht-offizielle Form der Rede die Möglichkeit eines authentischen Sprechens bietet. Anders als die Gattungen, mit denen ich mich in diesem Kapitel beschäftigt habe, sind die Gattungen, um die es in den nächsten beiden Unterkapiteln geht, aber nicht 184 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 511 „Die geschriebene Sprache sollte immer eine mündliche sein“, wie Müller in einem Interview sagt. Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“, S. 130. 512 Zu den in den Roman integrierten Gattungen der Hochsprache zählen die verbotenen Bücher aus dem Sommerhaus, die zwar auf Deutsch geschrieben sind, deren Sprache sich aber von der „Kindbettsprache aus den Dörfern“ (H, 55), vom gesprochenen Dialekt, unterscheidet. primär schriftlich, sondern mündlich konstituiert bzw. - was die in den Text montierten Liedzitate betrifft - ursprünglich oral tradiert: In ihnen manifestiert sich die Mündlichkeitsaffinität, 511 die Müllers Schreiben prägt und die sich in der Verwendung von Ausdrücken aus dem banatschwäbischen Dialekt, aber auch in der Integration von Liedtexten und ungehöriger Formen des Sprechens niederschlägt, welche sich von den hochsprachlichen Gattungen - der Sprache der Bücher - 512 dahingehend unterscheiden, dass sie den lebendigen Akt der Rede akzentuieren. Den Besonderheiten der Gattungen des ungehörigen Sprechens will ich im folgenden Kapitel nachgehen und damit den Versuch fortsetzen, Zugehörigkeit sprech- und gattungsbezogen zu denken. In Auseinandersetzung mit Müllers Romanen Der Fuchs war damals schon der Jäger und Herztier sowie ihren poetologischen Thematisierungen dieser Form des Sprechens werde ich einer‐ seits das subversive und zugehörigkeitsstiftende Potenzial der ungehörigen Redeformen herausarbeiten, andererseits ihre Vulnerabilität aufzeigen. Die heimlichen Sphären der Rede und die Formen der Zugehörigkeit, die sie ausprägen, geben Einsicht in die Fragilität sozialer Beziehungen in einem poli‐ tischen System, in dem keine Form des Sprechens gegen den Zu- und Übergriff der totalitären Macht gefeit zu sein scheint. Diese Einsicht zu vermitteln, ist eine der wesentlichen Stärken von Müllers gattungsübergreifendem, polyphonem Schreiben. 4.2.2 Ungehörige Formen des Sprechens Müllers Figuren bedienen sich häufig ungehöriger Formen des Sprechens, die meist in einer intimen Atmosphäre auftreten und über ein schöpferisches Potenzial verfügen. Da wäre zum Beispiel Clara, eine der beiden weiblichen Hauptfiguren des Romans Der Fuchs war damals schon der Jäger, den Müller mit einer vertraulich anmutenden Szene eröffnet: Die Freundinnen Adina und Clara sonnen sich - „ebenso vertieft in einige Näharbeiten wie auch in ihre eigene Unterhaltung“ - auf dem Dach eines Wohnblocks. Die „Idylle“ wird jedoch überschattet durch das bedrohlich konnotierte Motiv der alles überragenden, wie „Messer“ (Fuchs, 9) schneidenden Pappeln, die als „Sinnbild für das umfas‐ 185 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 513 Dieses und vorhergehende Zitate: Martina Hoffmann / Kerstin Schulz, „Im Hauch der Angst“. Naturmotivik in Herta Müllers Der Fuchs war damals schon der Jäger. In: Köhnen (Hrsg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung, S. 79-94, hier S. 82. 514 „Deine Mutter auf dem Eis“ geht auf die rumänische Wendung „Moaşă-ta pe gheață“ zurück (vgl. Bozzi, Der Fremde Blick, S. 122 f.). Während es sich hierbei um eine eher harmlose Beleidigung handelt, werden an anderen Stellen weitaus vulgärere Ausdrücke benutzt, die meist dem Bereich des Sexuellen entstammen (vgl. Fuchs, 23, 34, 111, 212). Die Aussage „Wenn Clara flucht, hat alles eine Mutter“ lässt sich als Verweis darauf verstehen, dass dem Lexem ‚Mutter‘ bei der Bildung rumänischer Fluchwörter und -phrasen, linguistisch gesprochen, eine besondere Produktivität zukommt. Das zeigen auch die folgenden Stellen: Fuchs, 23, 62, 64. 515 Im Körperlichwerden der Sprache liegt ein zentraler Gedanke, den Müller auch in ihren poetologischen Texten entwickelt. So etwa auch in der Dankrede zur Verleihung des sende Ausgeliefertsein des Individuums an das System“ 513 einen Hinweis auf die Ambivalenz und Verletzlichkeit des vermeintlichen Schutzraumes enthalten. Schon hier erscheint das Fluchen als eine in besonderem Maße affektgeladene, latent mehrsprachige Form des Sprachgebrauchs: „Clara näht sich eine Som‐ merbluse. Die Nadel taucht, der Zwirn macht Schritte, deine Mutter auf dem Eis, sagt Clara, sie leckt das Blut vom Finger. Ein Fluch mit Eis, mit der Mutter der Nadel, des Fadens, des Zwirns. Wenn Clara flucht, hat alles eine Mutter.“ 514 (Fuchs, 8) Stellen wie diese dienen dazu, die kreative Derbheit der rumänischen Sprache vorzuführen, ihre Vielfalt von Schimpfwörtern, die unbegrenzt variiert und multipliziert werden können. An ihnen zeigt sich nicht nur Müllers Versuch einer Annäherung an die viel beschworene Sinnlichkeit und Lebendigkeit, die sie dem Rumänischen zuschreibt; fast scheint es so, als gehöre das Schimpfen für Müller zu einem der wenigen expressiven Bereiche, die von der Ideologisierung der Sprache nicht korrumpiert und in denen Authentizität und Unmittelbarkeit noch möglich seien. Das erste Romankapitel von Der Fuchs war damals schon der Jäger thematisiert das Fluchen als ein physisches Ereignis und bestimmt es somit als eine Form der Rede, in welcher die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Körper eine besondere Virulenz erhält. Zum einen wird das Fluchen als ein Erregungszustand charakterisiert, der im Körper des fluchenden Subjekts phy‐ siologische Veränderungen bewirkt: „Sie [die Flüche, Anm. M. A.] senken das Klopfen der Schläfen in die Handgelenke und heben den dumpfen Halsschlag ins Ohr.“ (Fuchs, 9) Zum anderen wird es als ein Akt beschrieben, welcher die Sprache selbst körperlich werden lässt: „Clara hat, wenn sie flucht, immer Falten im Gesicht, denn im Fluch ist jedes Wort eine Kugel und kann die Dinge mit den Worten auf den Lippen treffen.“ (Fuchs, 8) Die Beschreibung des Fluchwortes als eine „Kugel“ deutet darauf hin, dass Sprache eine physische Qualität annehmen, 515 sich gleichsam materialisieren und somit eine dingliche 186 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Berliner Literaturpreises („Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel“, Mai 2005), in der sie die Bildung neologistischer Wortkompositionen als einen Akt der Verwandlung von Sprache in etwas Physisches beschreibt. Vgl. Schnee, 96-109, bes. 102. 516 Dieses und vorhergehende Zitate: Petra Gehring, Über die Körperkraft von Sprache. In: Steffen K. Herrmann / Sybille Krämer / Hannes Kuch (Hrsg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld 2007, S. 211-228, hier S. 221 f. 517 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur [1965]. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1995, S. 187-237. „Wucht“ entfalten kann, die andere Körper treffsicher verletzen kann. Im Anschluss an Petra Gehring könnte man die Dynamik, die hier geschildert wird, als „Körperkraft von Sprache“ bezeichnen. Mit diesem Ausdruck will die Phänomenologin auf etwas Grundsätzliches aufmerksam machen, nämlich auf den „wesentlich physischen Charakter der Sprache“ 516 , welcher in bestimmten Formen der Rede - wie etwa der sogenannten „hate speech“ - besonders deutlich zutage tritt. Einen solchen Extrem- oder Sonderfall der Rede markieren auch die latent mehrsprachigen Fluch- und Schimpftiraden in Müllers Romanen. Ein kleines Ärgernis kann genügen, um eine ganze Kaskade von Flüchen auszulösen und die physische Wirkmacht von Sprache vorzuführen. Dass Müller ihre Figuren häufig schimpfen, fluchen und in verbale Obszöni‐ täten verfallen lässt, ist keine leere Provokation, sondern steht in engem Konnex mit ihren sprachtheoretischen Reflexionen, die sich für die Körperlichkeit des Sprechens interessieren, für Ausdrucks- und Redeweisen, die Direktheit und Unmittelbarkeit suggerieren und insoweit jenseits der Reichweite repräsenta‐ tionalistischer Sprachtheorien liegen. Obwohl die Flüche und Schimpftiraden eine markante Auffälligkeit im Werk der Autorin bilden, hat sich die Müller-For‐ schung bislang kaum mit diesen Formen des Sprechens beschäftigt, die in mehrerlei Hinsicht Interesse verdienen: unter dem Aspekt der Mehrsprachig‐ keit, der Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der Durchbrechung sprachlicher Normen und Tabus, der Sprachkomik, der Materialität und Kör‐ perlichkeit sprachlicher Vollzüge sowie der Dynamiken von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Im Anschluss an Bachtin, welcher sich im Rahmen seiner während der Stalin-Ära verfassten, aber erst 1965 publizierten Rabelais-Studie ausgiebig mit der Fluchpoetik des französischen Renaissance-Dichters beschäftigt hat, lassen sich die Flüche und Schimpfreden als eine eigenständige Sprechgattung begreifen, 517 die an der Polyphonie von Müllers Romanen partizipiert und Formen mündlicher Volkssprache in die Literatur integriert. Obwohl Bachtin seine Analyse auf die Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance bezieht, 187 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 518 Vgl. Renate Lachmann, Vorwort. In: Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 7-46, hier S. 9 und S. 12 f.; zu dieser - in der Forschung nicht unumstrittenen Lesart - vgl. auch schon Alexander Kaempfe, Nachwort. In: Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969, S. 133-148; vgl. zudem Katerina Clark / Michael Holquist, Mikhail Bakhtin. Cambridge / London 1984, S. 307: „Rabelais presents, inter alia, a critique of contemporary Soviet ideology. It offers a counterideo‐ logy to the values and practices that dominated public life in the 1930s.“ 519 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 520. verfolgt sein Rabelais-Buch nicht nur ein literaturhistorisches Erkenntnisin‐ teresse, sondern ist als unterschwellige Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart und mithin als kritischer Gegenentwurf zum Stalinismus zu lesen. 518 Bachtin selbst hat im letzten Satz seines Buches klargestellt, dass er sein Konzept der Volkskultur als Gegenkultur , so der Untertitel des Rabelais-Buches, auch als Schlüssel zur Interpretation „anderer Zeiten“ 519 und Herrschaftssysteme verstanden wissen will, was es für die Untersuchung der inoffiziellen, an die Grenzen des Sagbaren rührenden Nischen des Sprechens in Müllers Dik‐ tatur-Romanen besonders anschlussfähig macht. Dass Müller die rumänische Sprache nie als einheitliches Ganzes adressiert, sondern zwischen der „gesprochene[n] Sprache, die den Leuten gehörte“, und der „betonierten grauen Staatssprache“ (Apfelkern, 86) differenziert, signalisiert, dass sie die Existenz solcher Nischen prinzipiell für möglich hält. Die Vorstellung von Freiräumen des Sprechens, die das gemeinsame Besitztum (belonging) der „lebendige[n] Bevölkerung“ (HS, 81) bilden und sich der gänzlichen Vereinnah‐ mung durch totalitäre (monologisierende) Kräfte verwehren, ist in Anbetracht der profunden Sprachskepsis, die Müllers Werk durchdringt, durchaus bemer‐ kenswert. Sie operiert mit einer vitalistisch grundierten Opposition zwischen sprachlicher ‚Offizialität‘ und ‚Inoffizialität‘ und ist durch ein Lebendigkeits‐ ideal gekennzeichnet, das sich am Wort als konkreter und sozialer Erscheinung orientiert. Gefühle der Nicht-/ Zugehörigkeit entstehen in Abhängigkeit von dem, „was gesprochen wird“ (König, 30); sie richten sich, um noch einmal diesen grundlegenden Aspekt von Müllers Sprachverständnis in Erinnerung zu rufen (vgl. Kap. 2.2), nicht auf die Sprache als abstrakte Entität, sondern auf die Sprache als Sprechen, als Rede. Nur auf Grundlage einer solchen Sprachauffassung kann sich ein differenziertes Zugehörigkeitsverhältnis herausbilden: Der Aufspaltung der Sprache in verschiedene, entlang der Trennlinie von ‚Staat‘ und ‚Bevölke‐ rung‘ geschiedene Sphären der Rede korrespondiert die höchst zwiespältige Beziehung, die Müller gegenüber dem Rumänischen hat. Als nicht-offiziellen Elementen der Rede kommt den Schimpfworten, Flüchen und Obszönitäten eine temporär befreiende Wirkung zu. Müller erkennt in 188 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 520 Pavlov Shopin, Metaphorical Conceptualization of Destructive and Destructible Lang‐ uage in the Work of Herta Müller. In: Monatshefte 110/ 1 (2018), S. 72-92, hier S. 84. 521 Watson, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, S. 154. 522 Shopin, Metaphorical Conceptualization of Destructive and Destructible Language in the Work of Herta Müller, S. 84. 523 Zu diesem Kritikpunkt vgl. Sasse, Michail Bachtin, S. 171 f. - Als Teil der Volks‐ kultur erzeugen die Flüche, Schimpftiraden und verächtlichen Redensarten Bachtin zufolge einen - so die wiederkehrenden Attribute - „zwanglos[en]“, „nicht zensur‐ konforme[n]“, „offen[en]“, „inoffizielle[n]“ und „angstfreie[n]“ Raum der Rede (vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 229-237). Sie können subversive Sichtweisen auf die soziale Realität entwerfen und stehen damit dem angstbesetzten, monologischen, auf Vereinheitlichung drängenden Diskurs jedweder Autorität entgegen. dieser Art von Äußerungen eine, wie Pavlov Shopin es ausdrückt, ideologisch unberührte „domain of freedom“: It is fundamental to keep in mind the context of the use of swearing by Müller’s personages. Swearing is used mostly by common people who are not versed in ideological language. Swearing becomes one of the domains of freedom, and while it is potentially destructive, its directness and authenticity appeal to the writer, and she identifies the vestiges of freedom in the totalitarian society with the potentially destructive but liberating obscene vocabulary. 520 Wenn Müller in ihren poetologischen Essays und Gesprächen ihre affektive Beziehung zur rumänischen Sprache zum Ausdruck bringt, dann bezieht sie sich dabei stets auf die gesprochene Sprache mit ihren „waghalsigen Bildern“ (König, 32), sprichwörtlichen Redensarten und „langen dramatischen Flüche[n]“ (Apfelkern, 85), die für sie außerhalb der offiziellen Redenormen stehen. Es sind diese ex-zentrischen Bereiche der Rede, denen sie sich nahe fühlt, wie auch Jenny Watson konstatiert: „Romanian as spoken by the people was a means to step outside the reality created by the communist state, and it is this Romanian to which Müller expresses her attachment.“ 521 Bei aller offenkundigen Sympathie Müllers für jene Elemente und Sphären der Rede, welche die betonierte Staatssprache in Bewegung bringen, indem sie den offiziellen Diskurs mit alternativen Perspektiven auf das politische Leben konfrontieren, sollten diese „domains of freedom“ 522 jedoch nicht idea‐ lisiert werden. Nicht nur gibt Müller - im Unterschied zu Bachtin, der die Lachkultur des Volkes als unschuldig porträtiert oder sich jedenfalls nicht für ihre destruktiven Seiten interessiert - 523 zu bedenken, dass gerade in diesen Bereichen des Sprechens häufig ausgrenzende, rassistische und sonstige men‐ schenverachtende Denk- und Einstellungsmuster zutage treten (vgl. König, 33). Auch ihr Romanwerk wirkt dem simplifizierenden Dualismus von ‚offiziellen‘ 189 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 524 Über diesen Zusammenhang hinaus hat Karin Bauer herausgestellt, dass der „Verrat der Freundschaft unter dem Zwang der Securitate und die Manipulation durch männliche Agenten“ in Müllers Romanwerk ein autobiographisch fundiertes, wiederkehrendes Motiv darstellt, das sexuelle Macht- und Missbrauchsstrukturen offenlegt. Vgl. Karin Bauer, Körper und Geschlecht. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 205-213, hier S. 210. 525 Zum Naivitätsvorwurf vgl. etwa Dembski, die Bachtins homogenisierende „Vorstellung des Volkes als einer monolithisch geschlossenen, subversiven Kraft“ bemängelt und die verschiedenen Einwände, die gegen Bachtins Karnevalskonzept (am prominentesten von Boris Groys) vorgebracht worden sind, resümierend wiedergibt. Tanja Dembski, Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Lukács, Bachtin und Rilke. Würzburg 2000, S. 418-420, Zitat: S. 418; zum Begriff des ‚Volkes‘ bei Bachtin vgl. auch Lachmann, die in Bachtins Konzept eine implizite Stellungnahme „gegen den pervertierten Begriff des Volkes in der Stalinära“ erblickt. Lachmann, Vorwort, S. 9. - Lachmanns Ausführungen lassen zudem deutlich werden, dass Bachtin als Vordenker eines Konzepts von ‚Sprache‘ gelten kann, in dem das Körperliche eine pro‐ grammatische Aufwertung erfährt und der Dualismus von Materialität und Bedeutung aufgehoben wird. Bachtins „somatische Semiotik“ richte sich gegen eine „Abspaltung und ‚inoffiziellen‘, sich den herrschenden Machtverhältnissen entziehenden und gegen sie opponierenden Bezirken des Sprechens entgegen, indem er insbesondere jene Figuren mit ambivalenten Zügen ausstattet und als politisch verführbar darstellt, die am ausgiebigsten fluchen: Clara in Der Fuchs war damals schon der Jäger geht eine Beziehung mit dem Offizier Pavel ein und verrät ihre Freundschaft mit Adina. Auch Tereza, die im Roman Herztier durch ihr spezifisches Sprechverhalten bzw. durch ihr derbes Vokabular charakterisiert wird (vgl. H, 107, 117, 153), geht eine Zusammenarbeit mit der Securitate ein und hintergeht ihre Freundin, die Ich-Erzählerin. 524 Die Trennung zwischen den verschiedenen Sphären des Sprechens erweist sich als labiles Konstrukt und kann entsprechend zusammenbrechen. Darauf deutet auch ein Satz aus dem schon zitierten Romananfang von Der Fuchs war damals schon der Jäger hin, in dem die Erzählinstanz generelle Überlegungen über das Fluchen anstellt: „Wenn Flüche gebrochen sind, hat es sie nie gegeben.“ (Fuchs, 9) In Fortführung meiner Deutung des Romanbeginns als eine Reflexion über die verkörperlichende Kraft von Sprache verrät diese Stelle mehr über die spezifische materielle Beschaffenheit des zur „Kugel“ (Fuchs, 8) und damit zum Ding gewordenen (Fluch-)Wortes. Die Aussage, dass Flüche „gebrochen“ werden können, qualifiziert sie als fragile Objekte, die nicht nur den Wert einer Waffe annehmen und als solche zielsicher „treffen“ (Fuchs, 8) und verletzen können, sondern selbst verletzbar sind. Anders als es Müllers poetologische Aus‐ sagen und auch Bachtins utopistische, mitunter als naiv kritisierte Perspektive auf ‚die‘ Volkskultur als subversive, die Sprache der Mächtigen unterlaufende und sich ihrem Einfluss entziehende Gegenkultur nahelegen, 525 wird hiermit 190 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen des Wortes vom Körper“ und verbiete eine „Trennung von Materie und Zeichenwert“ (ebd., S. 25). Diese unauflösliche Verbindung von Sprache und Materie zeigt sich zumal in jenen Elementen der Rede, die sich in den ‚Niederungen‘ des Sprechens bewegen und insoweit einen „inoffiziellen Aspekt der Welt“ (Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 236) repräsentieren, als sie sich eines Fundus sexueller, skatologischer und obszöner Lexik bedienen und hierdurch die verdrängte Körperlichkeit des menschlichen Daseins zelebrieren. Bachtins Ausführungen zur Materialität des Wortes, die so weit gehen, dass sie bestimmten Formen der Rede eine „verkörperlichende und materialisierende Kraft“ (ebd., S. 237) attestieren, können Anregungen zu einer „Sprachleib- oder Redekörper‐ theorie“ (Gehring, Über die Körperkraft von Sprache, S. 221) bieten, wie sie infolge der langjährigen Dominanz als körpervergessen kritisierter, diskursanalytischer und konstruktivistischer Ansätze vermehrt gefordert wird. suggeriert, dass selbst die (vermeintlich) freien Bereiche des Sprechens der totalitären Macht ausgeliefert und unterlegen sind. Das Moment ihrer Unverein‐ nahmbarkeit wird folglich durch zwei Aspekte relativiert: Zum einen durch die Art ihrer Beschaffenheit, ihrer unzureichenden materiellen Widerständigkeit; zum anderen durch die resignative Einsicht in die umfassende, sich auf sämtliche Bereiche des sozialen Lebens erstreckende Allmacht des Staates, wie sie sich literarisch im wiederkehrenden Motiv der wie „Messer“ (Fuchs, 9) schneidenden Pappeln artikuliert. Einen regelrechten Wettkampf in der Kunst des Fluchens liefern sich die vier Freunde in Herztier: „Du schwäbisches Arschkappelmuster, du schwäbisches Mond‐ skalb, du schwäbisches Kampelsackel. Wir brauchten Wut aus langen Wörtern, die uns trennten. Wir erfanden sie wie Flüche als Abstand gegeneinander.“ (H, 83) Die Kränkungen, welche sich die Figuren gegenseitig zufügen, markieren einen Kipppunkt zwischen Nähe und Distanz. In der Deutung der Erzählerin werden sie in den Zusammenhang einer paradoxal anmutenden Dynamik gestellt, die für den ganzen Roman konstitutiv und mit starken Emotionen besetzt ist. Die verbalen Verletzungen charakterisieren die Freundschaft der vier Protagonisten als eine Form der Zusammengehörigkeit, in welcher „Liebe“ und „Hass“ (H, 84) so eng beieinander liegen, dass sie stets ineinander umschlagen können und folglich nur scheinbare Gegensätze bilden. Die „Wut aus langen Wörtern“ (H, 83) gründet auf dem „lange[n] Vertrauen“ (H, 84), das die Figuren miteinander verbindet; sie bricht sich Bahn, wo dieses Vertrauen unerträglich und die Zusammengehörigkeit als eine Relation der Abhängigkeit spürbar wird: „Wir konnten uns oft nicht ertragen, weil wir aufeinander angewiesen waren. Wir mußten uns kränken.“ (H, 83) Die basalen Bewegungen von Trennung und Verbindung machen sich damit nicht nur in Bezug auf den dörflichen Zugehörigkeitskontext geltend, von welchem sich die Figuren, wie ich in Kapitel 2.4.2 aufgezeigt habe, loslösen wollen, sondern bestimmen auch ihre Beziehung zueinander. 191 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 526 Über ihre Beziehung zu den Schimpfwörtern aus dem Dorfdialekt hat sich Müller in einem Essay wie folgt geäußert: „Den Dialekt habe ich im Dorf gelassen, in der Stadt nie mehr benutzt. Aber in die Stadt mitgenommen habe ich die Schimpfwörter und ein paar Sätze aus dem Aberglauben. Nicht bewusst mitgenommen, sie blieben an mir hängen. In der Stadt hätte ich den Dialekt am liebsten vergessen. Aber die Schimpfwörter gefielen mir, aus der Umgebung gerissen, noch besser als davor im Dorf.“ Herta Müller, Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen. In: Akzente 3 (2015), S. 17-19, hier S. 18. 527 In ihrer Habilitationsschrift zur Kunst des Aufzählens hat Sabine Mainberger den Schimpfwörtern ein eigenes Unterkapitel gewidmet und ihre Tendenz, gehäuft aufzu‐ treten, sich zu steigern und zu vermehren als einen wesentlichen Grundzug dieser Form von Rede herausgestellt. Vgl. Kapitel „VII. Diktionen des Rituellen und Passionellen“. In: Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin / New York 2003, bes. S. 325-333. Als Distanzierungsmechanismus unterliegen die verbalen Verletzungen einem doppelten Zweck: Wie aus den Romanzitaten hervorgeht, dienen sie einerseits dazu, Trennung zwischen den Freunden zu stiften, also eine nach innen gerichtete Distanzierung zu bewirken. Andererseits ist auffällig, dass die Figuren auf dem Attribut „schwäbisch“ insistieren und sich Schimpfwörtern aus dem Dialekt bedienen, die eine Distanzierung nach außen (gegenüber dem rumänischsprachigen Umfeld) signalisieren und zugleich auf den dörflichen Herkunftskontext rekurrieren. 526 Das Wort „schwäbisch“ kann seine beleidi‐ gende Wirkung nur auf Grundlage des Nicht-identifiziert-werden-Wollens der Figuren mit ihrer Herkunft entfalten. Die verletzende Sprechhandlung wird so als eine ambivalente Performanz von Nicht-/ Zugehörigkeit, genauer: als ein Akt der Distanzierung deutbar, in dem sich geteilte Einstellungen artikulieren, die das Zusammengehörigkeitsgefühl der Freunde bestätigen und erneuern. In formaler Hinsicht ist der Hang zur Aufzählung bemerkenswert, der das Schimpfen und Fluchen in Müllers Texten kennzeichnet und auf eine besondere Eigenschaft dieser Form der Rede aufmerksam macht: nämlich auf ihre raum‐ greifende Dynamik, ihr expansives Moment. 527 Obwohl sich die „Wut aus langen Wörtern“ (H, 83) durchaus auch im Dorfdialekt ausdrücken kann, sieht Müller dieses Moment nicht in allen Sprachen gleichermaßen ausgeprägt: Im Rumänischen heißt der Gaumen MUNDHIMMEL, cerul gurii. Im Rumänischen klingt das nicht pathetisch. Auf Rumänisch kann man mit immer neuen, unerwarteten Wendungen in langen Verwünschungen fluchen. Das Deutsche ist in dieser Hinsicht regelrecht zugeknöpft. Oft habe ich mir gedacht, wo der Gaumen ein MUNDHIMMEL ist, gibt es viel Platz, Flüche werden unberechenbare, poetisch böse Tiraden der Verbit‐ terung. Ein gelungener rumänischer Fluch ist eine halbe Revolution am Gaumen, sagte ich damals zu rumänischen Freunden. Darum mucken die Leute in dieser Diktatur nicht auf, das Fluchen erledigt ihren Zorn. (König, 31 f.) 192 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Müller entwickelt in diesem Zitat den spielerischen Gedanken, dass der rumä‐ nische Ausdruck für Gaumen ein Vorstellungsbild evoziere, das der Zunge im Vergleich zum - hier nicht weiter differenzierten - „Deutsche[n]“ einen schier unendlichen Raum für sprachliche Innovation und affektive Artikulation biete. Ist das Schimpfen in Müllers Texten als eine gewisse Form der Rebellion, als kathartisches Ventil, als eine Überlebensstrategie oder eher als Ausdruck einer fatalistischen Haltung zu begreifen, die jeden Widerstand erstickt? Müller ordnet das Fluchen der inoffiziellen, positiv-lebendig konnotierten, nicht zen‐ surkonformen Rede der Bevölkerung zu und beschreibt es als eine befreiende Praxis, die im Gegensatz zur kodifizierten, als starr und unsinnlich qualifizierten Sprache der Machthaber und ihrer Vertreter steht: „Im Wörterbuch der rumä‐ nischen Sprache kommen diese Wörter und Redewendungen nicht vor. In den offiziellen Medien, für die Zensur gehörten diese Wörter und Redewendungen in die Schublade der Pornographie. Sie waren verboten. Im Alltag waren diese Wörter und Redewendungen für die Menschen […] die einzige Leichtigkeit. Ich glaube, sie halfen den Menschen zu überleben.“ (HS, 81) Obwohl die Flüche tabubrechend gegen die „Prüderie der Diktatur“ (HS, 80) aufbegehren, ist ihr politisches Einfluss- und Wirkungspotenzial als begrenzt zu betrachten. Müller versteht das Fluchen als eine Art kanalisierte Emotionsabfuhr; ihr gilt das Fluchen als ein ephemerer, sich im Augenblick der Äußerung realisierender, aber unmittelbar danach wieder verflüchtigender Akt verbaler Eskalation, in dessen Vollzug starke Emotionen wie Wut oder Zorn ausagiert werden und so ihre (potenziell) transformierende Kraft verlieren. Auch das folgende Zitat enthält diesen Gedanken und weist das subversive Element der Flüche somit in Schranken: „Und manchmal dachte ich auch, dass diese Sprache, weil sie so lebendig war, alle Wut auffing. Dass das Aufbegehren, weil es so lange, böse Flüche gab, in den Sätzen steckenblieb.“ (HS, 81) Die mehrsprachig grundierte, im poetologischen Text näher explizierte Me‐ tapher des ‚Mundhimmels‘ findet sich im Roman Herztier wieder, im Kontext einer Verhörszene, die aus der Sicht der Ich-Erzählerin geschildert wird und ihre Wahrnehmungen, Assoziationen und Reflexionen wiedergibt: Der Hauptmann Pjele sagte: Du lebst von Privatstunden, Volksverhetzung und vom Herumhuren. Alles gegen das Gesetz. Der Hauptmann Pjele saß an seinem großen, polierten Schreibtisch und ich an der anderen Wand, an einem kleinen, nackten Sündentisch. Ich sah zwei weiße Knöchel. Und auf dem Kopf eine Glatze so feucht und gewölbt wie mein Gaumen im Mund. Ich hob die Zungenspitze. Zur Mundhöhle sagte man in seiner Sprache Mundhimmel. (H, 196) 193 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 528 Vgl. Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“, S. 130. Vgl. auch Apfelkern, 85. 529 Vgl. hierzu auch die Beobachtungen von Bauer, Körper und Geschlecht, S. 209: „Zwar sind auch männliche Dissidenten den Drangsalierungen der Securitate unterworfen - s. zum Beispiel Georg, Kurt, und Edgar in Herztier -, allerdings zeigen die sich wiederho‐ lenden Anschuldigungen bezüglich Prostitution und die Beschimpfungen als ‚Hure‘, dass Repressalien geschlechtsspezifisch ausgewählt und angewandt wurden. Frauen sind Opfer sexueller Anzüglichkeiten, Beleidigungen und Belästigungen und ihre Körper dienen den Machthabenden dazu, ihre politischen Ziele zu fördern.“ Der assoziativ ausgelöste Gedanke an den rumänischen „Mundhimmel“ als dem Ort, an dem Sprache entsteht, aber auch „geschmeckt“ 528 und somit sinnlich erlebt wird, verweist darauf, dass Sprache nicht nur Zeichen von etwas ist, sondern einen physischen Vollzug darstellt. Darüber hinaus öffnet der Mund‐ himmel einen Möglichkeitsraum der Widerrede, die gegen die Anschuldigungen des Verhörers Einspruch erhebt. Da in der konkreten, durch asymmetrische Machtverhältnisse gekennzeichneten Situation der Rede die Sprache und das Sprechen nicht der Verhörten, sondern ganz dem Verhörenden zu gehören scheinen - sie werden als „sein“ Eigentum bezeichnet -, bleibt der sprachliche Protest, für den der „Mundhimmel“ als Chiffre steht, jedoch unartikuliert. Es ist eine stumme Rebellion, die sich hier vollzieht und zwischen dem resignativen Gefühl des schutzlosen Ausgeliefertseins und dem Wunsch nach verbaler Auflehnung changiert. Das zentrale Dilemma zwischen Reden und Schweigen, das der Roman im rahmenbildenden Anfangs- und Schlusssatz adressiert, wird damit noch einmal aktualisiert. Bemerkenswert ist die Engführung, die durch die semantische Aufladung des räumlichen Inventars hergestellt wird und die Problematik des unter diktatorischen Bedingungen Sagbaren mit dem religiös-moralisch konnotierten Thema der ‚Sau‐ berkeit‘ (vgl. Kap. 2.1) zusammenbringt: Der „kleine, nackte Sündentisch“ steht in einem offensichtlichen Kontrast zum „großen, polierten Schreibtisch“ des Haupt‐ manns und zugleich im Gegensatz zur evozierten Weite des Wortes „Mundhimmel“. Die langen Fluchtiraden, die sich in diesem Raum (potenziell) entfalten, werden im ‚offiziellen‘ Setting der Rede machtvoll unterdrückt und das Materiell-Leibliche, das sie betonen, als etwas Ungehöriges ausgewiesen. Nicht nur kann diese Passage als Verweis auf die repressive Sexualmoral des Ceauşescu-Regimes verstanden werden, wie der Vorwurf des „Herumhuren[s]“ zusätzlich deutlich macht. 529 Sie kritisiert auch die symbolischen Wertzuweisungen und Grenzziehungen, die über den weiblichen Körper vollzogen werden und dazu beitragen, eine ‚scheinheilige‘ Ordnung der Welt aufrechtzuerhalten. 194 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 530 Vgl. in Mehr Meer besonders jene Kapitel, die sich den „musikalische[n] Freundschaft[en]“ (MM, 272) der Ich-Erzählerin widmen und an ihnen die beziehungsstiftende, affektiv verbindende Kraft des gemeinsamen Musizierens, Singens oder Musik-Hörens illustrieren: MM, 168-174 (= Kap. „XXXVIII. Keine Kalbereien mehr, mehr Musik“), 271-276 (= Kap. „LXI. Konzerte mit Alexej“), 280. 531 Ogrodnik, Musik im Werk Herta Müllers, S. 146. 532 Der Titel des Vortrags, der in der Sammlung Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel erschienen ist, lautet: „Welt, Welt, Schwester Welt“. Wer mich singen hört, glaubt, ich hab nichts im Kopf - Maria Tănase und ihre Lieder (Schnee, 231-243). 4.2.3 Jenseits des Sprechens Im Ringen um Wahrhaftigkeit begibt sich Müller auf die Suche nach Formen des Sprechens, die das Unsagbare sagbar machen. Diese Suche führt in Bereiche, die jenseits des nur Sprachlichen liegen. Müllers Schreiben bewegt sich im Span‐ nungsfeld vieler Sprachen, deren Differenzen und Übergänge es immer wieder reflektiert und literarisch gestaltet, wobei Sprache nicht nur als Zeichen fungiert, sondern sich materialisiert und einen geradezu dinglichen Charakter annimmt. Im vorangegangenen Unterkapitel habe ich das volkstümliche Fluchen analysiert und es als eine Sprechgattung charakterisiert, die sich außerhalb der offiziellen Sprache, der Sprache der Machthaber und ihrer Vertreter, situiert. Mit der Musik, die auch bei Rakusa eine zentrale Rolle spielt, 530 soll in diesem Kapitel eine Ausdrucksform verhandelt werden, die verschiedene Dimensionen des Zugehörigkeitsbegriffs zum ‚Klingen‘ bringt und Müller als poetologisches Vorbild dient. Indem Müller den Versuch unternimmt, sich im Medium der Sprache einer sprachjenseitigen Unmittelbarkeit anzunähern, entwirft sie eine Poetik, die nicht nur die Grenzen zwischen verschiedenen Sprachen, Sprech- und Kunstgattungen, sondern auch die Grenze von Sprache überhaupt überschreitet. Während Rakusa, die ihr literarisches Schaffen durch ihre musikalische So‐ zialisation beeinflusst sieht und sich lange nicht entscheiden konnte, ob sie eine Karriere als Pianistin oder Schriftstellerin anstreben sollte, sich hauptsächlich auf ein klassisches Repertoire bezieht und die Musik von Bach bis Bartók als einen ihrer wichtigsten Zugehörigkeitsanker nennt (siehe Kap. 3.2.3), benutzt Müller für ihre Literatur vornehmlich Zitate aus der Populär- und Alltagskultur: „In Hinblick auf das Zusammenwirken von Musik und Literatur in Müllers Texten ist festzustellen, dass auf inhaltlicher Ebene fast ausschließlich Musik integriert ist, die den Genres Volkslied, Folklore oder Schlager angehört und dass Müller die Ebene der sogenannten ernsten Musik - der Klassik - beinahe unberührt lässt.“ 531 In den Liedern von Maria Tănase (1913-1963), denen Müller sogar einen eigenen Vortrag 532 gewidmet hat und die für sie exemplarisch die ‚echte‘ Volksmusik repräsentieren, vernimmt sie „Äußerungen jenseits des 195 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier Sprechens, unmittelbar, wie es Worte gar nicht sein können“ (Schnee, 237). In Wendungen wie diesen deutet sich eine Denkfigur an, wie sie sich in verschie‐ denen Spielarten durch die Geschichte des Nachdenkens über Sprache zieht. Ihre Grundidee besteht darin, dass Sprache ein nicht-, außer- oder vorsprachliches, mithin affektives Potenzial bietet; dass sie nicht ‚bloß‘ repräsentiert und be‐ zeichnet, sondern qua ihrer Materialität eine Eigenwirklichkeit verkörpert, die nicht auf die Bedeutung der Worte reduzierbar ist. Dieses ‚andere‘ der Sprache, das in der Sprache selbst, vor allem in ihrer klanglich-materiellen Dimension, anwesend und ihr eigen ist, sieht Müller besonders in den volksnahen Sprech- und Kunstgattungen ausgeprägt. Sowohl der rumänischen Alltagssprache - und dort speziell der Sprechgattung der Flüche, Schimpfworte und obszönen Ausdrücke - als auch der rumänischen Volksmusik attestiert sie affektive Qualitäten, die jenseits des semantischen Gehalts der Worte liegen und die Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation aufscheinen lassen. Es sind dieselben Merkmale, die beide Gattungen miteinander gemeinsam haben und eine doppelte Abgrenzung möglich machen: Genauso wie das Fluchen sei die „poetische authentische Volksmusik“ (Apfelkern, 87) sinnlich, direkt und unmittelbar. Sie bewege sich sowohl im Gegensatz zur „deutsche[n] Volksmusik auf dem Dorf “ (Apfelkern, 87) als auch zu den „verlogenen“ Liedern der staatlich verordneten Folklore („Schlager mit Parteilied und Arbeiterchöre“, Apfelkern, 88), die sich der Musik als propagandistischem Machtinstrument und Gleichschaltungsmittel bediene. Dass sie in den Staatsmedien verboten war und deshalb nur „heimlich gehört“ (Apfelkern, 89) werden konnte, deutet auf ihr widerspenstiges Potenzial. Die „wirkliche Folklore“ imponiert Müller durch ihre Einfachheit und Schlichtheit; sie ist „subversiv durch ihre Authentizität“ (Apfelkern, 87 f.); „Theorie und ideologische Brocken [haben] hier keinen Platz“ (Schnee, 239). Aufgrund dieser Eigenschaften kann sie als ein privat konnotierter, deswegen aber nicht unpolitischer Raum der Zugehörigkeit, als ein „tragbares Versteck“ (Apfelkern, 89) und mobiles Zuhause fungieren, das dem Einzelnen Halt und Schutz gewährt und gegen den Individualitätsentzug der Zugehörigkeitsregime von Dorf und Diktatur aufbegehrt. Müllers Reflexionen über verschiedene Formen der Volksmusik eröffnen eine Perspektive, die das besondere affektive Potenzial der Musik mit Erfahrungen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zusammenbringt. Die affektive und mithin zugehörigkeitsstiftende Wirkung der Musik ist dabei hochgradig ambivalent besetzt: Musik bewahrt wie nichts sonst Gefühle auf. Überall auf der Welt, zu allen Zeiten, hängen Emigranten ein Leben lang der Musik und dem Essen von zu Hause nach. Denn beides, Singen und Kochen, geht übers Gemüt, nicht übern [sic! ] Verstand. Das 196 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 533 Brokoff, Herta Müller (2009), S. 233. 534 Vgl. Herta Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2001. Blieskastel 2001, S. 28 [Herv. M. A.]: „Die verordnete Sprache begegnete mir schon im Kindesalter täglich in der Schule. Einerseits als Wiederholung von Lobgesängen und Feiertagsriten für Partei und Vaterland, als mitten in die Kindheit gelegte Einübung ins bedingungslose Gehorchen und als Verhinderung des eigenen Denkens und aller individueller Eigenschaften. Andererseits begegnete mir die verordnete Sprache als von zu Hause mitgegebene Mahnung, in der Schule vor anderen über alles zu schweigen, was zu Hause in der Familie gesprochen wurde.“ wissen auch Diktatoren. Musik wurde immer von ihnen genutzt, um den einzelnen in Besitz zu nehmen. Wir Deutsche kennen die vom Nationalsozialismus hinterlassene Ödnis. Lieder, die man bis heute nicht mehr singen kann, weil sie kontaminiert sind. (Schnee, 32 f.) Müller betont das Vermögen von Musik, affektive Bindungen zu erschaffen und auf Dauer zu stabilisieren; Bindungen, die nicht immer frei wählbar sind und deren zugehörigkeitsstiftender Kraft sich der Einzelne trotz eindeutiger „Haltungen“ (Schnee, 35) manchmal nur schwer entziehen kann. Müller versteht Musik als eine kulturelle Praxis, die in Politiken der Zugehörigkeit verwickelt ist und deren affektives Machtpotenzial ideologisch nutzbar gemacht werden kann. Die Regime von Dorf und Diktatur erweisen sich in diesem Punkt als beinahe austauschbar: Seien es die „Dorffeste, bei denen Volkstrachten getragen, Blasmusik gespielt und […] im Suff alte Nazi-Lieder gesungen wurden“ 533 , oder das staatlich verordnete Singen in der Schule - 534 die Form von Gemeinschaft‐ lichkeit, die durch Musik entsteht, ist in diesen Kontexten immer „kontaminiert“ und durch einen Begriff von ‚Zugehörigkeit‘ bestimmt, in dem sich der Zusam‐ menhang von Hören, Hörigkeit und Gehorchen unüberhörbar manifestiert. Obwohl für Müller feststeht, dass der historische Ballast, den die Lieder der „deutschen Folklore“ mit sich bringen, eine „Anbindung“ (Apfelkern, 88) unmöglich macht, lässt ein Gefühl der „irrationale[n] Sehnsucht“ (Schnee, 36) das dörfliche Musizieren zu einem ambivalenten Bezugspunkt der Nicht-/ Zu‐ gehörigkeit werden. Das unangenehme Verlangen nach der ihr eigentlich so verhassten Blasmusik, das Müller in ihrer 2010 gehaltenen Dankrede zur Verlei‐ hung des Hoffmann-von-Fallersleben-Preises beschreibt, lässt die (ungewollte) Verbindung zum dörflichen Zugehörigkeitskontext deutlich werden: Später ging ich in Temeswar aufs Gymnasium. Die ersten anderthalb Jahre in der Stadt war ich ein hilfloses fünfzehnjähriges Dorfgewächs. Heimweh trieb mich an den Bahnhof. Wenn ich an den Wochenenden nach Hause kam und im Dorf die Blasmusik hörte, die ich so hasste, schwelte im klaren Überdruss ein Verlangen, das mich beschämte. Eine verkorkste Rückkehr wider besseres Wissen und gegen den 197 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 535 Zum Begriff der ‚Heimsuchung‘ siehe auch Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit. Verstand. Und sobald ich das Dorf montags in aller Früh wieder Richtung Stadt verließ, in den Zug einstieg, stieg das Verlangen nach Blechmusik aus mir aus und gruselte mich. (Schnee, 35) Das „Verlangen nach Blechmusik“ zeigt, dass Gefühle der Zugehörigkeit für Müller nicht etwas per se Wünschenswertes sind, sondern in weiten Teilen etwas, das sich dem Subjekt - ohne sein Zutun und ohne seinen Willen - aufdrängt, ihm zustößt, widerfährt, von dem es ‚heimgesucht‘ wird. 535 Zugehö‐ rigkeit ist nicht nur etwas, das im Sinne eines ‚doing belonging‘ aktiv hergestellt und vollzogen wird, sondern stellt sich hier als eine Erfahrung dar, der das „hilflose“ Ich passiv ausgesetzt ist und der es sich nicht ohne Weiteres entziehen kann. Die iterative („montags“) Schilderung dieser Erfahrung unterstreicht die Hartnäckigkeit des missliebigen Verlangens und verweist auf die zeitliche Dimension der ‚Zugehörigkeit‘, ein Begriff, der im Allgemeinen eine längerfris‐ tige Bindung beschreibt. Die temporale Dimension der Zugehörigkeit verleiht Beziehungen eine Dauerhaftigkeit, die über den Raum zu dominieren scheint. Die zitierte Passage legt die Annahme nahe, dass auch Bindungen, die man hinter sich gelassen zu haben glaubt, einen immer wieder einholen können. Die Lostrennung vom Herkunftsort bewirkt keine Befreiung von der (dörflichen) Zugehörigkeit, sondern schürt das Verlangen nach Vertrautem. Auch bei Rakusa findet sich dieser Gedanke (vgl. Kap. 3.2): Erst das Verlassen eines Ortes macht ihn gesteigert wahrnehmbar und lässt ihn zu einem Ort sehnsuchtsvoller Erinnerung werden. Bei beiden Autorinnen ist diese Erinnerung durch sinnliche Einprägungen bestimmt, zu denen Musik, Klang und Geräusch zählen. Ob es „das Geräusch ans Ufer schwappenden Wassers“ (MM, 204) ist oder der Klang der dörflichen „Blechmusik“ - beide Autorinnen unterstreichen die Bedeutung auditiver Wahrnehmung für Gefühle der Zugehörigkeit. Nicht nur heften sich Zugehörigkeitsgefühle an Gehörtes; sie gewinnen auch selbst eine anhaftende Qualität, die ungeachtet räumlicher Trennungen auf Kontinuität besteht: Das unheimliche „Verlangen nach Blechmusik“ bezeugt die Persistenz der Zugehö‐ rigkeit. Sie führt zu der Einsicht, dass man einen Zugehörigkeitsraum nicht loswerden kann, indem man ihn verlässt. Verallgemeinernd stellt Müller fest: „Beschädigungen, das muss man sich eingestehen, sind und bleiben Bindungen - notwendig, ungestüm und gnadenlos.