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Zukunft der Aufführung

2023
978-3-7720-5785-4
A. Francke Verlag 
Friedemann Kreuder
Matthias Warstat
10.24053/9783772057854

Im Zentrum von Erika Fischer-Lichtes theaterwissenschaftlichem Schreiben steht der Begriff der Aufführung. Die Beiträge dieser Festschrift zeigen, wie heute in der Theaterwissenschaft und in den Performance Studies mit dem Aufführungsbegriff gearbeitet wird, welche Tendenzen der Veränderung von Aufführungen aktuell zu beobachten sind und welche Perspektiven der Begriff für die Zukunft eröffnet.

Zukunft der Aufführung Friedemann Kreuder / Matthias Warstat (Hrsg.) Festschrift für Erika Fischer-Lichte Zukunft der Aufführung Zukunft der Aufführung Festschrift für Erika Fischer-Lichte herausgegeben von Friedemann Kreuder und Matthias Warstat unter Mitarbeit von Stephanie Amarell, Stefanie Hampel, Antonia Ruhl und Kaya Wittrock DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057854 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Resonanzen/ Affekte Christel Weiler Alles vergessen? Zeitfolgen - Resonanzräume von Aufführungen . . . . . . . Clemens Risi „Si vis me flere…“. Emotionen als Chance und Herausforderung für die Theaterhistoriographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natascha Siouzouli Ästhetik der Rührung. Der Aufführung heftige Wirkungen . . . . . . . . . . . . . 2. Praxeologie von Kunst und Alltag Gabriele Brandstetter Wearing Masks. Maskeraden in Performance und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . Christopher Balme Aufführung und Improvisation. Szenarien der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Gronau Vom Üben als Wissenspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Horn Mehr Leben im Museum? Zum Verhältnis des Institutionsbegriffs „Museum“ und performativer Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zugänge, Differenzen, Crossover Jenny Schrödl The future is fe: male*. Queer-feministische Entwürfe von Zukünftigkeit . . Benjamin Wihstutz The future is accessible. Über Theater, Inklusion und Aufführungsanalyse 165 181 209 229 247 269 287 311 323 Jens Roselt Anziehen, ausziehen, umziehen. Kostüme im Theater und die Aufführung als kritische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Jost Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen. Pelenakeke Browns Enter / / Return (2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Theatralität und Form Friedemann Kreuder Staging Differences. Erforschung zeitgenössischer experimenteller Theaterformen als ethnographisch erweiterte Aufführungsanalyse . . . . . . Peter W. Marx Jenseits der Aufführung. Überlegungen zur szenisch-medialen Praxis der Gesellschaft Jesu in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Warstat Theaterform und Aufführung. Beobachtungen zum theatralen Formwandel 5. Neue Medialität(en) Andreas Kotte Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? . Reminiszenzen an die Dekade um das Millennium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ramona Mosse und Nina Tecklenburg Asynchron - Hybrid - Phygital. Fragmente einer erweiterten Aufführungsterminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doris Kolesch Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Im Zentrum von Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen und überhaupt ihres theaterwissenschaftlichen Schreibens steht der Begriff der Aufführung. Von einer Aufführung kann nach ihrem Verständnis dann gesprochen werden, wenn Agierende und Zuschauende zur selben Zeit im selben Raum zusam‐ menkommen und in eine Beziehung zueinander treten. Demnach finden sich Aufführungen beileibe nicht nur im Theater - aber gerade auch dort. Diese Festschrift für Erika Fischer-Lichte soll danach fragen, wie heute in der Thea‐ terwissenschaft und in den Performance Studies mit dem Aufführungsbegriff gearbeitet wird, welche Tendenzen der Veränderung von Aufführungen aktuell zu beobachten sind und welche Perspektiven der Begriff für die Zukunft eröffnet. Insbesondere folgende Leitfragen sollen erörtert werden: Wie wird der Auf‐ führungsbegriff in der Beschäftigung mit dem Gegenwartstheater und der The‐ atergeschichte heute verwendet, wie kann er auf neue Weise fruchtbar gemacht werden? Welchen Stellenwert haben Aufführungen heute in der Gesellschaft, wie ändert sich ihre Funktion im Wandel von medialen Konstellationen und Öffentlichkeiten? Welchen Beitrag kann der Aufführungsbegriff für die Aus‐ einandersetzung mit interdisziplinären und transkulturellen Zukunftsfragen der Geistes- und Sozialwissenschaften leisten? Seit den 1980er Jahren arbeitet Erika Fischer-Lichte mit vielen Kolleginnen und Kollegen, von denen nur einige wenige in diesem Band versammelt sind, national wie international an diesen Fragen und überhaupt an einer Weiterentwicklung aufführungstheoretischer und -analytischer Zugänge zu Theater und Performance. Diese Arbeit setzt sich fort - und bis heute ist Erika Fischer-Lichte eine leidenschaftliche Impuls- und Ratgeberin für alle, die performative Kulturen in Kategorien der Aufführung untersuchen und verstehen möchten. Das Fach Theaterwissenschaft hat durch den Aufführungsbegriff ein ter‐ minologisches Fundament erhalten, das uns heute hineinträgt in eine Welt hybrider, vielfältig verflochtener medialer Dispositive, polyphoner kultureller Codes und intersektional konfligierender Perspektiven. Die Digitalisierung ändert nichts daran, dass es Aufführungen gibt, allerdings scheint sie den Charakter von Aufführungen nachhaltig zu transformieren. All diese Verände‐ rungen der Gegenwart kommen in den Sinn, wenn man über die Zukunft der Aufführung nachdenkt. Auch wenn sich Aufführungen im Hier und Jetzt entfalten, ist ihnen Zukünftigkeit immer schon eingeschrieben. Niemand weiß das besser als die Jubilarin, der diese Festschrift gewidmet ist. Friedemann Kreuder / Matthias Warstat 1. Resonanzen/ Affekte Alles vergessen? Zeitfolgen - Resonanzräume von Aufführungen Christel Weiler 1 Wie lässt sich „Zukunft der Aufführung“ denken? Die Frage kann unterschied‐ lich verstanden und entsprechend umformuliert werden, beispielsweise so: Wie wird in Zukunft möglicherweise eine Aufführung im Theater aussehen? Wird es Roboter auf der Bühne geben? Werden die Bühnenräume nur noch digital hergestellt werden? Wird die Technik menschliche Schauspieler: innen überflüssig machen? Usw. usf., d.h., es lässt sich mit Vergnügen spekulieren, was wohl in Zukunft das Theater ausmachen wird. Interessanterweise - wenn man die Frage so stellt - sind es häufig nicht-menschliche Akteure, die über die Aufführung in Zukunft entscheiden werden. Die Frage könnte somit auch präzisiert werden: Welche Rolle werden in Zukunft materielle Agenzien auf der Bühne spielen? In welchem Verhältnis zueinander werden sich nicht-mensch‐ liche und menschliche Akteure befinden? Man kann es drehen und wenden, wie man möchte: Es geht hier um die Möglichkeit von Inszenierung als Grundlage für Aufführungen und ihre diversen - auch räumlichen - Ausgestaltungen. Also noch einmal von vorne: Zukunft der Aufführung, wie lässt sich dies denken? Vielleicht ist es Unsinn, diese Frage zu stellen. Vielleicht ist es aber auch die Frage schlechthin, die mit den Formen von Theater, so wie wir sie kennen, unauflöslich verbunden ist. 2 Lässt man die materiale Grundlage zunächst beiseite und betont eher das Gegenwärtige, die Ereignishaftigkeit, die Lebendigkeit von Aufführung (im Gegensatz zu einer möglichen Aufzeichnung), um nur ein paar der zahlreichen Eigenschaften zu nennen, die einem Aufführungsgeschehen zugeschrieben werden - dann scheint es auf einen ersten Blick hin vermessen, nach der Zukunft zu fragen. Es ist, als ob man fragen würde: Wie wird sich Leben in Zukunft ereignen? Wie wird sich künftig Lebendigkeit gestalten? Wie werden in Zukunft Ereignisse geschehen? Auf diese Fragen kann man mit Fug und Recht antworten: wer weiß? Das Leben ist voller Überraschungen. Wir wissen nicht, wie es künftig aussehen wird. Und was heißt schon künftig? Wann soll diese Zukunft stattfinden? Morgen? In einem Monat? In einem Jahr? In zehn Jahren? Allerdings darf man auch fragen: Wie ‚lebendig‘, wie gegenwärtig ist das Theater denn tatsächlich? Was heißt schon ‚lebendig sein‘? Bedeutet es, dass Theater mit unserem Leben, mit unserem gegenwärtigen Dasein auf mehr als eine Weise verbunden ist? Dass es uns anspricht, einen Resonanzraum erzeugt? Was hat es auf sich mit Text, mit Proben und immer wieder mit den Elementen, die von Dauer und vergänglich zugleich sind wie Kostüme und Requisiten? Was hat es auf sich mit der Materialität, die das Aufführungsge‐ schehen auch ausmacht und mit ihrer jeweiligen Lebendigkeit eng verbunden ist? Nicht zuletzt darf man fragen: Welche Rolle spielt das Theater künftig in der Gesellschaft, für die Kultur und für wen wird es tatsächlich von Belang sein? Wohin wirkt sich seine Ereignishaftigkeit aus? Who knows? Shakespeare und die synkopische Zeit im Sinn, die in Hamlet zum Thema wird, richtet Rebecca Schneider (2011) ihr Augenmerk auf die in den Performance Studies/ in der Theaterwissenschaft immer wieder hervorgehobene „Liveness“ des Theaters im Unterschied beispielsweise zu Filmaufnahmen. Auf sehr präzise Art und Weise zeigt sie, wie komplex die einer Aufführung innewohnenden Zeitverhältnisse zu denken sind. Auch wenn beispielsweise das dramatische, einem Text folgende Theater gegenwärtig nicht mehr ausschließlich die Bühnen beherrscht und unterschiedliche Zeitebenen, die an dramatis personae gebunden sind, nicht vorherrschen mögen, so ist doch jeder Aufführung auf einer Bühne etwas vorgängig. Selbst das postdramatische Theater und seine Betonung des Perfor‐ mativen kommt ohne einen Ablaufplan nicht aus, selbst die Improvisation braucht einen Vor-satz, ein vorheriges Bedenken und erlernte Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Liveness der Mehrheit der Aufführungen ist Ergebnis von Proben, endlosen Wiederholungen, die im Moment der Aufführung auf besondere Weise er-innert, ver-körpert und präsent sind. Ganz zu schweigen von den Geschichten, die erzählt werden und die ihre je eigenen Zeitstrukturen entfalten. Somit eignet dem Gegenwärtigen, dem Aufführungsgeschehen im Hier und Jetzt, stets ein Bezug zu etwas, das ihm vorausgeht, es enthält Elemente von Geschichte, die längst nicht ‚vergangen‘ sind. Es scheint also verkürzt, nur zu fragen, welche Arten von Zukünftigkeit dem Begriff von Aufführung, Aufführungen selbst eingeschrieben sind, sondern man müsste logischerweise 12 Christel Weiler auch fragen, welche damit verschränkten Momente des Bewahrens, der Ar‐ chivierung, des bereits schon einmal Gewesenen, welche Möglichkeiten des Lebendig-Haltens usw. mit Aufführungen einhergehen. So gesehen oszilliert ein jegliches Aufführungsgeschehen in einem Zeit-Raum-Gefüge, welches Ge‐ genwärtigkeit auf der Grundlage von ‚Vergangenem‘ generiert, die Aufführung selbst bringt Zeitlichkeit in ihrer Komplexität erst hervor. Dennoch könnte man sich natürlich darauf fokussieren, dass dieses Geschehen sich unmittelbar und leibhaftig vor unseren Sinnen abspielt, nicht vorher in einem anderen Medium aufgezeichnet wurde. Eine Definition von Aufführung vorzunehmen, indem man sie von medialen Aufzeichnungen abgrenzt, ist jedoch nicht zuletzt selbst einem historischen Moment geschuldet. Philip Auslander weist darauf hin, dass die Idee von Liveness erst entstand, als die Möglichkeit der medialen Aufzeichnung zeitgleich gegeben war: „[…] live performance cannot be said to have ontological or historical priority over mediatization, since liveness was made visible only by the possibility of technical reproduction. […] The live can exist only within an economy of reproduction.” (Auslander nach Schneider 2011: 91) Zudem verweisen ,Lebendigkeit‘ (was man auch mit liveliness übersetzen könnte) und ‚Liveness‘ im Gegensatz zu ‚recorded‘ durchaus auf verschiedene Bedeutungsräume. Dies gilt es zu bedenken, selbst wenn sich mittlerweile die Sprachen vermischen, das Deutsche und das Englische keine klaren Grenzen ziehen, sondern ineinanderfließen. Kurz gefasst könnte man sagen: ‚Liveness‘ verweist aus unserer Perspektive auf den gegenwärtigen Moment, auf das Hier und Jetzt, auf das, was sich unmittelbar vor den Sinnen abspielt. In diesem Sinne war und ist Theater, ist eine Aufführung immer schon ‚live‘. Im Gegensatz zu ‚Lebendigkeit‘ zielt dieses ‚live‘ sein nicht in erster Linie auf Bewertung. Liveness im Sinne von Gegenwärtigkeit kann dennoch durchaus ‚tödlich‘ sein, wie Peter Brook sehr eindrucksvoll in seinem Buch Der leere Raum beschreibt und damit auf Erstarrtes, Mechanisches, Automatisches verweist, das jeder Form von gegenwärtiger Aufführung durchaus auch zugrunde liegen kann. ‚Lebendigkeit‘ hingegen könnte ein Sprühen, Flirren, Bewegung, Unberechen‐ barkeit, Überraschung meinen, etwas, das unverfügbar scheint, sich gerade jetzt entfaltet, tatsächlich nur dem Augenblick und seinem Vergehen geschuldet. Interessanterweise verwendet Brook selbst diesen Begriff nicht, wenn er diese Phänomene des Theaters reflektiert. Er spricht stattdessen vom „heiligen“, vom „derben“ und dem „unmittelbaren“ Theater (dead, holy, rough and immediate), wobei „unmittelbar“ eben das Theater bezeichnet, dem er sich verpflichtet fühlte und das seiner Praxis als Theatermacher entsprach (Brook 1985). Alles vergessen? 13 3 Bleiben wir bei Peter Brook, der im Juli 2022 mit 97 Jahren verstarb. Wer - wenn man das Glück hatte, dabei gewesen zu sein - erinnerte sich nicht an eine Brook-Inszenierung? Mahabharata, Carmen, The Tempest, L’homme qui, Hamlet, wie sie alle hießen… Man spricht von diesen Arbeiten als von Meilensteinen der Theatergeschichte. Welche Spuren haben sie hinterlassen? Wie haben sie als Ereignisse in eine damals noch unbekannte Zukunft hineingewirkt? Wo und wie hat sich ihr Zukunftspotential entfaltet? Die künftige Brook- Forschung wird sich sicher dieser Fragen annehmen. Man wird das Konzept des „leeren Raums“ im Theater des 20. Jahrhunderts verfolgen, das Weiterwirken der Innovationen in seiner Opernregie, die Diversität der Zusammensetzung seiner Ensembles; man wird vielleicht die Gruppe Forced Entertainment als gelehrige Schüler: innen des Meisters betrachten, wenn es um Shakespeare- Inszenierungen geht oder die Fähigkeit, mit dem zu arbeiten, was gerade ‚at hand‘ ist, wie dies auf so wunderbare Weise im Shakespeare-Zyklus von Forced Entertainment der Fall gewesen ist. Vielleicht also - wenn es um die Zukunft der Aufführung geht - muss man sich immer wieder nach hinten wenden, in die Vergangenheit zurück. Der Wind weht aus dem Paradies heraus… Wäre es somit in erster Linie die Theaterhistoriographie, die dazu beitragen könnte, einen Blick ins verlorene Paradies zu erhaschen, um so Künftiges zu denken, zu inspirieren und zu gestalten? Brook selbst sagte in einem Interview: „Man sollte alles, was mit dem Theater zusammenhängt, nicht so ernst nehmen. …Was wir tun ist ein Spaß! Wir sind keine Professoren, sind nicht Goethe und Shakespeare - und darum sage ich, wenn Sie mich fragen, woran ich mich erinnere: An nichts! Das Theater ist dazu gemacht, dass es vergeht.“ (Laages 2010) Die versteckte Koketterie und der Hintersinn, der mit dieser Bemerkung einhergeht, lassen sich schnell entlarven. Letztlich war Brooks Art des Nicht-Erinnerns für den Regisseur, den Theatermacher eine Notwendigkeit, um immer wieder neu beginnen zu können, um die Flamme immer wieder neu zu entzünden, die es seiner Auffassung nach braucht, um eine lebendige Arbeit zu erzeugen. Dies zeigt sich deutlich in seinen Bemerkungen zu Shakespeares The Tempest/ Der Sturm, den er mehrere Male auf je unterschiedliche Weise inszeniert hat, zum Umgang mit Proben und Vorbereitungen dazu. Das Nicht- Erinnern ist die Grundlage für wachzuhaltende Neugier und Forschungsdrang; das Nicht-Erinnern schafft die Voraussetzung für Künftiges. „Im Theater ist jede Form, die einmal geboren ist, sterblich, jede Form muss neu konzipiert werden, und ihre neue Konzeption wird die Zeichen aller Einflüsse tragen, die sie umgeben. In diesem Sinne ist das Theater ein Stück Relativität.“ (Brook 1985: 14 Christel Weiler 20) In diesem Kontext wäre auf eine spannende Differenz hinzuweisen, nämlich auf den Unterschied zwischen ‚nicht erinnern‘ als einem bewussten Akt, der sich in ein Erinnern verwandeln ließe und ‚vergessen‘ als etwas, was wir uns kaum vornehmen können, sondern uns widerfährt. 4 Den Einwänden Brooks zum Trotz: Der gegenwärtige, individuell oder auch gemeinschaftlich erfahrene Moment und die Fähigkeit, sich künftig zu erinnern sind zuweilen eng verzahnt. Man sagt dann: Etwas hat Spuren hinterlassen. Sowohl die Theaterkritik als auch die Theaterwissenschaft und hier beileibe nicht nur die Aufführungsanalyse, um die es im Folgenden partiell gehen wird, machen sich dieses Phänomen auf je unterschiedliche Art und Weise zu eigen, indem sie das Erleben eines Aufführungsgeschehens versprachlichen bzw. verschriftlichen und es so - zumindest vorübergehend - einem möglichen Vergessen entziehen. Wenn man so möchte, ist in diesen Transformationen in Sprachlichkeit und Schrift eine wie auch immer sich entfaltende Zukunft der Aufführung angelegt. Wahrscheinlich begann, beginnt jede Theaterkritik als eine Art Erinnerungsprotokoll - man setzt sich hin, lässt die Bilder, Töne der Aufführung/ von Aufführungen noch einmal vor dem inneren Auge und Ohr auferstehen, nimmt andere Materialien zu Hilfe - Programmhefte, Bilder, Zeitungsberichte -, die das Nach-Denken unterstützen können und den Wahr‐ nehmungen, Gefühlen und kritischen Einwänden einen Rahmen, eine Grund‐ lage verleihen. So gesehen sind Erinnerungsprotokolle oder Erinnerungsnotizen nichts Neues. Für die Theaterwissenschaft jedoch, als methodisch ersten Schritt der Aufführungsanalyse, lassen sich so genannte Erinnerungsprotokolle in die frühen neunziger Jahre zurückverfolgen. In der Lehre der Autorin erfolgte die Etablierung dieser Praxis am Institut für Theaterwissenschaft der Universität in Mainz. Die Möglichkeit der Videodokumentation von Aufführungen war zwar schon gegeben, aber noch längst nicht selbstverständlich, ganz zu schweigen von heimlich per Smartphone gefilmten Sequenzen. Das mit den eigenen Augen und Ohren Aufgenommene wurde in den 1990er Jahren nach dem Aufführungsbesuch zu Papier gebracht - in welcher Form auch immer. Es gab keine Vorschrift dafür, wie die Erinnerung zu erfolgen hatte. Sie konnte an jedem Punkt eines Aufführungserlebnisses beginnen, sich von hinten nach vorne arbeiten, fragmentarisch sein. Mit dem Ausdruck des Erinnerten wurde durchaus auch experimentiert. Es gab Semester, in denen das Erinnerungspro‐ tokoll nicht unbedingt eine schriftliche Form annehmen musste, sondern sich in einem Nachbau der Bühne, in einem Bild artikulieren durfte. Das Schreiben Alles vergessen? 15 selbst und jede andere Art nachträglicher Beschäftigung mit der Aufführung, so wurde deutlich, half wiederum der Erinnerung auf die Beine. Mittlerweile hat sich diese Ausgangssituation zwar geändert, es gibt nahezu von jeder Aufführung Video-Aufzeichnungen, Mitschnitte etc., aber das Verfassen von Erinnerungsprotokollen wurde als Schritt zur Aufführungsanalyse beibehalten. Im Berliner Institut für Theaterwissenschaft liegt mittlerweile eine Sammlung von Aufzeichnungen vor, die bis 1996 zurückgehen. Alle Protokolle sind Aufzeichnungen dessen, was von Studierenden unterschiedlicher Jahrgänge erlebt, wahrgenommen, gehört, gesehen wurde, in einen gedanklichen Kontext, Horizont gestellt, sich an der Gestaltung eines Diskurses beteiligt hat. Die Ver‐ schriftlichung musste auch hier keinem bestimmten Muster folgen, sie konnte ein Gedicht sein, eine Liste, ein kohärenter Text, die Form einer Kritik annehmen - je nach Vermögen und Belieben. Natürlich gab es Widerstände gegen diese verordnete Erinnerungsarbeit. Warum soll ich darüber schreiben, wenn ich es doch gesehen habe? Weshalb soll ich für eine weitere Beschäftigung mit der Aufführung keine Videoaufzeichnung verwenden? Auf der Verschriftlichung wurde bestanden, weil Schreiben nicht nur für eine Möglichkeit gehalten wird, sich mitzuteilen, den Fluss der Gedanken und Eindrücke zu ordnen, sich darüber bewusst zu werden, es hat auch eine eigene Dynamik, es bahnt (sich) einen eigenen Weg durch die Gehirnwindungen… Zukunft der Aufführung und Erin‐ nerungsfetzen also - was lässt sich damit beginnen, welches Zukunftspotential lässt sich daraus entfalten? Ich mache ein Experiment und wähle aus der Fülle des Materials den Ordner WS 1999/ 2000. Nachträglich schien mir diese Entschei‐ dung gerechtfertigt dadurch, dass möglicherweise die Jahrtausendwende einen interessanten Rahmen abgeben könnte für die Vielfalt der aufgeschriebenen Eindrücke. Ich hatte weder eine Vorstellung davon, wer damals meine Seminare besucht hatte, noch war mir in Erinnerung, welche Aufführungen wir damals gemeinsam besucht hatten. Bei der ersten Sichtung des Ordners sah ich dann, dass Protokolle vorlagen zu Volksbühnen-Inszenierungen (keine besondere Überraschung) und einige Namen der Teilnehmer: innen kamen mir durchaus auch bekannt vor, bzw. ich konnte sie mit einem Gesicht verbinden. Letzteres, wie auch die Tatsache, dass manche Protokolle in getippter Form vorlagen, manche handschriftlich verfasst, dürfte für die weitere Beschäftigung mit dem Material zunächst unerheblich sein. Bezeugt ist, dass wir uns gemeinsam Trainspotting, Gespenster, Schmutzige Hände und Dämonen angeschaut haben. Romanverfilmung, bekannte dramatische Literatur und ein weiterer Roman als Ausgangsmaterialien, typisch für die Volksbühne damals. Die jetzt interessante Frage lautet allerdings: Wohin führt dieses Material heute, im Jahr 2022? Was kann damit in welche Zukunft hinein beginnen? Welche Art von Transforma‐ 16 Christel Weiler tion lässt sich aus dem Niederschlag der Aufführungen in Text und Schrift jetzt anstoßen? Ca. 50 unterschiedliche Stimmen (? ) aus einem Wintersemester, die sich artikulieren in Aufzeichnungen zu drei Castorf-Arbeiten und einer Inszenierung von Sebastian Hartmann. Um welche Art von Aufführungen geht es hier und jetzt? Um die vergangenen Ereignisse? Oder nicht vielmehr in erster Linie um Tänze von bits und pieces, von Erinnerungsfragmenten? Tatsache ist: Ich hatte alles vergessen: die Namen der Studierenden, die Aufführungen, den von mir gesetzten Schwerpunkt im Analyse-Seminar. Durch das Heraus‐ greifen des Ordners und durch die erste Lektüre der einzelnen Niederschriften entstand jedoch ein vages Bild unterschiedlicher Ereignisse, dem durch weitere Durchsichten immer wieder etwas hinzugefügt wurde. Es tauchten Details auf, Aha-Momente, ja ja, jetzt fällt es mir wieder ein, und natürlich, so war das… Als würde ich in einem Album blättern… Mit welcher Frage jedoch, die über individuelle persönliche Erinnerungen hinaus reicht, würde ich sinnvoll an die Aufzeichnungen herantreten können? Welcher gegenwärtige Impuls könnte sie lebendig halten, ihnen ein Fortleben ermöglichen? Sollte die Vielzahl der Stimmen maßgeblich sein? Das ergäbe ein interessantes Forschungspro‐ jekt im Rahmen historischer Publikumsforschung. Sollten die Aufführungen noch einmal zu Wort kommen? Aus welchem Grund wäre der Blick auf sie heute relevant? Ich greife wahllos einige der Protokolle zur Inszenierung von Gespenster heraus. Eine Protokollantin beschreibt z.B. detailliert, wie sie die unterschiedlichen Ebenen von Zeit in der Aufführung wahrgenommen hat und kommt zum Schluss, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für ein geglücktes Leben unabdingbar ist. Für sie sind die Wiedergänger, die Gespenster der Vergangenheit und die Einspielung alter Filmaufnahmen die signifikanten Elemente. In einem anderen Protokoll wird genau auf den Büh‐ nenraum eingegangen, seine Ähnlichkeit mit einer Burg, einer Festung, einer uneinnehmbaren Behausung herausgestellt. Der Bühnenaufbau wird verglichen mit Freuds Struktur-Modell der Psychoanalyse bzw. den drei Instanzen der Psyche Über-Ich, Ich und Es und am Ende mit Blick auf Alice Millers Buch Am Anfang war Erziehung wird die Frage gestellt, wie und ob man verhindern kann, dass wir werden, wie wir werden bzw. sind. Eine weitere Erinnerung beschäftigt sich mit der Vielfalt von Fragen, die auftauchen, wie z.B. weshalb die Darsteller alle als Personen mit kindlichen Verhaltensmustern angelegt sind, welche Rolle traumatische Erlebnisse spielen, in welcher Beziehung das ‚norwegische Drama‘ mit der deutschen Nazi-Vergangenheit gesehen werden kann. Zum Ende hin wird darauf hingewiesen, dass durch das Schreiben des Protokolls neue Einsichten gewonnen wurden, die sich beim Zuschauen und Hören nicht einstellten. Alle Protokolle weisen somit über die Aufführungen Alles vergessen? 17 hinaus, zielen auf die Fragen, die möglicherweise der Beschäftigung mit dem Ausgangsmaterial zugrunde lagen. Anders jedoch als der erneute Blick in ein Buch, von dem man glaubt, eine zweite Lektüre könne nur mit Vergnügen und weiteren Einsichten verbunden sein, lässt sich eine individuelle Re-Lektüre von Aufführungen - so mein Eindruck nach der Sicht der Protokolle - kaum oder nur schwer bewerkstelligen. Frühere Aufführungen als Aufführungen sind nicht ohne Mühe verfügbar. Selbst wenn wir über professionelle Aufzeichnungen verfügen, so ist zu vermuten, dass ein Interesse daran noch am ehesten mit forschenden Absichten verbunden ist. Somit könnten wir die These wagen, dass ein den Aufführungen eingeschriebenes Zukunftspotential zum einen in individueller und durchaus auch kollektiver Erinnerung münden kann - eventuell begleitet von wehmütigen Gefühlen -, zum anderen die Entfaltung dieses Potentials an (theater-)wissenschaftliches Forschungsinteresse gebunden ist, welches über die einzelne Aufführung hinausgeht. Nicht zu vergessen auch: Für Theatermacher: innen wie Peter Brook ist eine bestimmte Form des Nicht- Erinnerns Voraussetzung für Künftiges. Etwas vergeht, ein Neues entsteht. Zwischen Damals und Heute, zwischen individueller Erinnerungsarbeit und Neugestaltung sind feine unsichtbare Fäden gesponnen. Nicht immer müssen es Gespenster, Wiedergänger sein, die Künftiges bestimmen. 5 Schließlich und endlich wird die Zukunft der Aufführung in hohem Maße davon abhängen, wie wir uns heute aufführen. Die Möglichkeit eines erweiterten Aufführungsbegriffes hat nicht zuletzt einen gewichtigen Grund darin, dass wir unterscheiden können zwischen ‚etwas aufführen‘ und ‚sich aufführen‘. Im Nachdenken über Letzteres stellt sich die Frage, wer die Akteure sind, welchen Stellenwert nicht-menschliche Akteure einnehmen - seien es alle unsere mitt‐ lerweile lieb gewonnen Gadgets, Robots oder Lebewesen der verschiedensten Art, die mit uns sind und ohne die unser Dasein auf diesem Planeten fragwürdig zu werden beginnt. In welcher Beziehung stehen wir zu ihnen? Wie führen wir uns auf, damit diese Welt, dieser Planet weiterhin bewohnbar bleibt? Verharren wir bei Gewohntem, Bekanntem? Sind wir bereit für einen anderen Umgang miteinander? Die Programmvorschau des Hebbel am Ufer (HAU) für die letzte Septemberwoche 2022 formuliert dies folgendermaßen: „Wir leben in einer mehr-als-menschlichen Welt, die alle natürlichen Wesen und künstlichen Kreaturen einschließt. Die Herausforderung ist es, diese Verflochtenheit neu zu denken.“ Es gelte, eine Zukunft zu avisieren, „in der Technik und Natur nicht in einer Ökologie der Ausbeutung verbunden sind, sondern durch kon‐ 18 Christel Weiler 1 Dank an Jeannine Heide für die Geschichte über den Spaziergang mit Esel August. Sie wurde ermöglicht durch Andrea Graf, www.andreagraf.org (abgerufen am 10.12.2022). struktive Resonanz.“ (Hebbel am Ufer 2022) Es gilt somit, neue Verhaltens- und Handlungsweisen zu erlernen, die Sinne zu schärfen für bisher Unerhörtes und nicht Beachtetes; vielleicht müssen wir begreifen, dass beispielsweise die Störrischkeit eines Esels weniger ein Hindernis auf dem zielstrebigen Weg nach vorne ist als vielmehr ein willkommendes Innehalten, das uns hilft, zu neuen Kräften zu kommen. 1 6 Während ich diese Zeilen schreibe, beginnt die neue Spielzeit 2022/ 23. Wie sieht es aus, das Theater der kommenden Gegenwart? Wohin wird es sich in diesem Winter, im nächsten Frühling bewegen, welcher Art werden die Aufführungen sein, die uns erwarten, die wir erwarten dürfen? Wohin und wie bewegt sich die Zukunft gegenwärtiger Aufführung? Im Folgenden beziehe ich mich ausschließlich auf Berichte, Kritiken, Ankündigungen. Ich habe (noch) keine der angeführten Aufführungen gesehen. Bei der Auswahl wurde bewusst darauf geachtet, dass sie aus unterschiedlichen Regionen Europas kommen, dass es sich nicht ausschließlich um deutschsprachige Produktionen handelt. In der taz vom 30. August 2022 berichtet Katja Kollmann unter der Überschrift „Wie der Krieg das Theater verändert: Flucht vor der Propaganda“ über ein Solo von Tschulpan Chamatowa, eine bekannte russische Schauspielerin, die aus Russland nach Lettland geflohen ist. Ihr gemeinsam mit dem Intendanten des Rigaer Theaters Alvis Hermanis erarbeiteter Monolog nennt sich Post-Scriptum und ist - wie die taz schreibt - „der persönliche Kommentar der beiden zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine.“ (Kollmann 2022) Er basiert auf Texten von Anna Politkowskaja, einer russischen Journalistin, die 2006 ermordet wurde. Im Zentrum steht eine weibliche Figur, Nadja, die 2002 beim Anschlag auf das Mos‐ kauer Dubrowka-Theater während einer Vorstellung des Musicals Nord-Ost ums Leben kam. Sie ist quasi eine Wiedergängerin, der es durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichte gelingt, die Gegenwart des Krieges in der Ukraine gleichzeitig mit der leidvollen Erfahrung der sowjetischen Besetzung Lettlands aufzurufen und zugleich ein russisch- und ein lettisch-sprachiges Publikum zu erreichen, das den Krieg aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erleidet. Weiter westlich, in Weimar auf dem alljährlichen Kunstfest, gibt es außer einem Schwerpunkt in der Sektion „Diskurs“ zum Thema „Erinnerung“ unter dem Label „Performance“ zwei Arbeiten, die sich mit dem Thema Klima befassen. Alles vergessen? 19 Chris Salter hat mit großzügiger internationaler finanzieller Unterstützung, unter anderem auch durch die Kulturstiftung des Bundes, ein hybrides Projekt realisiert, das durch den Einsatz neuester Technik virtuelle Welten herstellen kann und die anwesenden Zuschauer: innen genau dorthin entführt. Animate, so der Titel der Arbeit, fand in einer Weimarer Industrie-Halle statt, in der früher Maschinen zur Kartoffelernte produziert wurden und die dank ihrer Größe den projizierten Landschaften Ausdruck verleihen kann. Zugleich ist sie als realer Raum stets präsent. Wie man der Kritik entnehmen kann (Laages 2022), gibt es Bildräume von Katastrophen, die wir aus zahlreichen Nachrichten kennen: Überschwemmungen, Steinschlag, Hitze, Weltuntergangsstimmung - all dies verbunden mit einem Drama zwischen Mann und Frau. Die Zuschauer: innen - besser gesagt: die in der Halle Anwesenden - bewegen sich ebenso wie die beiden Schauspieler: innen zeitgleich in unterschiedlichen Welten - einer tech‐ nisch erzeugten - möglicherweise künftigen - Realität und einem manifesten physischen Raum. Alanna Mitchells Sea Sick beschäftigt sich auf eine davon sehr verschiedene Weise mit der Krankheit der Meere. Im Programmheft wird ihre technisch eher niederschwellige Arbeit wie folgt angekündigt: Der fortwährende Ausstoß von Treibhausgasen beeinflusst nicht nur die Erderwär‐ mung, sondern lässt auch die Meere versauern. Ein Zustand, der folgenschwere Auswirkungen auf das größte zusammenhängende Ökosystem unseres Planeten hat: Die Weltmeere. Doch bleibt dies absehbar auch für Natur und Klima des Festlandes nicht ohne dramatische Folgen. Alanna Mitchell, prominente kanadische Wissenschaftsjournalistin, recherchierte die Daten und Fakten zur Gefährdungslage der Ozeane - über viele Jahre und weltweit. Umgetrieben von dem Thema schrieb sie nicht nur ein Buch darüber, sondern entwickelte auch eine Performance: Eindrücklich vermischen sich in dem Format wissenschaftliche Erkenntnisse mit journalistischer Analyse und engagierter Performance. Sprachgewaltig, dabei genauso klar verständ‐ lich wie eingängig und immer ihre eigene Rolle als Journalistin reflektierend, bringt Mitchell so ihren Zuschauer: innen auch komplexe Zusammenhänge bildhaft näher. (Kunstfest Weimar, Programm 2022) Chris Salter als auch Alanna Mitchells kommen beide aus Kanada. Sea Sick wird in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln präsentiert, Animate kann man auf Deutsch erleben, zusätzlich gibt es eine englische und eine französi‐ sche Übersetzung, die Festivalbesucher: innen können sich bewegen zwischen einer künstlich erzeugten Realität und einem wissenschaftlich fundierten Vor‐ trag, sie können wählen zwischen unterhaltsam zu erwerbendem Wissen und möglicherweise überwältigenden Bildräumen. Die Salzburger Festspiele 2022 sind in ihrer Programmausrichtung eher als konservativ zu bezeichnen. Dies 20 Christel Weiler 2 Es handelt sich um Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss. 3 Details zur Person siehe https: / / www.schauspielhaus.ch/ de/ personen/ 87/ yana-ross (abgerufen am 10.12.2022). zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie keines der aktuell häufig diskutierten Probleme plakativ aufgreifen: weder Klimawandel noch Fragen der Migration beispielsweise sind als Programmschwerpunkte benannt. Vielleicht vertraut man darauf, dass die brennenden Fragen, die uns alle angehen, eh immer wieder aufgegriffen werden. Unter dem Label „Schauspiel“ gibt es außer der traditio‐ nellen Jedermann-Inszenierung (Hugo von Hofmannsthal) Marieluise Fleißer mit Ingolstadt, Kristo Sagors Text Ich lieb dich, inszeniert von Joachim Gottfried Goller und eine Neubearbeitung von Arthur Schnitzlers Reigen. Letztere ist insofern hervorzuheben, als es sich um ein Weiterschreiben, ein Neuschreiben des Schnitzler’schen Textes handelt und damit dem Thema „Zukunft der Auf‐ führung“ ein bemerkenswerter Akzent verliehen wird, indem Geschichtlichkeit als Bewegung von Rückgriff und Anpassung verstanden wird. Zehn Autor: innen wurden damit beauftragt, je eine Szene aus Schnitzlers Vorlage neu zu denken und an heutige Gegebenheiten anzugleichen. 2 Gewahrt werden sollte die von Schnitzler vorgegebene hierarchische Struktur, bzw. das soziale Gefälle der Figuren, Schauplatz aller Szenen ist ein Gasthaus, d.h. es gibt ein einziges Bühnenbild (Fischer 2022). Die Regie wurde an Yana Ross vergeben, 3 die bekannt dafür ist, klassische Texte zu überschreiben, d.h. sie aus einer heutigen Perspektive unter eine kritische Lupe zu nehmen und eben fortzuschreiben. Abschließend soll noch auf die neueste Arbeit von Miet Warlop verwiesen werden, die ebenfalls Historizität mit Gegenwärtigkeit verbindet. Dabei geht es allerdings nicht um ein Weiterleben von Texten sondern um die individuelle künstlerische Arbeit selbst, die sich in und mit der Zeit entwickelt und verändert, sich also immer wieder neu aufführt. Man könnte auch sagen: Es geht um das unmittelbare Theater im Brook’schen Sinn. Die Frage, die an die Künstlerin herangetragen wurde, lautete: „What is your history as a theatre maker? “ Anders als Peter Brook erinnert sich Miet Warlop sehr wohl und sieht in ihrer Arbeit wiederkehrende Elemente, die sich über die Jahre in ihrem Facettenreichtum präsentieren können. Sie beginnt die Erzählung ihrer Künstlergeschichte mit dem Hinweis auf ihre erste Produktion 2005 De Sportband / Afgetrainde Klanken, die sie als Requiem für ihren Bruder bezeichnet. Als darstellerisches Mittel benutzte sie damals Musik und Bewegungen aus dem Sport und verlangte von ihren Performer: innen, sich in einem Höchstmaß auf der Bühne zu verausgaben. Alles vergessen? 21 4 https: / / festival-avignon.com/ en/ edition-2022/ programme/ one-song-190920 (abge‐ rufen am 10.12.2022); als Anhang zu dieser Website findet sich eine pdf-Datei, die ein Interview mit der Künstlerin enthält. Alle Zitate Miet Warlops sind diesem Interview entnommen. Zwischen De Sportband und ihrer letzten Arbeit One Song gibt es eine Art von innerer Kohärenz, die sie folgendermaßen beschreibt: In ONE SONG, I’m exploring the idea that my artistic practice is cyclical, that it is an ongoing process, a living research that becomes itself a character. This world I’ve built and which is still being built is a character in and of itself. It can look back on past events, with or without nostalgia, or even ponder that very past. I like it when the traces of the past are visible in the work in the present. That’s why the metaphor used in De Sportband as a requiem for my brother can be read as a palimpsest in ONE SONG. Between those two moments in my life as an artist, there are twenty years of artistic practice and personal experiences. Those years are of course present in this play, which appears as the repetition of cycles, of a certain history of theatre. 4 Wenngleich es ihre persönliche Geschichte mit dem Theater ist, die sie mit den Mitteln des Theaters erzählt, so ist diese Geschichte dennoch nicht ausschließ‐ lich an sie gebunden. One Song, wie alle anderen Arbeiten der Künstlerin Miet Warlop, wird zwar genährt aus persönlichen Erfahrungen, aber ist zum einen Ergebnis künstlerischer Zusammenarbeit und benutzt zudem eine Sprache, die mit den Zuschauer: innen geteilt werden kann. Durch Metaphern, Bewegungen, Musik wird an deren Erfahrungsräume angedockt, sich damit verbunden, sich also mit-geteilt. Als weitere Besonderheit kommt hinzu, dass die Einladung des Theaters in Gent, ihre persönliche Theatergeschichte zu schreiben, nicht nur an sie alleine erging. Mit von der Partie waren Milo Rau, Faustin Linyekula, and Angélica Liddell, die ebenso ihre Theatergeschichten mit ihren je spezifischen Mitteln und auf ihre je besondere Art kreierten. Jede individuelle Geschichte ist somit im zweifachen Sinn Teil einer größeren Erzählung, die sich möglicher‐ weise so beschreiben lässt: The past is the present is the future. And as human beings, we are, willingly and unwillingly, a gladiator, in conflict with time. Beauty and comfort cannot be grasped but happen to us. The need to connect makes us both vulnerable and tragic. Vulnerable in our physical limitations, despite the efforts we make to strengthen our bodies. And tragic in our existential loneliness, the result of an awareness that is peculiar to mankind. 22 Christel Weiler 7 Wie wir uns heute, morgen, später, in einem Jahr aufführen werden, sei es als Einzelne, als Kollektiv, als People of Color, als Migrant: innen, mit einem queeren Selbstverständnis oder als Klimaaktivist: innen, als Künstler: innen, als Gesellschaft im Ganzen - dies wird in erster Linie die Zukunft der Aufführung bestimmen. Sie wird - wie es den Ankündigungen und obigen Beschreibungen zu entnehmen ist - in hohem Maße daran gebunden sein, wie es Autor: innen, Regisseur: innen, Performer: innen - Künstler: innen ganz allgemein - gelingen wird, alltägliche Aufführungen, alltägliche Erfahrungen zu transformieren. Dazu werden alte Texte neu geschrieben, neue Erfahrungen in einem früheren Licht gesehen, Ungeheuerliches in Worte und Bilder gefasst, auf Bewährtes zu‐ rück gegriffen, neueste Technologie angewandt werden. Es werden nicht nur die nationalen Sprachen zu hören sein, künftige Aufführungen werden in mehreren Sprachen sprechen, es werden bislang unerhörte Geschichten erzählt werden, es wird zahlreiche Verflechtungen der Künste auf unterschiedlichen Ebenen geben, ein Zusammenspiel von Technik und Manpower, von Künstler: innen unterschiedlicher Herkunft. Das Publikum wird sehen und hören und mitge‐ stalten dürfen, sich schließlich begeistern und langweilen, es wird vielleicht etwas lernen, berührt sein oder protestieren. Auf den Bühnen, in den Innen- und Außenräumen wird es sich um Fluchtgeschichten, Kriegserfahrungen, Klimakatastrophen, Verletzungen und Kränkungen handeln, nicht zuletzt um Streben nach Macht, es werden alle unsere kleinen und großen Anstrengungen zur Sprache kommen, unsere Freuden und Leiden, unser Werden und Vergehen ins Bild gesetzt werden. Das letzte Wort soll die Künstlerin haben: „On stage, it’s all about going on and on and on, even if it means reaching a point of physical and moral exhaustion and risking failure. The idea is to try again and again, to begin again differently each time. Just like in life. […]“ Das klingt fast schon wieder wie Beckett … Literatur Brook, Peter (1985). Der leere Raum. Berlin: Alexander. Festival d’Avignon (2022). https: / / festival-avignon.com/ en/ edition-2022/ programme/ on e-song-190920 (abgerufen am 10.12.2022). Fischer, Juliane (2022). Wir glauben nur, wir sind frei. https: / / www.sn.at/ themenwelten / salzburger-festspiele-2022-15591/ freizeit-reise/ wir-glauben-nur-wir-sind-frei-54239 (abgerufen am 10.12.2022). Alles vergessen? 23 Hebbel am Ufer (2022). Spy on me #4. https: / / www.hebbel-am-ufer.de/ programm/ festiv als-projekte/ spy-on-me-4 (abgerufen am 10.12.2022). Kollmann, Katja (2022). Wie der Krieg das Theater verändert. https: / / taz.de/ Wie-der-Kr ieg-das-Theater-veraendert/ ! 5874879/ (abgerufen am 10.12.2022). Kunstfest Weimar (2022). Programmübersicht. https: / / www.kunstfest-weimar.de/ progr amm? full=0&tx_jokunstfest_pi5%5Bcontroller%5D=Elements&tx_jokunstfest_pi5%5 BjoDetailUid%5D=660&tx_jokunstfest_pi5%5BjoDetailView%5D=1&tx_jokunstfest_ pi5%5BjoModeOverride%5D=1&cHash=185936684b3b6b305240ed424664a990 (abge‐ rufen am 10.12.2022). Laages, Michael (2010). Theater-Erfinder und Menschen-Forscher. https: / / www.deutsch landfunkkultur.de/ theater-erfinder-und-menschen-forscher-100.html (abgerufen am 10.12.2022). Laages, Michael (2022). Alle Steine fliegen hoch. https: / / nachtkritik.de/ index.php? opt ion=com_content&view=article&id=21334: animate-kunstfest-weimar-chris-salter-la esst-in-seinem-performance-und-vr-projekt-die-steine-fliegen&catid=1476: kunstfest -weimar&Itemid=40 (abgerufen am 10.12.2022). NT Gent (2022). 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[…] Je mehr […] der Schauspiehler von dem wahren Gefühl seiner Role in sich erweken kann, je sicherer wird er sie auch ausdruken, und Zuschauer, denen es um würkliche Rührung zu thun ist, werden es ihm sehr gerne vergeben, wenn der Schmerz oder die Freude ihn verleiten, die Aerme höher auszustreken, oder die Füße weiter auseinander zu sezen, als der Tanzmeister es vorschreibt. (Sulzer 1774: 10) Hatte Horaz also recht, als er in seiner Ars poetica die berühmte Forderung aussprach? „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ - „Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst.“ (1972: 101 ff.) Und weiter gefragt: Ist es für die Übertragung von Affekten dienlicher, ein Regelsystem zu befolgen oder gar effektvoller, sich jenseits der Regeln zu bewegen? Der eingangs zitierte Johann Georg Sulzer hat sich jedenfalls entschieden. Um die Frage, wie Schauspieler: innen sich zu den von ihnen darzustellenden Emotionen verhalten sollen, ob sie diese in sich selbst erregen und fühlen sollen oder im Gegenteil gerade nicht durchleben dürfen, um sich von den Gefühlen nicht mitreißen zu lassen, sondern in Distanz zum Gefühl die äußerlichen Zeichen des Körpers ausführen sollen, kreisen die Schauspieltheorien nicht erst und nicht nur, aber ganz besonders jene des 18. Jahrhunderts in immer wieder neuen Aushandlungen. Dass die Positionen beileibe nicht geklärt sind und die Re-Lektüre scheinbar bekannter Quellen interessante neue Einsichten zutage fördern kann, haben am Beispiel der schauspieltheoretischen Quellen neben Erika Fischer-Lichte (1993) u.a. auch Klaus Schwind (1996; 1999), Jens Roselt (2005), Peter-André Alt (2008) und Doris Kolesch (2009) vorgeführt. Re- 1 Dass die Theaterhistoriographie seit jeher vor der theoretischen und methodischen Herausforderung steht, die sich aus der spezifischen Qualität und der daraus resultier‐ enden Problematik ihres Untersuchungsgegenstandes ergibt - der Zeitlichkeit, Flüch‐ tigkeit und Vergänglichkeit des Aufführungsereignisses -, ist eine weitere Lektion, die zu den Grundlagen theaterhistoriographischen Studierens und Forschens zählt und die wiederum nicht zuletzt bei Erika Fischer-Lichte (z.B. 1993: 3-12) gelernt werden kann (vgl. dazu auch Kreuder 2005: 344-346). Lektüre als immer wieder neue Auseinandersetzung mit scheinbar geklärten Positionen, als aktiver Prozess, Geschichte zu schreiben, Geschichte immer neu zu schreiben - im Bewusstsein der aktiven, produktiven, konstruierenden Rolle des Schreibenden - ist das, was mich an der Theaterhistoriographie fasziniert und was ich immer wieder von Erika Fischer-Lichte lernen durfte. Dass dies im Falle des Theaters, der flüchtigen, in Lessings Worten „transitorischen“ Kunst des Theaters, besonders herausfordernd ist, hat schon derselbe Lessing selbst hervorgehoben, als er in seinen Ausführungen zur Aufgabe der Theaterkritik meinte: […] die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat. (Lessing 1981 [1767]: 12) Es ist die Rolle und Bedeutung der Zuschauenden im Prozess der Aufführung, die von Lessing hier betont wird und die für eine performativitätstheoretische Perspektive von Theaterhistoriographie, wie ich sie im Folgenden einnehmen möchte, zentral ist. Wenn man die performative Dimension einer Aufführung als einen Prozess begreift, der sich zwischen ausführenden Akteur: innen und wahrnehmenden Rezipient: innen ereignet - in Goethes Worten: „Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes“ (nach Krippendorff 2005: 183), mit Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen einschlägig als autopoietische Feedbackschleife bekannt -, so ist zu fragen, wie diese besondere Relation theoretisch und analytisch zu erfassen ist, ganz besonders, wenn es sich um Aufführungen der Vergangenheit handelt. Es soll im Folgenden um die dringliche Frage gehen, wie über die Aufführungsdimension von performativen Konstellationen der Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden zu handeln sei, die vergangen sind. 1 Ich möchte vorschlagen - inspiriert von der aktuellen Emotionsforschung -, dass der Blick auf und die Auseinandersetzung mit Emoti‐ onen in herausragender Weise geeignet ist für eine performativitätstheoretische Perspektive auf Theaterhistoriographie. Dafür möchte ich mir zwei zentrale und 26 Clemens Risi 2 „Quellen quillen ja nicht von alleine, wenn man sie nicht befragt.“ (Friedemann Kreuder im Interview (Ilg/ Bitterlich 2006: 131).) bereits viel diskutierte Quellen der Theatergeschichte, genauer: der Geschichte der Schauspieltheorie, noch einmal vornehmen und mit einer doppelten Fra‐ gestellung neu zum Quillen bringen: 2 die Dissertatio de actione scenica, also die Abhandlung über die Schauspielkunst des Jesuitenpaters Franciscus Lang, erarbeitet während seines langen Wirkens als Lehrer und Leiter verschiedener Stationen des Jesuitenordens und -theaters seit 1678, geschrieben in den letzten Jahren vor seinem Tod, zwischen 1720 und 1725, und zwei Jahre nach seinem Tod - 1727 - postum veröffentlicht, sowie Goethes Regeln für Schauspieler, 1803 als Anweisungen für „die aus Augsburg nach Weimar gereisten Eleven Karl Franz Grüner und Pius Alexander Wolff “ zusammengestellt und „nach seinem Tod durch Eckermann […] im vierten Nachlaßband der Ausgabe letzter Hand auf der Grundlage einer Mitschrift von Goethes Schreiber Geist publiziert“ (Alt 2008: 24). Vornehmen möchte ich mir diese beiden Klassiker der Geschichte der Schau‐ spieltheorie unter einer doppelten Fragestellung: grundsätzlich unter der Frage, welcher Umgang mit den Quellen es ermöglichen kann, einer theatralen Praxis einer vergangenen Epoche näher zu kommen, eine Spur davon zu entdecken, eine Spur, die zwar zarter und dünner ist als die breiten, neu gelegten Spuren der vielen, gerade in letzter Zeit vermehrt praktizierten Rekonstruktions-Versuche, dabei aber vielleicht aussagekräftiger. Und zweitens die These verfolgend, dass für diesen Fokus die Emotionen gleichzeitig in idealer Weise geeignet sind und dabei auch die größten Probleme bereiten. Es geht mir dabei nicht in erster Linie um die Frage nach den je Epoche und Kultur unterschiedlichen Definitionen oder Codierungen von Affekten und Emotionen oder um die Frage nach dem Prozess der Zivilisation im Angesicht der Affektregulierung, die Norbert Elias aufgeworfen hat, sondern darum, inwiefern das performative Potential von Affekten und Emotionen in ihrer doppelten Funktion im Theater, nämlich als Ausdruck und Übertragung sowohl eine Chance als auch eine Krise für die Theaterhistoriographie bedeuten kann. Die Frage, ob zur Affektübertragung heiße oder kalte Schauspieler: innen geeigneter sind, tritt dabei vor derjenigen nach der Wirkweise zurück. Was die im historischen Kontext natürlich notwendige Differenzierung der Begriffe Emotion, Affekt, Leidenschaft und Gefühl angeht, so möchte ich um die Lizenz zu einer gewissen Großzügigkeit bitten, da ich eher auf die übergrei‐ fenden Prozesse der Übertragung abziele, als auf die Fragen nach dem Ursprung der Empfindung - von außen über den Menschen hereinbrechend, also Affekt, „Si vis me flere…“ 27 oder aus seinem Inneren erwachsend, Emotion - oder nach der Dauer der Empfindung - etwa bei Kant die Unterscheidung zwischen Leidenschaft als lang anhaltend im Gegensatz zum überraschenden „Affect“. Franciscus Langs Unternehmung, eine Abhandlung über die Schauspielkunst zu schreiben, beginnt mit der für meine Fragestellung einschlägigen Definition von Schauspielkunst: „Als Schauspielkunst in meinem Sinne bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen“ (Lang 1975 [1727]: 163). Eine ähnlich prominente Rolle hat Goethe für die Emotionen in seinen Regeln nicht vorgesehen. Vorderhand stehen bei Goethe gerade nicht die Emotionen im Vordergrund, sondern die von allen Eigenmächtigkeiten und Idiosynkrasien der Schauspieler: innen gereinigte bzw. zu reinigende, ideale Vermittlung dichterischer Absicht auf der Bühne. Mehrfach möchte Goethe sein Erziehungsprogramm gar explizit vom Einfluss der Leidenschaften abgegrenzt wissen, insbesondere wenn es um das Einüben neuer Rollen geht: Bevor man […] seinem Gedächtnis etwas anvertrauen will, lese man langsam und wohlbedächtig das zum Auswendiglernen bestimmte. Man vermeide dabei alle Lei‐ denschaft, alle Deklamation, alles Spiel der Einbildungskraft […]. (nach Krippendorff 2005: 171) Doch blickt man einmal über die Regeln hinaus, sind bei der Beurteilung eines Schauspielers auch für Goethe die Emotionen von zentraler Bedeutung. In einem Bericht über die Eröffnung des neuen Theaters in Weimar und die Uraufführung von Schillers Wallenstein 1798 schreibt Goethe: In der gefühlvollen Darstellung unsers Graff erschien die dunkle, tiefe, mystische Natur des Helden vorzüglich glücklich; was er sprach war empfunden und kam aus dem innersten. […] Vohs, als Max Piccolomini, war die Freude des Publikums […]. […] das feinste zarteste Gefühl wußte er am glücklichsten auszudrücken. Der Auftritt, wo er Wallenstein von der unglücklichen Tat zurückzubringen bemüht ist, war sein Triumph, und die Tränen der Zuschauer bezeugten die eindringliche Wahrheit seines Vortrags. (nach Krippendorff 2005: 222) Und im April 1825 bemerkte Goethe in einem Gespräch mit Eckermann: Würden die Schauspieler durch öftere Wiederholung sich in ihre Rollen so hinein‐ spielen, daß die Darstellung ein Leben gewönne, als wäre es nicht eingelernt, sondern als entquölle Alles aus ihrem eigenen Herzen, so würde das Publikum sicher auch nicht ohne Interesse und ohne Empfindung bleiben. (nach Krippendorff 2005: 104) 28 Clemens Risi 3 … „omnes & singulae illae partes corporis regendae ac ordinandae“ (Lang 1975 [1727]: 18). 4 … „ut Actio [spectatores] spectatoribus […] potentius moveat ad affectum“ (Lang 1975 [1727]: 12). 5 „Beim Niedersetzen der Fußsohlen also, was das erste ist, muß darauf geachtet werden, daß sie niemals in gleicher Richtung, sondern immer um ein beträchtliches voneinander abgekehrt auf die Bretter gestellt werden, und zwar so, daß, während die Zehen des einen Fußes auf die eine Seite weisen, der zweite sich zur anderen wendet. Es sei erlaubt, diese Art des Stehens und Gehens künftig Bühnenkreuz [crux scenica] zu nennen […]“ (Lang 1975 [1727]: 170). 6 „Beim Gehen also und bei der Bewegung der Füße verlange ich einen bestimmten Büh‐ nenschritt oder eine gewisse entschiedene, beständige Art des Gehens mit bestimmten Schritten. Dieser Bühnenschritt wird mit drei oder vier Tritten vollführt, wobei der Schauspieler so schreiten muß, daß das Bühnenkreuz […] beharrlich eingehalten wird […]. Will sich der Schauspieler auf der Bühne von einer Stelle zur anderen begeben und beim Gehen den Fuß vorwärts bewegen, wird er unpassend schreiten, wenn er nicht aus der Stellung heraus, in welcher er stand, zuerst jenen Fuß ein wenig zurückzieht, der dem anderen vorgesetzt war. Zurückgezogen werde also der Fuß, welcher vorne stand und wieder vorwärts bewegt, aber weiter, als er vorher gestanden hatte. Hierauf folge der zweite Fuß nach und stelle sich vor den ersten: aber der erste, auf daß er nicht zurückbleibe, bewege sich wiederum vor den zweiten“ (Lang 1975 [1727]: 172). Aus diesen Aussagen ließe sich also folgern, dass auch Goethe die Unterneh‐ mung, Regeln aufzustellen, aus dem Grund anstellt, um die Schauspieler: innen in die Lage zu versetzen, genau diese Kraft der Emotionen regulieren zu können. Was müssen Schauspieler: innen nun beachten, um die „Beherrschung des Körpers“, die „moderatio corporis“ (Lang 1975 [1727]: 164), zu erlangen, also die Fähigkeit, „jene Körperteile, gemeinsam und einzeln, zu beherrschen und zu ordnen“ (1975 [1727]: 169)? 3 Was müssen sie machen, um die Affekte richtig auszudrücken, damit dann bei den Zuschauenden die richtige Wirkung erzeugt wird, „die Zuschauer wirksamer zum Affekt geführt werden“ (1975 [1727]: 164)? 4 Lang gibt den Schauspielenden Anweisungen - wortwörtlich „vom Scheitel bis zur Sohle“ (Roselt 2005: 74), also anfangend von den Fußsohlen, dem richtigen Positionieren der Füße, 5 über den korrekten Bühnenschritt, 6 über die Knie, die Hüften, die Arme, die Hände, die Finger, den Kopf, das Gesicht, die Augen. Haben die Schauspieler: innen die Kontrolle über alle diese Einzelteile ihrer Körper erlangt, sind sie in der Lage, die einzelnen Affekte nach Langs Anleitung auszuführen, wie es etwa in folgender Anweisung zum Ausdruck kommt: „Wir leiden und trauern, indem die Hände kammweise ineinander geflochten und entweder zur oberen Brust oder zum Gürtel gesenkt werden. Dasselbe bekunden „Si vis me flere…“ 29 7 Die Frage, ob Lang eher die heißen oder die kalten Schauspieler: innen präferiert, also ob diese sich selbst in den Zustand des Affekts setzen sollen oder nicht, wird in seiner Schrift zumindest kurz angerissen. Lang ist klar auf der Seite Horaz’: In den Augen wird „die Gemütsverfassung des Schauspielers wahrgenommen und das Gefühl offenbar […], das ihn innerlich bewegt […]“ (Lang 1975 [1727]: 190). Und hier: „Damit […] die Deklamation den Affekten entsprechend gestaltet wird, sind diese selbst zuerst in der Seele des Schauspielers hervorzurufen, um auch in den Zuhörern mächtig entfacht zu werden. Wer selbst innerlich friert, wie soll der andere erwärmen? “ (Lang 1975 [1727]: 206) wir mit der mäßig ausgestreckten und zur Brust gelenkten Rechten.