“ (Schnee, 36; vgl. auch Apfelkern, 219) Müllers poetologische Ausführungen zum Thema Musik und die Gegensätze, die sie hierbei konstruiert, machen dreierlei sichtbar: Erstens, dass es für sie durchaus Bereiche des sozialen Lebens gibt, die den Zugriffsmöglichkeiten totalitärer Regime nicht restlos ergeben sind. Zweitens, dass das Nebeneinander von Dorfmusik, 198 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 536 Auch Rakusa bedient dieses weitläufige Verständnis von Musik, wobei sie sich - im Unterschied zu Müller - nicht auf die Vokalmusik, sondern auf die wortlose Instrumentalmusik bezieht: „Durch das nichtverbale Medium der Musik ließen sich Gefühle manchmal direkter und vielfältiger ausdrücken, auch Leidenschaft durfte sein, wiewohl nuanciert.“ (MA, 74) 537 Dieses und vorhergehendes Zitat: Winfried Eckel, Lyrik und Musik. In: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. 2., erweiterte Auflage. Stutt‐ gart / Weimar 2016, S. 203-214, hier S. 204 und S. 205. staatlich verordneter Folklore und „authentischer“ (Apfelkern, 87) rumänischer Volksmusik eine Gemengelage konstituiert, die Anlass zur Reflexion über die zugehörigkeitsstiftende Bedeutung musikalischer Praktiken gibt und sich von einer einseitig positiv aufgeladenen Konzeptualisierung von ‚belonging‘ distanziert, indem sie Musik als ein Gefühlsmedium charakterisiert, das unerwünschte Sehn‐ süchte produziert und konserviert. Drittens, dass sie gängige Annahmen über das Verhältnis zwischen Sprache und Musik nicht einfach nur reproduziert, sondern diese Annahmen aus ihrem eigenen Erfahrungskontext heraus interpretiert und ihnen dadurch eine politische Wendung gibt. Zu den Allgemeinplätzen, die im Diskurs über das Verhältnis von Sprache und Musik immer wieder aufgerufen werden und bei Müller eine Fortschreibung finden, gehört neben der Rede von der Musik als einer - die Sprache der Begriffe übersteigenden - „Sprache der Gefühle“, 536 auch der Topos von der Lyrik als Musik. Auffällig an Müllers Beschäftigung mit der ‚authentischen‘ rumänischen Volksmusik ist, dass sie sich weniger für die Vertonung und gesangliche Interpretation, als vielmehr für die „Texte dieser Lieder“ (Schnee, 237) interessiert, die sie als Lyrik identifiziert (vgl. Schnee, 240) und deren inhärente Musikalität sie fasziniert. Im Lied als derjenigen Gattung, die „bis weit ins 20. Jahrhundert hinein […] als Inbegriff des Lyrischen“ galt, scheint die ‚musikalische‘, klanglich-affektive Ebene der Sprache am deutlichsten hervorzu‐ treten: „Denn das Lied besitzt nicht erst dadurch melodischen Gang, Modulation, Ton etc., dass Musik zu ihm hinzutritt, sondern bereits als literarischer Text.“ 537 Ein Nachhall dieser Vorstellung schwingt bei Müller fort, wenn sie die besondere Musikalität der Liedtexte hervorhebt und ihre klangliche Dimension als einen Ort konzeptualisiert, der „jenseits des Sprechens“ liegt und an dem eine „unmit‐ telbar[e]“, „direkte [ ]“ (Schnee, 237 f.) Artikulation des Affektiven möglich wird. Die Erzeugung sprachlicher Unmittelbarkeit erhebt Müller schließlich auch zum Zielpunkt ihrer eigenen Sprachästhetik, der das Rumänische als Fundus und Vorbild dient. Es ist auffällig, dass Müller für die Beschreibung der rumänischen Folklore just jene Begriffe gebraucht, die sie für die Charakterisierung ihrer eigenen - oftmals mehrsprachig fundierten - Sprachbilder verwendet. Wie Müller ausführt, lässt sie die Sprache selbst affektiv werden, indem sie ihre 199 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 538 Apel, Schreiben, Trennen, S. 25. 539 Ebd., S. 31. 540 Van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 151. Klangqualitäten gezielt ausgestaltet und für intensive Gefühlserlebnisse und Empfindungen, ja für ganze „Geschichten“ ein „direktes Wort“ (er-)findet, dessen Material sich verwandelt und „nicht mehr von einer natürlichen, körper‐ lich starken Empfindung“ (Schnee, 102) zu unterscheiden ist. Beispiele dafür sind Wörter wie „Schneeverrat“, „Silberlöffel“ oder „Augenhunger“ (Schnee, 101- 103) - Sprachbilder und neologistische Wortkompositionen, die das Erlebte nicht abbilden oder repräsentieren, sondern eine eigene Wirklichkeit kreieren. In ihnen liegt ein widerständiges Potenzial: gegen die genormte, stereotype, durch Wiederholung formelhaft erstarrte Sprache der Diktatur, ihre sinnent‐ leerten und jeglicher Sinnlichkeit beraubten „Floskeln und Fertigteile“ (HS, 82) sowie gegen konventionalisierte Formen und Ausdrucksweisen überhaupt, die in ihrer überindividuellen Allgemeinheit das individuelle Gefühl, die Intensität des Erlebten nicht zu fassen vermögen. Das Lob der Unmittelbarkeit, das Müller der ‚authentischen‘ rumänischen Folklore und aller „wahrhafte[n] Lyrik“ (Schnee, 37) entgegenbringt, darf nicht missverstanden werden als Rückfall in eine vorkritische Naivität oder gar als Re‐ habilitation einer romantisch-regressiven Sehnsuchtsutopie. Eine solche Utopie, die das Musikalische der (lyrischen) Sprache als Residuum einer verlorenen Ur‐ sprache entwirft, ist bei Müller, wenn überhaupt, nur noch „in desillusionierter Form anwesend“ 538 . Zurecht hat die Forschung schon früh darauf hingewiesen, dass „Widerstand gegen die Enteignung der Sinnlichkeit […] das ästhetische und ebensowohl politische Grundmotiv von Herta Müllers Poetik“ 539 bildet. Dieser Widerstand findet in den Volksliedern, die einen Grenzbereich des Sprechens und der Sprache markieren, eine Ausdrucksmöglichkeit; in ihnen scheint sagbar, was unter den Bedingungen der Diktatur unsagbar geworden ist. Neben der schon zitierten Monographie von Ogrodnik hat sich Tanja van Hoorn in einem Aufsatz mit den verschiedenen Funktionen der Musikbezüge bei Müller beschäftigt und die Lieder und Gedichte in Herztier als „einen poeti‐ schen Sonderraum“ beschrieben, „den viele betreten, benützen, auch verwüsten, der aber seine besondere Kraft aufgrund der Mehrdeutigkeit der Texte dabei dennoch nicht verliert“ 540 . Mit einer etwas anderen Akzentuierung könnte man diesen Raum auch als einen Fluchtraum der Zugehörigkeit beschreiben, welcher die Aufgabe erfüllt, kommunikative Beziehungen „jenseits des Sprechens“ (Schnee, 237) zu gestalten. Beziehungen, die sich einerseits durch ihr widerstän‐ diges Potenzial auszeichnen, sich andererseits aber als verletzlich erweisen und somit auf die Prekarität der Zugehörigkeit verweisen. Diese Ambivalenz, die 200 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen ich im Folgenden genauer darlegen werde, bestärkt noch einmal die These, die ich im vorangegangenen Unterkapitel entwickelt habe: Müllers Fokussierung auf die Gebrauchsebene (das heißt auf pragmatische Aspekte) von Sprache stellt die strikte Grenzziehung zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen, der staatlichen Macht entzogenen Sphäre der Rede infrage, lässt sie brüchig werden. Im Roman kommt eine verwendungsorientierte Sichtweise auf jene ‚volksnahen‘ Rede- und Kunstgattungen zum Tragen, durch die deutlich wird, dass die ihnen (in den poetologischen Texten) zugeschriebenen Eigenschaften nichts Statisches und Immer-Gültiges sind. Weil sich die individuelle und politische (Miss-)Brauchbarkeit der im Roman zitierten Lieder und Gedichte erst im Prozess ihrer Benutzung durch verschiedene Akteure und in spezifischen Situationen des durch Verhöre und andere Schikanen geprägten Alltagslebens zeigt, können sie nicht als etwas per se und inhärent Widerständiges angesehen werden. Dass Müller in ihre Texte vorranging musikalische Idiome aus der Umgangs- oder Gebrauchsmusik einfließen lässt, kann demgemäß nicht nur als Ausdruck einer anti-elitären Einstellung interpretiert werden, welche die ästhetisch wertenden Hierarchien zwischen high und low, anspruchsvoller Hoch- und trivialer Alltagskultur problematisiert, indem sie das vermeintlich ‚Niedere‘ in den Stand „wahrhafte[r]“ (Schnee, 37) Kunst erhebt; vielmehr manifestiert sich auch hier wieder der grundlegende Praxisbezug von Müllers Sprach- und Kunstverständnis, das nicht die Sprache an sich, sondern das unlösbar in einen sozialen Kontext eingebundene Sprechen, nicht das einzelne Lied, sondern das, was damit gemacht wird, in den Mittelpunkt stellt. Das Spektrum der in den Roman zahlreich eingespeisten und an verschie‐ dene Figuren gekoppelten Musikreferenzen reicht von den Arbeiterliedern, die im staatlich kontrollierten Wohnheim aus den Lautsprechern dringen und eine ideologisch-indoktrinierende Erziehungsfunktion erfüllen (vgl. H, 11, 26), über die Wiegenlieder singende Großmutter (vgl. H, 146) und den Vater, „ein heimgekehrter SS-Soldat, der Friedhöfe gemacht […] hat“ (H, 47) und der immer, wenn er betrunken ist, „Lieder für den Führer“ (H, 71) anstimmt, bis hin zu jenen Liedern, die politisch-widerspenstige Züge tragen: wie etwa das regimekritische, im Roman als „altes Volkslied“ (H, 89) bezeichnete Gedicht des surrealistischen Dichters Gellu Naum (1915-2001), das schmerzliche Lied vom gelben Kanarienvogel, einem im Rumänien der 1970er Jahre „sehr bekannt[en]“ (H, 68), aber staatlich verbotenen Protest-Song der Temeswarer Rockband „Phoenix“, das auf allegorisch verklausulierte Weise von der vergeblichen 201 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 541 Im Roman wird lediglich ein Auszug des Liedes zitiert, das online auf verschiedenen Musikplattformen (wie beispielsweise YouTube) zu finden ist und sich dort vollständig anhören lässt. Der (rumänische) Text beinhaltet eine Reihe von Bildern, welche seine poetische Qualität ausmachen: So steht beispielsweise der „Silberdraht“ („sârmele de-argint“) für die Grenze, an der zahlreiche Menschen ihr Leben ließen, oder verweist der „Wind“, in dem der Vogelgesang verklingt („Si viersu-i se pierdea în vânt“), auf die Flüchtigkeit der Hoffnung auf ein besseres Leben. 542 Müller inkorporiert in ihre Romane immer wieder auch Lieder, die sie selbst verfasst hat. So wird in Herztier an mehreren Stellen ein Kinderlied (vgl. H, 77, 176 f.) gesungen, das „auf keine bestimmte Quelle zurückzuführen ist“ (Ogrodnik, Musik im Werk Herta Müllers, S. 436), oder in den Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet ein Volkslied aufgenommen, das Müller ihrer eigenen Aussage zufolge selbst gedichtet hat (vgl. Beverley D. Eddy, „Die Schule der Angst“ - Gespräch mit Herta Müller, 14.04.1998. In: German Quarterly 72 (1999), S. 329-339, hier S. 335). Ähnlich wie der erste Satz aus Herztier (siehe dazu meine Analyse in Kap. 4.2.1) übernehmen die erfundenen Volks‐ lieder eine Signalfunktion: Sie stellen die Sehnsucht nach Authentizität unter einen kritischen Vorbehalt. Mehr noch zeigen sie auf, dass das Begehren nach wahrhaftigen Formen des Sprechens mit Strategien der Fiktionalisierung und Erfindung durchaus kompatibel ist. Anders als es in manchen poetologischen Äußerungen Müllers über die „wirkliche Folklore“ (Apfelkern, 87) anklingt, impliziert die Praxis des Erfindens eine Zurückweisung von Zuschreibungen, die ‚Authentizität‘ als eine intrinsische Eigenschaft bestimmter Gattungen behandeln. 543 Literarische Texte verfügen über vielfältige Möglichkeiten, „um eine imaginäre Prä‐ senz von Musik zu suggerieren“. Eine davon ist die sogenannte „Teilreproduktion“ plurimedialer Werke, durch welche „- sofern dem Leser das Vokalwerk (die Oper, das Oratorium, das Lied) bekannt ist - per Assoziation der musikalische Anteil (Melodie mit Begleitung) in das literarische Werk mit aufgenommen [wird]“. Werner Wolf, Musik in Literatur: Showing. In: Nicola Gess / Alexander Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur & Musik. Berlin / Boston 2017, S. 95-113, hier S. 96 und S. 99. - Im Hinblick auf den Roman Herztier scheint es fraglich, ob die anzitierten Lieder (z. B. das Lied vom gelben Kanarienvogel oder „Wer liebt und verlässt“ von Tănase) im Kopf der Leserin bzw. des Lesers erklingen; ihre Bekanntheit kann beim deutschen Lesepublikum eher nicht vorausgesetzt werden. 544 Gedichte werden im Roman übrigens nicht nur rezipiert, sondern die männlichen Protagonisten verfassen auch selbst (oppositionelle) Gedichte, die namenlos bleibende Sehnsucht nach Freiheit und einem tödlich endenden Fluchtversuch handelt, 541 oder auch jene Lieder, die für Müller die „wirkliche Folklore“ (Apfelkern, 87) repräsentieren - die Lieder von Tănase. 542 Bemerkenswert ist, dass die Lieder mit politisch-widerspenstigen Zügen im Roman weitaus mehr Raum erhalten als etwa die genannten Arbeiterlieder: Im Unterschied zu letzteren werden sie nicht bloß erwähnt, sondern textlich zitiert und somit (teil-)reproduziert. 543 Die Musikbezüge reflektieren verschiedene Dimensionen der Nicht-/ Zuge‐ hörigkeit, die sich im Spannungsfeld von Widerstand und Gehorsam, Besitz und Entzug bewegen und vielfältigen Ambivalenzen Ausdruck geben. Als Ressource der Zugehörigkeit können die zitierten Lieder und Gedichte 544 ein 202 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen Ich-Erzählerin hingegen wird literarisch nicht produktiv - sie liest lediglich, was als implizite Problematisierung weiblichen Schreibens interpretiert werden kann. Vgl. Patrut, „Schwarze Schwester“ - „Teufelsjunge“, S. 200. 545 Van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 158. 546 Vgl. ebd., S. 153: „Die Zeilen des Motto-Gedichtes dienen den vier Protagonisten als eine Art Losung. Sie sagen die Worte auswendig auf, halten sich an ihnen fest, schwören geheimes „politische[s] Einverständnis“ 545 , geteilte Sehnsüchte und Gefühle zum Ausdruck bringen, welche die Figuren untereinander und mit ihrer Autorin verbinden - das gilt etwa für das erwähnte Lied vom gelben Kanarienvogel (rum. „Canarul galben ca un gălbenuş“) oder auch für das (Anti-)Freundschaftsgedicht von Naum, welches die vier Protagonisten durch den Roman begleitet: jeder hatte einen Freund in jedem Stückchen Wolke. so ist das halt mit Freunden, wenn die Welt voll Schrecken ist auch meine Mutter sagte das ist ganz normal Freunde kommen nicht in Frage denk an seriösere Dinge (H, 5) Die Verszeilen, die aus dem Gedicht Lacrima (dt. Die Träne) stammen und die Müller in der deutschen Übersetzung von Oskar Pastior zitiert, problematisieren die (Un-)Möglichkeit freundschaftlicher Verbundenheit unter diktatorischen Lebensverhältnissen. Das Motiv der Wolke versinnbildlicht einerseits die Sehn‐ sucht nach einer solchen Form der Zu- und Zusammengehörigkeit, andererseits unterstreicht es deren prekären und instabilen Charakter. Wolken sind keine festen Gebilde, sondern verändern kontinuierlich ihre Gestalt. Genauso wie die heimlichen Gattungen der Rede und die Formen der Zugehörigkeit, die sie ausprägen, sind Wolken in ständiger Bewegung begriffen und mithin von Auflösung bedroht. Das Mahnwort der Mutter unterstreicht diese Analogiebe‐ ziehung zusätzlich: Es wird durch ein verbum dicendi („sagte“) eingeleitet und - wie auch sonst bei Müller üblich - ohne typographische Markierungen im Modus direkter Rede wiedergegeben. Der kolloquiale Sprachstil („halt“) hebt diese Öffnung ins Mündliche ebenfalls hervor. Die Rede warnt vor dem ‚unseriösen‘ Wunsch nach zwischenmenschlicher Geborgenheit, der in einer totalitären Wirklichkeit keinen Platz zu haben scheint und demnach als etwas Illusionäres, Imaginäres erscheint. Das wiederholte Zitieren dieser Zeilen aber führt zu einem performativen Widerspruch: Indem die vier Freunde das Gedicht „oft“ (H, 81, 87) und „immer wieder“ (H, 86) aufsagen, um sich im Sinne eines Folgeleistens, aber auch im Sinne eines stabilisierenden Sich-Verortens „dran zu halten“ (H, 87), vergewissern sie sich ihres zwischenmenschlichen Misstrauens als einer gemeinsam geteilten Lebenshaltung, 546 die zugehörigkeitsstiftend wirkt 203 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier sich mit ihnen auf ihre gemeinsame Linie und auf äußerste Wachsamkeit ein, kurz: Sie nützen die Verse als Anker.“ 547 Triinu Saks, Es gab keinen Abschied. Eine Figurenkette der Diktatur in Herta Müllers Herztier. In: Annette Bühler-Dietrich (Hrsg.), Feminist Circulations between East and West / Feministische Zirkulationen zwischen Ost und West. Berlin 2019, S. 259-276, hier S. 267. 548 Gellu Naum (1915-2001), der wie Müller und ihre Romanfiguren der Unterdrückung durch das totalitäre System zum Opfer fiel, gilt als einer der bedeutendsten rumänischen Schriftsteller. Für nähere biographische Informationen vgl. van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 152. und somit das Gegenteil dessen hervorbringt, was das Gedicht inhaltlich thema‐ tisiert - die Unmöglichkeit freundschaftlicher Zu- und Zusammengehörigkeit unter den Bedingungen der Diktatur. Die Rezitation literarischer Texte eröffnet eine Vergleichsperspektive zu Rakusa, die sich in Mehr Meer an die geheimen Sitzungen ihres Leningrader Freundeskreises erinnert, in denen Literatur verbotener Autorinnen und Au‐ toren mündlich vorgetragen wurde: „Aus dem Kopfspeicher auf die Zunge. Denn die Bücher, die Bücher, sagt Lena, die gibt es nicht zu kaufen. Eine Geheimsitzung also. Auf Gumiljow folgt Achmatowa, folgt Mandelstam, folgt Zwetajewa. Lena, Mischa und die anderen können alles auswendig, spielen sich die Zeilen wie Bälle zu.“ (MM, 280) Wie Müller unterstreicht auch Rakusa die gemeinschaftsbildende Funktion dieser heimlichen Zugehörigkeitspraxis: „Nein, Abschied genommen habe ich nie. Und Leningrad war ein besonderes Glück. Glück? Damals ja. Glück wie: Geborgenheit […]. Ich lernte, was Freund‐ schaft heißt […].“ (MM, 303) Das wiederholte Zitieren fungiert als performativer Ausdruck von Zugehörigkeit, welcher sich in Herztier nicht nur auf der Ebene der Figuren zeigt, sondern auch die Stimme der Autorin miteinbezieht. Zu berücksichtigen ist, dass Naums Gedicht sowohl im Haupttext, in der Figuren‐ rede, als auch im auktorialen Paratext, im Motto des Romans, anzutreffen ist. Die Platzierung des Gedichts an der Schwelle zum Text schafft eine Brücke zwischen der fiktionalen (Figuren-)Welt und der (realen) Welt der Autorin. Das Gedicht knüpft „einen roten Faden der Solidarität“ 547 , der sich zwischen der Autorin, ihren Figuren, dem zitierten Dichter 548 und nicht zuletzt dessen Übersetzer, Müllers langjährigem Freund Oskar Pastior, entspannt und sie in eine Gemeinschaft stellt. Dass dem Gedicht eine die staatliche Autorität provozierende, wenn nicht gar oppositionelle Dimension eingeschrieben ist, wird daran deutlich, dass es als Grund für eine Reihe von Verhören dient und somit der Gebrauchssphäre des Staates und seiner Vertreter ausgeliefert wird. Im Übergang zwischen den verschiedenen Sphären der Rede verkehrt sich die 204 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 549 Dies wahrscheinlich, um die politische Lesart des Hauptmanns zu entkräften bzw. den in einem früheren Verhör geäußerten Verdacht zu schwächen, das Gedicht stelle eine Aufforderung zur Flucht dar (vgl. H, 89). Funktion des Gedichts. Es büßt seine haltgebende und zugehörigkeitsstiftende Bedeutung ein und wird zu einem Mittel der Machtausübung: Der Hauptmann fragte: Wer hat das [das Gedicht von Naum, Anm. M. A.] geschrieben. Ich sagte: Niemand, es ist ein Volkslied. Dann ist es Volkseigentum, sagte der Hauptmann Pjele, also darf das Volk weiterdichten. Ja, sagte ich. Dann dichte mal, sagte der Hauptmann Pjele. Ich kann nicht dichten, sagte ich. Aber ich, sagte der Hauptmann Pjele. Ich dichte und du schreibst, was ich dichte, damit wir uns beide vergnügen […] (H, 104). Dass die Fragen des Hauptmanns ohne Fragezeichen erscheinen, unterstreicht den rhetorisch-monologischen Charakter der Sprechsituation, die keinen Dialog auf Augenhöhe vorsieht und in der jede Antwort, bevor sie überhaupt gegeben wird, bereits in der Art der Gesprächsführung beschlossen liegt. Anders als in der oben zitierten Verhörsituation (vgl. Kap. 4.2.2) bringt die monologische Dominanz der einen Stimme die andere nicht zum Verstummen, sondern zwingt sie zur Darbietung einer abgewandelten Textversion: „Ich mußte singen, was Hauptmann Pjele gedichtet hatte.“ (H, 104 f.) Die Botschaft, die hierbei unterschwellig vermittelt wird, ist aber ähnlich: Indem das Gedicht, das von der Ich-Erzählerin als autorloses „Volkslied“ bezeichnet wird, 549 einer enteignenden Aneignung unterworfen wird, wird sehr deutlich signalisiert, dass sämtliche Lebens- und Äußerungsbereiche, auch diejenigen, die dem Individuum einen heimlichen Rückzugsraum gewähren und Möglichkeiten eines Sprechens jen‐ seits der Sprache bieten, im Sinne der Herrschenden umgedeutet, von der staat‐ lichen Macht einverleibt und somit ihres subversiven Potenzials beraubt werden können. Genauso wie die ungehörigen, dem offiziellen Diskurs widerstrebenden Formen der Rede von der Macht „gebrochen“ (Fuchs, 9) werden können und sich in diesem Sinne als lediglich fragiles Besitztum (belonging) der „lebendige[n] Bevölkerung“ (HS, 81) erweisen, können auch die ‚authentische‘ Folklore und die ‚wahrhafte‘ Lyrik ihrer haltgebenden Funktion entrissen und im Namen eines pervertierten Volksbegriffs instrumentalisiert werden. Weil sich mit ihrer Hilfe Unsagbares sagen lässt, werden sie als Bedrohung der staatlichen Macht wahrgenommen; zugleich aber werden sie als etwas dargestellt, das selbst bedroht und verletzlich ist. Dieser doppelte Aspekt zeigt sich auch an einem anderen Gedicht, das im Gegensatz zu Naums Gedicht nun „tatsächlich […] ein altes rumänisches Volkslied“ 550 ist und mit dem exemplarisch jene Form von Musik aufgerufen 205 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 550 Van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 156. 551 Zum Verbot der Lieder von Tănase vgl. Müllers Erläuterungen in Schnee, 37 f. und 241. wird, die Freiräume für individuelle Ausdeutungen lässt, Kraftspender und Widerstandsmanöver in einem ist und deshalb staatlich unterdrückt worden ist. 551 Gemeint ist das Klagelied „Wer liebt und verlässt“ (rum. „Cine iubește si lasă“), das Müller in ihrer eigenen Übersetzung in den Text einfließen lässt und welches im hier interessierenden Zusammenhang auch deshalb bemerkenswert ist, weil es die im vorherigen Unterkapitel behandelte Sprechgattung der Flüche mit der Gattung des Volkslieds verbindet: Ich hätte alle Flüche schreien wollen, die ich nicht beherrsche, wer liebt und verläßt den soll Gott strafen Gott soll ihn strafen mit dem Schritt des Käfers dem Surren des Windes dem Staub der Erde. Flüche schreien, aber in welches Ohr. (H, 162) Im Vollzug der - textinternen - Wiederholung nimmt das Lied neue Sinnbezüge auf, die über seine vordergründige Bedeutung als Fluch auf den fliehenden Geliebten hinausweisen. Es bleibt nicht mit sich identisch, sondern wird fort‐ laufend (re-)interpretiert. Anders gesagt: Es wird als etwas gezeigt, das in die Deutungsbewegung des Lebens einbezogen ist und in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext seiner Verwendung seine Bedeutung ändert. Insgesamt wird das Lied drei Mal zitiert, immer in Verbindung mit Tereza, die als eine zwiespältige Figur angelegt ist. In einer ersten Textpassage singen es die Frauen in der Fabrik, um ihren Neid auf Tereza auszudrücken, die als Tochter eines angesehenen Parteifunktionärs (vgl. H, 116) besondere Freiheiten und Privilegien genießt und sich sowohl durch ihr üppiges Pausenbrot - während „[d]ie Leute in der Fabrik[…] gelblichen Speck und hartes Brot“ essen, stapelt sie „hauchdünne Schinken-, Käse-, Gemüse- und Brotscheiben übereinander“ (H, 118) - als auch durch ihr Äußeres - „Kleider aus Griechenland und Frankreich. Pullover aus England und Jeans aus Amerika. […] Und hauchdünne Strumpfhosen aus Deutschland.“ (H, 117 f.) - von den anderen Figuren abhebt: „Sie dachten: Alles was Tereza trägt, ist eine Flucht wert.“ (H, 117 f.) Ausgehend von der klanglichen Ähnlichkeit der Worte ‚Fluch‘ und ‚Flucht‘, die nur ein einziger Buchstabe voneinander unterscheidet, spricht die Ich-Erzählerin dem Lied eine zweifache Bedeutung zu: Der in ihm enthaltene Fluch beziehe sich 206 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 552 Van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 157. 553 Herta Müller, Grenze in der Tasche. In: Die Zeit, 22.03.2018, S. 50. URL: https: / / www.z eit.de/ 2018/ 13/ herta-mueller-ada-milea-rumaenien (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). einerseits auf Tereza, deren späteren Tod er vorausdeutend vorwegnimmt; andererseits singen die Frauen das Lied „für sich und ihre Flucht“ (H, 118). Als Ort der Mitteilung heimlicher Wünsche und Sehnsüchte (vgl. H, 56: „Alle lebten von Fluchtgedanken.“) erhält es eine implizit subversive Komponente. In der zweiten Textpassage (vgl. H, 162) wird das Lied zum Artikulationsmedium gleichzeitig existierender und miteinander oszillierender Gefühlsgegensätze. Für die Ich-Erzählerin bringt es die Ambivalenzen zum Ausdruck, die sie ihrer todkranken Freundin gegenüber empfindet, nachdem diese sie bespitzelt und sich als Informantin des Geheimdienstes erwiesen hat. In einer dritten Szene (vgl. H, 241), die sich in der zeitlichen Chronologie der Ereignisse vor Terezas Verrat zuträgt, wird das Lied im Zusammenhang der Schuldgefühle zitiert, die das Verlassen des Landes in der Ich-Erzählerin evoziert. Mit van Hoorn lässt sich somit resümierend festhalten, dass das Lied einerseits „als unverdächtig-vielsa‐ gendende Tarnkappe für politisch Unerwünschtes, Unsagbares“ fungiert und andererseits auch „als Sprachrohr für innere Widersprüchlichkeit, unlösbares Sowohl-Als-Auch“ 552 dient. Die Offenheit und Mehrdeutigkeit der Lieder macht sie für ihre Verwendung in verschiedenen Kontexten (miss-)brauchbar und auf verschiedene Lebenssi‐ tuationen übertragbar. In ihrer Rede anlässlich des Gastlandsauftritts Rumä‐ niens bei der Leipziger Buchmesse im März 2018 bringt Müller das Tănase-Lied schließlich mit ihrer eigenen Biographie in Zusammenhang und verbindet es mit den ambivalenten Gefühlen, die sie - ähnlich wie die Erzählerin in Herztier - bei ihrer Ausreise aus Ceauşescus Rumänien empfand: „Eigentlich bezieht sich das Lied auf Liebespaare. Doch ich fühlte mich persönlich angesprochen, als ich das Land verließ. Jedes Wort übertrug sich auf Emigration. Ich wusste, ich nehme nur mein eigenes zerstörtes Leben mit. Freunde, die ich mag, muss ich zurück‐ lassen. Ohne Schuldgefühle geht es nicht, wenn man die Füße weghebt.“ 553 Äußerungen wie diese wirken rezeptionslenkend, indem sie Parallelen zwischen Leben und Werk aufzeigen und die Folie für eine biographisch orientierte Lesart des Romans bereitstellen. Exemplarisch hierfür ist auch die bereits zitierte Poetik-Vorlesung „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich“ aus dem Band Der König verneigt sich und tötet, in der Müller das Problem, dem persönlichen Gefühlserleben einen adäquaten Ausdruck zu geben, am Beispiel einer Freundin illustriert, deren Verrat eine autobiographische Entsprechung zu den Figuren ihres fiktionalen Werks suggeriert. Um den Verlust dieser Freundschaft zu verarbeiten und den 207 4.2 Rede- und Gattungsvielfalt in Herztier 554 Auch die folgende Aussage legt im Wechselspiel von Setzung und Zurücknahme eine autobiographische Perspektivierung des Romans nahe: „Die Ich-Erzählerin bin nicht ich. Aber ich wurde aus der Fabrik rausgeschmissen, ich war arbeitslos und hatte keine Ahnung, wovon ich leben soll.“ (Apfelkern, 111) Einerseits macht Müller auf den Fiktionsstatus ihres Textes aufmerksam und weist damit eine Identifikation von Autorin und Protagonistin zurück. Andererseits weist sie auf Gemeinsamkeiten, geteilte Gefühle und Erfahrungen zwischen beiden hin. Das Geschriebene wird als tatsächlich Erlebtes authentifiziert, wodurch die Fiktion eine lebensweltliche Beglaubigung erhält. 555 Ute Weidenhiller, Das Unsagbare sagbar machen. Herta Müllers doppelbödige Poetik. In: Études germaniques 67/ 3 (2012), S. 489-506, hier S. 490. Mangel an Sprache auszugleichen, nahm sie „eines der schönen rumänischen Volkslieder zu Hilfe“ (König, 80), welche die Lektüre ihres Romans Herztier zu einem so vielstimmigen Erlebnis machen. 554 4.3 Dialogische Autorschaft Entgegen der These eines „diktatorischen Erzählens“ (Meurer) habe ich auf‐ gezeigt, dass Müllers Herztier eine Vielfalt von Gattungen umfasst, die zur Polyphonie des Romans beitragen und die Monologizität des ideologischen Diskurses infrage stellen. Meine Aufmerksamkeit galt dabei besonders jenen (Sprech-)Gattungen, die den Figuren Fluchträume oder wenigstens Schlupflö‐ cher der Zugehörigkeit eröffnen, in denen ein wahrhaftiges, affektiv unmittel‐ bares Sprechen möglich wird. Polyphonie und Gattungsvielfalt sind zugleich Folge und Ausdruck eines Ringens um Wahrhaftigkeit, das sich bei Müller immer auch als ein Ringen um und mit Sprache zeigt und somit ein grundlegend agonales Moment enthält. Dieses agonale Moment liegt in der Widerständigkeit der Sprache bedingt, die im Prozess des Schreibens spürbar wird und Müller zu einem Konzept von ‚Autorschaft‘ bringt, dem das Augenmerk des folgenden Ka‐ pitels gilt. In einem ersten Schritt werde ich dieses Konzept als ein dialogisches bestimmen, um es in einem zweiten Schritt mit den Autorschaftsentwürfen Rakusas und Tawadas zu vergleichen und ihr Gemeinsames herauszuarbeiten: das Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit. 4.3.1 Vom Horchen zum Gehorchen? Den Unzulänglichkeiten der Sprache tritt Müller mit einem entschiedenen Trotzdem entgegen, ihr Schreiben bleibt - bei aller Sprachskepsis - „unab‐ dinglich dem Erlebten verpflichtet“ 555 . Dieser Gestus des Trotzdem erlaubt es, Müllers Schreiben als ein ‚Schreiben im geteilten Widerspruch‘ zu charak‐ 208 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 556 Brokoff, Herta Müller (2009), S. 236. 557 Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers, S. 183. 558 Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 225. terisieren: Diese Formel schließt das Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit mit ein, das durch die literarische Verarbeitung ‚primärer‘ Sprechgattungen im Roman entsteht, aber auch die Gattungen des Interviews und der Poetik-Vorlesung prägt. Müller und ihre Figuren reflektieren über die Unmöglichkeit eines wahrhaftigen Sprechens und versuchen gleichwohl, Bereiche des Sprechens auszumachen, die sich der vollständigen und damit totalitären Vereinnahmung durch das Regime entziehen. Dieser Widerspruch ist eine Gemeinsamkeit, welche die Autorin mit ihren Figuren teilt und die den poetologischen mit dem literarischen Diskurs vereint. Denn alle Diktaturen […] nehmen die Sprache in ihren Dienst. In meinem ersten Buch über eine Kindheit im banatschwäbischen Dorf zensierte der rumänische Verlag neben all dem anderen sogar das Wort KOFFER. Es war zum Reizwort geworden, weil die Auswanderung der deutschen Minderheit tabuisiert werden sollte. Diese Inbesitznahme bindet den Worten die Augen zu […]. Von Heimat kann da nicht die Rede sein. (König, 31) Der Erfahrung der entsinnlichenden „Inbesitznahme“ der Wörter, die Müller in ihrer Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ beschreibt, bedingt eine kritische Distanznahme gegenüber dem Topos der „Sprachheimat“ und arbeitet einem Konzept von ‚Zugehörigkeit‘ zu, das sprechstatt sprachbe‐ zogen gedacht werden muss. Wie meine Untersuchung der heimlichen Sprech‐ gattungen in Herztier gezeigt und wie auch Jürgen Brokoff dargelegt hat, stellt Müllers Heimat- und Zugehörigkeitsverständnis die „Praxis des Sprechens“ 556 , das heißt den Gebrauch von Sprache und den Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen in den Vordergrund. Esther Kilchmann ergänzt in der Neufassung des Text- und Kritik-Bandes zu Müller dazu, dass diese Sprachauffassung „das Individuelle des Sprachaktes und folglich den polyphonen Charakter von Sprachhandlungen“ 557 betont. Die Verschiebung von der Sprache als abstrakte, substantivierte Entität zum verbalen Modus des Sprechens bedeutet weiter‐ gedacht auch, dass die Tätigkeit des Sprechens kein anonymes Geschehen darstellt, sondern immer von einzelnen Sprechbzw. Äußerungssubjekten getragen wird und an sie rückgebunden bleibt. Weil Worte, wie Müller in ihrem Roman Herztier vorführt, immer schon vom Mund des anderen herkommen, „von einem Kontext zum anderen, von einem sozialen Kollektiv zum anderen“ 558 wandern, durch verschiedene Akteure gebraucht und missbraucht werden und im Vollzug ihrer wiederholten Verwen‐ 209 4.3 Dialogische Autorschaft 559 „SPRACHE IST HEIMAT war den Emigranten in einer aussichtslosen Fremde das in den eigenen Mund gesprochene Beharren auf sich selbst. Leute, deren Heimat sie nach Belieben kommen und gehen läßt, sollten diesen Satz nicht strapazieren. Sie haben sicheren Boden unter den Füßen. Aus ihrem Mund kommend, blendet der Satz alle Verluste der Geflohenen aus.“ (König, 28 f.) dung von einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmen durchdrungen werden, sind sie einerseits nicht ‚autorisierbar‘. Andererseits insistiert Müller auf der Autorschaft der Äußerung als notwendiger Bedingung eines individuell verantwortlichen Sprechens. Die ausgestellten Praktiken des Zitierens und Re-Zitierens ‚fremder‘ Äußerungen reden keiner subjektfreien Konzeption von ‚Intertextualität‘ das Wort; vielmehr führen die Prozesse der individuellen Aneignung, Umdeutung und auch der machtvollen Usurpation ‚fremder‘ Rede ein Konzept von ‚Dialogizität‘ vor Augen, das von den sprechenden Subjekten, ihren Intentionen, Lebensschicksalen und Erfahrungen nicht abgelöst werden kann. Dies illustrieren auch Müllers Reflexionen über den Heimatbegriff und den von vielen Mündern beanspruchten Topos von „Sprache als Heimat“. Ihre Abneigung gegenüber dem Wort ‚Heimat‘ erklärt Müller in ihrer Poetik-Vorle‐ sung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ damit, dass es „in Rumänien von zweierlei Heimatbesitzern in Anspruch genommen [wurde]. Die einen waren die schwäbischen Pokalherren und Tugendexperten der Dörfer, die anderen die Funktionäre und Lakaien der Diktatur“ (König, 29). Diese Akteure hätten das Wort mit „provinziell[en], xenophobisch[en] und arrogant[en]“ (König, 29) Bedeutungsinhalten aufgeladen. Die Spuren seines Gebrauchs haben sich in das Wort eingeschrieben, sodass es für Müller kaum oder nur unter kritischem Vorzeichen benutzbar ist. Selbiges gilt für den Topos von „Sprache als Heimat“: Müller folgt der Geschichte seines Gebrauchs; mit Nachdruck verweist sie darauf, dass es wichtig ist, wer diesen Topos unter welchen Umständen geprägt hat - nämlich „die Emigranten, die Hitlers Mördern durch Flucht entkommen waren“ (König, 28) - und wer ihn sich im unreflektierten Anschluss daran zu eigen macht. 559 ‚Die‘ Sprache an und für sich, als abstrakte Einheit, gibt es für Müller nicht. Vielmehr lebt Sprache, wie Müller sagt, „immer im Einzelfall“ (König, 39). Als soziale Äußerung und verkörperte Tätigkeit ist sie stets an konkrete Redesitu‐ ationen und Sprechsubjekte gebunden. Deshalb muss man ihr auch „jedesmal aufs Neue ablauschen, was sie im Sinn hat“ (König, 39). Das Wahrnehmungs‐ verb ‚lauschen‘ führt in das semantische Feld der ‚Zugehörigkeit‘ und ist für Müllers Autorschaftskonzept fundamental. Etymologisch haftet ‚lauschen‘ eine Dimension des Heimlichen im Sinne des ‚Versteckten‘ und ‚Verborgenen‘ an. 560 So steht es auch mit dem „Diskurs des Alleinseins“ bzw. dem Selbstgespräch in 210 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 560 Vgl. den Eintrag zum Lemma ‚lauschen‘. In: Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. URL: https: / / www.dwds.de/ wb/ etymwb/ lauschen (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 561 Bozzi, Der fremde Blick, S. 84. - Auch Rakusa erzählt von einem ‚Lauscherlebnis‘ als Urszene ihrer Autorschaft. Siehe dazu Kapitel 5.4.2 dieser Arbeit. 562 Martina Wernli, Poetikvorlesungen. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 79-90, hier S. 82. 563 Zu Müllers „Diskurs des Alleinseins“ als dem Versuch, „sich einsam ins Recht zu setzen, sich mit dem Mund zu helfen“ (Teufel, 65) vgl. etwa Sigrid Grün, „Fremd in einzelnen Dingen“. Fremdheit und Alterität bei Herta Müller. Stuttgart 2010, S. 35-37. Zusammenhang, das Müller in den Paderborner Poetik-Vorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel als eine sprachliche Form der Selbstbehauptung und mithin als eine Möglichkeit beschreibt, sich selbst zuzugehören: Und dann stand ich seit einigen Minuten hinter der Tür. […] Sie sprach, das konnte ich aus dem, was sie sagte, entnehmen, sie sprach mit sich selbst, sie sprach mit ihrem Mann, der sie entwürdigt hatte. Sie führte ein Gespräch zu Ende, das sie gar nicht geführt hatte, oder, das sie halb geführt und ganz entwürdigt hatte. Die Person, von der ich spreche, war meine Großmutter. Es war zum ersten Mal, daß ich sah, daß auch sie, die Erwachsenen, laut mit sich sprechen, wenn sie allein waren. Dann war mein Nacken so starr geworden vom Gebücktsein, daß ich versehentlich an die Tür stieß. Sie zuckte zusammen, denn es war ein Klopfen an die Tür gewesen. Ich wußte, ich hatte etwas Verbotenes gehört und gesehen. (Teufel, 57 f.) Die Forschung hat dieses Lauscherlebnis als eine „Urszene“ 561 von Müllers Autorschaft interpretiert, weil das geheime Für-sich-alleine-Sprechen „beim Schreiben wieder aufgenommen“ wird: Erstens in dem basalen Sinne, dass für das Schreiben das Hören und die „Laute zentral [sind], wie Müller immer wieder betont.“ 562 Zweitens in dem Sinne, dass auch das Schreiben eine „Sache des Alleinseins“ (König, 85) ist, die unter den Bedingungen patriarchaler Strukturen und totalitärer Diktaturen ein Schlupfloch der (Selbst-)Zugehörigkeit bieten kann. 563 Drittens in dem Sinne, dass sich Müllers (und auch Rakusas) wiederho‐ lendes Schreiben (dazu Kap. 5) als ein fortgesetztes (Selbst-)Gespräch gestaltet, das dialogische Fäden zwischen Texten verschiedener Gattungszugehörigkeit spinnt und in dem der Ton der Autorin in unterschiedlichen Brechungsgraden hörbar wird. Im Unterschied zum eher unspezifischen, mehr rezeptiven ‚Hören‘ steht das „Lauschen“ (König, 39) oder „Horchen“ (König, 24) darüber hinaus für eine Form auditiver Aufmerksamkeit, die einen aktiven Vorgang der Wahrnehmung, eine 211 4.3 Dialogische Autorschaft 564 Das Lauschen im Sinne von ‚heimlich horchen‘ ist in Müllers Werk insofern ambivalent besetzt, als es mit den geheimdienstlichen Abhörmethoden in Verbindung steht. So hat Müller in ihrem Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger für die Omnipräsenz der (akustischen) Überwachung ein eindrückliches Bild geprägt: das Bild der „zum Horchen belaubt[en]“ Pappeln (Fuchs, 31), die als mächtig und angsteinflößend beschrieben werden. 565 „Horchen rührt an gehorchen oder ist ihm in einigen Stellen geradezu gleich.“ ‚horchen‘. In: J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch. Digitalisierte Fassung. URL: https: / / www .woerterbuchnetz.de/ DWB? lemid=H12382 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 566 Herta Müller, Im Heimweh ist ein blauer Saal. München 2019, o. P. 567 Es handelt sich wohl um Müllers ersten in der Bundesrepublik entstandenen Text, wie aus einer Anekdote von Rolf Michaelis zu erfahren ist: Vgl. Rolf Michaelis, Angekommen wie nicht da. In: Die Zeit, 20.03.1987. URL: https: / / www.zeit.de/ 1987/ 13 / angekommen-wie-nicht-da/ komplettansicht (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). Haltung intensiver Wachsamkeit beschreibt. 564 Diese bedeutungsvolle Nuancie‐ rung, die sich ähnlich auch in der Unterscheidung zwischen ‚sehen‘, ‚schauen‘ und ‚blicken‘ zeigt, zielt auf ein Konzept von ‚Autorschaft‘, das verschiedene Bedeutungsdimensionen des Zugehörigkeitsbegriffs aktiviert, indem es den besonderen Stellenwert der sinnlichen Wahrnehmungen für das Sprechen und Schreiben akzentuiert, auf dem schmalen Grat zwischen dem ‚Horchen‘ als einer Haltung der aktiven Hingabe und dem in ihm mitschwingenden, eher passiven ‚Gehorchen‘ 565 balanciert und das Spannungsfeld zwischen Besitz und Verzicht austariert. Der oben zitierten Erfahrung der entsinnlichenden „Inbesitznahme“ der Wörter stellt Müller das Wörtersammeln (vgl. Kap. 3.2.2) als eine Praxis der Aneignung gegenüber, welche die sinnliche Materialität der Wörter zelebriert und ihren Besitz als Glück proklamiert: Früher musste ich das Geschriebene heimlich von zu Hause wegtragen und bei unverdächtigen Bekannten verstecken, weil ich Angst vor Hausdurchsuchungen hatte. Dass ich heute zu Hause hunderttausende Wörter besitze, halte ich für ein Glück. […] Dass sie offen herumliegen dürfen, ist für mich Ausdruck von Privatheit, von Ungezwungenheit, sogar von persönlicher Freiheit. Denn Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur. 566 Weitaus widersprüchlicher und komplexer gestaltet sich der hier (in Bezug auf die Collagen) aufgerufene Besitzaspekt in einem Prosastück, das sich als selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Autorschaft lesen lässt. Müller hat dieses Stück kurz nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik verfasst. Es trägt den bemerkenswerten Titel: „Mein Schlagabtausch, mein Minderhei‐ tendeutsch“. 567 Bemerkenswert deshalb, weil Müller - wie eine Rezensentin erkennt - das Possessivpronomen fast immer umgeht, das, wovon sie erzählt, für 212 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 568 Vgl. Marina Münkler, Bilder einer Heimkehr in die Fremde. Utopie vom Tod. Herta Müllers eindringlicher Prosaband Barfüßiger Februar. In: Die Zeit, 11.03.1988. URL: https: / / www.zeit.de/ 1988/ 11/ utopie-vom-tod (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 569 Herta Müller, Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch. In: Die Zeit, 20.03.1987, S. 52. Auch in: Dies., Barfüßiger Februar, S. 123-124. 570 Roxane Compagne, Fleischfressendes Leben. Von Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers Barfüßiger Februar. Hamburg 2010, S. 55. 571 Bozzi, Der fremde Blick, S. 61. 572 Müller, Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch, S. 52. 573 Ralph Köhnen, Visualität und Textualität. In: Eke (Hrsg.), Herta Müller Handbuch, S. 190-200, hier S. 193. gewöhnlich auf Abstand hält, 568 hier aber mit dem besitzanzeigenden Fürwort „mein“ operiert und damit ein Näheverhältnis etabliert, welches durch den - Vertrautheit suggerierenden - Anredemodus des „Du“ zusätzlich unterstrichen wird: „Mein Minderheitendeutsch, jetzt wirst du angeknüpft. Jetzt wird der Faden dir zum Strick. Ich werd dich los, jetzt bleibst du mir erhalten.“ 569 Die agonale Dimension, die schon der Titel ankündigt, steigert sich zu einer regelrechten Kampfansage gegen das unerwünschte Besitztum (belonging) der hier als „Minderheitendeutsch“ apostrophierten Sprache. Die gegenläufigen Be‐ wegungen des Sich-Lossagens und des Erhalten-Bleibens, die das Dazugehören einmal mehr als einen Verstrickungszusammenhang ausweisen, verdeutlichen, dass diese Sprache kein Gegenstand ungebrochener Identifikation oder gar ‚Heimat‘ ist. Die aus dem Herkunftskontext „mitgebrachte Sprache“ (HS, 34) ist vielmehr eine zwiespältige Habe, die sich nicht einfach abstoßen lässt. Sie wird nicht nur „wie ein persönlicher Gegenstand behandelt“ 570 , sondern zu einem dialogischen, körperlich vorgestellten Gesprächs- und Streitpartner, zu dem sich das Ich in Beziehung setzt, mehr noch: der in ihm selbst lebendig und selbstständig ist und daher „nicht immer ohne weiteres verfügbar ist“ 571 : „Wie hohlwangig du in mir schlägst. Und wenn ich reden will, legst du dich tot auf meine Zunge.“ 572 Die Erfahrung der Unverfügbarkeit der Sprache und des Sprechens stellt die Möglichkeit von Sprachbesitz infrage und bedingt eine Absage an die Vorstel‐ lung eines souveränen Autorsubjekts. Müller überlässt sich der Eigendynamik des Sprachmaterials - sie nimmt die Wörter nicht in ihren Besitz, sondern lässt sich von ihnen in Besitz nehmen (vgl. Schnee, 18). „Das Spiel der Wörter“ begreift sie, wie es Ralph Köhnen beschreibt, als „relationalen Zusammenhang“ und „agonales Geschehen, das sich ereignet, wenn nicht der Schreibende die Sprache bestimmt, sondern‚ wenn einen der Text mit sich nimmt‘“. 573 Dieser - auch ideologiekritisch motivierte - Verzicht auf autoritäre Machtausübung lässt sich mit Bachtin als ein dialogisches Verhältnis zum Sprachmaterial bezeichnen. 213 4.3 Dialogische Autorschaft 574 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 178. 575 Ebd., S. 193. 576 Vgl. Herta Müller, Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 34, S. 42 und S. 54. 577 Yasemin Yildiz, Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012, S. 2. Im Gegensatz zum autoritären Gestus monologischer Autorschaft, welche sich der Sprache im Zeichen der Autorintention bemächtigt und sich „ganz und un‐ geteilt“ 574 in ihr verwirklicht, enthält sich dialogische Autorschaft stimmlicher Dominanz. Nicht Aneignung oder Identifikation, sondern die Bewegung „zur Sprache hin und von ihr weg“ 575 , das Wechselspiel von Nähe und Distanz ist das Merkmal dieses nicht-souveränen Konzepts von ‚Autorschaft‘. Aussagen wie „das machen die Wörter selbst. Das macht der Wortklang“, „das verlangt sich so“ oder „das ergibt sich so“ 576 verdeutlichen Müllers dia‐ logisches Verhältnis zum Sprachmaterial, dessen Dynamik nicht dem Diktat eines vermeintlich souveränen Autorsubjekts unterliegt, sondern sich ihm entgegenstellt. Durch ihre dialogische Freisetzung gewinnt die Sprache eine materiale Eigenwirklichkeit, qua derer sie sich gegenüber der Realität behaupten kann. Müllers dialogische Verzicht- und Distanzhaltung ist somit nicht nur Aus‐ druck eines Konzepts von ‚Autorschaft‘, welches die Begrenztheit intentionaler Kontrolle anerkennt und reflektiert, sondern bildet auch die Voraussetzung jenes dynamischen Transformationsprozesses, der eine (Wieder-)Annäherung an die Wirklichkeit des Erlebten ermöglicht. 4.3.2 Gespaltene Zungen, große Augen und feine Ohren: Das Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit Diese dialogische Hinwendung zum Sprachmaterial ist es auch, die einen Vergleich zu anderen mehr-deutsch-sprachigen Autorinnen wie Ilma Rakusa oder Yoko Tawada eröffnet. Anders als Rakusa und Tawada schreibt Müller zwar in ihrer ‚Muttersprache‘, doch verbindet sie mit diesem Begriff weder ein Gefühl der Selbstverständlichkeit noch der unhinterfragten Zugehörigkeit. Vielmehr manifestieren Müllers Texte ein immer schon gebrochenes Verhältnis zur Sprache. Sie kritisieren das sogenannte „monolingual paradigm“ 577 , also die historisch wirkmächtige Auffassung von der ‚natürlichen‘ Bindung eines jeden Individuums an genau eine Sprache und Sprechgemeinschaft, indem sie - wie sich an dem kurzen Stück „Mein Minderheitendeutsch, mein Schlag‐ abtausch“ beispielhaft gezeigt hat - ein Bewusstsein von der Unverfügbarkeit der Sprache und des Sprechens artikulieren, sprachliche Differenzerfahrungen 214 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 578 Ein Begriff aus der Rassismusforschung, den Birgit Rommelspacher in ihrer 2002 (Frankfurt am Main) erschienen Monographie Anerkennung und Ausgrenzung. Deutsch‐ land als multikulturelle Gesellschaft geprägt und seither in verschiedenen Aufsätzen weiterentwickelt hat. Identifikationsrituale können laut Rommelspacher als „Teil eines Zugehörigkeitsregimes verstanden werden, das mithilfe verschiedenster Mechanismen die einzelnen zu dem in dem jeweiligen Kontext relevanten Kollektiv als dazugehörig erklärt oder davon ausschließt“. Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus? In: Claus Melter / Paul Mecheril (Hrsg.), Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach am Taunus 2009, S. 25-38, hier S. 31. 579 Müller, Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch, S. 52. 580 Unter dem Hashtag #vonhier debattierten Userinnen und User Anfang des Jahres 2019 über die Herkunftsfrage auf der Kommunikationsplattform Twitter und problemati‐ sierten die mit ihr implizit verbundenen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmecha‐ nismen. Angestoßen wurde die Debatte von der Journalistin Ferda Ataman, die unter thematisieren und das Fremdwerden der vermeintlich eigenen ‚Muttersprache‘ demonstrieren. Fragen der (sprachlichen) Nicht-/ Zugehörigkeit stellen sich Müller, wie ich mehrmals betont habe, nicht erst im Kontext ihrer politisch motivierten Emigration, aber sie spitzen sich nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik (1987) noch einmal zu. In ihrem Vortrag „Bei uns in Deutsch‐ land“ thematisiert Müller die symbolischen Grenzen der Nicht-/ Zugehörigkeit, die mithilfe von spezifischen „Identifikationsritualen“ 578 gezogen werden. Zu solchen Ritualen gehören etwa die permanenten Fragen nach der eigenen Herkunft, denen Müller, „angekommen wie nicht da“ 579 , im alltäglichen Leben ausgesetzt war. Sie problematisiert die ausgrenzenden Implikationen, die diesen Ritualen innewohnen: Zweimal kaufte ich Blumen im selben Laden. Die Verkäuferin, eine Frau um die Fünfzig, behielt mich vom einen zum anderen Mal im Gedächtnis. Da suchte sie mir zur Belohnung für meine Wiederkehr die schönsten Löwenmäulchen aus dem Eimer, zögerte ein wenig und fragte: „Was für eine Landsmännin sind Sie, sind Sie Französin? “ […] „Nein, ich komme aus Rumänien.“ Sie sagte: „Na, macht ja nichts“, lächelte gütig, wie: kann ja passieren, ist ja nur ein kleiner Fehler.“ […] Wie oft habe ich in Deutschland beantworten müssen, woher ich komme. Im Zeitungsladen, bei der Änderungsschneiderin, beim Schuster oder Bäcker, in der Apotheke. Ich komme herein, grüße, sage, was ich haben will, die Verkäufer bedienen mich, sagen den Preis - und dann nach einem leeren Schluck Atem: „Woher kommen Sie? “ (König, 177 f.) Müller schildert hier, wie ihr als ‚fremd‘ wahrgenommener Akzent zu Fragen Anlass gibt, die bereits in sich exkludierenden und identitätsfixierenden Cha‐ rakter haben. Sie reflektiert über die sprachlich vollzogenen Ausschlussmecha‐ nismen, von denen viele Menschen mit Migrationsgeschichte zu berichten wissen: 580 In dem, was man die Sprechgattungen der ausgrenzenden Alltagsrede 215 4.3 Dialogische Autorschaft dem Titel Hört auf zu fragen. Ich bin von hier! (Frankfurt am Main 2019) auch eine Streitschrift zum Thema veröffentlicht hat. 581 Die geläufige Charakterisierung Müllers als eine „deutsch-rumänische“ Autorin operiert zwar nicht mit einer dermaßen exklusiven Zugehörigkeitslogik des Ent‐ weder-Oder, immerhin lässt sie die Verbindung zweier unterschiedlicher Herkünfte und Sprachen zu. Doch bleibt sie weiterhin dem Paradigma des Nationalen verhaftet, das sowohl in Formen der ausgrenzenden Alltagsrede als auch im Literaturbetrieb bis heute wirksam ist und Prozesse von Ein- und Ausschluss machtvoll reguliert. Vgl. hierzu genauer Anne Fleig, „So deutsch wie Kafka“ - Diversität und Zugehörigkeit in der Literatur und im literarischen Feld. In: Hansjörg Dilger / Matthias Warstat (Hrsg.), Umkämpfte Vielfalt. Affektive Dynamiken institutioneller Diversifizierung. Frankfurt am Main / New York 2021, S. 208-226. 582 Die Begriffsprägung stammt von Santina Battaglia, Die Repräsentation des Anderen im Alltagsgespräch. Akte der natio-ethno-kulturellen Belangung in Kontexten prekärer Zugehörigkeiten. In: Anne Broden / Paul Mecheril (Hrsg.), Re-Präsentationen. Dyna‐ miken der Migrationsgesellschaft. Düsseldorf 2007, S. 181-202, hier S. 181. 583 Der Akt der „Verweisung“, so erklärt Terkessidis seine Begriffsschöpfung, gliedert „das Individuum symbolisch aus einem ‚Wir‘ aus und schick[t] es an einen anderen Ort“. Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld 2004, S. 186. 584 „Alle bleiben hier Dörfler“ (H, 52) - Die Aussage bezieht sich auf die Parallelen zwischen Stadt und Dorf, die ähnlichen Strukturen der Überwachung und Kontrolle unterliegen. nennen könnte, wird den Befragten die Prekarität ihrer Zugehörigkeit in Erinnerung gerufen. Einer Zugehörigkeit, die ihnen im Akt der Rede von vornherein abgesprochen wird und die auf der Vorstellung eines nationalen ‚Wir‘ basiert, welches sich über gemeinsame Herkunft/ Abstammung, Sprache und Kultur definiert und auf die Herstellung von Eindeutigkeit zielt. Die ausgrenzenden Redegattungen vollziehen in Frageform verpackte, illokutionäre Aufforderungsakte: Das befragte Subjekt wird nicht als Individuum, sondern als Teil einer nationalen Gemeinschaft adressiert, als deren Mitglied es sich identifizieren soll - Mehrfachzugehörigkeit ist als Option nicht vorgesehen. 581 In der Terminologie postkolonialer Kritik und Migrationsforschung ausgedrückt, findet in den „Herkunftsdialogen“ 582 ein mit Kategorisierung, Grenzmarkierung und Hierarchisierung verbundener Prozess des Othering bzw. ein Akt der „Ver‐ weisung“ 583 statt, der die Angesprochenen als ‚nicht hierher‘ bzw. ‚woandershin gehörig‘ klassifiziert, sie nicht „bei uns in Deutschland“, sondern an einem anderen geographischen Ort (außerhalb der ‚eigenen‘ Sprache, des ‚eigenen‘ Landes, der ‚eigenen‘ Nation) situiert und somit die alltägliche Herstellung und Reproduktion von Besitzverhältnissen demonstriert. Zugespitzt - und in Anlehnung an die Bemerkung einer Romanfigur aus Herztier gesprochen - 584 lässt sich sagen: Die Herkunftsdialoge, die Müller nach ihrer Ankunft in Berlin erlebte, machten die Stadt zum Dorf. 216 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 585 Müller, Wie kommt man durchs Schlüsselloch? , S. 141. 586 Diese problematischen Aspekte werden in der interdisziplinären Forschung zu belong‐ ing und Zugehörigkeit eher selten diskutiert, wie ich in der Einleitung zu dieser Arbeit erläutert habe (vgl. Kap. 1.2). 587 Zu diesem Begriff vgl. ebenfalls Terkessidis, Banalität des Rassismus, S. 186-194. 588 Mecheril, Prekäre Verhältnisse, S. 119. Wenn ich als Kind auf der Dorfstrasse ging, fragten mich auf diesen 300 Metern Weg vom Haus bis in den Laden oder zu meiner Grossmutter oder in die Kirche jedes Mal, nachdem ich gegrüsst hatte, die alten Leute: Wem gehörst du? Und ich antwortete prompt: Dem Gion Kathi und dem Müller Sepp. Das waren die Namen meiner Eltern. Damit waren die Besitzverhältnisse geklärt, die Fragenden wussten nun, wo sie mich hintun sollten, sie gingen zufrieden mit dieser Antwort weiter. So deutlich ausgesprochen fing das Dazugehören an. 585 Das Zitat verdeutlicht die Performativität von Zugehörigkeit als einer Praxis affirmierender Wiederholung, es verweist aber auch auf den mitunter identi‐ tätsfixierenden, imperativischen Charakter der Zugehörigkeitsfrage, die „jedes Mal“ aufs Neue ein eindeutiges Bekenntnis erzwingt. 586 Genauso wie bei der Frage nach der nationalen Herkunft wird das angesprochene Du auch in diesem Ritual von seiner Individualität entkoppelt; es wird nicht als eigenständiges Subjekt, sondern als Teil ‚seiner‘ Zugehörigkeitsgemeinschaft adressiert, mit ihr identifiziert und somit „entantwortet“ 587 . Anders als bei der Frage nach der nationalen Herkunft wird es zwar nicht a priori als nicht-zugehörig und ‚fremd‘ ausgegrenzt, in dem einen wie in dem anderen Kontext nutzen die Fragenden den Zugehörigkeitsbegriff aber als einen „Ordnungsbegriff “, in dem eine bestimmte Handlungsfähigkeit deutlich wird, „nämlich das Vermögen derjenigen, die sortieren, zuordnen und Plätze zuweisen“ 588 . Weil Zugehörigkeit als relationales Phänomen prozesshaft hervorgebracht wird, ist sie nicht nur eine Frage der subjektiven Empfindung und Selbst-Verortung, sondern auch des Verortet-Werdens von außen. Sobald die Zugehörigkeitsverhältnisse „geklärt“ und das Ordnungsbedürfnis der Fragenden gestillt ist, erfolgt ein Abbruch der Kommunikation: „[D]ie Fragenden wussten nun, wo sie mich hintun sollten, sie gingen zufrieden mit dieser Antwort weiter.“ Die spezifische Form von Relatio‐ nalität, welche die Sprechgattungen der Herkunfts- und Zugehörigkeitsdialoge hervorbringen, wäre demnach als monologisch zu charakterisieren: Der bzw. die ‚andere‘ wird im Rahmen dieses Sprechens nicht als gleichwertiges dialogisches Gegenüber adressiert, sondern entpersonalisiert, mithin zum (Besitz-)Objekt einer imaginären Gemeinschaft degradiert, deren Selbstbild auf ethnischen Identitätskategorien basiert und nach ihrer Maßgabe Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten reguliert. Die homogenisierenden Grenzziehungsme‐ 217 4.3 Dialogische Autorschaft 589 Die folgenden Ausführungen knüpfen an den Aufsatz „Die Aufrichtigkeit der Mehrspra‐ chigkeit“ an, den ich zusammen mit Anne Fleig verfasst habe. Vgl. bes. die Abschnitte „Begegnung statt Besitz: Yoko Tawada“ (S. 29-34) und „Ausblick: Dialogische Autor‐ schaft“ (S. 34-36). 590 Tawada, Überseezungen, S. 52. 591 Vgl. Yildiz, Beyond the Mother Tongue, S. 10-13. 592 Vgl. Claudia Benthien, Zwiespältige Zungen. Der Kampf um Lust und Macht im oralen Raum. In: Dies. / Christoph Wulf (Hrsg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 105-132, bes. S. 105-109. chanismen, die Müller in ihrem Niederungen-Band analysiert und als konstituie‐ rende Praktiken einer ethnozentristischen Ideologie des ‚Deutschtums‘ kritisiert (siehe Kap. 2), erfahren ihre Fortsetzung in den nationalen Herkunftsdialogen, in denen kollektive Selbstbilder wirksam werden, die sich an essentialisier‐ enden, abstammungsideologischen Vorstellungen einer ‚Volksgemeinschaft‘ orientieren. Sie sind ein Beispiel von vielen, die den „Hinzugekommenen mit anderem Akzent“ (König, 183) fortwährend im Alltag passieren, sie als ‚Fremde‘ identifizieren, den „hiesige[n] Deutsche[n]“ (König, 183) zur Bestätigung des ‚Eigenen‘ dienen und dabei auf hegemoniale Zugehörigkeitsordnungen rekur‐ rieren, die sie zugleich perpetuieren und stabilisieren. Ähnlich wie Müller in ihrem Vortrag „Bei uns in Deutschland“ problematisiert auch Tawada 589 in ihrem literarischen Essayband Überseezungen (2002) die Besitzansprüche und ausschließenden Implikationen, die bestimmten Formen der Rede innewohnen: Haben Sie eine Zunge? Das ist eine wichtige Frage. Haben Sie die Zunge, die man braucht, um hierher zu gehören? Nein, habe ich nicht. Denn meine Zunge kann die Wörter nicht so aussprechen wie die Zunge der Einheimischen. 590 Die Frage nach der Zunge wird als „wichtig“ wahrgenommen, denn durch sie wird die Möglichkeit eines wahrhaftigen Sprechens und Schreibens ungleich verteilt. Sie fungiert nicht nur als Prüfstein der Zugehörigkeit, sondern auch als autoritäre Sprechgebärde. Was harmlos klingt, erweist sich als ein in Frageform gehüllter Imperativ mit Ausschlusscharakter, welcher auf die affektiv hoch besetzte Norm der ‚Muttersprache‘ als dem vermeintlich natürlichen Ort ‚wahrer‘ Gefühle verweist. 591 Denn die Zunge agiert als Metonymie für Sprache in der fragilen Zone zwischen Authentizität und Unaufrichtigkeit. 592 Diese Zwiespältigkeit kommt auch in Redewendungen wie „sein Herz auf der Zunge tragen“ und „Reden mit gespaltener Zunge“ zum Ausdruck. An anderer Stelle hat Tawada selbst die geläufige Gleichsetzung von (literarischer) Zwei-/ Mehrsprachigkeit mit Doppelzüngigkeit problematisiert: 218 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 593 Yoko Tawada, Talisman [1996]. Tübingen 2015 (= 8. Auflage), S. 115. 594 Dies., Überseezungen, S. 70. 595 Ebd., S. 110. Ich hatte ein Bilderbuch, in dem ein fuchsartiges Tier abgebildet war. Seine Zunge war aus Flammen. So wie diese Flammen mit vielen kleinen Spitzen müsste eine Stimme aussehen, wenn sie einen sichtbaren Körper hätte. Im Allgemeinen wird es aber negativ bewertet, wenn jemand doppelzüngig ist. Traumtiere mit gespaltenen Zungenspitzen sind immer die Bösen, weil sie mehrere Töne gleichzeitig singen können. 593 Dieser pejorativen Sichtweise setzt die Autorin ihr ostentatives Bekenntnis zur Mehr-bzw. Doppelzüngigkeit entgegen („Ich habe […] viele Zungen“ 594 ), welches zugleich die fundamentale Infragestellung eines Konzepts von ‚Autorschaft‘ impliziert, das den Besitz einer (Mutter-)Sprache zur Bedingung wahrhaftigen Sprechens und Schreibens erklärt. Im folgenden Zitat offenbart schon der distanzierte Modus des Konjunktivs Tawadas kritischen Impuls gegen die muttersprachliche Norm: In Deutschland würden die meisten Menschen nicht behaupten, dass die deutsche Sprache von anderen nicht geschrieben werden darf. Aber indirekt geben sie einem immer wieder zu verstehen, dass die Sprache ein Besitztum sein muss. Sie sagen zum Beispiel, dass man eine Fremdsprache nie so gut beherrschen könne wie die Muttersprache. Man bemerkt sofort, dass das Wichtigste für sie die Beherrschung ist. Meiner Meinung nach ist es überflüssig, eine Sprache zu beherrschen. Entweder man hat eine Beziehung zu ihr oder man hat keine. Andere sagen, nur in der Muttersprache könne man authentisch seine Gefühle ausdrücken, in einer Fremdsprache lüge man unwillkürlich. Sie fühlen sich bei ihrer Suche nach dem authentischen Gefühl gestört, wenn sie ihre Sprache auf fremden Zungen sehen. 595 Die Beispiele belegen, dass Tawada das muttersprachliche Paradigma in ihren Texten als exklusiven Ausschlussmechanismus problematisiert. Die kritische Zurückweisung des Muttersprachenparadigmas erklärt sich zum einen aus seiner affektiven Dimension, die sich - sei es implizit oder explizit - permanent als Besitzanspruch artikuliert; zum anderen liegt sie in einer grundlegenden Sprachskepsis gegenüber der Möglichkeit authentischen Selbstausdrucks be‐ gründet: „Die meisten Wörter, die aus meinem Mund herauskamen, entsprachen 219 4.3 Dialogische Autorschaft 596 Dies., Talisman, S. 42 f. Vgl. dazu auch Christina Kraenzle, Travelling without Mo‐ ving. Physical and Linguistic Mobility in Yoko Tawada’s Überseezungen. In: Douglas Slaymaker (Hrsg.), Yoko Tawada. Voices from everywhere. Lanham 2007, S. 91-110, hier S. 104: „Throughout her writing, however, Tawada has persistently negated the notion that there is any possibility of unmediated - and therefore genuine or authentic - expression of emotion in any language, be it ‚native‘ or ‚foreign‘.“ 597 Vgl. Dirk Weissmann, Die verschiedenen Augen der Sprache(n). Zur Rolle von Mutter‐ sprache und Mehrsprachigkeit bei Herta Müller. In: Deeg / Wernli (Hrsg.), Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 177-191, hier S. 184. 598 Dies ist übrigens eine Einsicht, die nicht erst die jüngere (insbesondere fremdsprachen‐ didaktische) Forschung unter Begriffen wie ‚Sprachbewusstheit‘, ‚Sprachbewusstsein‘ oder ‚language awareness‘ diskutiert, sondern auch schon Bachtin formuliert hat. Seiner These zufolge befördert Mehrsprachigkeit ein distanziert-kritisches, „Vorbehalte machende[s] Verhältnis“ (Bachtin, Das Wort im Roman, S. 177) zur eigenen Sprache als zu einer unter vielen, sie bewirkt eine Pluralisierung und Verunsicherung von Wahrnehmungsweisen, mehr noch verleiht sie ein Gespür für „die Grenzen der Sprache als solcher“. Ebd., S. 212. nicht meinem Gefühl. Dabei stellte ich fest, daß es auch in meiner Muttersprache kein Wort gab, das meinem Gefühl entsprach.“ 596 Die Annahme einer Diskrepanz von Sprache und Gefühl und die damit einhergehende Infragestellung der Möglichkeit authentischen Selbstausdrucks rekurriert auf einen traditionsreichen Topos sprachkritischer Überlegungen, der auch von Müller aufgegriffen wird und durch die Erfahrung der Mehrsprachig‐ keit eine Bekräftigung erfährt: Es ist nicht wahr, daß es für alles Worte gibt. Auch daß man immer in Worten denkt, ist nicht wahr. Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, habe keine gefunden, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- oder Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können. (König, 14) Das Zitat macht deutlich, dass Müllers Sprachzweifel durch Mehrsprachigkeit, wenn nicht erzeugt, so doch bestätigt und verstärkt wird. 597 Anders als Rakusa, die Mehrsprachigkeit als eine additive Erweiterung ihres sprachlichen Reper‐ toires begreift (vgl. Kap. 3.2.3), assoziiert Müller ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit weder mit einem ‚Mehr‘ an Ausdrucksmöglichkeit noch an Zugehörigkeit. Vielmehr forciert Mehrsprachigkeit Sprachreflexion und -kritik, 598 indem sie zu Vergleichen anregt und die Kontingenz sprachlicher Zeichen beleuchtet: „Im einzig Selbstverständlichen blinkt auf einmal das Zufällige aus den Wörtern. Die Muttersprache ist fortan nicht mehr die einzige Station der Gegenstände, das Muttersprachenwort nicht mehr das einzige Maß der Dinge.“ (König, 26) Mit an‐ deren Worten: „Im Geschau anderer Sprachen“ (König, 26) wird das vermeintlich 220 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 599 Weissmann, Die verschiedenen Augen der Sprache(n), S. 177. 600 Yoko Tawada, Der Schriftkörper und der beschriftete Körper. In: Ute-Christine Krupp / Ulrike Janssen (Hrsg.), Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Frankfurt am Main 2000, S. 70-79, hier S. 72. 601 Dies., Sprachpolizei und Spiegelpolyglotte. Tübingen 2007, S. 27. 602 Dies., Talisman, S. 114. Eigene fremd und „der Absolutheitsanspruch der Muttersprache“ 599 , wenn nicht gebrochen, so doch wenigstens, wie Müller sagt, „relativiert“ (König, 26). Müller distanziert sich damit deutlich von der kulturellen Norm einer eindeutigen Zu‐ gehörigkeit zu einer vermeintlich ‚natürlichen‘ und selbstredend maßgeblichen ‚Muttersprache‘. Gleichzeitig entkräftet sie auch den hierarchischen Gegensatz von vermeintlich ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, indem sie die verschiedenen Spra‐ chen unter negativem Vorzeichen egalisiert: Alle Sprachen sind gleichermaßen unzulänglich, wenn es darum geht, Außersprachliches sprachlich umzusetzen. Ähnlich wie Müller den Unterschied zwischen ‚Muttersprache‘ und ‚Fremd‐ sprache‘ nivelliert, indem sie das vermeintlich naturgegebene Primat der ‚Mut‐ tersprache‘ durch die Annahme einer prinzipiellen Defizienz aller Sprachen unterminiert, löst auch Tawada die Begriffe von ‚Fremdsprache‘ und ‚Mut‐ tersprache‘ aus ihrer Oppositionsstarre. Die Begegnung mit einer ‚fremden‘ Sprache führt nicht etwa zur Beglaubigung des ‚Eigenen‘, sondern zu der Einsicht in die grundlegende Alterität des Sprechens: „In meinem Fall habe ich dadurch, daß ich nach Hamburg kam, eine doppelte Fremdheit gewonnen. Dort bin ich einer Fremdsprache begegnet und habe meine Muttersprache als eine Fremdsprache neu entdeckt.“ 600 Potenziert und zusätzlich auf die Spitze getrieben wird diese Entdeckung durch die Einsicht in die innere Vielstimmig‐ keit des Wortes: „Ein Wort ist eine Illusion. Ein Wort kann mehrere Worte sein, so wie eine Sprache zugleich mehrere Sprachen sein kann.“ 601 Wenn Tawada zufolge „mehrere Stimmen in einer Stimme“ 602 enthalten sind, das ‚Fremde‘ dem ‚Eigenen‘ also immer schon eingeschrieben ist, dann bedeutet dies auch eine Negation der Vorstellung von ‚Fremdsprache‘ und ‚Muttersprache‘ als einheitlich abgeschlossene Entitäten. Auch wenn sowohl Müller als auch Tawada die Besitzansprüche, die sich in den verschiedenen Formen der ausgrenzenden Alltagsrede artikulieren, zu‐ rückweisen und die Möglichkeit eines wahrhaftigen Sprechens in gleich welcher Sprache problematisieren, zeichnen sich zwischen den Mehrsprachigkeitspoe‐ tiken beider Autorinnen durchaus Unterschiede ab, die durch den Vergleich zu Rakusa zusätzlich an Kontur gewinnen. Alle drei Autorinnen widersprechen zwar der monolingualen Norm der ‚Muttersprache‘, indem sie das Potenzial der Mehrsprachigkeit poetisch und poetologisch produktiv und die Möglichkeit 221 4.3 Dialogische Autorschaft 603 Bei Rakusa drückt sich diese Möglichkeit zum Beispiel in der Metapher der „Sprachna‐ belschnur“ (MM, 276) aus, derer sich die Ich-Erzählern von Mehr Meer bedient, um ihr Zugehörigkeitsgefühl zur russischen Sprache zu beschreiben. Die Metapher suggeriert eine organische Verbindung zu einer anderen als der eigenen ‚Muttersprache‘ (bei Rakusa: das Ungarische) und kritisiert damit die leibliche Exklusivität, die dieser Begriff transportiert. 604 Dieses und vorhergehende Zitate: Ilma Rakusa, Intarsie und Kontrapunkt. Zum Fremd‐ sprachlichen in meinen Texten. In: Siller / Vlasta (Hrsg.), Literarische (Mehr)Sprachre‐ flexionen, S. 134-139, hier S. 137. 605 Auch Wetenkamp kommt nach Analyse der poetologischen Äußerungen der Autorin zu dem Schluss, dass Rakusa „nur der deutschen Sprache“ ein Gefühl des Besitzes und der souveränen Verfügung entgegenbringe und dass diese Sprache somit eine beson‐ dere Stellung im mehrsprachigen Sprachrepertoire Rakusas einnehme. Wetenkamp, „Gefühlsalphabete“, S. 255. 606 Matthias Lüthjohann, Gibt es einen monolingualen Affekt? Und wie kann man ihn provozieren? Tomer Gardis Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2016. In: Affective Societies Blog, 12.08.2018. URL: https: / / affectiv e-societies.de/ 2018/ sfb-1171/ gibt-es-einen-monolingualen-affekt-und-wie-kann-man-i hn-provozieren-tomer-gardis-lesung-beim-ingeborg-bachmann-wettbewerb-2016/ (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). einer innigen Verbindung mit mehr als einer Sprache geltend machen; 603 jedoch beziehen sie unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Frage der Sprachbe‐ herrschung. Am schärfsten grenzt sich Tawada gegenüber dieser Vorstellung ab, das entsprechende poetologische Schlüsselwort dazu lautet: „Beziehung“, wie das obige Zitat aus dem Band Überseezungen deutlich macht. Weniger deutlich hingegen scheint sich Rakusa von der Prämisse autorschaftlicher Souveränität und Sprachmächtigkeit zu lösen, wenn sie den Grundsatz aufstellt, dass das Spiel mit „Fremdheit und Verfremdung, Polyvalenz und Polyphonie“ nur unter der Voraussetzung zulässig sei, dass man „in einer Sprache sattelfest“ ist. Und diese eine Sprache (das Deutsche) bezeichnet sie ausdrücklich als „mein[e]“ 604 Sprache. Diese ostentative Besitzanzeige 605 bricht mit der seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Annahme, dass literarische Kreativität nur in der ‚Muttersprache‘ als einem natürlichen, gleichsam angeborenen Eigentum der sie sprechenden Menschen (engl. ‚native speaker‘) gedeihen könne. Zwar löst sich Rakusa von der Vorstellung eines „nativ-souveränen Autorsubjekts“ 606 , gleichzeitig perpetuiert sie aber die Annahme, dass die ‚Beherrschung‘ einer Sprache, wenn auch nicht der sogenannten „Muttersprache“, eine Grundbe‐ dingung literarischer Produktivität darstelle. Gegenüber Tawadas rigoroser Ablehnung eines Konzepts souveräner ‚Autorschaft‘ und Rakusas Insistenz auf Sprachbeherrschung vertritt Müller eine ambivalente Zwischenposition. Denn sie beantwortet die Erfahrung der entsinnlichenden „Inbesitznahme der Wörter“, wie ich weiter oben gezeigt habe, mit einer doppelten Reaktion: 222 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 607 Rakusa, Über mich. 608 „Sprache […] kann alles, ich misstraue ihr auch. […] Sie kann sich mit allem verbünden. Sie kann auch töten, sie kann retten, in einer Situation, in der es auf das richtige Wort ankommt.“ Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“, S. 131. Vgl. auch HS, 40: „Ich war gezwungen zu sehen, dass die Landessprache und meine Muttersprache, auch wenn sie die Welt noch so verschieden ansehen, zur Mördersprache taugen. Und bin gezwungen zuzusehen, dass alle Sprachen in allen Ecken der Welt dazu taugen. Und ich habe erlebt, wie schnell das geht, wenn so etwas einmal anfängt.“ 609 Vgl. Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“, S. 130. Zum körperlichen Eindruck, den die Wörter im sprechenden Subjekt hinterlassen, vgl. auch Müllers Kritik an der „Ödnis der Parteisprache“, die dem Wohlgeschmack der rumänischen Alltagsbzw. Landessprache deutlich kontrastiert (Apfelkern, 76): „Es konnte einem körperlich schlecht werden, wenn man in den stundenlangen Sitzungen saß. Ich fühlte mich bis unter die Zunge vollgestopft mit dem schlechten Geschmack der Wörter, als hätte ich alles essen müssen, was auf dem Podium geredet wurde. Ich konnte es nicht mehr schlucken.“ Einerseits stellt sie ihr das „Glück“ des Wortbesitzes gegenüber, andererseits praktiziert sie ein „Horchen“ auf die Wörter, das bisweilen bis ans Gehorchen reicht und somit den Verzicht auf Sprachbeherrschung unterstreicht. Während sie mit Rakusa das Wörtersammeln als aneignende Praxis teilt, verbindet sie mit Tawada eine grundlegende Skepsis gegenüber der Möglichkeit sprachlicher (Gefühls-)Wahrhaftigkeit. Für Müller gibt es, anders als für Rakusa, keine Sprache, auf die „Verlaß“ 607 wäre, weil Sprache als Praxis des Sprechens „alles“ 608 kann. Trotz der Differenzen, die sich im Spannungsfeld zwischen Sprachvertrauen und Sprachskepsis, zwischen Besitz, Bezug und Entzug zeigen, eint alle drei Autorinnen ein spezifischer Modus der Spracherfahrung, der in den Motiven der Zunge (bzw. des Schmeckens), des Auges (bzw. des Schauens/ Blickens) und des Ohres (bzw. des Horchens) seine sinnliche und sinnfällige Ausgestaltung findet und, wie ich zum Schluss dieses Kapitels skizzieren möchte, auf eine andere Form der Aufrichtigkeit verweist, die sich weder aus der souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ noch aus dem Besitz einer später hinzugekommenen Sprache, sondern aus Dynamiken des Affizierens und Affiziert-Werdens speist. Die Zunge ist nicht nur eng mit der Frage nach der (Un-)Möglichkeit wahr‐ haftigen Sprechens verknüpft, in den zitierten Texten von Müller und Tawada wird sie auch zur Chiffre einer körperhaft gedachten Sprache. Als Wahrneh‐ mungsorgan verweist die Zunge darüber hinaus auf das körperliche Erleben der Wörter, das dem begrifflichen Verstehen, wenn nicht entgegengesetzt, so doch vorgelagert ist und zwischen Innen und Außen vermittelt. Wenn Müller ihre erste Berührung mit der rumänischen Sprache als ein Geschmackserlebnis 609 beschreibt oder Tawada die Begegnung mit einer Fremdsprache als einen körperlichen Verwandlungsprozess begreift - „Eine Reise […] macht die Zunge 223 4.3 Dialogische Autorschaft 610 Tawada, Überseezungen, S. 117. 611 Arthur Rimbaud, Rimbaud à Georges Izambard. Charleville, [13] mai 1871. In: Ders., Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972, S. 248-254, hier S. 249. feucht. Wenn sie spricht, verwandelt sich der Körper“ 610 -, dann ist hiermit angezeigt, dass keine der beiden Autorinnen in der Position verharrt, dass sich ‚Inneres‘ nie angemessen in Sprache ausdrücken lässt. Vielmehr eröffnet die Erfahrung der Mehrsprachigkeit neue Blicke auf die sinnlichen Eigenschaften, die Affektivität und Materialität der Sprache(n) jenseits ihrer - in sprachskep‐ tischer Tradition problematisierten - Repräsentationsfunktion. Sie verlagert die Aufmerksamkeit von ‚im Inneren‘ des Individuums angesiedelten Emotionen und dem Problem ihrer sprachlichen Veräußerlichung auf die körperlich affizie‐ rende Kraft von Sprache und die relationalen Wirkungsdynamiken, die sich im Zusammentreffen mehrerer Sprachen ereignen und sowohl die Wahrnehmung von Sprache als auch die Wahrnehmung durch Sprache aus der Automatisierung herauslösen. Während das Motiv der Verwandlung im obigen Zitat von Tawada mit dem Motiv der Zunge verknüpft ist, steht es bei Müller mit dem Visuellen in Zusammenhang: „Von einer Sprache zur anderen passieren bei ein- und dem‐ selben Gegenstand jedes Mal Verwandlungen. Die Sicht der Muttersprache stellt sich dem anders Geschauten der fremden Sprache.“ (König, 25) Verschiedene Sprachen spiegeln verschiedene Ansichten der Welt. An diese sprachphiloso‐ phische Grundannahme knüpft auch Rakusa an, wobei sich in der Interaktion verschiedener Sprachen nicht nur die Sicht auf die Gegenstände, sondern, in Anspielung auf den berühmten Ausspruch von Arthur Rimbaud „JE est un autre“ 611 , auch das eigene Selbst verwandelt: „Ich bin jedesmal eine andere, verwandelt durch das Medium selbst.“ (Sprache, 30) Zur Inszenierung des körperlich-affektiven Sprachempfindens gehört ein ständiger Vergleichsprozess, der die verschiedenen Sprachen nach ihrem sinn‐ lichen Potenzial unterscheidet: So faszinieren Rakusa die „sinnlich kompakten Nominalkomposita“ des Deutschen; die russische Sprache hingegen schätzt sie für ihren „Reichtum an affektiven Suffixen“ (Sprache, 30 f.). Müller stellt fest, dass die rumänischen Wörter im Unterschied zum Deutschen „große Augen“ (König, 15) machten, womit metaphorisch ihre ausgeprägte Sinnlichkeit gemeint ist, aber auch das kindliche Staunen der Autorin im Spiegel der Sprache. „Das Staunen und Bestaunen ist spätestens seit den Manifesten des russischen Formalismus, eigentlich aber schon seit Aristoteles eine poetische Qualität, die die Dinge der Welt fremd erscheinen lässt und dadurch überhaupt erst wahrnehmbar macht“ 612 , wie Brokoff erläutert. In den Poetiken der drei Auto‐ 224 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 612 Brokoff, Herta Müller (2009), S. 237. 613 Florian Gelzer, Sprachkritik bei Yoko Tawada. In: Waseda-Blätter 6 (2000), S. 73-101, hier S. 84. 614 Tawada, Der Schriftkörper und der beschriftete Körper, S. 71 f. - Ähnlich geht Müller in ihrer Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ „an einen autobiogra‐ phischen Nullpunkt zurück, das heißt, sie versucht sich dem Moment zu nähern, wo das Ich in die Sprache eintritt“. Dabei nutzt sie „den kindlichen Blick, um ein materielles und buchstäbliches Begreifen von Sprache darzustellen“. Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers, S. 176 f.; zur Inszenierung eines „Nullpunkts“ der Erfahrung vgl. auch Rakusa, Die Insel, S. 24: „Nach Etymologien zu forschen, die er nicht kennen konnte, hatte er inzwischen aufgegeben, doch versuchte er das Wort so zu erfahren, als hörte er es zum erstenmal [sic! ]. Die anderssprachige Umgebung begünstigte das Experiment.“ 615 Tawada, Überseezungen, S. 33. rinnen wird es als eine Haltung inszeniert, die eine (kritische) Infragestellung des scheinbar Selbstverständlichen signalisiert, und als ein ästhetisch-aistheti‐ sches Konzept profiliert, das eine Desautomatisierung eingeschliffener Wahr‐ nehmungsmuster bewirkt. Ihre konkrete Umsetzung findet diese Haltung in der Inszenierung einer kindlich verfremdenden Wahrnehmungsperspektive, wie sie bei Müller und Rakusa anzufinden, mehr noch aber für Tawada charakteristisch ist, deren Texte stets aufs Neue „die gleiche Grundsituation des Fremdseins und der Fremdheit der neuen Sprache“ 613 entwerfen. Der ‚fremde‘ Blick ist einerseits autobiographisch motiviert, andererseits bewusst hergestellt. Seine wiederholte Re-Inszenierung beschreibt Tawada als eine absichtsvolle Ohnmachtserfahrung, die der Erneuerung der Wahrnehmungsfähigkeit dient: „Ich will am Beginn jedes neuen Textes an den Punkt Null zurückgeworfen werden, den Punkt der Sprachlosigkeit, an dem kein Satz selbstverständlich einen Sinn produzieren kann.“ 614 Wenn dieser „Punkt Null“ als affektiv zu beschreiben ist, so deshalb, weil er gewissermaßen vor aller fixierten Semantik und konventionell verfes‐ tigten, kulturell kanalisierten Bedeutung liegt. Die Erfahrung eines Zustands gesteigerter Wahrnehmungssensibilität, in dem „keine Bedeutung im Weg steht“ 615 , sondern die materiale Eigenwertigkeit der Sprache spürbar wird, wird in ähnlicher Weise auch bei Rakusa wieder‐ holt thematisiert und reflektiert: „Das Moldawische rinnt weich durch meine Ohren […]. Tut nicht weh, weil ich nur seinen Klang verstehe.“ (MM, 114) Die Sprache als Klang affiziert körperlich. Im Prozess des Spracherwerbs tritt die Sinnhaftigkeit der Sprachen immer wieder hinter ihre Sinnlichkeit zurück: „Noch heute nähere ich mich fremden Sprachen mit dem Ohr an. Gerade weil ich nichts verstehe, wird mir ihre Klanglichkeit plastisch“ (MM, 114). Rakusa, das musikalisch sozialisierte „Ohrenkind“ (MM, 112), behandelt „auch die Worte wie Musik“ (MM, 114), wenn sie mit den lautlichen Strukturen von Sprache operiert 225 4.3 Dialogische Autorschaft 616 Ilma Rakusa, Der Tumult des Kopforchesters, S. 76-80; Farbband, 177; vgl. auch Sprache, 30. 617 Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers, S. 180. 618 Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 224. und sich als Dirigentin ihres mehrstimmigen „Kopforchesters“ 616 inszeniert. Müller begreift sich zwar nicht so dezidiert wie Rakusa als polyphone Autorin, aber auch sie entwickelt ein poetologisches Verständnis von Musikalität (vgl. Kap. 4.2.3) und lässt sich von der klanglichen Nähe der Wörter zueinander leiten: „Und weil der Zug auf Rumänisch TREN und die Träne im Banater Dialekt TRÄN heißt, glich das Quietschen der Züge auf den Schienen in meinem Kopf immer dem Weinen.“ (Schnee, 12 f.) Die zitierten Beispiele deuten auf die Möglichkeit einer anderen Aufrich‐ tigkeit hin, die sich in der Beziehung des Autors zur Sprache zeigt. Diese Aufrichtigkeit begründet sich weder auf der referentiellen Intention des Autors noch auf der Verifizierbarkeit seiner Aussagen. Weil es weder ein spezifischer Akt der Äußerung noch dessen Inhalt ist, der sie verbürgt, ist sie auch an keine distinkte Redegattung gebunden. Vielmehr beruht diese Aufrichtigkeit auf einem Sprachethos der vielstimmigen Affizierbarkeit, das über den Anspruch auf Faktenwahrheit hinausreicht. Die sinnliche Affizierbarkeit des Autorsub‐ jekts ist für dieses Ethos zentral, das „einen kurzfristigen Nebeneffekt des Spracherwerbs“ 617 - die Wahrnehmung der Sprache in ihrer Materialität und Eigenpräsenz - zu einer Grundhaltung erhebt, die immer wieder neu gewonnen werden muss und ein Moment des Widerspruchs in sich trägt. In kritischer Ab‐ setzung von den Zugehörigkeitspolitiken, die in den ausgrenzenden Gattungen des Sprechens wirksam und durch die Norm der ‚Muttersprache‘ legitimiert werden, machen die drei Autorinnen, trotz der dargelegten Unterschiede, eine insgesamt dialogische Haltung zum Sprachmaterial geltend. Diese Haltung hat ihr Fundament nicht in der Sprachkompetenz, sondern in der Affektfähigkeit des (Autor-)Subjekts, also in seinem Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden. Ein solches Subjekt ist weder eines, das sich von der Sprache sprechen lässt, ihr restlos überantwortet ist, noch eines, das von der Vorstellung einer souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ geleitet ist. Es ist vielmehr eines, das mit der Sprache spricht und sich von ihr auch affektiv ansprechen lässt, indem es kein Wort als selbstverständlich nimmt, sondern zu ihm in Relation tritt - seine spezifischen Besonderheiten „mit feinem Ohr“ 618 und mit wachem Auge wahrnimmt. 226 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 619 Schaffrick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 311. 