“ (Lang 1975 [1727]: 168 f.) 7 Viele der bei Lang aufgestellten Regeln finden sich - zum Teil fast identisch - bei Goethe wieder. Auch bei Goethe - vielleicht noch viel stärker als bei Lang - geht es um ein Disziplinierungsprogramm: „Jeder Teil des Körpers stehe […] ganz in seiner Gewalt, so daß er jedes Glied, gemäß dem zu erzielenden Ausdruck frei, harmonisch und mit Grazie gebrauchen könne“ (nach Krippendorff 2005: 176). In beiden Quellen nimmt zudem die Orientierung der Schauspielenden zu den Zuschauenden einen großen Raum ein, als explizite Form der Kontaktauf‐ nahme und Ermöglichung einer Interaktion von Agierenden und Zuschauenden über den Blick, ein Auffälligwerden der das Performative fundierenden Aus‐ tauschprozesse (siehe Lang 1975 [1727]: 188 f., 193; Goethe nach Roselt 2005: 182). Indem es bei den Affekten und Emotionen immer sowohl um den Ausdruck als auch um die Übertragung auf die Zuschauenden geht, kommt mit dem Fokus auf die Affekte und Emotionen ein zentrales Moment des Performativen in den Blick: die Wechselwirkung von Agierenden und Zuschauenden. Die Affekte und Emotionen können also als herausragende Möglichkeiten und Chancen angesehen werden, das Performative in den Blick zu bekommen. Doch in eben dem Maße, in dem das Aufführungsgeschehen transitorisch und flüchtig ist, sind es korrespondierend auch die Übertragungsprozesse der Affekte und Emotionen, wodurch sie im selben Moment auch zum Problem, zur Herausforderung für die Theaterhistoriographie werden wie die vergangenen Aufführungen selbst. Also wie mit der Frage nach der Wirkungsdimension vergangener Aufführungen umgehen? Hier lassen sich grundsätzlich zunächst einmal zwei verschiedene Wege beschreiten; zum einen kann man bei den theaterhistorischen Quellen und ihren Autoren selbst nach Hinweisen für deren Verständnis und Auffassung der Wirkungsdimension suchen, was im Falle Langs und Goethes aber zu keinen direkt befriedigenden Ergebnissen führt. Zum anderen gilt es daher, sich auch die jeweils zeitgenössischen Körperkonzepte und medizinischen Diskurse vor 30 Clemens Risi 8 Erika Fischer-Lichte (1999) hat einen solchen Ansatz mit dem Begriff der Ansteckung und der Hinzunahme des Magie-Diskurses für das 18. Jahrhundert verfolgt. Für das 17. Jahrhundert, aber auch für das gesamte 18. sowie das beginnende 19. Jahrhundert ist sicherlich die Säfte- und Temperamentenlehre von zentraler Bedeutung. Augen zu führen, von denen sich im besten Fall Beziehungen (im Sinne von Interaktionen und Interdependenzen) zu den anderen Quellen herstellen lassen. 8 Es geht also um die Frage, wie die Übertragung der dargestellten Affekte und Emotionen von den Zeitgenossen gedacht wurde und wie diese Konzeption Einfluss auf das Aufstellen der Regeln ausgeübt hat. Für eine solche historische Diskursanalyse müssen entsprechend verschiedene Diskurse um das Ereignis Aufführung herumgestellt und die Interaktionen und Interdependenzen neu in Bewegung gesetzt werden. Von zentraler Bedeutung für das Wissen des 17. und 18. Jahrhunderts über den Körper und die physiologischen Vorgänge sind René Descartes’ Schriften, insbesondere seine Passions de l’âme von 1640 sowie der Discours de la méthode von 1637 mit der darin als Anhang enthaltenen Dioptrique, in der Descartes den Vorgang der Lichtbrechung und des Sehens erläutert. Vielversprechend erscheint auch die Hinzunahme der nur wenig später als Descartes’ Passions de l’âme im Jahr 1650 erschienenen Musurgia universalis des jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher. Nach Descartes’ Optik-Theorie wird das Gesehene im Augenhintergrund abgebildet. Descartes denkt das Sehen als körperlichen Akt der Übertragung kleiner unsichtbarer Teilchen, die - wie auch bei Kircher formuliert - in Impulsen an die Nerven weitergeleitet werden. Dabei bedient er sich des Bildes eines Blinden, der mit Hilfe von Stöcken seine Umwelt erkundet. Wie bei der Bewegungsübertragung mit einem Seil, bei dem man das eine Ende bewegt und sich die Bewegung am anderen Ende in gleicher Weise ereignet, also überträgt, werden die Objekte über den Gesichtssinn […] dadurch mitgeteilt […], daß sie nämlich durch vermit‐ telnde durchsichtige Körper [corps transparens] zwischen ihnen und uns die kleinen Fasern der optischen Nerven auf unserem Augenhintergrund berühren und damit die Hirnregion, aus der diese Nerven kommen. Sie bewegen sie […] in entsprechend verschiedenen Weisen, daß sie uns entsprechende Verschiedenheiten in den Dingen sehen lassen können […]. Nach diesem Beispiel ist es leicht zu begreifen, daß […] alle Gegenstände sowohl der äußeren Sinne, als auch unserer inneren Triebe, bestimmte Bewegungen in unseren Nerven hervorrufen, die durch sie dem Gehirn zugeleitet werden. (Descartes 1999 [1640]: 25) Transportstoffe sind neben und mit den hier genannten Nerven die berühmten Lebensgeister, „esprits animaux“, die auch bei Kircher als „spiritus animales“ „Si vis me flere…“ 31 9 Kircher führt dies am „Exempel Phaedri und Lisiae“ vor: „Lisias siehet Phaedrum scharpf an / und dieser jene wiederum: Under solchem Anschauen werfen sie ihre Augen=stralen auf einander / und mit denselben ihren Lebens=geist. […] Der Vapor / aber so aus Phaedri Hertzen gezeuget worden / ziehet sich gleich zum Herzen der Lysiae / und daselbsten vereiniget er sich mit ihrem Geist / und komt also dicker zuruck in Phaedri Geblüt / daß also sein Geblüt auch im Hertzen der Lysiae ist […]. Sind also die Platonici in der Meinung / daß die Liebs=Bezauberung durch die Augen geschehe; wann sie nun die radios visivos verstehen / so ists falsch / weil die Augen keine radios ausser sich werffen / sondern die objecta werffen die ihrige in die sichtbare Kraft. […] Nun begehrt […] natürlicher weis ein Ding seines gleichen Gemeinschaft / und gehet bei den Menschen / wie bei den gleich in unisonum gezo‐ genen Saiten / wann eine gerühret wird / so reget sich auch die ander und stimmet mit zu. Wann nun einer in einer offentlichen Versamlung einen ansiehet / und denselben für allen liebt / so ist die Ursach / daß die pulsus in Erregung der Geister gleich sind […] weil sie sich vor den Augen stellen / und an den Augen auch der äusserlichen Correspondentz nach sich mercken lassen / so ist es kein Wunder / daß der ander […] alsobald nur auf das erste Anschauen / zum unisono excitiret / und zu gleicher Lieb bewogen wird.“ (Kircher 1650: 322 f.) für den Übertragungsprozess der Affekte von der äußeren Einwirkung auf die Sinne zur Produktion des entsprechenden Affekts - vermittels Resonanz der Bewegung, also direkter analoger Bewegungsbeeinflussung, wie mit den Stöcken des Blinden - verantwortlich zeichnen. Bezeichnenderweise erklärt Kircher den Vorgang des Sehens am Beispiel der „harmonischen Liebs=Be‐ zauberung“ (1650: 321), also des denkbar schönsten und einsichtigsten Affekt‐ übertragungsprozesses. 9 Was die Ansteckung bzw. die Übertragung über das Sehen angeht, so stimmen also Descartes und Kircher insofern überein, als die betrachteten „objecta“ mittels Strahlen, die körperlich/ materiell gedacht werden, in die Augen (bei Descartes: in den Augenhintergrund) dringen und via resonierender Übernahme der Impulse der Lebensgeister für die Ansteckung mit dem Affekt sorgen. Nimmt man nun das von Lessing, der selbst auch Medizin studiert hat, formulierte Gesetz der psycho-physischen Wechselwirkung hinzu, nach dem nicht nur innere Bewegungen, also „Modifikationen der Seele“, äußere körperliche Bewegungen produzieren, sondern auch umgekehrt die Ausführung der äußerlichen Zeichen zu einer Erregung der entsprechenden inneren Gemütsverfassung führt (vgl. Roselt 2005: 129 f.), so lässt sich folgender Übertragungsvorgang konstruieren: Wenn ein: e Zuschauer: in eine: n Schau‐ spieler: in dabei beobachtet, wie diese: r weint, so wird sie: er nach der Regel der Resonanz dieselben Regungen des Gesichts, also dieselbe Mimik produzieren, was unweigerlich zu Tränen und schließlich zu einer „Modifikation der Seele“ - zur Trauer - führen wird. Was bringt aber nun diese Einsicht für die Beschäftigung mit den Regeln für Schauspieler: innen? Aufgrund dieser physiologischen Erklärung der Mög‐ 32 Clemens Risi 10 In der Formulierung Peter-André Alts handelt es sich bei Goethes Regeln um „Elemente eines sozialen und ästhetischen Erziehungsprogramms, das Goethe gegenüber den Weimarer Akteuren auf verschiedenen Stufen verfolgte“ (Alt 2008: 24). lichkeit der Affektübertragung über die Augen leuchtet ein, wieso Lang den Augen eine so große Bedeutung beimisst. So ist es nur konsequent, dass die Schauspielenden sich immer den Zuschauenden zuwenden müssen und den Zuschauenden immer ermöglicht werden muss, die Augen der Schauspielenden zu sehen. Lang schreibt: […] der vornehmste Teil des Menschen [ist] das Haupt […] und darin das offene Antlitz, in dem, wie auf einer Tafel geschrieben, die Regungen der Seele zu lesen stehen. […] Daher ist es die erste Aufgabe der Augen, daß sie sowohl auf die Zuhörer als auch darauf, wovon auf der Bühne die Rede ist, gebührend gerichtet sind. […] Über den Auftritt im Theater ist zuerst zu bemerken, daß der Schauspieler, wenn er aus den Kulissen auf die Bühne tritt, unverzüglich Antlitz und Körper den Zuschauern zuwenden und sein Gesicht so darbieten soll, daß die Zuschauer in den Augen lesen können, in welcher Gemütsverfassung er kommt. (Lang 1975 [1727]: 188 f.) Auch Goethe legt auf die Sichtbarkeit der Schauspielenden und die Hinwendung der Schauspielenden zu den Zuschauenden großen Wert: […] der Kopf [sei] ein wenig gegen den gewendet mit dem man spricht, jedoch nur so wenig, daß immer dreivierteil vom Gesicht gegen die Zuschauer gewendet ist. Denn der Schauspieler muß stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist. […] sie sollen nie im Profil spielen, noch den Zuschauern den Rücken zuwenden. (nach Krippendorff 2005: 176 f.) Noch hierin zeigt sich eine Prägung durch diesen älteren klaren Zusammenhang von Seelenempfindung und Augen. Im Sprechen über die Sichtbarkeit und das Sehen geht es zuletzt also auch in den Passagen, in denen Goethe nicht explizit von den Empfindungen spricht, implizit um eine Reflexion der Bedingungen ihrer Übertragung. Die Privilegierung des Auges als wichtigstem Organ der Affektdarstellung und -wahrnehmung wird in Franciscus Langs Dissertatio und Goethes Regeln zum Garanten für gelingende Übertragung ausgerufen. Gleichwohl scheint ihnen dies nur unter der Maßgabe strenger Regeln zur Eindämmung des Kontingenten möglich. Bei beiden Quellen handelt es sich um Disziplinie‐ rungsprogramme, 10 die unwillkürlich - und dies ist das große Glück für die performativitätsorientierte Theaterhistoriographie - das jeweilige Gegenteil des Gelingens, den Widerspruch, den Fehler (und dies sogar ganz explizit) hervortreiben. So beginnt Langs Abhandlung auch nicht mit der Darstellung „Si vis me flere…“ 33 der korrekten Bühnenhaltung, sondern mit einem Fehler: „Um verständlich zu sprechen, füge ich einige figürliche Darstellungen bei […]. Und zwar zeige ich zuerst eine Gestalt voller Fehler, damit aus dem Gegensatz der Unterschied klar werde.“ (Lang 1975 [1727]: 170) Was hier als völlig unmöglich angeprangert wird, ist die fehlende „crux scenica“, also der fehlende Kontrapost in den Beinen und den Armen; die Füße stehen fälschlicherweise auf selber Höhe, die Arme hängen ebenso falsch beide herunter etc. Wenn in der Literatur zur Schauspieltheorie über Lang gehandelt wird oder über Goethes Regeln, werden in aller Regel immer die Forderungen und Anweisungen fokussiert und damit einem gereinigten Theater das Wort geredet, das so nur in den Köpfen der Macher, aber wohl nie in der Praxis existiert hat. Das Interesse gilt immer der Innovationskraft der Regeln hinsichtlich einer Disziplinierung des Körpers, der intentionalen, wohl rein theoretischen, nur imaginären, nur prospektiven Idee einer Schauspielpraxis und nicht den in beiden Quellen zuhauf angeprangerten Fehlern. Es sind aber gerade die Fehler, denen beide Autoren so viel Platz einräumen, in denen im Widerspruch zur intentionalen Anweisung Spuren einer performativen Praxis aufscheinen. Die aufgezählten Fehler und Unarten auf der einen und die geforderten Regeln auf der anderen Seite sind zwei Pole, zwischen denen sich die Realität der performativen Praxis abgespielt haben wird, die durch das diskursive Zusammendenken der beiden Pole von uns heute wieder in Bewegung gebracht werden kann. Ein paar Beispiele, zunächst von Lang: Endlich trägt es zu einem höchst lobenswerten Spiel der Hände bei, gewisse Fehler kennengelernt zu haben, deren wichtigste wir zusammenfassen. 1. Falsch und un‐ schicklich ist es, die Finger der Hände so auszustrecken, daß sie zu weit gespreizt sind. 2. Die Finger einer Hand an ihren äußersten Enden, ganz nach der Art eines Schreibenden, mit der Daumenspitze zusammenzufügen. […] 5. Die Hände zu reiben, zu säubern, zu betrachten, die Nägel zu reinigen, mit ihnen den Kopf oder einen anderen Körperteil zu kratzen, ist unschicklich. (Lang 1975 [1727]: 187 f.) Oder bei Goethe: Es gehört unter die zu vermeidenden ganz groben Fehler [also in meiner Lektüre zu den üblichsten Praktiken], wenn der sitzende Schauspieler, um seinen Stuhl weiter vorwärts zu bringen, zwischen seinen obern Schenkeln in der Mitte durchgreifend, den Stuhl anpackt […]. Der Schauspieler lasse kein Schnupftuch auf dem Theater sehen, noch weniger schnaube er die Nase, noch weniger spucke er aus. (nach Krippendorff 2005: 182) 34 Clemens Risi In diesen Regelverstößen scheint - für die beiden Theoretiker unangenehm - der phänomenale Leib der Darstellenden auf, entweder in einer Übertrei‐ bung ihrer Gesten oder jenseits der Rolle als etwas Privates, als körperliche Notwendigkeit oder gar der Körper als ein sexualisierter. In den Fehlern aber manifestiert sich eine Gleichgültigkeit oder ein Widerstand der Körper gegen die Regeln, der auf gängige performative Praktiken verweist. Mit dieser Betonung der Fehler und Widersprüche gerät noch eine weitere Dimension des Performativen bzw. eine Dimension einer weiteren Definition in den Blick - nämlich die des Urvaters des Begriffs, John L. Austin, der sich - um den Begriff zu explizieren - auf das Scheitern der Sprechakte konzentriert hat. Austins extensive Diskussion von scheiternden Sprechakten („infelicities“/ „Unglücksfällen“) weist auf die produktive Kraft des Fehlers, die sich auch in den Regelwerken Langs und Goethes als gegen den Strich zu lesende performativitätstheoretische Perspektive auf Theaterhistoriographie auffinden lässt. Nach Sybille Krämer und Marco Stahlhut nimmt Austin eine „Misslingensperspektive“ ein. Sie schreiben: Für Austin gehört das Scheitern zum Handeln, ist das Verfehlen dem menschlichen Tun inhärent. Allerdings kann diese Dimension der Fehlleistung als ein Charakte‐ ristikum des menschlichen Handelns nur dann in den Blick kommen, wenn […] wir uns […] jenem Stadium zuwenden, „in dem wir eine Handlung, auf die wir uns eingelassen haben, wirklich (actually) ausführen müssen (carry out).“ […] Austin interessiert sich […] für die Brechungen im Vollzug eines Handelns, in welchem die Ausführung dem Vorhaben zuwiderläuft, die Realisierung das System unterminiert, die Phänomene die Ordnung durchkreuzen, die Aktualisierung die Regel verletzt, kurz: das Sein vom Sollen nicht einfach zu unterscheiden ist, sondern dieses Sollen - um einen Ausdruck von Austin zu benutzen - geradezu verpfuscht (to muff) wird. (Krämer/ Stahlhut 2001: 43) Die produktive Kraft des Fehlers lässt sich in der performativitätstheoretischen Re-Lektüre von Regeln für Schauspielende gerade in jener wirklichkeitskons‐ tituierenden Potenz der Abweichung ausmachen, die über die (eigentlich zu unterbindenden) Unglücksfälle Indizien für Wirkweisen von (Affekt-)Übertra‐ gungen liefert. Gerade die berichteten Ärgernisse, die Abweichungen von den Regeln und die Fehler im System lassen sich nicht nur als Scheitern von gewünschter Affektübertragung verbuchen, sondern funktionieren in hohem Maße als Übertragung eigenen Rechts mit einer eigenen Dynamik performativer Verschiebung, die sich erst in einer peripheren Historiographie der Anekdoten und Verbote als solche entpuppen. Dazu aus den Gesprächen Goethes mit Eckermann vom Mai 1824: „Si vis me flere…“ 35 Ich habe in meiner langen Praxis, sagte Goethe, Anfänger aus allen Gegenden Deutschlands kennen gelernt. […] Eingeborene unserer lieben Stadt Weimar haben mir viel zu schaffen gemacht. Bei diesen entstehen die lächerlichsten Mißgriffe daraus, daß sie das B. vom P. und das D. vom T. [nicht unterscheiden gelernt haben]. […] Eine hiesige junge Sängerin, […] die das T. und D. […] nicht unterscheiden konnte, hatte neulich zu sagen: „Ich will dich den Eingeweihten übergeben.“ Da sie aber das T. wie D. sprach, so klang es, als sagte sie: „Ich will dich den Eingeweiden übergeben.“ […] Gleicherweise, fuhr Goethe fort, wird hier das Ü. häufig wie I. ausgesprochen […], wodurch nicht weniger die schändlichsten Mißverständnisse veranlaßt werden. […] Dieser Art, versetzte ich, ist mir neulich im Theater ein sehr spaßhafter Fall vorgekommen, wo eine Dame in einer mißlichen Lage einem Manne folgen soll, den sie vorher nie gesehen. Sie hatte zu sagen: „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmut deiner Züge.“ Da sie aber das Ü. wie I. sprach, so sagte sie: „Ich kenne dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmut deiner Ziege.“ Es entstand ein großes Gelächter. Dieser Fall ist […] gar nicht schlecht, erwiderte Goethe, und wir wollen ihn uns […] merken. (nach Krippendorff 2005: 187 f.) Zwischen dem geforderten Ideal und den abgelehnten Fehlern gibt es sowohl bei Lang als auch bei Goethe noch eine für das Performative höchst interessante Zwischenstufe, nämlich die Lizenz zum Überschreiten der Regel: Über den Zorn führe ich folgendes an: […] man […] gestikuliert heftig, stößt die Finger gegeneinander, knirscht mit den Zähnen und tut anderes dieser Art, worin die Leidenschaft des Zorns sich ausdrückt. Dies über den gewöhnlichen Zorn. Wenn er aber das Maß überschreitet und in Raserei ausartet, dann hält sich freilich auch die Darstellung an kein Maß. Deshalb soll dem Rasenden verstattet sein, was dem Besonnenen nicht ziemt. (Lang 1975 [1727]: 200 f.) Und auch Goethe erteilt den Schauspielenden die Lizenz zur bewussten Regel‐ verletzung als angemessenes Darstellungsmittel des Bäurischen (vgl. Krippen‐ dorff 2005: 184). Indem die Regelverletzung nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu eingefordert wird, wird die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung des Emotionsausdrucks- und -übertragungsszenarios damit unwillkürlich an den unplanbaren und als unplanbar akzeptierten Moment der Aufführung und des einzelnen Akts delegiert. An die Stelle des Glaubens an planbare Wirkungen tritt das Eingeständnis von Emergenz - wie wir dies von heute aus bezeichnen würden -, also das Eingeständnis des Eintretens eines Ereignisses, das nicht vorhersehbar war, aber im Nachhinein rückwirkend erklärbar ist. 36 Clemens Risi Theaterhistoriographie aus der Perspektive des Performativen lässt sich letztlich vielleicht ähnlich wie das Konzept Aufführung beschreiben, in perma‐ nenter Wechselwirkung der gegenseitigen Hervorbringung. Die Re-Lektüre der Quellen produziert Geschichte ebenso wie ihre Leser: innen, überträgt Emotionen auch auf sie, und sei es im Staunen über die Fremdheit, in der Freude über den Fund, oder in dem Bedauern, nicht dabei gewesen sein zu können. Literatur Alt, Peter-André (2008). Klassische Endspiele: Das Theater Goethes und Schillers. München: Beck. Descartes, René (1999). Die Leidenschaften der Seele. Französisch/ Deutsch. Hrsg. und übers. von Klaus Hammacher [1640]. Hamburg: Meiner. 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Auf Lateinisch finde ich entsprechend die Wörter motus bzw. commotus, welche Bewegung, Erregung und Aufregung bedeuten. Auf Englisch und Französisch finde ich vorerst das Wort emotion/ émotion, das auf Griechisch unter anderem mit συγκίνηση übersetzt wird. Auf Englisch und Französisch gibt es auch den Terminus commotion, der eventuell wörtlich exakt das Wort auf Griechisch erfasst, allerdings andere Bedeutungen in den jeweiligen Sprachen hat. Auf Deutsch, letztlich, stoße ich auf die Wörter Ergriffenheit und Rührung, die eher in bestimmten historischen Zusammenhängen theoretisiert, definiert und konnotiert werden. 1 Was tun also? Wie der Heimsuchung des griechischen Wortes gerecht werden und trotzdem ein Wort finden, um den Text auf Deutsch zu schreiben und zugleich meine Argumentation ordentlich zu präsentieren? Ich habe mich letztendlich für das Wort Rührung entschieden, denn ich denke, es kann doch viel von dem transportieren, was ich sagen möchte. Der Terminus Rührung hat eine lange ästhetische Geschichte, die auf den ersten Blick mit Immanuel Kant endet, die aber natürlich in anderen Konfigurationen immer wieder in 2 Ich meine hiermit die Einbettung des Begriffs bzw. seiner Synonyme in verschiedenen Gefühls-, Emotions- und Affekttheorien. 3 Zunehmend versteht und interpretiert man Rührung als psychologisches Phänomen, das vorerst und vorrangig das Individuum und seine Psyche betrifft. Siehe hier z.B. Slaby/ von Scheve (2019). Erscheinung tritt (vgl. Slaby/ von Scheve 2019). 2 Ich möchte im Folgenden Rührung - in gleichem Maße wie συγκίνηση - von ihren engen psychologischen Fesseln befreien 3 und zeigen, inwiefern und auf welche Weise sie dazu imstande ist, andere Kräfte zu mobilisieren, die in der Lage sind, sie von einem psycholo‐ gischen zu einem ästhetisch-ethischen Phänomen zu transformieren. Im Folgenden werde ich drei Sequenzen von zwei Aufführungen beschreiben. Es handelt sich um die Aufführungen John Gabriel Borkman von Vegard Vinge/ Ida Müller (Prater/ Volksbühne, 2011/ 12) und 12-Spartenhaus, ebenso von Vegard Vinge/ Ida Müller (Prater/ Volksbühne, 2013). Da es sich um sehr eigenartige Aufführungen handelt - dazu gleich mehr - möchte ich jetzt schon präzisieren, dass ich die erste Inszenierung zweimal und die zweite dreimal gesehen habe. Ich werde mich auf drei einigermaßen begrenzte und übersichtliche Sequenzen fokussieren, um meine These zu veranschaulichen. Ich werde mich allerdings auf die gesamte Ästhetik, die Strategien und die Manieren der Aufführungen beziehen, um die Diskussion zu erweitern bzw. die Argumentation zu unterstützen. Ich erhoffe mir daraus, einige Gedanken über eine Ästhetik der (extremen) Rührung speziell in Hinsicht auf ihre ethischen Implikationen zu artikulieren. 2 Sequenz I: John Gabriel Borkman möchte sich befreien Online existieren einige Texte, Fotos und Videos, aus welchen man einen guten Eindruck über die Besonderheiten und Eigenheiten der Aufführungen von Vinge/ Müller bekommt (siehe Friedman 2019: 1-22; Friedman 2012; Friedman 2012: 430-433; Friedman 2014: 262 f.). Von Relevanz für die folgende Argu‐ mentation sind wohl drei herausragende Eigenschaften, welche alle ihre Auf‐ führungen prägen. Es handelt sich zum Ersten um die absolute Ver- und Entfremdung der Schauspieler*innen: Sie erscheinen nackt, von oben bis unten mit weißer Farbe bemalt oder mit Blut verschmiert; sie erscheinen in überdi‐ mensioniertem Make-up bzw. mit überdimensionierten Prothesen auf ihnen; in grotesken, comicähnlichen Kleidungsstücken und Schuhen; in deformierenden Masken, mit überlangen Haaren/ Perücken bzw. Bärten u.Ä. Ihre Bewegungen ähneln jenen von Robotern oder Puppen; jede Figur verfolgt spezifische, quasi mechanische Bewegungspattern. Auch ihre Stimmen bekommt man niemals 40 Natascha Siouzouli zu hören. Vielmehr hört man das, was sie zu sagen haben, als verzerrten Sound aus einem Mikrofon - sehr oft reagieren die Schauspieler*innen mit kleiner Verspätung auf das, was gehört wird, auch wenn sie es selbst zu sagen scheinen. Der konstante Sound - und das wäre die zweite Eigenschaft - in Form von Opernarien, symphonischer Musik, Songs, verschiedenen Klängen (die manchmal auf etwas verweisen sollen), aber auch Klängen, die als Leitmotive für die Erscheinung einer bzw. mehrerer Personen fungieren, sodass man eventuell versteht, wer nun kommt bzw. wohin die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll - erzeugt eine fortwährende Klangkulisse, die so viele Konnotationen haben kann, dass man am Ende Mühe hat, überhaupt eine Assoziation herzustellen. Als dritte Eigenschaft möchte ich die Bedeutung der zeitlichen Dauer hervorheben. Wenn man bei den Aufführungen Szenen und Sequenzen ausmachen möchte, was keinesfalls eine leichte Mission ist, dann entdeckt man, dass keine Szene/ Sequenz - grob geschätzt - unter zwanzig Minuten dauert, was auch die gesamte Aufführungsdauer (ordentliche zwölf Stunden pro Abend) erklärt. Auf diese drei Charakteristika der Aufführungen von Vinge/ Müller werde ich während der Argumentation immer wieder zurückkommen. Das Haus der Borkmans hat zwei Etagen und einen Außenraum, der zum Teil mit Schnee bedeckt ist. In der zweiten Etage haust John Gabriel (wie es Ibsen ja vorschreibt), ein nackter, dürrer, blutverschmierter Greis mit langen grauen Haaren und überlangem grauen Bart. Er erlebt dort die Abenteuer seines Lebens (er erscheint als Darth Vader von Star Wars; als Kapitän eines stillgelegten U- Boots; er wird von riesigen, beweglichen, schwarzen Müllsäcken heimgesucht, die Treppen hinaufsteigen und zu terriblen Formationen mutieren etc.). Irgendwann erscheint ein Chor von Männern und Frauen in Skelettkostümen und Perücken im Außenraum des Hauses und beginnt, riesige, weiße Tücher vor- und zurückzubewegen. Nach einer Weile beginnen sich auch die Vorhänge der Bühne zu bewegen. Alles zusammen produziert einen Windstrom, der bis zum Publikum, das nicht sonderlich weit weg im Prater der Volksbühne sitzt, reicht. Borkman beginnt nun begleitend, ein Schiffsteuerrad, das mittendrin auf seiner Etage steht, hin und her zu bewegen. Musik begleitet die Aktion. Ehe man in Trance verfällt und vom Tüchertanz und dem Wind hypnotisiert wird, bewegt sich der mittlere Teil des Bühnenbildes, mit Borkman und dem Schiffsteuerrad darauf, langsam nach hinten und trennt sich vom restlichen Bühnenbild bzw. vom Haus der Borkmans. Man hat jetzt den Eindruck, es handle sich tatsächlich um ein Schiff(steil). Alle Bewegung geht weiter. Borkman scheint sich entfernen zu wollen, von all dem Leid, das er auszuhalten hat, von all den Peinlichkeiten, die ihm seine Familie aufbürdet, von all den Gespenstern, die ihm folgen. Das hypnotisierende Hin und Her, Vor und Zurück geht so weiter, bis plötzlich auf Ästhetik der Rührung 41 4 Vegard Vinge, der Regisseur der Aufführung, erscheint in seinen Aufführungen (an‐ geblich) in der Persona ‚des Regisseurs‘. Angeblich heißt hier, dass man ihn nicht direkt und unmissverständlich mit der Figur ‚des Regisseurs‘ identifizieren kann (was beispielsweise bei Tadeusz Kantor und seiner Erscheinung auf der Bühne möglich ist). Vinge interveniert ins Spektakel, arrangiert hier und dort ein Bild, unterbricht die Hand‐ lung usw. und insofern könnte man ihm Eigenschaften ‚des Regisseurs‘ zuschreiben. Allerdings tut er auch vieles mehr, was in anderen Zusammenhängen interpretiert werden muss. Ich komme noch darauf zu sprechen. In beiden Aufführungen, die ich hier bespreche, trägt er eine groteske Maske im Stil aller Masken der Schauspieler*innen (mit prononcierten Charakteristika und Farben), eine kurze schwarze Perücke, weiße Leggings mit Hosenträgern, dicke schwarze Schuhe und ein figurbetonendes schwarzes T-Shirt mit einem bunten Richard-Wagner-Profil. Insofern scheint er hier wie dort die gleiche Figur darzustellen. 5 In einer Aufführung soll Vinge einen Feuerlöscher - auf die Zuschauenden gerichtet - genutzt haben. dem Schiff ‚der Regisseur‘ 4 erscheint und eine riesige rote Fahne hin und her zu schwenken beginnt. Die Musik wird lauter, der Wind vom Tüchertanz weht kräftig, der alte Borkman gedenkt, sich zu befreien, und eine höchstpolitische Geste - das Wehen der roten Fahne - übermalt zum Schluss die Szenerie. 3 Szene II: Peter Stockmann liest seinem Bruder Thomas Bernhard vor Was man in Bezug auf die Performances festhalten sollte, ist die Tatsache, dass keine Aufführung der nächsten oder der vorigen ähnelt. Selbstverständlich kann man bestimmte Figuren identifizieren und eventuell an bestimmten Szenen ähnliche Pattern erkennen, allerdings unterscheiden sich bestimmte Aspekte derart, dass man den Eindruck hat, man wohne jedes Mal einer anderen Aufführung bei. Dies war verstärkt der Fall bei der zweiten Produktion, die ich hier bespreche, nämlich 12-Spartenhaus, an der ich dreimal teilgenommen habe. Bei dieser Produktion waren die alternativen Aufführungen quasi Programm. Nicht nur existierte eine Art Libretto mit ‚zu spielenden Szenen‘ jeden Abend, sondern die jeweilige Aufführung reagierte auf Ereignisse, die außerhalb des Events stattfanden. Hier eine Berichterstattung zu einem solchen Ereignis: Einen Brief von Volksbühnen-Intendant Castorf, der Vinge nach der Feuerlöscherat‐ tacke 5 an die Vertragspflichten erinnerte, beantwortete Vinge so: Er las den Brief auf der Bühne vor, turnte auf dem Dach des Praters herum, absolvierte routiniert die Wir-pinkeln-uns-in-den-eigenen-Mund-Nummer und hängte den Brief dann kotbeschmiert auf. Die Volksbühne bleibt demonstrativ gelassen und lässt wissen, dass man davon ausgeht, dass alle weiteren Vorstellungen wie geplant stattfinden. Privat, 42 Natascha Siouzouli 6 Zu Andreas Speichert erfährt man aus derselben Berichterstattung: „Als [Vinge] das Publikum mit dem Feuerlöscher attackierte, griff der beherzte Bühnenmeister Andreas Speichert ein. Er bekam die volle Ladung Löschpulver ab und musste sich ärztlich behandeln lassen. Als Speichert in früheren Vorstellungen einschritt, um zu verhindern, dass Vinge sich oder andere verletzt, war die Beschimpfung als ‚Nazi‘ noch eine der harmloseren-Vinge-Reaktionen.“ 7 Spengler war nicht Teil des Ensembles. Er erschien, soweit ich weiß, ein einziges Mal in der Produktion, als Guest Star sozusagen, ohne Verkleidung. 8 Ein Lieblingsmotiv von Vinge, das immer wieder in seinen Aufführungen auftaucht, ist die Auseinandersetzung von Vater und Sohn in den verschiedensten Figurationen. In diesem Zusammenhang könnte man auch Vinges (Sohn-)Beziehung zu Ibsen (Über- Vater) interpretieren. ohne Maske, soll Vinge übrigens ein reizender, höflicher junger Mann sein, berichtet Andreas Speichert, 6 der unerschrockene Bühnenmeister. (Lauterbach 2013) 12-Spartenhaus basierte auf verschiedenen Ibsen-Stücken, allen voran Ein Volks‐ feind, und utilisierte wie gewohnt unterschiedliche Referenzen auf Oper, Pop Kultur, Kino, bildende Künste, Theorie, Politik u.v.m. In einer der Vorstellungen von John Gabriel Borkman erinnere ich mich an eine Sequenz, die ich nur einmal sah: Es war eine Video-Sequenz, in welcher Vegard Vinge und Volker Spengler 7 Sohn und Vater spielten. 8 In dieser Sequenz spielte Vinge mit seinen Körperflüssigkeiten, mit den Federn von Kissen, mit Möbeln, die er zerstörte etc. und wiederholte endlos die Phrase: „Bald (bzw. gleich), Vater…“, während Spengler eine einzige Phrase immer wieder von sich gab: „Ich will mein 12-Spartenhaus…“ Somit wusste ich als eine der wenigen, nehme ich an, wie der Titel der darauffolgenden Aufführung zustande kam. Ein paar Jahre später richten nun Vegard Vinge und seine Mitarbeiter*innen im Prater der Volksbühne das 12-Spartenhaus für ‚seinen Vater‘ ein. Die Zuschau‐ enden halten sich (fast) ausschließlich im Foyer des Praters auf - ausnahmsweise dürfen sie ins Spartenhaus (ich habe dies nicht erlebt) bzw. können heraustreten und einige Szenen, die im Hof des Praters spielen, durch Gitter und Türen rechts neben dem Theater spähen. Die Schauspieler*innen werden nur selten faceto-face angetroffen (allen voran Vinge, der z.B. am letzten Abend die gesamte Bühnenkonstruktion demoliert), während die Aufführung auf Leinwänden bzw. hinter Fenstern und gläsernen Türen stattfindet. Die Zuschauenden bilden kleinere oder größere Gruppen vor bestimmten At‐ traktionen, während freilich andere Aktionen auf anderen ‚Bühnen‘ stattfinden. Direkt hinter dem Pratereingang ist eine Treppenszenerie gebaut, die vom Foyer durch ein Fensterglas abgetrennt ist, in welcher hauptsächlich ‚Aida‘ ihre Proben durchführt bzw. ab und zu Vinge erscheint. Irgendwann setzt sich Ästhetik der Rührung 43 Peter Stockmann auf die Stufen und beginnt, aus dem Roman Holzfällen von Thomas Bernhard vorzulesen - wenn man nah am Fenster sitzt, hört man, was er vorliest, wenn auch leise und oft in sonstigen Geräuschen untergehend. Auf den restlichen Bühnen der Aufführung geht das Spiel weiter, die Positionen der Zuschauenden ändern sich ständig, man verweilt irgendwo und nach einer Weile ist man dann woanders und vergisst vermutlich vorerst die Szene, die man gerade noch verfolgte. So auch bei mir: Ich verlasse irgendwann meine Position vorm Fenster und kehre dann nach Minuten bzw. Stunden (? ) zurück und was ich dort vorfinde, ist eine etwas geänderte Situation, die aber meine Perzeption gewaltig prägt. Peter Stockmann ist nicht mehr allein, sondern umarmt seinen Bruder, der seinen Kopf auf den Schoß Stockmanns gelegt hat. Peter Stockmann liest weiter vor und es hat nun den Anschein, als würde er in einer liebevollen Geste seinem Bruder vorlesen. In einer Szenerie der endlosen Gewalt, der Entfremdung, der Zerstörung, der geräuschvollen Verzweiflung, wie sich ja die Aufführungen insgesamt präsentieren, taucht plötzlich ein Bild auf, das eine ruhevolle Insel einer ethischen Affirmation darstellt. 4 Szene III: Der Artist ersucht Hilfe Vinges Interventionen ins Spektakel hatten öfters mit einer exzessiven Mal‐ aktion zu tun, ganz in der Manier der Avantgardisten: In langanhaltenden Szenen, begleitet von klassischer Musik (vor allem Opernarien), die sehr laut spielte, bemalte er bunt große weiße Tücher in abstrakten Formen. ‚Die Werke‘ resultierten daraus, dass er die Farbflaschen in seinen Anus steckte, ihn mit Farbe befüllte und dann die Farbe daraus auf das Tuch presste. Dazwischen urinierte er auch auf das Tuch und sobald er glaubte, das Tuch war voll genug, wälzte er sich mit seinem - oft nacktem bzw. semi-bekleideten - Körper darauf und daraus entstand dann sein Werk. So eine Szene habe ich sowohl in Borkman als auch in 12-Spartenhaus erlebt. In einer der Aufführungen von 12-Spartenhaus, sehr spät in der Nacht und während die Aktion weitergeht, setze ich mich erschöpft auf den Boden in einer Nische des Foyers und schaue auf eine der Leinwände vor mir. Vinge beginnt seine Malaktion, die ich auf der Leinwand verfolgen kann, mit all den Charakteristiken, die ich oben beschrieben habe. Am Ende der über 20minütigen Sequenz jedoch passiert etwas, das nur wenige Zuschauenden wahrgenommen haben dürften: Während der Artist sich auf seinem Tuch bzw. auf den frischen Farben wälzt, formt er plötzlich, fast unbemerkt und leise das Wort „Help“ mit schwarzer Farbe - das Wort verschwindet schnell wieder und die Aktion wird nach einer kurzen Weile beendet. 44 Natascha Siouzouli Man kann, wie ich schon oben erwähnt habe, Vinge in der Rolle ‚des Regis‐ seurs‘ sehen, der beliebig ins Spiel interveniert, man muss es aber nicht. Was man zu verstehen bekommt, insbesondere wenn man mehrere Produktionen gesehen hat, ist, dass er die gleiche Figur verkörpert, die außerhalb der inszenierten Texte existiert. Gelegentlich und für eine kurze Weile übernimmt er auch andere Rollen, die er aber auch schnell aufgibt. Am meisten sieht man Vinge in exzes‐ siven Szenen der Gewalt(darstellung) (er erschießt seine Schauspieler*innen), der (Selbst-)Destruktion (in mehreren Aktionen verausgabt er sich bis zur Erschöpfung) und der Randale (er demoliert Bühnenbilder), der Beleidigungen (er stößt Obszönitäten und Beschimpfungen aus); er uriniert und scheißt auf der Bühne bzw. im Zuschauer*innenraum und utilisiert dann seine Fäkalien in den Rest der Szene; er bewirft die Zuschauenden mit Teilen des Bühnenbildes bzw. attackiert sie mit Löschpulver. Er ist jemand, auf den man notwendigerweise aufpassen muss, wenn er auftritt, und das aus vielen verschiedenen Gründen. Und dann gibt es so eine Szene, wie ich sie hier beschrieben habe (oder aber auch die Borkman-Szene, wie oben beschrieben), die eine*n völlig überraschend heimsucht; die ganz leise und fast unbemerkt ihren Auftritt hat und ähnlich leise verschwindet und welche die Allmächtigkeit ‚des genialen Artisten‘ nicht nur dekonstruiert, sondern radikal und regelrecht verschmäht. Der Hilferuf bzw. sein Befreiungsversuch auf Borkmans Schiff deutet vielleicht auf die leise Bekundung einer Ohnmacht hin, die den spielenden Meister überfällt, und liefert eventuell einen Metakommentar zur zwiespältigen Situation des Künstlers: Er braucht sein Publikum, um als solcher existieren zu können, und zugleich muss er es attackieren oder eben vor ihm (versuchen zu) fliehen, um seine Existenz zu schützen. Der Künstler muss weiterspielen, auch wenn das Spektakel ihn verschlingt; auch wenn er nicht weiterspielen möchte. Der Künstler muss sich vor dem Publikum verausgaben, auch wenn dies seine Existenz ernsthaft gefährdet. In diesem Zusammenhang kann man eventuell das Wagner-Porträt auf seinem T- Shirt interpretieren - ich möchte hier auf keinen Fall versuchen, das Wagner-Zitat ernsthaft zu analysieren. Allerdings könnte man gemäß der Szene, die ich hier beschreibe, den Eindruck gewinnen, als wolle der hier als machtvoll inszenierte Artist ein melancholisches Scheitern bzw. die tatsächliche, subtile, verschlingende Ohnmacht ‚des Meisters‘ in Aussicht stellen bzw. andeuten. 5 Zur Rührung als συγκίνηση Als ich für diesen Artikel recherchierte, bin ich auf das für mich interessante Buch von Caroline Torra-Mattenklott (2002) gestoßen, das die ästhetischen Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts insbesondere im Hinblick auf Begriffe Ästhetik der Rührung 45 9 Wobei der Begriff als solcher fast kaum besprochen, geschweige denn theoretisiert wird. der Rührung untersucht. Das Buch war insofern von Interesse, als neuere Theoretisierungen der Rührung kaum existieren. Einiges, aber weitestgehend Ungenaues, wird in letzter Zeit unter den Recherchen zum Affekt subsumiert und dabei verstärkt unter einem psychologischen Prisma gesehen. 9 Dieser Text versteht sich auch als eine Rehabilitierung des Terminus Rührung unter bestimmten Bedingungen in ästhetischen Kontexten und ganz besonders in den darstellenden Künsten. Es wird konkreter darum gehen zu schauen, auf welche Weise diese neueren, m.E. epochalen Aufführungen, die ich hier bespreche, Rührung erzeugen bzw. inszenieren; welche spezifischen Instrumente sie dafür nutzen und was genau diese Wirkung bei der Zuschauerin verursacht. Zum Schluss werde ich dafür argumentieren, warum Rührung als die Bedingung der Möglichkeit für eine andere Zukunft fungieren kann. Zurück zum oben erwähnten Buch: Rührung wird in verschiedenen Zusam‐ menhängen diskutiert, ohne dabei auf analytische Weise auf den spezifischen Begriff einzugehen. D.h. Rührung wird immer wieder in anderen Termini impliziert oder aber durch sie suggeriert. Rührung scheint mehrere Affekte bzw. Gefühle miteinzubeziehen (wie Trauer, Wut, Freude, Genuss etc.) und verweist in diesem Sinne auf einen körperlichen und seelischen Zustand, der noch zu spezifizieren ist. Letzteres geschieht einerseits unter Nutzung einer Reihe von Metaphern und andererseits mithilfe der Mechanik, die als heuristisches Instrument für die akribische Beschreibung des Vorgangs und seiner Wirkung dient. Die genaue Spezifizierung des Begriffs - i.e. wie Rührung verursacht wird, wie sie sich äußert etc. - bleibt weitestgehend aus, es scheint weder Thema des Buches noch der diskutierten Theorien zu sein. Ein Grundmotiv, das das gesamte Buch durchzieht und das mir hier als sehr sinnvoll erscheint, ist die enge Verwobenheit von Rührung und Handlung - i.e. Rührung verursacht Handlung -, wobei allerdings je nach Theorie und Präzision der Analyse Handlung immer wieder anders verstanden wird. An prominenter Stelle der Abhandlung stehen freilich A.G. Baumgartens Überlegungen, die auch für meine Argumentation von Interesse sind: Wer begehrt und verabscheut, beabsichtigt, irgendeine Perzeption hervorzubringen, also sind Perzeptionen, die den Grund dieser Absicht enthalten, die bewegenden Ursachen (Trieb) der Begierden und Abneigungen, weswegen sie TRIEBFEDERN DES GEMÜTS genannt werden. EINE ERKENNTNIS, insofern sie Triebfedern der Seele enthält, wird EINE RÜHRENDE, bewegende, tätige, wirksame Kenntnis (eine anregende bzw. ergreifende, berührende, brennende, pragmatische, praktische und lebendige im weiteren Sinne) genannt […] Da eine Perzeption leichter als eine 46 Natascha Siouzouli 10 Diese Zwischen-Situation, auf die ich mich hier beziehe, ist vorbildlich von Erika Fischer-Lichte (2004) als Liminalität und später von Matthias Warstat (2011) als Krise analysiert und definiert worden. andere hervorgebracht wird, wird nicht durch jede beliebige Begierde jede beliebige Perzeption hervorgebracht, sondern zu jeder ist ein gewisser Grad der Seelenkräfte notwendig. Wenn die BEGIERDE oder der ABSCHEU groß genug ist, um ihren Gegen‐ stand oder dessen Gegenteil hervorzubringen, sind sie WIRKEND. Wenn sie nicht groß genug sind, sind sie OHNE WIRKUNG. Eine ERKENNTNIS, die wirkende Begierden und Verabscheuungen BEWEGT, sowie ihre BEWEGENDE KRAFT, ist LEBENDIG (im strengeren Sinne entzündend, ausreichend zum Handeln). (Hervorhebungen im Original. A.G. Baumgarten (1739), zit. nach Torra-Mattenklott 2002: 140) Die Verfasserin vermerkt auch folgenden interessanten Punkt zu Baumgartens „lebendiger Erkenntnis“: [Die lebendige Erkenntnis, N.S.] verweist über sich selbst hinaus auf eine andere, zukünftige Vorstellung. […] Das in ihr enthaltene Zukünftige läßt sich nicht allein denkend oder phantasierend entfalten, sondern setzt zu seiner Verwirklichung eine Veränderung der Außenwelt durch den Erkennenden voraus. (2002: 141) In Bezug auf Aufführungen ließe sich natürlich sagen, dass die verursachte Rüh‐ rung Wirkung genug ist; es braucht keine Erkenntnis und keine darauffolgende Handlung, damit sie als ästhetische Ereignisse fungieren. Allerdings bin ich jemand, die diese Wirkung näher betrachten und beschreiben möchte; die hier diskutierten Aufführungssequenzen drängen mich gerade dazu, die Instrumente der Rührung und ihre Wirkungen bzw. ihr Zukunftspotential zu beobachten und auszuloten. Was hier noch als Letztes gesagt werden sollte, das auf ein definitorisches Merkmal der Rührung als συγκίνηση in der Aufführung, wie ich sie hier verstehe, verweist, ist, dass sie niemals mit Abscheu und Abneigung zu verbinden ist - und hier tritt eine der Differenzierungen der Bedeutung ein, die für eine Ästhetik der Rührung in meinem Kontext von Relevanz ist. 6 Für eine Ästhetik der Rührung Das griechische Wort συγκίνηση meint eine Ergriffenheit, die vorerst das Subjekt, dem sie widerfährt (hier der Rezipientin), in eine Zwischen-Situation stürzt. 10 Das gerührte Subjekt befindet sich zwischen Macht und Ohnmacht, weil es etwas wahrnimmt bzw. erkennt, das es in dem Moment des Wahrnehmens bzw. des Erkennens nicht widerspruchslos ordnen kann und das es zugleich zu einem Zustand jenseits dieser spezifischen Situation führen möchte. Zugleich Ästhetik der Rührung 47 11 Diese drei Sequenzen erachte ich tatsächlich als höchst relevant für das, was ich hier als eine Ästhetik der Rührung bezeichnen möchte. Freilich gibt es in den Aufführungen auch andere Referenzen, die ich ähnlich interpretieren würde (wie z.B. die Verweise Vinges auf Luchino Visconti oder eine kurze Schreibmaschinen-Szene, die ich mit Walter Benjamin assoziiert habe). Diese Referenzen waren allerdings sehr punktuell und sind eher im Rahmen der vielen Assoziationen zu kontextualisieren. ist Rührung - wiederum ausgehend von der griechischen Bedeutung - mit einer tiefen Instabilität bzw. mit einem existentiellen Schmerz des rührenden Subjekts verbunden, das sich nicht mehr orten kann, geschweige denn seine (ursprüngliche) Macht behaupten kann. Der Begriff des Begehrens, der oben schon erwähnt wurde, scheint insofern treffend zu sein, als er eine Konkretheit und zugleich keine Entelechie in sich trägt: Die Rührung, wie ich sie hier bespreche, bewirkt ein Begehren, das hier und jetzt emergiert und zugleich keine abgeschlossene Handlung inkludiert. Es verbindet Zeit auf eine sehr eigenartige Weise, indem es ein Erkennen (und damit verbunden auch ein Erinnern? ), das hier und jetzt passiert, voraussetzt und zugleich auf eine offene Zukunft, in welcher das Begehren zur konkreten Realität werden darf, verweist. - 6.1 Inszenierte Rührung Bevor ich diese Gedanken weiterführe, muss ich zu den konkreten Beispielen zurückkehren und die Inszenierung von Rührung näher beobachten und beschreiben. Dabei sehe ich zwei zentrale Strategien, die diese bestimmten Sequenzen, die ich besprochen habe, als Emergenz von Rührung herausstellen. 11 Die erste ist die spezifische Entfremdungstechnik, die sich vor allem in der Erscheinung der Akteur*innen bemerkbar macht, und die zweite ist die Nutzung und Instrumentalisierung der Zeitlichkeit. 6.1.1 Entfremdung Wie oben beschrieben, erscheinen die Akteur*innen in der Aufführung völlig unkenntlich. Masken, Perücken, Prothesen, Make-up, Ganzkörperverklei‐ dungen, aber auch Stimmverzerrungen, befremdliche Bewegungen und extrem prononcierte Zurschaustellung des Körpertypus entfernen die Akteur*innen von einer menschlichen Figur und lassen sie als Comicfiguren oder als Puppen, auf jeden Fall als etwas Artifizielles erscheinen. In diesem Rahmen würde ich ebenfalls die Nutzung des Raumes bzw. die Szenographie und bestimmte Inszenierungspraktiken interpretieren. Die Szenographie unterstreicht das Ar‐ tifizielle und Befremdliche: Die Requisiten sind grobe, groteske Abbildungen des jeweiligen darzustellenden Gegenstands aus Pappe; in Borkman gibt es eine 48 Natascha Siouzouli 12 Erika Fischer-Lichte beschreibt lebhaft und sehr überzeugend die „Entzugserschei‐ nungen“ der Zuschauenden, wenn sie in einer Performance das Geschehen an der Leinwand verfolgen müssen. Ich würde Ähnliches in Bezug auf diese Aufführung behaupten. Szene, in welcher sich Erhard in einem winzigen Räumchen befindet, das das Innere eines Uterus (samt Vulva, Gedärmen u.Ä.) in einer sehr groben bzw. grotesken Art und Weise abbilden soll, um nur zwei Beispiele zu nennen. In 12-Spartenhaus andererseits ist es nicht nur die übliche Szenographie, die zur Entfremdung beiträgt, sondern auch die Nutzung des Raumes als solche, die die Zuschauenden möglichst entfernt vom Geschehen und von den Akteur*innen bewahrt. Auch die exzessive Nutzung von Projektionen, Videosequenzen und Aufnahmen verstärkt die Distanz zwischen Geschehen und seine Rezeption (vgl. Fischer-Lichte 2004: 121-126). 12 Die Szenen, die ich oben detaillierter besprochen habe, fungieren als eine radikale Unterbrechung dieser Entfremdung. Die rote Fahne, die auf eine Befreiung des geschundenen Protagonisten hindeutet (die jedoch nicht erfolgt! ), die liebevolle, diskrete Umarmung der Brüder und der Hilferuf des ‚mächtigen Meisters‘, speziell innerhalb dieser Flut von grotesken, gewaltvollen bzw. ‚un‐ menschlichen‘ Bildern und Aktionen, die die Aufführungen beherrschen, ver‐ ursachen eine merkwürdige Nähe, eben weil sie die herrschenden Bilder radikal opponieren. Die Nähe entsteht sehr überraschend und die Zuschauerin wird durch erkennbare Gesten der Involvierung miteinbezogen. Die Zuschauerin muss sich, gerade in diesem Konglomerat von Reizen, durch die rote Fahne, durch die rare Affektbekundung, durch den Hilferuf angesprochen fühlen auf eine akute Art und Weise, die sie zutiefst berührt. Die Rührung wird hier durch die Nähe verursacht, die die allgemeine Entfremdung radikal hinterfragt und unterminiert. 6.1.2 Zeitlichkeit Die Aufführungen, auf die ich mich hier beziehe, stellen komplexe Zeitarran‐ gements dar und dies auf verschiedenen Ebenen. Zum einen stellen sie die Zuschauerin dauernd vor eine Fülle von Reizen - in der Form von Referenzen und Assoziationen -, die sie in andere Zeiträumen transportieren. In diesem Rahmen könnte man auch die Wahl des Teams, Ibsens Stücke zu inszenieren, betrachten: die Reduktion der Texte auf Fetzen; die derartige Verformung der sonst so integren Figuren; die Öffnung der Inszenierung durch alle möglichen Assoziationen und Referenzen weist auf eine ganz bestimmte Art und Weise der Rezeption eines Klassikers hin, welche die ungeheure Komplexität jeglicher Vergegenwärtigung herausstellt. Ästhetik der Rührung 49 13 Vgl. auch Siouzouli (2008): 34-44, insb. 41-44. Zum anderen geht es um die spezifische Zeitnutzung in der Aufführung selbst, auf die ich mich hier vorerst beziehe. Die Erscheinung der roten Fahne, der Umarmung, des Hilferufs geschehen plötzlich und sind von kurzer Dauer im Vergleich zu anderen Aktionen der Aufführungen. Auch werden sie durch sehr langanhaltende Sequenzen begleitet, welche eine solche Plötzlichkeit und Überraschung keineswegs vorbereiten, sondern vielmehr diese als solche noch prägnanter herausstellen. Rührung geschieht hier als Wirkung des „poetischen Augenblicks“ (Bachelard 1992: 101-111), 13 das den Zeitfluss unterbricht bzw. aufhält und dazu imstande ist, in sich Ambivalenz als solche, nämlich als eine Zwischen-Situation, zu bewahren. - 6.2 Rührung als Begehren Ich ziehe vor, in diesem Rahmen den Begriff des Begehrens statt den der Begierde zu benutzen, da ich damit eine nicht abgeschlossene Prozessualität verbinde, die vielmehr, als auf eine Vollendung, auf eine offene Situation verweist und die viel treffender den Zustand der Zuschauerin beschreibt. Die Rührung, die ich beschreibe, bewahrt die Zuschauerin in einem Zwischenraum, in welchem ihre Macht als Subjekt radikal in Frage gestellt wird dadurch, dass sie gerührt - und entrückt - ist. Die rote Fahne, die zärtliche Geste, der Hilferuf erscheinen tatsächlich als Augenblicke einer Epiphanie der Ambivalenz zwischen (extrem) Nahem und (explizit) Fremdem: sie fordern die direkte Involviertheit der Zuschauerin und unterstreichen zugleich ihre völlige Fremdheit, von dem, was davor bzw. danach in der Aufführung geschieht. Das Subjekt spaltet sich: Es besitzt die Macht des Erkennens (Nähe) und wird von der Ohnmacht, die die plötzliche Erscheinung suggeriert, überwältigt. Die Rührung geschieht genau innerhalb dieser Spaltung, die das Subjekt aufheben will, die aber eine magische Kraft entfaltet, die ihre Aufhebung verneint. Ich benutze das Adjektiv im Sinne Jean-Paul Sartres (1938), der es folgendermaßen definiert: „Nous appellerons émotion une chute brusque de la conscience dans le magique.“ (Sartre 1938: 62) Das Magische ist ambivalent: „Le magique, c’est […] une synthèse irration‐ nelle de spontanéité et de passivité. C’est une activité inerte, une conscience passivisée.“ (Sartre 1938: 58) Ich assoziiere hiermit Johann Gottfried Herders „gnoseologische Dunkelheit, die das Gefühl von der Sphäre der Erkenntnis abgrenzt und seine Persuasionskraft begründet.“ (Torra-Mattenklott 2002: 302) Das Magische bzw. die gnoseologische Dunkelheit, welche die Rührung ein‐ leiten und umhüllen, verweisen genau auf das Sich-Dazwischen-Befinden der 50 Natascha Siouzouli Zuschauerin, die tangiert wird und zugleich mit dieser (Be-)Rührung (erstmal) nichts anzufangen weiß. Was aus dieser spezifischen Rührung hervorgeht, würde ich mit dem Begriff des Begehrens beschreiben wollen. Begehren ist prozessual und verweist auf kein Ende hin, sondern verweilt im Da-zwischen und deutet auf eine ungewisse und dennoch stark erwünschte Zukunft hin. Es befällt die Zuschauerin als di‐ rekte Transformation ihrer Rührung, erzeugt ein heftiges Verlangen nach etwas, was in der ‚gnoseologischen Dunkelheit‘ aufblitzt und als ein Unvollendetes der prekären Lage des Subjekts entspricht. Im Kontext der Aufführungen, die ich hier bespreche, würde ich dieses Begehren als ein ethisches definieren wollen: Die Zuschauerin wird ergriffen von der Möglichkeit einer Gerechtigkeit, die im Rahmen der Aufführungen sonst kaum gegeben ist. Die Erscheinung der roten Fahne weist auf die Möglichkeit einer gerechten Zukunft für die Unterdrückten und die Verdammten „dieser Welt“ (so auch für den Kapitalisten Borkman und den Regisseur Vinge); die Umarmung weist auf die Möglichkeit einer Versöhnung ohne Fragen hin und der Hilferuf des Künstlers auf die Möglichkeit einer Zusammenkunft vom Produzenten und den Rezipient*innen nach Einsturz der sonst geregelten Subjektivitäten. Dieses Begehren nach der Möglichkeit von Gerechtigkeit erzeugt die Rührung dieser bestimmten Sequenzen der Aufführungen, so wie ich dies gefühlt habe und wie ich es interpretiere. - 6.3 Rührung und Melancholie Das ethische Begehren verbleibt stets als ein solches, nämlich als Begehren vor‐ handen, da es a) nur auf die Möglichkeit einer kommenden ethischen Haltung hindeutet (die kurze Dauer, die Plötzlichkeit und der Rest der Aufführungen können nur das nicht befriedigte Begehren vertiefen und intensivieren) und b) weil es ein Subjekt - die Zuschauerin - anspricht, das/ die nicht mehr Herrin seiner/ ihrer Macht ist. Die Rührung bewirkt nämlich - wie schon oben mehrmals angesprochen -, dass das Subjekt seinen Halt verliert, sich in diesem radikalen Dazwischen wiederfindet, von dem kein (vernünftiges) Außerhalb existiert. Das Subjekt sehnt sich danach, diese Rührung zu stillen und sein Begehren zu befriedigen. Die Aufführungen bieten allerdings keinen solchen Ausgang - nicht nur kurzfristig, sondern auch längerfristig: Jeder Abend ist nur eine Episode einer ‚Saga‘, die nie zu Ende kommt. Nicht mal ein ordentliches Aufführungsende existiert: Man weiß nie, ob und wann eine Vorstellung zu Ende geht bzw. wann die ‚Saga‘ ein Ende findet. Das Subjekt verweilt nun endlos in diesem Dazwischen, es ist für immer gerührt und entrückt. Eine gewisse und diffuse Traurigkeit (zur ästhetischen Traurigkeit siehe Bohrer 2003: 30-52), welche zu einem melancholischen Zustand avanciert, Ästhetik der Rührung 51 14 Das gerührte Subjekt ist auch Fischer-Lichtes „infizierte[r] Zuschauer“ (2005: 35-50; 40 ff.). würde ich dem griechischen Wort συγκίνηση bzw. dieser spezifischen Rührung zuschreiben wollen. Melancholisch ist sowohl die spezifische Darbietung der be‐ schriebenen Szenen, wegen ihrer Symbolik, ihrer Platzierung ins Spektakel und ihrer Flüchtigkeit; melancholisch stimmt sich auch das rezipierende Subjekt, weil die Rührung es in einer sehr prekären Lage positioniert, die keinen Ausweg kennt (zur Melancholie des Subjekts im ästhetischen Zusammenhang siehe Siouzouli 2022: 123-139). Melancholisch ist die Transformation des Subjekts, denn es wird angesteckt von der magischen Kraft der Aktionen und weiß selbst nicht, wie auf diese Aktionen zu reagieren ist. Rührung lässt die Zuschauerin auf der Schwelle: Sie muss reagieren und ihre Reaktion ist das Begehren - ihre Reaktion ist das Verlangen von etwas, das viel weitreichender zu sein scheint als das, was sie tatsächlich im Stande ist zu bewirken. Melancholie tritt hier ein: Das Subjekt spürt das Begehren und kann zugleich das Objekt des Begehrens nicht genau benennen. Weil das Objekt des Begehrens nicht zu konkretisieren ist (was wäre die Möglichkeit von Gerechtigkeit? Wessen Gerechtigkeit? Und was bleibt, wenn man das Spektakel verlässt? ), ist das Begehren ein melancholisches. Diese Rührung ist melancholisch, weil sie das Subjekt in einem radikalen Dazwischen positioniert, das die eigene Integrität nicht nur bedroht, sondern vielmehr aushöhlt. Das Begehren, das aus dieser Rührung hervorgeht, richtet sich nicht nur an das Objekt wohlgemerkt, sondern auch das Subjekt selbst begehrt seine einstige Macht, die aber nicht wiederhergestellt werden kann. Das melancholische Begehren bewohnt nun das Subjekt als ein blinder Fleck der eigenen Unzulänglichkeit. - 6.4 Das gerührte Subjekt 14 als Agent einer anderen Zukunft Eine gewisse Unzulänglichkeit spüre auch ich als Verfasserin dieses Artikels, wenn es darum geht, diese spezifische Rührung detailliert und präzise zu beschreiben. Es liegt am Begriff selbst, nehme ich an, der, wie gesagt, sowohl die Geheimnisse des Objekts bewahrt als auch die Integrität des Subjekts nicht duldet. Rührung scheint der Motor schlechthin zu sein, um die Relation von Objekt und Subjekt herauszufordern, indem sie das Objekt als sich permanent Entziehendes und das Subjekt als Begehrendes auszeichnet. Nur: Objekt und Subjekt sind in dieser Relation stets von einer Unvollkommenheit durchzogen, sodass weder das Objekt erschließbar noch das Subjekt Herrin der Situation ist. Rührung macht, dass beide sich in diesem blinden Fleck dazwischen begegnen, mit dem sie fertig werden müssen - vor allem natürlich das angeblich allmäch‐ 52 Natascha Siouzouli 15 Laut Wikipedia: „Der Studentenstreik 1997 war die größte studentische Protestbewe‐ gung seit der 68er-Bewegung.“ Bei den zahlreichen Demonstrationen war Erika Fischer- Lichte freilich immer dabei. tige Subjekt. Rührung fordert das (rezipierende) Subjekt heraus, entrückt es, stellt seine Macht in Frage und hinterlässt es traumatisiert und ratlos. Dies ist bei weitem keine Katastrophe: Das Subjekt muss sich verloren fühlen; es muss sich im melancholischen Raum des unerfüllten Begehrens wiederfinden, damit es idealiter eine andere, fremde Position für sich selbst imaginieren bzw. verwirklichen kann. Ich behaupte, dass die Wirkungen der Performance diese ‚magische Kraft‘ besitzen, um das Subjekt endlich zu entmachten, in der Hoffnung, dass diese Entmachtung eine Zukunft ermöglicht, die voller Potentialitäten und leer von Gewissheiten sein wird. Anekdote/ Widmung/ Epilog: September 1997 bin ich aus Athen nach Berlin ge‐ gangen, um meine Dissertation unter Beaufsichtigung von Erika Fischer-Lichte zu schreiben. Ich war 22 Jahre alt. Die Theaterwissenschaft der FU saß damals in der Mecklenburgischen Straße. Es gab keine geregelten Sprechstunden, man erschien vorm Büro der Professorin, wartete stundenlang und wurde irgendwann reingebeten. Ich erschien nun zum ersten Mal an einem Mittwoch zur Sprechstunde von Erika Fischer-Lichte, mehrere Leute warteten schon. Irgendwann wurden wir von Ursula Schinke, der allmächtigen und so lieben Sekretärin, informiert, dass die Sprechstunde nicht stattfinden würde. Ich weiß nicht mehr, ob ein Grund genannt wurde. Am Mittwoch darauf war ich wieder vor dem Büro von Erika Fischer- Lichte mit der doppelten Menge an Leuten, die auf sie warteten. Ich glaube, die Sprechstunde startete auch damals um 16 Uhr. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich gegen 20 Uhr bei ihr sein würde, denn Fischer-Lichte sah jeder einzelnen nach und widmete sich jedem einzelnen. Irgendwann - ordentlich spät - war ich auch dran, ich ging in ihr Büro, sie war erschöpft, sie richtete die Gardinen zurecht. Ich sagte ihr, dass ich auch letzten Mittwoch da war; sie erwiderte: „Entschuldigen Sie, dass ich nicht hier sein konnte. Ich war bei der Demonstration. Ich kann nicht nicht daran teilnehmen.“ 15 Ich wusste sofort, dass ich bei ihr richtig war. Dieser rührenden Aussage von Erika Fischer-Lichte ist dieser Text gewidmet. Ästhetik der Rührung 53 Literatur Bachelard, Gaston (1992). L’Intuition de l’instant. Paris: Stock. Bohrer, Karl Heinz (2003). Ekstasen der Zeit: Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München/ Wien: Carl Hanser. Fischer-Lichte, Erika (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (2005). Zuschauen als Ansteckung. In: Schaub, Mirjam/ Suthor, Nicola/ Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.). Ansteckung - Zur Körperlichkeit eines ästheti‐ schen Prinzips. München: Wilhelm Fink, 35-50. Friedman, Andrew (2012). Performance Review: John Gabriel Borkman. Theatre Journal 64 (3). 430-433. Friedman, Andrew (2012). 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Jahrhunderts noch eine Metapher der Identität und der karnevalesken Ballszenen oder der banalen sozialen Verkleidungsszenen war, ist 100 Jahre später mit der globalen Verbreitung von Corona seit März 2020 eine unumgängliche alltägliche Praxis geworden: Wearing Masks. Durch die Regelungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ist die Maske auf neue Weise zum Bestandteil des sozialen Alltags geworden. Sie fungiert als Filter und als Hygieneobjekt, markiert Distanzregeln und Körpergrenzen der Abwehr vor Ansteckung. In bestimmten öffentlichen Räumen und Situationen sind Masken zu tragen, die normiert sind und Mund und Nase - die untere Gesichtshälfte - verbergen. Der Imperativ des Maskentragens ist eine körper‐ politische Maßnahme und ertönt in unterschiedlichen Medien, Aufschriften und Durchsagen in Verkehrsmitteln, in öffentlichen Anlagen und Eingängen zu Shops: Mal knapp und harsch - „Masken tragen! “, oder charmanter und klang‐ voller - auf Italienisch: „Indossare la mascerina“. Doch der Effekt - der Wis‐ senschaftler: innen, Politiker: innen, Kulturschaffende noch lange beschäftigen wird - ist weitreichend: Welchen Wandel in den Begegnungen, Beziehungen, Bewegungen zwischen Menschen bewirkt das Tragen von alltäglichen Covid- Masken? Das Blickverhalten, räumliche Beziehungen von Nähe und Distanz, das Sprechen (durch die Maske) und das Sprachverstehen, Gesten der Begegnung und Körperkontakt haben sich in signifikanter Weise verändert. In Theater, Tanz und Ritualen sind Masken in unterschiedlichen Kulturen seit alters (Kult-) Objekte der Verwandlung (vgl. Caillois 2017). Das transfor‐ matorische Potenzial der Maskerade markiert im Rollenspiel, in Festen von Karneval und Maskenball sowie in künstlerischen Arbeiten von Foto, Film und Performance öffentliche Situationen und Interaktionen zwischen Identität und Defacement. Das Theater vermittelt - wie seit jeher in Krisenzeiten - eine pointierte Reflektion dieses Wandels von Begegnungsformen. Die Maske, als traditionelles Requisit und Medium des theatralen Anders-werdens in der Arbeit und im Spiel mit Verwandlung, wird auf einer Metaebene zum Spiegel der aktuellen Situation: Eine Postkarte von Mai 2021 des Berliner Produktionshauses HAU/ Hebbel am Ufer kündigt eine weitere, eine vierte Bühne des Hauses an: „HAU4 digitale Bühne“. Abb. 1: Postkarte/ Programm HAU 4. Bild: @newfrontears Gemeint ist hier eine Serie von Performanceproduktionen ohne Publikum, die online in der so genannten „HAUthek“, der Mediathek des Hauses, verfügbar sind - eine neue Produktions- und Rezeptionssituation, die durch die Corona- Restriktionen entstanden ist. Auf dem Cover der Postkarte ist ein Augenpaar zu sehen, das über einen Nase und Mund bedeckenden Covid-Maskenrand blickt. Es ist freilich ein Blick ins Leere, denn in den Pupillen der abgebildeten Augen erscheint in Spiegelschrift die Umkehrung des Logos des HAU: „UAH! “ - dieses Anagramm schreibt die Reflexion des Brandings in den Blicktausch ein und es ist zugleich eine Lautschrift des Stöhnens (über die Situation der Corona-Maßnahmen). Der Zwang zur Maskerade führt so - im Moratorium der Pandemie - zu einer Transversale zwischen unmöglicher Live-Bühne und ihrer analogen Körperpräsenz, zur Medienplattform und ihrer digitalen Distribution. 58 Gabriele Brandstetter Der Autor Alexander Kluge geht einen Schritt weiter und wirft gleichsam einen Blick hinter diese Corona-Masken und die Verwandlungen der Theater- Situation, wenn er das Virus selbst als „Verwandlungskünstler“ (vgl. Kluge 2021: 13-16, hier 15) betrachtet: Covid-19 und ähnliche Viren, so Kluge, „ändern ihre Zusammensetzung und Eigenschaften ständig, indem sie durch Kopierfehler mutieren. Diese Wandlungsfähigkeit ist der Grund dafür, dass Manfred Eigen sie eine Quasi-Spezies nennt. Sie bilden keine Gattung, sondern changieren. Sie sind Verwandlungskünstler: robust, ubiquitär, ‚analphabetisch‘, nie größer, als sie von jeher waren, und in dieser Ungreifbarkeit UNBEZWINGLICH. Sie verhalten sich wie ‚Schauspieler der Evolution‘“ (2021: 15). Kluge suggeriert mit dieser Beobachtung einen turn in der Abfolge von Ursache und Wirkung: Er setzt den Grund für das Maskentragen (Wearing Masks) metaleptisch an die Stelle der Maskerade: Das Virus selbst ist Akteur der Maskerade - ein „Verwandlungskünstler“. Covid-Masken als Schutz und Abdichtung vor der Übertragung des Virus signalisieren zugleich die Mikrover‐ wandlungen hinter der Maske: Es sind Maßnahmen, körperliche und seelische, zur Bewahrung, Wiederherstellung oder Transformation von Identität. Dabei geht es in diesem Covid-Theater und den Maskeraden zwischen Virus und Host (vgl. dazu Nancy 2021) nicht mehr um Authentizität - ein Thema, das Erika Fi‐ scher-Lichte innerhalb des von ihr geleiteten DFG-Schwerpunktprogramms zu Theatralität zum Thema einer Konferenz und einer Publikation machte (vgl. Fi‐ scher-Lichte/ Pflug 2000). Bei diesen von Kluge vorgestellten Transfusionen und Übertragungskünsten steht nicht zur Debatte: Was bin ich unter all den Masken? - also die sogenannte Zwiebel-Frage. Vielmehr geschieht hier, auf einer anderen Ebene der Dialektik von innen-außen, das, was Vilém Flusser als „Die Geste des Maskenwendens“ (1997: 125-134) diskutiert. Denn das Maskenwenden ist das „Herangehen an Masken von der ‚falschen‘ Seite aus“ (vgl. 1997: 125). Hier wird „eine Art Maskentanz zweiten Grades“ (vgl. 1997: 125) aufgeführt. Es geht dabei nicht um die karnevalesque Situation des Maskentragens, des Spielens und Verbergens. Denn die „Geste des Maskenwendens geht von außen an die Maske heran“ (vgl. 1997: 128). Freilich nicht wie der Maskenschnitzer, der die Innenseite der Maske bearbeitet, und auch nicht wie der Schauspieler im japanischen Nō-Theater, der die Maske vor dem Auftritt meditierend, die bevorstehende Verkörperung und Verwandlung vorausnehmend, von innen betrachtet. Es geht vielmehr um eine negative Dialektik, die ethischer und politischer Natur ist und damit das Theater - „also die Bühne, des Aktes, der Handlung“ (vgl. 1997: 130) überschreitet. Denn beim Wenden der Maske wird die andere Seite der Maskerade sichtbar: „Ich sehe die ‚falsche‘, unerlaubte Maskenseite, und dabei ist es die andere Seite, die ‚echte‘, das falsche Gesicht, in dem mich die anderen Wearing Masks 59 zu erkennen glauben. Demnach ist die ‚falsche‘ Seite der Maske die ‚echte‘, denn sie macht den Schwindel offensichtlich.“ (vgl. 1997: 129) Flussers Argumentation in der Opposition von echt/ falsch zielt dabei nicht auf eine Restitution der alten Theatralitätsformel von Sein und Schein, son‐ dern er verschiebt die Szene der Maskerade vom Theater auf die Bühne der Geschichte: „Die Geste des Maskenwendens nimmt alle Geschichte vorweg, indem sie sie von der ‚falschen‘ Seite her anschaut, nämlich von jener Seite, von der aus sie keinen Sinn hat“ (1997: 132), denn diese Maske ist nicht vor dem Gesicht, sondern „unter den Händen“ (1997: 132), und daher vor mir und auf andere Weise zwischen mir und den anderen. Ähnlich wie Alexander Kluge unternimmt Flusser mit seinem Gedanken des Maskenwendens einen turn, der über Zeitenwende(n) als Umgang mit Ge‐ schichte, im Sinn von Posthistoire, reflektiert: „Die Geste des Maskenwendens ist die Geste des Spielens mit Geschichte und nicht mehr die des Rollenspielens in der Geschichte.“ (vgl. 1997: 132) Immer noch, auch in der Geste des Maskenwendens, zeigt sich die Duplizität der Maske: Sie teilt, unterteilt, und unterscheidet in innen und außen, in vor und hinter der Maske. Auch in der Wendung, im Paradox des innen als außen (und umgekehrt) dreht sich diese Spiral-Bewegung mit. Auf die Frage: Wie performt die Maske, stellt sich die Antwort ein: Sie teilt, sie trägt eine materialisierte oder imaginierte Zone oder Haut zwischen Körper und Umgebung. Sie zieht auf der Ebene der Imagination die Hülle des Verbergens und Zeigens, des Conceal and Reveal ein. Die Maske etabliert und inszeniert ein Da-zwischen. Diese Struktur der Maske ermöglicht die große Vielfalt ihrer Erscheinungs‐ weisen, in kulturellen, sozialen, ästhetischen und körperpolitischen Kontexten. Grundzug der Phänomenologie der Maske ist ihre Proposition, ihre Rolle und Anstiftung zur Verwandlung (vgl. dazu Belting 2013). Und dabei ist sie selbst eine Verwandlungskünstlerin: In der Diversität und im Facettenreichtum ihrer Erscheinungsweisen - von der Uniformierung (als Form sozialer und politischer Maskerade) oder der Anonymisierung bis zur grotesken singulären Figuration in Karneval, Theater, Film oder im Internetauftritt. Die Maske demonstriert. Ihr Auftritt signalisiert ein Da-zwischen, und sie zeigt und verweist auf genau jene Differenz, die sie markiert und maskiert zugleich - die Differenz zum anderen, die Differenz zwischen Klassen, Ethnien, Gender, Spezies und schließlich auch: Die Differenz in sich selbst - eine Spannung, die in literarischer Fiktion immer wieder thematisiert wird, etwa in Stevensons Dr. Jekyll & Mr. Hyde, oder in femi‐ nistischer Theorie, wie etwa in Joan Rivieres Text „Weiblichkeit als Maskerade“ (vgl. Weissberg 1994), ein Aufsatz, der zum Basistext weitergehender gender- 60 Gabriele Brandstetter 1 Ohne die Vielzahl der Publikationen zu diesem Thema hier alle nennen zu können, vgl. hierzu: Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/ Main: Suhrkamp; Garber, Majorie B. (1993). Verhüllte Interessen: Transvestismus und kul‐ turelle Angst. Frankfurt/ Main: Fischer; Brandstetter, Gabriele (1995). Körper-Maske - Sprach-Maske. Inszenierung von Weiblichkeit in Werken von Arthur Schnitzler, Rebecca Horn und Maguy Marin. In: Bettinger, Elfi/ Funk, Julika (Hrsg.). Maskeraden: Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin: Schmidt, 338-363. und queertheoretischer Auseinandersetzungen mit dem Thema der Maskerade wurde. 1 Maskerade als karnevalesque Inszenierung geschieht in klar markiertem sozialen Rahmen: als zeitlich begrenzter Ausnahmezustand (der Karneval oder der Ball) (vgl. Bachtin 1985), innerhalb dessen soziale Regeln - des Verhaltens, der Kleiderordnung, der Klassengrenzen, der sexuellen Normen - kurzfristig außer Kraft gesetzt sind. In Zeiten der Krise, einer Pandemie wie Covid-19, kehrt sich auch diese Struktur des Maskenauftritts um: Nicht zum entgrenzenden Spiel mit sozialen Ordnungen dient die Maske, sondern zum Schutz der Akteure im öffentlichen Raum vor Ansteckung. Die massenhafte und uniforme Struktur und Verwendungsweise der Corona-Masken (die allenfalls minimale Varianten in Schnitt und Farbe aufweisen) verweist wiederum auf einen shift in der Wahr‐ nehmung der zwei Seiten der Maske: Nicht die Maskenträgerin ist verkleidet, sondern das nackte Gesicht erscheint als das ‚Andere‘, Unheimliche (von dem Gefahr ausgeht, beziehungsweise das die mögliche Gefahr der Ansteckung trägt). Die materielle und die zeichenhafte Dimension der Covid-Maskerade wirkt auf ihre räumliche proxemische Funktion: Abstand schaffen. Das Gebot der Distanz, neue Regeln des Distanzierens transformieren eine Gesellschaft grundlegend. Masken, die Abstand schaffen, zugleich aber genau dadurch ein (distanziertes) Miteinander ermöglichen. Zeigt sich hier eine Variante jener Verhaltenslehre, die Helmut Lethen anhand von Helmuth Plessners Schrift Grenzen der Gemeinschaft (1924) als Maske der „kalte[n] persona“ (vgl. Lethen 1994: 154) beschrieben hat? Plessner spricht - im Blick auf die Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, im Aggregat von unterschiedlichen Klassen, Verkehrsformen und einem politischen Klima der Polarisierung - vom Recht auf Maske zum Zweck der Distanzierung im sozialen Kontext. Plessner will, so Lethen, „ihre reflexive Kälte zum Medium lebenspendender Grenzziehung machen“ (1994: 79). Lethen diagnostiziert die distanzschaffende Funktion der Maske (als soziales Rollenkonzept) in spezifischen Milieus und in Zeiten der Krise der Weimarer Republik: „In Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen Wearing Masks 61 und Außen unterscheiden helfen. Sie ermöglichen, Vertrauenszonen von Ge‐ bieten des Misstrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen“ (1994: 7). Ist diese Beschreibung sozialer Desorganisation im Zeichen einer globalen Krise übertragbar auf die aktuelle Situation und die soziale Bedrohtheit ange‐ sichts multipler Krisen von Klimakatastrophe, Covid-Pandemie und Krieg? Und wenn eine politische und ökonomische Folge, wie Lethen mit Plessner, Simmel, Kracauer, Benjamin und Brecht diagnostiziert, „Polarisierung“ wäre, ist dann die Maske der „kalten persona“ (1994: 40) ein Medium des Zwischen und der Ermöglichung von Miteinander? Der sinnfällige Effekt der Distanz - Maskierung signalisiert, so Lethen, „Kälte“ (1994: 68), ein Attribut, das in Zeiten „neuer Sachlichkeit“ opportun schien, heute jedoch, im Zeichen einer queerfeministischen kritischen Betrachtung von „kalter persona“ als Maskerade toxischer Männlichkeit abgelehnt wird - verschiebt sich heute zu Gunsten von Einfühlung und Offenheit der Kommunikation. Die „kalte persona“: „Man erkennt sie an ihren ‚froids posés‘; sie machen sich taub gegen den Herz-Ton der Klage, desensibilisieren sich gegen alles Authentische und sperren sich mit allen Raffinessen, den ‚cri de la nature’ zum Ausdruck kommen zu lassen.“ (1994: 68) Ein Kult der Kälte im sozialen Verhalten wird zur ‚persona‘, die durch Distanz das Innen der Gefühle abschirmt und schützt. Der griechische und lateinische Begriff für Maske weist auf den Hintergrund eines solchen Modells für die Beziehung von Gesicht und Maske. Während das griechische Wort prósopon beides gleichermaßen ausdrückt - Maske und Gesicht - verweist das lateinische persona (wörtlich: jene Fläche, durch die die Rede hindurch-tönt) sowohl auf die theatrale als auch die soziale Rolle. Eine Künstlerin, die diese kommunikative Dimension der Maske in ihren Fotoar‐ beiten einsetzt und reflektiert, ist Gillian Wearing. In einer Zeit, in der Coolness, soziale Distanzen unterschiedlichster Art, politische Ausschließungen und der Wunsch nach Zugehörigkeit und Wahrgenommenwerden gleichermaßen präsent sind und das Verhalten bestimmen, generiert sie ihre Maskenserien zur Exploration von Fragen der Identität. Wearing befasst sich in ihren Arbeiten in Fotografie, Video, Skulptur und Malerei in immer neuen Facetten mit den Ansichten und Inszenierungen alltäglicher Maskeraden. Die Ausstellung im Frühjahr 2022 im New Yorker Guggenheim Museum (vgl. Blessing/ Trotman 2022) mit dem Titel Gillian Wearing: Wearing Masks gibt einen umfassenden Einblick in Entwicklungen und Transformationen von Wearings Produktionen zum Thema Identität und Selbst-Maskerade, zuletzt unter dem Einfluss der Corona-Masken: 62 Gabriele Brandstetter Abb. 2: Gillian Wearing Mask Masked, 2020 fabric mask, wax sculpture, steel rod and wooden base 56 x 14 x 10 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London Die maskierten Larven des Selbst verschwinden hinter der Schutzmaske von Covid: Wearings Installation führt vor Augen, in welcher Weise sie Paradoxe, Spiegelungen und Duplizierungen der Maskeraden im Selbstportrait anlegt: Wie Wearing Masks 63 eine mise en abyme, die in tiefe und unumkehrbare Schichtungen von Masken führt. In der Arbeit Me: Me (1991) suggeriert die Fotografie eine endlose Spiegelung von kleiner und kleiner werdenden schwarz-weiß Selbstportraits. Abb. 3: Gillian Wearing Me: Me, 1991 bromide print mounted on aluminium 51.3 x 43.4 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Es ist eine Konstruktion von Differenzen in der Wiederholung, die eben jene dokumentarische Behauptung der Kamera - ‚das bin ich‘ - kommentiert und die Fiktion darin irritierend mit ins Bild setzt. Wearing spricht über diesen Moment der Entfremdung in ihrem Video Wearing, Gillian folgendermaßen: 64 Gabriele Brandstetter „Watching me being alienates me from me, and I don’t recognize myself.” (vgl. Blessing/ Trotman 2022: 32) Und sie fährt fort: „I believe that identity is fluid and it’s what you absorb from the world around you and internalize. But what do you reveal to the other world, that’s how other people define your identity.” (2022: 33) Die Titel des Videos (Wearing, Gillian) und des Katalogs (Wearing Masks) führen schon in ihrer sprachlichen Fügung in die unausgesetzte Verstrickung von Selbstdarstellung und Maskerade. Denn die Voranstellung des Nachnamens vor den Vornamen (die auch die Art der Namensnennung in asiatischen Kulturen wie etwa in Japan aufgreift) schiebt gleichsam das Wearing und seinen Verweis auf das „Tragen“ (von Masken, von Hüllen) vor das Gesicht: Es ist gewissermaßen eine signierende Verschleierung der Grenze zwischen Name und Trägerin im Verbergen und Zeigen, einem Blick von außen und von innen. Die aus dem Nachnamen „Wearing“ gebastelten Titel von Maskenartefakten gebärden sich als anagrammatische Sprachmasken der Künstlerin - ein Identitätsspiel von Zuschreibungen und Entzug der Identifi‐ zierbarkeit gleichermaßen. Masken fungieren so im Oeuvre der Künstlerin sowohl als materielle Objekte und medial präsentierte Propositionen als auch als Metaphern für jene Performance, die jeder von uns alltäglich als ‚Person‘ im sozialen Umfeld aufführt. Gillian Wearing bezieht sich mit ihren Arbeiten und ihrem Blick auf psycho‐ logische und politische Fragen des Selbst auf jenen Denkhorizont, den Erving Goffman mit seiner Studie zu The Presentation of Self in Everyday Life (1959) auf‐ gespannt hat. Über die alltäglichen Rollenspiele, die sich zwischen privatem und öffentlichem Leben, in Gender und beruflichen Zusammenhängen herstellen, schreibt er: „Mask is our truer self, the self we would like to be.” (Goffmann zit. nach Blessing/ Trotman 2022: 45) An dieser Grenzlinie, die eine Unterscheidung zwischen wahrem Selbst und Masken von sozialen Rollen unmöglich macht, bewegt sich Gillian Wearing. Welche Wiederholungen und performativen Akte generieren die körperlichen, habituellen und gestischen‚ Personae des Ich/ Me? Und wie stellt sich der Selbstbezug durch den Kamerablick von außen her? Und wie schließlich verändert sich der Bezug zwischen Selbst und Anderen unter der Formel: „We all wear masks”? Die Formel „Me as…“ überschreibt eine ganze Reihe von Foto- und Videoar‐ beiten Wearings. Dahinter steckt die Erkenntnis „I am my own special creation“ (Gaynor 1984), der Wunsch nach Transformation und nicht zuletzt auch der Zweifel, wie Identität gezeigt werden kann. Die Maske wird zum Vehikel für die Selbsttransgression. Die Serie von Fotos „Me as…“ begann 2008, als sie sich porträtiert in der Maske „als“ Diane Arbus (1923-1971), eine amerikanische Fotografin, die sie sehr verehrt. Wearing Masks 65 Abb. 4: Gillian Wearing Me as Arbus, 2008 framed bromide print 156 x 133 x 3.2 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Dieses Prinzip setzte sie weiter fort: Sich selbst mittels der Fotomaske zu jener Person zu machen, zu der sie in Beziehung ist - seien es Familienmitglieder wie etwa der Bruder, seien es Vorbilder oder Künstler*innen. So konstituiert sie in diesem Prozess des „Impersonating“ das, was sie ihre „Spiritual Family“ (vgl. Blessing/ Trotman 2022: 86-109) nennt. Es ist eine artifizielle Selbstkonstruktion über/ durch die Herstellung einer Wahlverwandtschaft. Die dabei stattfindende Verwandlung und Extension des „Selbst als“ (Andere) hat etwas gleichermaßen Theatralisches wie Magisches. So etwa, wenn sie sich als Self Portrait as my Grandfather Georg Gregory (2006) (vgl. 2022: 55) darstellt. Es ist eine magisch- 66 Gabriele Brandstetter imaginierte Anverwandlung der anderen Persona, und zugleich eine Reise durch die Zeit. Nicht zuletzt steckt darin auch eine Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen im „Selbst als Andere“ oder umgekehrt, mit dem Unheimlichen der Andersheit im Selbst. Ein Beispiel dafür ist Wearings Auseinandersetzung in ihrer Maskerade als Claude Cahun. Zunächst setzt sie 2012, in Me as Cahun Holding a Mask of My Face, den Prozess des Identitätswechsels in Form der materiellen Objekte - der beiden Masken als Gesichter von Wearing und Cahun - ins Bild. Wearing wird zu Cahun und sie trägt („wearing“) die hohle Larve ihres eigenen Gesichts wie ein Theaterrequisit vor dem schwarzen Vorhang. Abb. 5: Gillian Wearing Me as Cahun Holding a Mask of My Face, 2012 framed bromide print 157.3 x 129 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Wearing Masks 67 In einer anderen Version der Verkörperung von Cahun, Me and Claude in Mirror (2017) (vgl. Blessing/ Trotman 2022: 61) positioniert sich Wearing vor einem Spiegel. In einer an Magritte erinnernden Bildkonstruktion reflektiert der Spiegel nicht das Gesicht, das sich spiegelt, sondern „ein Anderes“, nämlich (Ich als …) Claude (Cahun). Abb. 6: Gillian Wearing Me and Claude in Mirror, 2017 framed bromide print 52.4 x 39.4 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles 68 Gabriele Brandstetter Wearing gazes into a looking glass but instead of seeing her own unmasked image, she finds that the fairest of them all is herself in the guise of a white-haired Cahun. The Cahun in this piece is not the person in their late twenties whose theatrically made-up face is the model for Wearing’s 2012 ‚Me as Cahun Holding a Mask of My Face’, but rather the undisguised, older visage that appears in snapshots with their partner and collaborator, Marcel Moore (vgl. 2022: 60). Das Spiel mit dem schwarz-weißen Kontrast der Haare, des Hintergrunds, der Masken, setzt Wearing auch im dritten der Selbstportraits als Claude Cahun fort. In Cahun and Wearing (2017) (vgl. 2022: 62) kehrt sie die Richtung der Maskerade um. Abb. 7: Gillian Wearing Cahun and Wearing, 2017 framed bromide print 52.4 x 42.5 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Wearing Masks 69 Sie setzt sich als Cahun in einem Doppelselbstportrait neben sich selbst, wobei sie - anders als im Spiegelportrait von 2017 - hier auch noch die Maske ihrer selbst trägt. Es ist ein Doppelgänger-Spiel, bei dem das Fremde und Verfremdende an der Grenze zwischen Ich/ und Ich und dem Spalt zwischen Gesicht und Maske auftritt: Die Karnevalisierung des Selbst und der damit verknüpften Idee des proper, des mit sich selbst Identischen. Wearing wendet diese Experimentreihe der Maske der Künstlerin, ihrer Nichtidentität und des in der vanitas unendlicher Spiegelungen des selbst fortgesetzten Solilogues in einer anderen Fotoserie in neuer Perspektive, indem sie in den öffentlichen Raum geht und anonyme Passant*innen in das Spiel der Persona des „Ich als“ beziehungsweise „Me“ einbezieht. In Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say (1992-1993) befragt Wearing diverse Gruppen von freiwilligen Passant*innen auf den Straßen Londons. Sie bittet diese, spontan ein Wort, einen Gedanken, eine Idee von sich selbst auf ein Blatt Papier zu schreiben und sich mit diesem Schild - quasi einer authentischen Maske - fotografieren zu lassen. Die Vermischung von spontan und inszeniert in der Portraitsituation vor der Kamera spiegelt den Riss/ Spalt, der sich zeigt in den Signs, den Selbstzuschreibungen der Personen. Tatsächlich wird das „personare“, das teilweise Paradoxe, das Verkehrte, Berührende in der Enthüllung und Verbergung dieser Portraits mit den Identifizierungsschildern zu einer Szene der Differenz zwischen Gesicht/ Pose und Sein/ Sign: Zum Beispiel das Foto des formell in Anzug, Hemd und Krawatte gekleideten jungen Mannes, vielleicht gerade vom Business kommend, mit dem Schild vor der Brust: „I’m desperate”; 70 Gabriele Brandstetter Abb. 8: Gillian Wearing Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say I’M DESPERATE, 1992-3 c-type print on aluminium 44.5 x 29.7 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles oder das Portrait eines älteren Mannes mit starker Brille, im Sweater, fest geschlossenem Mund und zusammengekniffenen Augen, vor der Brust mit dem gelben Hemd das Schild mit der Aufschrift: „Me“. Wearing Masks 71 Abb. 9: Gillian Wearing Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say ME, 1992-3 c-type print on aluminium 44.5 x 29.7 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Oder das Foto eines Schwarzen Polizisten mit tief in die Augen gezogenem Helm, weißem Hemd, dunkler Krawatte, dunkler Hose - formell gekleidet - mit einem Walkie-Talkie an der Schulterklappe, der in der bevölkerten Straße das Schild hoch hält mit der Aufschrift: „Help“. 72 Gabriele Brandstetter Abb. 10: Gillian Wearing Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say HELP, 1992 - 3 c-type print on aluminium 44.5 x 29.7 cm © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London, Tanya Bonakdar Gallery, New York and Regen Projects, Los Angeles Hier wird deutlich, wie sehr die Macht medialer Selbstinszenierung und der soziale Zwang, „ein(e) ander(e)r“ zu sein, das öffentliche und das private Leben durchdringen. Der Imperativ der Coolness ist verwandt dem Kult der „kalten persona“ der Weimarer Republik - eine Form der Maskerade, die, so Helmuth Wearing Masks 73 Plessner, eine Außenschicht generiert, um Scham und Beschämung sozialer Ausgeschlossenheit zu verbergen. Die politisch wie ethisch und fotohistorisch herausragende Dimension von Gillian Wearings Kameraszenen über Wearing Masks liegt in dieser irritierenden Reflexion der sozialen Maskeraden. Sie zeigt ihre Alltäglichkeit, das Banale ebenso wie das Groteske, das Ausdruckslose ebenso wie das Berührende im Paradox der Wendungen von Masken. Wearing hat damit nicht zuletzt das Feld dokumentarischer Straßenfotografie/ street photography verändert, indem sie dem Anonymen der Alltagspassagen die Möglichkeit des Selbst-Signierens und damit eine Stimme gegeben hat: ein prósopon, um hindurchzutönen, als persona. Literatur Bachtin, Michail (1985). Literatur und Karneval: Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus d. Russ. übers. von Alexander Kaempfe. Berlin/ Frankfurt am Main: Ullstein. Belting, Hans (2013). Faces: Eine Geschichte des Gesichts. München: C. H. Beck oHG. Blessing, Jennifer/ Trotman, Nat (Hrsg.) (2022). Gillian Wearing. Wearing Masks. New York: Solomon R. Guggenheim Museum. Brandstetter, Gabriele (1995). Körper-Maske - Sprach-Maske: Inszenierung von Weib‐ lichkeit in Werken von Arthur Schnitzler, Rebecca Horn und Maguy Marin. In: Bettinger, Elfi/ Funk, Julika (Hrsg.). Maskeraden: Geschlechterdifferenz in der litera‐ rischen Inszenierung. Berlin: Schmidt, 338-363. Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Caillois, Roger (2017). Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Berlin: Matthes & Seitz. Fischer-Lichte, Erika/ Pflug, Isabel (Hrsg.) (2000). Inszenierung von Authentizität. Tü‐ bingen: A. Francke. Flusser, Vilém (1997). Gesten: Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt/ Main: Fischer, 125-134. Garber, Majorie B. (1993). Verhüllte Interessen: Transvestismus und kulturelle Angst. Frankfurt/ Main: Fischer. Kluge, Alexander (2021). Zirkus Kommentare. Berlin: Suhrkamp. Lethen, Helmut (1994). Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Nancy, Jean-Luc (2021). Ein allzumenschliches Virus. Aus d. Franz. übers. von Markus Sedlaczek. Wien: Passagen. 74 Gabriele Brandstetter Riviere, Joan (1994). Weiblichkeit als Maskerade. In: Weissberg, Liliane (Hrsg.): Weiblich‐ keit als Maskerade. Frankfurt/ Main: Fischer, 34-47. Schnitzler, Arthur (1927). Buch der Sprüche und Bedenken: Aphorismen und Fragmente. Wien: Phaidon. Lieder Gaynor, Gloria (1984). I am what I am. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Postkarte Programm HAU 4. Digitale Bühne HAU Hebbel am Ufer (Mai 2021). Bild: @newfrontears. Abb. 2: Gillian Wearing: Mask Masked (2020) Abb. 3: Gillian Wearing: Me: Me (1991) Abb. 4: Gillian Wearing: Me as Arbus (2008) Abb. 5: Gillian Wearing: Me as Cahun Holding a Mask of My Face (2012) Abb. 6: Gillian Wearing: Me and Claude in Mirror (2017) Abb. 7: Gillian Wearing: Cahun and Wearing (2017) Abb. 8-10: Gillian Wearing: Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say (1992-93) Wearing Masks 75 1 Bis heute findet man Arbeiten zur Improvisation vorwiegend im Bereich der Schauspiel‐ pädagogik (Ebert 1989), neuerdings auch vereinzelt zum „neuen“ Phänomen des Impro- Theaters, wie etwa Spontan sein von Andreas Wolf (2013). Full disclosure: Der Verfasser war Mitbegründer der professionellen Impro-Theatergruppe, fastfood theater, das 2022 sein vierzigjähriges Bestehen feierte. Die Gruppe ging aus Workshops am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München hervor. Um einer möglichen Befangenheit vorzubeugen, wird auf die Gruppe nicht eingegangen. Aufführung und Improvisation Szenarien der Zukunft Christopher Balme Jazzmusiker: innen tun es, Schauspieler: innen tun es, Unternehmer: innen tun es, auch General: innen tun es: In Kunst, Wirtschaft und Militär wird improvisiert. Dort wird aber auch geplant und mit Szenarien gearbeitet: ob mentale Sche‐ mata, Kriegsspiele, Unternehmensentscheidungen oder Theateraufführungen; Improvisation geht Hand in Hand mit Überlegungen über die Zukunft. Plan und Improvisation stehen in einem produktiven, aber nicht immer vorurteilsfreien Spannungsverhältnis. Dass eine aufgeführte Improvisation gleichsam die reinste Form des Hier und Jetzt darstellt und daher im Zeichen einer Präsenzästhetik einen privilegierten Platz einnehmen soll, ist naheliegend. Theatergeschichtlich gesehen ist aber das Gegenteil der Fall. Bis auf den Sonderfall der Commedia dell’arte, auf die später eingegangen wird, spielt die Improvisation in der theaterwissenschaftlichen Forschung eine marginale Rolle. 1 Diese Marginalisierung hat dazu geführt, dass trotz aller Beteuerungen zugunsten der Aufführung und der Präsenzästhetik diese elementarste Erscheinungsform der Präsenz wenig Aufmerksamkeit er‐ halten hat. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, Improvisation mit Szenarien zusammenzudenken und sie weniger in ihrer Gegenwärtigkeit als in ihrer Zukunft zu untersuchen. These ist, dass Improvisation und Szenarien von der Commedia dell’arte bis zum heutigen Denken und die Arbeit mit Szenarien sich gegenseitig bedingen. Zunächst wird auf den „Mythos“ der Improvisation bei der Commedia dell’arte eingegangen und im zweiten Schritt der weitgehend verges‐ sene Beruf des „Improvisatoren“ porträtiert, der sich nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland in der Biedermeierzeit im Zeichen einer vorrevolutionären, von Zensur stark reglementierten Theaterkultur großer Beliebtheit erfreute. Es wird argumentiert, dass die Kunst der Improvisatoren mit einer Wiederauf‐ wertung der Stegreifrede als Teil der Rhetorik vor 1848 im Zusammenhang stand. Der mündige, demokratische Bürger der Zukunft ist auch ein Bürger (die männliche Form ist hier bewusst gewählt), der die Kunst der Stegreifrede beherrscht. Im letzten Teil wird dann auf die Wechselbeziehung zwischen Improvisation und neueren Szenarientechniken öffentlich aufgeführter tabletop exercises eingegangen. 1 Improvisation und Zukunft Bereits die etymologische Herleitung des Wortes weist auf die Zukunftsdi‐ mension hin, wie Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg in ihrer Studie Improvisieren! Lob der Ungewissheit herausarbeiten: Das italienische improvvisare („aus dem Stegreif agieren“) ist ein Verb, das von improvviso („unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet“) abgeleitet ist. Improvviso lässt sich wiederum auf das lateinische Verb providere („vorhersehen“) und die mit ihm zusammenhängende verneinende Form des Partizip Perfekt Passiv improvisus („unerwartet, unvorhergesehen“) zurückführen. Improvisieren ist also ein unvorher‐ gesehenes Tun, das auf die Zukunft verweist. (2021: 5) Das Unvermutete kann als Bedrohung oder als Chance begriffen werden. Die Verwendung des Wortes „Improvisation“ in europäischen Sprachen verbreitet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und verstärkt sich im frühen 19. Jahrhundert. Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache kennt „Improvisa‐ tion“ als Lemma nicht, verwendet das (Fremd-)Wort aber als Beschreibungs‐ kategorie etwa für den Stegreifvortrag. Auch wenn es frühere Belege für Improvisation gibt: deren Verbreitung scheint ein Phänomen der Epoche zwi‐ schen Spätaufklärung und Spätromantik zu sein. Hier finden wir zahlreiche Beispiele für Improvisation als Form des virtuosen Theaterspiels (und hierin dem heutigen Impro-Spiel nicht unähnlich), aber auch eine Wiederentdeckung der Werke Carlo Gozzis (etwa im Werk E.T.A. Hoffmanns). Um das Verhältnis von Improvisation und Szenarien in aufführungstheoretischer wie -geschichtli‐ cher Hinsicht zu verstehen, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf deren Urszene, die Commedia dell’arte. 78 Christopher Balme 2 Die anderen Mythen sind das freie Spiel auf öffentlichen Plätzen; der populäre Ur‐ sprung; die lebenslange Identifikation mit einer Rolle bzw. Maske; Commedia als Theater der reinen Phantasie (Taviani 1987: 319-20). 1.1 Das Vorbild der Commedia dell’arte Für den großen Commedia dell’arte-Forscher Ferdinando Taviani (1987) gehört Improvisation zu den fünf Grundmythen dieser Theaterform: Der Mythos besagt, die Commedia sei ein rein improvisiertes Theater, in welchem die Schauspieler jeden Abend eine neue Aufführung erfanden. Die historische Realität war jedoch eine andere: Mit Ausnahme der Dialoge war alles festgelegt: Handlungen, Gesten, Spielsituationen, sogar ganze Reden. 2 Dennoch wirkten die Aufführungen auf Zuschauer: innen anders als die nach einer Dramenvor‐ lage, nämlich frischer und spontaner, als ob sie ex nihilo entstehen würden. Dieser Stegreifeffekt war das Alleinstellungsmerkmal der Truppen, ihr Berufs‐ geheimnis, das bereits von Anfang an ihren Erfolg mitbestimmte. Die Truppen spielten ihre Komödien nach Szenarien (al soggetto), in denen Figurenauftritte und Handlungsabläufe festgelegt waren. Bereits hier beginnt die wechselseitige Bedingung von Szenarien und Improvisation. Zeitgenössische Quellen deuten darauf hin, dass Improvisation ein von Schauspieler: innen zu erlernendes und zu praktizierendes Handwerk, eine tatsächliche arte (Beruf/ Kunst) war. Für einen neuen Markt theaterbegeisterter Laien verfasste Andrea Perrucci seine Dell’Arte Rappresentativa premeditata ed all’improvviso (1699) und betonte die für die Improvisation notwendige hohe Kunstfertigkeit, die nur mit Ausbildung beherrschbar sei. Der Stegreifschau‐ spieler müsse mit allen dichterischen und rhetorischen Künsten vertraut sein. Perrucci beschwert sich darüber, dass Theater all’improvviso so etwas wie eine Volksbeschäftigung geworden sei (Klees 2011: 21). Gegen die „herabgesunkene“ Variante der Kunst der Improvisation richtet sich die Invektive von Carlo Gozzi, der bekanntlich kein Freund der sich in Auflösung begriffenen Theaterform war: Meist ist das Improvisieren nichts anderes als eine miserable Art, die Musen zu notzüchtigen. Es ergötzt die Menge, die mit offenem Munde jene Plattheiten anhört, und wirkt auf Durchschnittshirne durch falschen Glanz von Talent, das aber von der Sprache und der Dichtkunst energisch abgelehnt wird. Durch Anhören der berühmtesten Improvisatoren dieses Jahrhunderts habe ich mich von der Wahrheit überzeugt, dass in der Sintflut von Versen, die jene Leute mit emphatischen Gesten und flammendem Antlitz zum staunenden Entzücken der Zuhörer von sich geben, nicht einmal so viel Inhalt steckt, dass man daraus eine druckreife Seite schaffen […] könnte. (Gozzi 1986 [1797]: 11 f.) Aufführung und Improvisation 79 Nichtsdestotrotz spielten die italienischen Truppen weiter all’improvviso, insbe‐ sondere in Paris, wo sich die Comédie-italienne bis zur französischen Revolution mehr schlecht als recht behaupten konnte. Als der Literat, Dramatiker und Verfasser pikanter Erzählungen Jean-Au‐ gustin-Julien Desboulmiers (1731-1771) seine Histoire anecdotique et raisonée du théâtre italien (1769) verfasste, war die Theaterpraxis noch intakt. Deshalb basierte seine Analyse der improvisatorischen Spielpraxis durchaus auf empi‐ rischen Beobachtungen. Auch er geht von den Vorgaben des Szenarios aus, die dem Schauspieler ein Ziel, aber nicht den Weg vorgeben: Un Acteur remplit son imagination de toutes les idées de l’Auteur. Il cherche les différentes voies par lesquelles il peut conduire le Dialogue à tous les points de l’action. Un autre qui doit avoir part à la même scène, l’étudie de son côté, & imagine ordinairement une toute autre manière d’en former le Dialogue. Voilà les deux Acteurs sur la scène, chacun rempli de son caractère & de sa situation. Tous deux cherchent à parvenir au même point; mais obligés de se répondre sensément l’un à l’autre, & liés par nécessité aux mêmes objets, ils sont forcés tour à tour d’abandonner la route qu’ils avaient préméditée, pour correspondre à celle que l’autre veut suivre; c’est-là ce qui donne à la scène un naturel & une vérité que le meilleur Ecrivain n’atteint que rarement. Il en naît quelque chose de plus, c’est la saillie. Dans l’écrit réfléchi, elle est presque toujours trop amenée; dans l’impromptu, elle part comme un éclair, parce qu’elle naît de l’instant même. (1769: 33 f.) Die „natürliche“ Wirkung der Improvisation entsteht somit aus dem Konflikt bzw. dem Zusammenspiel zwischen zwei autonom-asymmetrischen kreativen Handlungen der Schauspieler, die nie genau zusammenkommen oder überein‐ stimmen. Sie bewegen sich beide jedoch auf denselben Punkt zu, aber über verschiedene Wege. Das gemeinsame Ziel, das sie vor Augen haben, ist immer der nächste im Szenario festgelegte Handlungsmoment. Aus dieser Interaktion entsteht zwangsläufig eine Wirkung der Natürlichkeit und Improvisation, die kein: e Dramatiker: in jemals erreichen kann. Allerdings geht es Desboulmiers hier weniger darum, die Technik der Impro‐ visation als Schauspielkunst, sondern vielmehr als eine besondere dramaturgi‐ sche Kompositionstechnik zu beschreiben. Er beschreibt die Art und Weise, wie ein Theaterstück ‚gewoben‘ werden kann, indem die „Fäden“ der verschiedenen Dramaturgien der unterschiedlichen Schauspieler verknüpft und verflochten werden. Nach dieser Interpretation ist die Improvisation der Commedia dell’arte gar keine Improvisation im strengen Sinne. Der Unterschied zwischen einer Aufführung nach einer Dramenvorlage und aus dem Stegreif besteht darin, dass 80 Christopher Balme erstere weniger vorbereitet und auswendig gelernt ist; sie beruht lediglich auf einer festgelegten Textvorlage. Stegreifspiel andererseits beruht auf einer in allen Einzelheiten festgelegten Spiel- und Theatertradition. Was hier wie ein Paradox erscheint, ist in Tavianis Lesart gar nicht so paradox. In dem Moment, in dem der Diskurs über das Spiel der italienischen Schauspieler präziser wird und mehr dem Mythos der Spontaneität nachhängt, geht er über das Problem der Improvisation hinaus und zeigt, worum es eigentlich geht, nämlich um die Komposition von Theaterstücken durch Schauspieler: innen (Taviani/ Schino 1982: 321 f.). - 1.2 Improvisation als Aufführung Wenn das Stegreifspiel der italienischen Truppen nur den Schein der Impro‐ visation zur Kunstform erhob, ab wann kann man, wenn überhaupt, von genuiner Improvisation sprechen? Ab Ende des 18. Jahrhunderts wird in Italien ein neuer Künstlertyp, der improvvisatore bzw. die improvvisatrice beobachtet und vor allem von europäischen Reisenden bewundert. Es handelt sich um umherziehende Solo-Künstler: innen, die auf Stichworte aus dem Publikum Lieder, Gedichte und kleinere dramatische Szenen improvisierten. Die bekanntesten, wie Tommaso Syrici, Corilla Olimpica oder Eugène de Pradel, erlangten einen überregionalen Ruf und finden in französisch- und deutschsprachigen Enzyklopädien Erwähnung. Syrici vermochte ganze Tragö‐ dien in Versen zu extemporieren. Auf diese Tradition ist Angela Esterhammer im Rahmen ihrer Studie Romanticism and Improvisation, 1750-1850 (2008) eingegangen. Esterhammer betont vor allem den Liveness-Aspekt der Impro‐ visation: „As an aesthetic experience, improvisation foregrounds time in its passing and its presence; it is an arc of occasion that privileges the experience shared between performer and audience here and now” (2008: 4). Durch ihren im hohen Grad kollaborativen Entstehungskontext verdiene Improvisation neben der eher bislang privilegierten solitären Inspiration als romantisches Kreativitätsdispositiv erneute Aufmerksamkeit. Der Literaturwissenschaftlerin Esterhammer kommt ohne Zweifel der Verdienst zu, diese bislang vergessene öffentliche performative Kunstform wiederentdeckt zu haben. Der erste deutsche Improvisator mit überregionalem Ruf war der Literat Oskar Ludwig Bernard Wolff (1799-1851). Als Sohn einer wohlhabenden jüdi‐ schen Familie aus Altona widmete sich Wolff schon in seiner Jugendzeit den schönen Künsten und Sprachen. 1817 begann er sein Studium der Medizin und der Geisteswissenschaften in Berlin, wo er „am Studentenleben ungezwun‐ genen Antheil nahm“ (Schröder 1898: 9). Nach eher glücklosen literarischen Versuchen und angeregt durch italienische Improvisatoren, trat er 1825 eine Aufführung und Improvisation 81 3 Die Lebensdaten von Langenschwarz sind nicht gesichert. Dabei gibt es zwei Varianten: 1801-1851 oder 1807-1867. Beide gehen von einem Tod in den USA aus. Vgl. auch Esterhammer (2015), die seine Aktivitäten in den USA kurz anreißt. 4 Vgl. z.B. https: / / www.faz.net/ aktuell/ rhein-main/ kultur/ frankfurter-volksbuehne-auf -der-spur-des-herrn-langenschwarz-17454199.html (abgerufen am 10.12.2022). große Tourneereise an, die ihn über mehrere Städte bis Leipzig und Dresden führte und nach seinen eigenen Worten einem Siegeszuge glich. In Weimar lernte er Goethe und Großherzog Karl August kennen, der ihm eine Stellung als Lehrer vermittelte. Von Weimar ging es 1829 mit einer außerordentlichen Professur der neueren Literatur an die Universität Jena. Als Sympathisant der republikanischen Bewegung besteht seine weltgeschichtliche Bedeutung vielleicht darin, dass er 1841 in Jena Karl Marx in absentia promovierte. Seine Tätigkeit als Improvisator beschränkte sich hauptsächlich auf die Jahre 1825 und 1826. Aufgrund seiner Anstellungen als Gymnasiallehrer und später als Professor in Jena verlagerte er sich aufs Schreiben, das unter dem Pseudonym „Plinius der Jüngste“ kaum Grenzen kannte. Wolffs Karriere als Improvisator war von kurzer Dauer, schuf jedoch in deut‐ schen Landen ein Publikum für eine bisher in Italien beheimatete Kunstform. Wolffs Erbe und wahrer Meister dieses Fachs war der Schauspieler Maximi‐ lian Leopold Langenschwarz (1807-1867? ). 3 Geborener Meyer Hoffmann in Rödelsheim bei Frankfurt, als Sohn einer verarmten jüdischen Familie, besuchte er mit Hilfe von Sponsoren das Gymnasium. Nach seiner Konvertierung zum Christentum mit Namensänderung bestritt er seinen Lebensunterhalt als Schau‐ spieler, Dramatiker, Lyriker, Mundart-Dichter und vor allem als Improvisator. In Paris arbeitete er in den 1840er Jahren auch als Wasserheilkünstler, bevor er nach der 1848er-Revolution in die USA übersiedelte und dort starb. Sucht man heute den Namen Langenschwarz, so landet man schnell in der Frankfurter Mundart- Szene, wo seine Stücke im hessischen Dialekt neben denen von Wolfgang Deichsel und Friedrich Stoltze wieder gepflegt werden. 4 Langenschwarzens erste öffentliche Improvisation fand wahrscheinlich am Münchener Hoftheater statt. Eine genaue Kenntnis dieses Auftrittes verdanken wir einer gleichnamigen Veröffentlichung: Erste Improvisation von Langen‐ schwarz in München im Königlichen Hoftheater in der Residenz am 19. July 1830. Logischerweise gibt es kaum schriftliche Zeugnisse von improvisierten Auffüh‐ rungen. An diesem Abend saß jedoch ein gewisser Franz Xaver Gabelsberger (1789-1849) im Publikum, Erfinder einer berühmt gewordenen Kurzschrift. Ob‐ wohl später das erfolgreichste System der Stenographie im deutschsprachigen Raum (es wurde nicht nur im Bayrischen Landtag, sondern beispielsweise auch in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/ 49 eingesetzt), war allerdings 82 Christopher Balme 5 Die Veröffentlichung blieb scheinbar ein Unikat, da Wilhelm Herrmann bei seinen Recherchen nur das König Ludwig I gewidmete Exemplar finden konnte, das als Grundlage für seine Abschrift diente (Berkhan 1906: 75). Im Folgenden wird nach dem online verfügbaren Digitalisat (Langenschwarz 1830) zitiert. die Kurzschrift im Juli 1830 keinesfalls fertig und so bot sich dem Hofbeamten Gabelsberger anlässlich des Auftritts von Langenschwarz eine Gelegenheit, sein neues System unter Beweis zu stellen und bekannt zu machen. Die Publikation, die den gespielten Text in fast voller Länge wiedergibt, hat Gabelsberger selbst herausgegeben. 5 Die erste Auflage seiner berühmten Anleitung zur deutschen Rede-Zeichen-Kunst oder Stenographie erschien 1831, ein Jahr später. Bereits im Vorwort stellt Gabelsberger die Verbindung her zwischen Impro‐ visation und der Leistung der Schnellschreibkunst nach der von mir erfundenen Zeichenschrift […]. Nirgends spricht sich wohl der Werth gegenseitiger Kunst-Unterstützung lebendiger aus, als bey der Improvisation, wo gerade die schönsten Glanzpunkte einer augen‐ blicklichen Dichtung verloren gehen, […] würde hier nicht nebenbey eine zweyte Kunst die Hand bieten, um das beflügelte Wort schriftlich festzuhalten, und so der Vergänglichkeit zu entreissen. (Langenschwarz 1830: iii-iv) Gabelsberger berichtet, dass er beschloss, mit Hilfe eines Schülers den Vortrag von Langenschwarz stenographisch zu notieren. Eine getreue Wiedergabe sei ihm auch - mit Ausnahme einiger kleinerer Stellen, „wo der Improvisator in höchster Ekstase seiner Schilderungen meine Kräfte überbot“ (1830: iv) - gut gelungen. Die Aufführung lief folgendermaßen ab. Um sieben Uhr abends wurden im Publikum, und besonders in den Logen, fünfzig „Thematen“ gesammelt. Daraus wurden von einem jungen Mädchen zehn gezogen, und aus dieser Sammlung wählte Langenschwarz fünf aus. Alle fünf wurden behandelt. Eins in Form eines mündlich extemporierten „epischen Gedichts“, die vier anderen (ein fünftes fügte er freiwillig hinzu) verfasste er schriftlich, aber im gleichen oder sogar schnelleren Tempo (er benötigte dafür 25 Minuten), wie jemand sie niederschreiben konnte, wie Gabelsberger attestiert. Trotz einiger Irritationen durch eine weggebliebene Ouvertüre (das Hofor‐ chester nahm wohl an, es könnte den Abend freinehmen) trat Langenschwarz mit etwas Verspätung auf und rezitierte 45 Minuten lang das epische Gedicht „im schönsten Versmase und beynahe ganz in Reimen […] [das er] unter rühmlichem Beyfalle durch einen wohlgelungenen Uebergang auf unsern allverehrten König Ludwig I. von Bayern vollendete.“ Eine junge Dame unterstützte die Rezitation, „welche den Improvisator während seines mündlichen Vortrages jedem Gefühle der Dichtung anpassend mit der Guitarre begleitete“ (1830: vi). Abgerundet Aufführung und Improvisation 83 wurde der Abend durch Musikeinlagen durch Mitglieder des Ensembles, u.a. die Hofsängerin Katharina Vespermann. Abb. 1: Maximilian Leopold Langenschwarz: Deutscher Improvisator. Lithographie von Franz Eybl, um 1830. Bild: The Picture Art Collection/ Alamy Stock Photo. Im Mittelpunkt des Abends stand das epische Gedicht, das sowohl für den Im‐ provisator als auch für den Stenographen die größte Herausforderung darstellte. Gabelsberger notiert den Beginn folgendermaßen: IMPROVISATION. I. Langenschwarz trat mit den Worten hinaus: Das Thema ist ein episches Gedicht. - Um Sie für das Warten zu befriedigen werde ich vier zugleich vorzunehmen suchen, nämlich: Napoleon, Hannibal, Alexander, *) Und König Ludwig von Bayern. Hier auf begann er, nach einer Introduction der Guitarre. *) Den er aber, wahrscheinlich aus Begeisterung, in der Improvisation vergass. (Langenschwarz 1830: 1) 84 Christopher Balme Es folgt dann ein episches Gedicht im getragenen Duktus, das einen Bogen schlägt von den Wonnen des Friedens zu der Notwendigkeit von Heldentaten durch Napoleon, ein Held, dessen ‚Taten‘ noch frisch im Gedächtnis vieler älterer Zuschauer waren: „Darum will ich preisen die Stunde, / Die dem Herzen wieder dich bringet, / Und den Geist in Gluthen entrücket / Für den Helden Napoleon! - - - -“ (1830: 3). Die vier Gedankenstriche deuten darauf hin, dass Gabelsberger vor lauter Ekstase stenographisch nicht mehr mitkam. Behandelt wird die Schlacht bei Marengo, in der Napoleon mit Hilfe einer Alpenüberquerung, die an Hannibal erinnert, Österreich bezwang. Je lauter das Schlachtgetümmel, umso mehr Gedankenstriche kommen vor. Schließlich endet das Gedicht, nicht nur mit einem Sieg Napoleons, sondern auch - hier die lokale Anpassung - mit einer Lobpreisung des bayrischen Königs: „Heil, Bayern, Dir! Du hast ihn nun errungen/ Den Frieden, - der des Volkes schönstes Glück; / Errungen ihn durch Joseph Maximilian; / Befestigt ihn durch Ludwigs Vaterblick! […] Sein Name wird nicht untergeh’n! “ (1830: 11). Im zweiten Teil diktierte Langenschwarz vier kurze Gedichte nach vorgege‐ benen Themen und ein fünftes („Als Schluss“), das er offensichtlich spontan nachlieferte: „Mein Schreiber ist nicht fertig noch geworden - / Auch fühl’ ich - nun - wie nenn ich gleich es doch - / Noch ein Drang des tiefbewegten Her‐ zens, / Ein innres, unbekanntes Streben noch! “ (1830: 13). Er nimmt gleichsam Bezug auf die Aufführungssituation, indem er nach oben schaut, und den nicht mithaltenden Schreiber mit dem Dichtergott gleichsetzt: „Apollo, willst Du mich verlassen nun? “, merkt jedoch ein Wiedererstarken der Kräfte, sodass Sprechen und Schreiben, göttliches und theatrales (Kerzen-)Licht sowie das Publikum eins werden: „Und ich - ich schrieb für Sie das Wörtchen: ‚Dank! ‘ - “ (1830: 13). Bei einer genauen Lektüre des epischen Gedichts könnten gelegentlich Zweifel aufkommen, ob das Ganze tatsächlich aus dem Stegreif geboren wurde. Handelt es sich nicht vielleicht vielmehr um auswendig gelernte, der jewei‐ ligen Aufführungssituation angepasste Versatzstücke? In Berlin wäre es kaum möglich, die Heldentaten Napoleons zu zelebrieren, dort wäre wahrscheinlich Alexander zum Zuge gekommen. Dennoch schien genuine Improvisation einen nicht unbedeutenden Anteil gehabt zu haben, weil Langenschwarz diesem Vorwurf begegnete, indem er oft die Zuschauer: innen aufforderte, ein neues Versmaß vorzuschlagen. Nach München setzte Langenschwarz seine Tournee fort. Langenschwarzens Auftritte in Deutschland fanden allerdings nicht nur Beifall. Der „Verdacht der Täuschung“ blieb immer wieder im Raum, wie ein Rezensent aus Dresden in der Leipziger Zeitung berichtete. Den Skeptiker: innen gegenüber formierte sich jedoch eine Langenschwarz-Fangemeinde, die im Dresdener Anzeiger unter Aufführung und Improvisation 85 6 In einer späteren Würdigung von Wolff bestätigte Friedrich Hofmann das weit verbrei‐ tete Vorurteil, dass „nur den nordischen Völkern eine solche Geistesfähigkeit versagt zu sein [schien]“ (1867: 808). der Überschrift „Sechs und zwanzig Ueberzeugte“ eine Unterstützungs-Anzeige schaltete (Leipziger Zeitung vom 11.04.1831: 863). Um die Echtheit der Improvi‐ sation unter Beweis zu stellen, gestaltete er sein Spiel ausgehend von beliebig vorgeschlagenen Gegenständen. Er ließ sich davon dichterisch „inspirieren“ und mehrmals vom Publikum unterbrechen, um von Gegenstand zu Gegenstand zu wechseln: „Hr. Langenschwarz beurkundet bei solcher Gelegenheit eine große Leichtigkeit, den bizarresten Gegenständen eine poetische Seite abzuge‐ winnen“ (1831: 863). Nichtsdestotrotz hofft der Rezensent Tiedge, „daß er sich entschließen möge, seinen dichterischen Kräften bald eine höhere Richtung anzuweisen und eine bleibendere Stellung zu gewinnen“ (1831: 863). Obwohl Langenschwarz 1827 konvertierte, war seine jüdische Herkunft bekannt, und bot Anlass für deutschnational gefärbte antisemitische Attacken, wie z.B. 1831 in Nürnberg nach erfolgreichen Auftritten in Leipzig: Wenn die Unverschämtheit nicht bekannt wäre, mit welcher der Jude in der größten, wie in der kleinsten Gesellschaft sich aufdrängt, und die alberne Arroganz, mit welcher er die geringste natürliche Anlage geltend zu machen weiß, der müsste in der That in Erstaunen gesetzt werden, durch die Dreistigkeit und Sicherheit, mit welcher ein Mensch, wie der sogenannte deutsche Improvisator Langenschwarz in einer Stadt wie Leipzig, die in mercantiler Hinsicht wenigstens der Mittelpunct deutscher Bildung ist, mit seinen gereimten und ungereimten Ungereimtheiten auftreten kann. (Nürnberger Blätter vom 06.05.1831: 215) Da die in Deutschland bekanntesten Improvisatoren Wolff und Langenschwarz beide konvertierte Juden waren, und die Kunstform bis dahin als Inbegriff einer „welschen“ (d.h. italienischen) Volksseele galten, konnte der Erfolg als dem deutschen Wesen widernatürlich abgetan werden. 