620 Dusini, Tagebuch, S. 23. 621 Gerhard Kaiser / Torsten Hoffmann, Echt inszeniert. Schriftstellerinterviews als For‐ schungsgegenstand. In: Dies. (Hrsg.), Echt inszeniert, S. 9-28, hier S. 12. 622 Dusini, Tagebuch, S. 25. Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion Dieses Kapitel hat verschiedene Formen des Sprechens und Schreibens unter‐ sucht, die sich auch als Zusammenhang zwischen multiplen Gattungen und Zugehörigkeiten beschreiben und auf fünf Funktionen aufteilen lassen. Da diese Funktionen Frageansätze für weitere Untersuchungen bereithalten, möchte ich sie im Folgenden gebündelt zusammenfassen: a) Erzeugung von „Welthaltigkeit“ In meiner Analyse von Rakusas Mehr Meer und Müllers Herztier habe ich - in enger Auseinandersetzung mit den poetologischen Texten der Autorinnen und mit ergänzendem Blick auf andere Bücher wie Mein Alphabet oder Der Fuchs war damals schon der Jäger - darauf hingewiesen, dass die eingebetteten Sprechgattungen ihren primären Ursprung in lebenspraktischen und alltags‐ weltlichen Zusammenhängen haben. Rakusas Listen, die (Selbst-)Interviews in Mehr Meer und Mein Alphabet, Lolas Tagebuch und die persönlichen Briefe der Protagonisten in Herztier sind nur einige Beispiele für derartige Formen des Sprechens, die bei aller Heterogenität ein gemeinsames Merkmal verbindet: die Prekarität ihrer Zugehörigkeit zu den Gattungen des literarischen Ausdrucks. Was Schaffrick und Werber für die (Un-)Form der Liste festgestellt haben, lässt sich im Prinzip für alle diese Gattungen sagen: Sie sind „ästhetisch rechenschaftspflichtig, weil sie die Frage nach ihrer künstlerischen Legitimität aufwerfen“ 619 . Aufgrund ihres Wirklichkeitsbezugs respektive faktualen/ außer‐ fiktionalen Charakters werden sie häufig, wie es Arno Dusini für die Gattung des Tagebuchs und des Briefs konstatiert, als „Gebrauchstextsorten“ 620 wahrge‐ nommen bzw., wie es Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser für die Form des Interviews festhalten, als „minderwertige und unterkomplexe Textsorten“ 621 betrachtet. Müller und Rakusa fordern die „fatale Diskursgrenze“ 622 , die terminologisch durch die Unterscheidung zwischen (künstlerischen/ fiktionalen) ‚Gattungen‘ und (nicht-künstlerischen/ faktualen) ‚Textsorten‘ gekennzeichnet wird, nach‐ haltig heraus, indem sie in ihre Werke eine Fülle an Formen integrieren, die sich gemäß dieser Grenzziehung außerhalb der Literatur situieren und im litera‐ turwissenschaftlichen Diskurs entsprechend wenig Anerkennung finden. Fatal 227 Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion 623 Vgl. ebd., S. 25: „Wenn all das an Sprache, was als außerhalb der Literatur gelegen angesehen wird, aus dem Verstehen von Literatur ausgegrenzt wird, wird Literatur de facto nur mehr durch Literatur erklärbar. Die Folge davon wäre das Verschwinden der Geschichte aus der Literatur.“ 624 Renate Lachmann / Sylvia Sasse, Dialogische Obertöne. Nachwort. In: Bachtin, Sprech‐ gattungen, S. 173-207, hier S. 174. 625 Bachtin, Sprechgattungen, S. 8. 626 Ders., Das Wort im Roman, S. 289. ist diese definitorische Grenze deshalb zu nennen, weil sie dazu neigt, die lite‐ rarischen Gattungen gegen die historisch-gesellschaftliche Sprechwirklichkeit abzuschotten. 623 Mit Bachtin, der „Gattungen jenseits des Künstlerischen“ 624 zu beschreiben versucht, ist demgegenüber die „allgemeine Wortnatur (sprachliche Beschaffenheit)“ 625 hervorzuheben, die alle Äußerungen des Sprechens - unab‐ hängig davon, ob sie in mündlicher oder schriftlicher Form getätigt werden - miteinander teilen. Weil Bachtins erweiterter Gattungsbegriff Gemeinsames betont, ohne Tren‐ nendes zu verschweigen, hat er sich für die Analyse der Werke von Rakusa und Müller als nützlich erwiesen: Wenn die Werke der beiden Autorinnen höchst heterogene Gattungen in sich aufnehmen, so geschieht dies nicht primär, um das Alltägliche „zu ‚veredeln‘“ 626 bzw. literarisch aufzuwerten. Zumal Müller hat immer wieder die schöpferischen Potenziale betont, über die auch und gerade die alltäglichen Gattungen des Sprechens - Schimpfworte, Sprichwörter und Redewendungen sowie die Bilder des Aberglaubens - verfügen und damit die Dichotomie von poetischer Sprache und alltäglicher Rede (mithin von Kunst und Leben) nachdrücklich zurückgewiesen. Vielmehr dienen die eingebetteten Gattungen beiden Autorinnen dazu, eine Form der Vielstimmigkeit zu kreieren, die ihrer Literatur eine spezifische „Welthaltigkeit“ (Rakusa) verleiht. b) Reflexion von Brüchen und Ambivalenzen der Nicht-/ Zugehörigkeit Ich habe Müllers und Rakusas Werk als ein formal höchst vielgestaltiges beschrieben, das zum Disparaten und Heterogenen neigt, worin sich das Brüchige, dadurch aber auch Teilbare multipler, prekärer oder ambivalenter Nicht-/ Zugehörigkeiten zeigt. In der Brüchigkeit und Heterogenität der Form liegt eine eigene Wahrhaftigkeit, weil sie dem ‚beschädigten‘ Leben in der Diktatur (Müller) bzw. der Mannigfaltigkeit der fragmentarisch erinnerten Wirklichkeit (Rakusa) einen angemessenen Ausdruck verleiht. c) Dialogisierung des Autobiographischen Die interne Gattungsvielfalt bewirkt eine Öffnung der Texte zur „tatsächlichen Redevielfalt“ 627 des sprachlichen Lebens. Sie entspricht einem Wahrhaftigkeits‐ 228 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 627 Ebd., S. 164. 628 Mecheril, Prekäre Verhältnisse, S. 9. 629 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperia‐ lismus, totale Herrschaft [1955]. Von der Autorin übersetzter und durchgesehener Text. München 2019 (= 21. Auflage), S. 975. streben, das poetologische Suchbewegungen initiiert und mit der Sprache ringt. Das Zusammenspiel von ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Rede, das ich am Beispiel von Mehr Meer analysiert habe, lässt die Einheit des sprechenden/ schreibenden Subjekts brüchig werden, ohne seine Existenz aufzuheben. Mithin bedingt dieses Zusammenspiel eine Dialogisierung des Autobiographischen: Das Ich der Erinnerungspassagen gibt sich als ein relational verfasstes zu erkennen, welches die Vielstimmigkeit seiner sozialen Umwelt wahrnimmt, auf sie reagiert und sich in der Bezugnahme auf ein Gegenüber dialogisch konstituiert. d) Subversion des offiziellen Diskurses Die vielstimmige Suche der Figuren in Herztier nach Sphären des Sprechens, die fernab des Zugriffs staatlicher Kontrolle liegen, bringt höchst heterogene Gattungen der Rede zueinander in Beziehung: die Gattungen des autobiogra‐ phischen Diskurses (wie Tagebuch und Brief), die ungehörigen Formen des Sprechens (Flüche, Schimpfworte) und die Äußerungen jenseits des Sprechens (musikalische Formen des Ausdrucks) markieren Orte eines heimlich konno‐ tierten Ringens um Wahrhaftigkeit, das die Autorin mit ihren Figuren teilt und in dem sich der Zusammenhang zwischen prekären Zugehörigkeiten und prekären Gattungen aufs Allerdeutlichste zeigt. Den Begriff der ‚Prekarität der Zugehörigkeit‘ habe ich aus der sozialwis‐ senschaftlichen Zugehörigkeitsforschung entnommen, wo er „das Problema‐ tischwerden von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit“ 628 durch Migration beschreibt. Müllers Roman fragt nach der (Un-)Möglichkeit freundschaftlicher Bindung im Verstrickungszusammenhang bzw. „Knäuel aus Liebe und Verrat“ (Schnee, 63); er verhandelt die prekäre Gefährdung von Zugehörigkeit unter totalitären Lebensverhältnissen und wählt somit eine Perspektive, wie sie in der migrationszentrierten Zugehörigkeitsforschung bisher nicht eingenommen wurde, in der politischen Theorie aber, wie ich angedeutet habe (vgl. Kap. 4.2.1), von Arendt entwickelt wurde. Ausblickhaft sei hier gesagt, dass es äußerst interessant wäre, Arendts Begriff der ‚Verlassenheit‘ mit Bachtins Theorie des Dialogischen ins Gespräch zu bringen, die unter den Bedingungen stalinis‐ tischer Diktatur entstanden ist und sich, wie schon mehrmals erwähnt, als chiffrierter Protest gegen totalitäre Ideologien lesen lässt. „Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins“ 629 in der totalen Herrschaft ist laut Arendt die 229 Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion 630 Ebd., S. 976 f. 631 Dies., Sokrates. Apologie der Pluralität. Berlin 2016, S. 26. 632 Dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 977. 633 Die internationale Zugehörigkeitsforschung hat hier eine Reihe von verschiedenen Begriffen ins Spiel gebracht: „The opposite of belonging may be exclusion; it may also be isolation, alienation, loneliness, dis-placement, uprootedness, disconnection, disenfranchisement or marginalization.“ Sarah Wright, More-than-Human. Emergent Belongings: A Weak Theory Approach. In: Progress in Human Geography 39/ 4 (2015), S. 391-411, hier S. 395. Verlassenheit, die sie in der englischsprachigen Version ihrer monumentalen Totalitarismus-Studie als Erfahrung der Nicht-Zugehörigkeit („the experience of not belonging to the world at all“) und mithin als vollumfängliches Herausfallen aus sämtlichen dialogischen Bezügen beschreibt: „Verlassenheit und Einsamkeit sind nicht dasselbe […]. In der Einsamkeit bin ich eigentlich niemals allein; ich bin mit mir selbst zusammen, und dies Selbst […] ist zugleich auch jedermann.“ 630 Während das einsame Selbstgespräch dialogisch verfasst sei - an anderer Stelle spricht sie auch davon, dass es „die Signatur der Pluralität“ 631 in sich trage -, sind Menschen in der Verlassenheit (‚loneliness‘) „wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst“ 632 , das ihre Einsamkeit (‚solitude‘) teilte und zu einem Ort der Kommunikation machte. Diese Differenzierung kann nicht nur dazu anregen, über das Gegenteil von ‚belonging‘ nachzudenken, um unterschiedliche affektive Phänomene genauer zu beschreiben, 633 sondern lässt sich auch für Müllers Poetik der Nicht-/ Zuge‐ hörigkeit produktiv machen, die den „Diskurs des Alleinseins“ (Teufel, 57-73), das Selbstgespräch, als eine Möglichkeit beschreibt, sich unter entfremdenden Lebensverhältnissen selbst zuzugehören. Das Gespräch mit sich selbst zählt zu den heimlichen Gattungen des Sprechens, die - entgegen der These eines ‚dik‐ tatorischen Erzählens‘ - im Roman Herztier dazu dienen, die vielstimmige Suche der Figuren nach Möglichkeiten eines wahrhaftigen Sprechens vorzuführen. Der Status dieser Gattungen ist ein doppelt prekärer: Die heimlichen Formen des Sprechens sind prekär sowohl hinsichtlich des ungesicherten Orts, den sie im literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskurs einnehmen, als auch hinsichtlich der Formen der sozialen Zugehörigkeit, die sie hervorbringen. Als Zugehörig‐ keitsressourcen einer intellektuellen Freundes-/ Dissidentengruppe (Kap. 4.2.1), als Nischen eines inoffiziellen, nicht zensurkonformen und tabubrechenden Sprechens (Kap. 4.2.2) sowie als Ort der Mitteilung heimlicher Wünsche und Sehnsüchte (Kap. 4.2.3) beinhalten diese Gattungen eine begrenzt subversive Komponente: Die Chiffrierungen, die die Freundesgruppe in Herztier vornimmt, um briefliche Mitteilungen vor der Securitate geheim zu halten, erweisen sich 230 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 634 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 979. 635 Bachtin, Sprechgattungen, S. 56. als zwiespältige Kommunikationsstrategie. Denn einerseits unterlaufen sie die „organisierte Verlassenheit“ 634 , in die der totalitäre Staat die Freunde zwingt. Andererseits erzeugen sie eine Mehrdeutigkeit, die den „nichtigen Dingen […] wichtige Schatten“ (König, 134) verleiht und somit den Verlust der Selbstver‐ ständlichkeit bezeugt. Eine solche Zwiespältigkeit hat sich nicht nur für die intimen, über eine „besondere […] innere Aufrichtigkeit“ 635 verfügenden Formen des Sprechens gezeigt, sondern konnte auch für die Formen des ungehörigen Sprechens festgestellt werden, die - genauso wie die in den Text inkorporierten Lieder - eine Öffnung zum Mündlichen signalisieren: Flüche können von der Macht „gebrochen“ (Fuchs, 9) werden und erweisen sich als verletzliche Objekte. Ähnlich verhält es sich mit den Liedern der rumänischen Folklore, in denen sich geheime Sehnsüchte, alternative Sichtweisen der Welt und Gefühle der Verlassenheit und des Verrats artikulieren (vgl. etwa das Lied „Wer liebt und verlässt“ von Tănase): In ihren poetologischen Texten erklärt Müller, diese Lieder seien subversiv durch ihre Authentizität. Im Roman hingegen werden sie als lediglich fragiles Besitztum (belonging) der „lebendigen Bevölkerung“ (HS, 81) ausgewiesen. Weil sich mit ihrer Hilfe Unsagbares sagen lässt, werden sie als Bedrohung der staatlichen Macht wahrgenommen; zugleich aber werden sie als etwas dargestellt, das selbst bedroht und verletzlich ist. Da der Prozess ihrer Verwendung durch verschiedene Akteure ihre individuelle und politische (Miss-)Brauchbarkeit zeigt, können sie, anders als es die Zuschreibungen der poetologischen Texte zunächst suggerieren, nicht als etwas per se und inhärent Widerständiges angesehen werden. e) Dialogische Autorschaft: Zugehörigkeitspoetik als Sprechpoet(h)ik Als letzte Funktion der internen Gattungsvielfalt lässt sich der Entwurf einer Poetik der Zugehörigkeit nennen, deren Zentrum nicht die Sprache, sondern das Sprechen bildet und die insofern ein ethisches Moment in sich trägt, als sie die Möglichkeit einer Verortung in und durch Sprache mit der Verantwortung des Sprechenden für das Gesprochene in Zusammenhang bringt. An früheren Stellen dieser Arbeit (vgl. Kap. 2.2) und in meiner Analyse der Gattungsvielfalt im Roman Herztier (vgl. Kap. 4.2.2) habe ich Müllers Nicht-/ Zugehörigkeitspo‐ etik mit einer Formulierung des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún in Verbindung gebracht, die Müller in ihren poetologischen Texten wiederholt zitiert und zu einem programmatischen Leitsatz erhoben hat: „Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.“ (König, 30) Wie ich gezeigt 231 Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion 636 Ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 225. 637 Vgl. ders., Das Wort im Roman, S. 184: „Die Sprache ist kein Neutrum, das rasch und ungehindert in das intentionale Eigentum des Sprechers übergeht; sie ist mit fremden Intentionen besetzt, ja überbesetzt.“ 638 Vgl. Lachmann / Sasse, Dialogische Obertöne, S. 202; zur „Unaufkündbarkeit von Au‐ torschaft“ und die damit einhergehende „Verantwortung des Sprechenden fürs Gesagte wie des Schreibenden fürs Gedruckte“ vgl. auch Rainer Grübel, Bachtins Philosophie der ästhetischen Handlung und ihre Aktualität. In: Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, S. 317-352, hier S. 342. habe, findet diese mündlichkeits- und praxisorientiere Sichtweise auf Sprache ihre performative Umsetzung im Roman Herztier, in dem Müller vorführt, wie verschiedene Formen der Äußerung durch verschiedene Akteure gebraucht und missbraucht werden, im Übergang „von Mund zu Mund, von einem Kontext zum anderen“ 636 eine zugehörigkeitsstiftende Funktion erhalten und auch wieder einbüßen. Einerseits veranschaulicht Müller hierdurch die Eigendynamik der Sprache als soziales Phänomen: Weil Sprache im Prozess ihrer lebendigen (und notwendig gattungsgebundenen) Verwendung durch unterschiedliche Münder wandert und sich dabei mit den Intentionen und Akzenten verschiedener Sprecherinnen bzw. Sprecher verbindet und anreichert, ist sie weder dazu geneigt, dem einzelnen Sprechbzw. Autorsubjekt vollständig zu gehören noch ihm restlos zu gehorchen. 637 In ihrer Wider- und Eigenständigkeit übersteigt die Sprache immer schon die Intentionen ihrer Benutzerinnen und Benutzer, die doch zugleich verändernd auf sie einwirken. Andererseits macht Müller darauf aufmerksam, dass Sprache kein subjektloser Prozess ist, sondern im Tun von bestimmten Akteurinnen bzw. Akteuren in spezifischen historischen Kontexten realisiert wird. Die Praktiken des Zitierens und Re-Zitierens ‚fremder‘ Äuße‐ rungen reden keiner subjektfreien Konzeption von ‚Intertextualität‘ das Wort; vielmehr führen die Prozesse der individuellen Aneignung, Umdeutung und auch der machtvollen Usurpation ‚fremder‘ Rede ein Konzept von ‚Dialogizität‘ vor Augen, das auf der Autorschaft der Äußerung und somit auch auf der Verantwortung des Sprechenden fürs Gesprochene besteht. 638 Die Auseinandersetzung mit der internen Gattungsvielfalt, die ein verbin‐ dendes Element der Schreib- und Nicht-/ Zugehörigkeitspoetiken beider Au‐ torinnen bildet, mündet somit in ein ethisch grundiertes Verständnis von Autorschaft, das den Akzent auf das im Begriff der ‚Verantwortung‘ bereits angelegte dialogische Moment setzt und ein kritisches Widerspruchspotenzial enthält: Müllers Essays und Vorträge wenden sich gegen bestimmte Formen des Sprechens, deren ‚entantwortenden‘ (Terkessidis) Charakter sie kritisieren, weil sie das einzelne Individuum zum Besitzobjekt einer identitären Gemeinschaft degradieren (vgl. Kap. 4.3.2). Diese, schon im Frühwerk Müllers angelegte Kritik 232 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 639 Lachmann / Sasse, Dialogische Obertöne, S. 202. 640 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 281. 641 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 977. an kollektiver Identität (vgl. Kap. 2) wird in der Einsicht, dass „Sprache immer im Einzelfall lebt“ und man ihr deshalb „jedesmal aufs neue [sic! ] ablauschen [muß], was sie im Sinn hat“ (König, 39), in spezifischer Weise reaktualisiert. Denn hier wird eine Poetik der Zugehörigkeit formuliert, welche die Betonung vom besitzanzeigenden Aspekt des Zugehörens zur auditiven Dimension des Zuge‐ hörens verschiebt. Anders gesagt wird hier eine Sprechpoetik stark gemacht, die zugleich eine Ethik des Hörens ist und sich jenseits des Kollektiven definiert, indem sie sich auf das einzelne Sprechbzw. Autorsubjekt „als verantwortliche, aktive Instanz“ 639 bezieht. Am Beispiel des Topos von „Sprache als Heimat“ habe ich darüber hinaus illustriert, dass die ausgestellte Sensibilität des Ohres neben der Kritik an der entsinnlichenden ideologischen Inbesitznahme der Wörter auch die Forderung nach einem historisch bewussten Umgang mit den Wörtern und der Geschichte ihres Gebrauchs einschließt. Für Müller wie für Bachtin kommt es darauf an, wer unter welchen Umständen spricht oder gesprochen hat, sich ein ‚fremdes‘ Wort angeeignet und es mit seinen Intentionen angereichert hat, denn: „das ist es, was den tatsächlichen Sinn des Wortes konstituiert.“ 640 Auch für Rakusa sind „Sensibilität und ein feines Gehör“ zentral, wie sie in ihrem autobiographisch fundierten Buch Mein Alphabet im Modus des (Selbst-)Interviews erklärt: Interessiert dich die Sprache mehr als die Stoffe? Sie interessiert mich vital, und ich vertraue ihrer Eigendynamik. Für spannende Plots bin ich nicht zuständig, für sprachliche Bewegungen schon. Die Sprache ist für mich nicht nur der Gradmesser, wie Menschen kommunizieren, sondern Indiz für Sensibilität und ein feines Gehör. Außerdem ist sie - Klang, ein wunderbares Klanginstrument. Siehst du die Verantwortung des Schriftstellers im Bereich der Sprache? Auf jeden Fall. Wer, wenn nicht der Schriftsteller muss wissen, wie er spricht. (MA, 183 f. [Herv. M. A.]) Während es für Müller wichtig ist, „was gesprochen wird“, betont Rakusa das ‚Wie‘ und somit die Form des Sprechens. Im Gegensatz zu Müller, die an vielen Stellen ihr tiefgreifendes Misstrauen gegenüber der Sprache zum Ausdruck gebracht und in ihrem Roman Herztier dargestellt hat, dass Menschen in totalitären Systemen - um noch einmal Arendts Gedanken aufzugreifen - „nicht nur von anderen Menschen und der Welt“ 641 , sondern auch von der Sprache verlassen sind und ins isolierende Schweigen getrieben werden, verlässt 233 Drittes Zwischenresümee und weiterführende Reflexion 642 Erste Ansätze zu einer „Poetik des Gesprächs“ bei Müller entwickelt Susanne Düwell, „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“. Zur Ästhetik der Hörbücher/ Hörtexte Herta Müllers. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 98-113, hier S. 109 f. 643 Torsten Hoffmann, Die Ausschaltung der Einschaltung des Autors. Autorkritische Selbstinszenierungen in Interviews von Reiner Müller und W.G. Sebald. In: Christoph Jürgensen / Gerhard Kaiser (Hrsg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken - Typo‐ logie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 313-341, hier S. 316. sich Rakusa auf das Deutsche als Sprache ihres literarischen Ausdrucks und ihrer Selbstgespräche. Bei allen Unterschieden zeichnet die Zugehörigkeitspoetiken beider Autorinnen jedoch aus, dass sie die Verantwortung des Autorsubjekts über einen hörenden (horchenden) Zugang zur Sprache definieren und ein Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit praktizieren. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Rakusa diesen Zusammenhang in der zitierten Passage in Form eines Selbstbzw. Autorinneninterviews entfaltet. Auf die Gattungen des Selbstgesprächs und des Interviews bin ich in diesem Kapitel an mehreren Stellen punktuell eingegangen; auf Grundlage dieser Beobachtungen wäre es interessant zu fragen, inwieweit die Zugehörigkeits- und Sprechpoetiken der beiden Autorinnen eine Verdichtung zu einer Poetik des Gesprächs erfahren. 642 In jedem Fall lässt sich sagen, dass die eingebetteten Selbstbzw. Autorinneninterviews, die sowohl in Mehr Meer als auch - und stärker noch - in Mein Alphabet einer Inszenierung von Autorschaft dienen, eine „Entparatextualisierung“ 643 dieser ‚Textsorte‘ bewirken: Indem Rakusa das Selbstbzw. Autorinneninterview in ihr Formenrepertoire aufnimmt bzw. in ihre literarischen Texte hineinnimmt, befreit sie es von dem marginalen Status, der ihm seit Gérard Genettes zuerst (1987) auf Französisch erschienenem Buch vom Beiwerk des Buches im literaturwissenschaftlichen Diskurs zuteilwird. Genauso wie die Gattung der Poetik-Vorlesung fristen diese Formen des Sprechens ein Leben am außerliterarischen bzw. außerfiktionalen Rand des vermeintlich ‚eigentlichen‘ literarischen Werks. Diese Verortung ist zumindest für die Texte der hier im Zentrum stehenden Autorinnen grundlegend zu hinterfragen. An verschiedenen Beispielen habe ich auf die Interdependenzen und engen Verflechtungen hingewiesen, die sich zwischen den poetologischen Reden der beiden Autorinnen und ihren literarischen Texten im engeren Sinne ergeben. Im nächsten Kapitel wird es darum gehen, das Verfahren zu beschreiben, welches diese Verflechtungen produziert, indem es Verbindungen zwischen verschiedenen Gattungen stiftet und damit ein dialogisches Kontinuum erzeugt, das die Unzertrennlichkeit von Leben und Literatur performativ belegt: die Wiederholung. 234 4 Prekäre Zugehörigkeiten - prekäre Gattungen 644 In Teilen dieses Kapitels greife ich auf die gemeinsam mit Anne Fleig und Matthias Lüthjohann verfasste Einleitung zum Sammelband „Affektivität und Mehrsprachigkeit“ (Tübingen 2019, S. 7-31) und meinen ebenfalls dort erschienen Aufsatz „Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller“ (S. 85-101) zurück. 645 Károly Csúri / Joachim Jacob, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Prinzip Wiederholung. Zur Ästhetik von System- und Sinnbildung in Literatur, Kunst und Kultur aus interdiszipli‐ närer Sicht. Bielefeld 2015, S. 9-20, hier S. 9 [Herv. M. A.]. 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit Die Wiederholung ist ein ebenso ambivalentes wie vielgestaltiges Phänomen. Sie berührt viele der Fragen und Probleme, von denen bislang die Rede war, und besitzt daher das Potenzial, diese in veränderter Perspektive zu rekapitulieren und neu zu strukturieren. Das erste Unterkapitel soll einen Eindruck von der enormen Spannbreite vermitteln, welche die Wiederholung - als Ausdruck einer Ästhetik des Alltäglichen, als musikalisches Verfahren sowie als Zuspitzung des prekären Verhältnisses zwischen ‚künstlerischen‘ und ‚nicht-künstlerischen‘ Gattungen des Sprechens - im Werk beider Autorinnen bietet. Im zweiten Un‐ terkapitel werde ich einen kurzen Forschungsüberblick über die verschiedenen Betrachtungsebenen und Deutungsmöglichkeiten geben, die in der Müller- und Rakusa-Forschung zur Wiederholung kursieren. Im Anschluss hieran werde ich im dritten Unterkapitel eine eigene theoretische Perspektive entwerfen, die ich im vierten Unterkapitel analytisch konkretisiere. 644 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen Als Gewohnheiten und Routinen durchdringen Wiederholungen nahezu sämt‐ liche Bereiche unserer Lebenswelt und bestimmen unsere Alltagsvollzüge. „Von Festen, Gedenkfeiern und Ritualen über Experimente und Reprodukti‐ onsverfahren bis zu intertextuellen Bezügen, Ideen- und Motivübernahmen, historisierenden Verfahren oder Neuinszenierungen lassen sich unzählige Er‐ scheinungen und Tätigkeiten als Praxis der Wiederholung kennzeichnen oder unter ihrem Begriff subsumieren.“ 645 Mehr noch stellt sich jegliche soziale „Praxis als Wiederholung“  646 dar, insofern sie grundsätzlich zwischen Struktur und Stabilität einerseits sowie Dynamik und Veränderung andererseits changiert. 646 Hilmar Schäfer, Praxis als Wiederholung. Das Denken der Iterabilität und seine Konsequenzen für die Methodologie praxeologischer Forschung. In: Ders. (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld 2016, S. 137-159. 647 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. Übersetzt von Joseph Vogl. 2., korrigierte Auflage. München 1997, S. 375; frz. Original: Ders., Différence et répétition [1968]. Paris 2000, S. 375. 648 Rakusa, Die Insel, S. 14. 649 Ebd., S. 121. 650 Ebd., S. 60. 651 Max Lüthi, Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. Düssel‐ dorf / Köln 1975, S. 91. Dieser changierende Charakter entspricht dem zwiespältigen Verhältnis, das beide Autorinnen gegenüber der Wiederholung haben. Nicht nur bedienen sich Müller und Rakusa des Mittels der Wiederholung in seinen vielfältigen Formen und Funktionen (Wiederholung als rhythmisierendes Strukturierungsprinzip sowie lexikalische, syntaktische und motivische Wiederholungen bis hin zu Wiederholungen größerer Erzählkomplexe und spezifischer affektiver Konstel‐ lationen). Sie haben die Wiederholung sogar zum Gegenstand von expliziter Reflexion erhoben. Bereits Rakusas erstes Buch Die Insel, das von der Selbstsuche und Selbstfin‐ dung eines Mannes nach einer zerbrochenen Ehe handelt, bringt verschiedene Formen von Wiederholung zur Sprache: Die von Deleuze beschriebenen „öden Wiederholungen der Gewohnheit“ 647 („des mornes répétitions de l’habitude“), jene „Mechanismen einer Zweierbeziehung, die zu durchbrechen keiner der Beteiligten imstande ist“ 648 , sieht der Protagonist, ein Schriftsteller mit zwang‐ haften Marotten und neurotischen Charakterzügen, als Ursache des Scheiterns seiner Ehe an. Seine Reflexionen münden in eine regelrechte Poetik des neuen Sehens, die sich programmatisch gegen „Abstumpfung“ 649 und eine „Ästhetik der Langeweile“ 650 durch Wiederholung richtet. Während die Gleichförmigkeit ritualisierter Handlungsvollzüge in diesem Text eher in negativem Licht erscheint, hat Rakusa an anderen Stellen die haltgebende Funktion sich wiederholender Alltagspraktiken hervorgehoben. So etwa in ihrer Poetik-Vorlesung Farbband und Randfigur, die mit einer Kind‐ heitserinnerung beginnt: „Mit einer Erinnerung an das, was mein Verhältnis zur Literatur von Grund auf geprägt hat: an das Märchen.“ (Farbband, 5) In ihm erfuhr das Kind das „‚Urmuster‘ allen Erzählens“, das ihm „Halt und Ge‐ wißheit“ (Farbband, 11) spendete. Nicht nur bildet die Wiederholung „eines der augenfälligsten Stil- und Kompositionsmerkmale“ 651 dieser Form des Erzählens; auch ist das Märchen als eine ursprünglich oral tradierte Form der Literatur auf 236 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 652 Pastuszka, „Transit, Transfinit. Transnationality“, S. 548. 653 Auch diese Rede nimmt ihren Ausgang wieder von der Erinnerung an die ungarischen Kettenmärchen, die Rakusa in ihrer Kindheit so gerne hörte und die eine ähnlich narkotisierende Wirkung auf sie ausübten wie später die Endloslitaneien russisch-or‐ thodoxer Liturgien. Vgl. Rakusa, Listen, Litaneien, Loops, S. 7. 654 Vgl. Schaffrick / Werber, Die Liste, paradigmatisch, S. 311. Performanz angelegt und in ritualisierte Praktiken des Vorlesens und Zuhörens eingebunden („Das Märchen am Abend, wenn ich zu Bett ging“, Farbband, 5). In Mehr Meer führt Rakusa ihre Reflexion über die beschwichtigende Wirkung auf Wiederholung beruhender Formen des Erzählens fort und interpretiert sie als affektives Gegenmittel gegen die nomadische Lebensweise: „Wieviel Angst verband uns unter wechselnden Himmeln. Ich glaube, sie erzählte mir Märchen, um sich selbst zu beruhigen. Um diesen andern, den Wortfluß, gegen das Staccato der Veränderungen aufzubieten.“ (MM, 40) Die „permanenten Grenz‐ überschreitungen“ 652 und transitorischen Übergänge finden sich in den Erinne‐ rungspassagen stets mit einer Sehnsucht nach „Stabilität“ und „Halt“ (MM, 314) verbunden, die nicht nur explizit artikuliert wird, sondern sich in verschiedenen Praktiken konkretisiert und mittels Wiederholung als literarischem Verfahren auch performativ zur Geltung gebracht wird. Zu diesen Praktiken, die gleichsam einen Kontrapunkt zum Motiv des Nomadischen setzen, gehören neben dem Märchenerzählen auch die „langsamen, monotonen Rituale griechischer, russi‐ scher Gottesdienste“ (MM, 20), für die sich die Ich-Erzählerin interessiert, oder das Sammeln (vgl. Kap. 3.2.2), das sie mit Leidenschaft praktiziert und welchem die alltägliche Kulturtechnik des Auflistens (vgl. Kap. 3.2.3) korrespondiert. In ihrer 2016 abgehaltenen Münchner Rede zur Poesie Listen, Litaneien, Loops hat Rakusa diese Technik ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit verschiedenen Gedichtformen gestellt, die strukturell auf Wiederholung basieren und Formen der Liste literarisch funktionalisieren. 653 Es lässt sich also feststellen, dass sich Rakusa von ihrem Frühwerk an mit der Wiederholung und ihren ambivalenten Wirkmechanismen beschäftigt hat. Diese Auseinandersetzung reflektiert kontinuierlich über spezifische Gattungen des Sprechens, Formen des Erzählens und Aufzählens (wie Märchen, Gebet oder Liste), die Rakusa ausgehend von den alltäglichen oder rituellen Gebrauchskon‐ texten analysiert, in die sie eingebettet sind. Rakusas ausgeprägtem Interesse an Formen, die aufgrund ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit die „Frage nach ihrer künstlerischen Legitimität aufwerfen“ 654 , entspricht auf inhaltlicher Ebene die Thematisierung von Gewohnheiten, Tagesritualen und scheinbar 237 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen 655 „Man erfährt von einer Autorin, die im Bett Geborgenheit findet, morgens Joghurt isst und Kartoffeln ‚Krümpli‘ nennt […]. Viel Alltägliches ist dabei, auch Banales“, stellt Ul‐ rike Baureithel fest. Ein anderer Kritiker fragt lapidar: „Wer genau möchte dies wissen? “ Ulrike Baureithel, Mein Alphabet von Ilma Rakusa. Ein Geruch nach Tang und Im‐ mergrün. In: Der Tagesspiegel, 27.09.2019. URL: https: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ m ein-alphabet-von-ilma-rakusa-ein-geruch-nach-tang-und-immergruen/ 25041118.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Felix Münger, Mein Alphabet - Von A wie Achselzu‐ cken bis Z wie Zärtlichkeit. In: Schweizer Radio und Fernsehen, 01.11.2019. URL: https: / / www.srf.ch/ kultur/ literatur/ mein-alphabet-von-a-wie-achselzucken-bis-z-wie-zaertlic hkeit (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 656 Meurer, Diktatorisches Erzählen, S. 194. 657 Bettina Bannasch, Herrenloses Heimweh. Heimat und Exil in der Prosa Herta Müllers. In: Doerte Bischoff / Susanne Komfort-Hein (Hrsg.), Literatur und Exil. Neue Perspek‐ tiven. Berlin / Boston 2013. S. 337-356, hier S. 337. nichtigen Gegenständen, die, wie verschiedene Buchkritiken zu Mein Alphabet zu erkennen geben, als wenig literaturwürdig erachtet werden. 655 Die Schilderung von Ritualen, Brauchtum und Gewohnheiten stellt auch bei Müller einen zentralen Gegenstand ihrer Dorftexte dar, wobei der Fokus hier weniger auf individuelle Verhaltensmuster gerichtet ist, als vielmehr auf Performanzen von Gemeinsamkeit (wie etwa Trauer- und Reinigungsrituale), die stilistisch durch Parallelismus und Wiederholungsfiguren wiedergegeben werden und einer Kritik kollektiver Identität dienen (vgl. Kap. 2). Diese Kritik bleibt nicht auf den dörflichen Nicht-/ Zugehörigkeitskontext beschränkt, son‐ dern findet ihre Fortsetzung in der Analyse sprachlicher Identifikationsrituale, wie Müller sie „bei uns in Deutschland“ (König, 181; vgl. Kap. 4.3.2) (wieder-)er‐ lebt hat. Auch hier begibt sich Müller in die ‚Niederungen‘ des Gewöhnlichen, um die exkludierenden Grenzziehungsmechanismen sichtbar zu machen, die sich in vermeintlich banalen Alltagssituationen niederschlagen. Wie zur Sprache überhaupt, hat Müller zur Wiederholung ein äußerst ambivalentes Verhältnis: In ihrem Essay „Hunger und Seide. Männer und Frauen im Alltag“ (1990) bezeichnet sie die Wiederholung als „die zuverlässigste Methode des Regimes“ (HS, 75) - und macht damit darauf aufmerksam, dass die Wiederholung Machtverhältnisse zementiert. Gleichzeitig bedient sich Müller in ihren Romanen und Erzählungen der Wiederholung als einem subversiven Verfahren: „Eine diktatorische Technik [wird] zur Kritik an der Diktatur ge‐ nutzt.“ 656 Wiederholbare „Fertigteile“ (König, 152), festgefügte Wendungen der Alltagssprache - Routineformeln, Gemeinplätze, Sprichwörter, Redensarten - kommen in ihren Texten auffällig häufig vor. Sie werden im distanzierenden Gestus des Zeigens, im Modus der Vorführung also, „wie die Fundstücke einer fremden Sprache“ 657 präsentiert und damit zur kritischen Disposition gestellt. 238 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 658 Herta Müller, Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Roman. Hamburg 1997, S. 26. Zur Funktion dieser Rituale vgl. Wolfgang Braungart, Auch eine reflexive Moderne. Herta Müllers Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. In: Carsten Dutt / Roman Luckscheiter (Hrsg.), Figurationen der literarischen Moderne. Festschrift für Helmut Kiesel. Heidelberg 2007, S. 43-56, hier S. 45: „Sie können das Subjekt schützen, weil es sich in seiner subjektiven Verletzbarkeit in ihnen verstecken kann. Auf die Gewalt- und Unterwerfungsrituale der Macht reagiert die Ich-Erzählerin mit eigenen Ritualbildungen.“ 659 Diese Selbstvergewisserungsmethode verbindet nicht nur die Figuren mit ihrer Au‐ torin, die sich auf dem Hin- und Rückweg vom Verhör „Gedicht- und Liedtexte im Schritttempo“ (Apfelkern, 136) aufsagte, sondern stellt in Müllers Terminologie eine geteilte Praxis von sogenannten „Angstmenschen“ (Falle, 19) dar. In lebensbedrohlichen Situationen nimmt Literatur - zumal jene, die aufgrund ihrer Kürze und sprachlichen Form leicht einprägsam ist - Gebrauchscharakter und eine existenzielle Bedeutung an: „In Rumänien haben sich viele Menschen an Gedichte gehalten. […] Gedichte passen zur Unsicherheit, man hat sich durch ihre Worte selber im Griff. Sie sind ein tragbares Stück Halt im Kopf. Man kann sie ganz, wortgenau und lautlos aufsagen. Ruth Klüger spricht von ‚gebundener Sprache‘ in haltloser Zeit. Mit Gedichteaufsagen im Kopf hielt sie sich aufrecht bei stundenlangen Appellen in Ausschwitz.“ (Falle, 18) Trotz solcher Parallelen hat Müller wiederholt darauf hingewiesen, dass der für ihre poetologischen Das formelhafte Sprechen kontrastiert einerseits mit der relationalen Dy‐ namik des Sprachmaterials, die sich nur unter der Voraussetzung dialogischer Autorschaft entfalten kann. Andererseits hebt Müller, genauso wie Rakusa, die existenzielle Ankerfunktion ritueller Abläufe und formelhafter Wiederholung hervor. Zu solchen haltgebenden Sätzen zählt beispielsweise die wiederkeh‐ rende Frage der Mutter „HAST DU EIN TASCHENTUCH? “ (Schnee, 7), um die Müllers Nobelvorlesung kreist. Als „indirekte Zärtlichkeit“ - „eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht“ (Schnee, 7) - verweist sie auf die spezifischen Emotionsregeln, genauer: ‚expression norms‘ (Arlie R. Hochschild) der dörflichen Lebenswelt. Auch in der städtischen Diktatur spielen sich wiederholende Rituale in ihrer schutzspendenden Funktion eine zentrale Rolle. Im Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet entwickelt die Protagonistin persönliche Rituale (mit dem rechten Fuß zuerst aufstehen, eine Nuss essen, grüne Bluse anziehen), um den ihrerseits ritualförmig wiederkehrenden Verhören etwas entgegenzusetzen: „Wenn man bestellt wird, gewöhnt man sich Sachen an, die etwas nützen. Wirklich oder nicht, darauf kommt es nicht an. Nicht man, ich habe mir diese Sachen angewöhnt, eine nach der anderen kamen sie angeschlichen.“ 658 Eine ähnliche Strategie der Selbstvergewisserung und auch der existenziellen Selbstbehauptung stellen im Roman Herztier die Praktiken des lauten Aufsagens oder des stillen Sich-in-den-Mund-Sprechens von Gedicht- und Liedtexten dar, 659 die eine Öffnung des Textes in Richtung volksliterarischer und -musika‐ 239 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen Texte zentrale Bezug auf Autorinnen und Autoren, deren Leben und Schreiben durch die Erfahrung des Holocaust geprägt wurde, keine Gleichsetzung nationalsozialistischer Verbrechen mit dem Leben unter der Ceauşescu-Diktatur suggerieren soll. Vgl. etwa Schnee, 230: „Ich habe meine Angst, mit der ich in den Mühlen des Geheimdienstes während der Ceauşescu-Zeit zu leben hatte, nie mit dem Nationalsozialismus verwech‐ selt.“ 660 Vgl. zum Beispiel van Hoorn, Tarnkappen, Geheimsprachen, Schmuggelware, S. 159. lischer Formen des Sprechens signalisieren, von den Figuren immer wieder wie ein Mantra bekräftigt werden und im Vollzug ihrer Wiederholung neue Bedeu‐ tungsschichten und affektive Aufladungen generieren (vgl. Kap. 4.2.3). Indem Müller das soziale Leben dieser Gattungen demonstriert und mithin ihre Wan‐ delbarkeit in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen illustriert, zeigt sie die Wiederholung als ein dynamisches Geschehen. Während in den Niederungen das Mittel der Wiederholung vor allem dazu dient, einen statischen Identitäts‐ begriff zu kritisieren bzw. den Aspekt der Selbstheit und Immer-Gleichheit vorzuführen, der diesem Begriff bereits etymologisch eingeschrieben ist, betont Herztier das Moment der Veränderung in der Wiederholung, indem es auf den (Ver-)Nutzungsprozess fokussiert, der sich im Leben bestimmter Gattungen des Sprechens vollzieht. Diese dynamische Perspektive ist aber keinesfalls als per se ‚besser‘ zu bewerten als die Starrheit evozierenden Wiederholungsstrukturen in Erzählungen wie „Das schwäbische Bad“ oder „Dorfchronik“ (vgl. Kap. 2). Denn Herztier führt ja gerade vor, dass die Differenz in der Wiederholung die haltge‐ bende Funktion des (Re-)Zitierten zerstören kann. Ein Beispiel hierfür war das Gedicht von Naum, das Müller - ähnlich wie das Lied „Wer liebt und verlässt“ - im Roman durch verschiedene Münder wandern lässt. Die Forschung hat diese Wanderungsbewegung mitunter als leitmotivisches Geschehen interpretiert, 660 was mich zum nächsten Punkt bringt: zur Wiederholung als musikalischem Verfahren. Als Wiederholungskunst par excellence gilt gemeinhin die Musik. Gleich‐ wohl spielt die Wiederholung auch im Bereich von Sprache und Literatur seit jeher eine zentrale Rolle - man denke nur an die antike Rhetorik, die Wiederholungs- und Variationsfiguren wie Anapher, Epipher, Epanalepse usw. bekanntlich viel Beachtung geschenkt hat. Verfahren der Wiederholung sind in der Literatur omnipräsent: angefangen von der mündlich tradierten Dichtung, die schon aus Gründen der Memorierbarkeit mit Wiederholungsstrukturen wie Reim, Metrum, Rhythmus und Refrain operierte, bis hin zur Gegenwartsliteratur und der Wiederholungsmanie eines Thomas Bernhard - um einen Autor zu 240 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 661 Die Ausführungen in diesem Absatz sind angelehnt an den Glossar-Eintrag zum Begriff ‚Wiederholung‘ von Nicola Gess. In: Dies. / Alexander Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur & Musik. Berlin / Boston 2017, S. 617. 662 Ernest Wichner, Herta Müllers Selbstverständnis. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 3-5, hier S. 3. - Allerdings haben verschiedene Selbstaussagen der Autorin diese psychologisierende Lesart, die weite Teile insbesondere der englisch‐ sprachigen Müller-Forschung dominiert, wenn nicht provoziert, so doch begünstigt. 663 Diese geschlechtsspezifische Dimension überlagert sich mit anderen Formen der Marginalisierung, die entlang zeitlicher und räumlicher Differenzlinien verlaufen. In ihrem Vortrag „Bei uns in Deutschland“ (vgl. Kap. 4.3.2) reagiert Müller auf den in Rezensionen immer wieder erhobenen Vorwurf, sich an vermeintlich „längst Vergan‐ gene[m]“ und immer gleichen Themen abzuarbeiten, die mit der bundesdeutschen Gegenwart nichts zu tun hätten. Ihre Kritik gilt den Bedingungen der Zugehörigkeit, die in diesen Vorwürfen und vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen zum Vorschein treten: „Ich erlebe es bei jedem Buch: deutsche Literaturkritiker formulieren zwar etwas komplizierter als die deutschen Brezel- oder Aspirinverkäufer [Müller bezieht sich hier auf die Herkunftsfragen, mit denen sie aus Anlass ihrer als andersartig wahrgenommenen Aussprache konfrontiert wurde, Anm. M. A.], aber ihre Wünsche gehen in dieselbe Richtung. Auch sie wollen endlich den hiesigen Akzent in meinen Büchern sehen. Sie raten mir, mit der Vergangenheit aufzuhören und endlich über Deutschland zu schreiben.