6 Solche Angriffe blieben jedoch die Ausnahme und Langenschwarzens Anfänge standen mehrheitlich im Zeichen der Bewunderung für den „jungen aufstrebenden Improvisator und poetischen Protheus“ (Augsburger Magazin für Unterhaltung und Belehrung vom 25.08.1830: 270). - 1.3 Improvisation und Revolution In die 1820er und 1830er Jahre, als Wolff und Langeschwarz ihre Erfolge feierten, fällt auch eine Wiederaufwertung der Improvisation im Rahmen der Rhetorik. Die extemporierte Rede hatte dort immer eine Rolle gespielt, galt aber eher als Randphänomen. Langenschwarz veröffentlichte 1834 seine Arithmetik der 86 Christopher Balme 7 Vgl. z.B. Langenschwarzens Denkschrift von 1843: An Fürst Metternich. Leipzig: Adolph Wienbrack. Aus London verfasste er im Jahr 1850 Europäische Geheimnisse eines Mediatisierten: Metternich und Europa. Wien und Österreich. London: Boomann. Sprache, oder der Redner durch sich selbst, die er als „psychologisch-rhetorisches Lehrgebäude“ titulierte. Improvisation kommt nur am Rande darin vor, wird aber als besondere Technik des „Vorausdenkens bei der Rede“ charakterisiert. Auch wenn er versuchte, sein „Lehrgebäude“ psychologisch zu begründen und seine Auftritte offenbar nie eine klare politische Stoßrichtung hatten, war Langenschwarz, wie Wolff vor ihm, eindeutig als Republikaner, oder gar als Revolutionär einzuordnen. Er engagierte sich 1848 beim Aufstand in Leipzig und musste daraufhin ins amerikanische Exil. Er schrieb Denkschriften gegen Metternich und verfasste zahlreiche Satiren, die durchaus politisch lesbar waren. 7 Bezeichnenderweise erschien im Revolutionsjahr 1848 eine deutsche Über‐ setzung und Bearbeitung von Eugène Paignons Éloquence et improvisation: art de la parole oratoire au barreau, à la tribune (1846), und zwar unter dem Titel Beredsamkeit und Improvisation oder die Redekunst aus dem Stegreif, vor den Gerichtsschranken, auf der Volksrednerbühne und auf der Kanzel. Der Übersetzer Christian Friedrich Gottfried Teuscher war selbst Pfarrer und Schriftsteller im Großherzogtum Weimar und sicherlich kein Revolutionär, setzte sich aber für eine Aufwertung der Improvisation in der politischen Rhetorik ein. Im Vorwort heißt es: „Deutschland fand bis jetzt in seinen bestehenden Einrichtungen, bei dem Mangel alles öffentlichen bürgerlichen Lebens, weder Veranlassung noch Gelegenheit, eine andere Gattung von Beredsamkeit auszubilden als die der Kanzel“ (Paignon/ Teuscher 1848: iii). Die Befreiung der improvisierten Rede aus der Unmündigkeit der Kanzel wird hier als Grundvoraussetzung gesehen, um eine demokratische Öffentlichkeit herauszubilden. Die im Zeichen der Authentizitätsforderungen der Romantik in Verruf geratene rhetorische Tradition (sie galt ja als Inbegriff eines uneigentlichen Sprechens) erlebt eine Wiederaufwertung durch die Improvisation, die wiederum als authentisches Sprechen gewertet werden konnte (vgl. Geitner 1992). Langenschwarz stellt seine Arithmetik der Sprache explizit in den Dienst einer fortschrittlichen öffentlichen Kommunikation: „Die verfassungsmäßige Gestaltung der neueren Staatenordnung […] als auch überhaupt das in jeder Beziehung vorausgeschrit‐ tene gesellschaftliche und öffentliche Leben, brachten das Bedürfnis guter Redner für Staat und Gesellschaft mit sich“ (1834: vii). Rhetorik und Demokratie bedingten sich gegenseitig. Aufführung und Improvisation 87 2 Szenarien und Risiken Über den Theaterkontext hinaus findet das Wort Improvisation Akzeptanz als Bestandteil einer neuen Zukunftssemantik, die sich in dieser Zeit herausbildet. In Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichten nimmt eine Neubestimmung der Zukunft eine zentrale Rolle ein, die die Moderne ankündigt. Koselleck zufolge lässt sich erst seit dem 18. Jahrhundert das Wort „die Zukunft“ im abstrakten Sinne verstärkt nachweisen. Das gehe mit einer Ablösung jüdisch-christlicher Eschatologie durch einen offenen weltlichen Erwartungs- und Gestaltungsho‐ rizont einher (vgl. Koselleck 2006: 256-262). In dieser „Sattelzeit“ (ca. 1750-1830) treten gehäuft die Zukunftssemantiken auf, die uns heute so vertraut sind. Wir entwerfen unsere Arbeit in Form von „Projekten“, dessen Etymologie (pro-jectare = nach vorne werfen) auf die Zukunft hinweist. Wie alle Projektmanager: innen wissen, plant man Projekte am besten immer vom antizipierten Endpunkt her, der zwangsläufig in der Zukunft liegt. Auch der „Plan“ gehört zu den Zukunftssemantiken der Sattelzeit. Pläne verlagern unser Denken und unser Tun zwangsläufig in die Zukunft. Wir kalkulieren „Risiken“, die auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen basieren, wir investieren in den futures market, Wissenschaftler: innen modellieren für die Politik wahrscheinliche Entwicklungen auf den verschiedensten Feldern; wir stellen Mitarbeiter: innen nicht nur aufgrund ihrer Leistungen, sondern zuneh‐ mend im Hinblick auf ihr „Potential“ ein. Von diesen ‚modernen‘ Zukunftsse‐ mantiken ist Risiko wohl die älteste, die im Deutschen bereits im 16. Jahrhundert verbürgt ist, wo sie der „oberdeutschen Kaufmannsprache“ (uff unser Rysigo (1507), Risigo (1518)) entlehnt ist und einen „gewagten Einsatz bei einer geschäft‐ lichen Unternehmung“ bedeutet (Wolfgang Pfeifer: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). Mit dem Risiko verwandt, aber doch unterschiedlich, ist der Begriff der „Unsicherheit“ (uncertainty). Sie bestimmt die Zukunft in einem viel umfassenderen Sinne als Risiko, das zunächst auf bestimmte Bereiche wie das Versicherungswesen beschränkt ist. Der Unterschied besteht darin, dass zumin‐ dest im Bereich der Wirtschaft Risiken messbar sind, Unsicherheiten aber nicht. Die Unsicherheiten der Zukunft sind oft selbst erzeugt, wie die Langzeitfolgen der Kernenergie, der Klimawandel und vielleicht auch die Verbreitung von Viren. Die große Herausforderung besteht also darin, Techniken zu entwickeln, um die Kontingenzen und Unsicherheiten einer offenen Zukunft zu bewältigen. Und hier kommen die Szenarien „ins Spiel“ - und mit ihnen die Improvisation. Um verlässlichere, berechenbare Wege in die terra incognita der Zukunft zu finden, dienen Szenarien als erprobte Technik. Wie die Improvisation ist der Begriff Szenario bekanntlich theatralen Ursprungs. Die scenarii der Commedia 88 Christopher Balme 8 Zu den Wechselbeziehungen theater-, militär-, und ökonomiespezifischer Verwen‐ dungsweisen vgl. Wolfsteiner (2018). dell’arte bezeichneten die textlich festgelegten Handlungsskizzen des Reper‐ toires einer Truppe. Schriftlich fixiert waren die Geschichten, die Figuren, die Art der Requisiten und die Auf- und Abtritte der Figuren. Improvisiert wurden, wie wir gesehen haben, lediglich die Dialoge. Manche Monologe dagegen waren auch festgelegt, auswendig gelernt und wurden, je nach Geschichte, vielseitig situativ eingesetzt. Eine Liebeserklärung war letztlich personenunabhängig und versatzstückartig (Haar- und Augenfarbe z.B. können der Angebeteten angepasst werden), ebenso Wutausbrüche (sogenannte Tiraden). Diese Text‐ bausteine wurden in sogenannten zibaldoni gesammelt und bildeten einen wichtigen Teil des geistigen Eigentums (IP) eines Schauspielers bzw. einer Truppe. Die Überlieferung der Szenarien und zibaldoni verdanken wir allein der Tatsache, dass sie aufgeschrieben und nicht ausschließlich improvisiert wurden. Dadurch kann die Theatergeschichtsschreibung in etwa rekonstruieren, wie sich das Verhältnis von Festlegung und spontaner inventio bei den Commedia dell’arte-Truppen gestaltete. Die Spielpraktiken der Commedia-Truppen lehren uns, dass Improvisieren nicht unbedingt bedeutet aus dem Nichts zu schaffen, was vermutlich eine contradictio in adjecto wäre. Es gibt nie eine Stunde null, nie eine reine Tabula rasa in der Improvisation. Was sind aber Szenarien, die offensichtlich engstens mit der Kulturtechnik der Improvisation zusammenhängen und vor allem: Wie und in welchen Zusam‐ menhängen werden sie eingesetzt? Im gesamten 19. Jahrhundert war der Begriff scenario bzw. „Szenarien“ weitestgehend auf den Bereich Theater beschränkt, und zwar als Textform, die lediglich ein Handlungsgerüst skizziert. Kurz nach 1900 wandert der Begriff in das neu entstandene Filmgeschäft weiter, wo er als Bezeichnung für eine Handlungsskizze diente, was man heute landläufig treat‐ ment nennt. Szenarien fanden aber auch in anderen Bereichen Verwendungen. Wenn wir Szenarien im Sinne alternativer Handlungsmöglichkeiten verstehen, dann bieten Kriegsbzw. Planspiele auch ein reichhaltiges Gebiet, wo bereits im 19. Jahrhundert, später aber mit hoher Professionalität im 20. Jahrhundert sowohl „gespielt“ als auch geplant wurde. 8 Der Erfolg solcher Kriegsspiele hat sicherlich bei der Verwendung von Szenarien eine Rolle gespielt. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Rahmen der RAND Corporation, einem Think Tank mit starken Verbin‐ dungen zur amerikanischen Luftwaffe, Planspiele für den Kalten Krieg, vor allem zu eventuellen Atomkriegen, entwickelt. Grundlage solcher Spiele waren Szenarien, die spieltheoretische Ansätze mit Simulationsmodellen verknüpften. Aufführung und Improvisation 89 Im Zuge der verschiedenen Entwicklungen im Zusammenhang mit War bzw. Political Gaming hat sich eine regelrechte Szenario-Methode herausgebildet. Diese wanderte in den 1970er Jahren in die Wirtschaft, in einem ersten Schritt in die Energie-Wirtschaft, wo Shell z.B. diese Methode zur Berechnung von Ent‐ wicklungen auf dem Energiemarkt unter Berücksichtigung der geopolitischen Gesamtlage (Stichwort „Ölschock“) einsetzte und viel Geld verdiente. Von da an wurden Szenarien auf vielfältigen, vor allem geschäftlich-ökonomischen Feldern eingesetzt. Publikationen von Pierre Wack (Scenarios: Unchartered Waters ahead (1985)) und Peter Schwartz (The Art of the Long View: Planning for the Future in an Uncertain World (1991)) führten dazu, dass die Erstellung von Szenarien standardisiert wurde. In diesem Verständnis stellen Szenarien eine postulierte oder projizierte Situation oder Abfolge möglicher zukünftiger Ereignisse dar. Heute sind sie in Wirtschaftsleben, Politik, Unternehmensbe‐ ratung usw. weit verbreitet und vielleicht am häufigsten im Kontext der Klimaforschung anzutreffen. Trotz aller datenbasierter Vorbereitungen und Modellierungen lässt sich die theatrale DNA aller Szenarien kaum verleugnen. Eine Definition der Soziologen Grégoire Mallard und Andrew Lakoff hebt wohl unbewusst die Theaterdimen‐ sion hervor: the scenario-based exercise is a tightly structured narrative in which decision-makers are presented with an urgent crisis, must take action to intervene, and then watch the results of their decisions play out […] These scenarios do not predict the future; rather, they narrate plausible events whose repercussions have lessons for the present. A crucial element in the design of such exercises is to structure a deeply affecting experience for participants: while participants know that the event is fictional, they must nevertheless engage with it as though it were real [Hv. CB]. (Mallard/ Lakoff 2011: 358) Narrative, Krise, Wahrscheinlichkeit, Affekt, fiktiv, Als-ob: Die Poetik des Aristoteles lässt grüßen. Wenn der Erfahrungsmodus von Szenarien Als-ob und Fiktion privilegiert, dann stellt sich zugleich die Frage nach dem Bezug zur Wirklichkeit. Denn Szenarien außerhalb des fiktionalen Rahmens des Theaters dienen dazu, die Wirklichkeit und nicht fiktive Welten zu modellieren. Jedoch tun sie dies mit den Mitteln des Theaters, sofern wir Theater als fiktionales Medium verstehen. Auch bei diesen neuen Szenarienformen spielt die Improvisation eine zentrale Rolle. Die bei Politik und Wirtschaft beliebten tabletop exercises haben sich inzwischen zu einer Aufführungsform entwickelt. Der Bereich der öffentlichen Gesundheit war in dieser Hinsicht besonders prägend, insbesondere das Johns 90 Christopher Balme 9 Der gesamte Ablauf ist online nachverfolgbar unter https: / / www.centerforhealthsecurit y.org/ our-work/ exercises/ event201/ (abgerufen am 10.12.2022). Hopkins Center for Health Security. Ab 2001 veranstaltete es eine Reihe von öffentlichen „Pandemieübungen“, um die Auswirkungen verschiedener Arten von Pandemien zu antizipieren. Die Namen folgten einem absteigenden Bogen der Düsternis von Dark Winter im Jahr 2001 über Atlantic Storm von 2005 bis zu dem eher neutralen Clade X von 2018. Das Format variierte wenig. Eine Gruppe von Expert: innen wurde mit einem Szenario konfrontiert, auf das sie mit wenig Vorbereitung reagieren und ihre Einschätzungen abgeben und Strategien entwickeln mussten. Ihre Interaktionen wurden aufgezeichnet und im Internet übertragen. Diese Expert: innen waren Beamt: innen, Vertreter: innen von Pharma-Konzernen und hochrangige Mitarbeiter: innen von NGOs wie der Bill & Melinda Gates Foundation. Die genaueste Prognose gelang dem bislang letzten und eher harmlos klingenden Event 201, das im Herbst 2019 am Vorabend des Corona-Ausbruchs stattfand und die Zukunft mit beängstigender Genauigkeit antizipierte. 9 Das Szenario postulierte den Ausbruch eines Corona-Virus in China, das von Tieren (in diesem Fall von Schweinen) auf Menschen übertragen wurde und sich rasant ausbreitete. Das Szenario war um vier Themen (in Akte? ) struktu‐ riert: Globale Verteilung von medizinischem Material, Reisebeschränkungen und wirtschaftliche Folgen, Finanzkrise, Verbreitung von Falschinformationen über das Internet. Jeder Abschnitt wurde durch einen fiktionalen, an CNN angelehnten Fernsehbericht eingeführt. Zuschauer: innen konnten (und können immer noch) den improvisierten Antworten der Expert: innen beiwohnen, die auf die sich schnell entwickelnden Situationen reagieren mussten. Die Ergebnisse wurden in Form eines scenario epilogue präsentiert. Sie lagen ziemlich richtig: Die Übung sagte nicht nur ein aus China stamm‐ endes Corona-Virus voraus, das die ganze Welt befällt, sondern auch die daraus resultierenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen bis hin zur Verbreitung von Falschinformationen über die sozialen Medien. Einzig bei der sehr langsamen Entwicklung von Impfstoffen lagen sie mit ihrer Vorhersage daneben. Um die Zukunft der realen Welt zu antizipieren, erweisen sich die bewährten Techniken des Theaters als zuverlässige Orientierung. Dieser etwas wider‐ sprüchlich anmutende Befund lässt sich besser verstehen, wenn wir die Frage nach der Zeitlichkeit von Improvisation und Szenarien stellen. In welcher Zeit‐ lichkeit befinden sich Szenarien? Auch wenn die Kunst der Improvisation die Gegenwart zu verabsolutieren scheint (es gibt scheinbar kein Vorher und kein Nachher), bevorzugen Szenarien die Zukunft. Jedoch auch der Improvisation Aufführung und Improvisation 91 ist die Zukunft inhärent: sowohl bei Desboulmiers ‚vorgestelltem Weg‘ als auch bei dem Prinzip des ‚Vorausdenkens‘ bei Langenschwarz. Es ist dieses Zusammenspiel von Gegenwart und Zukunft, die Improvisation und Szenarien zu einem potenten Medium machen. Heute sind Szenarien eine Möglichkeit, nicht unbedingt in die Zukunft zu schauen, aber sie zu antizipieren. Und damit ist viel zu gewinnen. Literatur Anonymous (1831). Der große deutsche Improvisator Langenschwarz in Leipzig. Nürn‐ berger Blätter: Literarische Zeitschrift aus und für Süddeutschland, 06.05.1831, 215. Anonymous (1831). Sechs und zwanzig Ueberzeugte. Leipziger Zeitung, 11.04.1831, 863. Anonymous (1830). Eingesandt: Augsburg am 20. August. Augsburger Magazin für Unterhaltung und Belehrung, 25.08.1831, 270. Berkhan, Oswald (1906). Deutschlands Improvisatoren: Handschriftlicher Nachlaß vom Improvisator Wilhelm Herrmann. Hrsg. u. mit einer Einleitung versehen von Oswald Berkhan. Braunschweig: H. Sievers & Co. Bertram, Georg/ Rüsenberg, Michael (2021). Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Dit‐ zingen: Reclam. Desboulmiers, Jean-Auguste-Julien (1769). Histoire anecdotique et raisonnée du théâtre italien, depuis son rétablissement en France jusqu’à l’année 1769, Bde. 1. Paris: Lacombe. Ebert, Gerhard (1989). Improvisation und Schauspielkunst: Über die Kreativität des Schauspielers. Berlin: Henschel. Esterhammer, Angela (2015). 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Bild: The Picture Art Collection/ Alamy Stock Photo. 94 Christopher Balme 1 Ein umfassendes Glossar von Wissensbegriffen in Bezug auf die Künste versammelt die Onlinepublikation des DFG-Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ unter https: / / wissenderkuenste.de (abgerufen am 10.12.2022). Teile des folgenden Textes sind dort in Auszügen erstmals erschienen. Vom Üben als Wissenspraxis Barbara Gronau Die Ausformulierung des Aufführungsbegriffes am Beginn der 2000er Jahre bil‐ dete einen der Ausgangspunkte für die Öffnung der Theaterwissenschaft hin zu den performativen Dimensionen Darstellender Künste. Mit dieser theoretischen Kategorie ließen sich Fragen der Agency und Prozessualität, der Materialität und Kommunikation in den Blick nehmen, die vorher zumeist aus dem Blickfeld gerückt waren. Wo das werkzentrierte Theaterverständnis das Ereignis auf Au‐ torintentionen reduzierte und das semiotische Verständnis sich in detaillierten Bedeutungsaufschlüsselungen verlor, schärfte der Aufführungsbegriff den Blick für die Qualität und Relevanz aller mit dem Theater verbundenen Erfahrungen. Die methodische Innovationskraft des Begriffes lag für mich unter anderem in der radikalen Aufwertung des Publikums, die zugleich eine Selbstreflexion von uns als beobachtende, analysierende und mitagierende Wissenschaftler*innen nötig machte. Mit meinem Wechsel an die Kunsthochschule hat sich diese Perspektive für mich verschoben, denn die Forschung richtete sich nun stärker auf die künstlerischen Praktiken innerhalb des Produktionsprozesses und die damit verbundenen Wissensformen. 1 Bekanntlich liegt Wissen nicht einfach vor, son‐ dern entsteht aus der Verwobenheit unterschiedlicher Aktanten in konkreten Vollzügen, entlang medialer Rahmungen und gestützt durch Praktiken der Ver‐ mittlung. Die epistemische Qualität künstlerischer Praxis ist dabei weit weniger geklärt und erschöpft sich zumeist in Hinweisen auf das sogenannte „implizite Wissen“ (Polanyi 1985) als Gegenmodell zu propositionalen Wissensformen. Welches Wissen durch körperliche und partizipative Vollzüge in künstlerischen Feldern entsteht und wie dieses analysiert werden kann, lässt sich beispielhaft an Konzepten des Übens verdeutlichen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem Praxiswissen, das in und durch Übungen individuell und kollektiv erworben wird, und Formen des expliziten Wissens, die in Theorien des Übens, in Vorschriften, Anleitungen, Handbüchern oder Lehrplänen auftreten. Gerade letztere sind insofern aufschlussreich, als moderne künstlerische Ausbildungen an kanonisierte Übungsformen gebunden werden, die als Ausweis der Professi‐ onalisierung und der modernen Berufsfähigkeit gelten. Theorien und Praktiken des Übens sind ein Schlüssel in der Geschichte und Gegenwart der Akademisie‐ rung der Künste und sollten Teil ihrer institutionellen Selbstreflexion sein. 1 Dimensionen des Übens in den Darstellenden Künsten Im Deutschen geht der Begriff ‚üben‘ auf die indogermanische Form op zurück und steht damit für das Erarbeiten oder Erwerben von etwas. Das Wort bezeichnet eine Tätigkeit, durch die etwas in Bewegung kommt. In seinen frühsten Verwendungen von „den Boden bearbeiten“ oder „eine religiöse Hand‐ lung durchführen“ zeigt sich im Wort op bzw. „üben“ die tiefe Verwurzelung des Übens mit der menschlichen Kultur (vgl. Grimm 1984: 56). Im heutigen Sprachgebrauch umfasst der Begriff ein weites Feld von Handlungsvollzügen: Wenn wir zum Beispiel Gnade üben, einen Beruf ausüben, oder einen Mord verüben stellen wir performativ Wirklichkeit her. Im Einüben von Vorträgen oder Musikstücken widmen wir uns dagegen der Arbeit an einer Form. Aber das Üben ist nicht nur Praxis, sondern auch Prozess. Denn in der Etymologie des Wortes steckt die zeitliche Dimension der Wiederholung, ja der Herausbildung von Routinen durch Iteration. Erst im wiederholenden Üben wird aus einer einfachen Handlung etwas, das über sie hinausgeht: die Ausbildung eines Vermögens oder die Optimierung einer Fähigkeit. Das ist bekanntlich nicht so einfach, und so haftet dem Üben von jeher die Dimension der Mühe, des Fleißes und im schlimmsten Fall der Qual an. Der Widerstand, das Scheitern und das Vergessen sind permanente Begleiterscheinungen des Übens. Gerade die Aufführungskünste sind in hohem Maße das Ergebnis von kom‐ plexen Übungsformen. Sie gelten der Herausbildung physischer, mentaler, technischer oder gestalterischer Fähigkeiten, aber auch der kollektiven Arbeit an einer Inszenierung. Jeder Probenprozess enthält Formen des Übens, ohne darin vollständig aufzugehen. Geübt werden im Theater bekanntlich nicht nur Haltungen, Bewegungen, Tänze, Arten des Sprechens und Singens, des Auf- und Abtritts, des Beleuchtens, des Bühnenumbaus oder Soundeinspielens, auch die Interaktion mit dem Publikum wird in sogenannten Tryouts geübt und durch‐ gespielt, ja sogar das Verbeugen am Schluss hält eine eingeübte Applausordnung fest. Nicht selten wird im Geübtsein die Differenz zwischen Impuls und Können 96 Barbara Gronau 2 Wie nah sich künstlerische und gouvernementale Praxis im Üben kommen, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Hingewiesen sei darauf, dass sich Alexander Gottlieb Baumgartens Analogie von Kunst und exerzierenden Soldaten bis in die Konzeption regelmäßiger „exercises“ im modernen Bühnentanz gehalten haben (vgl. Brandstetter 2005: 133-144). oder die zwischen Kunst und Nichtkunst verortet. Dabei ist es wichtig, das Üben nicht bloß als mechanische Vorstufe der Kunst zu verstehen, sondern - mit dem Philosophen Otto Friedrich Bollnow gesprochen - das Einüben und das Ausüben als zwei Weisen desselben Vorgangs (Bollnow 1978: 20 f.). Wo das Einüben die teleologische Dimension der Perfektionierung adressiert, erinnert uns das Ausüben daran, dass wir es mit einem tendenziell unabgeschlossenen, selbstreflexiven Prozess zu tun haben. Das Üben als Zustand geht über dessen intentionale Gründe hinaus. Darüber hinaus knüpft der Begriff des Übens an spezifischen Vorstellungen von Subjektivität an. Praktiken und Diskurse des Übens geben Aufschluss über Vorstellungen von Körperlichkeit, Erkenntnis und Subjektivität in den jeweiligen historischen Konstellationen. Diskurse des Übens verhandeln immer auch, was ein Mensch ist und zu sein vermag. Im Üben als performativem Prozess werden Subjektivität und Kollektivität herausgebildet, geformt und transformiert. Um das Üben als Wissensfigur in den Darstellenden Künsten zu untersuchen, scheint es mir deshalb sinnvoll, drei Dimensionen in den Blick zu nehmen: (1) die habituelle Dimension, also das implizite, körperliche und situative Wissen, das in Übungen erworben wird. Von welchen physischen oder ener‐ getischen Vorstellungen wird ausgegangen? Welchen situativen Bedingungen unterliegt es? Wie werden Routinen ausgebildet? Welches Ziel wird mit dem Ein- oder Ausüben verbunden? Wie wird Übungswissen in kollektiven, partizi‐ pativen Vollzügen erworben und kommuniziert (vgl. Mahlert 2006)? (2) die diskursive Situation: Welche Theorien des Übens existieren zu welcher Zeit? Wie treten sie in Vorschriften, Anleitungen, Handbüchern oder Lehr‐ plänen auf ? Welche Konzepte von Subjektivität, Körperlichkeit oder Kunst werden darin adressiert? Wie unterscheiden sich die Konzepte Übung, Lernen, Training, Drill und „Exercise“? 2 (3) Schließlich wäre die institutionelle Dimension künstlerischen Übens in den Blick zu nehmen. Seit mehreren hundert Jahren werden künstlerische Ausbildungen an kanonisierte Übungsformen gebunden. Die historisch spät einsetzende Akademisierung der Darstellenden Künste hat hier - etwa im Unterschied zur Musik - wenig Quellenmaterial hinterlassen. Es sind vor allem Überlegungen zur Tanz- und Schauspielpraxis, in denen sich Konzepte des Vom Üben als Wissenspraxis 97 Übens finden lassen. Im Folgenden werde ich solche Konzepte anhand von zwei Textbeispielen vom Ende des 19.-Jahrhunderts skizzieren, da die moderne Disziplinargesellschaft jener Zeit mit einer Zunahme von Übungsdiskursen und -praktiken einherging (Breuer 1987). 2 Üben als gouvernementales Prinzip Am 2. August des Jahres 1881 beginnt der berühmte Physiologe und Universi‐ tätsrektor Emil du Bois-Reymond eine seiner legendären Festreden vor den Mitgliedern der Militärärztlichen Bildungsanstalten in Berlin mit der Feststel‐ lung, dass kaum „je einem Heere mehr als dem preussisch-deutschen der Name Exercitus“ (du Bois-Reymond 1881: 6) gebührt habe und schlussfolgert, dass es einer Versammlung von Ärzten dieses Heeres doch nützlich sei, einmal „die Übung“ selbst genauer zu betrachten - der Gegenstand verdiene einen „Platz auf der Tagesordnung der Wissenschaft“ (1881: 6). Und so entfaltet der Redner in der folgenden Stunde eine Theorie, die ausgehend von den menschlichen Muskelbewegungen über Drüsen, Nerven, Sinnesorgane, das Trainieren und das Vergessen bis hin zum schwedischen Turnen und Kaiser Wilhelms Kriegsflotte reicht. Für die Zuhörer mag dies eine willkommene Abwechslung gewesen sein, stand auf dem Lehrplan kaiserlicher Militärärzte doch neben Anatomie vor allem das Studium der Wirkung von Geschossen und die Eindämmung der allseits raumgreifenden Tuberkulose (vgl. Schickert 1895: 178-238). „Unter Übung“, so du Bois-Reymond, „versteht man gewöhnlich das öftere Wiederholen einer mehr oder minder verwickelten Leistung des Körpers unter Mitwirkung des Geistes, oder auch einer solchen des Geistes allein, zu dem Zweck, dass sie besser gelinge“ (du Bois-Reymond 1881: 20). Das Üben beträfe nahezu alle Formen des Lebens: nicht nur das Handwerk, den Sport und den Waffengebrauch, sondern auch das Essen, sich Anziehen, das Stehen, Gehen, Stricken, Sprechen und Singen. Ja sogar das Weinen - so bemerkt der Autor mit Blick auf das empfindsame 18. Jahrhundert - scheint mit ent‐ sprechender Übung der „Thränendrüsen“ (du Bois-Reymond 1881: 19) leichter zu gelingen. Im Gegensatz zur gängigen Fokussierung auf den Bewegungsap‐ parat und die Muskeln (die zu diesem Zeitpunkt durch Friedrich Ludwig Jahns Turnbewegung bereits etabliert war) betont der Physiologe das Zentralnerven‐ system, denn „alle körperlichen Übungen sind auch Nervengymnastik“ (1881: 22). Nicht nur das musikalische Gehör, auch unser Orts- und unser Farbsinn, unser Augenmaß, der Geruchssinn und sogar Zeitsinn und Gedächtnis würden durch Übungen erst herausgebildet. Sie würden verkümmern, wenn man sie 98 Barbara Gronau nicht trainiere. Abschließend konstatiert der Autor: der Mensch sei überhaupt nur durch Übung Mensch. Tiere könnten zwar zum Lernen gebracht werden, aber nicht selbständig üben. Die Menschheit vervollkommne sich als Ganzes, denn erst im Üben würden Menschen zu „Selbstvervollkommnungsmaschinen“ (1881: 32). Das preußische Volk stünde für die Optimierung ganzer Nationen durch nicht nachlassende Übung und Anstrengung. Analysiert man den Quellentext mit Blick auf eine Theorie des Übens, so zeigen sich darin nicht nur medizinische Konturen geformter und genormter Physis, die beispielhaft für moderne Subjektivitätsverständnisse stehen. Der Autor überträgt das von ihm aufgerufene Modell zugleich ins Gesellschaftliche und macht daraus eine nationale Identitätskonstruktion. So wird das Üben hier verstanden als das Herausbilden von Routinen durch Wiederholung. Üben ist somit die Bedingung der Möglichkeit von geschicktem, gelingendem, also optimiertem Handeln. Die muskuläre und sensuelle Seite des Menschen treten in der Übung zusammen; sie betrifft alle Formen des Lebens und soll als grundlegende anthropologische Bestimmung anerkannt werden. Moderne Subjektivität wird damit als teleologisches Prinzip der Selbstver‐ besserung der Natur-Anlagen gedacht und mit einer Rhetorik der Stärke kom‐ biniert: Die Übung stärkt, während der Nichtgebrauch der Anlagen das Subjekt schwächt und dessen Potentiale „verkümmern“ (du Bois-Reymond 1881: 27) lässt. Ziel des Übens ist ein energetisch effizienter Körper, der keine unnützen Mitbewegungen kennt und nicht wackelt oder zittert (vgl. 1881: 23). Dieser kann unempfindlich gegenüber äußeren und inneren Belastungen werden. Üben erscheint somit als Teil einer doppelten Epistemologie: Erst durch das dauernde Üben der Sinne und des Gedächtnisses werden Wahrnehmung und Erkenntnis möglich. Darüber hinaus tritt das Üben selbst als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung auf. Nicht zuletzt reüssiert das Üben bei du Bois-Reymond in Verbindung mit kaiserlicher Erziehung und Fürsorge als Teil nationalstaatlicher Gouvernementalität. Interessanterweise findet sich ein Teil dieser Argumente bereits einhundert Jahre früher in einem ganz anderen diskursiven Feld, nämlich der Ästhetik. Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica von 1750 als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis argumentiert nämlich in grundlegender Weise mit der Übung bzw. dem übenden Subjekt. Unter „Exercitatio Aesthetica“ heißt es: Die ästhetische Übung sei „die häufigere Wiederholung gleichartiger Handlungen, zu dem Zweck, dass sich eine Übereinstimmung des Geistes und der Gemütsart […] ergibt, und zwar im Hinblick auf ein gegebenes Thema […]“ (Baumgarten 2007: 39). Auch Baumgarten sieht ohne Übung die Gefahr eines qualitativen Vom Üben als Wissenspraxis 99 Abfalls aller Anlagen, denn „die Natur […] kann sich auch für kürzere Zeit nicht auf derselben Stufe halten“ (2007: 39). Sinnliche Vollzüge sind demnach nicht rational-logisches Schließen, sondern ein durch Übungen und häufigen Gebrauch erworbenes Vermögen. Ästhetisches Wahrnehmen in der Rezeption und der Ausübung von Künsten funktioniert also nicht durch die Anwendung einer vorab definierten Methode, sondern vielmehr durch eine Praxis, die durch Wiederholung vervollkommnet wird. Baumgartens Ästhetik entwirft mithin ein praktisches Subjekt, bei dem - darauf hat Christoph Menke hingewiesen - Üben zugleich ein „Etwas-ausführen und ein Sich-führenkönnen“ (Menke 2008: 34) meint. Diese Fähigkeit des Sich-selbst-führen-kön‐ nens lässt sich im Anschluss an Foucault als moderne Selbsttechnik verstehen. Baumgartens Übungen der Aisthesis bildet dabei augenscheinlich ein frühes Modell und es verwundert nicht, dass er das Training der Wahrnehmung mit dem Exerzieren von Soldaten vergleicht (vgl. Menke 2008: 34). 3 Üben als künstlerische „Arbeit an sich selbst“ Einen Einblick in die Akademisierung des Schauspielberufes gibt bis heute der russische Theatermacher Konstantin Stanislawski, der im Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert das regelgeleitete Üben zum Kern seines Proben- und Ausbildungssystems machte. Schauspielen - so bekanntlich seine These - ist weder reines Handwerk noch bloße Inspiration, sondern die Anwendung konkreter Methoden. Erst in der Reflexion auf diese Methoden kann sich eine wissenschaftlich fundierte und den Herausforderungen der Zeit entsprechende Kunstausbildung entwickeln. Und in der Tat gehört Stanislawskis System, der sogenannte psychologische Realismus, noch heute zu den wichtigsten Einflüssen in der zeitgenössischen Schauspielausbildung (vgl. Stegemann 2011: 9-18). In zwei Bänden hat der Künstler ab 1906 diese Erkenntnisse im Stil eines Entwicklungsromans verschriftlicht, in dem er den fiktiven Schauspielschüler Naswanow durch alle Phasen eines Studiums gehen und dabei frustrierende, beglückende, aber auch existentielle Erfahrungen durchleben lässt (vgl. Stanis‐ lawski 1983; 1961). In unzähligen Etüden, Spielproben und Diskussionen lernen die Schüler*innen, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Dass diese Arbeit nicht einfach gleichzusetzen ist mit engagiertem Tun und praktischem Ausprobieren, zeigt das erste Kapitel des ersten Bandes, also der Einstieg in die gesamte Theorie. Es trägt den Titel „Dilettantismus“ (Stanislawski 1983: 15-24) - oder man könnte auch sagen: „falsches Üben“. Naswanow und seine Mitschüler*innen werden aufgefordert, eine Szene allein einzustudieren, um diese in voller Ausstattung auf der großen Bühne 100 Barbara Gronau des Theaters den Lehrenden vorzuspielen. Die Wahl fällt auf Shakespeares Drama Othello und im Laufe von wenigen Tagen absolvieren die Schauspiel‐ schüler*innen selbständig alle Stufen der Theaterarbeit: vom Lesen und Einstu‐ dieren des Rollentextes über erste improvisierte Spielszenen, die eigentlichen Bühnenproben, das Hinzukommen von Bühnenbild und Kostümen bis hin zur eigentlichen Aufführung. Ich zitiere eine gekürzte Passage aus der Beschreibung Naswanows in Stanislawskis Text: Morgen soll die erste Probe stattfinden. Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein, holte den „Othello“ hervor, setzte mich behaglich auf das Sofa, schlug das Buch ehrfürchtig auf und begann eifrig zu lesen. Schon auf der zweiten Seite drängte es mich zum Spielen. Wider Willen begannen Hände, Füße, Gesicht zu zucken, ich konnte mir das Deklamieren nicht länger verkneifen, und schon kam mir ein großer elfenbeinerner Brieföffner zwischen die Finger, den ich als Dolch am Gürtel befestigte. Ein Frottierhandtuch war der Turban, mit der bunten Kordel vom Vorhang wurde er umwunden, aus Laken und Bettdecke fabrizierte ich ein hemdartiges Obergewand, der Regenschirm wurde zum Schwert. […] Dann wagte ich einen Ausfall. In meiner Aus‐ rüstung fühlte ich mich als stolzer Krieger, majestätisch und schön. Doch im Ganzen war ich eben doch nur ein moderner Mitteleuropäer, aber Othello ist Afrikaner! Er muß etwas von einem Tiger haben. Um die charakteristischen Bewegungen eines Tigers herauszufinden, probierte ich allerlei aus: ich ging schleichenden, gleitenden Schrittes durch das Zimmer […] sprang mit einem Satz aus dem Hinterhalt auf den Gegner los, den mir ein großes Kissen ersetzte; ich erwürgte es, packte es „tigerhaft“ mit den „Klauen“. […] Vieles gelang mir ausgezeichnet. Ohne es zu merken, hatte ich fast fünf Stunden gearbeitet. Unter Zwang schafft man das nicht. Nur im schöpferischen Rausch werden Stunden zu Minuten. Ein Beweis, dass der durchlebte Zustand echt war. Auf der Suche nach der Figur an sich - ihrem allgemeinen Charakter - fällt Naswanow in eine Stereotypisierung, die an die Stelle einer dramatischen Figur das Abbild rassistischer Zuschreibungen setzt. Ausgangspunkt für sein Üben ist der Impuls zu spielen, der hier (ohne innere Fragen oder Anleitungen) in den Zustand eines Rausches übergeht, an den er sich später kaum erinnern kann. Der Spielende kann auch nicht mehr an ihn anknüpfen, denn der Zustand ist nachher auf der Bühne gar nicht reproduzierbar. Durch Kostüme, Schminke und Dekoration versucht er, stützende Elemente in seine Darstellung einzubauen, die als Rettungsanker gegen seine Überforderung mit der Hauptrolle helfen sollen. Als Naswanow am Ende im Zustand äußersten Hingerissenseins die Vorstellung Vom Üben als Wissenspraxis 101 auf der großen Bühne zeigt, ist er von seinem eigenen Talent vollkommen überzeugt. Erst in der vernichtenden Kritik durch den Lehrer Torzow alias Stanislawski wird deutlich, dass diese Performance das Gegenteil von Kunst ist. Sie enthält vielmehr alle Elemente, die es im Probenprozess zu vermeiden gilt. „Falsches Üben“ - so die Lektion - besteht in einem Handeln ohne Regeln und ohne Bewusstsein. Hier wird allgemein herumgefuchtelt, anstatt konkret zu handeln. So entsteht eine Effekthascherei, die nach außen verblüffen will, ohne selbst zu erleben. Darsteller*innen, die solche Hilfsmittel schematisch anwenden, degradieren ihre Figuren zu theatralen Schablonen, denen keine Realität, oder noch schlimmer: nur eine Lüge, entspricht. Anstelle des „falschen Übens“ - so die Kritik - muss deshalb immer wieder ein Erforschen treten. Der Schlüssel künstlerischen Tuns liegt für Stanislawski deshalb im Probieren, ja genaugenommen, konstituiert er eine Systematik der Theaterproben, die bis dahin gar nicht existiert hat. Üben im Theater ist immer ein kollektives Probieren. Es ist Entwerfen und Verwerfen, Wiederholen, Scheitern und Reflektieren. Das damit verbundene Wissen bleibt prekär. Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007). Ästhetik. Hrsg. und übers. von Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner. Bois-Reymond, Emil du (1881). Über die Übung: Rede gehalten zur Feier des Stiftungs‐ tages der Militär-Ärztlichen Bildungs-Anstalten am 2. August 1881. Berlin: Hirsch‐ wald. Bollnow, Otto Friedrich (1978). 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International Council of Museums (ICOM) unter https: / / icom.museum/ fr/ ressources/ n ormes-et-lignes-directrices/ definition-du-musee (abgerufen am 18.07.2022): „Un musée est une institution permanente […], qui se consacre à la recherche, la collecte, la conservation, l’interprétation et l’exposition du patrimoine matériel et immatériel.” Der Duden vermerkt unter dem Eintrag „Museum“: „Institut, in dem Kunstwerke sowie kunstgewerbliche, wissenschaftliche, technische Sammlungen aufbewahrt und ausgestellt werden.“ Verfügbar unter https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Museum (abgerufen am 10.12.2022). 2 Eine seit 2019 geführte Debatte zur Anpassung der Definition der ICOM zielt auf eine diskursive Öffnung der Idee Museum. Sie soll an dieser Stelle grundsätzlich erwähnt, jedoch nicht weiter ausgeführt sein, da sie die o.-g. Kerndefinitionen nicht in Abrede stellt. Mehr Leben im Museum? Zum Verhältnis des Institutionsbegriffs „Museum“ und performativer Kultur Christian Horn 1 Museum vs. Aufführung Und wieder einmal frage ich mich, was ein ‚Museum‘ eigentlich ist. Oder etwas enger gefasst - was es heute sein kann und in Zukunft sein soll? Im selben Atemzug ist zu konstatieren, dass es über die Frage, was die Institution „Museum“ im Grunde darstellt, eine große Einigkeit auf Verbandsebenen - also unter den Museumsprak‐ tiker: innen und Wissenschaftler: innen, welche diese Vereinigungen bilden - gibt. Definitionen, die der Deutsche Museumsbund und auf internationaler Ebene der International Council of Museums (ICOM) vorgelegt haben, genießen breite Ak‐ zeptanz. Hier wird ein über Handlungsfelder erschlossenes Institutionsverständnis vorgelegt. Diese Felder heißen Sammeln, Bewahren, Untersuchen, Präsentieren und Vermitteln. 1 Gleich ob im musealen Tagesgeschäft, ob auf Fachtagungen, in einem Universitätsseminar oder im kulturpolitischen Diskurs, regelmäßig bildet diese Definition den Ausgangspunkt für die weitere Verständigung über Museen. 2 3 Als Publikation, welche wichtige Impulse für folgende Forschungen und Veröffentlich‐ ungen im deutschsprachigen Raum gesetzt hat, vgl. Fischer-Lichte (2001). 4 Definition des International Council of Museums (ICOM), die auf Englisch, Französisch und Spanisch veröffentlicht ist, siehe https: / / icom.museum/ fr/ ressources/ normes-et-li gnes-directrices/ definition-du-musee (abgerufen am 10.12.2022). 5 Siehe https: / / ich.unesco.org/ en/ convention (abgerufen am 10.12.2022). Zur kulturpoli‐ tischen Implementierung des Immateriellen als Teil der Museumsarbeit und analoger Rezeption in der Museumswissenschaft vgl. Schühle (2019: 12-14), oder auch online: htt ps: / / icom-deutschland.de/ images/ Publikationen_Buch/ Publikation_1_Mitteiungen_20 19_Heft.pdf (abgerufen am 22.7.2022). Davon unbenommen entzünden sich meine Überlegungen an einem anders gelagerten Aspekt. Sie stellen den einleitend umrissenen Ansatz einer Muse‐ umsdefinition nicht in Abrede und ergeben sich aus einer anderen Perspektive: Mich beschäftigt die Frage, warum Erinnerungskultur, für welche Museen als Institution in besonderer Weise stehen, in landläufiger Vorstellung so stark an Stein (i.e. Museumsbauten) und an das Materielle (i.e. Sammeln, Verwahren und Zeigen von Objekten) gebunden ist? Keine andere kulturelle Institution (Theater, Opern, Bibliotheken, Galerien etc.) ist so sehr mit dem Handlungsauf‐ trag des Erinnerns verbunden, wie es eben Museen sind. Indes: Finden sich Erinnerungen und Identitäten nicht gerade auch in performativen Akten gelebt und tradiert? 3 Als „Gegenstand“ musealen Tuns ist in den o. g. Definitionen das „Erbe“ (engl. „heritage“, frz. „patrimoine“, span. „patrimonio“) 4 der Menschheit adres‐ siert. Darin ist, was für die Fragestellung dieses Beitrages ein wesentlicher Punkt ist, neben dem materiellen inzwischen auch explizit das immaterielle Kulturerbe eingeschlossen (weshalb der Begriff „Gegenstand“ hier auch in Anführungszeichen gesetzt ist). Für diese Entwicklung war die Verabschiedung der „Convention for the Safeguarding of the Intangible Heritage“ durch die UNESCO im Jahr 2003 ein Meilenstein. 5 An diesem Punkt offenbart sich das Problem nun nochmals genauer: Wie gehen wir mit Aufführungen - unter diesem Begriff soll an dieser Stelle immaterielles Kulturerbe subsumiert und insgesamt adressiert sein (vgl. Singer 1959: XIIf.) - im Kontext der Erinnerungskultur um? Wie verhalten sich immate‐ rielles Kulturerbe, i.e. Aufführungen (Feste, Rituale, Theater, Tanz, Gesang etc.), und materielles Kulturerbe, wie es Museen vornehmlich zeigen, zueinander? Wie verhalten sich Museen schließlich dazu, dass die heutzutage zunehmend diversen und auch in digitalen Medien sich zeigenden Öffentlichkeiten ihre kulturellen Zeugnisse immer häufiger als Aufführungen hervorbringen, etwa über YouTube-Kanäle oder TikTok-Beiträge, und dass sich kulturelle Werte in diesen Räumen transformieren (vgl. Reckwitz 2019)? Die Aufgabenstellung 106 Christian Horn 6 E-Mail von Matthias Warstat und Friedemann Kreuder, 15.03.2022. 7 Beispielhaft seien hier Tino Sehgal (u.a. Museum der Bildenden Künste/ Leipzig, 7.04.2022-24.07.2022) und Natascha Sadr Haghighian (Deutscher Pavillon, 58. Biennale Venedig, 2019) genannt. Ihre Arbeiten rühren auch an philosophischen und ästheti‐ schen Diskursen, dem Verhältnis von Subjekt und Objekt beziehungsweise der Arbeit an einer Überwindung dieser Dichotomie. „Dass ein solcher Ansatz Abstand nimmt von der ohnehin nur konstruierten Objektivität der Kunsterfahrung, liegt auf der Hand. Stattdessen verhandelt er deren Subjektivität, ohne dabei jedoch der reinen Introspektion oder Beliebigkeit den Weg bahnen zu wollen. Alle Kunsterfahrungen sind subjektiv“ (Umathum, 2011: 23). dieser Festschrift, wie sie von den Herausgebern formuliert ist, bildet damit nur eine größere Folie für diese Fragestellung: „Welchen Stellenwert haben Aufführungen heute in der Gesellschaft, wie ändert sich ihre Funktion im Wandel von medialen Konstellationen und Öffentlichkeiten? ” 6 Diese Problemstellung betrifft meines Erachtens insbesondere (kultur-)ge‐ schichtliche Museen, sodass deren Betrachtung hier im Vordergrund steht, doch sie ließe sich auch für weitere Museumstypen, also Kunst-, Naturkunde-, Technik- und Gewerbemuseen, vertiefen. In die Betrachtung von Museen als Hort des Materiellen fließen - neben der oben bereits erfolgten Exponierung des „Baus“ und der „Artefakte“ - auch Medien ein. Sie reichen von analogen bis zu digitalen Techniken. In einem begrenzten Umfang können sie performatives Erbe vermitteln, es aber nicht sui generis zeigen: von der Höhlenmalerei über Darstellungen der Antike (Mosaike, Vasenmalerei, Skulpturen, Grabstelen) bis hin von zum Beispiel Tonrollen oder Videoaufnahmen, welche performative Ausdrucksformen für uns vergegenwär‐ tigen. Doch wie wir es auch drehen und wenden: Im Grunde bleiben in Museen der Repräsentationsform nach ausschließlich Gegenstände präsent, auch wenn uns diese performative Akte zeigen mögen. Der performative Akt selbst ist in Museen nur in Ausnahmesituationen zu sehen und zu erleben, etwa im Zuge einer Ausstellungseröffnung durch einen ergänzenden musikalischen oder anderweitig performativen Beitrag (was meist bloß schmückendes Beiwerk bleibt) oder wenn Künstler: innen just diesen Umstand, dass performative Reprä‐ sentationen von musealen Repräsentationsformen in der Regel ausgeklammert sind, in (Kunst-)Museen thematisieren. 7 Sofern sich Museen immateriellen Kulturgütern widmen, bedeuten die Er‐ findungen der Fotografie, der Tonaufnahme und der Bewegtbilderzeugung gleichwohl epochale Hilfestellungen für Prozesse des Erinnerns. Diese Techno‐ logien können performatives kulturelles Erbe in einem begrenzten Rahmen vergegenwärtigen. Technologien der Fotografie und der Tonaufnahme stehen, überschlägig betrachtet, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung. Frühe Mehr Leben im Museum? 107 8 Ein einschlägiges Beispiel bietet das Schloss Torgau, das den Wettinern als Regierungs‐ sitz diente, bis durch den Übergang der Kurwürde von der ernestinischen auf die albertinische Linie das Machtzentrum nach Dresden verlagert wurde. Hier hat das Ausstellungsbüro WhiteBox (Dresden) die kurfürstlichen Gemächer, von denen außer den Raumkubaturen kaum noch historische Zeugnisse erhalten sind, mit technischen Hilfsmitteln und Instrumenten des Storytelling re-inszeniert (Eröffnung 2017). Filmaufnahmen sind zum Ende des 19. Jahrhunderts hin entstanden. Soweit die Vergegenwärtigung immateriellen Kulturerbes betroffen ist, können Museen also heutzutage mit technischer Hilfe - vor allem auch mit filmischen Anima‐ tionen - einiges wettmachen. Feste, Rituale, Theater und weitere performative Kulturtechniken können aufschlussreicher repräsentiert sein als ausschließlich durch textliche Beschreibungen oder durch von Menschenhand geschaffene bildliche Darstellungen. Im Übrigen profitieren Museen von diesem technischen Fortschritt nicht ausschließlich zur Vergegenwärtigung performativer Kultur‐ techniken, sondern auch, wenn es verlustbedingt das Fehlen historischer Artef‐ akte, also nicht mehr vorhandenes materielles Kulturerbe, zu kompensieren gilt. 8 Doch Museen stoßen schließlich dort an eine Grenze, wo die Präsentation des performativen Aktes selbst, die Aufführung, wo die Präsentation von Lebe‐ wesen, also von Tieren und Menschen, welche die eigentlichen Handlungsträger performativer Akte sind, ins Spiel käme. Für gewöhnlich sehen wir lebende Tiere in Zoos, nicht aber in Naturkundemuseen. Menschen, die sich in Szene setzen, sind im Theater, in der Oper, auf der Tanzbühne oder auf der Konzertbühne anzutreffen - in der Regel aber nicht in (kultur-)geschichtlichen Museen. Soweit eine solcherart empirische Betrachtung von Museen im Hinblick auf die Frage einer Museumsdefinition herangezogen wird, so zeigt sich, dass nicht die oben genannten fünf Handlungsfelder des musealen Tuns (Sammeln, Bewahren, Untersuchen, Präsentieren und Vermitteln) die primär entscheidenden Parameter sind, sondern vielmehr die konkret in Museen anzutreffenden Reprä‐ sentationsformen. Der Umstand, dass es dabei um die Pflege (kulturellen) Erbes geht, bleibt indes unbenommen. Jedoch: Ist die Abgrenzung der Institution „Mu‐ seum“ von performativen Repräsentationsformen, also Aufführungen, nicht offenkundig? Vieles spricht aus meiner Sicht dafür, dass die Gegenüberstellung der Institution „Museum“ (respektive ihrer klassischen Repräsentationsform „Ausstellung“) zum Genre der „Aufführung“ regelrecht konstitutiv für unser Verständnis von Museen ist. In Museen werden stillgestellte Objekte ausgestellt. Das Prozesshafte ist Museen zwar nicht gänzlich fremd, da sie uns, wie gesagt, auch Ton und Film zeigen. Doch das Lebendige ist in ihnen - Ausnahmen bestä‐ 108 Christian Horn 9 Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stelle dokumentiert sein, dass sich auch Positionen verteidigt finden, welche die Präsentation des Gegenständlichen in Museen als deren Kernmerkmal und primären Kulturbeitrag begreifen. Vgl. hierzu u.a. Dudley, Sandra et al. (2012). 10 Die Fondation Louis Vuitton bezeichnet ihren repräsentativen Neubau nicht als „Mu‐ seum“. Der Wortlaut des Internetauftritts lässt diesen Begriff vergeblich suchen, siehe https: / / www.fondationlouisvuitton.fr/ fr/ fondation (abgerufen am 11.07.2022). Der Ort wird hier stets als „Fondation Louis Vuitton“ oder als „Gebäude“ („bâtiment“ bzw. „building“, französisch- und englischsprachige Homepage) adressiert. tigen freilich diese Regel - nicht anzutreffen. Im Theater und in Aufführungen hingegen tobt das Leben, die Zeitenläufe werden gefeiert. 9 Beschäftige ich mich also mit der Gegenüberstellung von „Museum“ und „Aufführung“, kommen die vorgeblichen Selbstverständlichkeiten der Defini‐ tion von „Museum“ ins Rutschen. Es wird unübersichtlich. Betrachte ich ins‐ besondere (kultur-)geschichtliche Museen, für welche die Vergegenwärtigung performativer Akte (u.a. in Politik und Religion, aber auch in der Breitenkultur und in der Bedeutung performativer Repräsentationsformen wie Theater, Tanz, Musik und Gesang für die Kulturgeschichte) eine konstitutive Rolle spielt, so hätten diese Museen konsequenterweise nicht ausschließlich materielle Artefakte, sondern auch das immaterielle Erbe selbst auszustellen. Nicht bloß die Dokumentation des Performativen durch Artefakte wäre gefordert oder dessen mediale Vermittlung durch Ton, Bild und Film, sondern vor allem (notabene) auch die Präsentation von Aufführungen selbst wäre zu erwarten. Warum klammern Museen aber, wenn ich sie als Erinnerungsorte begreife, gemeinhin die unmittelbare Vergegenwärtigung performativer Akte durch Präsentationen des Performativen aus ihrem Arbeitsauftrag aus? 2 Exkurs I: Krawum in der Foundation Louis Vuitton, Paris Jenseits dieser theoretischen Überlegungen zum Institutionsbegriff „Museum“ ist die Frage des Verhältnisses performativer und musealer Repräsentation für mich persönlich impulsartig in den Vordergrund getreten, als ich im Jahr 2014 eine Ausstellung der Fondation Louis Vuitton in Paris besuchte. Von einer Metrostation kommend, lief ich den letzten Kilometer bis zur Fondation durch den Bois de Boulogne zu Fuß, wo Sexarbeiter: innen im Halbdunkel des frühen Abends auf Kundschaft warteten. Nach gut zwanzig Minuten hatte ich den Neubau von Frank Gehry erreicht. 10 Das Gebäude war erst jüngst fertiggestellt und eröffnet worden. Mit seinem architektonisch selbstbewussten Gestus zog es Besucher: innen in Scharen an. Im obersten Geschoss stand inmitten der Ausstellungsflächen ein Kubus, der sich durch eine Tür (oder war es bloß ein Mehr Leben im Museum? 109 11 Siehe https: / / youtu.be/ thkSo3e5TEM, https: / / youtu.be/ kErK_M5ETOg (beide zuletzt abgerufen am 10.12.2022). 12 Siehe http: / / www.digiart21.org/ art/ christian, https: / / youtu.be/ kErK_M5ETOg (beide zuletzt abgerufen am 10.12.2022). 13 Seitdem treibt mich der Akt des Schießens als ein Schlüsselmoment menschlicher Kultur um. Er tut dies in seiner faktischen, bedrohlichen, tödlichen Konsequenz, aber auch in seiner janusköpfigen Symbolkraft. Im Akt des Schießens zeigt sich unsere Kultur mit zwei Fratzen: einer barbarischen und einer genialischen. Der grausame Wille und die menschliche Fähigkeit, Leben mit einem Knopfdruck auszulöschen, bilden die barbarische Fratze. Das dafür in Jahrtausenden gesammelte Wissen zur schwerer, schallabsorbierender Vorhang? ) betreten ließ. Schätzungsweise (ich hatte mir damals keine Notizen gemacht und berichte aus dem Gedächtnis) maß dieser Kubus im Grundriss fünf mal fünf Meter. Gegebenenfalls war er ebenso hoch. In diesem Kubus war es ungeheuer laut. Daher gehe ich heute davon aus, dass dieser Kubus auch nach oben hin mit einer festen Decke vom übrigen Ausstellungsbereich abgeschirmt war. In seinem Inneren waren die Wände geweißt - obwohl ich mich wohl korrigieren muss: Jetzt beim Schreiben und im Zuge der Internetrecherche nach Videos von dem Kunstwerk entdecke ich zwei kurze Clips auf YouTube. Beide Aufnahmen zeigen den Kubus von innen als schwarz. 11 Vier Projektionsflächen waren vor den vier Wänden platziert. 12 Auf allen vier Flächen sah und hörte ich Schussszenen aus Spielfilmen. Sie ereigneten sich in so rasanter Folge, dass sich ein Höllenlärm auftat. Meist zielten die Pistolenläufe unmittelbar auf mein Gesicht ab oder waren zumindest auf mich als Betrachter gerichtet. Die nackte Gewalt schockierte mich. Doch wie sich Salz in Wasser auflöst und es, wenn auch stofflich nicht verschwunden, bald nicht mehr sichtbar ist, so löste sich auch dieses Gefühl schleichend in einer anderen Stimmung auf: Nachdem etwas Zeit vergangen war und ich in diesem Raum schlicht „ausgehalten“ hatte, musste ich lächeln. Das blindwütige Geballere, diese rasante und endlose Folge von Schüssen nutzte zu ihrer künstlerischen Inszenierung das rhetorische Stilmittel der Übertreibung. Die Brutalität der einzelnen Szenen bekam in ihrer überbordenden Menge etwas Banales und Austauschbares. Bum - Schnitt - Bumbum - Schnitt - Bumbumbum - Schnitt - besonders lautes Krawumm - usw. usf. Wie bei einem Splatter-Movie ging Entsetzen in Amüsement über. Und noch eine dritte Wahrnehmungsebene stellte sich ein: Aus dem harten Klang der Schüsse, ihrem nicht enden wollenden Stakkato, kristallisierte sich nach einiger Zeit eine Art musikalischer Schönheit heraus. Auch das stand gänzlich im Gegensatz zu der Grausamkeit der einzelnen Ereignisse der Filmszenen. Das Medienkunstwerk, das ich hier hörte, sah und erlebte, hieß Crossfire und war von Christian Marclay geschaffen. 13 Es ist einzuräumen, dass diese Arbeit Marclays keine Performance im eigentlichen 110 Christian Horn Herstellung dieser Waffen (Metallurgie, Mathematik, Ingenieurswissenschaft etc.) und die Perfektion ihres Gebrauchs bilden die genialische Fratze. 14 Auch die Ausstellung David Bowie Is, die im Victoria and Albert Museum (2013) eröffnet wurde und weltweit, darunter im Gropius Bau in Berlin (2014), zu sehen war, bleibt für mich eines der außergewöhnlichen Beispiele dafür, sich mit musealen Mitteln der Kraft und Sinnlichkeit von Aufführungen zu nähern. 15 In den Jahren 2016-2020 war ich in Altenburg als Schloss- und Kulturdirektor tätig. Sinne darstellt (wie sie etwa Chris Burden mit einer Schusswaffe im Jahr 1971 in New York an sich vollziehen ließ). Doch sie steht für mich zumindest symbolisch - vor allem auch durch ihre sinnliche (wenn auch technisch reproduzierte) Intensität (für die auch ihre Zeitlichkeit und Dauer wesentlich ist) 14 - für den Einbruch des Theatralen in ein Museum 3 Exkurs II: Theorien des Ästhetischen in der Mecklenburgischen Straße, Berlin Eine der Lektionen, für die ich Erika Fischer-Lichte als Professorin und Doktor‐ mutter dankbar bin, ist der Hinweis, hinzuschauen. Dazu wurden wir durch das Instrument der Aufführungsanalyse immer wieder angeregt und angehalten, ja erzogen. Ich setze das Verb erzogen an dieser Stelle absichtlich nicht in An‐ führungszeichen, auch wenn die akademische Lehre und der Freiheitsanspruch der Forschung sich an diesem pädagogischen Duktus reiben mögen - denn es handelte sich um eine ästhetische, keine doktrinäre Erziehung. Die Seminare „Theorien des Ästhetischen I“ und „Theorien des Ästhetischen II“, die Erika Fi‐ scher-Lichte zusammen mit Doris Kolesch noch am alten Institutsstandort in der Mecklenburgischen Straße abgehalten hat, gehören zu meinen eindrücklichsten Lektüre- und Lehrerfahrungen während des Studiums an der Freien Universität Berlin. 4 Praxisbeobachtung Zur weiteren Behandlung der zentralen Fragestellung dieses Beitrags folge ich nun diesem Pfad des Hinschauens. Ich blicke auf vier Projekte, die in einem Museum in Altenburg (Thür.) realisiert wurden und von denen ich im Kontext meiner vormaligen dortigen Berufstätigkeit - also als teilnehmender Beobachter - erzähle. 15 Knapp vor der heutigen Landesgrenze zu Sachsen und an der ehemaligen Via Imperii gelegen, blickt Altenburg auf eine ereignisreiche Geschichte bis in das Mittelalter zurück. Das Residenzschloss der Herzöge von Sachsen-Altenburg, Mehr Leben im Museum? 111 das zu früheren Zeiten auch einer der Sitze der Kurfürsten von Sachsen war (sie zogen damals noch von Residenz zu Residenz, ähnlich wie die Kaiser ihre Pfalzen wechselten), besitzt eine weit über zehn Jahrhunderte reichende Baugeschichte. Kein Spaten darf hier auf dem Hof oder im Schlosspark in das Erdreich gestoßen werden, ohne dass der Denkmalschutz einbezogen wäre. Mit dem Schloss, das noch einige (heute zumeist verdeckte) Zeugnisse der Renaissancearchitektur enthält, wurde vermutlich eine ehemalige Kaiserpfalz überbaut oder zumindest in deren unmittelbaren Nachbarschaft der Machtbezirk weiterentwickelt. Auf alle Fälle war Kaiser Barbarossa gleich mehrfach in Altenburg zugegen. Die ehe‐ mals reichsweite Bedeutung des Ortes zeigt sich auch darin, dass Barbarossa hier die Wittelsbacher zu den Herzögen von Bayern erhob. Dass Jahrhunderte später eine Tochter des Herzogs von Sachsen-Altenburg kraft Heirat in das bayerische Königshaus auch zur Namensgeberin für die dortige Theresien-Wiese wurde, ist einerseits von eher anekdotischem Wert, steht andererseits aber auch für die europaweite Heiratspolitik des Hauses Sachsen-Altenburg. Durchaus erhaben thront das Schloss bis heute auf einem Porphyrfels. Touristisch betrachtet, entspricht es im Äußeren wie auch im Inneren - etwa durch einen opulenten Festsaal - populären Vorstellungen, wie ein „prächtiges“ Schloss „wirklich“ auszusehen habe, wenngleich auch Verfall und mangelnde Restaurierungsgelder vom Zahn der Zeit künden. Wir haben in diesem Residenzschloss Ausstellungen gestaltet, die dem her‐ kömmlichen Anspruch an Schlösser entsprechen, welche also die Präsentation des historischen Baukörpers und seiner Räumlichkeiten in den Vordergrund rücken oder unmittelbar Themen der Macht- und Territorialgeschichte auf‐ greifen. Hierzu gehörte auch die Eröffnung der vollständigen Flucht der ersten Schlossetage für die Öffentlichkeit. Seit der Abdankung der deutschen Fürsten im Jahr 1918 waren diese repräsentativen Räume, darunter ein Jagdzimmer und die herzogliche Bibliothek, noch nicht in ihrer Gesamtheit museal erschlossen. Ebenso eine große jährliche Sonderausstellung und verschiedene kleinere Aus‐ stellungen zählten zu den Angeboten für die Museumsbesucher: innen. Abgesehen von diesen üblichen, wenig überraschenden Maßnahmen der Ausstellungs- und Museumsarbeit schoben sich mit weiteren Projekten, die in diesem Beitrag vorgestellt sein sollen, auch performative Repräsentations‐ techniken in den Museumsalltag. Aufführungen als Teil der Erinnerungskultur machten die Schlossarchitektur zu ihrer Szene und Kulisse; natürlich nicht nach Belieben, sondern im Kontext des programmatischen und kuratorischen Grundsatzes, das Schloss, seinen Hof und alle weiteren Gebäude als Ort des öffentlichen Dialoges für heute geführte Diskurse zu profilieren. „Museum“ wurde also weniger im engeren Sinne als „Sammlungsort“, sondern vielmehr im 112 Christian Horn 16 Die Produktion hatte am 28.07.2018 in Altenburg Premiere. Sie war im Anschluss an weiteren Orten in Deutschland zu sehen und zu hören (Bauhaus Dessau (9.3.2019), Halle/ Saale (2.7.2019), Münster und Umgebung (25.08.2019-27.08.2019). Ursendung der ebenfalls produzierten Radiofassung bei Deutschlandfunk Kultur am 17.11.2018, vgl. https: / / www.hoerspielpark.de/ website/ titel/ der-absprung (zuletzt abgerufen am 10.12.2022). erweiterten Sinne als Diskurs- und Erinnerungsort begriffen. In dieser heutigen Aneignung des Ortes steckt die historisch analoge Betrachtung, dass Schlösser in den frühen Jahrhunderten ihrer Entstehung und Nutzung als Fürstensitze ebenfalls bereits Schmelztiegel von Politik, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Philosophie waren. Jürgen Habermas hat diesen kommunikationstheoretischen Aspekt durch den Begriff der „höfischen Öffentlichkeit“ (Habermas 1990) erfasst. Was ließ sich in diesem Arbeitsprozess der Zusammenführung des Musealen mit dem Performativen nun beobachten? Wie verhielten sich die beiden Reprä‐ sentationsformen „Museum“ und „Theater“ (als eine unter vielen performativen Kulturtechniken) nun zueinander, wenn sie als Raum und Ereignis zusammen‐ trafen? Auf diese Fragen soll der Blick anhand von vier Fallbeispielen gerichtet sein. Der Absprung  16 Mit der 20-Kanal Audioinstallation Der Absprung öffnete sich das Schloss als Museum räumlich: Aus einem Fenster des Festsaales im ersten Obergeschoss ragte ein blaues Sprungbrett heraus, wie es gemeinhin aus Schwimmbädern bekannt ist. Es zeigte in das Innere des Schlosshofes. Das Publikum saß in dem Hof zu Füßen des Festsaales, Open Air. Aus zwei Dutzend Lautsprecherboxen waren die Stimmen von Bürger: innen, Politiker: innen, Journalist: innen und Schauspieler: innen zu hören, welche von Profi- und Laiendarsteller: innen ein‐ gesprochen worden waren. Das von Paul Plamper verfasste und aufgenommene Hörspiel spielt in einer ostdeutschen Kleinstadt und aus den unterschiedli‐ chen Perspektiven der genannten Personen wurden Fragen um Zuwanderung debattiert. In diesem Hörspiel schlagen die lokalpolitischen Spannungen in Auseinandersetzungen über. Sie eskalieren, als es zu einem Übergriff auf einen farbigen Schauspieler am örtlichen Theater kommt. Das auch technisch höchst aufwendige Hörspiel ist als eine Ko-Produktion des Schloss- und Kul‐ turbetriebes Altenburg mit dem WDR entstanden. Elf auf Stativen fixierte Lautsprecher, welche in ihrer Höhe ungefähr der Größe erwachsener Menschen entsprachen, waren wie eine Menschengruppe in kleineren Abständen auf dem Schlosshof positioniert. Durch die zwanzig Tonkanäle wurde für die Zuhörer: innen, die zwischen diesen und weiteren Lautsprechern saßen, der Mehr Leben im Museum? 113 raumklangliche Eindruck simuliert, sich inmitten von Menschenansammlungen zu befinden. Sobald durch einen Politiker eine Ansprache erfolgte oder ander‐ weitige Protagonist: innen zu einer Gruppe von Menschen sprachen, kamen die Stimmen aus demjenigen Lautsprecher, der auf dem Sprungbrett oben im Fenster des Festsaals installiert war. Schließlich hatte das Sprungbrett auch noch eine zweite Funktion für den Erzählablauf, nämlich dass sich der Protagonist am Ende von diesem Sprungbrett aus gewissermaßen ins „Nichts“ verabschiedet und nicht mehr gesehen wird. Abb. 1: Der Absprung. Bild: Christian Horn. 114 Christian Horn 17 Residenzschloss Altenburg (18. und 19.10.2019), Videodokumentation unter https: / / vi meo.com/ 459061200 (abgerufen am 10.12.2022), siehe auch https: / / www.openpavillon. eu/ cabaret (abgerufen am 10.12.2022). Der Neue Mensch  17 Das Cabaret Der Neue Mensch: Ein Fest | Salon wurde im Festsaal des Resi‐ denzschlosses Altenburg inszeniert. Es handelte sich um eine site-specific performance, die im Kontext von 100 Jahren Bauhaus die gelebte Auseinan‐ dersetzung mit und Fortschreibung von an Material und Orten gebundenen Arbeitsprozessen suchte. Um die Produktion vor Ort zu erarbeiten, waren Mitglieder der Other Music Academy aus Weimar nach Altenburg gekommen. Unter Einbindung weiterer Gastkünstler: innen wohnten sie für einige Wochen in einer Gästewohnung auf dem Residenzschloss und an anderen Orten in der Stadt. Sie arbeiteten in der ehemaligen Hofküche, deren Zugang unmittelbar vom Schlosshof abführt und die sich im Souterrain des Festsaalflügels befindet. Hier hatte das Team ein kleines Soundstudio, eine Schneiderwerkstatt und ein Atelier für Workshops eingerichtet. Da an der Entwicklung der Aufführung viele Bürger: innen beteiligt waren (unter anderem mit einem Bürgerchor), wurden diese und weitere Räume des Schlosses sowie der Schlosshof für den kooperativen Arbeitsprozess genutzt. Zum Beispiel fanden Workshops mit den Mitgliedern der Laientheatergruppe Altenburger Mitspielerakademie und mit Schüler: innen des Förderzentrums Erich Kästner statt. Der Abend folgte dem Prinzip der szenischen Collage. Mit einer Band, dem Bürgerchor, Tänzer: innen und Schauspieler: innen besaß er Anklänge der Agit-Prop-Ästhetik und gewann Happeningcharakter. Ersteres zeigte sich in Transparenten und Schildern, auf denen Begriffe standen, die in der Debatte über die Zukunft des „neuen“ Menschen für die Akteur: innen wichtig waren. Letzteres stellte sich u.a. durch ein Catering her, sodass das Publikum in der Pause der Aufführung auch im Festsaal speiste. Szenisch wurde so in den „Zuckerbäcker-Stil“ des Festsaales - er gehört zu den größten und schönsten Schlossfestsälen in Mitteldeutsch‐ land und wurde in der Bauplanung durch Friedrich August Stüler begleitet - eine performative Ästhetik eingeführt, die der geschlossenen, auf Symmetrien und materieller Pracht abgestellten baulichen Gesamtleistung das Tun vieler einzelner Menschen und ihre persönlichen Standpunkte einschrieb. Mehr Leben im Museum? 115 18 Residenzschloss Altenburg (Ausstellungseröffnung am 19.05.2018). Abb. 2: Der Neue Mensch: Ein Fest | Salon. Bild: www.thisismywork.online - Other Music Academy. Intrige im Goldsaal  18 Unter den hier aufgezählten vier Formaten ist dieses das einzige, das keine menschlichen Darsteller: innen mit einbezog - das aber Artefakte als Protago‐ nisten und Allegorien inszenierte und insofern auf einem szenischen Ansatz aufbaute. Zur Entstehung der Ausstellung wurde eine (fiktive) Geschichte ausgerufen: Laut dieser hatten sich die Sammlungsgegenstände, die in den Ma‐ gazinen, den Tiefkellern und auf dem Dachboden des Residenzschlosses lagern, 116 Christian Horn 19 Zu dieser Erzählung siehe auch den Ausstellungstrailer unter https: / / youtu.be/ iBHf8O JxmW4 (abgerufen am 10.12.2022). gegen die Sammlungsverantwortlichen und die Museumsmitarbeiter: innen erhoben. Die Objekte hatten beschlossen, sich aus dem Dunkel ihrer Verschläge zu befreien und sich im Glanz prächtiger Räumlichkeiten - darunter der Goldsaal (Teil der „Russischen Zimmer“) und der Festsaal - unter den Augen der Ausstellungsbesucher: innen zu sonnen. Hier buhlten und wetteiferten sie nun um deren Aufmerksamkeit. 19 Entsprechend lautete der vollständige Titel der Ausstellung: Intrige im Goldsaal: Eine Sammlung schlägt zurück. Die Formationen, welche die Sammlungsobjekte einnahmen, orientierten sich weder an klassischen Sammlungssystematiken noch an anderweitigen Taxonomien der Einrichtung von Ausstellungen (z.B. chronologische oder nach gesellschaftlichen Sektoren erfolgte Anordnungen). Die Artefakte hatten ihre Aufstellungen und Gruppierungen kraft Ähnlichkeit, materieller Verwandt‐ schaften oder anderen, unbekannt bleibenden Gründen durch die Augen der Szenografin hindurch gewählt. Der Ausstellungsgestalterin Lotte Boonstra, welche in diversen Theaterprojekten als Kostüm- und Bühnenbildnerin sowie Szenografin tätig ist, war dazu grundsätzlich freie Hand gelassen. Sie hatte Objekte aus den Magazinen des Schloss- und Kulturbetriebs zusammengetragen und in den Ausstellungsräumen u.a. nach ästhetischen Gesichtspunkten arran‐ giert. Somit war eine Rauminstallation entstanden. In diese war auch die per‐ sönliche Sammlung einer der Hausmeister des Residenzschlosses eingeflossen. In den vielen Jahren seiner Diensttätigkeit hatte er Objekte, die herrenlos oder mitunter bereits zur Entsorgung vorgesehen waren, in leerstehenden Wirtschaftsgebäuden des Schlosses zwischengelagert und somit vor dem Verlust bewahrt. Dieser ersten Ausstellungssektion im Erdgeschoss des Festsaalflügels stand nun eine zweite Sektion in dem darüber gelegenen Festsaal gegenüber. Hier hatte die Autorin und Bloggerin Cindy Hiller zu sieben Artefakten, die in besonderem Maße für Ordnungsprinzipien stehen (Uhr, Schwert etc.) Monologe verfasst. „Zeit“, „Recht“ und weitere als Allegorien auftretende Objekte sprachen in der Ich-Person über ihre Bedeutung für eine geordnete Welt. (Vermeintliches) Chaos in Erdgeschoss und (vermeintliche) Ordnung im ersten Obergeschoss standen sich gegenüber. Gekoppelt und zugänglich waren diese zwei Ebenen durch ein Treppenhaus, in welchem genau diese beiden Extreme durch eine aufwändige Wandmalerei, geschaffen von Ralf Hecht und Susann Seifert, zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden. Mit der Intrige im Goldsaal wurde im Grunde ein Dilemma musealen Arbei‐ tens thematisiert, ja zum dramaturgischen Prinzip der Ausstellung erhoben. Das Mehr Leben im Museum? 117 20 Ausstellung vom 14.11.2018-22.05.2019. Dilemma spannt sich zwischen dem Handlungsauftrag des Sammelns auf der einen Seite und anhaltender institutioneller Überforderung in der Umsetzung dieses Auftrages auf der anderen Seite auf. Denn während Nachlässe, Auktions‐ angebote und weitere Zugangsweisen von Objekten die Magazine früher oder später aus den Nähten platzen lassen, die Pflege der Inventare kaum Schritt halten kann und die Anforderungen der Digitalisierung immer dringender werden, bleiben die Magazinflächen baulich begrenzt und finanzielle Mittel für Personalgelder zu knapp. Mit Christoph Schlingensief ließe sich sagen, dass das Ausstellungsprojekt Intrige im Goldsaal seinen energetischen Ausgang in der Erkenntnis von „Scheitern als Chance! “ nahm. Abb. 3: Intrige im Goldsaal. Bild: Christian Horn. Altenburger Kunsthütte  20 Die Ausstellung der Altenburger Kunsthütte verfolgte in verschiedener Hinsicht Ansätze des Reenactment. Bei der „Altenburger Kunsthütte“ handelte es sich ursprünglich um eine durchaus als „verschworen“ bezeichenbare Gemeinschaft ausschließlich männlicher Altenburger Künstler und Bürger. In den Jahren ihres Bestehens zwischen 1919 und 1938 zählte die Kunsthütte rund vier Dutzend Mitglieder. Ihr Gründer und Spiritus Rector Otto Pech ist bis heute für sein 118 Christian Horn grafisches Schaffen bekannt. Die Rituale, Feste und Rauminszenierungen, die er mit der Kunsthütte kreiert hat, sind allerdings bis zu dem Moment dieser Ausstellung der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben. Bis heute harren sie ihrer wissenschaftlichen Aufbereitung (ebenso auch die siebzehn Kunstausstellungen, welche die Kunsthütte initiierte (vgl. Reinhold/ Vogel 2014: 87)). Die im Jahr 2019 in Altenburg realisierte Ausstellung war um verschiedene performative Angebote ergänzt. Das Programm machte das theatrale und ritu‐ elle Wirken von Otto Pech und seinen Mannen, hundert Jahre nach Gründung der Kunsthütte, erstmals ausführlich öffentlich zum Thema. Als Kernelement der Ausstellung war der zentrale Ort der historischen Zusammenkünfte der Kunsthütte-Mitglieder, ein Raum in einem heute nicht mehr erhaltenen Altenburger Gasthof, nachgebildet. Das längliche Zimmer war nicht nur bildnerisch ausgestaltet, sondern auch baulich durch eine Bühne und eine Bodenluke für verschiedene Feste, Aufführungen und Rituale hergerichtet. Mit seiner Nachbildung in den Ausstellungsräumen des Residenzschlosses war es nun gleich einem Bühnenbild zu betrachten. Otto Pech und die seinen hatten es akribisch eingerichtet. Dass dieses Wissen heute nicht vollständig verloren gegangen ist und dass materielle Zeugnisse des Tuns der Kunsthütte gesammelt sind, ist in großen Teilen dem Altenburger Grafiker und Sammler Alexander Vogel zu verdanken. Das wichtigste Zeugnis über das Tun der Kunsthütte, das Kunstwerk und Dokumentation zugleich ist, hat ihr Gründer Otto Pech selbst hinterlassen: In acht sogenannten Kunsthütte-Büchern hat er den Erzählkosmos, die Regeln und Dramaturgien der Rituale und Feste in Schrift und Bild dokumentiert und mitunter um Ausschnitte aus Zeitungen und andere Zeitdokumente ergänzt. Weiterhin sind ein Protokollbuch und ein Hütteeckebuch (Ableger der Kunsthütte) erhalten sowie zwei Gästebücher (ein drittes gilt als verschollen). Die Werke befinden sich als Dauerleihgaben einer Nachfahrin von Otto Pech in Verwahrung im Schloss- und Kulturbetrieb in Altenburg. In der Ausstellung wurden zudem die Regeln, Abläufe und Objekte ver‐ schiedener, saisonal wiederkehrender Rituale und Feste erläutert. Auch das Aufnahmeritual neuer Mitglieder, das sich anhand eines in den Erdboden eingelassen Schachtes und unter Nutzung einer besonderen Brille vollzog, wurde beschrieben. Bei diesem Ritual bekamen die Initianten ihren Namen und ein Bildzeichen als neue Mitglieder der Kunsthütte verliehen, mit dem sie fortan in dem Verbund - gleich einem „Avatar“ in heutigen Rollenspielen - agierten. Des Weiteren fanden Veranstaltungen statt, mit denen das Tun der Kunsthüte nacherlebt werden konnte. Hierzu gehörte die szenische Nachstellung des Aufnahmerituals. Der Altenburger Autor Christian Weber hatte einen Grup‐ Mehr Leben im Museum? 119 21 Zur Erklärung dieser Attraktion könnte der Begriff des „Auratischen“ herangezogen werden. Ich vermute, dass sich die Anziehung aus dem baulichen, handwerklichen, atmosphärischen und somit auch ästhetischen Können speist, das historische Gebäude in sich tragen. Vermutlich wird über den Lauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten das, was erhaltenswert scheint, in die Zukunft geführt, erhalten oder behutsam umgestaltet. Was hingegen unattraktiv erscheint, wird vernachlässigt, abgerissen oder überbaut. Davon unbenommen entscheiden in nicht geringem Maße Kriege und Katastrophen über den Fortbestand von Gebäuden. pendialog verfasst, welcher von der Altenburger Mitspielerakademie auf einer Bühne im Schlosshof aufgeführt wurde. Weiterhin wurden Kunsthütten-Abende durch zwei Schlossmitarbeiter organisiert, wobei Florian Voss in die Geschichte der Kunsthütte einführte und Christian Landrock an diesen Abenden Otto Pech verkörperte. Künstler der Stadt Altenburg, darunter Peter Schnürpel und Ralf Hecht, waren an diesen Abenden als Gäste zugegen und gestalteten ein nun neu angelegtes Kunsthütte-Buch. Abb. 4: Nachbau der Kunsthütte. Bild: Christian Horn. Was sind die Erfahrungswerte dieser Veranstaltungen, in denen sich Museums‐ arbeit in Aufführungen vollzog? Aktivierung und Interesse: An historischen Orten agieren und arbeiten zu können, ist für viele Menschen im hohen Maße attraktiv. 21 Wenn wir diese 120 Christian Horn Akteur: innen nach zwei Gruppen unterteilen - Laien und Professionelle -, so ist der Anreiz womöglich nochmals weitergehend zu unterscheiden. Während Laien durch das Agieren an diesen Orten plötzlich Zugangs- und Ausdrucksmöglichkeiten erhalten, die ihnen für gewöhnlich vorenthalten sind (sie dürfen zum Beispiel nun in einem Festsaal den Konzertflügel musikalisch traktieren oder sich dort in allen möglichen Stimmlagen artikulieren), schätzen und erkennen insbesondere Professionelle die architektonischen und künst‐ lerischen Raffinessen des historischen Erbes und der ihnen zur Verfügung gestellten Handlungsumgebungen. Auf alle Fälle war es für keines der vier oben genannten Projekte schwierig, motivierte und neugierige Akteur: innen und Mitstreiter: innen zu gewinnen. Öffentliche Akzeptanz performativer Strategien des Erinnerns: Die oben ge‐ nannten Veranstaltungen erfreuten sich bei den Besucher: innen großer Beliebt‐ heit. Es war gerade nicht so, dass Aufführungen in musealer Umgebung als störend empfunden worden wären, sondern ganz im Gegenteil: Die Lebendig‐ keit wurde lobend hervorgehoben und erfreute sich großer Nachfrage. Einträge im Besucherbuch des Residenzschlosses zum Beispiel bezüglich der Ausstellung Intrige im Goldsaal oder Presseberichterstattungen über Der Absprung und über Altenburger Kunsthütte brachten dies zum Ausdruck. Freiraum für ästhetisches Experimentieren: Eine vertiefende ästhetische Be‐ trachtung der vier Projekte müsste Gegenstand einer eigenständigen Unter‐ suchung sein, welche in diesem Textbeitrag nicht geleistet werden kann. Allerdings lässt sich beobachten, dass in den Projekten sowohl vielfältige und divergierende Perspektiven (z.B. Der Absprung, Intrige im Goldsaal) als auch sehr persönliche Perspektiven (z.B. Der neue Mensch) zugelassen wurden und dass diese konstitutiv für Dramaturgie und Ästhetik waren. Im Grunde lässt sich feststellen, dass es gerade der Widerstreit dieser Perspektiven war, welcher im Mittelpunkt des (historischen) Erzählens stand. Insbesondere in den Projektbeschreibungen zu Der Absprung und Intrige im Goldsaal ist dies umrissen. Womöglich präsentierten diese Produktionen Geschichte dramati‐ scher, widerstreitender und verlaufsoffener, als es museale Ausstellungen häufig leisten (können). „Festungsbau“ Museum schleifen: Performative Formen des Erinnerns stoßen Prozesse des Umdenkens für die Institution Museum auch in ihrer baukörper‐ lichen Gestalt an. Museen sind durch Alarmsysteme und klimatische Vorrich‐ tungen für die Bewahrung von Kulturgut ertüchtigt. Im Grunde bedeutet jede menschliche Bewegung in der Nähe von Kulturgut eine Gefahr für dieses (u.a. Klimabeeinträchtigung, Schädlingseintrag, UV-Strahlung, mechanische Schäden). Jeder und jede Beschäftigte einer Museumseinrichtung weiß zudem Mehr Leben im Museum? 121 ein Lied davon zu singen, wenn ein Schlüssel von Projektakteur: innen kurz‐ fristig erbeten wird, um Zugang zu einem Raum zu erhalten. Gleich ein Bündel von Fragen und Problemen taucht auf: Der Schlüssel darf nicht aus der Hand gegeben werden (Dienstordnung), zeitlich besteht häufig spontan nicht die Kapazität zur Begleitung der Akteur: innen (Dienstplan), die häufig erforderliche Deaktivierung von Wach- und Schließsystemen erfordert einen technischen Vorlauf etc. Gerade für Workshop-Räume und für Ausstellungs- und Veranstaltungsräume musealer Einrichtungen ist es aber unerlässlich, diese in jeder Hinsicht spontan und schwellenarm zugänglich zu halten. 5 Mehr Leben im Museum? Museen sollen und können nicht die „neuen“ und „besseren“ Theater, Tanz‐ bühnen, Festhallen oder Konzerthäuser sein. Dieser Schluss wäre abwegig. Doch meines Erachtens wirft uns die Konfrontation des Museumsbegriffs mit dem Begriff der Aufführung auf die äußerst produktive und dringlich zu behandelnde Frage zurück, warum wir Museen betreiben, was wir mit ihnen bezwecken und welche bestmöglichen Umsetzungsformen wir dafür finden. Diesen Fragen nachzugehen ist kein leichtes Unterfangen. Das „Wie? “ eines Museums zu diskutieren und mögliche Antworten auch mit einer Definition der Institution „Museum“ rückzukoppeln, ist anspruchsvoller, als bei der o. g. Listung der fünf Handlungsfelder Sammeln, Bewahren, Untersuchen, Präsentieren und Vermitteln als wesentliche Parameter einer Definition zu bleiben. Seit gut einem Jahrzehnt stehen „Inklusion”, „Partizipation” oder auch „Ci‐ tizen Science” hoch im Kurs musealen Arbeitens. Diese Maßnahmen zählen zu den Techniken der so genannten „Vermittlung” und rücken den Fokus auf das gemeinsame Tun der Expert: innen, die in Museen beschäftigt sind, mit der Zivilgesellschaft. Dieser Umstand ist ein Indiz, dass sich Museen inzwischen zunehmend auch als Agenten öffentlichen kulturellen Tuns begreifen. Damit rücken sie weiterhin von dem historisch gewachsenen Selbstverständnis des bloßen Schauortes, in dem auch die Subjekt-Objekt-Dichotomie steckt, ab. Sie lassen dabei im weitesten Sinne eine Überwältigungsästhetik durch Erzeugung des Affektes des Staunens (wie z.B. bei Kunstkammern seit der frühen Neuzeit oder bürgerlich-repräsentativen Sammlungen seit dem 19. Jahrhundert) hinter sich. Die aus verschiedenen Gründen offenkundige Krise von Museen - darunter Besucherrückgang, vor allem aber der Bedarf nach einer erforderlichen Reaktion auf historisch sich wandelnde Öffentlichkeiten und Zielgruppen - ist auch wissenschaftlich und kulturpolitisch längst diskutiert (vgl. Mohr/ Modarressi- Tehrani 2021). 122 Christian Horn 22 Auf die Bedeutung von Objekten und ihrer Sinnhaftigkeit für die Entstehung und Transformation kultureller Werte (jenseits des Einflusses menschlicher Subjekte) hat Bruno Latour nachdrücklich unter dem Stichwort des „Aktanten” aufmerksam gemacht (Latour 2005). 23 Erika Fischer-Lichte schrieb zum abendländischen kulturellen Selbstverständnis im Jahr 2000: „Diese überkommene Überzeugung vom besonderen Charakter der euro‐ päischen Kulturen ist durch neuere Entwicklungen - sowohl in unserer kulturellen Praxis als auch in den Kulturwissenschaften - nachhaltig erschüttert worden. Unsere Gegenwartskultur konstituiert und formuliert sich zunehmend nicht mehr in Werken, sondern in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung” (Fischer-Lichte, 2000: 9). Als Kulturhistoriker vertrete ich den Standpunkt, dass Museen Erinnerung‐ sorte sind, an denen wir unsere Gegenwart besser verstehen lernen können und die uns für die Herausforderungen der Zukunft besser rüsten. Ich bin mir dabei bewusst, dass bereits diese Festlegung auf die Frage des „Warum? “ mit dem Anspruch von z.B. Kunstmuseen kollidieren kann, wenn dort der Fokus auf die Schulung von Wahrnehmungen und unseres ästhetischen Empfindens gelegt ist. Doch womöglich liegen die Dinge auch nicht so weit voneinander entfernt, wie es zunächst scheint: Denn immer nachdrücklicher ziehen wir aus der ent‐ standenen neuen Form einer Mediengesellschaft die Lehre, wie feinsinnig wir mit politischen Textbotschaften oder Bildinszenierungen umgehen müssen, um diese adäquat (z.B. als authentische Zeugnisse oder in diskursiven Kontexten) auslesen zu können und um nicht der Verführung durch plumpe Parolen zu er‐ liegen, dass wir also unsere sinnlichen und kognitiven Kompetenzen trainieren müssen. Auch können sich Kunstmuseen nicht mehr auf das ahistorische, vermeintlich voraussetzungslose Erleben von Kunstwerken berufen, dessen romantisch gespeiste Annahme inzwischen als eine Fiktion dekonstruiert ist. Noch nie war Kunst ohne (kunst)geschichtlichen Kontext verständlich (übrigens auch nicht die figürliche bildende Kunst der Vormoderne - Allegorien wollen erkannt und verstanden sein! ). Sofern Museen also Erinnerungsarbeiter sind - ich begreife die Institution „Museum“ hier also im Sinne Bruno Latours als einen „Aktanten“, alle dinglichen Komponenten eingeschlossen - 22 und Einigkeit darüber besteht, dass Kulturbegriffe gleichermaßen materiell wie auch immateriell konstituiert sind, 23 ist die Frage hochaktuell, wie wir mit Aufführungen im Kontext dieser Erinnerungsarbeit umgehen. Diese Frage ist so grundsätzlich und ihre Konsequenzen sind so weitreichend, dass vorschnellen Antworten vorsichtig zu begegnen wäre. Sie erfordert breite Aushandlungsprozesse und immer wieder aufs Neue Bestimmungen von Such‐ feldern im Zuge historisch sich wandelnder Öffentlichkeiten. Vier Aspekte scheinen mir dabei in der aktuellen Diskussion über die Institution „Museum“ Mehr Leben im Museum? 123 24 Womöglich sind Großunternehmungen wie der Museumsneubau des Guggenheim in Bilbao ein letztes Aufbäumen gegen den Verfall der Vorstellung, dass sich Erinnerungs‐ kultur durch ein einzelnes Gebäude bändigen und hinreichend repräsentativ darstellen lässt. 25 Der Begriff der „Arena“ ist in jüngerer Zeit vor allem von soziologischer Seite verstärkt eingeführt, um Verhandlungsprozesse sich wandelnder Öffentlichkeiten zu betrachten und zu beschreiben. Andrew Abbott bemerkt: „It is useful to have a formal name for general zones of experience that are not yet constituted into particular locations vis-à-vis a particular ecology. I shall call such zones ‘arenas’” (2016: 40). Zu damit verbundenen kulturpolitischen Herausforderungen zur Implementierung und Fortent‐ wicklungen von Kulturinstitutionen vgl. den (kursorischen) Beitrag „Authentizität und Gemeinsinn in der Kulturpolitik“ von Tobias J. Knoblich (2022); vgl. auch Horn (2022). von besonderer Bedeutung. Erstens: In jedweder performativen Repräsentation performativen kulturellen Erbes wird der Faktor Zeit Berücksichtigung finden müssen im Sinne der Unmöglichkeit, ein vergangenes performatives Ereignis wieder vollumfänglich „herbeizaubern“ und erneut aufführen zu können. Dies ist jedoch kein Manko, sondern eine Chance. Die zwingend erforderliche Modulation im Moment der Aneignung bündelt die Energien zur Neuverhand‐ lung (kulturellen) Erbes in der Sinnhaftigkeit für Gegenwart und Zukunft. Aufführungen in Museumsumgebungen müssen dabei mitnichten im engeren Sinne der elaborierten Kunstform „Theater“ konzipiert sein, sondern können im breiten Kontext der „cultural performance“ (Singer 1959) z.B. als Vorträge oder Slams oder auch medial begriffen sein (z.B. als Podcasts oder Audio Walks). Zweitens: Die Institution „Museum“ zuvorderst als ein Gebäude, als eine primär „steinerne“ bauliche Repräsentationsform vor Augen zu haben, ist wohl kulturhistorisch überholt. Die Geschichte der Museen führt aus den fürstlichen Wunderkammern über die großbürgerlichen, städtebaulich domi‐ nierenden Museumsneugründungen des 19. Jahrhunderts in eine Gegenwart und Zukunft, in welcher Erinnerungskultur auch durch mediale Umbrüche längst vielfältiger verhandelt ist, als es ein einzelnes (Museums-)Gebäude noch hinreichend abbilden könnte. 24 Drittens: Museen sind heute und für die Zukunft vielschichtiger in ihren Repräsentationstechniken zu denken. Die Aura und der Wert von Artefakten bleiben aber auch für Reformulierungen eines gegenwärtigen und zukünftigen Museumsbegriffes von wesentlicher Bedeutung. Viertens: Es scheint mir angemessen und nützlich, Museen heute, als Agenten der Erinnerung, eher wie eine Arena zu denken, 25 welche physische Orte der Sammlungen, kontemplative Orte sinnlicher Schulung sowie virtuelle Ausstellungs- und Debattenräume multidimensional vereint. 124 Christian Horn Literatur Abbott, Andrew (2016). Processual Sociology. Chicago/ London: The University of Chi‐ cago Press. Deutscher Museumsbund e.-V., gemeinsam mit der Konferenz der Museumsberatung in den Ländern (KMBL) (Hrsg.) (2011). Leitfaden zur Entwicklung eines Museumskon‐ zepts. Berlin. Dudley, Sandra et al. (Hrsg.) (2012). The Thing about Museums: Objects and Experience, Representation and Contestation. London: Routledge. Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.) (2001). Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG Symposium 1999, Stuttgart/ Weimar: Metzler. Fischer-Lichte, Erika (2000). Theatralität und Inszenierung. In: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hrsg.). Inszenierung von Authentizität. Tübingen: Francke, 11-30. Habermas, Jürgen (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Horn, Christian (2022). Transferprotokolle: Kommunikation und Story-Telling in Stadt- und Regionalentwicklung. Bielefeld: Transcript. Knoblich, Tobias J. (2022). Authentizität und Gemeinsinn in der Kulturpolitik: Zur Genese einer „Krise des Allgemeinen“. Kulturpolitische Mitteilungen 177 (2), 47-49. Latour, Bruno (2005). Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network- Theory. Oxford/ New York: Oxford University Press. Mohr, Henning/ Modarressi-Tehrani, Diana (Hrsg.) (2021). Museen der Zukunft: Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements. Biele‐ feld: Transcript. Reckwitz, Andreas (2019). Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Reinhold, Renate/ Vogel, Alexander (2014). Otto Pech: Leben und Werk. Altenburger Traditions-Verlag: Altenburg. Schühle, Judith (2019). Auf die „inneren Werte“ kommt es an: Immaterielles Kulturerbe im musealen Fokus. ICOM Deutschland, Mitteilungen, 26 (1), 12-14. Singer, Milton (Hrsg.) (1959). Traditional India: Structure and Change. Philadelphia: University of Texas Press. Umathum, Sandra (2011). Kunst als Aufführungserfahrung: Zum Diskurs intersubjek‐ tiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal. Bielefeld: Transcript. Mehr Leben im Museum? 125 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Der Absprung. Bild: Christian Horn. Abb. 2: Der Neue Mensch: Ein Fest | Salon. Bild: www.thisismywork.online - Other Music Academy. Abb. 3: Intrige im Goldsaal. Bild: Christian Horn. Abb. 4: Nachbau der Kunsthütte. Bild: Christian Horn. 126 Christian Horn 3. Zugänge, Differenzen, Crossover 1 Siehe https: / / sophiensaele.com/ de/ archiv/ festival/ the-future-is-female (abgerufen am 30.11.2022). The future is fe: male* Queer-feministische Entwürfe von Zukünftigkeit Jenny Schrödl Im September 2017 findet in den Sophiensaelen in Berlin ein Festival unter dem Titel The future is F*E*M*A*L*E* statt, 1 das verschiedene Trends und ästhetischpolitische Veränderungen in der freien Szene markiert. Dies ist einerseits die im Titel ausgestellte explizite Ausrichtung auf Weiblichkeit, Feminismus sowie Geschlechterdiversität und andererseits die offensive Betonung von Zukunft und Zukünftigkeit. Beides sind Felder, die als dominante Themen in den zeitgenössischen performativen Künsten Einzug halten - das Festival im Jahr 2017 kennzeichnet die Hoch-Zeit des Zusammenspiels von neuer queerfeministischer, künstlerischer Bewegung mit Themen der Zukunft und Utopie. Und noch etwas ist gerade in Bezug auf die queer-feministische Auseinander‐ setzung mit Zukünftigkeit von Relevanz, das sich in der Aussage des Titels ‚The future is female‘ prophetisch zelebrierend mitteilt: Es geht in vielen der Produktionen gerade um Utopien, um positive Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen, wie eine bessere, gerechtere und diversere Welt aus feministischer Perspektive aussehen könnte. Dies setzt sich stark und überdeutlich von medial dargestellten Katastrophenszenarien der Gegenwart ab, aber auch von der Tendenz im gesamten 20. Jahrhundert (im Kontext zweier Weltkriege), Utopien eher als Dystopien auszulegen. „Utopiegeschichte“ wird laut Peter R. Werder „beinahe durch eine Dystopieschreibung abgelöst“ (2007: 10). Im Folgenden möchte ich zwei aktuelle queer-feministische Auseinanderset‐ zungen mit Zukunft vorstellen: Ruby Behrmanns/ Liliane Kochs Damengedeck 2.0 - Ein Rundgang durch die Zukunft (2020) und Swoosh Lieus Caring for/ from the future (2022), die in der Corona-Zeit entstanden sind, in einer Zeit also, die verstärkt dystopische Vorstellungen hervorbrachte und zu denen die Insze‐ nierungen durch die affirmativ gezeichneten utopischen Welten in Kontrast treten, was gleichsam als Kritik verstanden werden kann. Beide markieren zwei unterschiedliche Positionen (in Bezug auf Gender und Zukünftigkeit) - und sollen so das heterogene Spektrum von queer-feministischen Entwürfen von Zukünftigkeit andeuten. Zur Kontextualisierung beider Inszenierungen führe ich zunächst allgemeiner ins Feld der aktuellen queer-feministischen (performativen) Künste und ihren Umgang mit dem Thema der Zeitlichkeit ein. 1 Queer-feministische Kunst der Gegenwart und das Thema der Zeitlichkeit In den letzten Jahren lässt sich eine deutliche Schwerpunktsetzung auf ge‐ schlechtsspezifische, queere, feministische sowie intersektionale Thematiken und Fragestellungen in den performativen Künsten feststellen (siehe Schrödl 2019: 47 ff.). Waren die künstlerischen Auseinandersetzungen in den 1990er und 2000er Jahren in dieser Hinsicht zurückhaltender und verhandelten Gender und Queerness eher am Rande oder indirekt, so kommt seit gut einem Jahrzehnt eine Generation an Künstler: innen nach, die sich (wieder) selbstbewusst und explizit als feministische, queer-feministische oder queere Künstler: innen und Gruppen begreifen. Zu denken ist etwa an Kollektive wie chicks*, Frauen und Fiktion, Fräulein Wunder AG, hannsjana, Henrike Iglesias, Swoosh Lieu oder einzelne Künstler: innen wie Simone Aughterlony, Simone Dede Ayivi, Antonia Baehr, Olympia Bukkakis, Florentina Holzinger, Peter Frost, Jess Thom oder Vanessa Stern. Die künstlerischen Produktionen umfassen ein großes und diverses Spektrum an Geschlechterthemen, an ästhetischen Inszenierungsstrategien und -techniken, an Formen der Kritik, der Intervention sowie des Empowerments. Bei aller Heterogenität und Unterschiedlichkeit lassen sich einige zentrale Gemeinsamkeiten herausstellen, die ich kurz erläutern möchte: Zu beobachten ist ein deutlich erweitertes Verständnis von Geschlecht, das heißt, zeitgenös‐ sische queer-feministische Künstler: innen setzen sich nicht mehr allein mit Themen zu Weiblichkeit und Frausein, zu Männlichkeit oder Geschlechterdif‐ ferenz auseinander, sondern ebenfalls mit anderen Formen und Existenzweisen von Geschlecht (siehe Dreysse et al. 2020: 194). Zweigeschlechtlichkeit ist nicht mehr vorherrschendes Modell, an dem es sich abzuarbeiten und Kritik zu üben gilt. Geschlechtervielfalt bzw. -diversität wird in den Produktionen ausgestellt, und zwar sowohl in Bezug auf einzelne Geschlechter als auch in Bezug auf unterschiedliche Geschlechter, die von weiblich oder männlich über trans, genderqueer, nonbinär, genderfluid bis hin zu agender (u.a.) reichen. Damit verbunden werden intersektionale Fragestellungen und postsowie 130 Jenny Schrödl dekoloniale Perspektiven hervorgehoben. Viele der künstlerischen Arbeiten thematisieren die Überschneidung verschiedener Identitätskategorien und kriti‐ sieren damit Ungleichheiten, Diskriminierungen sowie Machtstrukturen. Diese Verschiebungen hin zu einem erweiterten Verständnis von Geschlecht, Femi‐ nismus und Queer(ness) schlagen sich auch in veränderten, neuen Begriffen und Selbstbezeichnungen der Künstler: innen und Kollektive wie ‚intersektio‐ naler Feminismus‘ oder ‚queer-feministische Kunst‘ nieder. Zudem ist das Bewusstsein dafür größer geworden, dass Kategorien wie Gender, Desire, Race, Dis_ability oder Class nicht nur als Themen auf der Bühne von Relevanz sind, sondern ebenfalls ‚hinter‘ der Bühne, in den Arbeits- und Probeprozessen. Queer-feministische Künstler: innen verhandeln derartige Themen eben auch in Bezug auf ihre Arbeitsverhältnisse und -strukturen, entwickeln in dem Zu‐ sammenhang neue Verständnisse vom gemeinsamen, kollektiven Arbeiten und künstlerischen Schaffen (jenseits traditioneller Genieästhetik). So formulieren es bspw. hannsjana: Unter queer_feministischer Kunst verstehen wir eine Art künstlerisch zu arbeiten, die sowohl gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse als auch Bedingungen der Kunstproduktion aus einer feministischen Perspektive betrachtet. (Hannsjana et. al 2020: 289) War in der feministischen Kunst der 1960er und 1970er Jahre Repräsentations‐ kritik an vorherrschenden, normativen Weiblichkeitsvorstellungen ein zent‐ rales Moment, stellen im Vergleich dazu gegenwärtige Künstler: innen stärker Diversität und Überlagerungen zwischen Lebensweisen affirmativ heraus. Dies zeigt sich beispielsweise am erhöhten und meist positiv besetzten Einsatz von hybriden Gestalten und dritten Figuren (wie Cyborgs, Tier-Mensch-Hybride, Monster) in queer-feministischen Produktionen der letzten Jahre. Bezüglich der Besonderheiten feministischer Strategien in der zeitgenössischen Kunst argumentieren auch Sigrid Adorf und Sabine Gebhardt Fink, dass es eine Verschiebung gebe „vom Primat der Repräsentationskritik zur Affirmation von Differenz, Vielheit, Non-Humanism und Konzepten von Teilhabe, Agency und Möglichkeitsräumen im Performativitätsdiskurs“ (2020: 7). Damit verändern sich ebenfalls Vorstellungen von Kritik: Strategien der Dekonstruktion und Subversion, die den Fokus stärker auf eine destruktive bzw. negative Effekte legen, werden ergänzt (teilweise ersetzt) durch affirmative, bejahende kreie‐ rende Strategien, bei denen das Schaffen von Etwas gegenüber dem Abgrenzen gegen Etwas überwiegt (siehe Schrödl 2019: 61). Vor diesem Hintergrund queer-feministischer Kunst der Gegenwart und einiger übergeordneter Merkmale lässt sich das Thema der Zeit/ Zeitlichkeit als The future is fe: male* 131 2 Siehe https: / / www.reactfeminism.org (abgerufen am 30.11.2022). ein besonderes Thema herausstellen. Zeitlichkeit aus queer-feministischer Per‐ spektive bedeutet oftmals eine Kritik an hegemonialen Zeitkonzepten wie ‚ho‐ mogener Zeit‘, ‚linearer Zeit‘ oder - mit Elizabeth Freeman gesprochen - ‚Chro‐ nonormativität‘ (2010). Temporalitätskritik ist laut Hanna Hacker verbunden „mit der Reflexion von Körperlichkeiten und Affekten. Sie betrachtet Zeitre‐ gimes und ihre Subversion auf der Basis von - gewählten oder erzwungenen - Körperpraktiken, definiert Zeit als verkörpert und sieht Körper wiederum durch queere Prismen.“ (2018: 21-22) Queer-feministische Künstler: innen formulieren in ihren Auseinandersetzungen mit Zeitlichkeit stets Gegenerzählungen in Form von ‚Gegenerinnerungen‘ und ‚Gegenzukünften‘ (siehe Gramlich 2020: 26), also Formen der Erzählungen, die in den hegemonialen Geschichtsschrei‐ bungen bzw. in der Entwicklung von zukünftigen Vor-Stellungen von Welt nicht oder nur am Rande vorkommen. In der queer-feministischen Kunst sind Auseinandersetzungen mit zeitlichen Dimensionen sowohl der Vergangenheit als auch von Zukunft zu beobachten, die sich in den Begriffen des Reenactments auf der einen Seite und des Pree‐ nactments auf der anderen Seite fassen lassen. Beide Tendenzen und Techniken überlagern sich durchaus, wie auch der von Adam Czirak et al. herausgegebene Sammelband Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft (2019) verdeutlicht. Dennoch lässt sich in Bezug auf queer-feministische Kunst eine gewisse Abfolge feststellen: Die 2000er Jahre sind eher geprägt durch Auseinandersetzungen mit Vergangenheit und Archi‐ vierung sowie mit ästhetischen Prozessen der Wiederholung und Aneignung, die 2010er Jahre bis zur Gegenwart eher durch Verhandlungen von Zukunft und Entwürfen von Utopien. Ästhetische Strategien des Reenactments oder der Re-Performance domi‐ nieren künstlerische Produktionen in den 2000er Jahren; viele von diesen Produktionen finden sich in dem umfassenden queer-feministischen Archiv‐ projekt von Bettina Knaup und Beatrice Ellen Stammer re.act.feminism - a performing archive, 2 „ein temporäres, wachsendes und lebendiges Performance‐ archiv, das zwischen 2011 und 2013 durch sechs Länder Europas wanderte“ (Knaup/ Stammer 2014: 193). Unter Reenactments sind Wiederaufführungen und komplexe Zitationspraktiken von historischen Performances zu verstehen, die zum Teil von denselben Performerinnen ausgeführt werden, wie Yoko Ono mit Cut Pieces (1965/ 2003) oder Faith Wilding mit Waiting (1972) und Wait- With (2007). Zum Teil werden diese Re-Performances aber auch von jüngeren Künstler: innen vollzogen, die sich entweder durch umfassende Recherchear‐ 132 Jenny Schrödl beiten und genaue Rekonstruktionen, oder durch lose Zitationspraxis den historischen feministischen Performances annähern, diese wiederaufgreifen, modifizieren und aneignen. Die Künstlerin Cornelia Sollfrank führte bspw. in Anlehnung an Valie Exports/ Peter Weibels Aus der Mappe der Hundigkeit (1968) einen männlichen Kollegen an der Hundeleine durch eine Shoppingmall in Hamburg (Le chien ne va plus (2006)). In ihrer Videoarbeit I must be (2003) greift Verica Kovacevska Marina Abramovićs Art must be beautiful, Artists must be beautiful (1975) auf. Sands Murray-Wassink bezieht sich in seiner Performance Town Hall Philosophical Living Color Drawing (2008) auf Carolee Schneemanns Performance Interior Scroll (1975) und Annie Sprinkles PostPornModernist (1989). Dabei geht es in den wiederholten und verschobenen Performances nicht um historische Rekonstruktionen, wie Bettina Knaup betont, „nicht um eine nostalgische Rückschau, um ein Defizit kreativer Imagination im Hier und Jetzt oder um eine selbstbezügliche, auf Historisierung angelegte Kunstpraxis“ (2014: 220). Im Mittelpunkt stehe hingegen gerade umgekehrt ein kritisches Hinter‐ fragen abschließender und linearer Historisierungen und Kanonisierungen, ein Befragen klassischer Praktiken der Archivierung und hegemonialer Wissens‐ produktion. Im letzten Jahrzehnt lässt sich nun die verstärkte Tendenz feststellen, sich mit Fragen der Zukunft und Zukünftigkeit auseinanderzusetzen. Zu denken ist etwa an Simone Dede Ayivis afrofuturistische Vision einer geschlechtergerechten und postrassistischen Zukunft in First Black Woman in Space (2016), an Simone Aughterlonys, Jen Rosenblits und Hahn Rowes Biofiction (2016), der futuristi‐ sche Entwurf einer neu-materialistischen Welt, die eine Sexualität beinhaltet, die es noch nicht gibt, oder an Das GAIA-Projekt: Eine Cyborg-Oper (2020) von kainkollektiv, in der Alltagsrealitäten der Performer: innen und ihrer Kinder in Corona-Zeiten zum Auslöser „eines kollektiven träumerischen Widerstands der Töchter gegen die gestörte ‚Normalität‘ des Lebens um sie herum wird.“ (Schütz 2020) Zahlreiche queer-feministische Produktionen und Festivals tragen „future/ Zukunft“ im Titel, im Jahr 2022 etwa das Internationale Frauen*Thea‐ terfestival unter dem Motto FEMINIST FUTURES oder das Favoriten-Festival mit dem Titel (Un)Learning for Possible Futures, sodass man definitiv von einem Trend sprechen kann. Besonders auffällig ist, wie einleitend bereits erwähnt, dass die Beschäftigung und Entwürfe von Zukünftigkeit zumeist einen utopi‐ schen (statt dystopischen) Charakter annehmen, eher das thematisieren, was wünschens- und lebenswert erscheint, zumindest einer bestimmten Perspektive, Gruppe oder Gemeinschaft zufolge. Denn andererseits können Utopien auch zum Totalitären tendieren bzw. aus der Perspektive von anderen, nicht zur Gruppe Gehörenden eher als Dystopie erscheinen. Die affirmative Haltung The future is fe: male* 133 gegenüber Zukunft sowie der Entwurf von Utopien mag vor allem vor dem Hintergrund allfälliger Krisen (Migration, Klima, Pandemie, Krieg etc.) der Gegenwart verwundern und erscheint so bereits als Gegenkonzept zu den eher anti- oder dystopischen Weltentwürfen in Filmen und Serien, aber auch zu den Katastrophenszenarien der öffentlichen Medien und politischen Debatten. Gerade hierin erfüllen die queer-feministischen Entwürfe von Zukünftigkeit in der Gegenwartskunst bereits eine zentrale Funktion von Utopien, nämlich in Abgrenzung zur Gegenwart als Gesellschaftskritik (siehe Adamowsky 2006: 401) zu fungieren. Utopien im 20./ 21. Jahrhundert sind zudem keine ‚großen Erzählungen‘ mehr, worauf Nicolas Bourriaud bereits 2002 für die Gegenwartskunst hinwies, er spricht von „micro-utopias“ und meint damit jene Utopien, deren Grundlagen in den Sozialutopien und der Revolution liegen, die aber heutzutage nicht mehr gesellschaftsübergreifend, sondern in überschaubaren, kleinen Konstellationen des Miteinanders stattfinden. (2002: 30) So führt auch Werder an, dass der Ausschluss einzelner Aspekte […] in den 60er Jahren (und vor allem im Geist von 1968) dazu[führte], dass erstmals, ernsthaft und bedeutsam nicht mehr umfassende, sondern fokussierende Utopien entstanden, allen voran die Feministischen und die Ökologischen. (2007: 10) Zugleich umfassen die Auseinandersetzungen mit Zukünftigkeit eine starke Verbindung zur Gegenwärtigkeit, insofern viele der künstlerischen Arbeiten mit/ über Zukunft so ausgerichtet sind, dass sie Zukunft für das Publikum in der Gegenwart erfahrbar machen. „Utopische Konstellationen werden nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch realisiert, ereignen sich in der Gegenwart, verweisen gleichwohl auf ein Anderes“, betont Pamela Geldmacher (2015: 157). Ein Beispiel dafür ist Interrobangs Performance-Installation Preenacting Europe (2014), in der die Europawahl zur Probe vorweggenommen und somit eine mög‐ liche Zukunft bereits in der Gegenwart durchgespielt und erfahrbar gemacht wird. Diese Gegenwärtigkeit der Zukunft in Bezug auf eine Erfahrbarkeit ist durchaus nicht selbstverständlich für ein Denken von Zukünftigkeit und für den Entwurf von Utopien, spielen sie doch in einem Noch-Nicht, in einer Nicht-Zeit (und im Nicht-Raum). In diesem Sinne entwarf Michel Foucault sein berühmtes Konzept der Heterotopie, des anderen Raumes, auch noch als Gegenentwurf zur Utopie, da die Heterotopie, laut Foucault, den realen Raum, die reale erfahrbare Zeit betrifft, Utopien hingegen „wesentlich unwirkliche Räume“ (1990: 39) sind (mit Ausnahme des Spiegels). Vor dem Hintergrund 134 Jenny Schrödl zeitgenössischer künstlerischer Produktionen mit Zukunft als/ in erfahrbarer Gegenwart kollabiert der Unterschied zwischen den Zeitformen von Zukunft und Gegenwart, aber auch die Differenz zwischen Heterotopie und Utopie. Dass damit die Utopie wieder in der Gegenwart ankommt, wieder im Jetzt, aber Nicht- Hier stattfindet, verweist auf eine erneute Verschiebung (die Umkehrung von der Raumzur Zeitutopie, vom ‚Nicht-Hier‘ zum ‚Noch-Nicht‘ ereignet sich im 18./ 19.-Jahrhundert) von der Zeitutopie zur Raumutopie in der Gegenwart, wie sie ebenfalls Werder verstärkt seit den 1990er Jahren durch das Aufkommen des Internets und des virtuellen Raumes/ Cyberspace realisiert sieht (2007: 11). Diese Hinwendung zur Zukunft in queer-feministischer Kunst findet vor dem Hintergrund des Aufkommens des New Materialism und Posthumanismus statt, mit Theorien von feministischen Denker: innen wie Karen Barad, Rosi Braidotti oder Donna Haraway. Feministisches Spekulieren und/ oder Fabu‐ lieren werden als ästhetische Praktiken und Narrationen (wieder-)entdeckt und die Figur der Cyborg und anderer dritter, hybrider Figuren erleben eine Renaissance. Techniken und Figuren also, die das Zukünftige bereits in sich eingeschrieben haben. Die Betonung liegt dabei auf minoritären Geschichten und Figuren, auf dem „Erzählen von anderen Geschichten“ (Gramlich 2020: 13), wie Naomie Gramlich beschreibt und hinsichtlich der afrofuturistischen Erzählung Xenogenisis (1987-1989) von Octavia E. Butler erläutert, die „ein beeindruckendes Beispiel für die Umschreibung der Ursprungsgeschichten des Globalen Nordens“ (2020: 13 f.) sei. Die besonderen Verbindungen zwischen Menschen, zwischen Mensch-Umwelt, Tier-Mensch etc. und die Ablehnung von Binarismen bzw. der Kritik ihrer Machtgefälle und damit einhergehenden Gewalt- und Ungleichheitsaspekte sind weitere Dimensionen queer-feminis‐ tischer Auseinandersetzungen mit New Materialism, Posthumanismus und Zukünftigkeit. Auch in der Queer Theory wird sich verstärkt und kontrovers mit Zukunft/ Zukünftigkeit auseinandergesetzt: Lee Edelman plädiert mit seiner Untersuchung No Future: Queer Theory and the Death Drive (2004) nachdrücklich für eine Abkehr von Zukunft für Queers, wobei Zukunft nach Edelman immer an die Figur des Kindes und an heteronormative Reproduktionsideale gebunden ist, und spricht sich stattdessen für eine Zuwendung und Akzeptanz von Negativität und exzessiv gelebter Gegenwärtigkeit aus. Dem gegenüber betont José Muñoz in seiner Arbeit Cruising Utopia: The Then and There of queer Futurity (2009) stark die Affirmation von Zukunft sowie den Zusammenhang von Queerness und Utopie: „Queerness is utopian, and there is something queer about utopian.“ (2009: 26) Die beiden im Folgenden näher untersuchten, als exemplarisch zu verste‐ henden queer-feministischen Inszenierungen von Zukunft sind in verschie‐ The future is fe: male* 135 3 Siehe http: / / rubybehrmann.de (abgerufen am 30.11.2022). denen Phasen der Corona-Pandemie entstanden: vor/ am Anfang der Pandemie Ruby Behrmanns/ Liliane Kochs Damengedeck 2.0 - Ein Rundgang durch die Zu‐ kunft (2019/ 2020) und am (wahrscheinlichen) Ende der Pandemie Swoosh Lieus Caring for/ from the Future (2022). Dabei setzt sich der optimistische Grundton und utopische Charakter der beiden Arbeiten deutlich ab von gesellschaftlichen Stimmungen in dieser Zeit. Diese Differenz mag darin begründet liegen, dass die durch die Corona-Pandemie hervorgerufene Krise eben nicht von allen gleichermaßen als negativ bewertet, sondern von Vielen durchaus als Chance gesehen wurde und wird. Der Verlust der Normalität in der Corona-Pandemie oder die vielbeschworene ‚neue Normalität‘ ist nicht für alle eine dystopische Variante von Wirklichkeit, im Gegenteil: „We don’t want to go back to normal because normal was the problem.“ - heißt es programmatisch in einem anderen Film, A Room for Our Own (2021), von Swoosh Lieu zur Zeit der Corona- Pandemie. Bewusst setzen sich Swoosh Lieu und andere Künstler: innen ab von der (vorherigen, vorpandemischen) geschlechtlichen, rassistischen, queerphoben Normalität und ihrer vermeintlichen Idealität, indem ihre Probleme der Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Diskriminierung, Gewalt, Normativitätsdruck etc. stärker deutlich gemacht und ein Stück weit verabschiedet werden. Die Pandemie als „Portal“ (Roy 2020) zu verstehen - wie die indische Autorin Arundhati Roy es im April 2020, zu Beginn des ersten, globalen Lockdowns fasste -, durch das man hindurchgehen kann in eine bessere Zukunft, ist eine Vorstellung, die seit Beginn der Pandemie kursierte. Dabei ist ein zentraler Mo‐ ment, die Pandemie als ‚Riss‘ („rupture“) in der Gegenwart zu verstehen, als eine Unterbrechung der Zeitlichkeit in einer gewohnten Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - und damit ihre Zäsur bringende Bedeutung eben nicht zu verdrängen, sondern ernsthaft anzunehmen. Dieser Riss gibt uns nach Roy nämlich eine Chance, „in the midst of this terrible despair, […] to rethink the doomsday machine we have built for ourselves.“ (Ebd.) 2 Ruby Behrmann/ Liliane Koch Damengedeck 2.0 - Ein Rundgang durch die Zukunft (2020) Die Inszenierung Damengedeck von Ruby Behrmann 3 und Liliane Koch exis‐ tiert in verschiedenen Varianten und Aufführungsformaten, wie es seit der Coronapandemie verstärkt üblich geworden ist. Ursprünglich im Jahr 2019 als partizipative Installation, als Begehung des GDA-Altenstift in Frankfurt/ Main 136 Jenny Schrödl 4 Damengedeck - ein Rundgang durch die Zukunft, aufgeführt am 15.-16.02.2019 und 01.-03.03.2019 im GDA- Wohnstift Frankfurt am Zoo und Mousonturm Frankfurt/ Main. Siehe https: / / www.mousonturm.de/ events/ damengedeck-ein-rundgang-in-die-zukunf t/ (abgerufen am 30.11.2022). 