“ (König, 184 f.). nennen, den Müller zu ihren literarischen Vorbildern zählt und den man heute beim Wort ‚Wiederholung‘ vielleicht zuallererst assoziiert. 661 Interessant ist, dass Bernhard der Müller wiederholt gemachte Vorwurf des künstlerischen Stillstands erspart geblieben ist. Mit Ernest Wichner lässt sich hier fragen: „Warum wird dem einen Autor [gemeint ist Thomas Bernhard, Anm. M. A.] Beharrlichkeit und Charakterstärke nachgerufen, während man dem anderen Autor - der Autorin in unserem Falle - Beschränktheit ihres Stoffes vorhält und günstigenfalls eine persönliche Traumatisierung gelten lassen will, die irgendwann einmal überwunden sein möge.“ 662 Artikuliert sich in diesen differierenden Auslegungen der (immer noch) prekäre Status weiblicher Autorschaft? Hängen die unterschiedlichen Auslegungen womöglich mit einer nach Geschlecht verteilten Wiederholungs(in)toleranz der Literaturkritik zu‐ sammen? 663 Verhindert die biographisch-psychologisierende Lesart von Müllers Werken die Wahrnehmung des sowohl künstlerischen als auch politischen Aspekts, der in der persistenten Wiederholung des vermeintlich Immergleichen steckt? Die Aussage einer anderen Wiederholungskünstlerin und Sprachkompo‐ nistin - Elfriede Jelinek - unterbreitet ein Deutungsangebot: „Er [Bernhard, Anm. M. A.] hat den Prozeß der Wiederholung ins Extrem getrieben, da er immer wiederholte und immer wieder die gleiche Sache, nicht nur innerhalb eines Buches, sondern in allen seinen Büchern. Wenn der Leser das mitmachen kann, 241 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen 664 Myriam Anissimov, Elfriede Jelinek. La musique est ailleurs. In: Le Monde de la Musique 3 (1991), S. 94-96, hier S. 95. 665 Ernst Osterkamp, Das verkehrte Glück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.1997, L 3. URL: http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristi k/ herta-mueller-heute-waer-ich-mir-lieber-nicht-begegnet-das-verkehrte-glueck-1873 711.html (zuletzt abgerufen am 20.03. 19.05.2022). Vgl. auch Sabine Kebir, So rot wie ein Beet Klatschmohn. In: Die Tageszeitung, 14.10.1997. URL: https: / / taz.de/ So-rot-wi e-ein-Beet-Klatschmohn/ ! 1378211/ (zuletzt abgerufen am 19.05.2022): „Wird sich die Autorin auch in Zukunft immer nur an ihrem Geburts- und Jugendtrauma Rumänien abarbeiten? […] Es wäre zu schade, wenn das außerordentliche Talent der Herta Müller mit der Zeit in den Verdacht käme, […] weiter nur die klaffenden Wunden zu beklagen, die die Diktaturen schlagen, nicht aber die Eiterbeulen zu sehen, die von den schleichenden Krankheiten der sogenannten Demokratien zeugen.“ 666 Zur Qualifizierung Müllers als ‚musikalische‘ Autorin vgl. den Forschungsüberblick bei Ogrodnik, Musik im Werk Herta Müllers, S. 14; zur Charakterisierung der Wie‐ derholungsverfahren als Technik des ‚Leitmotivs‘ vgl. beispielsweise das von Eke herausgegebene Müller-Handbuch, wo dieser Begriff sowohl im Zusammenhang mit Müllers früher Prosa (vgl. S. 21 und S. 23) als auch im Zusammenhang mit den drei Diktatur-Romanen Der Fuchs war damals schon der Jäger, Herztier und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet fällt (S. 32, S. 34, S. 37 f., S. 41, S. 48, S. 50 und S. 54). dann weil Bernhard dies in einer musikalischen Weise gemeint hat, und nicht in einer semantischen Weise.“ 664 Die Vermutung, die sich aus dieser Perspektive ableiten ließe, wäre, dass Müllers Kritikerinnen und Kritiker ihre Wiederho‐ lungen womöglich deshalb als „Anzeichen einer künstlerischen Stagnation“ 665 werten, weil sie diese nicht nach musikalischen Prinzipien vollziehe. Ein Blick in die Forschung scheint eine solche Vermutung zu widerlegen: Dort wird Müller häufig als eine „musikalische“ Autorin beschrieben und ihr Verfahren der variierenden Wiederholung bestimmter Bilder, Motive und Symbole oftmals unter den Terminus des ‚Leitmotivs‘ gefasst. 666 Mit diesem Begriff wird nicht nur Müllers künstlerischer Umgang mit dem Mittel der Wiederholung hervor‐ gehoben, sondern auch suggeriert, dass Müllers Literatur eine Annäherung an musikalische Verfahrensweisen unternimmt. Genaugenommen impliziert der Leitmotivbegriff, der seit Richard Wagner eng mit der monumentalen Gattung ‚Oper‘ und ihrer Sinfonisierung verkoppelt ist, eine strukturelle Orientierung an großmusikalischen Kompositionsformen und Gattungen, was in gewisser Spannung zu den inhaltlichen Musikbezügen steht, die in Müllers Literatur fast ausnahmslos dem Bereich ‚kleiner‘, populärmusikalischer Formen (z. B. Volkslieder) entstammen. Der Leitmotivbegriff, der in der Literaturwissenschaft häufig in einem sehr weiten Sinne verwendet wird, hat für Müllers Romane den‐ noch durchaus seine Berechtigung. Dies nicht nur hinsichtlich der formelhaften Wiederkehr eines spezifischen, mitunter an bestimmte Figuren 667 gebundenen Wortmaterials, sondern - spezifischer - auch hinsichtlich der affektiven Di‐ 242 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 667 Der Komponist Claude Debussy hat die musikalischen Leitmotive in Wagners Musik‐ dramen einmal polemisch als „Visitenkarten“ der Figuren bezeichnet (zit. nach Arne Stollberg, Leitmotiv. In: Gess / Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur & Musik, S. 602-603, hier S. 602). Die Leitmotive in Müllers Herztier lassen sich sicherlich nicht auf die Funktion der Figurencharakterisierung beschränken, jedoch fällt auf, dass die im Text wiederkehrenden Lieder und Gedichte immer in Verbindung mit einzelnen Figuren oder Figurengruppen zitiert werden: Während das Gedicht von Naum der Ich-Erzählerin und ihren drei Freunden Georg, Kurt und Edgar zugeordnet wird, erscheint das Lied „Wer liebt und verlässt“ an die Figur Terezas gebunden. 668 Vgl. Stollberg, Leitmotiv, S. 602 f. - Zum unauflöslichen Ineinander der Zeitebenen vgl. zudem die chiastische Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart in Müllers Neologismen „Vergangenwart“ und „Gegenheit“ (König, 107). 669 Vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 28. mension, die aus der Verschränkung der zeitlichen Ebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsteht und als ein zentrales Merkmal der Leitmotivik gilt. 668 Inwieweit die Registrierung der Spannung zwischen der Zitation ‚kleiner Formen‘ einerseits und ihrer ‚großmusikalischen‘ Verarbeitung andererseits als Ansatzpunkt für eine Kritik der Kritik an der geschlechtlich konnotierten Geringschätzung von Müllers Wiederholungskunst dienen kann, wäre weiter zu erwägen. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass diese Geringschätzung auf Hierarchisierungen aufmerksam macht, die auf dem Zusammenhang von Gattung und Geschlecht basieren und multiple Formen der Marginalisierung weiter perpetuieren. Mit Bachtins Konzept der ‚Sprechgattungen‘ sowie seiner Theorie der ‚Poly‐ phonie‘ - auch ein musikwissenschaftlicher Terminus, dessen metaphorische Verwendung Bachtin im ersten Kapitel seines Dostojewski-Buches expliziert - 669 habe ich in der Analyse von Herztier einen theoretischen Ansatz produktiv ge‐ macht, der eine Problematisierung des Verhältnisses zwischen ‚künstlerischen‘ und ‚nicht-künstlerischen‘ Formen der Äußerung impliziert und tendenziell dazu in der Lage ist, hierarchisierende und dichotomisierende Sichtweisen der Gattungen zu überwinden. Dies insofern, als Bachtin die wechselseitige Durch‐ dringung und das Austauschverhältnis zwischen ‚einfachen‘ und ‚komplexen‘ Formen des Sprechens betont. Den polyphonen Roman charakterisiert Bachtin als ein für viele Gattungen und Formen des Sprechens durchlässiges ästhetisches Gebilde, das an der sozialen Redevielfalt partizipiert, sie in sich integriert und künstlerisch transformiert. Auch die Gattungsvielfalt in Rakusas bisher einzigem umfangreicheren Buch habe ich mithilfe dieses Konzepts zu deuten versucht und dabei vor allem das Moment des Heterogenen, Fragmentarischen und Disparaten betont. Mit der Wiederholung rückt demgegenüber ein Prinzip ins Blickfeld, das Zusammenhänge innerhalb des Sammelsuriums der aufgele‐ senen Gattungen, Formen und Erinnerungssplitter schafft: Rakusa verwendet 243 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen 670 Sylvia Sasse, „Die große Form liegt mir nicht.“ Über den Wind am Mittelmeer, Brodskij im Garten und Kiš im Montparnasse. Ein Gespräch mit Ilma Rakusa über ihre Autobio‐ graphie Mehr Meer und den osteuropäischen Literaturbetrieb. In: Novinki, 19.01.2010. URL: https: / / www.novinki.de/ sasse-sylvia-die-grosse-form-liegt-mir-Nicht-/ ? print-po sts=word&; print-posts=word&print-posts=word&print-posts=print (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 671 Vgl. etwa Katrin Schneider-Özbek, (Liebes)Kampf der Kulturen und wortgewaltige Verzauberung. Interkulturalität in den autobiographischen Romanen von Natascha Wodin und Ilma Rakusa. In: andererseits 2 (2011), S. 171-184, hier S. 183; vgl. auch Finnan, Cartographies of Self, S. 210 sowie Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 328. ihrer eigenen Aussage nach „Leitmotive, wiederkehrende ‚Muster‘“ 670 , um den Text zu musikalisieren und Beziehungen zwischen dem Disparaten zu stiften. Diese wiederkehrenden Muster finden sich nicht nur innerhalb einzelner Werke, sondern bewegen sich häufig über die Grenzen einzelner Texte hinweg. Das schon im Frühwerk angelegte „Nomadenmuster“ (Steppe, 13), dessen Variationen ich durch unterschiedliche Texte gefolgt bin, war dafür ein Beispiel. Darüber hinaus zeigt sich, dass immer wieder auch größere, über den Begriff des ‚Leitmotivs‘ hinausreichende Einheiten, ja ganze ‚Versatzstücke‘ - um einen Terminus zu gebrauchen, den Rakusa selbst verwendet (vgl. Farbband, 113) und der auch vor dem Hintergrund der häufig apostrophieren ‚Mosaikhaftigkeit‘ 671 ihres Werks angemessen erscheint - wiederholt, variiert und neu kombiniert werden. Unter ‚Versatzstücken‘ verstehe ich im Folgenden flexible, autobiographisch konnotierte, relativ selbstständige und deshalb leicht isolierbare Erzählkom‐ plexe, die sich auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen Thema und Motiv bewegen und sich insofern durch mehrfache Zugehörigkeiten aus‐ zeichnen, als sie an verschiedenen Publikationsorten anzutreffen sind. Ihre textübergreifende Wiederholung unterläuft die Singularität des einzelnen Werks und knüpft Verbindungen zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen, wo‐ durch die Problematisierung von Gattungsgrenzen und -hierarchien eine deut‐ liche Zuspitzung erfährt, was mich zu dem nächsten Punkt übergehen lässt: Wiederholung als Zuspitzung der Gattungsproblematik. „Denn alle Sätze sind ohnehin ein einziger Satz, sowie [sic! ] alle Texte ein ein‐ ziger Satz sind, und alle Bücher. Ja, auch wenn man über Jahre hin verschiedene Bücher schreibt, schreibt man immer an einem einzigen Satz“ (Teufel, 35), so Müller in einem ihrer frühen poetologischen Texte. In der Tat scheint ihr - und auch Rakusas - Werk aus einem begrenzten, relativ stabilen Fundus oder Reper‐ toire von autobiographisch verankerten Themen, Motiven und Konstellationen zu schöpfen, die bereits im Frühwerk angelegt sind und geradezu ostentativ 244 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 672 Zur Problematisierung der Unterscheidung zwischen ‚primären‘ und ‚sekundären‘ Formen des Schreibens vgl. Kempke, Vorlesungsszenen der Gegenwartsliteratur, S. 71 und S. 269-340 (= Kap. „Poetikvorlesung als (Para-)Text? “). 673 Bozzi, Autofiktionalität, S. 163. 674 „Ich weiß nicht, ich halte alles für gleichwertig“, gibt Müller als Antwort auf diese Frage. Volker Blech, „Ich würde nicht ohne Schere dichten.“ Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller stellt am heutigen Sonntag ihre Collagen im Schloss Neuhardenberg vor. Ein Interview. In: Berliner Morgenpost, 16.09.2018. URL: https: / / www.morgenpost.de/ k ultur/ article215336153/ Ich-wuerde-nicht-ohne-Schere-dichten.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). 675 Urs Meyer, Sprachbilder oder Bildsprache? Herta Müllers mediale Miniaturen. In: Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik 6 (2009), S. 29-38, hier S. 31. URL: http: / / www.sagg-zeits chrift.unibe.ch/ 6_09/ meyer.pdf (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). wiederholt und variiert werden. Diese Praxis des Wieder- und Weitererzählens kann als eine Performanz der Unabgeschlossenheit angesehen werden, die auf den prozesshaften Charakter, auf das noch und vielleicht immer Unfertige des sich - im doppelten Sinne des Wortes - fortschreibenden und -sprechenden Lebens-Werks beider Autorinnen verweist. Im performativen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit werden Gattungsgrenzen dadurch verwischt, dass ein‐ zelne Versatzstücke durch verschiedene Texte hindurch vagabundieren und eine Wechselbewegung zwischen dem, was gemeinhin als literarischer ‚Primärdis‐ kurs‘ und dem, was als begleitender ‚Sekundärdiskurs‘ (etwa: poetologische Reden und Autorinneninterviews) angesehen wird, initiieren. 672 In Anknüpfung an die im vorangegangenen Kapitel aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen ‚künstlerischen‘ und ‚nicht-künstlerischen‘ Gattungen des Sprechens lässt sich die Wiederholung daher als eine tendenziell enthierarchisierende Kraft bezeichnen, die dem poetologischen Diskurs ein „aussagekräftiges Mitschreibe‐ recht“ 673 am Kontinuum des eigenen Lebens-Werks gewährt. In der Literaturkritik wird häufig erwähnt, dass Müller seit der Nobelpreis‐ verleihung 2009 keine künstlerische Prosa mehr geschrieben hätte, und die Autorin anlässlich des Erscheinens neuer Collagenbände gefragt, ob sie je wieder einen Roman produzieren werde. 674 Hierin zeigt sich nicht nur der hohe Rang des Romans innerhalb der literarischen Gattungen, was, historisch betrachtet, keineswegs immer so war; es wird auch übersehen, dass Müllers Werk als ein Gesamtprojekt aufzufassen ist, das die „Abschottung eines Textes als Einzelwerk […] kaum noch sinnvoll“ 675 erscheinen lässt. Dieses Gesamt‐ projekt unterstreicht, so die These, die ich im Folgenden weiter entwickeln werde, den performativen Charakter der Zugehörigkeit, die sich im Prozess der Wiederholung nicht als ontologischer Seinszustand, sondern als eine fort‐ gesetzte, immer wieder neu aufgenommene Herausforderung erweist. 676 In 245 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen 676 Vgl. Bell, Introduction, S. 3. 677 Judith Butler, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of Sex. New York 1993, S. 242. 678 Bachtin, Sprechgattungen, S. 40. Abwandlung der Austinschen Formel „How to do things with words“, von der die Performativitätstheorie ihren Anfang nahm, geht es Müller nicht nur darum, wie Zugehörigkeit durch sprachliche Mittel hergestellt werden kann, sondern mindestens ebenso sehr auch um die Frage, wie man ihr durch Sprache wieder entkommt: How to un-/ do belonging with words - so könnte man ihr gattungsübergreifendes Gesamtprojekt, das im programmatischen Diktum des ‚einzigen Satzes‘ (vgl. Teufel, 35) deutlich wird, vielleicht betiteln. Die Performativität von Nicht-/ Zugehörigkeit impliziert die Möglichkeit ihrer Veränderbarkeit: Mit jeder Wiederholung ist nicht nur die aktualisierende Reproduktion, sondern auch die Möglichkeit der Transformierung spezifischer Konstellationen der Nicht-/ Zugehörigkeit angezeigt. Dieser Gedanke gründet in (sprach-)philosophischen Wiederholungstheoremen, die von der Zitathaftigkeit sprachlicher Äußerungen ausgehen und sich somit mit einer weiteren Proble‐ matik verknüpfen, von der im vorangegangenen Kapitel ausführlich die Rede war: Der Wiederholungscharakter allen Sprechens stellt eine Zuspitzung der Authentizitätsproblematik dar. Die Theorie der Wiederholung ist mit Namen wie Sören Kierkegaard, Fried‐ rich Nietzsche, Sigmund Freud, Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder Judith Butler verbunden. Butler hat sich im Anschluss an Derridas Konzept der ‚Iterab‐ ilität‘ mit der zitatförmigen Performativität von Geschlecht auseinandergesetzt und dabei den Wiederholungscharakter allen Sprechens herausgestellt: This not owning of one’s words is there from the start, however, since speaking is always in some ways the speaking of a stranger through and as oneself, the melancholic reiteration of a language that one never chose, that one does not find as an instrument to be used, but that one is, as it were, used by, expropriated in, as the unstable and continuing condition of the „one“ and the „we,“ the ambivalent condition of the power that binds. 677 Nicht erst im Poststrukturalismus oder bei Butler, sondern schon bei Bachtin begegnet die grundlegende Einsicht, dass Sprache in ihrer Zitathaftigkeit immer schon Wiederholung ist: „Die Wörter sind niemandes Besitz, […] aber sie können allen möglichen Sprechern und deren verschiedensten Wertungen zu Diensten sein.“ 678 Das adversative „aber“ ist wichtig, denn es signalisiert, dass das Sprechen für Bachtin nicht nur als Ort des intentionalen Kontrollversagens und mithin des Verlusts authentischer oder wahrhaftiger Rede fungiert, sondern 246 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 679 Wie mühselig sich dieser Aneignungsprozess gestalten kann, hat Bachtin bereits in seinem Aufsatz „Das Wort im Roman“ (S. 185) beschrieben: „Im Grunde bewegt sich die Sprache […] auf der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort. Es wird zum ‚eigenen‘, wenn der Sprecher es mit seiner Intention, mit seinem Akzent besetzt, wenn er sich das Wort aneignet, es mit seiner semantischen und expressiven Zielsetzung vermittelt. Bis zu diesem Moment der Aneignung befindet sich das Wort nicht etwa in einer neutralen und unpersönlichen Sprache (der Sprecher entnimmt das Wort ja nicht dem Lexikon), sondern in einem fremden Mund, in fremden Kontexten, im Dienst fremder Intentionen: von dort muß man es nehmen und zum eigenen machen. Und nicht alle Wörter lassen sich von einem jeden gleich leicht aneignen und in Besitz nehmen: viele leisten hartnäckig Widerstand, andere bleiben auch dann noch fremd, klingen im Mund des Sprechers, der sie sich angeeignet hat, fremd, können seinem Kontext nicht assimiliert werden und fallen aus ihm heraus […].“ 680 Zu dieser „Ironie der Geschichte“ vgl. Grübel, Bachtins Philosophie der ästhetischen Handlung und ihre Aktualität, S. 342. 681 Lachmann / Sasse, Dialogische Obertöne, S. 202. auch als Ort der produktiven Aneignung, Umwertung und Neubesetzung fremder Rede zu sehen ist. 679 Mit dieser Einschränkung ist auch die Abgrenzung gegen die poststrukturalistisch radikalisierte Vorstellung der Eigenmächtigkeit von Sprache gezogen, für die ausgerechnet Bachtin als theoretischer Impuls‐ geber herhalten musste. 680 „Die Vorstellung, dass die Sprache das Subjekt zum ‚Patienten‘ macht, ihn quasi entmündigt, ist mit Bachtins Sprechendem als Autor/ Akteur unvereinbar“ 681 , wie Lachmann und Sasse in ihrem Nachwort zu Bachtins „Sprechgattungen“-Aufsatz nachdrücklich herausgestellt haben. Dass die Sprechenden oder die Schreibenden der Sprache niemals ganz habhaft werden können, befreit sie nicht von der Verantwortung für ihr sprach‐ liches Tun. Dieses verantwortliche Verhältnis habe ich im vorangegangenen Kapitel als ein auf-die-Wörter-horchendes Verhältnis beschrieben, das nicht nur die Wahrnehmung der klanglichen und ‚musikalischen‘ Eigenschaften des Sprachlichen, sondern - besonders bei Müller - auch ein Plädoyer für einen historisch sensibilisierten Umgang mit Sprache einschließt. Obwohl oder gerade weil das Sprechen (und Schreiben) stets ein Sprechen (und Schreiben) in Zitaten ist, muss man genau darauf ‚lauschen‘, was einem die Wörter zu sagen haben, das heißt, mit welchen Bedeutungen, Intentionen und Akzenten sie in der Ge‐ schichte ihres wiederholten Gebrauchs angefüllt wurden. Diese dialogische und hörende Haltung zum Sprachmaterial operiert zwar im Bewusstsein limitierter Verfügung über die Wörter, begibt sich aber nicht der Möglichkeit eines verant‐ wortlichen Sich-Verhaltens, das seine Realisierung in der konkreten Sprach- und Wortwahl findet: „Genauso wie für all unsere Gegenstände des Gebrauchs brauchen wir auch für die Sprache jeden Tag dieses Register zwischen legitim 247 5.1 Das Tun der Wiederholung: Verknüpfungen 682 Müller, Heimat ist das, was gesprochen wird, S. 43. 683 Bachtin, Sprechgattungen, S. 35. 684 Uta Daur, Einleitung. In: Dies. (Hrsg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes. Bielefeld 2013, S. 7-16, hier S. 7. 685 Ebd., S. 8. und inakzeptabel. Gesprochen oder geschrieben - die Sprache verlangt von uns eine Gratwanderung zwischen den Worten, die wir uns zu eigen machen und jenen, die wir meiden.“ 682 Während Rakusa in ihren poetologischen Texten recht unzweideutig ein Gefühl von Besitz gegenüber der Sprache ihres literarischen Ausdrucks arti‐ kuliert, wird sie bei Müller zum Ort ambivalenter Erfahrungen, die sich im Spannungsfeld von Aneignung und Selbstbehauptung bewegen und zu einer Auflehnung gegen das zitathafte Wesen der Rede führen: In den Wörtern, die „im eigenen Mund entstehen“ (Falle, 37), äußert sich ein „individuelles Sprechbegehren“ 683 , das nach der Möglichkeit eines künstlerisch-authentischen, semantisch-historisch nicht vorbelasteten Ausdrucks sucht. Einerseits oppo‐ niert Müller gegen den Wiederholungscharakter allen Sprechens; andererseits wäre es zu kurz gegriffen, Wiederholung als Gegensatz zu dem „in der Diskus‐ sion um die sogenannte Postmoderne in Misskredit geratene[n] Begriff der Authentizität“ 684 zu begreifen. Anders als in dieser Diskussion, in welcher die Wiederholung „als einer der gefeierten Schlüsselbegriffe“ 685 dazu antrat, den für das autobiographische Schreiben so zentralen Anspruch auf Authentizität aufzuheben, bildet die Wiederholung in Müllers und Rakusas Texten einen konstitutiven Bestandteil ihrer vielstimmigen Suche nach wahrhaftigen Formen des Sprechens bzw. Schreibens, die sich in verschiedenen Gattungen vollzieht und von beiden Autorinnen immer wieder aufs Neue aufgenommen wird. Schon im letzten Kapitel habe ich dargelegt, dass weder Müllers noch Rakusas Nicht-/ Zugehörigkeitspoetik mit den poststrukturalistischen und dekonstruk‐ tivistischen Perspektiven konform geht, welche die sprachliche Bedingtheit und Zeichenvermitteltheit von Erfahrung betonen und somit den Wunsch nach Unmittelbarkeit kritisch attackiert und die Selbstbehauptung des Ich als illusi‐ onäres Unterfangen entlarvt haben. Diese These werde ich in diesem Kapitel insofern weiterverfolgen, als ich zeigen werde, dass gerade das wiederholende Sprechen und Schreiben als Versuch zu verstehen ist, die Unmittelbarkeit er‐ lebter Erfahrung wieder einzuholen (Rakusa) bzw. die Autorschaft dem eigenen Leben gegenüber im Sinne eines Sich-selbst-wieder-zugehörig-Werdens zurück‐ zugewinnen (Müller). Gleichzeitig werde ich eine der wichtigsten Erkenntnisse der poststrukturalistischen Wiederholungsphilosophie in meinen Interpretati‐ onsansatz aufnehmen, wenn ich argumentiere, dass die Wiederholung besagter 248 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 686 Jesenovec, Die poetische Autobiographie Mehr Meer von Ilma Rakusa, S. 106. 687 Bozzi, Der fremde Blick, S. 160. Zur Wiederholung als musikalischem Gestaltungsmittel vgl. auch die Monographie von Ogrodnik, Musik im Werk Herta Müllers. 688 Vgl. Emmanuelle Prak-Derrington, Sprachmagie und Sprachgrenzen. Zu Wort- und Satzwiederholungen in Herta Müllers Atemschaukel. In: Mahrdt / Lægreid (Hrsg.), Dichtung und Diktatur, S. 133-147; Emmanuelle Prak-Derrington / Dominique Dias, Eine Sprache für das Unsagbare finden. Über lexikalische Wiederholungen in Atem‐ schaukel. In: Dorle Merchiers / Jacques Lajarrige / Steffen Höhne (Hrsg.), Kann Lite‐ ratur Zeuge sein? Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Bern 2014, S. 135-154; Emmanuelle Prak-Der‐ rington, Mein Ende ist mein Anfang. Wiederholung und Zeitstruktur im Roman. In: Anne Betten/ Jürgen Schiewe (Hrsg.), Sprache - Literatur - Literatursprache. Linguistische Beiträge. Berlin 2011, S. 70-89. 689 J. Müller, Sprachtakt, S. 182. Versatzstücke keinesfalls eine Wiederholung des Immergleichen - und somit Stagnation - bedeutet, sondern stets ein Moment der Veränderung in sich trägt, das in Müllers Poetik der Nicht-/ Zugehörigkeit eine befreiende Transformation verfestigter Affektstrukturen in Aussicht stellt. 5.2 Musikalisch, rhizomatisch, traumatisch: Forschungsstimmen Die Bedeutung der Wiederholung in ihren verschiedenen Varianten wurde in der Forschungsliteratur zu Rakusa und Müller oft bemerkt und immer wieder hervorgehoben. Als sprachliches bzw. rhetorisch-stilistisches Gestal‐ tungsmittel findet die Wiederholung meist nebenbei, etwa in Aufzählungen, Erwähnung. Barbara Jesenovec beispielsweise benennt „kürzere, schnell wech‐ selnde Formen, Parataxen, eine einfache Syntax, Zitieren, Intertextualität, In‐ tensivität, rhetorische Figuren, Wiederholungen, Gegenstellungen, Montage, teilweise hermetische Textteile, Perspektivenwechsel, Arbeit an der Sprache, Wortspiele und rhythmische Textstrukturierungen“ 686 als Charakteristika von Rakusas Schreibweise. Häufig als „musikalisch“ bezeichnete Stilmittel wie „Parallelität, Wiederholung, Wiederholung mit Variation, Steigerung“ 687 gelten neben Metaphorizität und Parataxis auch als bevorzugte Gestaltungsprinzipien Müllers. Am systematischsten hat sich Emmanuelle Prak-Derrington mit rhe‐ torisch-stilistischen Wiederholungen bei Müller auseinandergesetzt und dabei auf den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Wiederholung verwiesen. 688 Auch Julia Müller befasst sich in ihrer Monographie genauer mit der „tragenden Rolle des Stilmittels der Wiederholung“ 689 , seinen vielfältigen Funktionen sowie sprachkritischen Implikationen. Am Beispiel des Romans Der Fuchs war damals 249 5.2 Musikalisch, rhizomatisch, traumatisch: Forschungsstimmen 690 Ebd., S. 199. 691 Vgl. Meurer, Diktatorisches Erzählen. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Meurers These vom diktatorischen Erzählen siehe Kapitel 4.2 dieser Arbeit. 692 Eke, Von Taschentüchern und anderen Dingen, S. 71. 693 Ders., Schönheit der Verwund(er)ung. Herta Müllers Weg zum Gedicht. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 64-79, hier S. 65. 694 Karin Binder, Herta Müller. Reisende auf einem Bein. In: Bettina Bannasch / Gerhild Rochus (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin 2013, S. 464-471, hier S. 469. 695 Kovacs, Widerständiges Schreiben, S. 244. 696 Vgl. hierzu beispielsweise Lyn Marven, Life and Literature. Autobiography, Referenti‐ ality, and Intertexuality in Herta Müller’s Work. In: Brigid Haines / Dies. (Hrsg.), Herta Müller. Oxford 2013, S. 205-225, hier S. 209: „Müller often appears to deal with memories first through fiction and only later reveals biographical details in interviews and essays. The reiteration marks these as traumatic, recurring images, and one might view this schon der Jäger analysiert sie, wie Müller mittels Wiederholung die Mehrdeu‐ tigkeit bzw. „Unzuverlässigkeit der Zeichen“ 690 in totalitären Verhältnissen verdeutlicht. Sie gelangt dabei zu einem ähnlichen Schluss wie schon Meurer, die in einer einschlägigen Studie nachgewiesen hat, dass Müllers stilistische Wiederholungen der Darstellung und Kritik an der Diktatur dienen. 691 Neben sprachlichen bzw. rhetorisch-stilistischen Wiederholungen gehören auch inhaltliche, also thematische und motivische Wiederholungen zu den charakteristischen Ausdrucksformen beider Autorinnen. Hierbei ist grundle‐ gend zwischen intratextuellen und textübergreifenden Wiederholungen zu unterscheiden. Vor allem letzteren gilt in diesem Kapitel mein besonderes Interesse. Norbert O. Eke erkennt in Müllers Werk eine permanente „Weiterfüh‐ rung ‚alter‘ Motive“ 692 und deutet diese als ein Plädoyer gegen das Vergessen. Die Autorin mache „die eigene Biografie immer wieder zum Material eines fortgesetzten Nachdenkens über die […] Zerstörungen des Individuums“, um die Schrecken der Diktatur „wachzuhalten“. 693 Auch Karin Binder interpretiert die Wiederholungen in Müllers Werk als eine Form der „Gedächtnisarbeit“, die „sich bis in narrative Verfahren hinein jeglichem totalitären System und Duktus entzieht und auf diese Weise das Wiederholen totalitärer Strukturen im Akt der Narration von sich weist“ 694 . Die Kontinuität der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in einer Diktatur sei von einem ethischen Impetus „des Sich-Erinnern-Müssens“ (Falle, 23) getragen, sie diene aber, wie Teresa Kovacs schreibt, auch dazu, das „Fortdauern der Geschichte“ 695 , also die Aktualität des vermeintlich Vergangenen und mithin die Fortsetzung autoritärer Macht‐ strukturen in der Gegenwart, sichtbar zu machen. Andere Positionen der For‐ schungsliteratur und Literaturkritik deuten die Wiederholung als Ausdrucks- und Bewältigungsmittel traumatischer 696 Ereignisse oder kritisieren sie als 250 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit trajectory as an illustration of the working of trauma into a narrative.“ Marven illustriert diese These u. a. am Beispiel der Geschichte um eine von der Securitate unterhöhlte Frauenfreundschaft, die in verschiedenen Texten verarbeitet wird (in den Romanen Reisende auf einem Bein, Der Fuchs war damals schon der Jäger und Herztier wie auch in diversen Essays, Zeitungsartikeln und Poetik-Vorlesungen). Auch wenn ich Müllers Praktiken des wiederholenden Schreibens und Sprechens keiner traumatologischen Deutung zuführen, sondern sie als performative Dynamik der Nicht-/ Zugehörigkeit interpretieren werde, teile ich die von Forschungsansätzen zum ‚life writing‘ inspirierte Betrachtungsweise, der zufolge Müllers Werk als ein gattungsübergreifendes Gesamt‐ projekt aufzufassen sei, das Wirkliches und Erfundenes mitunter ununterscheidbar werden lässt. Vgl. ebd., S. 206 und S. 223. Zu dieser Betrachtungsweise vgl. auch Schau, Leben ohne Grund, S. 316, Düwell, „Die Nacht ist aus Tinte gemacht“, S. 107 sowie Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, S. 273. 697 Osterkamp, Das verkehrte Glück. 698 Paola Bozzi, Herta Müller. Sehen schreiben und Schreiben sehen. Zur Poetik der erfun‐ denen Wahrnehmung. In: Alo Allkemper / Norbert O. Eke / Hartmut Steinecke (Hrsg.), Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben. München 2012, S. 107-123, hier S. 110. 699 Gudrun Lörincz, Werk und Theorie im Dialog. Grenzüberschreitungen in der Poetologie und Positionierung Herta Müllers. Berlin 2016. S. 41 und S. 44, vgl. auch das Kapitel zum „wiederholende[n] Schreiben“, S. 96-81. 700 Kathrin Röggla, standbein und spielbein. In: Ilma Rakusa, Durch Schnee. Frankfurt am Main 2006, S. 239-243, hier S. 241. 701 Schmitz, Das Ich im Netz der Sprache, S. 212. 702 Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 281-284. Zur „Netzkünstlerin“ Rakusa vgl. auch Barbara Siller, „Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens „Anzeichen einer künstlerischen Stagnation“ 697 . Paola Bozzi hält dem entgegen, dass Müller „in einem gewissen Sinne Autopoiesis“ 698 betreibe: Die Autorin lasse sich und ihr Werk aus sich selbst heraus immer wieder neu entstehen. Als Vertextungsstrategie stiften Wiederholungen Beziehungen und Zusam‐ menhänge. Die Forschung hat daher auch die „rhizomartige“ und „netzartige Verwobenheit“ herausgestellt, durch welche sich Müllers Werk insgesamt aus‐ zeichne. 699 Damit vergleichbar spricht Kathrin Röggla im Nachwort zu Rakusas Erzählband Durch Schnee (2006) von den „bewegten Zusammenhängen“, die durch „motivische Verkettung von Erzählungen oder Texten“ 700 hervorgebracht werden, und Schmitz bedient sich des von Deleuze und Guattari entlehnten Begriffs des „Rhizoms“, um Rakusas „dezentriert und nicht-hierarchisch“ 701 organisierte Texte zu charakterisieren. „Netz“ und „Palimpsest“ - mit diesen Metaphern beschreibt Wetenkamp die für Rakusa kennzeichnenden Schreib- und Erzählprinzipien. In exemplarischen Analysen arbeitet sie heraus, wie einzelne Motive, zum Beispiel das intertextuell hoch besetzte Motiv des Mont Ventoux, durch verschiedene Texte wandern und sich dabei mit immer neuen Bedeutungsschichten anreichern. 702 251 5.2 Musikalisch, rhizomatisch, traumatisch: Forschungsstimmen entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht.“ Räumliche und sprachliche Netzwerke in Ilma Rakusas Werk. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9/ 1 (2018), S. 91-104. 703 Am frühesten hat dies wohl Eke erkannt, der in der Einleitung zu dem von ihm heraus‐ gegebenen Sammelband Die erfundene Wahrnehmung (S. 18) konstatierte: „Poetischer und theoretischer Diskurs durchdringen sich und erscheinen als zwei Seiten des einen Werks.“ Auch anderen Müller-Forscherinnen und -Forschern ist es wichtig zu betonen, dass die Autorin „gerade nicht zwischen ästhetischer Produktion und ihrer Reflexion trennt“ (Ute Speck, Herta Müller. Tabubruch als Schreibprinzip. In: Hartmut Eggert / Ja‐ nusz Golec (Hrsg.), Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20. Jahrhundert. Ein deutsch-polnisches Symposium. Stuttgart 2002, S. 227-240, hier S. 229). In methodologischer Hinsicht hat sich Irene Husser mit den Interdependenzen zwischen poetologischen Ausführungen und literarischen Texten beschäftigt und dabei einerseits das „verhaltene Interesse an Müllers poetologischen, autobiografisch markierten Texten und ihren Verbindungen zum belletristischen Œuvre“ kritisiert, andererseits den „literaturwissenschaftlichen Reduktionismus“ moniert, der aus dem unreflektierten Umgang mit den poetologischen Arbeiten der Autorin resultiert. Vgl. Husser, Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik, bes. S. 271-278, Zitate: S. 272 und S. 274. 704 Vgl. Monika Moyrer, In Transit. Transnational Trajectories and Mobility in Herta Müller’s Recent Writings. In: Bettina Brandt / Valentina Glajar (Hrsg.), Herta Müller. Politics and Aesthetics. Lincoln / London 2013, S. 184-206. 705 Vgl. Eke, Von Taschentüchern und anderen Dingen. 706 Vgl. Dirk Niefanger, Biographeme im deutschsprachigen Gegenwartsroman (Herta Müller, Monika Maron, Uwe Timm). In: Peter Braun / Bernd Stiegler (Hrsg.), Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart. Bielefeld 2012, S. 289-306. Der kurze Überblick verdeutlicht, dass der Forschung die konstitutive Bedeu‐ tung der textübergreifenden Wiederholung für das Werk der beiden Autorinnen nicht entgangen ist. Auch sind in der Müller-Forschung verschiedentlich die ent‐ grenzenden Effekte angedeutet worden, die aus diesem Phänomen resultieren und zu einer gegenseitigen Verschränkung des literarischen und poetologischen Diskurses führen, 703 in der Terminologie meiner Arbeit also einen geteilten Raum der Zugehörigkeit konstituieren, der die Autorin mit ihren Erzählerinnen und Figuren verbindet. Des Weiteren fällt auf, dass die meisten Beiträge, die sich gründlicher mit textübergreifenden Wiederholungen befassen, ihre Analysen auf einzelne rekursive Motive (wie Mokkatassen 704 , Taschentücher 705 , Schachspielkönige 706 und dergleichen mehr) konzentrieren. Wie schon ange‐ deutet, zeigt sich jedoch, dass immer wieder auch größere Erzähleinheiten, Versatzstücke und dicht beschriebene zeit-räumliche Arrangements wiederholt und variiert werden, die über den Begriff des ‚(Leit-)Motivs‘ hinausgehen und affektive Muster ausprägen, die sich zwischen Dynamik und Struktur bewegen. Diese These ist in theoretischer Hinsicht nicht selbstverständlich und muss daher näher ausgeführt werden, bevor ich zur Analyse der wiederholenden 252 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 707 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.03.2010. URL: https: / / docupedia.de/ zg/ Bachmann_cultural_turns_v1_de_2010 (zuletzt abge‐ rufen am 19.05.2022). 708 Hanna K. Göbel / Sophia Prinz (Hrsg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur. Bielefeld 2015. Re-Präsentationen von Nicht-/ Zugehörigkeit im Werk der beiden Autorinnen übergehen kann. 5.3 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen Während poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze die Zeichen‐ vermitteltheit und sprachliche Bedingtheit von Erfahrung ins Bewusstsein gerückt haben, ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Turns mit dem Ziel angetreten, unter Schlagwörtern wie ‚Performativität‘, ‚Materialität‘, ‚Prä‐ senz‘ oder ‚Ereignis‘ „eine Wiederkehr des Verdrängten“ 707 zu initiieren. Teil dieser breiteren Perspektivverschiebung in den Sozial-, Geistes- und Kultur‐ wissenschaften, die in kritischer Absetzung vom Kultur-als-Text-Paradigma die Materialität, den Vollzugscharakter und die „Sinnlichkeit des Sozialen“ 708 zu Gegenständen ihrer Forschung machen, um zu einer neuen körperlichen Unmittelbarkeit zu gelangen, bildet auch der Begriff der ‚Affektivität‘, wie ihn die angloamerikanischen Affect Studies seit Mitte der 1990er Jahre entwi‐ ckelt haben. Eingeleitet wurde dieser sogenannte „affective turn“ durch zwei programmatische Aufsätze aus dem Jahr 1995: Zum einen „Shame in the Cybernetic Fold“ von Eve K. Sedgwick und Adam Frank sowie zum anderen „The Autonomy of Affect“ von Brian Massumi. Während erstere das Anliegen verfolgen, die Affekttheorie des amerikanischen Psychologen Silvan S. Tomkins in die Geisteswissenschaften einzuführen, greift letzterer auf eine durch Spinoza und Deleuze inspirierte Denktradition zurück, um ‚Affekt‘ von ‚Emotion‘ zu unterscheiden. Für die Frage, wie Müllers und Rakusas Texte Erfahrungen von Nicht-/ Zugehörigkeit nicht nur ‚repräsentieren‘ oder ‚konstruieren‘, sondern performativ hervorbringen und zu affektiven Mustern verdichten, stellen diese frühen theoretischen Überlegungen eine doppelte Herausforderung dar: Die erste Herausforderung betrifft, ganz basal, die sprachliche Beschaffenheit der Texte. Zumindest in ihren Anfängen haben die Affect Studies Sprache und Affekt als Gegensätze konzeptualisiert und sich damit gegen die dominante Vor‐ stellung der rein diskursiven Konstruktion von Identität und Kultur gewandt. Affekte, so die Behauptung, „do not operate through the structures of language, 253 5.3 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen 709 Lisa Blackman / Couze Venn, Affect. In: Body & Society 16/ 1 (2010), S. 7-28, hier S. 11. 710 Brian Massumi, The Autonomy of Affect [1995]. In: Ders., Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation. Durham / London 2002, S. 23-45, hier S. 24. 711 Sigrid Weigel, Pathos - Passion - Gefühl. Schauplätze affekttheoretischer Verhand‐ lungen in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. In: Dies. (Hrsg.), Literatur als Voraus‐ setzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, S. 147-172, hier S. 167. 712 Vgl. hierzu ebd., S. 166 f. und Corina Caduff, Prima la Musica oder die Musik als das Andere der Sprache. In: Gerhard Neumann / Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 449-463. 713 Zu dieser ersten Herausforderung vgl. ausführlicher Acker / Fleig / Lüthjohann, Affek‐ tivität und Mehrsprachigkeit, S. 21-26. discourse and meaning“ 709 . Vielmehr seien sie als präreflexive, nicht-sprachlich strukturierte („not semantically or semiotically ordered“ 710 ) Intensitäten zu begreifen, die eine gewisse Autonomie besitzen und daher nie restlos in kultu‐ rellen Codes und Bedeutungen aufgehen können. Die problematische Annahme einer „Sprachunabhängigkeit der Affekte“ 711 , die sich historisch bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und in der Geschichte der ästhetischen Theorie, insbesondere in der Modellierung des Verhältnisses von Sprache und Musik, in verschiedenen Spielarten aktualisiert worden ist, 712 findet ihre Fortschreibung im reduktionistischen Sprachverständnis der Affect Studies, die Sprache und Affekt lange als voneinander losgelöst betrachtet haben: In der Konzeptualisierung als das schlechthin ‚andere‘ des Affekts läuft Sprache immer Gefahr, auf ihre zeichenhaften und semantischen Aspekte verkürzt zu werden. 713 Die lang tradierte Dichotomie von Sprache und Affekt, die in den Affect Studies perpetuiert und mit einer weiteren Gegenüberstellung, nämlich der Unterscheidung zwischen ‚Emotion‘ und ‚Affekt‘ parallelisiert wird, wird von Müller und Rakusa problematisiert, teilweise reproduziert, aber auch infrage gestellt und überschritten. Nicht immer ergeben ihre Nicht-/ Zugehörigkeitspo‐ etiken ein einheitliches Bild: Wenn Müller in ihren poetologischen Reflexionen über Mehrsprachigkeit einerseits die These einer sprachlichen Vermitteltheit des Weltbezugs und der Wahrnehmung vertritt, so beharrt sie - in Übereinstim‐ mung mit den Affect Studies und in Abgrenzung vom sogenannten „linguistic turn“ - andererseits auch darauf, dass nicht alles Sprache ist bzw. es „Bereiche“ (König, 14) gibt, die sich nicht nur einer adäquaten, sondern der sprachlichen Repräsentation überhaupt entziehen. Dem unmittelbaren Erleben stellt sie die sprachliche Repräsentation als etwas Sekundäres und Nachträgliches gegen‐ über: „Ich kann heute ‚Angst‘ sagen. Und ich kann ‚Freude‘ sagen. Es trifft nicht mehr zu. Ich rede darüber. Ich lebe nicht mehr darin.“ (Teufel, 10) Diese Differenz wird nicht nur poetologisch reflektiert, sondern auch literarisch 254 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 714 Slaby / Mühlhoff / Wüschner, Affektive Relationalität, S. 87. 