5 Damengedeck 2.0 Projektfilm mit Gebärdensprache, in: https: / / www.youtube.com/ watc h? v=gDZc9dWdYrU (abgerufen am 30.11.2022). aufgeführt, 4 wurde die Inszenierung im Kontext der Pandemie und der Theater‐ schließungen umgearbeitet und weiterentwickelt zu einer virtuellen Version, was durch das ‚2.0‘ hinter dem sonst gleichbleibenden Titel markiert wird. Die Produktion Damengedeck 2.0 wird virtuell via Zoom im Rahmen des Kölner Sommerblut Kulturfestivals im Mai 2020 gezeigt. Von dieser Version ist eine wei‐ tere Bearbeitung frei im Netz zugänglich, ein Projektfilm mit Gebärdensprache, den ich mir angeschaut habe. 5 Der Film zeigt einen Zusammenschnitt und Ausschnitte aus der Online- Performance vom Mai 2020, bei der die Zuschauenden per Zoom zugeschaltet wurden. Nach einem kurzen Intro durch Ruby Behrmann und verschiedene Bewohnerinnen des Altersheims in Köln (‚Residenz am Dom‘) werden die Zuschauenden eingeblendet, die teilweise fröhlich, teilweise überrascht in die Kamera lächeln, grüßen, sich zuprosten. Es folgt eine kurze technische Einweisung und ein Intro von einer der Bewohnerinnen, die an die Wichtigkeit von Kultur und der generationalen Solidarität erinnert, gerade in Zeiten einer weltweiten Krise, wie wir sie derzeit mit der Corona-Pandemie erleben würden. Schnitt. Es erscheinen zwei Cyborgs aus dem Jahr 2340, Elektri und Pirana, in gehäkelten, selbstgemachten Masken und mit Stoff-Vulven versehen, die auch bei den Zuschauenden und Bewohnerinnen zu sehen sind. Mit hohen Stimmen, im säuselnden Singsang, mit Schnalz- und Gurrgeräuschen durchsetzt, erzählen die beiden von ihrer Mission: Sie sind auf der Suche nach Geschichten von „weiblichen Menschen“ in der Residenz am Dom, von der sie aus einer alten Zeitschrift erfahren haben, und damit explizit nach „her-stories“, die in der Zukunft eine größere Rolle spielen würden. Sie fordern nun die Bewohnerinnen auf, ihnen ihre Geschichte zu erzählen: „Uns interessiert der Weg zu der emanzipierten Frau, die Sie sind“, sagen die Cyborgs, um ein „herstories-Archiv“ zu entwickeln. Daran anschließend werden fünf Bewohnerinnen gezeigt, die etwas aus ihrer Biografie erzählen: Christine Kleinen-Anders hat sich früh, in den 1970ern von ihrem Mann scheiden lassen, danach ihr Leben nach ihren Vorstellungen eingerichtet und sich sehr wohl damit gefühlt. Antonette Sitzer ist in den 1970er Jahren Puppenmacherin geworden, hat viel Zeit mit ihrer Schwester verbracht, die ebenfalls bis zu ihrem Tod in der Residenz untergekommen ist. Monika The future is fe: male* 137 6 https: / / www.mousonturm.de/ events/ damengedeck-ein-rundgang-in-die-zukunft/ (ab‐ gerufen am 30.11.2022). Krämer trägt humorvoll das Kölsche Grundgesetz vor, das in der Erkenntnis endet, dass es nun mal sei, wie es sei. Ethel Schmidt-Wiking erzählt von ihrem Ehrenamt, das sie sich nach der Rente gesucht hat, nämlich Schwerstverbrecher im Gefängnis zu besuchen. Und Erika trägt schließlich eine selbst geschriebene Kurzgeschichte vor, die von der Zukunft im Jahr 2220 handelt, in der eine künstliche Intelligenz vorherrschend ist. Am Ende des Films erscheinen alle Beteiligten - die Cyborgs, Bewohnerinnen und Zuschauenden - zusammen auf dem Screen in kleinen Kacheln, die Cyborgs befragen nun das Publikum nach ihren Wünschen und Utopien für die Zukunft. Eine Zuschauende fordert gleiche Löhne für alle, eine andere, dass alle Menschen sich sicher und wohl fühlen sollen, ein anderer Zuschauer wünscht sich, dass die Zukunft unklar und rätselhaft bleiben solle. Die Performance Damengedeck 2.0 avisiert also eine Zukunft, in der ältere und alte Frauen eine entscheidende Rolle spielen und eine Aufwertung erfahren. Bereits in der ursprünglichen Konzeption der Performance von 2019 ist diese Vorstellung wesentlich. Behrmann/ Koch wollten der traditionellen Abwertung und Nicht-Präsenz von älteren Frauen eine Vision entgegensetzen, die diesen immer größer werdenden Bevölkerungsteil ernst nimmt und ihnen mehr Ge‐ wicht verleiht. So beschreiben sie ihre Live-Performance von 2019 wie folgt: In Anbetracht omnipräsenter Überalterungsfantasien und der Angst vor dem demo‐ grafischen Wandel betreten wir gemeinsam mit den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Zeitkapsel und wagen ein Gedankenexperiment: Wie sieht eine zukünftige Gesellschaft aus, die von älteren Damen dominiert wird? 6 Hier wurde die vorhin erwähnte Gegenwärtigkeit der Zukunft real erfahrbar gemacht, indem das Publikum die Frauen im Altersheim besuchte und so eine gegenwärtige Vorstellung davon bekommen konnte, wer in (naher) Zukunft mit welchen Interessen und Vorstellungen einen immer größeren Bevölkerungsan‐ teil ausmachen und damit auch mehr Macht erhalten wird. Diese Erfahrung der Gegenwärtigkeit von Zukunft in Form des realen Besuchs des Altersheims wurde in der veränderten, virtuellen Version (Damen‐ gedeck 2.0) nicht mehr umgesetzt. Im Gegenteil lässt sich sogar von einer erneuten Entkoppelung von Gegenwart und Zukunft durch das Medium der Videokonferenz bzw. des Films sprechen, die Zuschauenden wurden in der Videokonferenz (bis auf Anfang und Ende) zu rein beobachtenden Teilnehm‐ enden, die darauf verzichten mussten, direkt mit den Bewohner: innen oder 138 Jenny Schrödl 7 Siehe https: / / www.marieschleef.de/ selectedworks/ project-three-szxm5 (abgerufen am 30.11.2022). den Cyborgs in Kontakt treten zu können. Zukunft wird hier also nicht in der Gegenwart erfahren und realisiert, sondern thematisiert und imaginiert. Zudem verschiebt sich die Gewichtung in der virtuellen Version von Damengedeck 2.0 durch die Cyborgs und die avisierte Zukunft des Jahres 2340 noch ein Stück weiter auf das Thema ‚Weiblichkeit‘ statt ‚Alter‘. Die Bewohnerinnen des Altenheims erscheinen gar nicht so bedeutsam in ihrem Alter, sondern werden stärker als ‚weibliche Menschen‘ und bezüglich ihrer Vorstellungen von Frausein und Weiblichkeit hervorgehoben. In der artikulierten Hoffnung, dass in einer Zukunft ebenso weibliche (und nicht nur männliche) Menschen Gegenstand des Interesses und der historischen Forschung sind, liegt das utopische Moment der Performance. Die Biografien der Bewohnerinnen des Altenheims sind zudem in ihrer Alltäglichkeit, Ausschnitt- und auch Anekdotenhaftigkeit von Bedeutung; das heißt, es kommt nicht auf eine große Lebensleistung an, auf Berühmtheit oder auf eine bestimmte Art der Erzählung, um erzählbar und wichtig für die Nachwelt bzw. Archive zu sein. Vielmehr betonen Behrmann/ Koch in Form der beiden Cyborgs die Bedeutung der Emanzipation von Frauen und wie sie jeweils ihren Weg gegangen sind und ihr selbstbestimmtes Leben gelebt haben; darüberhinausgehende Bewertungen und Normen, was als erfolgreiches oder gelungenes Leben und Frausein/ Weiblichkeit gilt, geben sie bewusst nicht ab und entziehen sich damit als regelgebende, moralische Instanz. Mit der Präsentation sowie Erzählung unterschiedlicher weiblicher Biogra‐ fien und Erfahrungen reiht sich die Arbeit von Behrmann/ Koch in eine (queer-)feministische Tradition der Geschichtenerzählung ein, die stets als Gegenerzählung zur hegemonialen (Geschichts-)Schreibung und Archivierung entwickelt wird. Ein ebenso aktuelles Beispiel ist Marie Schleefs Inszenierung Name her: Eine Suche nach den Frauen+ (2020) 7 , die zum Theatertreffen 2021 eingeladen wurde. Hier stellen die Performerin Anne Tismer und Marie Schleef in einer vierteiligen, long durational Performance über 100 Frauen alphabe‐ tisch vor, wozu Künstlerinnen, Politikerinnen, Forscherinnen, Studentinnen, Philosophinnen, Mütter, Erfinderinnen, Nobelpreisträgerinnen u. v. a. aus un‐ terschiedlichen Zeiten, Orten und Kulturen gehören. ‚Frauen‘ - im Plural und mit einem expliziten ‚+‘ versehen - werden hier nicht unter eine einheitliche Kategorie gepackt und vorausgesetzt, sondern diversifiziert in unterschiedliche Ethnien und Herkünfte, Körperlichkeiten und Fähigkeiten, Alter und Zeiten, Orte und Regionen, Fiktionen und Realitäten. In ähnlicher Weise, wenn auch auf The future is fe: male* 139 weit weniger Personen und noch dazu auf ältere Frauen beschränkt, funktioniert auch Damengedeck 2.0; beide Performances greifen die Idee einer anderen, feministischen Geschichtserzählung und -schreibung auf, für diejenigen, die in der hegemonialen, weiß männlich dominierten (Kultur-)Geschichte nicht oder kaum vorkommen, und situieren sich damit gleichzeitig in einer Tradition solcher weiblichen* Gegengeschichten, wie sie in der queer-feministischen Kunst seit den 1960er Jahren vielfach zu finden sind, z.B. in Judy Chicagos Installation The Dinner Party (1974-79). Darüber hinaus bedient sich die Performance von Behrmann/ Koch weiterer Elemente, die für feministische Kunst und auch für feministische utopische Kunst typisch sind. Das sind einerseits der selbstgemachte Kopfschmuck sowie die gehäkelten, als Broschen einsetzbare Vulvas und anderseits die Figur der Cyborg. Die Cyborg wurde bereits in den 1980er Jahren durch Donna Haraway zu einer zentralen subversiven, feministischen Figur, die als Mischwesen/ Hybrid Binäritäten (von männlich-weiblich, technisch-mensch‐ lich, menschlich-tierisch, real-fiktiv, natürlich-künstlich etc.) aufbricht und (zer-)stört (Haraway 1985). Auch die gehäkelten Ornamente und das Motiv der Vulva finden einen Widerhall in der feministischen Kunst der 1970er, in der „Pattern-and-Decoration-Bewegung“ (Phelan 2005: 31) wurde ganz bewusst auf traditionelles, überwiegend von Frauen ausgeführtes Handwerk - wie Stricken, Quilten, Häkeln, Schneidern usw. - zurückgegriffen. Dabei ging es darum, diese Formen und Fertigkeiten, die in der Kunstgeschichte traditionell als Handwerk und Schmuck (statt Kunst) abgewertet wurden, als eigenständige, auch spezifisch weibliche Kunstformen aufzuwerten (siehe Chadwick 2013: 363-366). Einen Unterschied zu anderen feministischen Arbeiten markiert die Perfor‐ mance Damengedeck 2.0 insofern, als dass sie die Zeit der Erzählung von der Vergangenheit in die Zukunft verlagert; mit den beiden Cyborgs wird die Relevanzsetzung von weiblichen Geschichten vor allem für die Zukunft (und nicht nur für die Gegenwart) behauptet. Mit den Attributen der selbstgemachten Masken, gehäkelten Vulvas, der Figur der Cyborg sowie der Art und Weise der weiblichen Geschichtenerzählung lassen Behrmann/ Koch dezidiert Elemente feministischer Kunst der Vergangenheit einfließen - und verschränken so die zeitlichen Ebenen ineinander, statt sie voneinander zu separieren. Zukünftiges ist in der Gegenwart, Gegenwärtiges in der Vergangenheit, Vergangenheit in der Zukunft. 140 Jenny Schrödl 8 Siehe https: / / favoriten-festival.de/ programm/ caring-for-from-the-future/ (abgerufen am 15. und 16.09.2022). 9 Siehe https: / / swooshlieu.com/ (abgerufen am 30.11.2022). 3 Swoosh Lieu Caring for/ from the Future (2022) In ihrem neusten Film Caring for/ from the Future, vom 15.-25.09.2022 online gezeigt beim Favoriten-Festival, 8 geht das feministische Performance- und Medienkunstkollektiv Swoosh Lieu 9 einen anderen Weg als Behrmann/ Koch und situiert das Geschehen ausschließlich in der Zukunft. Der Performancefilm besteht aus kurzen Interviews mit verschiedenen Personen, die vom Leben nach einer vom Film proklamierten „Care-Revolution“ und von durch sie provozierten und durchweg positiv besetzten strukturellen, politischen und sozialen Veränderungen berichten. Gezeichnet wird ein Bild einer durch und durch gerechteren, besseren Welt, einer möglichen Zukunft, in der viele der gegenwärtigen Probleme gelöst sind. So erzählt bspw. die Künstlerin Aïlien Reyns, dass sie früher - vor der Care-Revolution - nach der Geburt ihres ersten Kindes ein Jahr allein zu Hause war und nur drei Monate bezahlt wurde, ihr Partner hingegen das ganze Jahr arbeiten musste und nur 10 Tage frei bekam. In der im Film dargestellten Gegenwart aber werden sie gleichermaßen für Arbeit und Care-Arbeit bezahlt, leben zusammen in Hausgemeinschaften mit verschiedenen Menschen unterschiedlichen Alters und sorgen - bezahlt - füreinander. Andere Personen betonen, wie stark sich die Wertigkeit der Care-Arbeit nach der Revolution und auch nach der Covidpandemie geändert habe, damit einhergehend auch der Lohn; das trug dazu bei, berichtet Caro Froelich, dass es eine große Nachfrage für Care-Berufe und Studienplätze gegeben habe, zudem gab es mehr Vorbilder, alle wollten das plötzlich machen, auch die Jungs. Weitere Personen berichten davon, dass der Hunger auf der Welt ausgelöscht wurde und auch Krankheiten wie das Dengue Fieber oder Malaria ausgerottet seien, durch Entscheidungen bedingt, Gesundheits- und Care-Fragen stärker global anzu‐ gehen, als „im europäischen oder amerikanischen kapitalistischen Klein-Klein“ hängenzubleiben, wie es Marlene Peter-Schmit ausdrückt. Auch Kriege gebe es nicht mehr und der Kapitalismus sei ebenfalls abgeschafft, Grundeinkommen ermögliche hingegen endlich mehr Lebensqualität, auch mal in Ruhe Kaffee zu trinken, statt den gehetzten Coffee to go einzunehmen. Kurzum: Missstände, Hierarchien, Diskriminierungen, Ungleichheiten unterschiedlichster Art (sei es bezüglich Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Alter) ebenso wie diverse Problematiken (Klimakrise, Gewalt/ Kriege, Migration/ geschlossene Grenzen) The future is fe: male* 141 existieren in dieser vom Film entworfenen Zukunft der Post-Care-Ära nicht mehr. Die Veränderung nach der Care-Revolution verdeutlicht der Film zudem durch eingeblendete Aufnahmen von Gebäuden, Plätzen oder Denkmälern in Brüssel, die die Interviewpassagen kurz unterbrechen. Stets sind zwei Auf‐ nahmen des gleichen Gebäudes oder Ortes zu sehen, die leicht zeitversetzt und ein wenig räumlich verschoben nebeneinander gestellt werden, bis sie kurz einfrieren. Dann folgt die Unterschrift, welche Funktion diese Gebäude/ Orte einmal hatten und was sie in der Logik des Films heute sind. Dabei haben alle Räume einen Funktionswandel im Sinne der globalen Care-Revolution durch‐ laufen: So beginnt der Film etwa mit einer doppelten Ansicht des Finanztowers in Brüssel, der heute das Hauptquartier für das universale Grundeinkommen sei. Das frühere europäische Parlament wird zum Hauptquartier des CARE Counsils, der große Markt in Brüssel zum freien Bezirk für mehrgenerationales Wohnen, das Immigration Office zum Hauptsitz für Bewegungsfreiheit, das Atomium zum Hauptquartier der neuen Reproduktionstechnologien usw. Der ca. 20-minütige Film visioniert also eine Zukunft nach der Lösung der Care-Problematik und avisiert damit eine gerechtere Welt, in der nicht nur Care- Aufgaben ernst und wichtig genommen werden, sondern viele andere Probleme und Missstände gleich mitgelöst wurden. Auch Geschlecht spielt darin eine Rolle, wenn auch keine sehr bedeutsame, was gleichsam als Statement über die Zukunft interpretiert werden kann: Geschlecht scheint in der visionierten Zukunft keine besondere Rolle als (Differenz-)Markierung mehr zu spielen, es wird irrelevant. Themen der Zweigeschlechtlichkeit, Geschlechterperformance und Normativität scheinen der Vergangenheit anzugehören. In einer Gesprächs‐ sequenz wird dies besonders deutlich: Franziska Haug und Anna Kellermann (als „Counsil Chair Queer-Communism“ tituliert) tauschen sich in einer Szene halb ungläubig, halb empört darüber aus, dass es früher - angeblich - nur zwei Geschlechter gegeben haben soll, die strikt unterschiedlich und nach bestimmten Regeln und Konventionen performen mussten. Beim Abweichen von Geschlechternormen bekamen die Leute hingegen ziemliche Probleme - „die waren dann auch so Diskriminierung ausgesetzt, kann das sein? ! “, fragt Kellermann am Ende ungläubig. Hier werden Zweigeschlechtlichkeit und Ge‐ schlechternormativität als vergangene Ordnungen und überwundene Systeme verfremdet dargestellt und so wieder anders sicht- und erkennbar gemacht - als überwindbare, veränderliche Ordnungen. Viele der Erzählungen der Interviewten sind nach einem Vorher-Nachher- Muster strukturiert, wobei früher alles schlechter und heute alles besser ist, um die zeitliche Nähe der möglichen Zukunft und völlig veränderten Welt zu 142 Jenny Schrödl vermitteln sowie den ‚Riss‘ in der Zeit, der durch die Care-Revolution ausgelöst wurde. Im Film selbst wird keine Jahreszahl oder kein genauerer Zeitraum genannt, in dem diese stattfand; da aber die Personen, die davon erzählen, nicht besonders alt sind und den Umschwung selbst miterlebt haben, wird nahegelegt, dass die Care-Revolution vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden hat (bzw. aus der Perspektive der Rezipierenden in nicht allzu ferner Zukunft stattfinden könnte). Die Zeitlichkeit, die der Film darstellt, lässt sich präzisieren von einem pauschalen ‚Noch-Nicht‘ zu einem etwas näher an die Gegenwart gerückten ‚Fast-Noch-Nicht‘; ebenso wie der Raum (im Sinne der bekannten Gebäude und Plätze) in ihrer funktionalen, aber nicht architektonischen Veränderung keinen A-Topos, kein pures ‚Nicht-Hier‘ darstellen, sondern ein ‚Fast-Hier‘, eine leichte räumlich-imaginative Verschiebung. Dazu, wie die Revolution sich vollzogen hat, wird allerdings nicht viel gesagt; so erzählt etwa die als Revolutionswis‐ senschaftlerin titulierte Simone Dede Ayivi, dass sie kaum sagen könne, was damals geschehen war, alle Menschen aus der ganzen Stadt kamen zusammen in Strömen, sie trafen sich auf dem Mariannenplatz und die Stimmung sei unglaublich gewesen. Die Wut hatte sich endlich gelöst und sie konnten jetzt endlich Zusammensein und ein neues Leben beginnen, berichtet Ayivi. Die Choreografin Aleksandra Borys betont wiederum, dass der Klimawandel zur Änderung des Bewusstseins und des Nicht-mehr-so-weitermachen-könnens beigetragen habe. Was sich aber genau zugetragen hat als Care-Revolution, thematisiert der Film nicht. Mit dem Thema ‚Care‘ knüpft diese Produktion an zahlreiche queer-femi‐ nistische Auseinandersetzungen in der Gegenwartskunst ebenso an wie an die feministische Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Erinnert sei etwa an Mierle Laderman Ukeles Maintenance Art, die mit ihrer Kunst und Schriften (Manifesto for Maintenance Art 1969! Proposal for an Exhibition „CARE“) die Ausblendung und Abwertung all jener Tätigkeiten aus der Darstellung von Kunst kritisierte, die zur Erhaltung und Pflege notwendig sind. Sie entwarf Performances und Ausstellungsprojekte im Museum zur Sichtbarmachung von reproduktiver Arbeit und Instandhaltung. Aber auch in der Gegenwart gibt es zahllose künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema Care, z.B.: Frauen und Fiktions Care Affair (2020) oder Care 3.0 (2019), Jeremy Wades verschiedene Arbeiten zum Thema Care, u.a. zusammengeführt in der Reihe Technologies for Impossible Repair im HAU Berlin (2020), oder das partizipative Performanceprojekt Bodies of Care (2021), von zehn jungen Choreograf: innen aus Indonesien und Deutschland gemeinsam mit der Künstlerin Melati Suryo‐ darmo und dem Kollektiv LIGNA entwickelt (u. v. a.). Die Themen reichen von Kritik an traditionellen Aufteilungen (nach Kategorien der Trias Class - Gender The future is fe: male* 143 - Race) und Abwertung von Care-Arbeit über (Un-)Möglichkeiten des Heilens und Genesens bis hin zu Fragen nach Fürsorge und Pflege außerhalb klassischer Konzepte der Familie oder Partnerschaft. Der Film von Swoosh Lieu provoziert eine feine Art von Humor und Ironie gerade über die Widersprüchlichkeit behaupteter Fakten (nach der Care-Revolution etc.) und tatsächlicher gegenwärtiger Realitäten (Care-Fragen sind ungeklärt, Klimakrise spitzt sich zu, nach wie vor herrschen Systeme der Zweigeschlechtlichkeit, Heteronormativität, des Rassismus vor etc.) und öffnet so einen imaginären Raum des Möglicherweise und Noch-Nicht. Durch die Situierung der Erzählungen und Personen in der Zukunft erscheinen die Kommentare der Interviewten weniger moralisch wertend oder gar belehrend, sondern als ‚bloße‘ Beschreibungen der (scheinbaren) Gegenwart. Der Film strahlt Optimismus, Zufriedenheit und Hoffnung aus und steht damit in einem radikalen Widerspruch zu den imaginierten Dystopien in populären Serien und Filmen der Gegenwart, aber auch im Widerspruch zu den primär negativ konnotierten Nachrichten über Krieg, Gewalt und seinen Folgen wie die Ener‐ giekrise, Blackouts, Armut etc. Swoosh Lieu erarbeiten zudem eine globale und weitreichende Utopie, eine große Revolution, die die gesamte Welt und (fast) alle Ordnungen betrifft, widersprechen in diesem Sinne den erwähnten ‚microutopias‘, obgleich auch dieser Gesamtentwurf lückenbzw. ausschnitthaft, offen und subjektiv verbleibt sowie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Den‐ noch teilt sich hier augenzwinkernd ein (neuer? ) feministischer Anspruch mit, nicht mehr nur Teilaspekte von Wirklichkeit verändern zu wollen, sondern mit einem Schlag (der „Care-Revolution“) das ‚große Ganze‘ gelöst zu bekommen, auch auf die Gefahr von etwas Totalitärem hin. Beide Inszenierungen von Behrmann/ Koch und Swoosh Lieu stehen für ein diverses Spektrum an Auseinandersetzungen mit Zukünftigkeit und Utopien in der queer-feministischen Kunst der Gegenwart. In Bezug auf die Gestaltung von Zeitlichkeit und Zukünftigkeit nehmen sie zwei verschiedene Perspektiven ein: Damengedeck 2.0 nähert sich Zukunft mit Blick auf die Vergangenheit und Caring for/ from the Future entwirft (nahe) Zukunft als Gegenwart. Gemeinsam ist ihnen ein Entwurf von hybrider Zeitlichkeit, bei der sich verschiedene Zeitdimensionen überschneiden und verbinden. In Bezug auf Gender besetzen beide Inszenierungen zwei extreme Positionen: Damengedeck 2.0 (über)betont die Wichtigkeit von älteren Frauen, Caring from/ for the future lässt hingegen Gender völlig in den Hintergrund treten, präsentiert eine bewusste Irrelevanz‐ setzung, inklusive einer Aufhebung aller vormals dominierenden Normen der Zweigeschlechtlichkeit und des Geschlechterhabitus. 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Es erschienen zahlreiche Portraits und Artikel über Häusermann, die Wochenzeitung DIE ZEIT widmete ihr sogar ein mehrseitiges Dossier mit der Überschrift „Ihr behindert mich“ (Stelzer 2014), in dem die Schauspielerin auf ihrer Tour in die USA begleitet und interviewt wurde. War die öffentliche Aufmerksamkeit für Häusermann einerseits ein Meilenstein auf dem Weg zu einem inklusiveren Theater, wies die Singularität der Auszeichnung andererseits darauf hin, wie weit die Theaterlandschaft noch von Inklusion und Barrierefreiheit entfernt war. Indes war ein beginnender Wandel offensichtlich: Ein Jahr später nahm das Staatstheater Darmstadt mit Samuel Koch und Jana Zöll als erstes Stadt- oder Staatstheater zwei körperlich behinderte Schauspieler*innen in sein Ensemble auf, was die Intendanz mit der für sie vollkommen neuen Frage konfrontierte, wie Infrastrukturen, Arbeitsbedingungen und Probenprozesse im Theateralltag barriereärmer gestaltet werden könnten. Im Zuge weiterer Engagements behin‐ derter Schauspieler*innen an deutschen Theatern (Lucy Wilke, Erwin Aljukic, Nele Winkler) wurde zunehmend auch an Schauspiel- und Tanzhochschulen diskutiert, inwiefern sich die Ausbildungsmethoden an diversere Körperbilder anpassen müssten und sich auch die erlernten Techniken entsprechend von der Vorstellung eines nichtbehinderten und neutralen Normkörpers zu verab‐ schieden hätten (vgl. hierzu Sandahl 2005). Und auch international führte die zunehmende Präsenz von behinderten Darsteller*innen und Performer*innen in Film, Theater und Fernsehen zu Diskussionen über Schauspiel und Inklusion, 1 Zwar kann im Hinblick auf ein anthropologisches Verständnis theatralen Verhaltens - die Situation schauspielerischer Verwandlung - oder eines Handelns-als-ob (Warstat 2018) davon ausgegangen werden, dass die Idee einer Freiheit schauspielerischer Repräsentation dem Theater gewissermaßen seit jeher eingeschrieben ist, zugleich ist in Bezug auf historisch-kulturelle Ausprägungen des Theaters zu beachten, dass die Frage, wer wen auf der Bühne darstellen darf, ebenso immer schon von sozialen Normen, Tabus und Verboten geprägt war. Gegen die Praxis des Cripping up nennt der Kritiker Georg Kasch drei Argumente: erstens liege die Deutungshoheit darüber, wie Menschen mit Behinderung repräsentiert werden, allein bei nichtbehinderten Künstler*innen, zweitens führe Cripping up ungewollt eine Geschichte der gesellschaftlichen Exklusion von behinderten Menschen fort, die andererseits zugleich auch eine Geschichte der Ausstellung und Zurschaustellung von Behinderung für ein nichtbehindertes Publikum ist, und drittens verweise Cripping up, wie Blackfacing, auf eine Leerstelle: es werde sowohl im Stadttheater als auch in der Freien Szene zu wenig mit behinderten Künstler*innen zusammengearbeitet (Kasch 2018, o.S.). wobei insbesondere die Darstellung von Behinderung durch Nichtbehinderte - man denke nur an viele Oscarpreisträger wie Daniel Day Lewis (M E IN LIN K E R F Uẞ ), Tom Hanks (F O R R E S T G U M P ) oder Eddie Redmayne (D I E E NTD E C K U N G D E R U N E N D LI C HK E IT ) - in die Kritik geriet. Auf Portalen wie www.nachtkritik.de oder in der New York Times wurde debattiert, ob das sogenannte Cripping up (Kasch 2018; Tracy 2022) ähnlich wie Blackfacing bereits diskriminierend sei bzw. ob behinderte Rollen wie Shakespeares Richard III. oder der querschnittsgelähmte Philippe aus Z I E MLI C H B E S T E F R E U N D E (2011) grundsätzlich von behinderten Schauspieler*innen gespielt werden sollten. 1 Angesichts jener Debatten, die in den Feuilletons, auf Podien, innerhalb von Ensembles oder in Jurys mehr oder weniger öffentlich geführt wurden, mag es verwundern, dass Inklusion und Barrierefreiheit in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft bisher weitgehend Nischenthemen geblieben sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass Behinderung in der Vergangenheit im Fach vor allem dann thematisiert wurde, wenn prominente, zumeist nichtbehinderte, männliche Regisseure sich in Inszenierungen explizit mit Krankheit und Behin‐ derung beschäftigt oder mit behinderten, chronisch kranken Schauspieler*innen oder inklusiven Ensembles kooperiert haben - so etwa Robert Wilson in Deafman Glance (1970) oder Einstein on the Beach (1976), Christoph Schlingen‐ sief in Kunst und Gemüse (2004) und Freakstars 3000 (2002), Romeo Castellucci in Giulio Cesare (2001) und Sul concetto di volto nel figlio di Dio (2010), Milo Rau in Die 120 Tage von Sodom (2017) oder Jérôme Bel in Disabled Theater (2012) und Gala (2015) - Theaterarbeiten, die bei all ihren Unterschieden eher von einer nichtbehinderten Perspektive auf Alterität geprägt waren, als sich mit den 148 Benjamin Wihstutz 2 Eine Ausnahme stellt hier das Spätwerk von Christoph Schlingensief dar. In Arbeiten wie Eine Kirche der Angst vor der Fremden in mir oder Mea Culpa beschäftigt sich Schlingensief vor allem mit seiner eigenen Krebserkrankung und der Angst vor dem Tod - dabei werden auch Barrieren und vor allem die Fremdbestimmung über ihn als Patienten durch Ärzte und medizinisches Personal thematisiert (vgl. Ralfs 2019). Verbunden bleibt Schlingensief auch hier einer Ästhetik der Avantgarde, indem er den Krebs unter anderem auf Beuys’ Zeige deine Wunde bezieht und die Krankheit mit dem Fremden und Unheimlichen assoziiert. Barrieren des Alltags zu befassen. 2 Aus theaterwissenschaftlicher Sicht blieben diese Inszenierungen daher häufig mit dem ästhetischen Erbe der Avantgarden des 20. Jahrhunderts assoziiert, die von einer Faszination am Deformierten, Exotischen und radikal Anderen, am Skurrilen und Absurden zeugen und entsprechend auf ästhetische Transgression oder eine Irritation des Publikums zielten. Barrierefreiheit oder Accessibility von Aufführungen wurden hingegen weder von den einschlägigen Regisseur*innen noch in der Theaterwissenschaft in den Fokus gerückt, erst recht nicht in Bezug auf das Publikum, von dem meist wie selbstverständlich ausgegangen wurde, dass es sich aus nichtbehinderten, sehenden und hörenden Menschen zusammensetzt. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht Rafael Ugarte Chacóns Dissertation Theater und Taubheit (2015) dar, die am Beispiel des Gehörlosentheaters Mög‐ lichkeiten einer Aesthetics of Access diskutiert und dabei gerade auch Momente des Nichtverstehens und der Barrieren hervorhebt. Wenn es um die Zukunft der Aufführung gehen soll, so liegt es nahe, an Ugarte Chacón anzuknüpfen und über Möglichkeiten des Barriereabbaus im Theater und accessible specta‐ torship nachzudenken. Dabei kommt es darauf an, soziale und ästhetische Perspektiven gerade nicht - wie so oft - gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr zu reflektieren, wie sich ästhetische Perspektiven durch Fragen nach Barrieren und accessibility verändern. Ich möchte daher im Folgenden über den Zusammenhang von Theater, Inklusion und Aufführungsanalyse nachdenken, wobei es explizit um diverse Rezeptionsweisen und Barrieren des Zuschauens gehen soll. Neben Ugarte Chacón sind es vor allem amerikanische Autor*innen aus den Disability Studies wie Tobin Siebers, Carrie Sandahl, Robert McRuer und Margaret Price, aber auch Ansätze der kritischen Phänomenologie von Sara Ahmed, Lisa Guenther und Joel Reynolds, die der von mir anvisierten Zusammenführung von Ästhetik, Performance Studies und Disability Studies entgegenkommen. Mein Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte: Unter dem Stichwort der Disability Aesthetics möchte ich mich zunächst der Frage widmen, inwiefern die Präsenz sichtbar behinderter Körper auf der Bühne, aber auch der Einsatz von sogenannten accessibility tools neue Perspektiven auf Ästhetiken des Ge‐ The future is accessible 149 genwartstheaters eröffnen. Anschließend weise ich auf einen blinden Fleck bisheriger Ansätze der Aufführungsanalyse hin, die per se von einer nichtbehin‐ derten Publikumsperspektive ausgehen. Mit Bezug auf Ansätze der kritischen Phänomenologie schlage ich drittens vor, Methoden der Aufführungsanalyse selbst inklusiv zu konzipieren bzw. diverse Perspektiven der Theaterrezeption in Analyseverfahren und Theorien der Aufführung einzubeziehen. Und viertens komme ich zum Abschluss auf den Titel meines Beitrags zurück, indem ich eine accessible future - d.h. eine barriereärmere Zukunft für das Theater und die Theaterwissenschaft skizziere und überlege, was eine solche Zukunft für Forschungsfelder unseres Faches, aber auch für das Praxisfeld der Dramaturgie und die ästhetische Theorie bedeutet. 1 Disability Aesthetics und Disability Performance Der 2015 verstorbene Kulturwissenschaftler und disability scholar Tobin Siebers hat mit seinem Buch Disability Aesthetics (Siebers 2010) darauf hingewiesen, dass entgegen der häufigen Annahme einer Marginalisierung von Behinderung versehrte, imperfekte und deformierte Körper in der Geschichte moderner Kunst und Ästhetik nie verschwunden waren, sondern vielmehr ein ästhetisches Leitmotiv bilden. So können nach Siebers Skulpturen von der armlosen Venus von Milo bis zu den dünnen, langen Gestalten Alberto Giacomettis, Portraits deformierter Gesichter bei Pablo Picasso und Francis Bacon oder Performances von Dada bis zu Paul McCarthy als Motive „zerbrochener Schönheit“ betrachtet werden, die Konzepten der Makellosigkeit und Perfektion ein alternatives Verständnis von Ästhetik als Disability Aesthetics entgegenhalten. „Disability does not express defect, degeneration, or deviancy in modern art,” schreibt Siebers, „[r]ather it enlarges our vision of human variation and difference, and puts forward perspectives that test presuppositions dear to the history of aesthetics.” (Siebers 2010: 3). Während Siebers vor allem die affektive Dimension zerbrochener Schönheit interessiert, lässt sich Disability Aesthetics in Bezug auf die performativen Künste ebenso auf Normen des Könnens und Gelingens einer Aufführung übertragen (vgl. Wihstutz 2017). So teilen die Ästhetiken von Christoph Schlingensief, Theater HORA und Jérôme Bel die Grundeinstellung, in Performances „Scheitern als Chance“ (Schlingensiefs Wahl-Slogan 1998) zu begreifen, indem gerade das Imper‐ fekte, Asynchrone und Unfertige in den Vordergrund gestellt wird. Theater HORAs erfolgreicher Improvisationsmarathon, bei dem Musiker*innen und Schauspieler*innen bis zu zwölf Stunden lang in spontan entstehenden Szenen miteinander interagieren, trägt entsprechend den Namen Lust am Scheitern. Jé‐ 150 Benjamin Wihstutz rôme Bels Arbeiten Disabled Theater und Gala machten vor allem auch dadurch Furore, dass der Choreograph den Performer*innen lediglich Aufgaben stellte, die Szenen jedoch weder ausgiebig probte noch sich in die Choreographie dar‐ gebotener Tanzsoli einmischte (vgl. Umathum/ Wihstutz 2015). Und das Zürcher Duo criptonite (Nina Mühlemann und Edwin Ramirez) lädt unterschiedliche cripqueere Künstler*innen zu inklusiven Varietéabenden ein, die mit improvisierten und bewusst unfertigen Auftritten die Instrumentalisierung von Behinderung als Inspiration Porn des Mainstreams durch den Kakao ziehen und stattdessen Qualitäten wie Langsamkeit, Imperfektion und Achtsamkeit zelebrieren (vgl. Wihstutz 2023). In Bezug auf die Kategorien des Könnens und Gelingens können Konzepti‐ onen von Disability Aesthetics mithin grundlegende Prinzipien der performa‐ tiven Künste infrage stellen, insbesondere diesbezüglich, mit Marvin Carlson ausgedrückt, „that these arts require the physical presence of trained or skilled human beings whose demonstration of their skills is the performance“ (Carlson 1996: 3). Der Imperativ neoliberaler Leistungsbzw. Performancegesellschaften, der von Jon McKenzie treffend mit dem Slogan „Perform or else! “ (McKenzie 2001) auf den Punkt gebracht wurde, kann von Disability Performances ebenso auf den Prüfstand gestellt werden, wie bestimmte Normen des Körperbaus, des Sehens, Sprechens oder Hörens sowie Vorstellungen kognitiver und intellektu‐ eller Leistungsfähigkeit. Wenn in Arbeiten wie Regie von Monster Truck und Theater Thikwa oder beim Langzeitprojekt Freie Republik HORA lernbehinderte und neurodivergente Schauspieler*innen selbst Regie führen, wird Disability Aesthetics und Disability Performance zudem mit grundlegenden Fragen über die Verteilung von Macht und der Zuschreibung künstlerisch-intellektueller Kompetenzen verknüpft. Ein besonders einschlägiges Beispiel für eine solche ästhetische Reflexion von Macht ist das Stück Ganesh vs. the Third Reich (2012) des australischen Back to Back Theatre, bei dem die Haupthandlung mehrfach von fiktiven Probenszenen unterbrochen wird, in denen ein nichtbehinderter Regisseur (gespielt vom Schauspieler Scott Price) vom inklusiven Ensemble mit dem Vorwurf konfrontiert wird, die Inszenierung und Interpretation der Handlung stets allein bestimmen und kontrollieren zu wollen, während dieser zugleich dem Publikum vorhält, nur sensationslüstern zu sein („You have come here to see a freak show! “). Auf selbstironische Weise widmen sich die Performer*innen, von denen einige das Down-Syndrom haben, andere sich als neurodivergent (u.a. Autismus) identifizieren, dabei auch dem Vorurteil über geistig behinderte Schauspieler*innen, die Handlung des Stückes aufgrund der Komplexität oh‐ nehin nicht verstehen zu können (vgl. Wihstutz 2017: 69 f.; McCaffrey 2019: The future is accessible 151 148-166). Anders als jedoch die Figur des autoritären Regisseurs in den fiktiven Probenszenen suggeriert, ist das Back to Back Theatre in Wahrheit bekannt dafür, ihre Stücke stets gemeinsam als devised theatre zu entwickeln und dem Ensemble weitgehende strukturelle Kompetenzen einzuräumen, darunter auch die Möglichkeit, dem echten Regisseur der Truppe (Bruce Gladwin) jederzeit kündigen zu können. Die ironische und zugleich transparente Thematisierung unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen sowie von Macht- und Kompetenz‐ fragen geht somit direkt vom Ensemble aus und spiegelt sich in einer ganz eigenen Ästhetik der Unterbrechung, der komischen Missverständnisse und falschen Zuschreibungen wider, welche nebenbei die reibungslose barrierefreie Kommunikation eines inklusiven Theaterensembles als Konstrukt entlarvt. Wenn von Disability Aesthetics die Rede ist, sind aber vor allem auch jüngere Beispiele von körperbehinderten und neurodivergenten Künstler*innen zu nennen, die in Eigenregie arbeiten und mit ihrer Behinderung eine spezifische Erweiterung ästhetischer Möglichkeiten in Tanz und Performance anstreben. So haben etwa Claire Cunningham mit ihren Krücken oder Michael Turinsky mit den aus seiner Cerebralparese resultierenden wippenden Bewegungen ganz ei‐ gene unverwechselbare choreografische Stile entwickelt. Auch die Performerin Jess Thom betrachtet ihr Tourette-Syndrom, wie ihr Pseudonym tourette’s hero andeutet, nicht als Beeinträchtigung, sondern identifiziert sich mit ihren Tics, denen sie eine besondere ästhetische Kreativität zuschreibt. Kein Theaterabend gleiche dem anderen, so Thom, da sie sich aufgrund der Tics niemals exakt an ein Skript oder einen Dramentext halten könne. accessibility tools wie Gebär‐ densprache, Untertitelung, Audiodeskription oder touch tours für das Publikum werden in diesen jüngeren Produktionen im Sinne einer Aesthetics of Access (vgl. Ugarte Chacón 2015: 301-310) von Beginn an integriert und erweitern so das Dispositiv der Aufführung. So hat Jess Thom in ihren Performances stets eine Gebärdendolmetscherin an ihrer Seite, die nicht allein den gesprochenen Text, sondern auch all ihre verbalen Tics wie ihre hundertfachen Ausrufe der in diesem Zusammenhang sinnfreien Wörter „biscuit“ und „hedgehog“ in Gebär‐ densprache übersetzt. In diesem Fall steht Disability Aesthetics somit explizit für eine Erweiterung von Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen, die sich nicht zuletzt an ein diverses Publikum und die Disability/ Crip-Community selbst richten. Theater wird somit, dies ist zumindest die Zielsetzung der genannten Künstler*innen, zu einem safer space, in dem allen Menschen ein Recht auf Teilhabe zusteht. Disability Aesthetics sollte somit weniger als ein feststehendes Theorem als vielmehr als eine sich historisch wandelnde Perspektive auf Ästhetiken der Behinderung in den Künsten verstanden werden. Der Begriff kann mit 152 Benjamin Wihstutz Siebers einerseits auf die Hinterfragung von Schönheits- und Leistungsnormen bezogen werden, ist aber gerade in den vergangenen Jahren von behinderten Künstler*innen zunehmend auch in Richtung accessible aesthetics bzw. Aesthetics of Access ausgelegt worden, die ein möglichst diverses Publikum und gerade auch Zuschauende, die sich der Disability Community zugehörig fühlen, anspre‐ chen soll. Dieser Shift hin zu einer Adressierung eines diversen Publikums mit diversen Rezeptionsweisen ist theaterwissenschaftlich insofern relevant, als er herkömmliche Konzeptionen des Aufführungsbegriffs infrage stellt und insbesondere auch das Potenzial hat, Methoden der Aufführungsanalyse auf Fragen der Identität zu beziehen und um diverse Rezeptionsweisen zu erweitern. So fordert, wie Matthias Warstat in Bezug auf postmigrantische Theaterformen schreibt, „eine Inszenierung, die identitätspolitische Grenzziehungen proble‐ matisiert, […] die diversen Identitätskonstruktionen der Zuschauer*innen in unterschiedlicher Weise heraus“ (Warstat 2020: 123). Ähnlich wie für Warstat, wenn auch gewissermaßen ‚verkörperter‘ als im postmigrantischen Theater, stellt sich für die Analyse von Disability Aesthetics in Aufführungen ebenfalls die Frage, „welche Identitätskonstruktion […] den Blick des*der Analysierenden“ organisieren (2020: 123). 2 Der blinde Fleck der Aufführungsanalyse Ein Grundproblem theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse bestand lange Zeit darin, dass von dem Zuschauer oder dem Publikum die Rede war. Dabei gingen nicht nur semiotische Interpretationen (vgl. Fischer-Lichte 1983), sondern auch phänomenologische Ansätze der Aufführungsanalyse davon aus (vgl. Weiler/ Roselt 2017), dass man von der eigenen Wahrnehmung und Rezep‐ tion auf die Wahrnehmung des Zuschauers bzw. des Publikums im Allgemeinen schließen könne. Tatsächlich besteht die Wissenschaftlichkeit des phänomeno‐ logischen Ansatzes in der Tradition Husserls und Merleau-Pontys gerade in jener Übertragung vom Subjektiven hin zu allgemeinen Erkenntnissen über die Wahrnehmung und das In-der-Welt-Sein. Das Problem jener Übertragung be‐ steht nun aber zugleich darin, dass bereits die Beschreibung der Phänomene von bestimmten Vorannahmen und Prämissen der Wahrnehmung geprägt ist, die sich gerade nicht auf alle Rezipient*innen beziehen und verallgemeinern lassen. Christel Weiler und Jens Roselt weisen in ihrer Einführung zur Aufführungsana‐ lyse darauf hin, dass ein Vorteil phänomenologischer Analysen darin bestehe, „einen Einstellungswechsel vorzunehmen, der das Aufführungsgeschehen, an dem er oder sie selbst beteiligt sein mag, in die Distanz rückt und so andere Wahrnehmungsweisen und Einsichten möglich macht“ (Roselt/ Weiler 2017: 85). The future is accessible 153 3 Unter Ableism versteht man in den Disability Studies die internalisierte Norm, sich mit bestimmten körperlichen und kognitiven Fähigkeiten und normativen Erwartungen zu identifizieren und den Mangel dieser Fähigkeiten abzuwerten. (Vgl. Campbell 2009). 4 Die Schreibweisen „weiß“ und „Schwarz“ weisen darauf hin, dass sich diese Bezeich‐ nungen nicht auf die tatsächliche Hautpigmentierung, sondern auf gesellschaftliche Konstrukte beziehen, die zugleich reale Erfahrungen von Privilegierung und Deprivi‐ legierung implizieren. Daher bilden beide Begriffe eine soziale und keine biologische Kategorie. Schwarz und weiß sind als gesellschaftspolitische Konstruktionen in einem globalen Machtgefüge zu verstehen. Vgl. hierzu Mohamed (2022). Analog zu „Schwarz“ wird in der Gehörlosen-Community der Begriff „Taub“ in der Regel groß geschrieben. Allerdings kommt es traditionell in der Theaterwissenschaft nur äußerst selten vor, dass jener Einstellungswechsel identitäts- und diskriminierungsbezogene Erfahrungen der Zuschauenden einbezieht oder explizit thematisiert. Auch ist die Vorannahme, dass es sich bei den Zuschauenden stets um sehende und hö‐ rende Menschen handelt, in der Regel in Aufführungsanalysen gesetzt, obwohl eine solche Verallgemeinerung aus Sicht der Disability Studies als ableistisch, d.h. exkludierend und behindertenfeindlich, entlarvt werden kann. 3 Der blinde Fleck der Aufführungsanalyse besteht mithin ironischerweise gerade darin, dass zum Beispiel blinde und Taube, neurodivergente oder nicht-weiße Perspektiven im europäischen Theater traditionell weder vorgesehen noch mitgedacht und somit auch in der Aufführungsanalyse in der Regel ein zweites Mal marginalisiert werden. 4 Schuld daran ist weder das Theater noch die Theaterwissenschaft, sondern eine compulsory able-bodiedness und able-mindedness (McRuer 2020: 63), die sich auf alle Teilsysteme der Gesellschaft auswirkt und strukturell Menschen mit Behinderungen ausgrenzt. Als ein Wendepunkt in Bezug auf solche Grundannahmen der Aufführungs‐ analyse kann sicherlich die Blackface-Debatte von vor zehn Jahren gelten, da damals vielen weißen Theaterwissenschaftler*innen zum ersten Mal bewusst wurde, dass dasselbe Phänomen - ein weißer Schauspieler tritt schwarz ge‐ schminkt auf - im Publikum vollkommen unterschiedlich wahrgenommen werden kann - dass also ein Phänomen rassistisch sein kann, obwohl es von der Mehrheit der Zuschauenden nicht als rassistisch, sondern womöglich ästhetisch wahrgenommen wird (vgl. Kalu 2018; Kalu 2022; Koutouan 2022; Sharifi 2022). Dieser Widerspruch, der darauf verweist, dass auch ästhetischer Wahrnehmung selbst rassistische Strukturen eingeschrieben sein können, lässt sich aus einer weißen, von rassistischer Diskriminierung nicht betroffenen Perspektive kaum auflösen. Vielmehr gilt es zunächst, die eingeschränkte privilegierte Sichtweise anzuerkennen, um die unterschiedlichen Rezeptions‐ weisen und die Relevanz und affektive Bedeutung von Aufführungs- und Ras‐ sismusgeschichte in einem solchen Fall zu verstehen. Azadeh Sharifi und Lisa 154 Benjamin Wihstutz Skwirblies plädieren in ihrem Band Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial entsprechend dafür, die Reflexion der eigenen Positionalität von vornherein als Grundbedingung für Verfahren der Aufführungsanalyse aufzunehmen: „Es bräuchte demnach eine Aufführungsanalyse, deren Selbstverständnis es ist, dass ihre Erkenntnismöglichkeiten von der Positionalität der Analysierenden und den Kategorien abhängen, mit denen die Positionalität entweder mitbedacht oder ignoriert wird“ (Sharifi/ Skwirblies 2022: 44). Die affektive Dimension, die unterschiedliche Positionalitäten und Rezeptionsweisen unterscheidet, ist dabei keineswegs auf die visuelle Wahrnehmung beschränkt. So erinnert der indigene Soundwissenschaftler Dylan Robinson in der Einleitung seines Buches Hungry Listening an einen Blogpost des New Yorker Kollegen Gustavus Stadler, der auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Schwarzen und weißen US- Amerikaner*innen einer sich nähernden Polizeisirene hinweist: „What does an ever-nearer, ever-louder police siren sound like in an urban neighborhood, depending on the listener’s racial identity? Rescue or invasion? Impending succor or potential violence? ” (Robinson 2020: 9) Identität darf somit nicht als eine rein soziale oder politische Kategorie missverstanden werden, sie wirkt sich vielmehr unmittelbar auf die Aisthesis und insbesondere affektive Dimensionen sinnlicher Wahrnehmung aus, was entsprechend auch in ästhetisch-künstleri‐ schen Kontexten nicht ignoriert werden kann. 3 Kritische Phänomenologie Mit ihrem Handbuch 50 Concepts for a Critical Phenomenology (2020a) haben Gail Weiss, Ann Murphy und Gayle Salomon vorgeschlagen, Perspektiven einer kritischen Phänomenologie zu entwickeln, die entgegen der Annahme universeller Wahrnehmungsweisen durch die Einbeziehung marginalisierter Perspektiven bestimmte Vorannahmen des In-der-Welt-Seins hinterfragen und neu perspektivieren. „Such a critical phenomenology”, schreiben die Heraus‐ geber*innen, „disrupts sedimented patterns of thinking and perceiving […].” (Weiss/ Murphy/ Salomon 2020b: xiv). Eine kritische Phänomenologie themati‐ siere entsprechend „constitutive aspects of human existence that challenge the universalizing tendencies of philosophy” (2020b: xiii). Sarah Ahmed hat in ihrem Buch über Queer Phenomenology (2006) bereits einige Jahre früher darauf hingewiesen, dass die Phänomenologie sich einerseits dazu anbietet, diverse Perspektiven und Zugangsweisen zur Welt zu reflektieren, sie andererseits aber zugleich von bestimmten körperlichen Grundannahmen und Orientierungen geprägt ist, die es zu hinterfragen bzw. zu queeren gilt. Dies betrifft bereits die Ausgangssituation phänomenologischen Schreibens, die bei Edmund Hus‐ The future is accessible 155 serl mit der Reflexion über das Sitzen und die Orientierung am heimischen Schreibtisch beginnt und damit laut Ahmed andere Perspektiven, etwa die der Care-Arbeit seiner Frau, in den Hintergrund drängt: The things that are behind Husserl are also behind the table that he faces: it is „selfevident” that he has his back to what is behind him. We might even say that it is behind that converts „the back” into the background. A queer phenomenology, I wonder, might be one that faces the back, which looks „behind” phenomenology, which hesitates at the sight of the philosopher’s back. (Ahmed 2006: 29) Ahmeds Ansatz einer queeren Phänomenologie überträgt somit die Ausrich‐ tung sexueller Orientierung auf Fragen räumlicher Orientierung und Positio‐ nierung. Das Queeren besteht darin, den Hintergrund und die Perspektiven ab‐ seits des Zentrums in den Blick zunehmen. Mirjam Kreuser hat in ihrem Buch Crip-queere Körper: Eine kritische Phänomenologie des Theaters (Kreuser 2023) vorgeschlagen, diese Fragen der Orientierung auf die Aufführungsanalyse zu übertragen, um mit einem kritisch-phänomenologischen bzw. queeren Ansatz marginalisierte Zuschauer*innenperspektiven in die Analyse einzubeziehen sowie zugleich Grundannahmen über die Rezeption von Aufführungen zu hinterfragen. So gilt es insbesondere bei der Analyse von Inszenierungen oder Performances, in denen es um Minderheiten, Rassismus, Queerness oder Be‐ hinderung geht, sich von der Vorannahme des weißen, cis-heteronormativen und nichtbehinderten Publikums zu verabschieden und diese bewusst zu qu‐ eeren. Zu hinterfragen sind dabei zugleich jene Aufführungsbeschreibungen, in denen Wahrnehmungen und Erfahrungen des Fremden zwangsläufig mit einer Irritation des Zuschauers gleichgesetzt werden. Diese „VerAnderung“ (Kalu 2022: 81) wird in Analysen oftmals unreflektiert übernommen, statt die Frage aufzuwerfen, ob es nicht auch ebenso Rezipient*innen im Publikum gibt, die sich selbst mit denen als „fremd“ oder „verstörend“ gelesenen Figuren auf der Bühne identifizieren. Es scheint, dass bestimmte, von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts beeinflusste Konzeptionen ästhetischer Erfahrung hierbei einen normativen Zuschauerkörper und eine stabile Psyche voraussetzen. Diese Grundannahme zu queeren oder vielmehr zu crippen würde bedeuten (vgl. Sandahl 2003, McRuer 2006, 35), auch die „Überforderungen und Krisen“ (Weiler/ Roselt 2017: 84) der Zuschauenden, von denen in Aufführungsanal‐ ysen nicht selten die Rede ist, nicht allein als flüchtige Irritationserfahrungen, sondern auch als fragile, affizierende oder sogar retraumatisierende Momente in den Blick zu nehmen. Kreuser spricht in Bezug auf Ahmed auch von einer Desorientierung bzw. der Verabschiedung des Zuschauerkörpers als „stabile orientierte Entität“ (Kreuser 2023, 68). In diesem Sinne ist, wie Joy 156 Benjamin Wihstutz Kalu schreibt, der Prozess der Bedeutungszuschreibung „auch ein politischer Prozess, insbesondere wenn es um vermeintlich andere Körper geht und sich die VerAnderungsverfahren im Blick der Analysierenden ergeben“ (Kalu 2022: 81). Aus der These, dass es den Zuschauer oder das Publikum als allgemeine Größe nicht gibt, folgt notwendigerweise somit eine zweite Einsicht, nämlich diejenige, dass Raum und Zeit der Aufführung nicht für alle Anwesenden dieselben sind. Mit Margaret Price, einer Theoretikerin aus den Disability Stu‐ dies, kann in diesem Zusammenhang von einer Erfahrung un/ geteilter Räume, von einem „UnShared Space“ (Price 2017) der Aufführung gesprochen werden. Price beschreibt anhand ihrer eigenen Erfahrung und mithilfe von Interviews mit anderen neurodiversen und behinderten Personen, was es bedeutet, einen Raum mit anderen zur gleichen Zeit zu teilen und ihn doch zugleich nicht zu teilen: „to gather while being radically not together” (Price 2017: 164). Diese Erfahrung un/ geteilter Raumzeit kann einerseits durch sicht- und hörbare Barrieren hervorgerufen werden, etwa, wenn der Zugang für Rollstuhlfahrende sich als großer Umweg zu einem Hintereingang entpuppt oder die Übertragung der Audiodeskription plötzlich ausfällt, andererseits kann sie aber auch situ‐ ativ und von den meisten unbemerkt entstehen, wenn z.B. chronisch kranke oder behinderte Menschen sich in einem Raum voller Menschen plötzlich ausgeschlossen fühlen oder eine Panikattacke haben, weil bestimmte Voraus‐ setzungen von Accessibility für sie nicht erfüllt sind. Behinderung ist in diesem Sinne, so Price, „essentially unpredictable“ (2017: 171) - Barrieren können nicht immer vorausgesehen oder vorausgesagt werden. Diese Unvorhersehbarkeit von Behinderung stellt für Price eine Grundkomponente von crip spacetime dar, einer behinderten Raumzeit, die sich entgegen normativer Zeit im Alltag oftmals als nicht planbar und als unberechenbar zeigt. Diese Unberechenbarkeit kann beispielsweise zu massiven Verspätungen oder Unterbrechungen führen - etwa, wenn Bus oder Tram sich bei der Anfahrt wegen fehlender Rampe als unzugänglich erweisen oder psychische oder neurodiverse Dispositionen zu spontanen Ausfällen, situativen Krisenmomenten oder Panikattacken führen. Prices Begriffe UnShared Space und crip spacetime verweisen entsprechend auf die relationale Dimension raumzeitlicher Erfahrung und zugleich darauf, dass auch ästhetische Aufführungsqualitäten wie zeitliche Dauer, Ausdehnung des Raumes oder Stille je nach körperlichen, kognitiven und psychischen Voraussetzungen im Publikum unterschiedlich erfahren werden. Um die normalisierenden und universalistischen Tendenzen ästhetischer Theorie und der Aufführungsanalyse aufzubrechen, gilt es entsprechend, eine Diversifizierung dessen, was wir ästhetische Wahrnehmung nennen, mitzu‐ The future is accessible 157 denken. Dies kann zum Beispiel gelingen, indem neue Ansätze polyperspekti‐ vischer Aufführungsanalyse entwickelt werden, wie es etwa Theresa Schütz und Doris Kolesch für Aufführungen immersiven Theaters vorgeschlagen haben (Kolesch/ Schütz 2020). Dabei werden Erinnerungsprotokolle mit qualita‐ tiven Interviews oder auch Publikumsgesprächen kombiniert, sodass diverse Zuschauerperspektiven in die Analyse aufgenommen und miteinander vergli‐ chen werden können. Ein anderer Ansatz wäre der von Matthias Warstat vorgebrachte Vorschlag, sich in Aufführungsanalysen stärker auf Affekte zu konzentrieren, wobei Affekte weniger als subjektive Empfindungen oder in‐ dividuelle psychische Zustände verstanden, als vielmehr ebenfalls relational gedacht werden und somit zwischen beteiligten Akteur*innen und Aktanten entstehen (Warstat 2020: 125). Ein dritter wichtiger Ansatz für eine Diversifi‐ zierung des Ästhetischen scheint mir, im Sinne der oben zitierten Texte von Kalu, Sharifi und Skwirblies, Selbstpositionierungen in die Beschreibung und phänomenologische Analyse von Aufführungen stärker einzubinden und diese transparent zu machen. Dies gilt insbesondere für Aufführungen, in denen marginalisierte Perspektiven von Minderheiten thematisiert werden. Ich muss, wenn ich etwa eine Aufführung mit gehörlosen oder blinden Performer*innen analysiere, darauf hinweisen, dass ich dies aus einer sehenden und hörenden, bzw. beispielsweise auch einer der deutschen Gebärdensprache nicht mächtigen Perspektive tue - und dass ich über diese Arbeit aus einer nichtbehinderten Perspektive schreibe. Dass es zugleich sinnvoll ist, gemäß des disability rights Slogans „Nothing about us without us! “ auch behinderte Künstler*innen und Zuschauende zu Wort kommen zu lassen, liegt auf der Hand. Interviews, aber auch Gruppengespräche mit einem diversen Publikum können hier neben einer Stärkung von crip-Perspektiven in der Wissenschaft weiterhelfen. In jedem Fall sollte eine Selbstpositionierung kontextbezogen erfolgen und nicht als bloße Konvention eines identity claims missverstanden werden. Auch geht es nicht darum, etwas richtig oder falsch zu machen (das Bekenntnis zur Fehlerfreund‐ lichkeit sollte generell einem walking on eggshells vorgezogen werden), sondern darum, mit der Markierung der eigenen Positionalität ein situiertes Wissen und - mit Donna Haraway gesprochen - die „eigene Verantwortlichkeit für wissenschaftliche Praktiken, die uns Macht verleihen“ (Haraway 1995: 87), anzuerkennen. Insofern ist die Thematisierung von Identität oder Diskriminie‐ rungserfahrung tatsächlich auch in Bezug auf Fragen der Ästhetik relevant, da wir das, was wir ästhetische Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung nennen sowie deren Konturen und Grenzen mittels eines kritisch-phänomenologischen, polyperspektivischen Ansatzes neu reflektieren und damit Grundannahmen und Selbstverständnisse des sinnlichen In-der-Welt-Seins hinterfragen können. 158 Benjamin Wihstutz 4 The future is accessible Ich habe diesem Beitrag einen bekannten Slogan der Behindertenrechtsbewe‐ gung als Titel gegeben - nicht weil ich mich selbst als Aktivist einer solchen Bewegung sehe - tatsächlich scheint es mir sehr wichtig und sinnvoll, eine klare Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus zu ziehen - sondern weil ich glaube, dass die Zukunft bzw. die zukünftige Relevanz des Aufführungs- und Performancebegriffs davon abhängt, ob es gelingen wird, diverse Zuschauerpo‐ sitionen und diverse Zugangs- und Wahrnehmungsweisen von Rezipient*innen in die Analyseverfahren zu integrieren und entsprechend auch methodische Ansätze diesbezüglich weiterzuentwickeln. Besonders spannend scheint mir in dieser Hinsicht, auch die Praxis der Dramaturgie stärker zum Gegenstand der Analyse zu machen, denn wie und auf welche Weise die Aufführung accessible bzw. barriereärmer gemacht wird, hängt insbesondere von dramaturgischen Entscheidungen ab. Mit der Hinwendung zu access needs und Barrierearmut bekommt die dramaturgische Praxis im Theater der Gegenwart ein vollkommen neues Feld an Aufgaben und Kompetenzen zugeteilt, wobei es nicht allein um die Gestaltung von Theaterabenden selbst oder um Probenprozesse geht, sondern auch um Versuche einer insgesamt nachhaltigeren und achtsameren Arbeitsweise, die den sozialen Beziehungen aller Beteiligten am Theater zugu‐ tekommen kann. Zugleich ändert sich auch die (post)dramaturgische Analyse in Bezug auf räumliche, zeitliche und relationale Strukturen der Aufführung ge‐ waltig (vgl. Nibbelink/ Merx 2021; Pavis 2014; Umathum/ Deck 2020), wenn etwa sogenannte relaxed performances (vgl. Fletcher-Watson 2015) „ein Theater ohne Zuspätkommende“ (Umathum 2020) ermöglicht oder eine Audiodeskription zu Beginn einer Aufführung erst einmal für alle Anwesenden das Bühnenbild beschreibt. Im inklusiven Theater der Gegenwart resultiert die Einsicht diverser access needs dann etwa darin, den Zuschauenden unterschiedliche Sitz- und Liegemöglichkeiten oder auch einen benachbarten Ruheraum bereitzustellen sowie die Möglichkeit einer spontanen Unterbrechung des Zuschauens jederzeit einzuräumen. Werden die Bedürfnisse eines diversen Publikums durch entspre‐ chende Vorkehrungen auf Seiten der Produktion beantwortet, spricht man in der disability community auch von access intimacy, was sich laut der Aktivistin Mia Mingus auf die wohltuende Erfahrung beziehe, mit den eigenen Bedürfnissen gehört und wahrgenommen zu werden: „Access intimacy is that elusive, hard to describe feeling when someone else ‚gets‘ your access needs. The kind of eerie comfort that your disabled self feels with someone on a purely access level” (Mingus 2017, o.S.). The future is accessible 159 Wenn dramaturgische Praxis auf access intimacy ausgerichtet wird, wie es zum Teil im Bereich inklusiver Tanz- und Performanceproduktionen bereits der Fall ist, ändert sich somit nicht allein etwas für Theaterbesucher*innen mit Behinderung, sondern konsequenterweise das Verhältnis aller Rezipient*innen zum performativen Raum und der Zeit der Aufführung. Dies geschieht sicher‐ lich nicht immer geräusch- oder reibungslos. Vielmehr werden konventionelle Wahrnehmungsgewohnheiten und Rezeptionsweisen von einer auf Accessibility ausgerichteten Dramaturgie direkt herausgefordert. Was bedeutet dies für die Zukunft der Aufführung und des Theaters, aber auch für die Zusammensetzung des Publikums? Wie weit lassen sich Barrieren und Exklusion im Publikum abbauen und wo verlaufen zukünftig die Grenzen angestrebter Barrierefreiheit? Welche neuen Konventionen und Normen bringt eine accessible future des Theaters hervor und an welchem Punkt wird es womöglich auch gegenläufige oder reaktionäre Tendenzen geben? Fragen wie diese deuten ein vielverspre‐ chendes Forschungsgebiet des accessible spectatorship an, das neben methodischen Konsequenzen für die Aufführungsanalyse auch die Untersuchung des dramatur‐ gischen und organisatorischen Wandels des Theaters umfasst. Zugleich geht es bei diesem Thema aber auch sehr viel allgemeiner um Konzeptionen des Ästhetischen und ästhetischer Erfahrung, die weit über die Aufführungsanalyse und die Theaterwissenschaft hinausreichen. Wenn das Ästhetische, wie oben erörtert, mit einer kritisch-phänomenologischen Perspektive weder allein als ein universelles Moment des autonomen und nicht-intentionalen Spiels noch allein als subjektive und soziale Frage des Geschmacks betrachtet werden kann (vgl. Menke 2008), sondern vielmehr im Ästhetischen selbst die Aushandlung von Positionen, Identitäten und Zugangsweisen zur Welt statthat - dann kann die Einbeziehung behinderter und anderer diverser Perspektiven zweifellos dazu beitragen, diese Aushandlung auch theoretisch in eine Diversifizierung des Ästhetischen zu überführen. Behinderung würde dann nicht mehr mit einer Ästhetik des Fremden, des Liminalen, der Krise und der Irritation verknüpft, sondern Möglichkeiten einer Diversifizierung ästhetischer Zugangsweisen zur Welt sowie des nachhaltigen Wandels künstlerischer Praxis aufzeigen. Literatur Ahmed, Sara (2006). Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham: Duke University Press. Campbell, Fiona Kumari (2009). Countours of Ableism. The Production of Disability and Abledness. Basingstoke: Palgrave McMillan. Carlson, Marvin (1996). Performance: A Critical Introduction. London: Routledge. 160 Benjamin Wihstutz Fischer-Lichte, Erika (2004). Ästhetik des Performativen. 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The future is accessible 163 Anziehen, ausziehen, umziehen Kostüme im Theater und die Aufführung als kritische Praxis Jens Roselt Eine der Grundannahmen von Erika Fischer-Lichtes Aufführungstheorie lautet, dass Aufführungen „nicht als ein fixier- und tradierbares materielles Artefakt“ (2004a: 14) angesehen werden können, sondern als ein flüchtiges Geschehen zu gelten haben, bei dem buchstäblich alles, was in Erscheinung tritt, nur im Hier und Jetzt der Aufführung als gegenwärtig erfahren werden kann: „Die Materialität der Aufführung wird performativ hervorgebracht und tritt immer nur für eine begrenzte Zeitspanne in Erscheinung.“ (2004a: 14) Ich glaube, diesen oft gelesenen Satz verstanden zu haben, obwohl er in meinen Ohren immer etwas nach Zauberei klingt. Dass allerlei von dem, was in Aufführungen vonstattengeht, wahrgenommen und erfahren werden kann, als flüchtig zu gelten habe, ist klar. Man denke an die Bewegungen eines Tänzers, die Stimme einer Sängerin oder einen knalligen Überraschungseffekt im Regietheater. Selbst sich selbst als Zuschauenden kann man für die Dauer einer Aufführung durch diese verändert und dergestalt hervorgebracht erleben. Doch kann man deshalb sämtliche Materialität in Aufführungen prinzipiell als flüchtig, transitorisch, ephemer, mithin als ereignishaft deklarieren? Findet Materialität ihre spezifische Dimension nicht gerade darin, dass sie nicht performt erarbeitet oder erlebt werden muss, sondern tumb rumliegt, abhängt, im Wege steht und dass man sie vergessen, übersehen oder sich an ihr stoßen kann? Besteht der ästhetische Reiz, den Materialität in Aufführungen zu ent‐ falten vermag, nicht gerade in ihrer distinkten Widerständigkeit, die sich der allseitigen Forderung „Perform or Else“ (McKenzie 2001) entzieht? Andererseits führe ich mir den Satz von der performativen Hervorbringung von Materialität oft vor Augen, wenn ich in einem Theatermuseum vor der Vitrine mit einem prächtigen Kostüm stehe und mich frage, warum der Anblick und die komplette hervorragend kuratierte Ausstellung so trostlos auf mich wirkt. Theatermuseen sind traurige Orte. Gerade der ehrenwerte Versuch der Ausstellungsmachenden durch Lichteffekte, das diskrete Einspielen von Stravinskys Le sacre du printemps, ein Faksimile des Programmhefts sowie ein Szenenfoto der Ballets Russes, die vergangene Gegenwärtigkeit der Aufführung erfahrbar zu machen, lässt das vestimäre Schaustück erst recht als Opfergabe in einem gläsernen Sarg erscheinen. Der Hinweis auf einer Texttafel, dass dieses Kostüm tatsächlich von Vaslav Nijinsky höchstselbst getragen wurde und der Gedankenblitz, dass sich womöglich noch Schweiß des Tänzers in den Fasern der Achselpartie befindet, verleiht dem Fetzen Stoff, der in der Vitrine mit Nylonfäden gespannt und gespreizt, aber gleichsam leer in der Luft hängt, zwar die morbide Aura des Authentischen, lässt das Kostüm aber zugleich banal und deplatziert erscheinen. Peinlich betreten gleitet der Blick hinüber zum nächsten Schaukasten, wo sich die deprimierende Prozedur angesichts eines Fächers und der Original-Schamhülse des Virtuosen wiederholen dürfte. Nein, wer etwas über die Materialität von Aufführungen in Erfahrung bringen möchte, wird diese nicht im Museum finden, wo lediglich Materialien ausgestellt werden, sondern muss sie in Aufführungen aufsuchen. Dies soll im Folgenden geschehen, indem ich einige Impressionen aus zwei Aufführungen Revue passieren lasse, wobei die besondere Aufmerksamkeit den Kostümen gelten soll. Leute, denen man von der Methode der Aufführungsanalyse erzählt, zeigen sich mitunter irritiert, dass man eine Analyse „nur“ über die Kostüme schreiben kann, als würde das Kostümbild als ästhetische Zugabe der eigentlichen Inszenierung hinzutreten. Als Gegenstand einer Untersuchung können sich Kostüme gleichwohl großer Beliebtheit erfreuen. Ihre Erscheinung verspricht ein relativ stabiles Wahrnehmungsobjekt. Kostüme sind einprägsam, insofern man sich verhältnismäßig gut an sie erinnern kann. Form, Farbe und Schnitt von Kleidung lassen sich zudem durch Skizzen, Fotos oder Videos dokumentieren und semiotisch ausdeuten. Dass der Schauspieler mit der Krone auf dem Kopf und dem Hermelinmantel auf den Schultern wahrscheinlich einen König spielt, trauen sich selbst schüchterne Semiotiker souverän zu interpretieren. Kostüme, so scheint es, bleiben vom nebulösen Treiben der berüchtigten autopoietischen Feedback-Schleife (Fischer-Lichte 2004b: 80) relativ unberührt. Oder wie verhält es sich, wenn man statt ihrer Semiotizität ihre Materialität in den Blick nimmt? Der Materialcharakter von Kostümen ist offenkundig. Ihre je spezifische Stofflichkeit wird in Aufführungen sinnlich erfahrbar. Sie erscheinen fein oder grob, hart oder weich, schwer oder leicht. Sie glänzen, schimmern oder saugen das Licht geradezu auf. Sie erscheinen alltäglich oder extravagant. Sie erfüllen ihre semiotische Pflicht im Dienste einer Inszenierung, indem durch sie Geschlecht, Herkunft, Klasse oder individuelle Persönlichkeit einer Figur akkurat repräsentiert und historisch korrekt zur Anschauung gebracht werden, 166 Jens Roselt oder sie werden selbst als Kostüme in Szene gesetzt, indem sie fremde, an‐ dere, dysfunktionale, mithin experimentelle Silhouetten und Gebrauchsweisen gestalten, die von grotesker Überzeichnung über skulpturale Größe oder mi‐ nimalistischem Understatement bis zur Inszenierung von Nacktheit reichen können. Die Materialität von Kostümen wird in Aufführungen nicht zuletzt dadurch erfahrbar, dass etwas mit ihnen geschieht. Kostüme werden getragen, auf offener Bühne an- oder ausgezogen, an der Rampe vorgeführt oder zerknüllt in die Ecke geworfen. Sie werden verschlissen, verschmutzt, besudelt, zerrissen oder zerstört. Nicht zuletzt diese Zeitlichkeit kennzeichnet die Performativität von Kostümen im Theater. Mit und an ihnen geschieht etwas, sie verändern sich und diese Veränderung wird im Vollzug erfahrbar, wobei u. U. eine Entwicklung anschaulich wird. Dabei entfalten Kostüme in Aufführungen ein synästhetisches Potential. Ihre haptische Dimension erschließt sich in der visuellen Wahrneh‐ mung eines räumlich distanzierten Publikums, das tatsächlich keine Chance hat, die Kleidung auf der Bühne anzufassen. Aber man kann ihrer Stofflichkeit auf der eigenen Haut nachspüren. Ihre Materialität ruft die Vorstellung auf, etwas berühren zu wollen, es zu streicheln, zu kratzen oder davor zurückzuschrecken. Hinzu kommt, dass Kostüme Geräusche machen. Man kann sie hören. Sie rauschen oder reißen, sie klingen oder klacken und dabei machen sie immer auch etwas anderes hörbar, nämlich Bewegung. Diese kinästhetische Dimension gilt nicht nur für Stadttheaterinszenierungen, die auch im 21. Jahrhundert auf scheppernde Ritterrüstungen nicht verzichten möchten, sondern buchstäblich für jeden Gang über die Bühne. Dass jemand kommt oder geht, wird durch Schritte hörbar, denen erst das Schuhwerk Klang verleiht. In diesem Sinne sind Kostüme in Aufführungen weder wahrnehmbar noch zu verstehen ohne die Körper, die sie tragen. Kostüme können Körper schwer wirken lassen oder eine Leichtigkeit suggerieren, die, wie im klassischen Ballett, bis zum Phantasma der Schwerelosigkeit reichen kann. Dabei wird die Körperlichkeit einer Figur oder eines Performers nicht nur durch die realen Körpermaße der auftretenden Person bestimmt, sondern auch durch die Kleidung, mit der sie in Erscheinung tritt. Mit Kostümen können Körper ausgestellt, kaschiert oder deformiert werden. Kostüme können kleine Männer groß werden lassen und große Frauen erniedrigen. Durch sie können Bewegungsmöglichkeiten eröffnet, erzwungen oder eingeschränkt werden. Kostüme bringen den Körper hervor und zugleich treten sie durch diesen in Erscheinung. Dieses Zusammenspiel von Körper und Kleid hat die Kulturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert als wesentlichen Aspekt modischen Handelns markiert: „[I]n der Amalgamierung von lebendem Körper und leblosen Kleid entsteht ein Drittes, das mehr ist als die Summe seiner Teile: Modekörper.“ (2013: 51) Als „hybrider Körper“ (2013: Anziehen, ausziehen, umziehen 167 52) sieht sich der Modekörper mit kulturellen Zuschreibungen konfrontiert, wie er zugleich Mittel zur Inszenierung von Identität wird: „Auf der Schnittstelle zwischen dem vestimären Artefakt, dem menschlichen Körper, den kulturellen Codes und Imaginationen sowie den individuellen Phantasien entsteht - und sei es nur für kurze Zeit - Identität.“ (2013: 53) Dieser Aspekt modischen Handelns wird im Theater explizit. Kostüme im Theater werden als Objekte entworfen, angefertigt, getragen oder aufbewahrt und zugleich können sie als konstitutives Element jedes Subjektivierungsprozesses auf der Bühne gelten. Jeder Akt der Figuration in Aufführungen ist unlösbar mit der Kleidung verquickt, mit der Verkörperungsprozesse performativ vonstattengehen. Zu beachten ist demnach nicht nur, wie Kostüme aussehen und was sie bedeuten können, sondern was mit ihnen gemacht wird und was sie sowohl aus als auch mit denen machen, die sie tragen. Die beiden ausgewählten Performances, die schlaglichtartig thematisiert werden sollen, sind für einen internationalen Gastspiel- und Festivalmarkt produziert. Es handelt sich um das autobiografische Projekt IS THIS A BLACK? (Isto é um negro? ) der brasilianischen Gruppe EQuemÉGosta sowie die Perfor‐ mance Black Off der Performerin Ntando Cele und ihrer Compagnie Manaka Empowerment Prod. Beide Produktionen rufen nicht nur im Titel die Hautfarbe der Performenden auf. Dabei wird die Frage verhandelt, wie das Weißsein als Ideal die Identitätsbildung schwarzer Menschen bestimmt und welche Praktiken dazu geeignet sind, sich von dieser Normativität zu befreien. Die Arbeiten thematisieren Rassismus explizit und diskursiv, wobei sich beide Performances auf Texte von Frantz Fanon berufen. Im Folgenden möchte ich aber nicht die diskursiven Aspekte der Perfor‐ mances ins Zentrum rücken, sondern fragen, wie Rassismus in beiden Arbeiten über die Materialität der Aufführung wahrnehmbar und verhandelbar wird. Die Aufmerksamkeit auf die Kostüme und die hybriden Körper, die mit ihnen in Erscheinung treten, scheint hierfür aufschlussreich. Wenn alles, was in Aufführungen hervorgebracht wird, in einer autopoietischen Feedback-Schleife vonstattengeht, dann auch - so meine These - ihr Rassismus und die Kritik an ihm. Die Auseinandersetzung mit Kostümen soll so eine kritische Perspektive auf identitätspolitische Fragen eröffnen, die sich dem zeitgenössischen Theater in drängender Weise stellen. 1 IS THIS A BLACK? Ich beschreibe die erste Szene der Performance IS THIS A BLACK? der brasilia‐ nischen Gruppe EquemÉGosta, so wie ich mich an den Besuch der Aufführung 168 Jens Roselt 1 Ich habe eine Aufführung von IS THIS A BLACK? beim Festival Theaterformen in Braunschweig 2022 gesehen. Wegen einer Erkrankung waren statt vier nur drei Perfor‐ mande anwesend. Außerdem liegt mir eine Videoaufzeichnung mit vier Auftretenden vor. Nähere Informationen zur Gruppe und Szenenfotos finden sich auf der Homepage des Festivals: https: / / www.theaterformen.de/ programm/ is-this-a-black (abgerufen am 10.12.2022). beim Festival Theaterformen 2022 in Braunschweig erinnere. Im Halbdunkel tauchen Gestalten vor der ersten Reihe des Publikums auf. Sie betreten den Raum von der Saaltür aus. Allmählich erkennt man, dass es drei Personen sein dürften. 1 Es könnte sich um einen Mann und zwei Frauen handeln. Die drei tragen zeitgenössische Alltagskleidung, an die ich mich nicht genau erinnern kann. Der Mann hat eine Hose getragen, da bin ich mir sicher. Eine der Frauen trug ein Kleid, das vielleicht über eine Leggins gezogen war. Die Farben schienen eher gedeckt und dunkel zu sein, doch dieser Eindruck ist womöglich dem fahlen Licht geschuldet, das ihren Auftritt spärlich erhellte. Wären mir die drei Personen vor der Vorstellung in der Braunschweiger Fußgängerzone begegnet, sie wären mir wahrscheinlich nicht aufgefallen, zumindest nicht wegen ihrer Kleidung. Meine Aufmerksamkeit hätten sie gleichwohl erregt. Die drei sind People of Colour. Das macht sie aus meiner Perspektive auffällig. Ihre Herkunft würde für mich zum Thema, gerade weil ich sie unmittelbar nicht erschließen kann. Eine der Frauen fällt mir auf, weil sie mir außerordentlich dick erscheint. Ich glaube, dass ich das Trio in der Fußgängerzone möglichst unbemerkt beobachtet hätte. Ich unterstelle, dass auch andere Passanten einen Blick riskiert hätten. Und ich stelle mir vor, dass die drei diese Blicke gespürt haben könnten. Ich weiß, dass mir das an ihrer Stelle unangenehm gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mich in meiner, also in ihrer Haut nicht wohl gefühlt. Meine Haut ist und bleibt weiß. Und als weißer (mittel-)alter Mann kann man sich in der Braunschweiger Fußgängerzone ziemlich wohl fühlen und sich sogar das Gedankenexperiment erlauben, sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlt, als dicke schwarze Frau von Braunschweigern begafft zu werden. An dieser Stelle muss die Analyse kurz aussetzen, um der akademischen Pflicht Genüge zu tun, indem der Verfasser dieses Textes kurz auf die Situiertheit seiner eigenen, umfassend privilegierten Position hinweist, was die Lesenden üblicherweise zu einer Fußnote mit Donna Haraway führt. Festzuhalten bleibt, dass die flotte Identifikation eines deutschen Theaterwissenschaftlers der oberen Mittelklasse mit einer gewiss subalternen, übergewichtigen Frau unbekannter Herkunft erstens unmöglich und zweitens unmöglich ist. Beides ist richtig: es ist nicht statthaft und doch findet es im folgenden Text ebenso statt, wie es in der Aufführung stattgefunden hat. Anziehen, ausziehen, umziehen 169 Inzwischen haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich erkenne, dass die drei Performenden, die nun unmittelbar vor mir stehen, klatschnass sind. Die drei triefen und tropfen. Die Kleidung verliert ihre alltägliche An‐ mutung. Sie hängt an den Performenden wie eine zweite Haut. Ihre Körper drücken sich im nassen Stoff aus. Einzelne Partien schimmern im Licht. Der Eindruck, dass eine der Frauen Leggins trägt, hat vielleicht damit zu tun, dass der Stoff ihrer Hose vollgesaugt ist und schwer an ihr haftet. Selbst die Haare sind pitschnass. Die drei tragen schwer an ihren Kleidern. Ihr nasses Erscheinungsbild gibt Fragen auf. Semiotiker beginnen zu grübeln. Die Kostüme und ihr nasser Zustand zu Beginn der Aufführung bedeuten, dass die Geschichte nicht am Anfang ist. Die drei haben etwas hinter sich, sie haben bereits etwas durchgemacht. Vielleicht einen Wolkenbruch? Eine Flucht über das Meer? Einen Gang durch die Braunschweiger Fußgängerzone? Ihre nassen Gewänder lassen die drei deformiert wirken, obwohl der eng anliegende Stoff ihre Körperkonturen erst recht sichtbar werden lässt. Das diffuse Licht macht die Unterscheidung von Körper und Kleid, von Stoff und Haut unmöglich. Das nasse Material wirft Falten, wo sie nicht hingehören, und legt den Körper frei, wo es ihn bedecken sollte. Die drei nassen Gestalten erscheinen als Hybridkörper, die vor mir eine unwahrscheinliche Präsenz entfalten und zugleich eigentümlich deplatziert wirken, im wahrsten Sinne des Wortes wie begossene Pudel. Und wieder kann ich mir gut vorstellen, wie man sich selbst fühlt, wenn man in dieser Weise vor ein Publikum tritt. Zu spüren, wie unangenehm einem das und man sich selbst wäre, ist wiederum ein Akt der Identifikation, der nicht in erster Linie über die Lebensgeschichten funktioniert, welche im Laufe der autobiografischen Performance hörbar werden, sondern über ein Körpergefühl, das durch die Kleidung hervorgerufen wird, das mich unwillkürlich, ganz ohne psychologische Einfühlung, schwer werden lässt. Das Blickregime der Fußgängerzone setzt sich im Theater freilich nicht bruchlos fort. Die auftretenden Performenden zeigen sich nicht als diskret Begaffte, sondern erscheinen mir gegenüber selbst als Betrachtende. Sie gucken ins Publikum. Man könnte sagen, sie gucken zurück. Die Performerin, die ich nicht ständig „die Dickere“ nennen möchte, scheint mich, der ich vorne sitze, gar zu fixieren. Sie fordert dazu auf, nicht mit verschränkten Armen wie ein typischer Zuschauer vor ihr zu sitzen. Erschreckt stelle ich fest, dass ich mit verschränkten Armen, wie ein typischer Zuschauer, vor ihr sitze. Ich glaube nicht, dass ihr Sprechtext improvisiert oder auf mich gemünzt war. Ich bilde mir sogar ein, dass die Performerin selbst irritiert feststellt, dass zufällig genauso ein Typ vor ihr sitzt, wie sie ihn im Text zu beschreiben hat. Ich überlege, ob ich die Armhaltung diskret auflösen soll, realisiere aber zugleich, 170 Jens Roselt dass es für eine diskrete Veränderung meiner Körperhaltung zu spät ist. Wir beide sind der Feedback-Schleife hoffnungslos ausgeliefert. Die Situation zeigt, dass das Zuschauen im Theater eine imminent körperliche Dimension hat. Es lag nahe, sich die wuchtigen Performenden unmittelbar von einem selbst mit Hilfe verschränkter Arme vom Leibe zu halten. Zugleich sehe ich mich in die unkomfortable Lage versetzt meine eigene Haltung zu hinterfragen und mich selbst im Theater als deplatziert zu erleben. Vorhin in der Fußgängerzone hatte ich mich wohler gefühlt. Die erste szenische Handlung nach ihrem Auftritt besteht darin, dass die drei sich ausziehen, sich ihrer nassen Kleider entledigen und diese an den Bühnenrand werfen, wo sie bis zum Ende der Aufführung ein kleines Häuflein bilden. Wirkten die nassen Sachen bisher wie eine zweite Haut, kommt dieses Ausziehen einer Häutung gleich, die gleichwohl die schwarze Haut der Perform‐ enden hervorbringt. Wie selbstverständlich Körper und Kleid in unserer Wahrnehmung inei‐ nander spielen, merkt man an den skandalösen Reaktionen, die ausgelöst werden, wenn beides getrennt in Erscheinung tritt. Insofern Kostümforschung fragt, wie Kostüme an der Hervorbringung von Körperlichkeit mitwirken, endet ihre Zuständigkeit nämlich nicht, wenn keine Kostüme getragen werden. Auch vollständige Nacktheit wird durch Kostüme bzw. deren Absenz hervorgebracht, etwa indem das Ausziehen szenisch vorgeführt wird, wie im Übrigen nahezu jedes Kostüm auch immer nackte Haut sichtbar werden lässt, etwa im Gesicht oder an den Händen. Das Ausziehen der Kleidung zu Beginn von IS THIS A BLACK? erscheint merkwürdig und zugleich folgerichtig und verständlich. Jeder, der so auftritt, möchte sich möglichst schnell umziehen. Man gönnt den Performenden das Abstreifen des schweren Tuchs und ist vielleicht irritiert, dass sie nicht sogleich ein trockenes Kostüm anziehen oder zumindest ein Handtuch nehmen. Die drei sind nicht nackt, sondern sie werden nackt bzw. sie machen sich selbst nackt, während das Bühnenlicht heller wird. Ihre Nacktheit wird vor meinen Augen und also mit mir hervorgebracht. Ich habe zu wenig Arme, die ich verschränken könnte, um mich dagegen ausreichend zu wappnen. Das Ausziehen ist eine explizite szenische Handlung. Die drei kommen in nassen Kleidern, um diese abzulegen und um dieses Ablegen zu zeigen. Allmählich wird klar, dass sie bis zum Ende der knapp zweistündigen Performance nackt bleiben werden. Die nächste Szene zeigt die drei von ihrer Rückseite. Sie schieben einen Haufen verkeilter weißer Stühle nach hinten wie eine Rolle, nur dass sich verkeilte Stühle nicht wie eine Rolle bewegen lassen. Der sperrige Möbelberg schrabbelt und kratzt über den Bühnenboden. Das ist anstrengend. Man sieht Anziehen, ausziehen, umziehen 171 die Performenden bei der Arbeit und findet erstmals Gelegenheit ihre Körper zumindest von hinten in Ruhe in Augenschein zu nehmen, ohne befürchten zu müssen, die Performenden könnten den Blick auf sie selbstbewusst erwidern. Die dicke Frau ist wirklich sehr dick. Im Programmheft lese ich ihren Namen. Sie heißt Mirella Façanha. Von nun an will ich sie Mirella nennen. Mirella hat Cellulite. Während der Szene starre ich auf ihre Schenkel. Das Scheinwerferlicht macht die unglatte Oberfläche gut sichtbar. Die Schraffierung stellt die Materi‐ alität der Haut aus. Nach den ersten Minuten der Performance ist in der Aufführung eine Wahrnehmungsordnung etabliert, die bis zu ihrem Ende erhalten bleibt. Die Performenden agieren mehr oder weniger selbstverständlich nackt, zugleich enthält nahezu jede Szene Momente, in denen das Zeigen und Ausstellen ihrer Haut explizit wird. Mirella beispielsweise, die ich wohl besser Frau Façanha nennen sollte, legt sich wie der Akt auf einem Gemälde vor die erste Reihe und fragt ins Publikum, ob jemand sie malen möchte. In einer anderen Szene kullert sie über den Bühnenboden, so dass man die Verlagerung ihrer Fettschichten wie den Faltenwurf eines Kostüms verfolgen kann. Sie schüttelt sich, juchzt und schlägt gegen ihre eigenen Hauttaschen. Wenn sie aufrecht vor dem Publikum steht, bedeckt ihre wuchtig herabhängende Bauchfalte ihre Scham. Man könnte sagen: Ihre Haut kleidet sie gut. Vielleicht merkt man diesen Formulierungen an, dass ich lange an ihnen gefeilt habe. Es fällt mir schwer, eine Beschreibungssprache zu finden, die meinen Eindruck wiedergibt, ohne rassistisch, sexistisch oder sonstwie abwer‐ tend zu klingen. Dieses Ungenügen an der nachträglichen Diskursivierung des Aufführungsgeschehens verweist auf eine Ambivalenz, die auch meine Haltung während der Aufführung gekennzeichnet hat und die sich durch selbstkritische Fragen ausspricht, wie: Ist meine Wahrnehmung adäquat? Glotze ich? Sollte ich wegschauen? Kann ich mich meiner Schaulust hingeben? Warum nicht? Warum verändere ich alle paar Sekunden meine Körperhaltung, indem ich irgendetwas überflüssiges mit meinen Armen und Beinen mache oder mein Körpergewicht auf der Sitzfläche verlagere? Die Exponierung und gleichzeitige Deplatzierung, welche die Verkörperungspraxis der Performenden kennzeichnet, scheint sich in gewisser Weise auf das Publikum oder zumindest auf mich im Publikum zu übertragen. Das Blickregime der theatralen Wahrnehmungsordnung wird irritiert und der machtvolle Blick der Zuschauenden auf die Bühne desavouiert. Als Zuschauer kann ich mir unangenehm werden und gleichzeitig bemerken, dass es den Performenden womöglich egal ist, wie ich mich fühle. So zeigen sie mir, dass Rassismus mein Problem ist, nicht ihres. Ich glaube, Mirella Façanhas Mitleid mit weißen Männern, die nicht wissen, wo sie hingucken 172 Jens Roselt 2 Das gilt im Übrigen auch für die diskursiven Aspekte der Performance. In einer Szene beispielsweise werden rassistische Witze von einer Performerin schier endlos aneinandergereiht und durch das exzessive Lachen der beiden anderen Performenden kommentarlos zelebriert. In einer anderen Szene wird der Holocaust relativiert, indem auf Genozide verwiesen wird, die im Kontext der Kolonialisierung stattgefunden haben und die die Shoah nur deshalb als einzigartig ausweisen, weil ausnahmsweise Weiße die Opfer gewesen seien. Solche Szenen hätten in deutschen Stadttheaterinszenierungen zumindest das Zeug für eine Podiumsdiskussion. 3 Black Off hatte 2016 Premiere und tourt seither weltweit. Ich habe eine Aufführung 2021 in der Schwankhalle Bremen gesehen. Außerdem liegt mir eine Videoaufzeichnung vor. Weitere Informationen zu Ntando Cele und ein Ausschnitt von Black Off findet sich auf der Homepage der Künstlerin: https: / / ntandocele.com/ ntando-cele/ (abgerufen am 10.12.2022). sollen, wenn sie vor ihnen auftritt, und die jeden Blick auf sie durch eine Kaskade kritischer Selbstreflexion abfangen meinen zu müssen, hält sich in Grenzen. Was hier passiert ist nicht lediglich eine Kritik am Rassismus in der Aufführung, vielmehr ist es eine Aufführung von Rassismus, welche die Performance selbst kritisch werden lässt. 2 Um diesen Gedanken auszuführen, möchte ich die Soloperformance Black Off in die Überlegungen einbeziehen. 2 Black Off  3 Beim ersten Auftritt von Ntando Cele fällt ihr prächtiges Kostüm sogleich ins Auge. Ein erster Beschreibungsversuch könnte das Kleid Kimono oder vorsichtiger „kimonoartig“ nennen. Der weiße Stoff zeigt ein fein gezeichnetes florales Muster, das mit der dunklen Tinte einer Feder oder eines Pinsels aufgetragen zu sein scheint. Ein breiter Gürtel, der in lindgrün glänzt, hält das Gewand über dem Bauch zusammen. Die Materialität des Stoffes mutet nach Samt und Seide an. Die Erscheinung wirkt edel und elegant oder zumindest teuer. Vor dem Publikum breitet die Performerin ihre Arme aus, so dass man die weiten Ärmel erkennen kann, deren zungenartigen Stoffbahnen fast bis zum Boden reichen. All dies lässt das Kostüm auf mich wie einen Kimono wirken, obwohl ich einräumen muss, dass ich mich mit japanischer traditioneller Kleidung nicht auskenne. Und während ich noch überlege, ob ich mich für eine Analyse des Kostüms, die ja immerhin in einer Festschrift für Erika Fischer- Lichte erscheinen soll, nicht gründlicher in ostasiatische Kleiderkonventionen einarbeiten müsste, bevor ich es wage, das Kostüm als Kimono zu bezeichnen, kommt mir der Gedanke, dass die Aneignung der fremden Mode durch die Performerin womöglich genauso oberflächlich gemeint ist, wie ich sie zu lesen mich genötigt sehe. Ihre Erscheinung weist nämlich diverse Attribute auf, die ich mit anderen Kulturen in Verbindung bringe. Ihre blonde Langhaarperücke, Anziehen, ausziehen, umziehen 173 die weißen bis zu den Oberarmen reichenden Handschuhe, schwarze Pumps und die mehrmals um den Hals gelegte Perlenkette lese ich als Zeichen, die auf einen westlichen oder europäischen Kontext verweisen. Gedeckt wird diese Lesart, im wahrsten Sinne des Wortes, durch die Hautfarbe, die mit dicker Schminke als weiß markiert ist. Dabei zeigt das Kostüm wenig Haut, da die Arme durch die Handschuhe und die Unterschenkel durch weiße Strumpfhosen bedeckt sind. Allein das Gesicht der Performerin zeigt eine maskenartige weiße Blässe, die durch die rot geschminkten Lippen noch betont wird. Die Gesichtszüge der Performerin hingegen verweisen darauf, dass Ntando Cele eine schwarze Künstlerin ist, die, so kann man es auf ihrer Homepage lesen, aus Südafrika kommt und in der Schweiz lebt und produziert. Ihr erster Auftritt kann in der Perspektive der Zuschauenden einen Clash von drei Zeichensystemen mit sich bringen, die grob als „europäisch“, „afrikanisch“ und „japanisch“ unterschieden werden können und fraglich machen, welcher Code nun eigentlich gelten soll. Zusammengehalten wird diese Hybriderscheinung durch die Figur selbst, die sich dem Publikum als Bianca White vorstellt, die eine weiße, südafrikanische Globetrotterin zu sein behauptet, die sich selbst als „Afropolitan“ bezeichnet. Vorgetragen wird diese Selbstdefinition in der souveränen Haltung einer Standup-Comedian, die hinter einem Stativ mit Mikro steht, von wo sie ihr Publikum witzig und frech zu fesseln vermag. Ihre Rhetorik stellt in meinem Verständnis eine typisch westliche Überheblichkeit aus. Die zur Schau gestellte Ignoranz der Figur macht sie erhaben oder arrogant. Bianca White behauptet, Schwarze als ihre Freunde zu dulden. Sie zeigt dem Publikum, dass sie tanzen kann wie die Schwarzen. Dabei verzieht sie das Gesicht zu einer grellen Grimasse. Sie streckt die Zunge raus und bewegt ihren Unterleib stoßweise hin und her. Mit anderen Worten: Sie lässt kein Stereotyp aus und überspitzt die rassistische Dimension ihrer Darstellung satirisch. Auch geschmacklose und rassistische Sprüche werden mit einem Tusch einer Band auf der Bühne begleitet. Als Comedian kann die Performerin eine Art kabarettistisches Charisma aufbauen, das ihr zwar komische Macht über die Zuschauenden verleiht, sie dadurch aber zugleich abhängig macht vom fremden Zuspruch, der ihr jederzeit entzogen werden kann. Fraglich bleibt zunächst, ob wir es mit einer schwarzen Performerin zu tun haben, die eine weiße Figur verkörpert, oder mit einer schwarzen Performerin, die eine schwarze Figur spielt, die eine weiße Person sein will. Dass Letzteres der Fall ist, wird deutlich, wenn Bianca White, die weiße Weiße, erläutert, dass u.a. auch ein Viertel Zulu in ihr stecke und schließlich behauptet, dass jeder Mensch weiß sein könne, wenn er es nur wolle und sich richtig Mühe gäbe. Die Wahrnehmung der Ambivalenz zwischen schwarzer Performerin und 174 Jens Roselt weißer Figur wird irritiert mit einem Kostüm, dessen attraktiver Schauwert eine dritte Kultur ins Spiel bringt, ohne darauf allerdings genauer einzugehen. Das Kostüm klatscht Attribute westlicher Kleidung und Elemente asiatischer Folklore aneinander. Ihre Bekleidung, welche die Figur bei Zwischenstopps auf internationalen Flughäfen zusammen geshoppt haben könnte, lässt sie peinlich wirken, zugleich ist man als Zuschauer geneigt diese Peinlichkeit der kabarettistischen Figur und nicht ihrer Darstellerin zuzuschreiben. Bianca White will vor allem eines sein: nicht schwarz. Allerdings wird die eloquente Rhetorik immer wieder jäh unterbrochen. Die Rede stockt. Statt Worte hört man Laute, die staccatoartig wiederholt werden. Das Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, die den weit geöffneten Mund betont. Eine Videoprojektion macht das Zäpfchen und den Rachenraum als feuchten, fleischigen Schlund sichtbar, der nach innen und unten führt. Das verstärkt den Eindruck, dass der Körper der Figur Innen liegt und dass hinter dem eleganten Schimmer der weiß geschminkten Haut etwas Kreatürliches anzunehmen ist. Die Invertierung von Innen und Außen durch das Mittel der Videoprojektion und das Ausstellen der Körperöffnung lassen die Erscheinung grotesk wirken. Gestik und Mimik spielen konvulsivisch zusammen. Es scheint, als komme etwas hoch, was sich der Kontrolle der Figur entzieht und den glatten Eindruck der Comedian splittern lässt. Nach dem Hybridkostüm von Bianca White kommen in der Performance nacheinander zwei weitere Grundkostüme zum Einsatz. Entsprechend kann die Dramaturgie der lockeren Szenenfolge in drei Teile gegliedert werden. Mit jedem Kostümwechsel geht eine Veränderung der Figur einher. Vor und nach dem zweiten Teil sieht man Ntando Cele zudem in bequem anmutender Probenkleidung mit einem langen weißen Shirt in einer Art Interludium, das den Wechsel des Kostüms und damit die Transformation der Erscheinung szenisch vorführt. Hierzu nimmt die Performerin noch als Bianca White an einem Schminktisch Platz. Mit dem Rücken zum Publikum entledigt sie sich des Kleids. Sie zieht die Perücke ab. Wir sehen ihr nun natürlich wirkendes schwarzes Haar, das zu kleinen Zöpfen geflochten ist. Mit Tüchern schminkt sie sich ab. Eine Projektion auf der Bühnenrückwand zeigt dabei ihr Gesicht von vorne. In mehreren Überblendungen wird eine visuelle Häutung vollzogen. Schließlich filmt die Performerin ihre Gesichtshaut, so dass auf der Projektionsfläche die Nahaufnahme nicht des ganzen Gesichts, sondern einzelner Partien um die Augen, die Nase oder am Mund sichtbar werden. Herangezoomte Poren, Härchen, Fältchen, Flecke und Unebenheiten lassen die Haut auf der Rückwand wie eine Mondlandschaft erscheinen und stellen ihre Materialität aus. Anziehen, ausziehen, umziehen 175 Die Vorstellung, man würde die Performerin jetzt als sie selbst, als schwarze Frau erleben, wird sogleich konterkariert. Im Hintergrund der Bühne erscheint die zweidimensionale Projektion eines Savannenmotivs, dessen Farbe und Ästhetik an den Zeichentrickfilm K ÖNI G D E R L ÖW E N erinnert. Von der dunklen Bühne hört man das Rascheln von Verpackungsmaterial. In gelbem Licht erkennt man, wie die Performerin eine Einkaufstasche entfaltet, die sie sich dann wie ein Trägerkleid überstülpt, so dass ihr Oberkörper röhrenartig umhüllt wird. Die Träger der Tasche werden zu Trägern des Kleids. Beim Anziehen klingt der Stoff nach Plastik oder einem anderen Verpackungsmaterial, dessen Materialität fest und biegsam ist. Es sieht aus, als wäre hier eine Verpackung als Kleid recycelt worden, womit ein weiteres Afrikaklischee bedient würde, wonach man in Afrika einfallsreich und kreativ aus Müll buchstäblich alles machen kann. Die Oberfläche ist mit exotischen Naturmotiven bedruckt. Man erkennt einen Kakadu unter Palmen, in ebenfalls zweidimensionaler Optik. Geradezu eindimensional ist ein Text, der ein touristisch verklärtes und romantisiertes Bild Afrikas als „Land der Safari“ beschwört, zu dem die K ÖNI G D E R L ÖW E N -Pro‐ jektion gut passt. Die Körpersilhouette der Performerin wird auf den Rumpf und das Becken reduziert. Ihr wippender Gang stellt das Gesäß im Taschenkleid aus. Ihr Kopf dient als Trägermedium für ein Gefäß. Die Performerin stellt das stereotype Bild einer Frau nach, die man sich auf dem Weg vom Wasserloch vorstellen mag, da sie eine alte PET-Flasche auf dem Kopf balanciert. Erst als die Performerin das Kleid genervt abstreift und zur Seite wirft, ändert sich ihre Körperlichkeit wieder. Die letzte gut zwanzigminütige Szene der Performance ist eine Art Punk‐ konzert, bei dem die Performerin Lieder singt, deren Texte von Frantz Fanon inspiriert sind. Hierzu betritt sie die Bühne in einem engen schwarzen Leder‐ trikot, das ärmellos ist. Obwohl das Trikot nur den Oberkörper (ohne die Arme) und den Rumpf (ohne die Beine) bekleidet, weist es auffallend viele extravagante Öffnungsoptionen auf. Über die Front des Oberkörpers zieht sich ein Reißverschluss. Über den Brüsten sitzen Taschen mit Nieten. Auch über dem Po verläuft ein Reißverschluss. Der um die Hüften gelegte dünne rote Gürtel trägt zur erotischen Aufladung der Figur bei. Über die Beine ist eine Strumpfhose mit rautenförmiger Netzstruktur gezogen. Schwarze Turnschuhe sind mit Nieten überzogen. Die glatte glänzende Oberfläche bekommt eine haptische Anmutung, indem man sich vorstellt, den Reißverschluss zu berühren oder an einem Knopf zu ziehen. In der Aufführung zeigt die Performerin also drei unterschiedliche Figuren, deren je spezifische Körperlichkeit durch die Kostüme mithervorgebracht wird. Bianca White verweist auf ein Körperverständnis, das auf der Dialektik von 176 Jens Roselt Innen und Außen beruht. Der Körper erscheint maskenhaft als eine willkürlich manipulierbare und kontrollierbare Fassade, hinter der etwas Kreatürliches, Fleischliches, Feuchtes anzunehmen ist, das sich unwillkürlich Bahn bricht, die Mimik von Innen deformiert und nicht durch Worte, sondern durch Laute vernehmbar wird. Im Gegensatz dazu fügt sich die „Wasserträgerin“ in ein zwei‐ dimensionales Schema, das den Körper als reine Oberfläche zur Anschauung bringt und Haut als schöne Fläche zeigt, um ein Stereotyp zu reproduzieren, hinter dem im wahrsten Sinne des Wortes nichts steckt. Als dekorativer Umriss passt sich die „Wasserträgerin“ wie ein Abziehbild in horizontalen Bewegungen über die Bühne ihrem kitschigen Hintergrund an. Das Kostüm der Vera Black zu nennenden Figur im 3. Teil der Aufführung spielt mit der Dialektik von Körper und Kleid. Der schwarze Stoff, die dunkle Haut, der enge Schnitt und die netzartige Struktur exponieren den weiblichen Körper und können ihn erotisch wirken lassen. Der Körper wird sichtbar als machtvolles Instrument der Performerin, die im Gestus des Punk etwas zu sagen bzw. zu singen hat, wobei sie den Bühnenraum souverän für sich einnimmt. Auch diese Figur wendet sich an das Publikum, doch anders als Bianca White heischt sie nicht nach dessen Gunst und Aufmerksamkeit. Beide Performances schaffen je eigene und variierende Wahrnehmungskons‐ tellationen, um die Körper der Performenden zu exponieren. Im Zusammen‐ spiel von Körper und Kleid entstehen in der Perspektive der Zuschauenden hybride Erscheinungen, welche die Haut der auftretenden Personen zeigen, kaschieren und transformieren können. Zuschauende können sich aufgerufen sehen, unterschiedliche Haltungen gegenüber den Figuren zu erproben. Der wuchtigen Ansprache der nackten Performer von IS THIS A BLACK? bin ich anders begegnet als den berührenden Erzählungen der Figuren im Verlauf der Performance Black. Meine Faszination für die kabarettistische Kunstfigur Bianca White war eine andere als die Bewunderung der souveränen Akteurin Vera Black. Die Performances schaffen so szenische Arrangements, die das Publikum zur steten Überprüfung oder Revision der eigenen Position nötigen können. Während sie diskursiv, autobiografisch und theoretisch die Zuschreibungen thematisieren, die schwarze Körper in Wahrnehmungssituationen erfahren, finden solche Zuschreibungen in der Aufführung gleichwohl permanent statt. Selbst in diesen Aufsatz schreiben sie sich ein. Mein Text ist gespickt mit fragwürdigen Beschreibungen, nicht adäquaten Formulierungen, deplatzierten Adjektiven, die allesamt kritikwürdig erscheinen. All dies müsste redaktionell korrigiert werden, doch damit würde auch getilgt, was meine Wahrnehmung der Aufführung zweifellos mitbestimmt hat. Nicht was ich sehe, sondern wie ich es wahrnehme und nachträglich beschreibe, erscheint problematisch. Hier zeigt Anziehen, ausziehen, umziehen 177 sich die rassistische Dimension von Wahrnehmung im Theater und die ästheti‐ sche Dimension von Rassismus auch außerhalb des Theaters. Die Teilnahme an einer Aufführung kann so mit der Erfahrung einhergehen, dass die unmittelbare Wahrnehmung, die sich als offen und unbefangen verstehen mag, verstrickt ist in historische Normen, gesellschaftliche Vorstellungen und individuelle Prägungen. Verstrickt auch in die eigene Position in Bezug auf Herkunft, Klasse und Gender. In diesem Sinne ist die autopoetische Feedback-Schleife weder ahistorisch noch neutral. Es schreit vielmehr zum Himmel, wie viel Rassismus, Sexismus und Klassismus sich in ihr einnistet, breitmacht und hochschaukelt. Aufführungen aber, die rassifizierende Wahrnehmungsweisen kritisieren und diese zugleich aufführen, indem sie sie möglich machen, werden selbst kritisch. Dieses Kritischwerden des Aufführungsgeschehens kennzeichnet m. E. die Qualität der untersuchten Performances. Zugleich wird die ästhetische Dimen‐ sion von Rassismus durch die Aufführungssituation hervorgekehrt. Rassismus hat demnach nicht nur mit Vorurteilen oder ideologischen Einstellungen zu tun, sondern ist auch mit sinnlicher Erfahrung und sozialer Interaktion in Verbindung zu bringen. Auf je eigene Art schaffen beide Performances theatrale Schauanordnungen, in denen Rassismus als ein Wahrnehmungsphänomen kenntlich wird, das die jeweiligen Zuschreibungen des Publikums einbezieht. Dabei wird fraglich, ob die Aufführungsgemeinschaft, die durch die Aufführung hervorgebracht wird, auf eine gemeinsame Grundlage zurückgeführt werden kann. Als Zwischengeschehen sind Aufführungen für diese kritische Praxis prädestiniert, zugleich werden sie dadurch heikel, ambivalent und grenzwertig. Die kritische Praxis, die hier vollzogen wird, verfährt nicht lediglich diskursiv, sondern performativ. Sie lässt sich mit einem Gedankengang der Philosophin Marina Garcés abschließend als verkörperte Kritik verstehen: Die Kritik zu verkörpern bedeutet demnach nicht, das rechte Wort zu finden; auch nicht, sich im Gehege des richtigen Bewusstseins zu gefallen oder den Institutionen die billigste Lösung zu verkaufen. Die Kritik zu verkörpern heißt, heute das Problem anzugehen, das eigene Leben so zu unterwandern, dass die Welt nicht dieselbe sein kann. (2006: 1) Sich als Zuschauender im Theater angesichts des Zusammenspiels von Körper und Kleid als exponiert und zugleich als deplatziert zu erleben, mag ein Schritt zu dieser Veränderung sein. 178 Jens Roselt Literatur Fischer-Lichte, Erika (2004a). Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff. In: Fischer- Lichte, Erika/ Risi, Clemens/ Roselt, Jens (Hrsg.). Kunst der Aufführung. Aufführung der Kunst. Berlin: Theater der Zeit, 11-26. Fischer-Lichte, Erika (2004b). Ästhetik des Performativen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Garcés, Maria (2006). Die Kritik verkörpern: Einige Thesen. Einige Beispiele. https: / / tra nsversal.at/ transversal/ 0806/ garces/ de (abgerufen am 10.12.2022). Lehnert, Gertrud (2013). Mode, Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. Bielefeld: Transcript. McKenzie, Jon (2001). Performe or Else: From Discipline to Performance. London/ New York: Routledge. Anziehen, ausziehen, umziehen 179 1 Hier folge ich dem Beispiel des kanadischen Theaterwissenschaftlers Ric Knowles (2017: 7), der von einem meshwork (anstelle eines networks) spricht, um die interkultu‐ relle Theaterökologie Torontos zu charakterisieren, insbesondere um die ungleiche und fluktuierende Verteilung von Handlungsmacht hervorzuheben, „in which some actants temporarily and provisionally acquire different degrees and kinds of agency“. 2 Ich entlehne diesen Begriff - mit notwendigen Abwandlungen, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann - von der Soziologin Karin Knorr Cetina, die in ihrem Aufsatz „Culture in Global Knowledge Societies“ (2007: 361) über epistemische Kulturen als „bounded habitats of knowledge practice“ schreibt. Zu dem Begriff erklärt sie: „The notion of epistemic culture is designed to capture […] interiorised processes of knowledge creation. It refers to those sets of practices, arrangements and mechanisms Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen Pelenakeke Browns Enter / / Return (2022) Torsten Jost Die Zukunft der Aufführung, sowohl als Phänomen als auch als Begriff, wird - wie dies in der Vergangenheit auch der Fall war - mitbestimmt werden von Prozessen und Praktiken der Verflechtung zwischen Aufführungskulturen. Wie wir Aufführungen erleben werden, wie wir an ihnen teilhaben und über sie nachdenken, sprechen oder analytisch schreiben können werden, wird nicht zuletzt mitbestimmt von Verhandlungen, Übersetzungen, Austauschprozessen und kritischen Bezugnahmen innerhalb und zwischen Aufführungskulturen. Die Frage ist, ob dies - anders als oft in der Vergangenheit - ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Herabwürdigung und Zerstörung gelingen kann. Aufführungskulturen begreife ich - in Anschluss an Erika Fischer-Lichte (2014) - als heterogene und miteinander vielfach verknüpfte Geflechte aus Prak‐ tiken, d.h. als dynamische „meshworks“ 1 , an denen zahlreiche Akteur*innen, Interessengruppen und Institutionen rege mitzuwirken versuchen und in denen spezifische Kenntnisse, Methoden und Begriffe fortwährend (weiter-)ent‐ wickelt, erprobt und kontrovers verhandelt werden. Außerdem schlage ich vor, Aufführungskulturen auch als „epistemische Kulturen“ 2 zu begreifen, bound together by necessity, affinity and historical coincidence which, in a given area of professional expertise, make up how we know what we know. Epistemic cultures are cultures of creating and warranting knowledge.“ (2007: 363) 3 Bei diesem Verständnis von Wissen beziehe ich mich u.a. auf die Soziologen Nico Stehr and Reiner Grundmann (2005: 6). Sie definieren Wissen als „a capacity for action. Knowledge enables actors, in conjunction with control over the contingent circumstances of action, to set something in motion and to structure reality. […] Knowing, in other words, is […] doing.“ 4 Diesen Ansatz kann ich hier nur skizzenhaft andeuten. Für eine ausführliche Darstel‐ lung, siehe Jost (2023). 5 Bei dem arabischen Begriff furja handelt es sich, wie der marokkanische Theaterwis‐ senschaftler Khalid Amine (2023) erklärt, um „an inclusive category closely related to ‚Aufführung‘ in German, ‚performance‘ in English, and ‚spectacle‘ in French. Within this semantic field, furja primarily highlights spectatorship, insofar as it involves a given representation watched by others, ranging from cultural to artistic performances. Like the English term ‚performance,‘ furja is itself a highly contested artistic category within the field of theatre studies in the Arab world.“ d.h.-als unverzichtbare (Über-)Lebensräume von Praktiken, Arrangements und Begriffen, die zur (Re)Generierung sowie zur Beglaubigung von Wissen (hier nicht zuletzt verstanden als Handlungskapazitäten 3 ) dienen und beitragen. Auf‐ führungskulturen als epistemische Kulturen lassen sich dadurch differenzieren, welche je spezifischen wissens(re)generierenden Praktiken, Arrangements und Begriffe in ihnen wiederholt angewandt und intensiv verhandelt werden. 4 Ein Schlüsselbegriff, der performative Kulturen im deutschsprachigen Raum - in ihrer heterogenen Diversität - seit mehr als einem Jahrhundert wie kaum ein zweiter prägt und sie auch miteinander verknüpft, ist der Begriff der Aufführung selbst. Die vorliegende Festschrift fragt nach der Zukunft der Aufführung und nicht etwa nach der Zukunft von Furja oder der Zukunft von Performance. 5 Auf diese Weise verortet sich der Sammelband in einem Nexus diverser performativer Kulturen, für die der deutschsprachige Aufführungsbegriff mit seiner spezifischen Semantik und seinen historischen, philosophischen, theoretischen sowie prakti‐ schen Implikationen ein wichtiges epistemisches Werkzeug darstellt, um dessen Bedeutung(en) und Anwendungsbereiche auch kontrovers gerungen wird. Mein Beitrag nähert sich Aufführungskulturen als epistemischen Kulturen und beleuchtet Aufführungen dabei als Zwischengeschehen, die es Teilnehm‐ enden ermöglichen, an Überschneidungen epistemischer Kulturen zu partizi‐ pieren. Im Zentrum meines Beitrags steht eine künstlerische Aufführung, die wissens(re)generierende Begriffe, Symbole und Praktiken aus verschiedenen Aufführungskulturen auf überraschende und erhellende Weise zusammenzu‐ führte. Besonderes Augenmerk lege ich dabei einerseits auf die Frage, wie diese Zusammenführung thematisiert und in Szene gesetzt wurde sowie andererseits 182 Torsten Jost 6 Auf ihrer Webseite beschreibt Pelenakeke Brown (2022a) sich als „an Samoan/ Pakeha disabled artist.“ In einem Online-Interview mit Emma Colón (2019) erklärt Brown: „I was born with - or have always had, ever since I can remember - cerebral palsy, which affects the right side of my body. [Cerebral palsy] is kind of an umbrella term for disabilities that happen before, at birth, or just after, due to brain damage, and can affect mobility and sometimes speech, with each person affected differently and to varying levels“. Zu ihrer Samoa-Pākehā Identität erklärt sie: „I am from New Zealand, but Indigenous - my mother is indigenous to Samoa.“ Außerdem: „I have Pakeha ancestry - half my family is white.“ 7 Kuratiert wurde das „Performancefestival für queere behinderte Perspektiven“, das vom 09.-17. September 2022 stattfand, von Noa Winter (siehe Sophiensaele (2022)). darauf, welche besonderen Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten sie für Zuschauende, wie mich, eröffnete. 1 Über Keyboards und Aufführungen als Kreuzungsorte von Wissen Am 9. September 2022 wurde in den Sophiensaelen Berlin Enter / / Return uraufgeführt, eine Inszenierung von und mit Pelenakeke Brown. Brown ist eine samoanische Künstlerin, die interdisziplinär arbeitet (drawing, writing, story‐ telling, movement), die sich als indigener Mensch mit Behinderung identifiziert und die aktuell in Aotearoa/ Neuseeland lebt und arbeitet. 6 Enter / / Return wurde im Rahmen des Festivals Queering the Crip, Cripping the Queer gezeigt, ein internationales Festival, das - organisiert in Kooperation mit dem Schwulen Museum in Berlin - das Publikum mit künstlerischen Arbeiten konfrontierte, welche „Herausforderungen und Potenzialen“ nachgehen, die „Intersektionen von Behinderung und Queerness mit sich bringen“. 7 Noch bevor die Uraufführung im großen Festsaal der Sophiensaele begann, hatten die Zuschauer*innen die Gelegenheit, im Programmheft zu blättern und zu erfahren, dass sowohl Pelenakeke Brown als auch die Live Sound-Künstlerin Deborah Lagaaia Paulo auf der Bühne zu sehen sein werden. Ferner konnten sie dort lesen, dass die Inszenierung sich in vielerlei Hinsicht auf den samoanischen Begriff Vā bezieht. „Our relationships to space and time are very deliberate“, erklären die beteiligten Künstler*innen, und erläutern weiter: We have created relationships in space that mimic and relate to the vā: a Samoan concept of relationality across time and space which is activated through the central relationship between Deborah and Pelenakeke. Deborah holds the role as a witness and activates the vā by always being in relationship with Pelenakeke through her tautua (service) as principal witness. Marking time and space are done very deliberately. Through the diamond shape of the stage which reflects the malu tatau and its central role in relationships. This shape is mimicked throughout with the Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 183 8 Diese spezifische Form der Darstellung traditioneller Tätowierungsmuster im Pro‐ grammheft kann auch als eine kritische Antwort der Künster*innen auf (post-)koloniale Repräsentationsformen pazifischer Tätowierungspraktiken verstanden werden, wie sie allzu häufig in historischen und auch noch zeitgenössischen anthropologischen Studien zu sehen sind. In ASCII-Kunst werden aus Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen kleine Piktogramme und komplexe Bilder hergestellt. Für ein Online-Archiv von ASCII- Kunst, siehe das ASCII Art Archive (2022). installation of the eight tapa cloth (mulberry bark tree), sourced from Fiti (Fiji). Their concertina shape creates angles, and points of entry into space. Marking relationships is also referenced in the animations which are traditional tatau (tattoo) marks that can be found on our bodies. Some of the marks can be found in the keyboard and are used throughout the show. (Brown 2022b) Zusätzlich zu diesen Erklärungen finden sich in dem kurzen, sechsseitigen Pro‐ grammblatt noch Abbildungen von traditionellen samoanischen Tätowierungs‐ mustern. Zum einen die Abbildung des Musters „Malu“ (Abb. 1): „a diamond shape that is central to the traditional tatau worn by women on their legs. It denotes protection, to shelter, a safe place“. Zum anderen ein als „Jellyfish“ bezeichnetes Muster, „looks gentle but can bite“, sowie das Muster „Manu (bird)“: „often signals a shift, a return, a malaga (journey)“-(Abb. 2). Abb. 1: „Malu“ ©-Pelenakeke Brown Abb. 2: oben: „Jellyfish“; unten: „Manu (bird)“ ©-Pelenakeke Brown Bemerkenswert an diesen Abbildungen ist, dass es sich nicht um Fotografien von traditionellen Tätowierungen handelt, sondern um ASCII-Kunst ähnliche Darstellungen. 8 Zur Abbildung der Tatau-Marken wurden also typographische Textzeichen verwendet, die als Sonderzeichen in herkömmlichen Textverarbei‐ tungsprogrammen zu finden sind. Zugleich handelt es sich bei diesen Zeichen aber auch um traditionelle samoanische Tatau-Marken, „that can be found on 184 Torsten Jost our bodies“, wie die beteiligten Künstler*innen erklären. Aufgrund ihrer Erläu‐ terungen erscheinen diese Zeichen/ Marken nun als bemerkenswert vieldeutige Chiffren, in denen sich offenbar verschiedene Wissenskontexte und -praktiken überkreuzen (traditionelle samoanische Tatau-Praxis, computergestützte Text‐ verarbeitung, ASCII-Kunst). Nach einer ersten Lektüre des Programmhefts war der Blick auf die noch leere, schwach beleuchtete Bühne der Sophiensaele ein veränderter. Erkennbar wurde nämlich, dass die Bühnenform dem Malu-Muster nachempfunden war: Ähnlich dem abgebildeten Tatau-Design hatte die Bühne die Form einer Raute. Diese wurde von acht langen, schmalen und cremefarbenen Tapa-Tüchern in zwei ungleich große Räume geteilt. Einer der spitzen Winkel der Bühnenraute fungierte als Hinterbühne. Durch die engen Zwischenräume der herabhän‐ genden Tücher war dieser kleinere Raum nur ausschnitthaft zu sehen. Der zweite spitze Winkel der Raute diente als große Vorderbühne, links und rechts begrenzt von ansteigenden Zuschauertribünen. An der Spitze der Vorderbühne lagen Musikinstrumente auf dem Boden: Schlagstöcke, Trommeln und Kissen waren erkennbar. Würde Deborah Lagaaia Paulo hier ihren Platz einnehmen? Würde sie hier ihren Tautua (engl. „service“) leisten und das Vā aktivieren, indem sie die Rolle der Hauptzeugin („principal witness“) übernimmt? Solche Vorüberlegungen über die kurz bevorstehende Aufführung wurden zusätzlich befördert durch einen weiteren im Programm notierten Hinweis an die Zu‐ schauenden: „Questions we invite you to think about: What does it mean to witness? How do we return to ourselves? What is the smallest movement you can make? “ (Brown 2022b) Im Englischen ist ‚Enter‘ ein etablierter Theaterbegriff. In traditionellen Dra‐ mentexten markiert er den Bühnenauftritt einer Figur („enter Hamlet reading“). Gleichzeitig bezeichnet ‚Enter‘ die zweitgrößte Taste auf der Computertastatur. Im Deutschen heißt sie Eingabetaste, Knickpfeiltaste, Zeilenschalter oder auch Rückführtaste mit Zeilenschaltung. Im Englischen ist ‚Return Key‘ als Bezeich‐ nung ebenfalls noch geläufig, wahrscheinlich aus Zeiten der Schreibmaschine herrührend. „For years this idea of ‚enter and return‘ has continued to preoccupy me“, erklärt Brown (2022b) zum Inszenierungstitel im Programmheft. I first pondered their existence when I noticed they were placed on the same key. Echoing indigenous ideas of the past, present and future intertwined. I love this indigenous idea is sitting in the everyday keyboard. Welche Ideen oder, besser, welches Wissen verknüpft sich mit Textzeichen oder mit Tasten(namen) von Computerkeyboards? Vor der Lektüre des Pro‐ Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 185 grammhefts hatten meine Assoziationen zum Inszenierungstitel weder einen Bezug zu Tastaturen noch zu ozeanisch-indigenen Konzepten von Temporalität. Stattdessen erinnerte der Titel mich an eine performativitätstheoretische Idee, die die US-amerikanische Philosophin Judith Butler (1988: 526) in den mir unvergesslichen Satz gegossen hat: „The act one does, the act that one performs, is, in a sense, an act that has been going on before one arrived at the scene.