715 Zur Annahme einer „affect-emotion-gap“ vgl. Daniel White, Affect. An Introduction. In: Cultural Anthropology 32/ 2 (2017), S. 175-180, hier S. 177. Zur Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion vgl. auch Deborah Gould, On Affect and Protest. In: Janet Staiger / Ann Cvetkovich / Ann Reynolds (Hrsg.), Political Emotions. New York 2010, S. 18-44, hier S. 27: „An emotion […] squeezes a vague bodily intensity or sensation into the realm of cultural meanings and normativity, systems of signification that structure our very feelings.“ 716 Müller, Reisende auf einem Bein, S. 96 [Herv. M. A.]. 717 Ebd., S. 13. produktiv gemacht: Etwa in der Erzählung „Niederungen“ (vgl. Kap. 2.3.3) oder auch im Roman Reisende auf einem Bein, wo rekurrente Formulierungen wie „Irene spürte […]“ auf einen Wahrnehmungsmodus sinnlicher Unmittelbarkeit verweisen, der sich deutender Sinngebung und klassifizierender Einordnung zu entziehen scheint. Der Text thematisiert und inszeniert Momente intensiver Gegenwärtigkeit, die „nicht lückenlos und gleichsam ‚fügsam‘ in etablierten Schemata, Vollzügen und Klassifikationen“ 714 aufgehen und somit die Bruch‐ stelle 715 zwischen Affekt und Emotion sichtbar machen: „Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig gewesen. Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden.“ 716 Wo der Versuch unternommen wird, die Gegenwärtigkeit sinnlicher Eindrücke und Wahrneh‐ mungsvollzüge in ein kategoriales Raster von Begriffen, etwa Emotionstypen, zu überführen, geschieht dies in einer Bewegung von Setzung und Zurücknahme, die einmal mehr die Nicht-Fixierbarkeit affektiven Erlebens verdeutlicht: „Sehn‐ sucht überkam Irene. Und es war keine.“ 717 Wie die zitierten Beispiele zeigen, lässt Müller die affektiv-unmittelbaren Erfahrungsdimensionen häufig in der Verneinung ihrer sprachlichen Greifbarkeit zum Ausdruck kommen. Dabei bleibt sie aber nicht stehen, wenn sie sich auf die Suche nach Gattungen und Formen des Sprechens begibt, in denen nicht nur Artikulationen des Affektiven möglich werden, sondern die Sprache selbst körperlich wird. Fündig wird sie beispielsweise in den ungehörigen Gattungen der Rede (vgl. Kap. 4.2.2). Wenn Müller in ihrer Beschäftigung mit den Liedtexten der rumänischen Folklore deren affektive Qualitäten hervorhebt, so wird schließlich deutlich, dass sie - im Unterschied zu den frühen Affect Studies - Sprache und Affekt nicht als Gegensatz konzeptualisiert, sondern in der Sprache selbst ihr ‚anderes‘ verortet sieht bzw. genauer: in spezifischen Sphären des Sprechens die Chance erblickt, „etwas jenseits des Wortes“ (Schnee, 102) wahr werden zu lassen. „Durch das nichtverbale Medium der Musik ließen sich Gefühle manchmal direkter und vielfältiger ausdrücken, auch Leidenschaft durfte sein, wiewohl nuanciert.“ (MA, 74) - Auch Rakusa entwickelt ihre Poetik und Sprachästhetik 255 5.3 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen 718 Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Darmstadt 1984, S. 70. 719 Als Beispiel hierfür lässt sich noch einmal folgendes Zitat anführen, in dem Müller gleichlautende Wörter in einen Prozess der Bedeutungspluralisierung versetzt: „Und weil der Zug auf Rumänisch TREN und die Träne im Banater Dialekt TRÄN heißt, glich das Quietschen der Züge auf den Schienen in meinem Kopf immer dem Weinen.“ (Schnee, 13) Zur sinnlichen Materialität sprachlicher Vollzüge und der körperlich affizierenden Kraft von Sprache, die in Müllers und Rakusas Texten immer wieder selbst zum Gegenstand von Reflexion und Relation erhoben wird, vgl. Kap. 3.2.2 und 4.3.2 dieser Arbeit. 720 Zur temporalen Dimension der Zugehörigkeit vgl. beispielsweise Vanessa May, What Does the Duration of Belonging Tell Us about the Temporal Self ? In: Time & Society 25/ 3 (2016), S. 634-651. Zur affektiven Dimension der Zugehörigkeit vgl. Röttger-Rössler, Multiple Zugehörigkeiten. in Auseinandersetzung mit Musik, wobei sie sich, in Unterschied zu Müller, vorrangig auf (wortlose) Instrumentalmusik bezieht und diese in Fortschrei‐ bung des „populärste[n] und trivialste[n] ästhetische[n] Topos des 18. und 19. Jahrhunderts“ 718 metaphorisch als ‚Sprache‘ der Affekte, Gefühle und Emp‐ findungen charakterisiert. Ihrem eigenen Anspruch nach behandelt Rakusa „auch Worte wie Musik“ (MM, 114), womit sie eine Affektivwerdung des Sprachmaterials impliziert und sich von der dichotomen Gegenüberstellung ‚Sprache‘ vs. ‚Musik‘ distanziert. Sowohl Rakusa als auch Müller situieren die Affektivität sprachlicher Vollzüge in ihrer sinnlichen Materialität, wobei die mehrsprachigen Sprachreflexionen beider Autorinnen sehr häufig auf das Zusammenspiel von Klang und Bedeutung abzielen und somit die Begrenzung sprachlicher Äußerungen auf ihren semantischen Gehalt negieren. 719 Die zweite Herausforderung für die Untersuchung der sprachlichen Hervor‐ bringung und Verfestigung affektiver Dynamiken zu rekurrenten Mustern von Nicht-/ Zugehörigkeit bezieht sich auf die Frage, ob es überhaupt im Möglichkeitsbereich von Affekten liegt, Strukturen auszuprägen bzw. Versteti‐ gungsbewegungen zu vollziehen, was ein zeitliches Moment einschließt. Diese Frage stellt sich umso mehr, als die belonging-Forschung zwar sowohl die af‐ fektive als auch die temporale Dimension von Zugehörigkeit hervorgehoben, 720 jedoch kaum ihren Zusammenhang beleuchtet hat. In der Tat sind diese beiden Dimensionen nur schwer miteinander zu vermitteln, wenn ‚Zugehörigkeit‘ eine längerfristige, wiewohl verschiedenen Wandlungen ausgesetzte Form der rela‐ tionalen Verbundenheit bedeutet, ‚Affekt‘ jedoch die Intensität des Augenblicks beschreibt. Die Kontinuität affektiver Erfahrung zu erklären bzw. überhaupt zu berück‐ sichtigen, stellte sich von Anfang an als ein zentrales Problem der Affekttheorie dar. So bemerkte schon Tomkins: „Because affect is inherently brief, it requires the conjunction of other mechanisms to connect affective moments with each 256 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 721 Eve K. Sedgwick / Adam Frank (Hrsg.), Shame and Its Sisters. A Silvan Tomkins Reader. Duke 1995, S. 179. 722 Für eine ausführlichere, kritisch-differenzierte Auseinandersetzung mit Massumi vgl. Jan Slaby, Drei Haltungen der Affect Studies. In: Larissa Pfaller / Basil Wiesse (Hrsg.), Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Wiesbaden 2018, S. 53- 81. 723 Massumi begreift den Affekt als präreflexive, vor- oder überindividuelle, nicht-sprach‐ lich strukturierte Intensität, während Emotionen als „unvollständige[r] Ausdruck eines Affekts“ zu verstehen sind. Das heißt, Emotionen sind Affekten stets nachgelagert. Die Emotion ist das Ergebnis einer Transformation: Sie ist gewissermaßen der Affekt im Aggregatzustand seiner Bändigung („capture and closure“). Zitate: Brian Massumi, Bewegungen navigieren. Brian Massumi im Interview mit Mary Zournazi. In: Ders., Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Mit einem Vorwort von Erin Manning. Aus dem Englischen von Claudia Weigel. Berlin 2010, S. 25-68, hier S. 28; ders., The Autonomy of Affect, S. 35. 724 Diese Beobachtung fügt sich zu der These von Slaby, der zufolge Massumi eine „Begriffs- und Theoriepoetik“ entfaltet, „die eine performative und ästhetische Entsprechung zum inhaltlich Mitgeteilten anstrebt“. Slaby, Drei Haltungen der Affect Studies, S. 62. other and thereby increase the duration, coherence, and continuity of affective experience.“ 721 Ist Affekt wiederholbar? Während Tomkins die Verbindung von Affekt auf der einen und Kontinuität herstellenden Praktiken und Mechanismen wie der Wiederholung auf der anderen Seite zumindest als Möglichkeit in Aus‐ sicht stellt, ist diese Frage in der spinozistisch-deleuzianischen Traditionslinie der Affekttheorie eher mit „Nein“ zu beantworten. Denn im Verständnis einiger einflussreicher Vertreterinnen und Vertreter dieser Traditionslinie bezeichnet Affekt das schlechthin Einmalige, Singuläre, Ephemere und Ereignishafte, die Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks, eine disruptive Kraft oder Intensität, die Neues hervorbringt, sich jenseits oder außerhalb von Sprache und Diskurs bewegt und damit jeglicher Struktur entgegensteht. 722 Zumal in den frühen Affect Studies bildete die Gegenüberstellung von Ereignis und Struktur eine Leitdifferenz, die auch der Unterscheidung von Affekt und Emotion zugrunde liegt. 723 Brian Massumi bringt die kreative Offenheit des Affekts (alias Ereignis) in Opposition zur vorgeblichen Immer-Gleichheit von Strukturen, die er mittels monotoner Wortwiederholungen sprachlich-performativ 724 nachvoll‐ zieht: For structure is the place where nothing ever happens, that explanatory heaven in which all eventual permutations are prefigured in a self-consistent set of invariant generative rules. Nothing is prefigured in the event. It is the collapse of structured distinction into intensity, of rules into paradox. It is the suspension of the invariance that makes happy happy, sad sad, function function, and meaning mean. Could it be that it is through the expectant suspension of that suspense that the new emerges? 725 257 5.3 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungsals Affektgeschehen 725 Massumi, The Autonomy of Affect, S. 27. 726 Vgl. Schäfer, Praxis als Wiederholung, S. 140 f. 727 Bernhard Waldenfels, Die verändernde Kraft der Wiederholung. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/ 1 (2001), S. 5-17, hier S. 12. 728 Svenja Flaßpöhler / Tobias Rausch / Christina Wald (Hrsg.), Kippfiguren der Wieder‐ holung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Frankfurt am Main u. a. 2007. Mit dieser Dichotomisierung fällt Massumi hinter grundlegende Einsichten des Poststrukturalismus zurück, welche die Reziprozität von Ereignis und Wiederholung betont und darüber hinaus die Differenz in der Wiederholung hervorgehoben und somit ihr transformierendes Moment sichtbar gemacht haben. 726 Durch Wiederholung entstehen Strukturen. Diese Strukturen werden im Sinne eines ‚doing structure‘ immer wieder neu hervorgebracht. Die Wieder‐ holung kann damit als eine generative Kraft begriffen werden, die nicht in Widerspruch zu Affektivität steht, sondern ganz im Gegenteil: Ausgehend von einem dynamischen, poststrukturalistisch informierten Verständnis von Wiederholung, das Differenz und Veränderung immer schon beinhaltet, werden sowohl Prozesse der Entstehung und Verfestigung als auch der Transformation affektiver Muster beschreibbar. Dieses Kapitel hat somit zum Ziel, die gleicher‐ maßen „verändernde und erhaltende Kraft der Wiederholung“ 727 unter dem Gesichtspunkt des Affektiven herauszuarbeiten, mehr noch: Wiederholungsge‐ schehen als Affektgeschehen in den Blick zu nehmen. Eine solche Konzeptualisierung soll der Ambivalenz der Wiederholung Rechnung tragen, die ihre spezifische Wirksamkeit im Spannungsfeld von Bewegung und Stagnation, Dauer und Veränderung, Werden und Struktur entfaltet. Als „Kippfiguren“ 728 können Wiederholungen sowohl stabilisierend als auch destabilisierend, sowohl affirmativ als auch subversiv wirken. Gerade dieser oszillierende Charakter der Wiederholung gestattet es, nach der Hervor‐ bringung und Verfestigung affektiver Dynamiken zu Strukturen zu fragen und sie sowohl in ihrer Prozessualität als auch Persistenz zu erfassen. Die theoreti‐ sche Konzeptualisierung der ‚Wiederholung‘ als einem affektiven Geschehen bietet die Möglichkeit, Brüche wie Kontinuitäten affektiver Erfahrungen von Nicht-/ Zugehörigkeit zu analysieren. Sie hat das Potenzial, binäre Schemata zu 258 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 729 Zur Kritik am strukturfeindlichen ‚Affekt‘ der Affect Studies vgl. etwa Paul Stenner, Liminality. Un-Wohl-Gefühle und der affective turn. In: Elisabeth Mixa u. a. (Hrsg.), Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten. Bielefeld 2016, S. 45-68. Slaby u. a. plädieren dafür, das Verhältnis von Affekt und Struktur als „ko-konstitutives Wechselspiel“ zu begreifen. Slaby / Mühlhoff / Wüschner, Affektive Relationalität, S. 89. Für einen Vermittlungsversuch aus praxeologischer Perspektive vgl. Margaret Wetherell, Affect and Emotion. A New Social Science Understanding. London 2012, S. 13: „I will be arguing that affect does display strong pushes for pattern as well as signalling trouble and disturbance in existing patterns.“ 730 Michel de Montaigne, Œuvres complètes. Établi et annoté par Robert Barral en colla‐ boration avec Pierre Michel. Paris 1967, S. 112. - Deutsche Ausgabe: Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. Zürich 1953, S. 262. 731 Elin N. Vestli, „Das Kind, das allein geht“. Kindheit und Kindheitserinnerungen im literarischen Werk Herta Müllers. In: Mahrdt / Lægreid (Hrsg.), Dichtung und Diktatur, S. 81-98, hier S. 97. 732 Herta Müller, Viele Räume sind unter der Haut. In: Dies., Barfüßiger Februar, S. 50-74. dynamisieren und somit den strukturfeindlichen ‚Affekt‘ zu überwinden, 729 wie er zumindest in den Anfängen der Affect Studies vorherrschend war. 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 5.4.1 „So verlassen wie sonst nichts auf der Welt“: Im Tal bei den Kühen oder die Kunst, sich selbst zuzugehören La plus grande chose du monde, c’est de savoir être à soi. Das Größte in der Welt ist, sich selbst gehören zu können. 730 Michel de Montaigne, „De la solitude“ / „Von der Einsamkeit“ Wenn Müller von ihrer glücklosen, „alleenigen“ Kindheit im schwäbischen Banat spricht, so evoziert sie damit „ein für ihr gesamtes Werk gültiges Bild“ 731 , das seit den frühen Prosatexten fortlaufend variiert wird. In der Erzählung „Viele Räume sind unter der Haut“ in Barfüßiger Februar (1987) gerinnt der über zwanzig Mal wiederholte Satz „Das Kind, das allein geht“ 732 zur festen Formel. Auch die Diktatur-Romane verknüpfen die Themen von Kindheit und Einsamkeit. In Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) übt das Gefühl der Einsamkeit eine geradezu physische Gewalt aus: „Als das Kind zwischen den anderen Kindern im Schulhof stand, war der Fleck an seiner Wange der Griff der Einsamkeit.“ (Fuchs, 11) Das Kind in Herztier (1994) fühlt sich oft als „Niemandskind“, allein und „so verlassen wie sonst nichts auf der Welt“ (H, 166, 192). Die Schilderung des einsamen - im Dialekt „alleinigen“ bzw. „alleenigen“ - Kindes, das endlose Tage im Tal bei den Kühen verbringt und dabei unaufhörlich 259 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft versucht, sich im Bewusstsein der eigenen Differenz seiner Umgebung, den Pflanzen anzunähern, ja sich ihnen anzuverwandeln, ist als Versatzstück in diversen Vorträgen, Essays und Interviews enthalten: So beispielsweise in den Tübinger Poetik-Vorlesungen „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001/ 03) und „Der König verneigt sich und tötet“ (2001/ 03), in dem Vortrag „Die Insel liegt innen - die Grenze liegt außen“ (2001/ 03), in der Nobelvorlesung „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“ (2009), auf der Hör-CD Die Nacht ist aus Tinte gemacht (2009), in dem Gespräch Mein Vaterland war ein Apfelkern (2014) und schließlich auch in der Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale 2017 „Ein Ausweg nach innen“. Die Wiederholung stiftet Verbindungen zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen. Sie erzeugt ein fließendes Kontinuum, in dem Wirkliches und Erfundenes mitunter ununterscheidbar werden und welches sich somit als performative Umsetzung von Müllers eigener Vorgabe einer „Untrennbarkeit“ (Falle, 5) von Leben und Werk begreifen lässt. Wenn die Wiederholung einerseits die enge Verflochtenheit von literarischem und poetologischem Diskurs vor Augen führt, so lässt sie andererseits auch Differenzen offenbar werden: Zwar reflektieren auch die literarischen Texte im engeren Sinn Sprachen und Sprach‐ varietäten innerhalb des Spannungsgefüges von Dialekt und Hochsprache; sie vollziehen diese Reflexion jedoch meist in latenter Form, wie ein schon zitiertes Beispiel (vgl. Kap. 2.3.3) aus der Erzählung „Niederungen“ zeigt: „Vaters Singen und Mutters Reden vermischen sich. Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen. Beide und alle im Dorf kennen das Wort einsam nicht, wissen nicht, wer sie sind.“ (N, 94) Während die dialektale Varietät in der Erzählung nur latent präsent ist, tritt sie im poetologischen Diskurs an die manifeste Textoberfläche: „Das Wort ‚einsam‘ gibt es nicht im Dialekt, nur das Wort ‚allein‘. Und dieses hieß ‚alleenig‘, und das klang wie ‚wenig‘ - und so war es auch.“ (König, 12) Auch im weiteren Vergleich wird sichtbar, dass die Wiederholung keine identische Reproduktion desselben bedeutet, sondern mit Variation verknüpft ist. Bereits mit dem Akt der Wiederholung selbst, mit der Einbettung des Wiederholten in einen anderen Zusammenhang, vollzieht sich eine Veränderung. Die textuellen Versatzstücke werden inhaltlich angereichert, assoziativ erweitert, neu kontextualisiert und reinterpretiert. Im konkreten Bei‐ spiel lässt sich von einer regelrechten Akkumulation vorwiegend negativ kon‐ notierter Gefühle sprechen: Die Gefühle der Endlichkeit und Vergänglichkeit, des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit, der Einsamkeit und Verlassenheit 260 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 733 Das Gefühl, „daß ich keinen Wert habe auf dieser Welt“ wird auch in der Bukarester Fassung der „Niederungen“-Erzählung (S. 32) explizit verbalisiert. In der Berliner Rotbuch Fassung (vgl. S. 46) und auch in der Münchner Hanser Fassung (vgl. N, 49) hingegen wurde diese Stelle ersatzlos gestrichen, was noch einmal (vgl. Kap. 2.3.3) illustriert, dass es besonders im Bereich des Affektiven signifikante Abweichungen zwischen den drei Textvarianten gibt. Wie das Gefühl der Einsamkeit wird das Gefühl, „keinen Wert“ zu haben auf dieser Welt, in der städtischen Diktatur in potenzierter Form wiedererlebt, wie Müller im Gespräch mit Rainer Moritz im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Körber-Stiftung im Deutschen Historischen Museum in Berlin erklärt: „Das Grundgefühl war ja […], dass man nichts bedeutet, dass man einem Staat nichts bedeutet. […] Es wird immer vom ‚Kollektiv‘ gesprochen. Aber das Kollektiv ist ein Zwang. […] Im Grunde ist der Einzelne nicht nur kein Teil des Kollektivs, sondern der Feind des Kollektivs.“ Verfolgung und Entwurzelung. Ein Gespräch mit Herta Müller, 03.05.2015. URL: https: / / www.youtube.com/ watch? v=YaJgg6TuHpc (zuletzt abgerufen am 19.05.2022, eigene Transkription, ab Minute 25). oder auch der eigenen ‚Wenigkeit‘ bzw. Wertlosigkeit 733 verdichten sich zu einem Erinnerungskomplex, der nostalgisch verklärten Kindheitsvorstellungen eine deutliche Absage erteilt. Im permanenten Rekurs auf die Kindheit artikuliert sich eine affektive Grund‐ erfahrung, die im Vollzug ihrer Wiederholung fortlaufend aktualisiert und explizit auf die Begriffe von ‚Zugehörigkeit‘ und ‚Nicht-Zugehörigkeit‘ gebracht wird. „Ich wollte dazugehören“ - so lautet der Leitsatz, der in der Festspielrede „Ein Ausweg nach innen“ fast refrainartig wiederkehrt. In formaler Hinsicht dient die Wiederholung hier der Rhythmisierung und Strukturierung. Inhaltlich verknüpft sie die räumlichen Lebensstationen, die Müller auch hier wieder abschreitet, und erzeugt somit biographische Kohärenz. Die Rede insgesamt erweist sich als eine Montage von Selbstzitaten; sie arrangiert, kompiliert und variiert Themen, Motive und Konstellationen, die bereits aus anderen Texten Müllers bekannt sind, wie schon die Eingangspassage illustriert: Der Weg ins Tal lief die Dorfstraße hinunter, am Friedhof vorbei. […] Es war immer frühmorgens in den Sommerferien, wenn ich mit den Kühen ins Tal ging. Und hinterm Friedhof hörte das Dorf auf. […] Der Weg ins Tal verließ das Dorf, aber noch mehr verließ das Dorf mich. Ich trat in eine andere Wirklichkeit. Mit den Kühen war man allein. […] Ich weiß nicht, ob ich einsam war, weil ich das Wort nicht kannte. In der Dorfsprache gab es nur das Wort allein. Und im Dialekt heißt das alleinig. Es hat eine Silbe mehr, nimmt sich ein bisschen mehr Zeit und klingt trauriger als allein. Weil ich das Wort einsam nicht kannte, kannte das Wort mich auch nicht. Ich wurde nicht zu dem, was das Wort bedeutet. Es schaute mir nicht in den Kopf, wollte gar nicht wissen, was ich tu und wie ich dabei bin. Manchmal macht es die Dinge einfacher, wenn man im Kopf 261 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 734 Herta Müller, Ein Ausweg nach innen - Festspielrede zur Eröffnung der Ruhrtriennale 2017. In: Süddeutsche Zeitung, 18.08.2017. URL: https: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ r ede-ein-ausweg-nach-innen-1.3631956 (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). Im Folgenden zitiert mit der Sigle ‚AI‘. nicht weiß, wie man gerade ist. Die Hilflosigkeit ging vielleicht nicht weg, aber ich wurde nicht von ihr angesprochen. Ich vergaß das Dorf mit den Menschen, war mit den Füßen und mit dem Kopf jetzt in einem Dorf aus Pflanzen. Hier im Tal waren sie die Bewohner. 734 Auch diesen Vortrag beginnt Müller, wie so oft, mit einer autobiographischen Kindheitsanekdote, welche die Wiederholung selbst thematisch werden lässt: Der Text nimmt seinen Ausgang von der scheinbaren Banalität des kindlichen, durch Wiederholung und Routine („immer“) charakterisierten Alltagslebens, in dem eine Dynamik wirksam ist, die im Durchqueren der verschiedenen Zugehörigkeitsräume zu einem Muster gerinnt und somit präformierende Bedeutung gewinnt. Nicht nur der kindliche Dorfalltag, auch das städtische Leben ist durch Wiederholung charakterisiert, deren uniformierende Wirkung zum Beispiel in der Mode sichtbar wird: „Wenn man sich etwas Neues gekauft hatte, kam man sich auf jedem Gehsteig selbst entgegen. Man sah seine Kleidung an den anderen. Und mir schien, die Kleidung wusste so gut wie jeder von uns, dass wir keinen Ausweg haben und miteinander in all den Wiederholungen alle gleich hässlich werden müssen.“ (AI) Zum städtischen Lebensalltag gehören auch die fortwährenden Verhöre, in denen sich Müller, ähnlich wie die Erzäh‐ lerinnen ihrer Diktatur-Romane, mit den „immer gleichen Verleumdungen“ (AI) konfrontiert sieht. Gemäß der Ambivalenz der Wiederholung liegt in dieser aber auch eine positive Selbsthilfe- und Überlebensstrategie, um mit den Drangsalierungen des Alltags zurechtzukommen. Wie schon in der „alleenigen“ Kindheit, sind es die Pflanzen, die in der Not Beistand bieten und zu heimlichen ‚Komplizen‘ werden: „Wie damals im Tal“ durfte von dieser Allianz „auch jetzt niemand wissen“ (AI). Auf dem Heimweg vom Verhör wird die alte Gewohnheit, mit den Pflanzen in Beziehung zu treten, wieder aufgenommen. Müller lässt ihnen einen regelrechten Akteursstatus zuteilwerden und beschreibt sie anth‐ ropomorphisierend als mitfühlende Lebewesen: „Die Dahlien brachten wieder Ordnung in meinen Kopf, sie halfen mir. Es war wirkliche Anteilnahme. Das war mehr als die Trommel, das Katzengesicht und die Haarnadel des Mondes. Diese kümmerten sich nur um sich selbst. Aber die Dahlie kümmerte sich um mich.“ (AI) Schon in früheren Vorträgen und Gesprächen hat Müller die von ihr gesuchte Begegnung mit den Pflanzen als eine Methode (von griech.: ‚methodos‘ = Weg) 262 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 735 Zur Metaphorik des Weges vgl. den Beitrag von Udo Friedrich, Metapher als Umweg - Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 124-136. 736 Die Bildlichkeit der Lücke oder des Risses bildet auch bei Rakusa ein rekurrentes Motiv, das der Artikulation von Nicht-Zugehörigkeit dient. Vgl. beispielsweise die Erzählung „Warngeschichte“, die das Moment der Inkongruenz zwischen Ich, Selbst und Welt zum Auszeichnungs- und Distinktionsmerkmal einer Figur erklärt: „Du bist nur soweit du, als du von deiner Definition abweichst. Die Lücke zwischen dir und dir, zwischen dir und der Welt - nenne es Nichtübereinstimmung, Unangepaßtheit - macht dich aus.“ (Ilma Rakusa, Warngeschichte. In: Dies., Miramar, S. 127-147, hier S. 134.) - Zur beschrieben, einen Ausweg aus der Hilflosigkeit und Selbstentfremdung zu finden, für die es keine Worte gab: „Wenn ich nach quälenden Verhören wieder auf der Straße ging, der Kopf zerwühlt, die Augen starr wie eine Gipsfüllung, die Beine fremd wie von jemand anderem geliehen, wenn ich in diesem Zustand auf dem Heimweg war, zeigten mir diese Pflanzen, was mit mir los - und mit Worten nicht zu sagen war“ (König, 77), erklärt sie in „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich“. Mit konjunktivischer Zurückhaltung formuliert Müller im Gespräch mit Klammer: „Mir war, als würden mich die Dahlien auf dem Heimweg sehen, auf mich warten und mir zeigen, wie man sich beruhigen kann.“ Wenige Sätze später zieht sie einen expliziten Vergleich zu den Gefühlstopographien ihrer Kindheit: „Ich war den Pflanzen auf dem Heimweg vom Verhör oft so nah wie seinerzeit im Flusstal. Ich glaubte auch auf dem Heimweg vom Verhör, dass die Pflanzen besser wissen als ich, wie das Leben geht.“ (Apfelkern, 79) In der Festspielrede wird die Semantik des ‚Weges‘ weiter ausgestaltet: Der Heimweg ist ein versuchter Ausweg aus dem Gefühl, sich selbst nicht mehr zuzugehören; er gestaltet sich als ein Umweg („Ich musste zu mir zurückfinden und suchte einen langen Heimweg durch die Nebenstraßen“, AI), zugleich aber auch als ein Rückweg in die eigene Vergangenheit, zur Welt der Kindheit, was die Kontinuität affektiver Bezie‐ hungsverhältnisse unterstreicht und teleologischen Entwicklungsmodellen wie der Vorstellung eines linearen Lebenslaufs zuwiderläuft. 735 In den im städtischen Kontext wieder aufgenommenen Ritualen der Kind‐ heit zeigt sich das Streben nach Zugehörigkeit, das einen doppelten Bezug aufweist: Es richtet sich sowohl auf die Zugehörigkeit zu sich selbst als auch zur Umwelt und den anderen. Zudem steht dieses Streben von Anfang an im Zeichen des Bruchs, des Bewusstseins einer grundlegenden Inkongruenz und Nicht-Übereinstimmung, die sich im Erfahrungskosmos der „alleenigen“ Kindheit mit einer Reihe verschiedenster Bilder und Motive verschweißt - allen voran dem krisenhaft konnotierten Motiv der „Lücke“ 736 . Dieses Motiv wird in der Festspielrede zwar nicht ausdrücklich apostrophiert, jedoch implizit 263 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft Interpretation dieser Stelle vgl. auch Wetenkamp, Europa erzählt, verortet, erinnert, S. 331. 737 Jürgen Verdofsky, Herta Müller. Ich kann nicht sprechen, wie ich schreibe. In: Frank‐ furter Rundschau, 07.10.2014. URL: https: / / www.fr.de/ kultur/ literatur/ kann-nicht-sp rechen-schreibe-11199430.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). - Eine ähnliche Interpretation schlägt Udo Friedrich vor, wenn er dem Gespräch mit den Pflanzen die Funktion zuschreibt, einen Mangel an kommunikativen Beziehungen auszugleichen. Vgl. Friedrich, Metapher als Umweg - Umweg als Metapher, S. 127. 738 Vgl. ähnlich Müller in ihrer Nobelvorlesung: „Ich aß Blätter und Blüten, damit ich zu ihnen gehöre, denn sie wußten, wie man lebt und ich nicht. Ich redete sie mit ihren Namen an. Der Name Milchdistel sollte wirklich die stachelige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber auf den Namen Milchdistel hörte die Pflanze nicht. Ich versuchte es mit erfundenen Namen: STACHELRIPPE, NADELHALS, in denen weder Milch noch Distel vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf.“ (Schnee, 19) evoziert, wo es um die Zeit des Kühehütens und die Beziehungen geht, die das Kind zu den Pflanzen hegt. Diese werden als Protagonisten einer „affektive[n] Gegenwelt“ 737 inszeniert, die außerhalb des Dorfes steht und in der - wenigstens tentativ - die Kommunikationslosigkeit durchbrochen wird, die für die dörfliche Welt kennzeichnend ist (vgl. Kap. 2.3): Ich war bis abends eingeschlossen im Dorf der Pflanzen. Ich wollte zu ihnen gehören und inszenierte mit ihnen ein normales Dorfleben. Ich sprach laut mit ihnen, pflückte sie, legte sie nebeneinander, verglich sie, kostete, wie sie schmecken, sortierte sie nach Eigenschaften. […] Die Pflanzen waren keine Wiese mehr, sondern Bewohner, die Familie und Verwandte hatten. Sie hießen Milchdistel, Springgras, Hahnenfuß, Kleeseide, Trompetenblume, Mäusegras oder Storchkraut. (AI) Erst aus der Erfahrung der Diskrepanz zwischen Ich, Sprache und Welt erhält der hier artikulierte Wunsch nach Zugehörigkeit seine Dringlichkeit. Diese Erfahrung wird in verschiedenen Texten umkreist, so etwa in der Tübinger Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“, in der es im Kontext der „alleenigen“ Kindheit heißt: Der Name „Milchdistel“ sollte wirklich die stachlige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber der Name war der Pflanze nicht recht, sie hörte nicht drauf. Ich versuchte es mit erfundenen Namen. „Stachelrippe“, „Nadelhals“, in denen weder „Milch“ noch „Distel“ vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf. 738 (König, 11) Im Versuch, die Pflanzen mit ihren ‚richtigen‘ Namen anzureden, artikuliert sich ein Bedürfnis nach Relationalität und Verbundenheit, eine Sehnsucht nach Übereinstimmung, die sich als prinzipiell unstillbar erweist und das „Fremdeln 264 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 739 Monika Schmitz-Emans, Die Sprache der modernen Dichtung. München 1997, S. 45. - Wie ‚Kritik‘ leitet sich ‚Krise‘ vom altgriechischen Verb krínein her, das so viel wie ‚scheiden‘, ‚trennen‘ bedeutet. 740 Kilchmann, Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers, S. 178. 741 Monika Schmitz-Emans, Das Verschwinden der Bilder als geschichtsphilosophisches Gleichnis. Der zerbrochene Krug im Licht der Beziehungen zwischen Bild und Text. In: Kleist-Jahrbuch 2002, S. 42-69, hier S. 46 f. - Bachtin hat diesem Mythologem mit seiner These, dass jede Äußerung ihren Gegenstand immer schon besprochen vorfinde, übrigens nachdrücklich widersprochen: „Der Sprechende ist kein biblischer Adam, der es nur mit unberührten, noch namenlosen Gegenständen zu tun hat und ihnen erstmals Namen gibt.“ (Bachtin, Sprechgattungen, S. 51.) 742 Brigitta Busch, Die Macht präbabylonischer Phantasien. Ressourcenorientiertes sprach‐ biographisches Arbeiten. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 40 verursacht als Folge mißratener Nähe“ (König, 15). Die Wahrnehmung der „Lücke“ verweist auf die existenzielle Erfahrung der Geschiedenheit des Indivi‐ duums von der es umgebenden Welt und der Sphäre der Natur; sie bezeichnet ein Moment, da „etwas differenziert, etwas zerschnitten“ 739 wird und evoziert somit eine ‚Krise‘ im etymologischen Sinne des Wortes. Als Folge und Produkt von Entzweiung initiiert die „Lücke“ eine repetitive Bewegung der Verfehlung, die jene Trennung perpetuiert, die sie aufzulösen trachtet. Noch im Versuch ihrer Überwindung bestätigt sich die Kluft zwischen Ich, Sprache und Welt, die durch die Reflexion auf Sprache allererst hervorgebracht wird und sich auch durch neue Wortprägungen nicht aufheben lässt: „Die poetischen Namen, die das Kind für die Pflanze Milchdistel erfindet, vermögen diese ebenso wenig zu erreichen wie ihre konventionelle Bezeichnung“ 740 , stellt Kilchmann zurecht fest. Der Akt der Namensgebung eröffnet sprachphilosophische und -mythologi‐ sche Bezüge; er lässt an Platons berühmten Kratylos-Dialog denken, weckt aber auch Assoziationen an den Mythos von der adamitischen Naturbzw. Paradiessprache (Genesis 2, 19), die schöpferische Lust an der Benennung, über die Monika Schmitz-Emans schreibt: Der biblische Adam hatte auf Gottes Geheiß allen Geschöpfen ihren wahren Namen gegeben, in welchem sich deren Wesen widerspiegelte; die adamitische Ursprache ist somit Inbegriff der sprachutopischen Idee einer Kongruenz, ja wesenhaften inneren Identität von Zeichen und Bezeichnetem. Mit dem Sündenfall - spätestens aber mit Babel - muß diese Paradiessprache verloren gegangen sein. Es gibt eine Vielheit der Sprachen, Kommunikation droht stets zu scheitern, ja sie gelingt niemals endgültig. 741 Auch in Rakusas Mehr Meer findet sich der adamitische Mythos unterschwellig anzitiert, wenn die Ich-Erzählerin im Garten ihrer Kindheit über die Namen der Pflanzen sinniert und sie in Listen inventarisiert (vgl. MM, 44-50). Während die „präbabylonische Phantasie“ 742 einer Idealsprache, in der die Dinge ihrem 265 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft (2010), S. 58-82, zu Rakusa S. 73 f. Vgl. auch den Abschnitt „Zauberwörter und Autorschaft“ in Schneider-Özbek, Sprachreise zum Ich, S. 21-26 und Schmitz, Ilma Rakusa, S. 154: „Und im ‚Kindheitheitsparadies‘, von dem auch Rakusa weiß, ist das Echo der Paradiesessprache noch vernehmbar. Bewahrt aber bleibt für Rakusa dieses Echo im ‚Hallraum‘ der Mehrsprachigkeit; und so kehrt sie gleichsam den Strafmythos der babylonischen Sprachverwirrung in eine Verheißung um.“ 743 Vgl. hierzu Elspeth Pobyn, Outside Belongings. London / New York 1996, S. 40: „It seems to me that the processes of belonging are always tainted with deep insecurities about the possibility of truly fitting in.“ Der Zweifel an der Möglichkeit von Zugehörigkeit im Sinne von Passung wird - wie die Ausdrücke „vielleicht“, „glaubte“ und „hoffte“ im Namen gehorchen und eine Verständigung noch möglich ist, in Rakusas Utopie eines vielstimmigen, über die Grenzen der Einzelsprachen hinausgreifenden Diskurses in spezifischer Weise umgedeutet und fortgeschrieben wird, scheint sich Müllers Poetik der Mehrsprachigkeit von einer solchen Phantasie zu ver‐ abschieden: Die Unzulänglichkeit der Sprache als Medium der Kommunikation und die Arbitrarität der Zeichen treten durch Mehrsprachigkeit noch schärfer hervor (vgl. Kap. 4.3.2). Die Vervielfältigung sprachlicher Bezugssysteme in‐ tensiviert die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen Sprache und Welt; sie vermehrt die Sehweisen von und Perspektiven auf Welt, potenziert aber auch die Verunsicherung im Umgang mit den Dingen, wobei auch hier Pflanzennamen als bevorzugte Beispiele dienen (vgl. etwa König, 25 oder Apfelkern, 85). Das Kind spricht nicht nur mit den Pflanzen; um die tief empfundene Kluft zwischen Ich und Umwelt zu schließen, versucht es auch, sich den Pflanzen physisch anzugleichen, sie sich regelrecht einzuverleiben: „Ich aß Blätter und Blüten, damit sie meiner Zunge verwandt sind. Ich wollte, daß wir uns ähneln, denn sie wußten, wie man lebt, und ich nicht.“ (König, 11) Noch ausführlicher beschreibt Müller diesen deleuzianisch anmutenden Vorgang des Pflanzen-Wer‐ dens in ihrem Gespräch mit Klammer: Ich habe immer gedacht, die Pflanzen sind im Tal zu Hause, sie sind mit sich und der Welt zufrieden, und ich muss dort rumtapsen und weiß nicht, was ich mit mir machen soll. Und ich glaubte auch, wenn ich genug von den Pflanzen gegessen hab, dann gehör ich vielleicht dazu, weil der Körper, mit dem ich herumlaufe, sich den Pflanzen anpasst. Ich hoffte, dass die gegessenen Pflanzen meine Haut, mein Fleisch so verändern, dass ich besser zum Tal passe. Es war schon der Versuch, mich pflanzennah zu machen, zu verwandeln. Verwandeln, das Wort wäre mir nicht eingefallen, ich hätte es auch gar nicht gehabt. Es war nur der Wunsch, einen Platz für mich zu finden, mich zu schonen, mir die Zeit so zu machen, dass ich sie aushalte. (Apfelkern, 10) Der Wunsch nach Zugehörigkeit, der sich genauer als ein Streben nach ‚Pas‐ sung‘ 743 und Übereinstimmung mit der materiellen Umwelt zu erkennen gibt, 266 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit obigen Zitat (Apfelkern, 10) signalisieren - von Müller als konkrete Gefühlswirklichkeit beschrieben. 744 Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 7. 745 Ebd., S. 51. wird in der zitierten Passage noch einmal explizit artikuliert und mit einem weiteren Motiv kombiniert, das in Müllers - und, wie später noch zu sehen sein wird, auch in Rakusas Werk - eine wichtige Rolle spielt, weil es auf die Ambi‐ valenz und Brüchigkeit der Zugehörigkeit reflektiert: Gemeint ist das Motiv der Haut, mit dem laut Claudia Benthien eine ambivalente Schwellenregion bzw. widerspruchsvolle „Fläche zwischen Selbst und Welt“ 744 aufgerufen ist, die zugleich trennende und verbindende Funktion besitzt. Einerseits bezeichnet die Haut die physische Grenze zwischen Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich, Leib und Welt. Andererseits ist sie durchlässig, potenziell offen und damit verletzbar. In Müllers Kindheitstopographien wird sie - wie das obige Zitat belegt - als „Ort der […] Metamorphose“ 745 imaginiert, in dem sich der Übergang von Nicht-Zugehörigkeit zu Zugehörigkeit vollzieht, aber auch umgekehrt der Wunsch nach Nicht-Zugehörigkeit im Sinne eines Abstreifens von leiblichen Bindungen artikuliert: Wenn ich woanders geboren wäre oder andere Eltern hätte, das habe ich hin und her gewälzt im Kopf, wär [sic! ] ich dann ein anderes Kind? Oder wär [sic! ] ich dasselbe Kind, egal, wer meine Eltern sind und wo ich geboren bin? Oder bin ich und bleibe an meine Haut angewachsen immer dasselbe Kind […]? (Apfelkern, 14) „In [s]einem dreckigen Alleinsein“ (Apfelkern, 17) reflektiert das Kind über die Kontingenz seiner Zugehörigkeit zu einer Familie und Gemeinschaft, in die es ohne Wahl hineingeboren wurde und stellt sich die Frage, ob es diese ambivalente Mitgift jemals loswerden, abstreifen, sich gewissermaßen ‚häuten‘ werde könne. Dass Müller dieser Möglichkeit eher skeptisch gegenübersteht, be‐ kundet sich in Beschreibungen und Metaphern wie derjenigen, dass Menschen ‚Gegenden in Gesichtern‘ (vgl. Kap. 2.4.1) tragen, die Spuren ihrer räumlichen Herkunft und Zugehörigkeit sich also bleibend in die Haut eingeschrieben haben. In das Motiv der Haut, das sowohl die Hoffnung auf ein Teil-Werden (durch körperliche Assimilierung) als auch auf ein Neu- und Anders-Werden, auf Loslösung von Zugehörigkeiten verkörpert, mischen sich resignative Züge. Aufgrund der ihm inhärenten Widersprüchlichkeit wird das Motiv der Haut in Müllers Werk zum bevorzugten Ort der Reflexion, Artikulation und Empfin‐ dung geteilter Gefühle von Zugehörigkeit, wobei das Wort ‚Gefühl‘ hier nicht etwa innerseelische Zustände meint, sondern in seiner etymologischen, bis 267 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 746 In ihrer Kulturpoetik der Haut erinnert Benthien an die „enge Verbindung von Haut‐ empfindungen und emotionalen Zuständen, die […] sich in Verben wie ‚fühlen‘, ‚berührt sein‘, ‚ergriffen sein‘, ‚empfinden‘ und ‚betroffen sein‘ spiegelt, welche ihrer Etymologie nach auf einen taktilen Ursprung verweisen“. Benthien, Haut, S. 12. Zum Wort ‚Gefühl‘ und seinem etymologischen Bedeutungswandel vgl. die Ausführungen im zehnten Kapitel (= „Hand und Haut“, S. 223 f.) von Benthiens Studie. 747 Vgl. Günther, Froschperspektiven, S. 43-45 und Christian Dawidowski, Bild-Auflö‐ sungen. Einheit als Verlust von Ganzheit. Zu Herta Müllers „Niederungen“. In: Köhnen (Hrsg.), Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung, S. 13-26, hier S. 17 f. 748 Günther, Froschperspektiven, S. 45. ins 18. Jahrhundert dominanten Bedeutung als Sinneswahrnehmung, leibliches Spüren, Tasten und Berühren erscheint. 746 Das Motiv der Haut reflektiert sowohl auf die räumliche als auch die sinnlich-affektive Dimension der Nicht-/ Zugehö‐ rigkeit und nimmt in seiner Ambivalenz bereits im Frühwerk der Autorin eine prominente Rolle ein. Dass die Tendenz zur Auflösung fester Ich-Grenzen ein Charakteristikum von Müllers Prosa bildet, ist schon in den Anfängen der Forschung registriert und am Beispiel der Titelerzählung des Niederungen-Bandes auch näher analysiert worden. Als Ausgangspunkt hierbei dienten, etwa bei Michael Günther und Christian Dawidowski, 747 die Verbote des Großvaters, die ich im zweiten Kapitel (Kap. 2.3.1) kurz angesprochen habe: Die lila Blüten mit den Zäunen, das Ringelgras mit seiner grünen Frucht zwischen den Milchzähnen der Kinder. Der Großvater, der sagte, vom Ringelgras wird man dumm, das darf man nicht essen. Und du willst doch nicht dumm werden. Der Käfer, der mir ins Ohr kroch. Großvater schüttete mir Spiritus ins Ohr, damit mir der Käfer nicht in den Kopf kriecht. […] Das muss man tun, sagte der Großvater, sonst wird dir der Käfer in den Kopf kriechen, und dann wirst du dumm. Und du willst doch nicht dumm werden. […] Ich aß Akazienblüten. Sie hatten innen einen süßen Rüssel. Ich zerbiss ihn und hielt ihn lange im Mund. Wenn ich ihn schluckte, hatte ich schon die nächste Blüte an den Lippen. Es waren unzählig viele Blüten im Dorf, man konnte sie nicht alle essen. Akazienblüten darf man nicht essen, sagte Großvater, es sitzen kleine schwarze Fliegen drin, und wenn die dir in den Hals kriechen, dann wirst du stumm. Und du willst doch nicht stumm werden. (N, 17) Die Einverleibung der Natur, die sich im Motiv des Pflanzenessens manifestiert und „ein teilweises Aufheben der Grenzen“ zwischen Selbst und Welt suggeriert, wird „als Gefährdung gekennzeichnet und unter Verbot gestellt“ 748 . Implizit, so lässt sich weiter interpretieren, bezeugen diese Verbote ein Körperkonzept, das die Haut nicht als undurchdringliche ‚Mauer‘ versteht, 749 sondern als ein 268 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 749 Vgl. Benthien, Haut, S. 39. 750 Ebd., S. 55. 751 Das Zitat geht wie folgt weiter: „Seine Begrenzungen [die Begrenzungen des Körpers, Anm. M. A.] können für alle möglichen Begrenzungen stehen, die bedroht oder unsicher sind“ bzw. als bedroht oder unsicher wahrgenommen werden. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt am Main 1985, S. 152. 752 Benthien, Haut, S. 17. durchlässiges Gewebe, das über verschiedene Öffnungen (wie Mund und Ohren) verfügt und in lebendigem Austausch mit der Umgebung steht. Dieser Aus‐ tausch wird aber als etwas Unerwünschtes apostrophiert: Die Schnittstelle Haut wird als eine „Gefahrenzone möglicher Penetration“ 750 wahrgenommen und das Kind darauf konditioniert, seine körperliche Integrität gegen äußere Einflüsse zu schützen. Interessant ist, dass Müllers Text in Übereinstimmung mit kultur‐ anthropologischen Ansätzen, die den Körper als ein Modell betrachten, „das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann“ 751 , eine Analogisierung vornimmt: Ähnlich wie die kollektive Identität des Dorfes als etwas entworfen wird, das es gegen Wandel und fremdes Eindringen abzuschirmen gilt (siehe Kap. 2), wird die Körperoberfläche - „jener manifeste Ort des anderen“ 752 - als eine prekäre, stets bedrohte Grenze imaginiert, die rigider Kontrolle unterliegt, weil sie eine als störend und gefährlich empfundene Öffnung zur Welt bzw. zum anderen (hier zur Natur) symbolisiert. Das Thema der (Haut-)Körpergrenze wird im Text vielfach variiert und mit ambivalenten Gefühlen assoziiert, die zwischen der Angst vor körperlicher Auflösung auf der einen und dem Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Berührung auf der anderen Seite changieren. Besonders eindringlich wird diese Ambivalenz in einer Frisierszene beschrieben, deren Regeln wiederum durch eine väterliche Instanz vorgegeben werden und den Spielraum des Erlaubten abstecken: Es waren die Abende, an denen ich Vater kämmen durfte. Vater hatte dichtes Haar. Ich konnte die Hände bis zu den Handwurzeln darin versenken. Die Haarfäden waren spröd und schwer. Manchmal kroch mir einer unter die Haut, dann überlief es mich heiß oder kalt. Ich suchte die weißen Haarfäden. Die durfte ich Vater ausreißen, aber es waren sehr wenige. Manchmal fand ich keinen einzigen. Ich durfte Vaters Haar scheiteln, Maschen hineinbinden, Haarspangen aus Draht eng über seine Kopfhaut ziehen. Ich durfte ihm Kopftücher aufbinden, Schultertücher und Halsketten umhängen. Nur ins Gesicht greifen durfte ich Vater nicht. 269 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 753 Günther, Froschperspektiven, S. 55. 754 Benthien, Haut, S. 55. 755 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 201. Wenn ich es dennoch tat, wenn es aus Versehen geschehen war, riss Vater sich die Maschen und Spangen, die Tücher und Halsketten herunter und stieß mich mit dem Ellbogen weg und schrie: Jetzt weg von da. […] Vater sagte kein Wort. Ich musste ein für allemal wissen, dass er Hände im Gesicht nicht vertragen konnte: Das ist mein Tod. (N, 72 f.) Der gefürchtete Griff ins Gesicht - „ein verletzlicher Ort, Sitz von Individualität, und deshalb ein Ort, dessen Berührung Unmittelbarkeit von einem Ich zu einem Du sowohl erzeugt als auch erfordert“ 753 - wird mit dem Tod assoziiert; er markiert einen Grenzübertritt, den es, wenn nötig, mit Gewalt abzuwehren gilt, um ganz im Sinne des Sprichworts die „eigene Haut zu retten“. Einerseits scheint das Kind die Gleichsetzung von Haut und Leben bzw. die Vorstellung der Haut als „Gefahrenzone“ 754 so weit zu internalisieren, dass es sich, genauso wie der Vater, vor der Auflösung der eigenen Ich-Grenzen fürchtet und Bagatellverlet‐ zungen als tödliche Bedrohung interpretiert: Schon eine Schürfwunde führt zu der „Angst, dass durch diese offenen Knie der Tod in mich hineinfindet“ (N, 25). Andererseits „ist das Verhältnis des Kindes zum umgebenden Naturraum von Beginn des Texts an als ein osmotisches dargestellt“ 755 . Dieser osmotische Prozess ist nicht nur etwas, demgegenüber sich das Kind hilflos und angstvoll ausgesetzt sieht, sondern wird auch als eine Form der Teilhabe dargestellt, die, in einer phantasmatischen Szene, aktiv herbeigesehnt wird: Ich war eine schöne sumpfige Landschaft. Ich legte mich ins hohe Gras und ließ mich in die Erde rinnen. Ich wartete, dass die großen Weiden zu mir über den Fluss kommen, dass sie ihre Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen. Ich wartete, dass sie sagen: Du bist der schönste Sumpf der Welt, wir kommen alle zu dir. Wir bringen auch unsere großen schlanken Wasservögel mit, aber die werden flattern in dir und in dich hineinschreien. […] Ich wollte weit werden, damit die Wasservögel mit ihren großen Flügeln Platz in mir haben, Platz zum Fliegen. (N, 85) Im Wunsch nach Ausdehnung der eigenen Körpergrenze, nach körperlicher Verschmelzung mit der Natur, nach materieller Nähe und mehr noch nach Anähnelung an die Umgebung (qua Einverleibung) artikuliert sich eine Sehn‐ sucht nach Zugehörigkeit, die sich sowohl in der hier zitierten Stelle aus den 270 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 756 Probyn, Outside Belongings, S. 6. - Probyn entwirft eine Soziologie der Haut, die es erlaubt, Zugehörigkeit als Werdensprozess jenseits von starren Identitätskategorien zu denken: „Basically it comes down to a heightened sensitivity to the sensibilities, to being captured by other manners of being and desires for becoming-other that I call belonging.“ Ebd., S. 5. 757 Weissmann, Die verschiedenen Augen der Sprache(n), S. 183. - In Bachtins Termino‐ logie gesagt, spricht die Ich-Instanz in Müllers Essay auf der Höhe eines sprachreflex‐ iven, „galileischen Sprachbewußstseins“, das im Gegensatz zum naiv-unmittelbaren Sprachempfinden der „meisten Leute“ (König, 7) steht und die Vorstellung eines „abso‐ luten Konnexes“ (Bachtin, Das Wort im Roman, S. 215 und S. 253), einer geschlossenen Einheit von Zeichen und Bezeichnetem durchbricht. Schon gleich zu Beginn des Essays wird damit, noch vor aller expliziten Thematisierung von Mehrsprachigkeit, ein reflexives Sprach- und Differenzbewusstsein ausgestellt, das von der Einsicht in die Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit geprägt ist und sich im weiteren Verlauf des Textes zu einer radikalen Skepsis gegenüber der Sprache und ihrer Reprä‐ sentationsfähigkeit verdichtet. 758 Probyn, Outside Belongings, S. 182. „Niederungen“ als auch in den poetologischen Texten als Verlangen konkreti‐ siert „to make the skin stretch“ 756 . Das Motiv der Haut bzw. der Überschreitung der eigenen Körpergrenze taucht auch in der Poetik-Vorlesung „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ auf, wo es mit dem Motiv der „Lücke“ verknüpft ist: In der Dorfsprache - so schien es mir als Kind - lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere. (König, 7) Evoziert wird eine „sprachphilosophische Urszene“, in der Wort und Ding eine „präbabylonische Einheit“ 757 bilden. Das Kind scheint von diesem „Ein‐ verständnis“ der „meisten Leute“ jedoch ausgenommen zu sein; „früh schon scheint es durch einen Riss […] geschaut zu haben“ 758 . Als Fokalisierungsinstanz erscheint das kindliche Wahrnehmungs-Ich, wie die Lokalpräposition „um … herum“ signalisiert, einerseits im Zentrum der Szenerie verortet. Zugleich ist es außerhalb situiert. Damit bestätigt sich, was weiter oben schon für die Bezie‐ hung des Kindes zu den Pflanzen festgestellt wurde: Die Passage exemplifiziert ein Verhältnis der Distanz zur Dorfsprache und Dorfgemeinschaft, aus denen sich das Kind genauso herauskatapultiert fühlt wie aus der Welt der Pflanzen, in der es seine „erste große Einsamkeit“ (Apfelkern, 7) erfährt. Diese Einsamkeit, die Müller auch als Gefühl des Fremdseins und der Nicht-Zugehörigkeit um‐ 271 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 759 „Die Selbstverständlichkeit, in der die Dahlie existierte, beeindruckte mich so, dass ich heulte.“ (AI); vgl. auch Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat. 2 Audio-CDs. Berlin 2009 [eigene Transkription, M. A.]: „Die Pflanzen sind Pflanzen, die kommen mit sich zurecht. Die Kühe sind Kühe und haben mit sich selbst genug. Ich war zwischen diesen Dingen etwas, was dort nicht hingehörte.“ 760 Zum Moment des Ekstatischen und Exzentrischen bei Müller vgl. Norbert O. Eke, In jeder Sprache sitzen andere Augen. Herta Müllers exzentrisches Schreiben. In: Hans Richard Brittnacher (Hrsg.), Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln 2008, S. 247-259; Norbert O. Eke, „Ein paar Freunde lachen. so verrückt daß ganz nahe / schon im Schach das Schweigen steht“. Lachen in Herta Müllers Texten. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2020), S. 144-161, hier S. 150. schreibt, wird noch dadurch potenziert, dass weder der adamitisch anmutende Akt der Namensgebung noch der Versuch einer Anverwandlung des eigenen Körpermaterials an die äußere Umgebung gelingt und somit die Diskrepanz zwischen Ich, Sprache und Welt als eine unüberbrückbare Kluft ausgestellt wird. Anders als die Pflanzen, die mit sich selbst übereinstimmen und in aller Selbst‐ verständlichkeit existieren können, 759 und auch anders als die Dorfbewohner, die einen unhinterfragten Umgang mit den Wort-Dingen pflegen, die für sie noch eine ungeschiedene Ganzheit bilden, erscheint das Einverständnis zwischen Ich und Welt, Wort und Ding in der Wahrnehmung des Kindes von Anfang an gebrochen. Dieser Bruch erscheint an eine Bewegung gebunden, die mit der Metapher des ‚Aus-der-eigenen-Haut-Rutschens‘ ausgedrückt wird und einen im wörtlichen Sinne ekstatischen  760 Vorgang signalisiert: Das Ich gerät außer sich und erscheint somit doppelt entkoppelt - vom eigenen Selbst und der Gemeinschaft, in der es lebt. An anderer Stelle hat Müller diese Bewegung auch als ein Gefühl der „Entgleisung“ beschrieben und als eigenes „Versagen“ (König, 163, 164) interpretiert, wodurch ersichtlich wird, dass Erinnerung nichts Statisches und Abgeschlossenes, sondern im Vollzug ihrer Wiederholung einem Deutungs- und Neubewertungsprozess unterworfen ist. Die Wiederkehr bestimmter Bilder und Szenen, Handlungen und Reflexionen aus dem stofflichen und motivischen Arsenal der „alleenigen“ Kindheit (das sprachkritisch konnotierte Motiv der Lücke, das Motiv des Pflanzen-Essens und der Einverleibung der Natur, das Motiv der Haut und der Auflösung der eigenen Ich-Grenzen) erlaubt es meines Erachtens, die verschiedenen Texte als einen Gesamtzusammenhang zu betrachten, in dem die Spannung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit immer wieder neu austariert, gedeutet und zu einem Muster verdichtet wird, das sowohl die Kontinuität als auch die Variabilität affektiver Beziehungsverhältnisse sichtbar werden lässt. Das Bewusstsein der eigenen Differenz, welches sich sowohl in der Beziehung des 272 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 761 Probyn, Outside Belongings, S. 8. 762 Eke, Biographische Skizze, S. 7. - Ab 1976 arbeitete Müller in einer Maschinenfabrik als Übersetzerin. Aufgrund ihrer Weigerung, mit dem rumänischen Geheimdienst zu kollaborieren, wurde ihr das Büro entzogen, weswegen sie fortan im Treppenhaus arbeiten musste. Kindes zur Erwachsenenwelt als auch zur Welt der Pflanzen niederschlägt und die Idee einer ursprünglichen Einheit von Ich, Sprache und Welt nur noch im Modus des Scheiterns aufscheinen lässt, erzeugt Trennung und lässt dadurch erst den Wunsch nach Zugehörigkeit entstehen, „a desire that is increasingly performed in the knowledge of the impossibility of ever really and truly belonging“ 761 . Mit dem Wechsel vom Dorf in die Stadt wiederholt sich das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und des Fremdseins unter anderen sprachlichen, räumli‐ chen und sozialen Voraussetzungen: „Ich hatte kein Heimweh nach dem Dorf, dachte aber, ich gehöre nicht hierher, ich bin nicht gut genug für die glatten Asphaltwege. Ich sprach so schlecht rumänisch, dass ich nur die einfachsten Sätze verstand.“ (AI) Es wiederholt sich „dieser Blick auf Pflanzen“ (AI), der mit der Kindheit im Tal nicht aufhörte. Es wiederholt sich die Verortung im Außerhalb, an der Peripherie der sozialen Topographie: „[I]ch war nur an den Wegrändern zuhause, nicht unter Menschen in Gebäuden.“ (AI) Und es wiederholt sich auch die Erfahrung der Einsamkeit, die in Müllers Zeit als „Treppenexistenz“ 762 in einer Maschinenfabrik ihre Kulmination erreicht: Wenn überhaupt, dann dachte ich auf dieser Treppe höchstens, dass ich mitten in einer Fabrik mit hunderten Leuten noch mehr allein bin als damals im Tal. […] Die Lüge war in der Fabrik als Wahrheit installiert. Ich war eine erfundene Person, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Gehörte ich mir noch? Im Tal wollte ich zu den Pflanzen gehören. Jetzt musste ich etwas tun, damit ich wieder zu mir gehöre. Und ich klammerte mich an meine Wahrnehmung. Um sicher zu sein, dass ich wenigstens die noch habe, musste ich sie aufschreiben. Die Sätze gaben mir Halt wie die Dahlien. Und das Wichtigste daran war die Selbstbehauptung. Das Selbermachen in einer Welt, die mich fertigmachte. (AI) Anders als die Einsamkeit und das Alleinsein im Tal stellen sich diese Gefühle in der Fabrik als organisierte, hergestellte dar: Sie sind, wie Müller herausstellt, „kein Nebeneffekt, sondern Absicht des Geheimdienstes“ (Apfelkern, 62), der durch seine Schikanen (hier konkret: die soziale Isolation in der Fabrik durch die Streuung des Gerüchts, Müller sei eine Securitate-Informantin) nicht nur die Realität verdreht (in Wahrheit hatte Müller den Rekrutierungsversuch des Geheimdienstes abgewehrt), sondern sie auch der Autorschaft über das eigene 273 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 763 Ausführlicher beschreibt Müller die Praktiken des Geheimdienstes in ihrem autobio‐ graphischen Essay Cristina und ihre Attrappe: „In meiner Akte bin ich zwei verschiedene Personen. Die eine heißt CRISTINA, ist Staatsfeind und wird bekämpft. Um diese CRISTINA zu kompromittieren, wird in der Fälscherwerkstatt der Abteilung ‚D‘ (Des‐ information) eine Attrappe fabriziert, mit allen Zutaten, die mir am meisten schaden - systemtreue Kommunistin, skrupellose Agentin, Parteimitglied, das ich im Unterschied zu vielen Funktionären der Landsmannschaft nie war. Überall, wo ich hinkam, hatte ich mit dieser Attrappe zu leben.“ Herta Müller, Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Göttinger Sudelblätter. Göttingen 2009, S. 47. 764 Die Interaktion mit den Pflanzen, die Müller in ihrer „alleenigen“ Kindheit sortierte, benannte, kostete und verheiratete, betrachtet sie rückblickend als „erste ästhetische Übungen“, die sie auf ihre schriftstellerische Tätigkeit vorbereiteten. Ähnlich wie die Pflanzen werden Wörter „geschmeckt“ und „gegessen“ und die Sprache selbst zum Gesprächspartner. Herta Müller, Schönheit ist politisch. In: Die Welt, 27.09.2014. URL: https: / / www.welt.de/ print/ die_welt/ literatur/ article132675958/ Schoenheit-ist-po litisch.html (zuletzt abgerufen am 19.05.2022); Beyer, „Ich habe die Sprache gegessen“, S. 128 und S. 130. Leben enthebt: „Man wurde sich selbst weggenommen und in eine erfundene Person hineingezwungen.“ 763 (Apfelkern, 130) Nach diesen Ausführungen wird deutlich, was den Impuls zum Schreiben gibt und mithin eine Form von Autorschaft produziert, die sich im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit konstituiert und aus ihm seine Dynamik bezieht. Müllers Schreiben ist ein Schreiben aus der Einsamkeit oder, in Arendts Begrifflichkeit, aus der ‚Verlassenheit‘ (vgl. Kap. 4.2.1), die Müller als eine Grunderfahrung ihres Lebens begreift und die sich schon in der Kindheit als Motor ihrer Kreativität erweist. 764 Das Schreiben als eine Praktik des Sich-selbst-Zugehörens führt zum „Glücksempfinden“ (AI) des être à soi. Es stellt einen „Ausweg“ (AI) aus der Verlassenheit dar und bedeutet für Müller nichts weniger als den Anspruch auf Autorschaft gegenüber dem eigenen Leben zu erheben. Die Wiederholung autobiographisch fundierter Versatzstücke erzeugt beim Rezipienten den Eindruck eines Déja-lu oder Déjà-écouté. Dennoch wäre es verfehlt, die Wiederholung als Zeichen der Erschöpfung oder als Ausdruck von Müllers nachlassender Kreativität zu werten und damit einen gängigen Vorwurf der Kritik zu wiederholen, der sich am Imperativ künstlerischer Originalität orientiert und somit seinerseits reproduzierend wirkt. Viel eher handelt es sich um ein werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Müllers, das zur internen Dialogisierung und transgenerischen Vernetzung ihrer Texte beiträgt und sich vom Innovationspostulat moderner Autorschaft distanziert, indem es statt „neue[r], nie gehörte[r] Geschichten“ 765 den Stoff des eigenen Lebens immer wieder und neu erzählt. Die Praxis des Wiedererzählens rückt ab von der 274 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 765 Thomas Klinkert, Wiedererzählen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Ein Problemaufriss. In: Elke Schumann u. a. (Hrsg.), Wiedererzählen. Formen und Funk‐ tionen einer kulturellen Praxis. Bielefeld 2015, S. 89-118, hier S. 90. 766 Vgl. dazu Müllers Aussage im Interview mit Wolfgang Müller: „Ich habe aus dem Schreiben […] nie einen Mythos gemacht, nie eine sogenannte höhere Beschäftigung.“ Wolfgang Müller, „Poesie ist ja nichts Angenehmes“ - Gespräch mit Herta Müller. In: Monatshefte 89/ 4 (1997), S. 468-476, hier S. 475. 767 Müller, Wie kommt man durchs Schlüsselloch? , S. 143. Vgl. auch König, 164: In den Jahren der Kindheit, in denen „die Einsamkeit den Tag durchkreuzte und alles Dazugehören ausgehebelt war“ seien „unbewußt die Muster gelegt worden, die sich dann fortgesetzt haben, als ich mit 15 Jahren in die Stadt aufs Gymnasium mußte. Ich weiß bis heute nicht, ob dieses Wiedererkennen der Muster schonte oder zusätzlich belastete.“ 768 Gürtler / Hausbacher, Fremde Stimmen, S. 136. männlich besetzten Vorstellung eines ex nihilo schaffenden Künstlersubjekts, 766 dem sie ein Konzept von ‚Autorschaft‘ entgegensetzt, das fundamental von dem Impetus geleitet ist, sich erinnern und das heißt auch: sich wiederholen zu müssen. Gemäß der Ambivalenz der Wiederholung ist die Frage nach ihrer Funktion und Wirkung doppelt zu beantworten: Einerseits kommt der Wiederholung eine strukturbildende Kraft zu. Müller selbst deutet die affektive Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit als ein „Muster“, als eine sich in unterschiedlichen Lebenskontexten und wechselnden Umgebungen wieder‐ holende „Formel“ 767 , die ihren Ursprung in der Kindheit nimmt, performativ immer wieder neu hervorgebracht wird und durchaus aporetische Züge trägt. Andererseits lässt sich die Wiederholung als ein Versuch interpretieren, das ihr inhärente Veränderungspotenzial zu aktivieren, das heißt ‚Auswege‘ oder Fluchtlinien zu (er-)finden, die eine befreiende Transformation verfestigter Affektstrukturen ermöglichen. 5.4.2 „Alleinsein als Glück“: Die Haut der Jalousien oder Zugehörigkeitszauber im Siesta-Zimmer „Es gibt Orte, die einen so prägenden Platz im Leben einnehmen, daß sie aufs Papier wollen“, stellt Rakusa in ihrer Poetik-Vorlesung Zur Sprache gehen fest. Ein solcher, literaturgewordener Erinnerungsort ist Triest - die Stadt ihrer Kindheit, der sie sich in ihrer beständigen Sprach- und Form‐ suche „auf vielstimmige Weise nähert“ 768 : in dem Erzählband Miramar, in Gedichten, Essays und Poetik-Vorlesungen, in Mehr Meer, das ursprünglich ein „Triest-Roman“ (Bildungsroman, 24) werden sollte, und schließlich auch in ihrem jüngsten Buch Mein Alphabet. Beide Autorinnen eint der permanente 275 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 769 „Am Meer muß es liegen, daß ich diese Stadt vermisse.“ (Dreimal Süden. Gefühle. In: Gerhard Melzer (Hrsg.), Es liegt was in der Luft. Die Himmel Europas. Graz / Wien 2003, S. 133-142, hier S. 138); „[m]ir fehlen die Strandfelsen von Miramar.“ (MM, 85); „Sehnsucht ist [… ] ein Hauptimpuls.“ (Sprache, 15) 770 „Hier das Meer mit den Strandfelsen von Miramar, […] hier das rostrote Haus in Barcola, wo ich zur Siestazeit hinter heruntergelassenen Jalousien zur Wachträumerin wurde - dort die Risiera di San Sabba, die während des Zweiten Weltkriegs in ein KZ umgewandelte Reisfabrik, in der Juden und slowenische Partisanen festgehalten bzw. zum Weitertransport in die Todeslager eingesammelt wurden.“ (Sprache, 75) - Die räumliche Trennung zwischen „hier“ und „dort“ korreliert mit den gespaltenen Rekurs auf die Kindheit, aber die Impulse, die diesem Rekurs zugrunde liegen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Während Müllers Autorschaftsentwurf das eigene Schreiben und Sprechen an einen Ort bindet, den es in immer neuen Anläufen auf seine affektiven Dynamiken im Spannungsfeld von Zugehörig‐ keit und Nicht-Zugehörigkeit befragt, um sich von ihm zu lösen, ist Rakusas Rückgang auf die eigene Kindheit von einem Gefühl des Vermissens und der Sehnsucht geprägt, für die das Meer als Chiffre steht. 769 Rakusas Konzept des ‚belonging‘ bestimmt ein defizitär strukturiertes Verlangen, das im Vollzug der erinnernden Wiederholung zu einem affektiven Muster verdichtet und variantenreich gestaltet wird. Einerseits artikuliert die Wiederholung die Verluste, durch welche sich das Ich definiert: „Ich bin ein Mangelwesen.“ (MM, 304) Die Vervielfältigung von Zugehörigkeiten ist bei Rakusa gleichbe‐ deutend mit einer Vermehrung von Sehnsuchtsorten und -objekten, wie das folgende Zitat belegt: „Leningrad und Lena vermißte ich lange. Auf meiner Vermissensliste rangierten sie weit oben. Anderes war unwiederbringlich verloren: das Siestazimmer meiner Kindheit, die weißen Kniestrümpfe (zum Frühlingsanfang), Kesztye, mein Pelzhandschuh.“ (MM, 304) Andererseits wird die Wiederholung immer dort, wo in fast Proustscher Manier sensorische Eindrücke und Erinnerungsfragmente evoziert und zu impressionistischen Stimmungsbildern verdichtet werden (vgl. Kap. 3 und 4.1), als Wieder-Holung im Sinne einer erneuten Vergegenwärtigung des Vergangenen und einer beschwörenden Re-Präsentation des Verlorenen wirksam. Wenn ich die Erfahrung einer grundlegenden Inkongruenz und Nicht-Über‐ einstimmung als Grundlage und Antriebsfaktor von Müllers Schreiben be‐ stimmt habe, so scheint Rakusa, im Kontrast dazu, ein geradezu heiles Bild ihrer Triestiner Kindheit zu zeichnen. Hierbei ist es allerdings wichtig, zwischen dem Wahrnehmungs- und historischen Bewusstseinshorizont des kindlichen Ich auf der einen und dem des erwachsenen Ich auf der anderen Seite zu unter‐ scheiden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vielvölkerstadt und ihrer faschistischen Vergangenheit hat Risse im Idyll deutlich werden lassen, 770 276 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit Gefühlen, die Rakusa gegenüber ihrer Kindheitsstadt empfindet und die sich zwischen „enthusiasmiert und desillusioniert“ (Sprache, 76) bewegen. 771 Das Triest der Nachkriegszeit war eingeteilt in eine britisch-amerikanische Zone A und eine jugoslawische Zone B. 772 Ilma Rakusa, Leben. Fünfzehn Akronyme. Zürich 1990, o. P. - Das Gedicht findet sich in verschiedene Texte einmontiert und wird somit selbst zu einem Versatzstück der Erinnerung. Vgl. Dies., Zwischen Märchen und Melancholie, S. 79; MM, 84; Sprache, 76. 773 Dies., Zwischen Märchen und Melancholie, S. 79. 774 Dies., Jalousie: Tagtraum: Bewegliche Zeit. In: Catherine Silberschmidt / Christine Tresch (Hrsg.), Zeiträume. Mit Texten von Hanna Johansen, Ilma Rakusa, Isolde Schaad, Elisabeth Wandeler-Deck. Zürich 2000, S. 37-64, hier S. 39. 775 Im dritten Kapitel habe ich in diesem Zusammenhang von einer „Kette affektiver Zäsuren“ (S. 259) gesprochen - eine Formulierung, auf die ich weiter unten noch einmal zurückkommen werde. sodass die einst geteilte 771 Stadt mit gemischten Gefühlen erinnert wird: „In meinem heutigen Bewußtsein oszilliert die Stadt zwischen paradiesisch-hell und grausam-dunkel, sie ist geradezu Symbol der Widersprüche geworden“ (Sprache, 75 f.), erläutert Rakusa die retrospektive Desillusionierung ihrer zum Verklärenden neigenden Kindheitserinnerungen. Zum Impuls der Sehnsucht kommt somit ein weiteres Movens hinzu: Die Wiederholung entspringt nicht nur dem Bedürfnis nach Wieder-Holung, sondern auch dem Bedürfnis nach Korrektur: „Tauch retour“ 772 , heißt es in einem 1990 erschienenen Akronym‐ gedicht über Triest, in dem sich das Zurück in die eigene Erinnerung mit dem Appell „Schreib: / Taten trauern“ verbindet, was wie eine ermahnende Selbstanrede wirkt. Den diskrepanten Gefühlslagen, die sich mit Triest als Ort der Sehnsucht auf der einen und historischer Gewaltverbrechen auf der anderen Seite verbinden und in Formulierungen wie „glückliche Trauer, trau‐ riges Glück“ 773 kanalisieren, hat Rakusa in so gut wie allen ihren Texten, die diese Stadt zum Schauplatz oder sogar zum Akteur werden lassen, Rechnung getragen; so zum Beispiel auch in Mehr Meer, wo den „Schattenseiten“ (MM, 81) der Stadt ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Anders als in Müllers Kindheitsdarstellungen, die, wie ich im vorangegan‐ genen Unterkapitel gezeigt habe, ab ovo Brüche und Widersprüche von Zuge‐ hörigkeit ausstellen, mischen sich in Rakusas Welt der Kindheit, die einer „paradiesischen Oase glich“ 774 , erst „mit den Jahren, mit dem Wissen“ (MM, 81) Dissonanzen hinzu. Zwar kommt auch in Rakusas Texten eine grundsätz‐ liche Kontinuität zur Geltung, die sich genauer als eine Kontinuität der Risse darstellt und, 775 genauso wie bei Müller, Nicht-Zugehörigkeit und Fremdheit zu einem bestimmenden Lebensgefühl werden lässt. Der Wahrnehmung der „Fuge zwischen mir und der Welt“, für deren Auslöser Rakusa „die vielen Abschiede in [ihrer] Kindheit“ 776 hält, ist jedoch ein Zustand vorangestellt, der in 277 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 776 Rakusa, Jalousie, S. 39. 777 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 18. 778 Rakusa, Die Insel, S. 8. 779 Zum Jalousien-Motiv im Roman Die Insel vgl. auch die Stellen auf S. 20 („Der erste Hafenlärm weckte ihn um vier, er nahm ihn zur Kenntnis, drehte sich zur Seite und schlief, bis das grelle Morgenlicht durch die östlichen Jalousien auf seine Bettdecke fiel.“), S. 128 („Mein Zimmer. Die Lichtstreifen an der Wand, das Gekicher, Fliesen und Barfußlaufen, Eindrücke setzen sich fest […]“) und S. 130 („Ich sitze hinter geschlossenen Jalousien. Die Geräusche im Nebenzimmer […]“). 780 Vgl. auch Rakusa, Über mich: „Beim Baden in Barcola, mit Blick auf das Märchenschloß Miramar, höre ich Italienisch, Englisch, Slowenisch. Die Sprachenvielfalt wird mir so selbstverständlich wie das Geräusch der Brandung. Sie beruhigt, sie ist meine Heimat. Und dort in Triest, hinter den heruntergelassenen Jalousien des rostroten Hauses, wenn das Leben zur Siesta-Zeit zu einem fernen Echo verebbt, entdecke ich - hellwach - die Spiele der Phantasie. Erfinde mir aus Lichthasen die Welt. Werde zur Ritzenlugerin. Ohne jene Jalousien, so weiß ich heute, hätte es kein Schreiben gegeben.“ Müllers Texten so nicht vorzufinden ist: Das Gefühl eines „unproblematische[n] Aufgehobensein[s] in einem geschützten Raum in der Welt“ 777 , das als Definition von ‚Zugehörigkeit‘ gilt. Als ein solcher Raum stellt sich das sogenannte „Siesta-Zimmer“ dar, wel‐ ches Teil von Rakusas „Triest-Alphabet“ (Sprache, 86) bildet und mit seinen materiellen und immateriellen Konstituenten - u. a. Steinfließen, herunterge‐ lassene Jalousien, Metaphorik der Haut, Wechselspiel von Licht und Schatten, Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, Kontrast zwischen sinnlicher Aktivität und imaginärer Bewegung auf der einen und unfreiwilligem Stillstand auf der anderen Seite - ein Versatzstück von Erinnerung bildet, das seit den frühen Texten in Variationen wiederkehrt. Schon in Rakusas Erstlingswerk, dem Kurzroman Die Insel, beginnt sich dieser Raum auszuformen: „Er hielt sich meist in seinen vier Wänden auf. Tagsüber saß er, bei zugezogenen Jalousien, am Tisch und schrieb. Das dämmrige Zimmer war ihm zu seiner zweiten Haut geworden.“ 778 Nicht nur werden hier Haut und Jalousien als zentrale Motive aufgerufen. 779 Auch ist bedeutend, dass der Protagonist ein Schriftsteller ist, womit die besondere Rolle dieses Raumes bezüglich der Konstituierung von Autorschaft angedeutet ist. In späteren Texten, in denen Rakusa als Exegetin ihres eigenen Werks auftritt, das über die Zeit betrachtet zunehmend selbstbe‐ züglichen Charakter gewinnt, wird das Jalousien-Zimmer immer wieder explizit als autobiographischer Ausgangspunkt des Schreibens und der Kreativität benannt und somit zum imaginären Projektionsraum für die eigene Subjekti‐ vität und mehrsprachige Autorschaft: Hier ortet Rakusa ihre „Geburtsstunde“ (Bildungsroman, 24) als Schriftstellerin, hier begann für sie „der Weg, der zum Schreiben führte“ (Sprache, 14). 780 Ähnlich wie bei Müller wird dieser Weg 278 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 781 Besonders deutlich wird diese Bewegung in jenen Texten, die eine Kreisstruktur aus‐ prägen, indem sie mit der Erinnerung an das Siesta-Zimmer einsetzen, um am Schluss wieder dorthin zurückzukehren. Vgl. hierzu exemplarisch den autobiographischen Erzählessay „Jalousie: Tagtraum: Bewegliche Zeit“, der mit der Erinnerung an Triest beginnt (S. 37), eine Lokalisierung der Anfänge der eigenen Autorschaft im „schattigen Raum meiner Kindheit“ (S. 38) unternimmt, dann allgemeinere Reflexionen über das Wesen der Zeit anstellt und am Ende wieder zum Anfang führt: „Zurück zum dunklen Siesta-Zimmer der Kindheit.“ (S. 62) 782 Ilma Rakusa, Arsenal. In: Dies., Miramar, S. 7-21, hier S. 7. 783 Vgl. dies., Arsenal, S. 15: „Miramar ist ein Märchen.“ immer wieder von Neuem begangen und die ‚Urszene‘ der eigenen Autorschaft, die in ihrer Funktion als Ausgangs- und Rückkehrpunkt die Bewegung des Schreibens selbst kennzeichnet, 781 beschworen und wachgehalten: Kinder haben zu schlafen während der Siesta, sie läßt die Jalousien herunter, sie bringt mich zu Bett. Ich liege im verdunkelten Zimmer. Nein, ich schlafe nicht. Schmale Lichtstreifen dringen durch die Ritzen. Manchmal bewegen sie sich wie die Wellen am Strand. Ich lausche. Das Leben erreicht mich übers Ohr, man glaubt mich schlafend, aber das Ohr wacht, groß und hellhörig hinter der Wand der Jalousien. Der Wind. Der Nordwind im Gebälk. Wenn die Bora bläst, schluckt sie alle andern [sic! ] Geräusche.[…] Doch heute ist es windstill. Ich höre die Brandung des Meers, Mutters Schritte auf den Fliesen der Veranda. Ein Leintuch genügt, bis unters Kinn gezogen. […] Stille. Doch nein, da sind Stimmen. Stimmen? 782 Diese Passage steht am Anfang der 1986 publizierten Erzählung „Arsenal“, die, in formaler Hinsicht ähnlich wie das Erinnerungsbuch Mehr Meer, zwischen der feinfühligen Perspektive einer kindlichen Ich-Figur und der distanzierenden Perspektive der dritten Person changiert. Erzählt wird von der Geschichte einer heimlichen Affäre, welche sich zwischen der Mutter des Kindes und einem ihm unbekannten Fremden in einem Küstenort nahe Triest abspielt. Die Elemente und Versatzstücke aus dem Raum der Kindheit werden in diesem Text neu arrangiert und re-platziert, wobei Bezüge zwischen früheren und späteren Texten der Autorin sichtbar werden: Wie der Kurzroman Die Insel handelt die Erzählung an einem Ort am Meer: Miramar, so der Titel des Bandes, der wörtlich übersetzt so viel wie „Schau, das Meer“ bedeutet und in dem die Erzählung „Arsenal“ erschienen ist, evoziert einen geographisch fixierbaren Ort, der zugleich mit märchenhaften Zügen versehen wird. 783 Von der Erfahrung des Nomadischen scheint dieser Text noch unberührt. Er situiert sich vor der Kette affektiver Zäsuren, die in Mehr Meer eine Kontinuität des Bruchs erzeugen und mit ambivalenten Gefühlen verbunden werden. Während das Siesta-Zimmer in Mehr Meer als Ankerpunkt der Erinnerung fungiert und mithin 279 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 784 Das Siesta-Zimmer wird in Mehr Meer in insgesamt drei Kapiteln erinnert: „IX. Am Meer“ (50-54, hier 53), „XI. Siestazimmer“ (60-62), „XVIII. Heimweh nach Jalousien“ (85-86). 785 Rakusa, Arsenal, S. 7. 786 Eine naheliegende Mutmaßung, die mit Verweis auf die enorme Belesenheit Rakusas und ihr Romanistik-Studium an Plausibilität gewinnt, sich am Text selbst - soweit ich sehe - aber nicht weiter begründen lässt. Als eine weitere Referenz lässt sich an Oskar Pastiors Lautgedicht „Testament - auf jeden Fall“ denken, das mit Mehrsprachigkeit experimentiert und das Rakusa ihrer eigenen Aussage nach „besonders lieb[t], da es die Jalousien der Kindheit - auch in meiner Biographie ein zentrales Moment - zum Gegenstand hat. Genauer gesagt gründet es auf dem Kindersatz: ‚Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht …‘, auf dem Vokalismus und Sound dieses Kinderspruchs, der immer neu variiert wird“ (Zur Sprache gehen, 27). einen Gegenraum bildet, welcher der unentwegten Bewegung des nomadischen Lebens Einhalt gebietet, 784 markiert es in der Erzählung „Arsenal“ den Auftakt einer Geschichte, deren Thematik - die schwierige Beziehung zwischen Mann und Frau - sich ins Frühwerk der Autorin einfügt. War es in dem Kurzroman Die Insel ein Mann, der sich auf die griechische Insel Patmos zurückzog, um das Trauma einer Trennung (zu Ann) zu verarbeiten, so stellt sich die scheiternde Liebesbeziehung in der Erzählung „Arsenal“ als perspektivisch gebrochen aus der Sicht der kindlichen Protagonistin dar, die - „hellhörig hinter der Wand der Jalousien“ 785 - ein Gespräch zwischen der Mutter und deren Liebhaber ver‐ nimmt: die beiden verabreden sich zu einem Treffen am Arsenal von Miramar, woraus sich der Titel des Textes ergibt. Ungewollt wird das Kind Zeugin der geheimen Liaison, auf die es mit Eifersucht reagiert. Im Handlungskontext dieser Geschichte wird das Siesta-Zimmer mit Gefühlen konnotiert, die es in späteren Variationen verliert, wobei sich hinter der Verknüpfung von Eifersucht und Jalousien womöglich eine Anspielung auf Alain Robbe-Grillets Roman La Jalousie (1957, dt.: Die Jalousie oder die Eifersucht) verbirgt, dessen Titel beide Bedeutungsaspekte in sich aufnimmt. 786 Im Autorinnen-Vergleich ist außerdem interessant, dass die „Urszene“ (Farb‐ band, 110) von Rakusas Autorschaft in dieser Erzählung als ein heimliches Lauscherlebnis gestaltet wird, was Assoziationen zu Müllers „Diskurs des Al‐ leinseins“ weckt, der - wie ich im Kapitel vom „Horchen zum Gehorchen“ (4.3.1) gezeigt habe - ebenfalls mit einem solchen Erlebnis in Zusammenhang steht. Sowohl Rakusa als auch Müller leiten die Genese ihrer Autorschaft von Kind‐ heitsepisoden her, in denen die Wahrnehmung von Geräuschen, Stimmen und Gesprächsfetzen, die durch Türen und Wände ans Ohr dringen, eine Schlüsselrolle spielt. Durch das Wiedererzählen dieser Episoden bekräftigen die beiden Autorinnen nicht nur die Verortung ihres Schreibens im Leben, sondern befragen auch seine affektiven Antriebskräfte. Im Vollzug der erinnernden 280 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 787 Aleida Assmann / Jan Assmann, Schrift, Gott und Einsamkeit. Einführende Bemer‐ kungen. In: Dies. (Hrsg.), Einsamkeit. München 2000, S. 13-26, hier S. 14. - Den viel‐ fältigen Ausprägungen des Motivs des Alleinseins bzw. der Einsamkeit in Rakusas Werk kann ich hier nicht genauer nachgehen. Erwähnt sei, dass Rakusa zu diesem Thema ihre Dissertation verfasst hat (Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur. Bern 1973), eine Anthologie herausgegeben hat (Einsamkeiten. Ein Lesebuch. Texte von Beckett, Proust bis Sartre, Handke. Zürich 1975) und einen Erzählband mit dem Titel Einsamkeit mit rollendem ‚r‘ (Graz 2014) geschrieben hat. Der Titel des Erzählbandes verrät, dass auch bei Rakusa die Einsamkeit im Reflexionszusammenhang von Mehrsprachigkeit steht. Während Müller das Wort ‚Einsamkeit‘ als Beispiel dient, um Leerstellen im Dorfdialekt sichtbar zu machen und die generelle Unzulänglich‐ keit von Sprache als Medium der Gefühlsartikulation zu problematisieren, lässt sich Einsamkeit mit rollendem ‚r‘ „als ein Beispiel für Mehrstimmigkeit lesen. Das Wort ‚Einsamkeit‘ enthält im Deutschen kein ‚r‘: Der Titel löst also einen Verfremdungseffekt aus. Den Lesern stellt sich die Frage: Handelt es sich hier um einen Übersetzungstransfer aus einem anderen Sprachnetz, dem Russischen, Ungarischen oder Serbokroatischen? Enthält das Wort ‚Einsamkeit‘ ein ‚rollendes r‘ in einer anderen Sprache, die die Autorin bzw. ihre Figur beherrscht und ins Deutsche überträgt? Ist der Titel somit ein Ausdruck des vielstimmigen Lebenshintergrundes der Erzählerin? “ Siller, „Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht.“, S. 97. Wiederholung re-imaginieren Müller und Rakusa die Entstehungsgeschichte ihrer Autorschaft, um das aisthetische Fundament zu erneuern, auf dem sie sich bewegt: Das Ethos der vielstimmigen Affizierbarkeit (vgl. Kap. 4.3.2), welches die relationalen Poetiken beider Autorinnen prägt, wird in den ‚Ursprungsze‐ narien‘ prä- und durch Wiederholung rekonfiguriert und neugestaltet. Sowohl Rakusa als auch Müller betonen in den Narrativen ihrer Autor‐ werdung den „generative[n] Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Lite‐ ratur“ 787 , wobei sich hier auch ein Unterschied zeigt: Während Müller die Erfahrung der kindlichen „Dorfeinsamkeit“, die sie in direkter Kontinuität zur „zweite[n] große[n] Einsamkeit“ (Apfelkern, 62) in der staatlichen Diktatur begreift, als einen elendigen („dreckigen“, Apfelkern, 14) Zustand beschreibt, erfahren Rakusas Erzählerinnen und Protagonistinnen ihr Alleinsein als Glück. Sogar die weinroten Fliesen fingen zu sprechen an. Hatten sie lang genug erzählt, berührte ich sie mit den Fußsohlen. Ich glitt über ihre kühle Oberfläche, wobei ich die Lichtflecken umging. Der Boden als Spielbrett. Als Muster mit beweglichen Elementen. Das Siestazimmer war mein Reich. In das die Wirklichkeit so gefiltert und gedämpft eindrang, daß meine Phantasie abheben konnte. Ohne Jalousien keine imaginären Reisen. Im Schutz ihrer Durchlässigkeit kam ich gleichsam zu mir selbst. (MM, 61) 281 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 788 Lena Wetenkamp, Kakanien und Habsburg als Zukunftsmodell Europas? Zur Aktua‐ lisierung und Funktionalisierung eines Mythos bei Ilma Rakusa und Robert Menasse. In: Wolfgang Johann / Iulia-Karin Patrut / Reto Rössler (Hrsg.), Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Bielefeld 2019, S. 203-221, hier S. 208. 789 Für eine Variation im rhetorischen Fragegestus vgl. folgendes Gedicht aus dem Band Ein Strich durch alles (S. 46): „Spielt das Leben nur außerhalb / der Jalousien? Wer sagt denn / die stille Box mit den Steinfliesen / sei tot? Wer? Hier laufen Lichthasen / und toben Epiphanien [… ]“. 790 Rosa zieht mehrere Gedichte von Joseph Freiherr von Eichendorff, u. a. das bekannte Gedicht „Wünschelrute“ - „Schläft ein Lied in allen Dingen / Die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort“ -, zur Erläuterung seines Verständnisses resonanter Weltbeziehungen heran. Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016, S. 203, S. 278 f., S. 599 f. und S. 603-606. - Auf Rosas ‚Resonanz‘-Konzept bezieht sich sowohl Rakusa in ihrem Essay „Wir machen Heimat“ als auch Pfaff-Czarnecka in affirmierender Weise. Pfaff-Czarnecka (Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 36) beschreibt den Zustand der Resonanz als einen von insgesamt drei Aggregatzuständen der Zugehörigkeit und zitiert Rosas Resonanz-Definition: „Die Menschen und Dinge, der Raum um uns herum sind uns nicht gleichgültig, wir fühlen uns für sie mit verantwortlich [… ]. In glücklichen Momenten haben wir vielleicht sogar die Empfindung, die Welt als Ganze mit all ihren Möglichkeiten, Herausforderungen und Geheimnissen sei so eng mit uns verwoben, dass sie uns geradezu als eine singende Welt erscheint [… ]. Dann wiederum, in schlechten Zeiten, machen wir oft eine ganz andere Erfahrung: Die Oberflächen der Welt werden gewissermaßen hart und stumm, abweisend oder zumindest gleichgültig gegenüber unseren Empfindungen und Bedürfnissen.“ Hartmut Rosa, Heimat im Zeitalter der Globalisierung. In: Der Blaue Reiter. Journal für Philosophie 12/ 23 (2007), S. 13-18, hier S. 13. 791 Rosa, Resonanz, S. 298. - Diese Berührung wird in den verschiedenen Variationen des Triester Siesta-Zimmers als eine sinnlich-direkte ausgewiesen: Im obigen Zitat bewegt sich das Kind barfuß über die Fliesen, über die Haut als Sinnesorgan nimmt es ihre „kühle Oberfläche“ (MM, 61) wahr. Auch die Fenster des Jalousienzimmers werden immer wieder als unverhüllt beschrieben, so etwa in der Erzählung „Arsenal“ aus dem Band Miramar (S. 9): „Nackte Fenster, dahinter die Jalousien.“ Das Zusammenspiel der sinnlichen - visuellen und auditiven, aber auch haptischen - Eindrücke, das der „von außen erzwungene[n] Unbeweglichkeit“ kontrastiert, zum Erfinden von Geschichten, Dialogen und Begegnungen anregt und somit „einen ersten Akt des Dichtens und Erzählens“ 788 darstellt, erzeugt einen lebendigen 789 Raum, in dem die „gefiltert[e]“ Welt nicht gerade zum Singen, aber immerhin zum Sprechen anhebt. Harmut Rosas roman‐ tisch 790 inspirierter ‚Resonanz‘-Begriff lässt sich hier anbringen, der eine durch Prozesse der Affizierung hervorgebrachte „Form der Weltbeziehung“ meint, in der sich - im Gegensatz zu „entfremdeten“ respektive „stummen“ Weltver‐ hältnissen - „Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transfor‐ mieren“ 791 . Als bevorzugten Ort einer solchen Weltbeziehung betrachtet Rosa 282 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 792 Rosa, Resonanz, S. 85. 793 Vgl. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 174. Zur Landschaft bei Müller vgl. auch Julia Kubin, Ruderale Texturen. Verfall und Überwucherung in (post-)sozialis‐ tischen Erzählungen. Bielefeld 2020, bes. S. 101-144. 794 Dieser Begriff dient Rosa zur Beschreibung entfremdeter Weltbeziehungen, in denen „das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden“ erfährt. Rosa, Resonanz, S. 306. 795 „Vom Hauptplatz erhob sich Stimmengewirr. Die fremden Laute wurden zur ge‐ wohnten Geräuschkulisse.“ Rakusa, Die Insel, S. 10. - „Es gibt die kurze Nacht der Siesta und die lange Nacht der Sterne und skandierten Leuchtturmsignale. Wenn es so still ist, daß das Geräusch der Brandung hochschwappt. Das Meer leckt seine Ufer, das Meer wiegt seinen Tang. Und den Wachliegenden in Schlaf. Was habe ich geschlafen in Triest, wieviel geträumt. Dreisprachig. Es reicht noch für Jahre.“ Dies., Dreimal Süden. Gefühle, S. 138. - „Wir aßen eine Kleinigkeit, dann war Siestazeit. Ausgeklinkte Stunden, ein Slow-down und Calm-down, ein Pssst, das selbst die lautlos-flinken Eidechsen ins Versteck trieb.“ (MM, 53) - „Mein Ohr [… ] horcht angespannt weiter. Viaggio. Oder ungarisch vigyázz (paß auf).“ (MM, 60) - An dieser Reihe von Variationen lässt sich ein Übergang von Formen latenter zu Formen manifester Mehrsprachigkeit nachvollziehen. Diese Manifest-Werdung von Mehrsprachigkeit in Mehr Meer scheint der über die Zeit betrachtet immer expliziter werdenden Selbstinszenierung Rakusas als transkulturelle Autorin zu entsprechen. 796 Zu diesem Begriff, welcher sich auf die lokale Verfestigung, Fortschreibung und Variation affektiver Strukturen bezieht und dem ein relationales Verständnis von ‚Affekt‘ zugrunde liegt vgl. Jan Slaby / Rainer Mühlhoff / Philipp Wüschner, Affec‐ tive Arrangements. In: Emotion Review 1/ 11 (2019), S. 3-12, hier S. 4: „By ‚affective arrangement‘ we mean a material-discursive formation as part of which affect is patterned, channeled, and modulated in recurrent and repeatable ways.“ u. a. die Haut, die er als eine „semipermeable Membran“ versteht, „die Welt und Subjekt miteinander in Beziehung setzt und sie wechselseitig empfänglich und durchlässig macht“ 792 . Während Müller in ihren Kindheitsdarstellungen scheiternde Versuche des In-Beziehung-Tretens zur Welt inszeniert - die körperliche Anverwandlung an die Pflanzen misslingt genauso wie die Bemü‐ hung des Kindes, mit ihnen in Kommunikation zu treten, auch die Landschaft zeigt sich dem Menschen gegenüber, der ihr schutzlos ausgeliefert ist, oftmals indifferent, 793 kurz: die Welt erscheint als „nicht-responsiv“ 794 -, wird das Siesta-Zimmer als ein Raum beschrieben, dessen „poröse[ ] Membran“ (MM, 62) das Kind bergend umhüllt und es zugleich in Kontakt mit seiner sinnlichen Umgebung treten lässt, die als eine vielstimmig klingende gekennzeichnet ist. 795 Dieser Gegensatz lässt sich noch weiter zuspitzen anhand einer Szene aus der Erzählung „Niederungen“, die als umgekehrtes Pendant zum „affek‐ tiven Arrangement“ 796 des Siesta-Zimmers angeführt werden kann: 283 5.4 Prä- und Rekonfigurationen von Autorschaft 797 Rakusa, Die Insel, S. 10; vgl. auch dies., Miramar, S. 9: „Nein, keinen Gardinen.“ 798 Dies., Die Insel, S. 10. 799 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 170. 800 Rakusa, Zwischen Märchen und Melancholie, S. 78. 801 Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 170. Ich hasse diesen Mittagsschlaf. Ich lieg mit meinem Haß im Bett, und Großmutter verdunkelt das Zimmer und schließt der Reihe nach die Türen: die Zimmertür, die Vorzimmertür, die Eingangstür. Ich darf zwei Stunden nicht heraus aus der Dunkelheit. Ich habe Angst vor dem Einschlafen. (N, 98) Während das Kind der „Niederungen“ seinen Mittagsschlaf in einem von der Welt mehrfach abgeriegelten Raum abhält, in dem sich die Erfahrung resonanter Weltbeziehung als eine Unmöglichkeit darstellt, erscheint Rakusas Siesta-Zimmer auf „Durchzug“ gestellt: „Vorhänge bewegen sich keine. Es gibt hier keine Vorhänge.“ 797 Rakusas Figuren wissen sich „angeschlossen“ 798 an die Welt, denn durch die Haut der Jalousien können Licht und Geräusche dringen, die das Subjekt körperlich affizieren und seine Phantasie animieren. Zwar beugen sich auch Rakusas kindliche Protagonistinnen dem Mittagsschlaf zunächst nur widerwillig: „Ich mag die Zäsur nicht, nicht diesen Dämmer am hellichten Tag.“ (MM, 60) Doch anders als in Müllers „Niederungen“ wird dieses Ritual bei Rakusa nicht als existenziell bedrohlicher, angstbesetzter „Ausschluss von der Welt“ und „von der Teilhabe am Leben“ 799 empfunden. Die „verordnete Stille“ 800 ist keine leere, tote, sondern verbunden mit einem Erwachen der Sinne, vor allem des Gehörssinns: „je länger die Stille dauert, desto beredter ist sie. Ich höre Stimmfetzen, höre feines Blätterrascheln. Irgendwo in der Ferne jault ein Hund (obwohl auch die Tiere schlafen). Etwas knarrt. Drüben geht die WC-Spülung. Mein Ohr sintert die Geräusche und saugt sie ein. Und horcht angespannt weiter.“ (MM, 60) Während in der zitierten Passage aus Müllers „Niederungen“ ein, wie Johannsen überzeugend dargelegt hat, Dreischritt aus „Einschluss bzw. Ausschluss der Außenwelt, Stillstellung und Auslöschung“ 801 vollzogen und der Schlaf später sogar mit dem Tod gleichgesetzt wird (vgl. N, 98), erlebt die Protagonistin von Mehr Meer das abgedunkelte Zimmer als einen Schutz- und Zufluchtsraum, der sich als durchlässig erweist. Damit werden in den beiden Texten diametral unterschiedliche Räume gestaltet: Ein in sich geschlossener, hermetischer Raum auf der einen und ein Raum des Übergangs zwischen Innen und Außen auf der anderen Seite, der es dem Subjekt gestattet, an der Welt zu partizipieren und mit ihr in Beziehung zu treten. Während Müller „der magischen Seite der Kindheit“ nach eigener Aussage „nicht viel“ (Teufel, 12) abgewinnen kann, wird „Jalousien“ der Ich-Erzählerin von Mehr 284 5 Un-/ Re-/ Doing Belonging: Im gebrochenen Kontinuum der Nicht-/ Zugehörigkeit 802 Dies ist der Kritikpunkt, der gegenüber Rosas ‚Resonanz‘-Konzept wiederholt formu‐ liert wurde. Rosa selbst hat zu dieser Kritik Stellung bezogen, vgl. Hartmut Rosa, Heimat als anverwandelter Weltausschnitt. Ein resonanztheoretischer Versuch. In: Costadura / Ries / Wiesenfeldt (Hrsg.), Heimat global, S. 153-172, hier S. 153 f. Meer zum ‚Zauberwort‘ einer Resonanzerfahrung, die mittels sinnlicher Organe die Welt zum ‚Sprechen‘ bringt. Mit diesem Wort vollführt Rakusa performative Erinnerungsakte, die sie in den imaginären Sehnsuchtsraum ihrer Kindheit katapultieren: „Ich sage: Jalousien, und bin augenblicklich fort. Versetzt nach dort, in eine mittagsträge Straße.“ (MM, 85) Viertes Zwischenresümee Der Vergleich zwischen den ‚Kindheitsmustern‘ der beiden Autorinnen und den Zugehörigkeitsdynamiken, die sich in den Versatzstücken der Erinnerung kris‐ tallisieren und im Vollzug der performativen Wiederholung immer wieder neu hergestellt, affirmiert und verfestigt, aber auch verändert werden, hat scharfe Kontraste herausgestellt, die es resümierend zu beurteilen gilt. Inwieweit manifestieren Rakusas Kindheitsreprisen ein affektives Muster, dass „Resonanz, Response“ (Sprache, 14) gegenüber der Dissonanz privilegiert und damit ein har‐ monistisches 802 Zugehörigkeitsverständnis formuliert? Die romantisierenden Zugehörigkeitsvorstellungen, die sich in den Variationen des Siesta-Zimmers als einem Resonanzraum positiver Affizierungen und Ich-Welt-Beziehungen zur Geltung bringen, werden relativiert und gebrochen durch die Risse, die sich im retrospektiven Blick auf den Raum der Kindheit einstellen und Dissonanzen hervorbringen. Dass Resonanz als Sehnsucht nach Stimmigkeit auch in Müllers Darstellungen einer „alleenigen“ Kindheit als treibender Faktor fungiert, der zur schöpferischen Tätigkeit animiert, aber Nicht-Zugehörigkeit (re-)produziert, habe ich im Unterkapitel 5.4.1 gezeigt. Zugleich habe ich deutlich gemacht, dass Müller die Erfahrung der Unstimmigkeit, des Nicht-Einverständnisses zwischen Ich, Sprache und Welt, nicht nur als einen misslichen Zustand interpretiert, sondern die Herstellung von Nicht-Zugehörigkeit aktiv praktiziert. In den beständigen Wiederholungen wird der Versuch eines Aufbrechens verfestigter Zugehörigkeitsmuster und Affektstrukturen unternommen und so Einspruch gegen die Wiederholung selbst erhoben. 285 Viertes Zwischenresümee 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion Diese Arbeit ist mit dem Anspruch angetreten, das affektpoetologische Pro‐ gramm eines Schreibens im Wi(e)derspruch zu entwickeln, das verschiedene Konzepte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion aufeinander bezieht, indem es die Gestaltung literarischer Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit unter dem Gesichtspunkt affektiver sozialer Verortung analysiert. Die Verbin‐ dung affekttheoretischer Ansätze der Zugehörigkeitsforschung mit literatur‐ wissenschaftlichen Verfahren kann als Bekräftigung dafür gelten, dass eine sensibel praktizierte Interdisziplinarität mit der Komplexität und Heterogenität des Gegenstandes ‚Literatur‘ nicht nur vereinbar ist, sondern sogar von ihm gefordert wird, um zu einem differenzierten Verständnis von sozialer Verortung zu gelangen. Ziel dieser Untersuchung war es, die Einsichten der Belonging Studies für die Literaturwissenschaft und für literarische Entwürfe von Nicht-/ Zugehörigkeit produktiv zu machen, sie aber auch kritisch zu befragen und um neue Impulse und Fragestellungen zu erweitern, die sich - gleichsam induktiv - aus den Besonderheiten des Untersuchungsmaterials ergeben. Durch diese Vorgehensweise konnten nicht nur elementare Einsichten in ein ver‐ meintlich selbstverständliches (Gefühls-)Phänomen gewonnen werden, das in einer durch Mobilität und Migration geprägten Gesellschaft vielfältig heraus‐ gefordert wird und für das einzelne Individuum existenzielle Relevanz besitzt; es konnte auch verdeutlicht werden, dass die literarischen Nicht-/ Zugehörig‐ keitsentwürfe weit mehr als nur illustrierende Funktion für interdisziplinär geführte Debatten haben. Sie bieten vielmehr das Potenzial, normativ aufge‐ ladene Vorstellungen von und stereotype Sichtweisen auf Zugehörigkeit zu hinterfragen sowie Ambivalenzen sichtbar zu machen. Die titelgebende Formel vom Schreiben im Wi(e)derspruch spiegelt dies wider und macht darüber hinaus darauf aufmerksam, wie sich Literatur auf gesellschaftliche Verhältnisse der Nicht-/ Zugehörigkeit beziehen kann: Das Schreiben im Wi(e)derspruch kann alternative Entwürfe von Zugehörigkeit hervorbringen, die sich als Einspruch gegen bestehende Ordnungen zu verstehen geben. Durch die performative Kraft der Wiederholung kann es verändernd, aber auch reproduzierend auf diese Ordnungen einwirken. Damit ist ein Bedeutungsspektrum benannt, das es in der Analyse von Müllers und Rakusas Texten allererst zu gewinnen galt. Insgesamt konnte gezeigt werden, dass sich Dynamiken von Zugehörig‐ keit und Nicht-Zugehörigkeit in den untersuchten Texten auf verschiedenen Ebenen artikulieren und zu Poetiken formieren, die dialogische Konzepte 803 Dieses und vorhergehendes Zitat: Griem, Standards für Gegenwartsliteraturforschung, S. 102 f. von ‚Autorschaft‘ ausprägen und Anstoß zu einer Neureflexion zentraler lite‐ raturwissenschaftlicher Grundbegriffe geben. Unter maßgeblichem Rückgriff auf die theoretischen Ansätze Bachtins habe ich für Müllers und Rakusas Nicht-/ Zugehörigkeitsentwürfe den Begriff der ‚Sprechpoetik‘ starkgemacht, um das auditive Element der Zugehörigkeit zu akzentuieren. Dieser Begriff kann als eine Einladung verstanden werden, das Blickfeld - auch über das Werk von Müller und Rakusa hinaus - auf Formen des Schreibens und Sprechens zu erweitern, die im literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskurs oftmals wenig Anerkennung finden. Eine solche Erweiterung halte ich für wichtig, um einer Herausforderung zu begegnen, die sich spezifisch für das Forschungsfeld der Gegenwartsliteraturwissenschaft stellt. Diese Herausforderung betrifft die neu‐ artige Vielfalt an Formen des Sprechens und Schreibens, die den Autorinnen und Autoren „erweiterte Spielräume von Selbstdarstellung“ eröffnen. Formate wie Autoreninterviews oder Poetik-Vorlesungen liefern „nicht einfach nur reichhal‐ tigeres Material für potenziell überzeugendere Interpretationen“ 803 ; vielmehr sind sie als Teil eines dialogischen Kontinuums zu begreifen, in dem sich Literatur und Leben vielgestaltig durchdringen, um die prozessuale Dimension der Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Diese dynamische Prozessualität, die in der Forschung zu belonging als fundamental hervorgehoben wird und die gängigen Einteilungen von Sprechweisen, Gattungen und sogar Werken infra‐ gestellt, findet ihre Umsetzung in den paradoxen Performanzen von Anbindung und Loslösung, in den Wanderungen und Wandlungen einzelner Nicht-/ Zuge‐ hörigkeitsmotive, in der Bewegung des Schreibens durch verschiedene Formen und Gattungen der Rede sowie in der Praxis des variierenden Wiedererzählens spezifischer Konstellationen der Nicht-/ Zugehörigkeit. Müllers und Rakusas Schreiben im Widerspruch vermittelt den Eindruck eines Nicht-zu-Ende-Kom‐ mens; es setzt keinen abschließenden Punkt, sondern behält sich vor, das Gesagte und Geschriebene, wenn nicht zu widerrufen, so doch zu modifizieren und zu verändern. Diese Prozessualität, die herauszuarbeiten ein wesentliches Anliegen meiner Arbeit war, habe ich durch den Begriff des ‚Entwerfens‘ und andere Termini, die Offenheit und Unabgeschlossenheit signalisieren, beschrieben. In kritischer Absetzung von der belonging-Forschung habe ich gezeigt, dass zwischen ‚Zugehörigkeit‘ und ‚Sprache‘ kein einfacher Gegensatz besteht, sondern Sprechen und Schreiben als Orte des fortlaufenden Entwerfens und Verwerfens, des Mitteilens und Zerteilens von Nicht-/ Zugehörigkeiten erscheinen. 288 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion 804 Vgl. hierzu einschlägig: Lutz Danneberg / Annette Gilbert / Carlos Spoerhase (Hrsg.), Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin / Boston 2019. 805 Dies., Zur Gegenwart des Werks. In: Dies. (Hrsg.), Das Werk, S. 3-28, hier S. 22. 806 Vgl. Apfelkern, 47: „Ich war überzeugt, die Änderungen der Lektorin haben rein literarische Gründe, im Ästhetischen kennt sich jemand aus dem Westen besser aus als ich. Und wen interessiert eine verklemmte deutsche Minderheit und eine Diktatur am Rand der Welt, dachte ich, und wenn so ein Buch im Westen erscheint, darf es wahrscheinlich nicht zu dick werden, damit es überhaupt jemand kauft.“ 807 So steht es in der editorischen Notiz am Ende des Buches (o. P.). - Übrigens ist in der Reihe „Erstlingswerke deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts“ des Verlags Faber & Dieses zentrale Ergebnis will ich ausblickhaft auf die Frage hin reflektieren, wie sich die Tätigkeit des Entwerfens zum ‚vollendeten Werk‘ als ihrem (vermeintlichen) Telos verhält. Ich habe Müllers und Rakusas Schreiben als ein Durchprobieren von Möglichkeiten, als ein Ausloten von Fluchträumen der Zugehörigkeit, als eine immer wieder neu aufgenommene Suchbewegung beschrieben und gezeigt, dass beide Autorinnen auf ein relativ begrenztes und stabiles Repertoire an Stoffen, Themen, Motiven und Versatzstücken von Erinnerung rekurrieren, die ein hohes Maß an Kohärenz stiften. Durch das verknüpfende Tun der Wiederholung, das Text- und Gattungsgrenzen durch‐ lässig werden lässt, verbinden sich Leben und Werk zum unzertrennlichen Lebens-Werk. Aus der Perspektive der neueren Forschung zum Werkbegriff, der im Zuge poststrukturalistischer Kritik und performanztheoretischer Ansätze als anachronistisch desavouiert worden ist und - anders als etwa der totgesagte ‚Autor‘, welcher bereits in den 1990er Jahren seine ‚Auferstehung‘ feierte - erst seit einigen Jahren wieder vermehrt diskutiert und einer theoretischen Revision unterzogen wird, 804 lässt sich die Werkförmigkeit eines Textkorpus jedoch nicht allein an textbezogenen (Kohärenz-)Kriterien festmachen, sondern ist vielmehr als Erzeugnis „von spezifischen, mehr oder weniger institutiona‐ lisierten Praxiszusammenhängen“ 805 zu betrachten, an denen verschiedene Ak‐ teure des literarischen Lebens, darunter auch - und in zunehmendem Maße - die Autorinnen und Autoren selbst, teilhaben. Ein eindrückliches Beispiel für diese Zusammenhänge ist die Publikationsgeschichte von Müllers Niederungen-Band, der in Rumänien zensuriert und in der Bundesrepublik einer monolingualen Lektoratspraxis unterworfen wurde. „Ich widersprach nicht“ (Apfelkern, 46), kommentiert Müller im Rückblick die massiven Eingriffe des Rotbuch Verlags und begründet diese Zurückhaltung mit ihrer Herkunft vom Rand. 806 Unter Berufung auf die Autorität der - zwischenzeitlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten - Autorin präsentiert der Hanser Verlag 2010 die „definitive Ausgabe der Niederungen“ 807 und bestimmt damit, dass der Text seine endgültige, 289 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion Faber vor Kurzem (Herbst 2021) eine aufwendig gestaltete Neuausgabe von Müllers Debütband erschienen, die auf der Hanser Textfassung basiert und mit Illustrationen nach Holzschnitten von Franziska Neubert ausgestattet ist. 808 Wie der editorischen Notiz ebenfalls zu entnehmen ist, hat Müller die Kürzungen von 1984 nur „zum Teil rückgängig gemacht“, sodass die Hanser Fassung nicht als ‚authentische‘ oder ‚ursprüngliche‘, sondern als eine weitere Textvariante anzusehen ist. 809 Magnus Wieland, Werkgenesen. Anfang und Ende des Werks im Archiv. In: Danne‐ berg / Gilbert / Spoerhase (Hrsg.), Das Werk, S. 213-236, hier S. 229. 810 Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie. 1750-2000. Göttingen 2017. 811 Schweizerisches Literaturarchiv, Archiv Ilma Rakusa. URL: https: / / ead.nb.admin.ch/ ht ml/ rakusa_C.html#C (zuletzt abgerufen am 19.05.2022). wenngleich nicht originale 808 Gestalt angenommen und somit als abgeschlos‐ senes Werk zu gelten hat. Als Literaturwissenschaftlerin und Autorin scheint Rakusa eine gesteigerte Sensibilität für die ein Werk konstituierenden „Praxiszusammenhänge“ zu haben, wie die Übergabe ihres Vorlasses an das Schweizerische Literaturarchiv dokumentiert. Es ist ein relativ junges Phänomen, dass Autorinnen und Au‐ toren schon zu Lebzeiten Archive zur Sicherung ihres literarischen Erbes in Anspruch nehmen und durch die (selektive) Auswahl von Material versuchen, proaktiv Einfluss auf ihre Rezeption zu gewinnen und der „Gefahr einer posthum entzogenen Werkherrschaft“ 809 entgegenzuwirken. Die Entscheidung, das persönliche Archivgut bereits zu Lebzeiten einer öffentlichen Einrichtung zu übergeben, spricht für ein hohes „Nachlassbewusstsein“ 810 der Autorin. In ihr behauptet sich eine Geste auktorialer Souveränität, die Kontrolle über das eigene Werk und sein Fortleben gewährt. Das Schweizerische Literaturarchiv ist nach dem Provenienzprinzip vorgegangen, das heißt, Rakusas eigenes Ordnungssystem und die in ihm enthaltene Vorentscheidung darüber, was zum Werk gehört und was nicht, wurden bei der Erschließung des Vorlasses übernommen. Unter der Kategorie „Werke“ stehen nicht nur verschiedene Gattungen wie etwa „Lyrik“, „Prosa“, „Poetikvorlesungen“ sowie „Essay- und Aufsatzsammlungen“ gleichberechtigt nebeneinander, sondern werden zum Beispiel auch „Materialien aus Universität und Lehre“ 811 subsumiert. Aber noch etwas anderes ist bemerkenswert: Den einzelnen Werkkonvoluten sind Briefe und andere autobiographische Dokumente hinzugefügt, was die Annahme einer engen Verbindung von Leben und Werk nahelegt und die Wahrnehmung ihres gegenseitigen Zusammenhangs bestärkt. Damit werden jene Aspekte heraus‐ gestellt und wortwörtlich ‚ins Werk gesetzt‘, die für Rakusas Poetik und Autor‐ schaftskonzeption in dieser Untersuchung als charakteristisch herausgearbeitet worden sind: Einmal mehr präsentiert sich Rakusa als eifrige Sammlerin ihrer 290 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion 812 Wieland, Werkgenesen, S. 321 f. 813 Carlos Spoerhase, Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia poetica 11 (2007), S. 276-344, hier S. 329. 814 Vgl. Wieland, Werkgenesen, S. 223 f.; vgl. auch Carolin Amlinger, die argumentiert, dass der Entwurf „die Weigerung des Abschließens“ in sich trägt. Carlon Amlinger, Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Berlin 2021, S. 507. 815 Mit diesem eingängigen Bild beschreibt Bachtin das prinzipiell offene und unabge‐ schlossene Geschehen der Dialogizität. Vgl. Bachtin, Sprechgattungen, S. 52. selbst, die durch das spezifische Arrangement verschiedenartiger Materialien unser Augenmerk auf das Zusammenspiel ihrer akademischen, publizistischen und literarischen Tätigkeitsfelder lenkt und sie als gleichwertige Teile ihres lebenswerklichen Gesamtzusammenhangs zueinander in Beziehung bringt. So gesehen fügt sich der Vorlass nahtlos in das Bild, das Rakusa in ihrer poetologi‐ schen Selbstdarstellung als Autorin von sich produziert: er dokumentiert nicht nur den „work in progress“ (Sprache, 16), den Rakusa für ein konstitutives Merkmal ihres Schaffens hält, sondern vollzieht ihn auch selbst, indem er „die Poetik des publizierten Werks […] mit anderen Mitteln (re-)inszeniert und fortschreibt“ 812 . Einerseits machen die im Archiv versammelten Notizen, Entwürfe und verschiedenen Fassungen die Prozessualität des Schreibens - den Weg zum gedruckten Endprodukt - nachvollziehbar und affirmieren somit den „teleologischen Bezug“ 813 , der dem emphatischen Werkbegriff innewohnt. Andererseits können sie die Autonomie des veröffentlichten Werks infrage stellen, indem sie es als eine Variante unter anderen präsentieren. 814 Rakusas Vorlass besitzt somit gleichermaßen werkbezeugende und -erzeugende wie werkbzw. finalitätskritische Funktion. Das ‚fertige‘ Werk steht im Horizont alternativer Möglichkeiten der Realisierung, die auch immer dort zum Vorschein treten, wo Rakusa Ähnliches variantenreich präsentiert. Ein Beispiel hierfür waren ihre Triest-Erinnerungen, die von Werk zu Werk wiedererzählt und sogar innerhalb eines Buches mehrfach gestaltet werden. Durch die Praxis des Sich-selbst-Fortschreibens mutiert das ‚fertige‘ Werk in ein vorübergehendes; es nimmt gewissermaßen wieder Entwurfscharakter an und wird wahrnehmbar als ein Glied innerhalb einer „Kette“ 815 anderer, ihm vorhergehender bzw. nachfolgender Äußerungen, auf die es dialogisch bezogen ist. So lässt sich das Erscheinen von Rakusas jüngstem Buch Mein Alphabet durchaus als Einspruch der Autorin gegen die Abgeschlossenheit ihres eigenen Textes und mithin als explizites Signal dafür lesen, dass sie mit ihrem autobiographisch geprägten Erinnerungsbuch Mehr Meer das letzte Wort über ihr eigenes Leben noch nicht gesprochen respektive geschrieben hat. Dieses letzte Wort kann es nach Bachtin auch gar nicht geben: „Solange der Mensch lebt, lebt er davon, noch nicht abgeschlossen zu sein und noch 291 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion 816 Ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 66; vgl. auch ders., Zur Methodologie der Literaturwissenschaft [1940/ 74]. In: Ders., Ästhetik des Wortes, S. 349-357, hier S. 357: „Es gibt kein erstes und kein letztes Wort, und es gibt keine Grenzen für den dialogischen Kontext.“ - Zum Problem der Unabgeschlossenheit bei Bachtin vgl. Anne Fleig, Formen der Polyphonie in Döblins Berlin Alexanderplatz und Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Peter Clar / Walter Fanta (Hrsg.), Alfred Döblin und Robert Musil - Essayismus, Eros und Erkenntnis. Bern 2021, S. 69-85, hier S. 76 und Jürgen Brokoff / Torsten Hitz, Die endliche und die unendliche Kommunikation bei Bachtin und Kristeva. In: Torsten Hitz / Angela Stock (Hrsg.), Am Ende der Literaturtheorie? Neun Beiträge zur Einführung und Diskussion. Münster 1995, S. 26-42. 817 Vgl. Spoerhase, Was ist ein Werk? , S. 288: „(a) ein Werk konstituiert sich durch einen Titel (paratextuelles Kriterium), (b) durch einen Veröffentlichungsakt (institutionelles Kriterium), (c) durch die Autorabsicht (intentionales Kriterium) oder (d) durch seinen Geschlossenheitsgrad (Anfang und Ende) bzw. Vollendungsgrad (ästhetisches Krite‐ rium).“ Zum institutionellen Kriterium vgl. auch Uwe Wirth, der im Anschluss an Michael Červenka argumentiert, dass sich mit dem Akt der Veröffentlichung der Status eines Textes fundamental wandele: „Mit seiner Druckerlaubnis vollzieht der Autor einen intentionalen Akt, der den gesamten Text in den Modus der ‚Endgültigkeit‘ versetzt - zumindest für die aktuelle Auflage.“ Uwe Wirth, Zwischenräumliche Schreib‐ praktiken. In: Jennifer Clare / Susanne Knaller / Rita Rieger u. a. (Hrsg.), Schreibpro‐ zesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. Heidelberg 2018, S. 13-26, hier S. 17. 818 Müller, Lebensangst und Worthunger, S. 82. nicht sein letztes Wort gesprochen zu haben.“ 816 Auch Müllers Weitersprechen und Weiterschreiben ist von diesem Grundgedanken getragen und bewegt sich somit im Widerspruch gegen den Imperativ der Kritik, doch endlich loszulassen von Rumänien und sich neuen Themen zuzuwenden. Ein Roman wie Herztier ist als ein vollgültiges, formal-ästhetisch eigenständiges Werk anzusehen: Es verfügt über einen Titel, es liegt in veröffentlichter, von Müller autorisierter Form vor und zeichnet sich aufgrund seiner Rahmenstruktur durch einen relativ hohen Grad an Abgeschlossenheit aus. 817 Gleichzeitig aber habe ich gezeigt, dass Müller durch ihr wiederholendes Schreiben die Grenzen des einzelnen Werks derart fragwürdig werden lässt, dass ihre Texte in ein geteiltes Kontinuum der Kommunikation geraten. Die Insistenz des Weitersprechens und Weiterschrei‐ bens, welche der Prozessualität von Nicht-/ Zugehörigkeit korrespondiert und sie performativ zur Geltung bringt, bleibt somit in einer widersprüchlichen Ambivalenz befangen. „Na und? Widersprüche sind doch gut.“ 818 292 6 Kein letztes Wort: Schlussreflexion Abstracts und Keywords Schreiben im Widerspruch: Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa Ist Zusammengehörigkeit auf Worte angewiesen? Bedeutet ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit zugleich ein ‚Mehr‘ an Zugehörigkeit? Diese Studie fragt nach der Bedeutung des Sprechens und Schreibens für die Mitteilung und den Vollzug von Gefühlen der Zugehörigkeit. In Auseinandersetzung mit dem Werk zweier literarischer Gegenwartsautorinnen, Herta Müller und Ilma Rakusa, entwickelt sie das affektpoetologische Programm eines Schreibens im Wi(e)der‐ spruch, das literaturwissenschaftliche Verfahren erstmalig mit Ansätzen der so‐ zialwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung verbindet und sich an ein interdisziplinär aufgeschlossenes Lesepublikum richtet. Anhand von Romanen, Erzählprosa, Reden, Essays, Poetik-Vorlesungen, Gesprächen und Interviews der beiden Autorinnen arbeitet sie die je spezifischen Ausprägungen des komplexen Zusammenhangs zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehö‐ rigkeit heraus, die sich in geteilten Gefühlen artikulieren und ein Bündel von Thesen belegen: Die Analyse des Schreibens im Widerspruch zeigt erstens auf, dass Zugehörigkeit keineswegs immer mit Wohlgefühlen wie Geborgenheit, Sicherheit, Wärme und Vertrauen assoziiert sein muss und wirkt somit den normativen Tendenzen entgegen, wie sie sowohl in Teilen der interdisziplinären belonging-Forschung als auch in Teilen der alltäglichen und öffentlichen Rede über Zugehörigkeit vorherrschen. Zweitens macht die Untersuchung deutlich, dass Zugehörigkeit nicht erst durch Migration problematisch wird, sondern ihre dynamische Prozessualität auch und gerade in Kontexten zum Vorschein tritt, die als starr und unbeweglich dargestellt sind. Dieser dynamischen Prozessualität korrespondiert drittens die Bewegung des Schreibens durch verschiedene - schriftliche oder mündliche - Gattungen des Sprechens, die als Orte der Reflexion und Artikulation multipler, prekärer oder ambivalenter Erfahrungen der Zugehörigkeit fungieren und somit Antworten auf die bisher wenig erforschte Frage nach dem Zusammenhang von Zugehörigkeit und Sprache bieten. Die Poetiken der Nicht-/ Zugehörigkeit konstituieren sich als vielstimmige Sprechpoetiken, die immer auch das (Zu-)Hören involvieren und daher, viertens, dialogische Konzepte von ‚Autorschaft‘ hervorbringen, welche die Unzertrennlichkeit von Leben und Literatur wiederholt und affektiv zur Geltung bringen. Die Untersuchung der Brüche und Widersprüche von Nicht-/ Zugehörigkeit in den Texten Müllers und Rakusas lädt dazu ein, zentrale literaturwissen‐ schaftliche Grundbegriffe wie ‚Autorschaft‘, ‚Gattung‘ und ‚Werk‘ neu zu durch‐ denken. Sie eröffnet elementare Einsichten in ein vermeintlich selbstverständli‐ ches Gefühlsphänomen, das in den mobilen, globalisierten und durch Migration pluralisierten Gesellschaften der Gegenwart vielfältig herausgefordert wird und für das einzelne Individuum von existenzieller Tragweite ist. Die Arbeit zeigt auf, dass gerade die Auseinandersetzung mit literarischen Texten imstande ist, zu einem differenzierten Verständnis von Prozessen affektiver sozialer Verortung beizutragen und gibt damit Impulse für weitere Forschungen im Feld der transkulturellen Zugehörigkeits- und Gegenwartsliteraturforschung. Keywords: Zugehörigkeit/ belonging, Gegenwartsliteratur, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität/ Transkulturalität, Affekte, Emotionen, Gefühle, Herta Müller, Ilma Rakusa Writing and Speaking Again and Against: Un-/ Belonging in the Work of Herta Müller and Ilma Rakusa Is belonging a matter of words? Does ‚multilingualism‘ equate to ‚multiple‘ belonging? This study examines the significance of speech and writing when communicating and experiencing feelings of belonging. Exploring the work of two contemporary authors - Herta Müller and Ilma Rakusa - from a poetolo‐ gical perspective, it brings together literary methods and interdisciplinary approaches to affective belonging for the first time, and addresses a readership from various academic backgrounds. Using novels, narrative prose, speeches, es‐ says, poetry readings, talks and interviews by these authors, the thesis elaborates the specific characteristics of the complex relationship between belonging and unbelonging, as expressed through mixed and shared feelings, characteristics which substantiate a number of theoretical assumptions: By demonstrating that belonging is not always associated with feelings of well-being, such as comfort, security, warmth or trust, this study primarily contradicts normative notions of belonging, as they can be found both in research and public discourse. Secondly, this study reveals that issues of belonging do not only come up in relation to migration, but that its dynamic processuality also emerges specifically within contexts that are presented as rigid and inflexible. This dynamic processuality corresponds to the movement of writing through various written or oral ‚speech genres‘ (M. Bachtin) that serve to reflect and to articulate multiple, precarious or ambivalent experiences of belonging, and therefore answer questions about the link between belonging and language, which research has largely neglected until now. The poetics of un-/ belonging are realised as many-voiced poetics 294 Abstracts und Keywords of speech that invariably involve listening, and therefore produce dialogical concepts of authorship that repeatedly and affectively underline that life and literature are inseparable. Studying the disruptions and contradictions of un-/ belonging in Müller’s and Rakusa’s writing invites us to rethink key literary concepts, such as ‚authorship‘, ‚genre‘ and ‚work‘. The analysis of Writing and Speaking Again and Against reveals fundamental insights into a supposedly self-evident emo‐ tional phenomenon that is of existential relevance to every individual and that faces diverse challenges in today’s mobile, globalised societies. This book demonstrates that examining literary texts is particularly helpful in contributing to a differentiated understanding of processes of socio-affective localisation, and thereby stimulates further exploration in the fields of transcultural belonging and contemporary literature. Keywords: Belonging, Contemporary Literature, Multilingualism, Intercultu‐ rality/ Transculturality, Affects, Emotions, Feelings, Herta Müller, Ilma Rakusa 295 Abstracts und Keywords Siglen und Hinweise Kursivierungen werden im Fließtext für Betonungen und Buchtitel eingesetzt. Titel einzelner Erzähltexte, Essays, Reden und Poetik-Vorlesungen, die aus Sam‐ melbänden stammen, werden im Fließtext mit doppelten Anführungsstrichen gekennzeichnet. Wörtliche Zitate und verbreitete Redeweisen stehen ebenfalls in doppelten Anführungszeichen. Hervorhebungen im Original werden im Zitat wiedergegeben, eigene Hervorhebungen werden durch den Zusatz [Herv. M. A.] besonders gekennzeichnet. Einfache Anführungszeichen dienen zur Kennzeichnung von Zitaten in Zitaten, von Wörtern, Begriffen und Konzepten sowie von problematischen Ausdrücken und uneigentlichem Sprachgebrauch. Ich verzichte in dieser Arbeit auf typographische Hervorhebungen, welche die Norm der Einsprachigkeit perpetuieren, indem sie bestimmte Ausdrücke als fremd und nicht-zugehörig markieren. Folgende Siglen finden im Text Verwendung: Herta Müller Apfelkern Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. München 2014. Falle In der Falle. Göttingen 1996. Fuchs Der Fuchs war damals schon der Jäger. Roman [1992]. Frankfurt am Main 2009. H Herztier. Roman [1994]. München 2007. HS Hunger und Seide. Essays [1995]. München 2015. König Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003. N Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010. Schnee Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München 2011. Teufel Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin 1991. Ilma Rakusa Bildungsroman Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Stefan Zweig Poetikvorlesung. Wien 2014. Farbband Farbband und Randfigur. Vorlesungen zur Poetik. Graz 1994. MA Mein Alphabet. Graz 2019. MM Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz 2009. Sprache Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2005. Mit einem Nachwort von Walter Schmitz sowie einer Bibliografie. Dresden 2006. Steppe Steppe. Erzählungen. Frankfurt am Main 1990. 298 Siglen und Hinweise Literaturverzeichnis Primärliteratur Herta Müller Niederungen. Prosa. Bukarest 1982. — Niederungen. In: Dies.: Niederungen. Prosa. Bukarest 1982, S. 5-78. Niederungen. Prosa [1982]. Berlin 1984. — Niederungen. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982]. Berlin 1984, S. 17-94. Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010. Im Text zitiert mit der Sigle ‚N‘. — Dorfchronik. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010, S. 125-138. — Das Fenster. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010, S. 118-121. — Die Grabrede. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010, S. 7-12. — Niederungen. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010, S. 17-103. — Das schwäbische Bad. In: Dies.: Niederungen. Prosa [1982/ 84]. München 2010, S. 13-14. Drückender Tango. Prosa. Bukarest 1984. — Die Schachtel der Einsamkeit. In: Dies.: Drückender Tango. Prosa. Bukarest 1984, S. 23-24. Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987. — Über den Kopf der Weinreben. In: Dies.: Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987, S. 24-25. — Viele Räume sind unter der Haut. In: Dies.: Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987, S. 50-74. Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch. In: Die Zeit, 20.03.1987, S. 52. Auch in: Dies.: Barfüßiger Februar. Prosa. Berlin 1987, S. 123-124. „Alles, was ich tat, das hieß jetzt: warten“. Die ausgewanderte rumäniendeutsche Schrift‐ stellerin Herta Müller im Gespräch mit Klaus Hensel. In: Frankfurter Rundschau, 08.08.1987 (Zeit und Bild, 2). 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In: Dies.: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg 1992, S. 17-20. Herztier. Roman [1994]. München 2007. Im Text zitiert mit der Sigle ‚H‘. Hunger und Seide. Essays [1995]. München 2015. Im Text zitiert mit der Sigle ‚HS‘. — Hunger und Seide. Männer und Frauen im Alltag. In: Dies.: Hunger und Seide. Essays [1995]. München 2015, S. 69-94. — Das Ticken der Norm. In: Dies.: Hunger und Seide. Essays [1995]. München 2015, S. 95-108. In der Falle. Göttingen 1996. Im Text zitiert mit der Sigle ‚Falle‘. Heute wär ich mir lieber nicht begegnet [1997]. Roman. Frankfurt am Main 2010. „Die Schule der Angst“ - Gespräch mit Herta Müller, 14.04.1998 [Gespräch mit Beverley D. Eddy]. In: German Quarterly 72 (1999), S. 329-339. Gespräch mit Herta Müller [Gespräch mit Brigid Haines und Margaret Littler]. In: Brigid Haines (Hrsg.): Herta Müller. Cardiff 1998, S. 14-24. Heimat ist das, was gesprochen wird. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2001. Blieskastel 2001. Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich. Kann Literatur Zeugnis ablegen? In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 6-17. Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003. Im Text zitiert mit der Sigle ‚König‘. — Bei uns in Deutschland. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 176-185. — Der König verneigt sich und tötet. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 40-73. — Die Insel liegt innen - die Grenze liegt außen. Dies.: Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 160-175. — In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 7-39. — Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm - wenn wir reden, werden wir lächerlich. In: Dies.: Der König verneigt sich und tötet. München / Wien 2003, S. 74- 105. 300 Literaturverzeichnis „Ich glaube, Sprache gibt es nicht“. 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Mora, Terézia 15, 82 Naum, Gellu 180, 201, 203 ff., 240, 243 Negri, Antonio 88 Özdamar, Emine S. 17, 112 f. Pastior, Oskar 203 f., 280 Semprún, Jorge 53, 231 Stanišić, Saša 113 Tănase, Maria 195, 202, 206 f., 231 Tawada, Yoko 17 f., 27, 112, 114, 214, 218- 225 Tokarczuk, Olga 89 Tomkins, Silvan S. 253, 256 Wagner, Richard (Komponist) 242 f. Wagner, Richard (Schriftsteller) 53 f. Wolf, Christa 176 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg), Rolf Parr (Duisburg-Essen) Bisher sind erschienen: Band 1 Marion Acker / Anne Fleig / Matthias Lüthjohann (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2019, 286 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8657-1 Band 2 Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext 2019, 317 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8676-2 Band 3 Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur 2020, 320 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8712-7 Band 4 Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa 2022, 331 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8776-9 In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Fragen der Mehrsprachigkeit in jüngerer Zeit international gestiegen. Das schließt an einen Trend an, der in der sprachwissenschaftlichen Forschung schon länger zu beobachten ist. Die Grenzen der ehemaligen Nationalphilologien werden unter Stichworten wie Hybridität, Inter- und Transkulturalität zunehmend geöffnet. Zu konstatieren ist dabei auch eine gesteigerte methodische und theoretische Eigenständigkeit philologischer oder kulturphilologischer Ansätze, die sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken von unterschiedlichen Formen sprachlicher Varianz in konkreten Texten auszeichnen. Dem damit sich konstituierenden Feld einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung bietet die Reihe einen Publikationsort. Dies geschieht auch mit dem Ziel, die vielfältige Forschung auf diesem Gebiet an einem Ort sichtbar zu machen und so den weiteren wissenschaftlichen Austausch zu fördern. - Ihrem Gegenstand entsprechend umfasst die Reihe die Einzelphilologien, das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften und punktuell auch die Sprachwissenschaften. ISBN 978-3-7720-8776-9 www.narr.de Ist Zusammengehörigkeit auf Worte angewiesen? Bedeutet ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit zugleich ein ‚Mehr‘ an Zugehörigkeit? Diese Studie fragt nach der Bedeutung des Sprechens und Schreibens für die Mitteilung und den Vollzug von Gefühlen der Zugehörigkeit. In Auseinandersetzung mit dem Werk zweier literarischer Gegenwartsautorinnen, Herta Müller und Ilma Rakusa, entwickelt sie das affektpoetologische Programm eines Schreibens im Wi(e)derspruch, das literaturwissenschaftliche Verfahren erstmalig mit Ansätzen der sozialwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung verbindet und sich an ein interdisziplinär aufgeschlossenes Lesepublikum richtet. Marion Acker zeigt, dass Zugehörigkeit eine vielgestaltige Herausforderung ist, die im Schreiben der beiden Autorinnen immer wieder aufs Neue aufgenommen wird und das Potenzial besitzt, normative Annahmen zu hinterfragen.