“ Jeder Auftritt (Enter) stellt, mit anderen Worten, immer auch eine Art Rückkehr (Return) dar. Aber diese performativitätstheoretische Grundidee sollte mit dem Titel Enter / / Return vermutlich nicht aufgerufen werden, oder zumindest nicht allein dieses spezifische Wissen. Offenbar ging es Brown auch hier darum, ähn‐ lich wie bei der Hervorhebung von Analogien zwischen traditionellen Tatau- Marken und Sonderzeichen in Textverarbeitungsprogrammen, das Begriffspaar Enter / / Return als eine überraschend vieldeutige Chiffre aufscheinen zu lassen. Als solche verweist sie auf eine erstaunlich diverse Vielfalt kultureller Wis‐ senskontexte und avanciert zum Knotenpunkt ihres Zusammentreffens. In der Formel Enter / / Return überlagern sich Verweise auf Wissen in so unterschiedli‐ chen Kontexten wie etwa maschineller Textverarbeitung, Computerkunst, tradi‐ tioneller Dramatik, Theaterpraxis, Performativitätstheorie sowie, nicht zuletzt, ozeanisch-indigener Philosophie. Auf diese Weise lässt der Inszenierungstitel zugleich auch die Möglichkeit aufscheinen, verschiedene Ideen und Praktiken aus diesen Wissenskontexten künstlerisch miteinander zu verflechten. Auf der Webseite von Pelenakeke Brown ist ein „Artist Statement“ zu finden. In dem Text umreißt die Künstlerin Interessen und Fragen, die ihre Arbeit prägen und anleiten. Sie erklärt: My work explores all the intersections of my identities as a disabled, Oceanic woman living in the diaspora […]. I am intrigued by the overlaps within my identities, with how indigenous ways of seeing, being and time can and does, overlap with crip time. Finding sites of knowledge which hold both, excites me. The keyboard is one of these crossover sites, it intersects my many identities and art forms, as well as becoming a tool for freedom and creativity of expression. (Brown 2022c) Ich zitiere aus Browns Erklärung, weil sie hier eine künstlerische Praxis der Über‐ schneidung verschiedener (aber eben nicht vollständig voneinander isolierter) Identitäten und sie unterstützender Wissenspraktiken anspricht, die auch meine Erfahrung als Zuschauer in der Aufführung Enter / / Return geprägt hat und über deren Implikationen ich im Rahmen dieses Aufsatzes genauer nachdenken möchte. Brown beschreibt sich als ein Mensch mit verschiedenen Identitäten, zwi‐ schen denen Überlappungen („overlaps“) existieren. Insbesondere spricht sie 186 Torsten Jost 9 „Crip time“, erklärt Tamar LeRoy (2021), „provides a framework to look at how different relationships to time need more inclusive acknowledgment and accommodation. […] Crip time can also have connotations of liberation: in this way, the user of the term reclaims the experience of time as their own and celebrates that time is not uniform but varied between individuals and shaped by unique physical and cognitive factors. Crip time in both senses—of liberation and orientation toward accessibility—are connected. Both emphasize that normative time is artificial and can be changed.“ ihre Identität als Frau mit ozeanisch-indigener Herkunft sowie ihre Identität als Mensch mit Behinderung an und erklärt, dass indigene Praktiken des Sehens, des Seins und der Zeitlichkeit sich mit „crip time“ überschneiden können und dies auch geschieht. Indigene Praktiken können sich also teilweise mit Praktiken der Zeiterfahrung und -gestaltung von Menschen überschneiden, die mit einer Behinderung leben. Letztere entlarven eine vermeintlich ‚normale‘ und ‚natürliche‘ Tagesaufteilung in Segmente (festgelegte Zeiten für Arbeit, Ruhe und Erholung, Hausarbeit, Besorgungen, Kunsterfahrung, Familienzeit und Schlaf) als behindernd, ausgrenzend und setzen ihnen - nicht zuletzt in künstlerischen Kontexten - Formen inklusiver Zeitgestaltung entgegen. 9 Das Auffinden von Wissensorten („sites of knowledge“), die solche Überschnei‐ dungen zulassen und befördern, wird von Brown als besonders aufregende Erfahrung beschrieben. Anschließend identifiziert sie das Computerkeyboard als solch einen Überschneidungsort von Wissen. Die Computertastatur - als „crossover site“ - überkreuzt („it intersects“) Browns „many identities and art forms“. Auf diese Weise avanciert sie für die Künstlerin zu einem unverzicht‐ baren Werkzeug für Freiheit und für Kreativität im Ausdruck. Im Folgenden möchte ich fragen, ob und inwiefern sich Browns verblüffende Offenlegung und Beschreibung der Computertastatur als eine „crossover site“ von Wissen auch für eine Analyse von Enter / / Return produktiv machen lässt. Präziser gesagt, geht es mir um die Frage, welche Möglichkeiten für und Perspektiven auf das Zuschauen in der und durch die Aufführung eröffnet wurden. Dabei vertrete ich die These, dass das Zuschauen in Enter / / Return als eine Praxis erfahrbar gemacht wurde, durch die Zuschauende potentiell an verschiedenen epistemischen Kulturen gleichzeitig teilhaben können. Ähnlich der Computertastatur, die ich jeden Tag verwende, ohne zu erahnen, für welch erstaunliche Vielfalt von Praktiken der Wissens(re)generation sie sich anbietet, offenbarte sich in Enter / / Return das mir vermeintlich vertraute Zuschauen als ein überraschend dicht vernetzter Kreuzungspunkt diverser epistemischer Kulturen. Die Metapher oder Denkfigur des Faltens bemühend, die (wie wir gleich sehen werden) in Enter / / Return selbst thematisch wird, lässt sich meine These viel‐ Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 187 10 Bei meinen Aufführungsbeschreibungen stütze ich mich auf meine Erinnerungen an meinen Aufführungsbesuch am 9. September 2022. Außerdem war Pelenakeke Brown so freundlich, mir als Erinnerungsstütze die Videoaufzeichnung einer nicht-öffentli‐ chen Probe von Enter / / Return zur Verfügung zu stellen. leicht auch so formulieren: Enter / / Return führte vor, dass wissens(re)generie‐ rende Praktiken des Zuschauens, die mit verschiedenen Aufführungskulturen assoziiert werden, in einer Aufführung zusammengefaltet und so miteinander in Berührung und womöglich sogar zur Überlappung gebracht werden können. Allerdings sind sowohl zur Inszenierung als auch zur Registrierung solcher Wissensfaltungen spezifische Kenntnisse unverzichtbar, auf die ich - im Zeit‐ raum der Aufführung - oft gerade nicht zurückgreifen konnte. Insofern wurde mir in der und durch die Aufführung auch die Möglichkeit eröffnet, über meine Identitäten nachzudenken und zu fragen, welche Wissenspraktiken sich mit ihnen verknüpfen. Welche Identitäten lebe und pflege ich aktiv (und zusammen mit anderen)? An welchen epistemischen Kulturen nehme ich teil? Welches Wissen steht mir daher zur Verfügung (oder eben nicht zur Verfügung), um es in meine Praxis des Zuschauens einzufalten? 2 Enter Das Erlöschen des Saallichts markierte den Aufführungsbeginn von Enter / / Re‐ turn. 10 Zwei Personen betraten die Vorderbühne. Brown legte sich auf den Boden, im Zentrum der Bühne, dicht vor den herabhängenden Tapa-Tüchern. Paulo setzte sich in die Spitze des Malu zu den Musikinstrumenten kurz vor den Zuschauertribünen. Langsam wurde die Beleuchtung heller, anfangs durch spärliches, blaues Scheinwerferlicht, später durch Projektionen der Jellyfish- Marken. Verborgene Lautsprecher spielten dumpfe, düstere Klänge, die wie technisch verfremdeter Walgesang anmuteten. Paulo erzeugte perkussiv Klick‐ geräusche. Gelegentlich schien sie ihre Schlagstöcke auch aneinander zu reiben. Später kamen deutlichere Meeresgeräusche hinzu: Plätschern, der Klang brech‐ ender Wellen. Im Zusammenspiel mit den Projektionen und Geräuschen begann sich Brown langsam zu bewegen. Es dominierten Rotations-, Krümmungs-, Tast- und Streichbewegungen. Arme breiteten sich aus und wurden ruhig zum Körper zurückgezogen. Der Rumpf streckte sich, krümmte sich und rollte ruhig auf die eine oder die andere Seite. Finger tasteten nach Jellyfish-Projektionen. Mehrfach strich Brown mit der Hand über den Bühnenboden, als säubere sie eine Wasseroberfläche. Unterdessen breiteten sich die Projektionen im Raum aus. Bewegten sich die Jellyfish zunächst nur auf und um Browns Körper, zogen 188 Torsten Jost sie später auch über die Tapa-Tücher und begannen schließlich, die gesamte Vorderbühne zu bevölkern. Ebenso allmählich, wie die Lautstärke sich steigerte und die Projektionen sich ausweiteten, richtete Brown sich auf, von ihrer liegenden in die knieende und schließlich in die stehende Position. Faszinierend an diesem Prozess, der viele Minuten dauerte, war, dass obwohl sich Browns Bewegungen insge‐ samt nur wenig veränderten, sie dennoch zu immer neuen Deutungen Anlass gaben. Während ihre Bewegungen im Liegen so anmuteten, als ahme sie die weiche Fortbewegungsart einer Qualle (engl. „jellyfish“) nach, im sich und sie bewegenden Meer, interpretierte ich ihre fließenden Arm-, Hand- und Rumpfbewegungen später, als sie auf ihren Unterschenkeln saß und schließlich aufrecht stand, nicht länger als Nachahmungen eines Meerestiers. Vielmehr fragte ich mich, ob es sich um Bewegungsmaterial aus traditionellen samoanischen Choreografien handeln könnte, insbesondere weil sie mehrfach präzise wiederholt wurden und darüber hinaus teilweise überraschend vertraut wirkten, insbesondere Browns Rumpf- und Handbewegungen, die von Wellen‐ bewegungen inspiriert schienen. Gleichzeitig wirkten die Bewegungen so, als ob Brown im Meer kniend oder stehend mit Wind und Wasser interagiert, als ob sie mit ihren Händen Meereswasser schöpft oder vorsichtig Meerestiere berührt, aufmerksam beobachtend, wie die Umwelt auf ihre Präsenz reagiert. Nach circa einer Viertelstunde änderte sich die Szenerie und Atmosphäre. Die Jellyfish verschwanden und wurden abgelöst von Manu-Marken, die nun in regelmäßiger Formation den Bühnenraum durchquerten. Wind war zu hören. Browns Bewegungen wurden energetischer, raumgreifender. Hatte sich Brown im ersten Teil der Szene stets Paulo zugewandt positioniert, blickte sie nun auf die Tapa-Tücher. Den Zuschauenden den Rücken zugekehrt, hob und senkte sie ihre Arme im Rhythmus von Windböen und Meereswellen. Dabei gehorchten die Projektionen der Manu ihrem Dirigat und bewegten sich im Rhythmus ihrer Armbewegungen auf den Tapa-Tüchern auf und ab. Wenn Brown die Arme hob, verharrte sie stets für einen Augenblick in dieser Position, blickte nach oben und schien das Verschwinden der Manu-Projektionen im Bühnenhimmel zu beobachten. Nach und nach flaute der Sturm ab. Die Geräusche wurden leiser. Allein die Manu bevölkerten noch die Vorderbühne. Brown zog sich durch die Falten der Tapa-Tücher auf die Hinterbühne zurück und nahm auf einem Stuhl Platz, wie ich durch die Spalten zwischen den Tüchern mehr erahnen als sehen konnte. Enter / / Return gliederte sich in klar abgegrenzte Szenen. In diesen führte Brown konkrete, in ihrer Behutsamkeit zeremoniell und rätselhaft anmutende Handlungen aus, stets mit Objekten: mit Papier, mit einem Gehstock und mit Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 189 Kokosnussschalen. Dabei suchte sie öfter Blickkontakt mit Menschen im Pub‐ likum und hielt Monologe in englischer Sprache. Mit den parallel vollzogenen Handlungen standen diese Monologe allerdings nie in einer offenkundigen inhaltlichen Beziehung. In einer Szene etwa faltete, zerknüllte und zerriss Brown weiße DIN-A3-Papierbögen; in einer anderen stapelte sie Kokosnuss‐ schalen ineinander, die auf der rechten Bühnenseite auf einem flachen Tisch aufgereiht standen. Was diese Vorgänge miteinander zu verbinden schien, war, dass bestehende materielle Anordnungen aufgelöst wurden, um das Material anschließend neu zu organisieren. Im Zuge dessen entstanden komplexere Arrangements, die den Zuschauenden den Ein- und Überblick erschwerten und deshalb rätselhaft wirkten: Aus einem Papierstapel wurden viele wilde, dreidimensionale Papierfiguren, chaotisch verteilt im Bühnenraum. Aus einer dekorativen Reihe von Kokosnuss-Schalen entstand ein instabil schwankendes Türmchen. Hier ist nicht der Raum, um auf alle Szenen genauer einzugehen. Hervor‐ heben möchte ich die Szene mit den Papierbögen, nicht zuletzt weil sie den Impuls gab, die zentrale These dieses Aufsatzes auch mithilfe der Metapher des Einfaltens zu formulieren. Brown nahm auf einem Hocker Platz, der auf der linken Seite der Vorderbühne bereitstand. Neben dem Hocker lagen weiße Papierbögen, die an einer kurzen Seite zu einem Stapel zusammengeleimt waren. Nun löste Brown den Stapel auf, Bogen für Bogen. Sobald sie ein Blatt heraus‐ gelöst hatte, begann sie es zu falten oder einzureißen. Beim Falten achtete sie nie wirklich darauf, ob Ecken und Kanten genau aufeinanderlagen. Ihre Faltungen schienen keiner erkennbaren Logik zu folgen, obwohl sie genau hinschaute und die Falten mit ihren Fingern oft nachzog. Dieser Vorgang dauerte viele Minuten und lenkte meine Aufmerksamkeit insbesondere auf Browns Hände, die von der Zerebralparese, mit der sie lebt, unterschiedlich betroffen zu sein scheinen. Im Vergleich und im Zusammenspiel mit der linken Hand, wirkte die rechte weniger kräftig. Häufig, nicht immer, führte die linke Hand kraftraubende Aktivitäten aus, wie etwa das Aufheben oder Ablegen des Papierstapels oder das Ziehen von Falten. Die rechte Hand erledigte delikatere Aufgaben, etwa das Herauslösen des Papiers aus dem Stapel. Die fokussierte Beobachtung des routinierten Zusammenspiels der Hände animierte zum Nachdenken über Formen der Interaktion: zwischen Körperteilen; zwischen Körper und Material (wie Papier); zwischen den beiden Performerinnen Brown und Paulo; zwischen ihnen und uns, den Zuschauenden; und nicht zuletzt auch zwischen unseren Augen und Ohren beim Zuschauen. Begleitet wurden die Bühnenvorgänge nämlich nicht nur von Tippgeräuschen auf einer Computertastatur, sondern auch von einem Monolog Browns. Dieser wirkte wie die Audiobeschreibung 190 Torsten Jost eines Tanzes mehrerer Personen. Gleichzeitig wurden Videobilder auf die Tapa- Tücher projiziert, die ich allerdings von meiner Position aus nicht sehen konnte, nicht zuletzt wegen der verwinkelten Ziehharmonikaform, in der die Tücher aufgehängt waren. Nichtsdestotrotz ließen sich Korrespondenzen zwischen Browns Bewegungsbeschreibungen und ihren Handbewegungen ausmachen. In dem Augenblick etwa, als es hieß: „They repeat small, often mechanical movements of twisting their hands and heads, side to side. twisting, twisting, twisting“ (Brown 2022d: 2), faltete sie das Papier nicht, sondern zerknüllte es, als würde sie ein feuchtes Tuch auswringen. Nachdem Brown ein Papier gefaltet, zerrissen oder zerknüllt hatte, warf sie es - dabei stets schelmisch ins Publikum lächelnd - zu Boden. Nachdem alle Papierbögen diesen Prozess durchlaufen hatten, endete die Szene. Meine Beschreibung der Aufführung abschließend, möchte ich noch kurz auf die letzte Szene eingehen, auch weil Brown und Paulo hier auf besondere Weise interagierten. Tatsächlich prägte ein enges Zusammenspiel beider Frauen die gesamte Aufführung. Fast durchgehend wurden Browns Handlungen von Paulo perkussiv begleitet, auch in der soeben beschriebenen Falt-Szene. In dieser verdichtete sich ihr perkussives Spiel sogar zu einem antreibenden Tanzbeat. Browns Monolog entwickelte sich im Zuge dessen mehr und mehr zu einem Sprechgesang, und sie faltete oder zerriss die Papiere auffallend rhythmisch. Die Köpfe und Kniee vieler Zuschauer*innen um mich herum wippten im Beat. In anderen Szenen war die Perkussion dezenter und weniger rhythmisch. Obwohl Paulo ihre Position in der Spitze des Bühnen-Malu nie verließ, wo sie nur wenige Zuschauer*innen gut sehen oder gar länger beobachten konnten, war sie dennoch stets sehr präsent und affizierte mit ihrem perkussiven Spiel sowohl Brown als auch uns Zuschauende. Zu Beginn der letzten Szene von Enter / / Return befand sich Brown wieder auf der Hinterbühne, verborgen hinter den Tapa-Tüchern, wo ich sie abermals kaum sehen konnte. Die Bühne war dunkel, nur schwaches, gelbes Licht breitete sich von der Hinterbühne kommend v-förmig auf der Vorderbühne aus, wo es Paulo anstrahlte. Paulo begann ein Lied zu summen. Brown stimmte kurz ein, begann dann aber einen längeren Monolog. Während sie sprach, kehrte sie auf die Vorderbühne zurück und besuchte noch einmal alle Orte, die sie während der Aufführung bespielt hatte, exakt in der Reihenfolge, in der sie sie zuvor bespielt hatte. Dabei wiederholte sie die Textzeile: „Moving / in time and space / it is a form of ritual“ (Brown 2022d: 3). Ferner sprach sie über drei spezifische Gruppen, „immigrants“, „disabled people“ und „queer people“ und deren Erfahrungen mit „entering“ und „returning“, wobei sie sich stets als Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 191 11 „As immigrants / we understand the act of entering a new place / and that quiet tug to return home. […] As disabled people / we spend a lot of time / being told about our bodies, / so we ignore them / when we are alone with ours. / Instead we often ‘push through.’ / But there is such glory in that moment / when we finally return to our bodies / And build a relationship with ourselves.“ Meine Mitschrift, basierend auf der Videoaufzeichnung einer Probe, die mir von Brown zur Verfügung gestellt wurde. Mitglied dieser Gemeinschaften identifizierte. 11 Am Ende ihres Monologs kniete sich Brown vor Paulo. Die Frauen begannen ein Lied in samoanischer Sprache zu singen. Das kurze Lied wurde wiederholt, immer schneller, unterstützt von Paulos Perkussion. Es wurde immer schwieriger auszumachen, wer hier wen antreibt: Die Frauen blickten sich direkt in die Augen und schienen sich wechselseitig anzuspornen, immer noch schneller zu singen. Nach vielen Steigerungen markierte plötzliche Dunkelheit das Ende der Aufführung und der Applaus folgte. 3 Return Wie wurde in Enter / / Return das Zuschauen als eine Praxis erfahrbar gemacht, durch die Zuschauende an verschiedenen epistemischen Kulturen teilhaben können? Um diese Frage plausibel zu beantworten, müssten hier viele Szenen und inszenatorische Mittel genau beschrieben und ausführlich kontextualisiert werden, was im Rahmen dieses Essays nicht zu leisten ist. Hervorheben und genauer besprechen möchte ich deshalb nur wenige Augenblicke und Mittel: als Erstes die Gestaltung des Aufführungsraumes sowie, zweitens, einige markante Momente der ersten Szene. Im Programmheft wird die besondere Gestaltung des Aufführungsraumes, wie oben bereits erwähnt, explizit zum Thema. Tatsächlich war es mir nur mithilfe des Programmhefts möglich, die besondere Anordnung der Bühne und Zuschauertribünen im Festsaal der Sophiensaele als räumliche Ausfaltung des Malu-Musters zu erkennen. Das Malu, so die Künstler*innen, „is central to the traditional tatau worn by women on their legs. It denotes protection, to shelter, a safe place“ (Brown 2022b). Bereits diese wenigen Informationen genügten, um meine Zuschaugewohnheiten nachhaltig zu irritieren. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Maluisierung des Aufführungsraumes für mich, als weißen Mann, der in Berlin lebend kaum mit samoanischen Traditionen vertraut ist? Ein Konzept des französischen Philosophen Michel Foucault aufgreifend, könnte man sagen, dass die Maluisierung des Aufführungsraums mich mit einem mir unbekannten Dispositiv konfrontierte. Dispositive meinen einerseits 192 Torsten Jost 12 In der deutschsprachigen Theaterlandschaft identifizieren sie das Regietheater als ein prominentes Theaterdispositiv, „dessen Materialisationen von seinen als einheitlich er‐ fahrenen Produktionsbedingungen abhängig sind“ (Siegmund/ Aggermann 2020: 144). abstrahierte Ordnungen, „die nach bestimmten, jedoch nicht immer durch‐ schaubaren Regeln“ funktionieren und spezifisches „Wissen und Subjekte“ auf den Plan rufen und somit (re)produzieren (Siegmund/ Aggermann 2020: 132 f.). Andererseits sind Dispositive konkrete materielle Anordnungen, denn schließlich „wird immer etwas Bestimmtes disponiert“, wie die Theaterwissen‐ schaftler Gerald Siegmund und Lorenz Aggermann (2020: 133) formulieren. Trotz ihrer Abstraktion, betonen sie, manifestieren sich Dispositive stets „in einem begrenzten und konkreten Rahmen, in einer Materialisation - als ein bestimmtes Dispositiv“ (Siegmund/ Aggermann 2020: 133). 12 In einem aktuellen Essay, der sich mit vermeintlich dekolonialen Program‐ mierungs- und Inszenierungsstrategien europäischer Theaterbühnen und The‐ aterkünstler*innen kritisch auseinandersetzt, vertritt der indische Theaterwis‐ senschaftler Rustom Bharucha (2023: 116f.) die These, dass any decolonial option […] needs to engage with the materiality of an existing space through a conscious reframing of its inbuilt hierarchies and social capital. “Space” in theater, as determined by its architecture, acoustics, ambience and capital, is never neutral; it is loaded with power and assumptions of privilege, skill, technique and resources. Bharucha betont, mit anderen Worten, die Notwendigkeit, dass - gerade in europäischen Theaterkontexten - dekoloniale Strategien unbedingt eine Um‐ organisation der „materiality of an existing space“ einschließen müssen, da die Aufführungsteilnehmer*innen sonst in Materialisationen von in Europa wohletablierten Theaterdispositiven gleichsam ‚eingebaut‘ bleiben und so kaum eine kritische Distanz zu diesen Anordnungen und ihren Effekten auf ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen und mithin auch ihr Wissen erlangen können. Das Dispositiv, in dessen theatralisierter Ordnung sich die Zuschauer*innen von Enter / / Return angeordnet fanden, war das des Malu. Diese Anordnung stellte gewohnte Privilegien in Frage, insbesondere für nicht-pazifische Zu‐ schauer*innen. Ressource war nicht ein in Berlin wohlbekanntes, mit viel Prestige aufgeladenes Theaterdispositiv. Zentrale Referenz war die samoanische Tatau-Kultur, speziell das Frauen vorbehaltene Malu, und mithin eine in/ von Europa traditionell marginalisierte kulturelle Praxis, die - seit der Kolonisierung des samoanischen Archipels durch das Deutsche Reich (als „Deutsch-Samoa“, Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 193 13 Das Deutsche Reich ‚erwarb‘ Samoa als letztes seiner sogenannten ‚Schutzgebiete‘ im Pazifik. „Seit 1889 regierten dort Amerikaner, Engländer und Deutsche gemeinsam […]. 1899 gab England seine Interessen schließlich auf […], was am 14. November 1899 im sogenannten Samoa-Vertrag festgehalten wurde. Der zweite Teil des Vertrages wurde am 2. Dezember 1899 zwischen Amerika und dem Deutschen Reich geschlossen. Samoa wurde zwischen diesen beiden Mächten aufgeteilt, wobei das Deutsche Reich […] den größeren Teil erhielt. […] Deutschland verfügte damit nach Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden über das viertgrößte europäische Kolonialreich“ (Rigotti 2014: 67 f.). Für einen Abriss der Geschichte Samoas seit Beginn der Kolonisierung bis zur Unabhängigkeit, siehe auch Loosen (2014). 1900-1914) sowie die USA 13 - beharrlich rassistischen, klassistischen und sexistischen Diskriminierungen ausgesetzt ist. Privilegien, Fähigkeiten und Kenntnisse, die das Zuschauen in Berliner Theatern oft leiten und prägen, wurden so relativiert und das Zuschauen als eine Praxis wahrnehmbar, die ver‐ trauten Theaterdispositiven je spezifisch eingefaltet ist, um von kenntnisreichen Zuschauenden routiniert entfaltet zu werden: Enter / / Return. Wie kann oder sollte sich Zuschauen in einer theatralen Malu-Anordnung entfalten? Welche Kenntnisse sind hierfür unverzichtbar? Welches Wissen kann es (re)generieren? Diese Fragen gingen mir ab der ersten Szene von Enter / / Return nicht mehr aus dem Kopf, was nicht nur an der ungewöhnlichen Raumgestal‐ tung lag, sondern auch an den unzähligen Tatau-Marken, die Browns Körper sowie den gesamten Raum der Vorderbühne bevölkerten. Beides, sowohl die Maluisierung des Aufführungsraums als auch die Tatau-Projektionen, mar‐ kierten diesen Bühnenraum, diese Tapa-Tücher, diese Körper, diese Bewegungen und diese Klänge als spezifische Objekte spektatorischer Aufmerksamkeit. Sie wirkten als (über-)deutliche Signale, die alle Zuschauenden im Raum zu einer spezifischen Art und Weise der Betrachtung und Partizipation aufzufordern schienen. Heute, im recherchierenden und schreibenden Nach-Denken über die Aufführung, möchte ich vorschlagen, sowohl die Maluisierung des Auffüh‐ rungsraums als auch die Tatau-Projektionen als Inszenierungsstrategien zu begreifen, die ein Zuschauen als Tautua (engl. „service“) ermöglichten. Traditionelle Tatau-Marken, erklärt der samoanische Wissenschaftler Leali‘ifano Albert L Refiti (2018: 295), sind zu begreifen als a demonstration of a commitment to serving the community. The tattooed person therefore must always perform his or her tautua or duties: the pattern they wear is a kind of genealogical guarantee that they are malu (protected) by wearing the tatau. In seinem einflussreichen Aufsatz „Tatauing the Post-Colonial Body“ übersetzt der bedeutende samoanische Literat und Literaturwissenschaftler Albert Wendt das samoanische Wort „malu“ ebenfalls mit „beschützt sein“ oder „behütet sein“ 194 Torsten Jost 14 Der Begriff Tatau bezeichnet einerseits das vollständige Körper-Tatau, wie es traditio‐ nell Männer tragen (das umgangssprachlich auch Pe‘a genannt wird), sowie anderer‐ seits die traditionelle Praxis der Hautmarkierung insgesamt. (Vgl. Ellis 2008: 35) (siehe Wendt 1999: 401). Außerdem erklärt er, dass Malu - als Begriff - einerseits das rautenförmige Tatau-Design bezeichnet, wie es auch im Programmheft von Enter / / Return abgebildet ist, sowie andererseits die Bezeichnung des vollständigen Körper-Tatau ist, wie es traditionell Frauen tragen. 14 „The act of tatauing a tatau (a full male body tatoo) or a malu (a full female body tatoo) on the post-colonial body […] recognizes its growing maturity and ability to serve the community,“ betont auch Wendt (1999: 400 f.). „Tatauing“, erklärt er weiter, is a way of life […], because a tatau or a malu is for the rest of your life and when you die, your children will inherit its reputation and stories, your stories, stories about you and your relationships. The tatau and malu are not just beautiful decoration, they are scripts-texts-testimonies to do with relationships, order, form, and so on. (1999: 403) Wendt betont hier, wie die Künstler*innen im Programmheft von Enter / / Return, insbesondere die beziehungsstiftende Funktion der Tatau-Praxis. Das Tatau oder Malu, als öffentliche Anerkennung „wachsender Reife“ sowie der „Fähigkeit, der Gemeinschaft zu dienen“, stiftet verantwortungsvolle Beziehungen zwischen Individuen, zwischen ihnen und Gemeinschaften, zwischen ihnen und ihrer nicht-menschlichen Umwelt, zwischen Generationen, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf diese Weise (re)produziert die traditionelle Tatau- Praxis spezifische Subjekte, die in ihrer individuellen Singularität unverkennbar plural sind, d.h. Subjekte, die aus Beziehungen (über Räume und Zeiten hinweg) hervortreten, aus diesen Beziehungen ihre Autorität und auch Schutz beziehen sowie ethischen Verpflichtungen ableiten. „Samoan subjects“, erklärt auch Juniper Ellis (2008: 47) in ihrer Studie Tattooing the World: Pacific Designs in Print and Skin, carry not only the burden of language (oral, written, Samoan, English) but also a material and collective signifier that makes them more than individual, responsible to shared imperatives. Today, even in countries outside Samoa, tatau announce that the bearer has acquired “a passport to service” and assumed increased duties to community and culture. The worldly effects of tattoo, as both a continuing of Samoan authority and a challenge to colonial and imperial authority, persist. Noch eine weitere Quelle möchte ich hier zitieren: Die Wissenschaftlerin Betty Ofe-Grant, die erste weibliche und in Aotearoa/ Neuseeland geborene samoanische Matai (engl. „chief “) aus dem Dorf Samamea an der Nordküste der Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 195 Insel Upolu, Samoa. Auf der Webseite ihrer Universität beschreibt Ofe-Grant (2021) die Bedeutung ihres Malu mit den folgenden Worten: The malu is a visual expression of my culture and identity as a Samoan woman, connecting me to my people, Samoa and the Pacific. I see the malu as a ‘language of stories’ symbolised by marks and motifs passed down through the generations of Samoan women who undertake this rite of passage. These markings have ancient meaning and are tied to the earth, animal and ocean life. My Pacific ancestors were voyagers who navigated the oceans and travelled to many different islands like Tonga and Hawaii. The marks inked into my skin embody specific characteristics. For example, the malu ‘diamond’ represents protection and is the fale (house) that encompasses the story of creation and humans. I also have the marks of the jellyfish, starfish, and octopus — they symbolise women who are ‘soft’ and nurturing on one side but who have the ‘sting’ on the other. Fundamentally, the malu represents a journey of pain and discovery, as marked by the new ‘inked skin’ that symbolises rebirth, transformation, and a greater sense of connectedness. I am proud to wear a tatau that has authentic meaning, tradition, and ancient cultural heritage as worn by my Pacific female ancestors. This connectedness continues the genealogy of the tautua (service) from me to my family and my work as an academic at AUT [Auckland University of Technology; T.J.]. Worauf diese Quellen hinweisen, ist, dass traditionelle Tatau-Marken - wie das Malu, Jellyfish oder das Manu - hochwirksame performative Akte darstellen. Als solche verpflichten diese ihre Träger*innen zu einem lebenslangen Tautua, d.h. zu einem Engagement im Dienst von Gemeinschaft und Kultur. Sie konsti‐ tuieren sie als plurale Subjekte, die stets „more than individual“ sind. Zudem können Tatau-Marken Gefühle des Verbunden- und Beschütztseins generieren, indem sie ihre Träger*innen mit Samoa und dem Pazifik verbinden. Als kom‐ plexe „language of stories“ speichern sie kulturelles Wissen und tragen dazu bei, dieses über Generationen hinweg weiterzugeben. Und nicht zuletzt fordern Tatau, als demonstrative Proklamationen samoanischer Identität, Autorität und Souveränität, (post-)koloniale und imperiale Herrschaftssysteme heraus. „Tatauing“ stellt, wie Wendt es auf den Punkt bringt, nichts weniger als eine Lebensweise („a way of life“) dar. Was sich in Enter / / Return ereignete, war, so meine These, nichts weniger als eine Tatauisierung der Aufführung. Und diese musste auch die Praxis des Zuschauens ergreifen. Jedoch waren bei der Aufführung am 9. September 2022 in den Berliner Sophiensaelen höchstwahrscheinlich nur wenige Zuschauer*innen dazu in der Lage, ich selbst eingeschlossen, die Tatau-Marken, die den Auf‐ führungsraum strukturierten und bevölkerten, als einen Appell zu verstehen, 196 Torsten Jost das eigene Zuschauen als Tautua zu begreifen und zu gestalten, d.h. als ein Engagement im Dienst von Gemeinschaft und Kultur. Deshalb war es so wichtig und zugleich auch so interessant zu erleben, dass und wie Deborah Lagaaia Paulo in Enter / / Return als „principal witness“ angekündigt wurde und agierte. Bereits im Programmheft wird betont, dass Paulo die Rolle der Hauptzeugin innehat und somit die Hauptverantwortung trägt, das Vā zu aktivieren. „In sāmoa,“ erklärt Brown in einem online veröffentlichten Aufsatz, „vā is present throughout socio-political spheres, the way in which society is organized, and how humans relate to each other as a whole. […] the vā guides the way that sāmoans move, relate to, and navigate the world within fa‘asāmoa (sāmoan culture and way of life)“ (Brown/ Cranberry 2019). Sowohl für sie persönlich als auch für ihre künstlerische Arbeit, erklärt Brown, sei die Idee und Praxis von „teu le vā, meaning to honor and tend/ nuture the relationships occuring within space“ von grundlegender Bedeutung. Auf ähnliche Weise äußert sich auch Albert Wendt (1999: 402), der in seinem bereits erwähnten Aufsatz „Tatauing the Post-Colonial Body“ den Begriff Vā wie folgt erklärt: Important to the Samoan view of reality is the concept of Va or Wa in Maori and Japanese. Va is the space between, the betweenness, not empty space that separates, but space that relates, that holds separate entities and things together in the Unitythat-is-All, the space that is context, giving meanings to things. The meanings change as the relationships and the contexts change. (We knew a little about semiotics before Saussure came along! ) A well-known Samoan expression is “la teu le va” - cherish/ nurse/ care for the va, the relationships. This is crucial in communal cultures that value group unity more than individualism, that perceive the individual person, or creature, or thing in terms of group, in terms of va, relationships. Sowohl Brown als auch Wendt betonen, dass Vā - als Konzept - auf Praktiken der Gestaltung von Beziehungen verweist, die die samoanische Gesellschaft und Kultur tiefgreifend prägen. Vā zu aktivieren, bedeutet, spezifische räum‐ liche Beziehungen zu Menschen und zu Dingen herzustellen, um bestimmte Bedeutungen zu (re)generieren. Räumliche (und zeitliche) Distanzen zu anderen Menschen und zu Dingen werden nicht als leere, hinderliche, zu überbrückende Abstände angesehen, sondern als unverzichtbare Zwischenräumlichkeiten, die Entitäten flexibel miteinander in Beziehung setzen, sie miteinander verbinden, die Verantwortlichkeiten herstellen und allen Menschen und Dingen spezifische Bedeutungen verleihen. Wendt betont, dass das Konzept Vā dafür sensibilisiert, dass „meanings change as the relationships and the contexts change“. Der kulturelle Kontext, in dem die Uraufführung von Enter / / Return stattfand, war ein spezifischer. Hier Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 197 15 „For many Indigenous peoples around the world, knowledge is not, as it is often in the West, about ‘discovery’“, so Ric Knowles (2023: 37). „For peoples whose identities derive from their relationships with the entire human and non-human universe along a nonlinear temporal continuum - for which they are responsible as ‘relations’ - and most immediately from the land from which they, their languages and their understanding of the world spring, ‘new knowledge,’ insofar as it can be understood as such, comes from new and shifting ‘relationships’ and from the telling, retelling and re-creation of stories passed on by ancestors and elders.“ Knowles’ Erläuterung hilft zu verstehen, dass die spektatorische Aktivierung von Vā, wie sie in Enter / / Return ermöglicht und insbesondere von Paulo praktiziert wurde, eine spezifische Wissenspraxis darstellt, die unter anderem von der Hervorbringung von „new and shifting ‘relationships’“ lebt. Außerdem wird hier deutlich, dass Aufführungskulturen als epistemische Kulturen sich nicht zuletzt auch dadurch unterscheiden (lassen), welche je spezifischen Auffassungen von Wissen in und mit ihnen (re)generiert werden. 16 Robert Pfaller (2002: 25) beschreibt Interpassivität als „delegiertes Genießen“; wobei es ihm um Erklärungsansätze für die Kulturpraxis geht, eigene „Genüsse an andere Personen oder Geräte zu delegieren.“ - im Festsaal der Berliner Sophiensaele, fernab Ozeaniens - war kaum damit zu rechnen, dass Zuschauende dem Appell der Tatau-Marken in verantwortungs‐ voller Weise Folge leisten können würden. Dass die Tatauisierung der Auffüh‐ rung dennoch nicht folgenlos blieb - und die Tatau-Marken ihre Funktion als Wissensspeicher nicht einbüßten und zu rein dekorativen Designelementen degradiert wurden -, dafür trug in der Uraufführung von Enter / / Return in erster Linie Paulo die Verantwortung. Sie war, laut Programmheft ausdrücklich, diejenige, die in der Aufführung dem Appell der Tatau Folge zu leisten und ihr Zuschauen als Tautua zu gestalten hatte. Sie war diejenige, die wissen musste, wie man als Zuschauerin, als „witness“, wie es im Programmheft heißt, zu Brown und zu den Tapa-Tüchern, zu den Malu, den Manu und den Jellyfish in Beziehung tritt und auf diese Weise das Vā aktiviert und somit Wissen (re)generiert. 15 Für Zuschauende wie mich, die mit „fa‘asāmoa (sāmoan culture and way of life)“ nicht vertraut sind, gestaltete sich das Zuschauen infolgedessen zumindest teilweise auch als eine interpassive Erfahrung (von Wissen), d.h. Paulos Anwesenheit ermöglichte uns, Handlungen an sie zu delegieren. 16 Paulos Präsenz und fortwährend hörbare Zuschau-Aktivität entlastete uns von der deutlich spürbaren Verantwortung, selbst Vā zu aktivieren. Dadurch ermöglichte sie uns, an der Aufführung teilzunehmen, ja diese zu genießen, ohne an unserer Unkenntnis in Bezug auf Praktiken, Symbole und Begriffe, die samoanische Aufführungskulturen als epistemische Kulturen charakterisieren, zu verzweifeln. In Enter / / Return wurde Zuschauen als eine Praxis erfahrbar, in der sich Wissenspraktiken aus verschiedenen Aufführungskulturen (als epistemischen 198 Torsten Jost 17 Das Konzept „crip time“, so die Theaterwissenschaftlerin Nina Mühlemann (2021: 276), beschreibt, „dass Menschen mit Behinderungen ein anderes Verhältnis zu Zeit haben als Menschen ohne Behinderung, aus verschiedenen Gründen: weil sie aufgrund von Barrieren mehr Zeit benötigen, wenn zum Beispiel nur jede zweite Tram zugänglich ist Kulturen) überkreuzen. Besonders bemerkenswert war in dieser Hinsicht auch das Ende der ersten Szene: der Moment als Brown (das erste Mal) hinter den Tapa-Tüchern verschwand. Während der Aufführung empfand ich dieses Verschwinden der Künstlerin zwischen den Falten der Tapa-Tücher als seltsame Unterbrechung, insbesondere weil ich Brown kaum sehen konnte. Auch Paulo war kaum zu sehen, da Zuschauende meine Sicht blockierten. Aber ich konnte Paulo hören, als wollte sie Brown und uns Zuschauenden versichern, dass die Beziehungen zwischen uns - auch ohne visuellen Kontakt - gleichwohl fortbestehen. Einerseits scheint es nahe zu liegen, auch diesen Moment im Hinblick auf Vā zu interpretieren. Im Programmheft wird die spezielle Art der Aufhängung der Tapa-Tücher als „concertina shape“ (dt. Ziehharmonikaform) beschrieben. Sie wiederhole die Rautenform des Malu mehrfach und kreiere so eine Viel‐ zahl von Winkeln als „points of entry into space“ (Brown 2022b). Heute, im Rückblick, begreife ich die Tapa-Tücher auch als Falten im Aufführungsraum, die als „points of entry“ dazu einluden, ja dazu aufforderten, Zuschauen auch als Anerkennung und als Gestaltung von Beziehungen mit Abwesenden zu begreifen - „across time and space“, wie es im Programmheft heißt. Browns Verschwinden hinter den Tapa-Tüchern demonstrierte, dass Abwesenheit oder räumliche und zeitliche Distanz „nie ein Nichts, eine Leere, bezeichnet“ (Sieg‐ mund 2006: 58) und keineswegs bedeutet, dass Beziehungen und damit einher‐ gehende Verantwortlichkeiten sich auflösen. Browns Verschwinden verwies auf abwesende Präsenz(en). Es signalisierte, dass Beziehungen „across time and space“ existieren, auch postkoloniale Beziehungen zwischen Deutschland und Samoa, die es - hier und jetzt - auch wahrzunehmen, anzuerkennen und verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln gilt. Andererseits begreife ich Browns Verschwinden hinter den Tapa-Tüchern heute aber auch als Einladung an die Zuschauenden, ihr Zuschauen in crip time zu vollziehen. Ich begreife diese Momente also auch als dramaturgisch bewusst platzierte Ausfaltungen der Aufführungszeit, die - als „accessibility tool“ - den Effekt hatten, Synchronisierungsdruck zwischen Bühne und Zu‐ schauerraum abzubauen und so eine bessere Zugänglichkeit zu gewährleisten - insbesondere (aber nicht exklusiv nur) für all jene Zuschauenden, die mit einer Behinderung leben und deshalb häufig ein anderes Verhältnis „zur Zeit haben als Menschen ohne Behinderung“ 17 . Tatsächlich nutzte ich, als nicht- Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 199 oder weil ihr Tagesablauf durch Assistenz und Care-Arbeit strukturiert wird oder weil sie Zeitlichkeiten aufgrund von Schmerzen oder Fatigue-Symptomen anders spüren. Dies sind nur einige wenige konkrete Beispiele für crip time. […] Insbesondere zeichnet crip time also aus, dass damit normative Erwartungen an Zeitlichkeiten infrage gestellt werden.“ 18 In seinem Buch Disability Theory (2008: 127) erklärt Siebers: „The experiences of people with disabilities help to clarify the fact that identities may contain legitimate claims to knowledge, and this knowledge, once verified, is a valuable weapon against the oppression of minority people.“ behinderter Mensch, diese Momente als Gelegenheit, um meine Konzentration kurz etwas zu lockern und den Sitz meines Mund-Nase-Schutzes zu korrigieren. Die Maske war im Zuge der Covid-19-Pandemie zu einem unumgänglichen Requisit des Zuschauens im Theater geworden, das sich jedoch mit (m)einer Brille nicht verträgt, die im Zusammenspiel mit einer Maske ständig beschlägt. Insofern avancierten diese vermeintlichen „Unterbrechungen“ für mich zu Momenten, in denen - für mich ungewohnt im Theater - die körperlichen und materiellen Bedingungen und Dynamiken meiner Zuschaupraxis ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit und Sorge rücken konnten. „Disability“, betont der Literaturwissenschaftler Tobin Siebers (2010: 20), stellt auch ein „system of knowledge“ dar, „that provides materials for and in‐ creases critical consciousness about the way that some bodies make other bodies feel“ 18 . Wie eingangs erwähnt, fand die Uraufführung von Enter / / Return im Rahmen des Theaterfestivals Queering the Crip, Cripping the Queer statt. Daher ist davon auszugehen, dass zahlreiche Zuschauer*innen an dieser Premiere teilnahmen, die mit Disability-Arts und Disability-Kultur sehr gut vertraut waren, zweifelsohne mehrheitlich viel besser als ich, der nur gelegentlich, aus Neugier, inklusive Theateraufführungen besucht. Disability-Kultur, erklärt die Theaterwissenschaftlerin Nina Mühlemann (2021: 282), versucht (unter an‐ derem) auf immer neuen Wegen und mit immer neuen Mitteln „herauszufinden, wie Dinge für möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen funktionieren können, mit dem Wissen, dass es wahrscheinlich nie perfekt sein wird“. Behinderung, so Mühlemann weiter, kann „nicht geheilt oder gelöst werden, aber sie ist generativ und kann Dinge auf spannende Art und Weise beeinflussen oder ändern“ (2021: 282). „Disability as a critical analytic is compelling“, erklärt auch die Disability-Wissenschaftlerin Margaret Price (2017: 159), „in part because it manifests human unpredictability“. Und eben diese Unvorhersehbarkeit macht es so unverzichtbar, dass Zuschauen auch als ein kritisches Analysewerkzeug, als eine unverzichtbare Wissenspraxis, begriffen und aktiviert wird. Denn nur so lässt sich in der Praxis herausfinden, 200 Torsten Jost was in Aufführungen für wen auf welche Weise funktioniert oder eben nicht funktioniert. Die Momente von Browns Verschwinden hinter den Tapa-Tüchern, diese auffälligen Ausfaltungen in der Aufführungszeit, konnten von Zuschauenden also nicht zuletzt auch als Einladungen verstanden werden, Zuschauen als kriti‐ sche Analysepraxis zu betreiben. Als ein besonders markantes Accessibility Tool (unter zahlreichen anderen), signalisierten und eröffneten diese Aufführungs‐ momente die Möglichkeit und Gelegenheit, eine Zuschaupraxis zu kultivieren, die explizit auf die Überprüfung, Verfeinerung und Weiterentwicklung von Arrangements, Praktiken und Konzepten in der Disability-Kultur als einem rührigen „system of knowledge“ abzielt. 4 Ausblick: Inklusives Zuschauen Die Diskussion „um Barrierefreiheit für ein ‚inklusives Publikum‘ ist relativ jung“, erklärt der Theaterwissenschaftler Benjamin Wihstutz (2020: 383). In den 1980er und 2000er Jahren bezogen sich Begriffe wie ‚Integratives Theater‘ oder ‚Inklusives Theater‘ vor allem auf die „Präsenz behinderter Schauspieler*innen und Performer*innen auf der Bühne“ (2020: 383). Seit einigen Jahren jedoch werde der Begriff ‚Inklusives Theater‘ auch auf das Theaterpublikum erweitert. So könne der Begriff heute auch für den Einsatz sogenannter Accessibility Tools wie Audio-Deskription, Gebärden‐ sprache, Übertitel oder gelockerte Verhaltensnormen im Saal (‚relaxed performances‘) in Anspruch genommen werden. Diese Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit im Theater bringen zugleich neue Ästhetiken des Zugangs […] hervor, welche vielfältige Rezeptions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten gewähren und auf einen respekt‐ vollen, inklusiven Umgang aller Beteiligten zielen, ohne sich auf die Kompensation spezifischer Impairments zu beschränken.-(2020: 383) Pelenakeke Brown entfaltete in Enter / / Return eine besondere Ästhetik des Zugangs, die Zuschauenden in der Tat vielfältige Rezeptions- und Wahrneh‐ mungsmöglichkeiten gewährte. Indem sie Arrangements, Praktiken, Symbole und Konzepte aus unterschiedlichen Aufführungskulturen in ihre Inszenierung einfaltete und miteinander in Berührung, ja teilweise sogar zur Überlappung brachte, eröffnete sie Zuschauer*innen die Möglichkeit, ihr Zuschauen auf unterschiedliche Arten und Weisen zu entfalten und somit an verschiedenen epistemischen Kulturen zu partizipieren. Das samoanische Wort „malu“ be‐ deutet „Schutz, Obdach gewähren, ein sicherer Ort“, wie im Programmheft erklärt wird. In Enter / / Return, so habe ich zu zeigen versucht, wurde der Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 201 Festsaal der Sophiensaele in der Tat in einen Schutzraum transformiert, der sich verschiedenen Praktiken des Zuschauens explizit als Obdach anbot, die in Berlins Theaterlandschaft sonst oft ausgegrenzt werden. Infolgedessen konnte Zuschauen in Enter / / Return als eine außergewöhnlich diverse „crossover site“ von Wissen erfahrbar werden. Zuschauen (re)generiert Wissen. Nicht nur welches Wissen Zuschauer*innen in Aufführungen (re)generieren, sondern auch wie sie das tun, hängt unter anderem einerseits davon ab, welche Möglichkeiten ihnen durch spezifische In‐ szenierungsstrategien eröffnet (oder verstellt) werden und andererseits davon, auf welche Vorerfahrungen und welches Vorwissen sie zurückgreifen. Es hängt, kurz gesagt, auch davon ab, mit welchen Aufführungskulturen - als epistemi‐ schen Kulturen - sie vertraut sind. Enter / / Return erzeugte Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass Identitäten nicht zuletzt auch als aktive Teilhabe und Teil‐ nahme an spezifischen Aufführungskulturen gelebt werden, in denen nicht nur fortwährend bestimmtes Wissen (re)generiert und zirkuliert wird, sondern auch bestimmte Arrangements, Praktiken und Ethiken der Wissens(re)generation (weiter-)entwickelt werden. In Enter / / Return wurden den Zuschauenden nicht nur diverse Rezeptions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet. Vielmehr wurde ihre Aufmerksamkeit gezielt darauf gelenkt, dass in Aufführungen unterschiedliche epistemische Kulturen strategisch miteinander überkreuzt und verflochten werden können. Infolgedessen können in Aufführungen Menschen zusammentreffen und interagieren, die an unterschiedlichen epistemischen Kulturen partizipieren, wodurch - nicht zuletzt - auch die Möglichkeit entsteht, überraschende Überschneidungen zu entdecken oder sogar vielleicht wechsel‐ seitige Austauschprozesse in Gang zu setzen. In der europäischen Theatergeschichte wurde lange Zeit und mit verschie‐ densten Mitteln versucht, das Zuschauen (auch als Wissenspraxis) zu verein‐ heitlichen. Zuschauer*innen sollten auf möglichst ähnliche Weise möglichst übereinstimmendes Wissen (re)generieren (siehe etwa Korte/ Jakob/ Dewenter 2014). Ein ‚Inklusives Zuschauen‘, wie es Enter / / Return ermöglichte, geht nicht von epistemischer Homogenität im Aufführungsraum aus, sondern faltet ein Bewusstsein in sich ein, dass die eigene Zuschaupraxis stets spezifisch situiert ist und deshalb nie universell gültiges Wissen (re)generiert. Inklusives Zuschauen reflektiert die Situiertheit und mithin auch die epistemischen Grenzen der eigenen Zuschaupraxis und rechnet mit kultureller und epistemischer Vielfalt im Zuschauerraum. Es zielt nicht ab auf Prozesse der Angleichung, sondern auf einen respektvollen und wechselseitigen Austausch zwischen diversen Aufführungskulturen. Insofern stellt ein ‚Inklusives Zuschauen‘, wie Brown es in Enter / / Return beförderte, ein wirklich beachtenswertes Phänomen dar, das 202 Torsten Jost es lohnt, weiter zu beobachten und zu erforschen, und vielleicht auch einen Ausblick gibt auf - und Hoffnung macht für - die Zukunft der Aufführung. Literatur Amine, Khalid (2023). Furja ةجرف. In: Fischer-Lichte, Erika/ Jost, Torsten/ Schenka, Astrid (Hrsg). The Routledge Companion to Performance-Related Concepts in Non-Euro‐ pean Languages. London/ New York: Routledge, im Erscheinen. ASCII Art Archive (2022). https: / / www.asciiart.eu (abgerufen am 14.12.2022). Bharucha, Rustom (2023). 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Programmheft zur Auffüh‐ rung von Pelenakeke Browns Enter / / Return, Sophiensaele Berlin, 9. - 10. September 2022, o.S., abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis von Pelenakeke Brown Abb. 2: „Jellyfish“ / „Manu (bird)“. Abgedruckt in: Brown, Pelenakeke (2022b). Pro‐ grammheft zur Aufführung von Pelenakeke Browns Enter / / Return, Sophiensaele Berlin, 9. - 10. September 2022, o.S., abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis von Pelenakeke Brown Die Zukunft des Zuschauens als „Crossover Site“ von Wissen 205 4. Theatralität und Form 1 Der Beitrag ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version meines 2021 erschienenen Aufsatzes „Staging Differences. Interferenzen von Teilnehmerrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater“. In: Dizdar et al. (2021: 183-200) (zus. mit Stefanie Husel). 2 In den Sozial- und Kulturwissenschaften scheint die Grundannahme einer gegebenen menschlichen Unterschiedlichkeit in Begriffen wie ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ oder in der Vorstellung kollektiver Eigenschaften der Mitglieder von Gemeinschaften auf. Der Begriff der ‚Humandifferenzierung‘ vollzieht gegenüber dieser Vorstellung individueller und kollektiver Eigenschaften eine distanzierende Bewegung: Er fokus‐ siert die Prozesse der Differenzierung, die die Kategorien und Mitgliedschaften erst hervorbringen: die Praktiken, die Zugehörigkeiten indizieren; die Klassifikationspro‐ zesse, die sie festschreiben; die polarisierenden Maßnahmen, die sie dauerhaft ausei‐ nanderhalten. Soziale Zugehörigkeiten lassen sich als Effekte von Differenzierungs- und Selektionsprozessen rekonstruieren. Personen werden durch laufende Selbst- und Fremdkategorisierungen in bestimmten sozialen Zugehörigkeiten gehalten, etwa in imaginierten Gemeinschaften (wie Nationen, Ethnien, Religionen) oder askriptiven Klassen (wie Geschlechter, ‚Rassen‘, Altersgruppen). Zu diesem Konzept siehe Hirsch‐ auer (Hrsg.) (2017: 7-26). Der vorliegende Beitrag verdankt diesem Konzept, wie auch der Zusammenarbeit mit Stefan Hirschauer im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe 1939 „Un/ doing Differences” (2013-2019) sowie des SFB 1482 „Humandifferenzierung” (seit 2021) entscheidende Einsichten. Staging Differences Erforschung zeitgenössischer experimenteller Theaterformen als ethnographisch erweiterte Aufführungsanalyse 1 Friedemann Kreuder Im Gegensatz zu anderen Institutionen, die primär auf der Basis sprachlicher Strukturen, schriftgelehrter Spezialdiskurse oder populärer Diskurse Human‐ differenzierung praktizieren, 2 wird diese im Theater vor allem mittels situ‐ ierter Praktiken des Körpers und seines Umgangs mit Dingen vollzogen und vorgeführt (vgl. den Theaterbegriff bei Fiebach 2002). Theater ist damit ein wesentlicher Teil von cultural performances (Singer 1959). Dabei brachte der Theaterrahmen traditionell eine klare Separierung zum einen von Darstellungs- und Wahrnehmungspraxis, zum anderen von Fiktionalität und Alltagsrealität mit sich (Goffman 1977). Gleichzeitig konfrontiert Theater seine Besucher: innen mit gesellschaftsweiten Humandifferenzierungen aller Art, beispielsweise wenn es sie ihnen im Rahmen dramatischer Handlung vor Augen führt, reflektiert und reproduziert (Kreuder 2017; Kreuder/ Koban/ Voss 2017; Voss 2017). Selbst in der traditionellsten Theateraufführung geht es dabei nie nur um ein bloßes Zuschauen, sondern ebenso um ein affektiv-leibliches Wahrnehmen (vgl. Fi‐ scher-Lichte 2004; Roselt 2013): Zuschauer: innen erleben Darsteller: innen bei der Verkörperung dramatischer Rollen, die bestimmten Humankategorien ent‐ sprechen, und stehen zugleich unter wechselseitiger Beobachtung sowie in zwischenleiblicher Beziehung zueinander (vgl. Husel 2014: 243-268). Theater ist also immer schon ein Ort, an dem sowohl auf als auch vor der Bühne soziale Zugehörigkeiten reflektiert und verhandelt, aber auch erlebt werden. Dass Humandifferenzierung schließlich auch hinter der Bühne geschieht, zeigen aktuelle Diskurse, die eine mangelnde Diversität von Schauspiel-Ensembles (etwa in Bezug auf Ethnizität, Geschlecht, Behinderung etc.) im deutschen Sprechtheater kritisieren (zum nicht praktizierten colour blind casting im deut‐ schen Sprechtheater vgl. Voss 2018). 1 Experimentelle Theaterformen als ethnographische Herausforderung Nun entstehen derzeit, anknüpfend an Wirkungsversprechen der Theateravant‐ garden der 1930er und 1960er Jahre (Warstat 2011), zahlreiche postdramatische Theaterformen, die sich über ihre Abgrenzung vom traditionellen Drama hinaus gerade die feldspezifischen Teilnehmerrollen (Zuschauer: innen versus Darsteller: innen/ Figuren) sowie die an selbige gekoppelte Differenzierung von Alltagsrealität und Fiktion als ästhetisches Material zunutze machen. Die beiden wichtigsten formalen Merkmale solcher Arbeiten bestehen erstens in der He‐ rausforderung und/ oder dem Ästhetisieren der triadischen Differenzierung von Darsteller: innen, Figuren und Zuschauer: innen sowie zweitens in ihrem Selbst‐ verständnis als soziale, kulturelle, v. a. aber ästhetische Experimentalanord‐ nungen (zur Experimentalität vgl. Schramm 2006a; 2006b). Konkret spielen diese zeitgenössischen Theaterformen reflexiv mit der Theatersituation und experi‐ mentieren sozial, indem in ihren Aufführungen eine feldspezifische Differenzie‐ rung der Teilnehmerrollen (z.B. Zuschauer: in versus Figur/ Darsteller: in/ Rolle) mit ubiquitären Humandifferenzierungen nach ethnischer, religiöser, nationaler u.a. Zugehörigkeit ins Spiel gebracht und gekreuzt wird. Theaterwissenschaftlich etabliert ist die Erforschung künstlerischer Experi‐ mentalanordnungen aus der Perspektive der philosophischen und phänomeno‐ 210 Friedemann Kreuder logischen Ästhetik als Situationen (Lehmann 1999), in denen Handlungen und Verhalten von Akteur: innen und Zuschauer: innen aufeinander einwirken und die Beziehungen zwischen ihnen ausgehandelt werden (sollen) (Fischer-Lichte 2004: 61). Auch bestehen erste Ansätze zur Erforschung der jüngsten Entwick‐ lung partizipativer und immersiver Formate hinsichtlich des Spiels mit der Auflösung von Distanz seitens der Produzent: innen sowie eines emphatischen körperlichen Erlebens partizipierender Zuschauer: innen (Bieger 2007; Machon 2013). Diskurse, die der Partizipation ein kritisches Potenzial absprechen und mithin vor manipulativer Vereinnahmung des Publikums warnen, stehen dabei Positionen gegenüber, die Teilhabe als eine erweiterte Form der Rezeption verstehen (Prinsloo 2017; Warstat 2015; Kolesch/ Schütz/ Nikoleit 2019; Schütz 2022). Eine Erforschung der Wahrnehmungskonventionen, der routinisierten Prak‐ tiken, der konkreten Materialität sowie der Machtverhältnisse, kurz der Regime der Künste (vgl. Rancière 2006), die in derartigen experimentierenden Theater‐ settings zugleich wirken und zur Reflexion gelangen sollen, steht allerdings noch aus (vgl. zur Sinnlichkeit des Sozialen und zur Praxis des Sehens die Vor‐ arbeiten von Prinz 2014; Göbel/ Prinz 2015). Hierfür bedarf es einer Erweiterung des theaterwissenschaftlichen Methodenrepertoires, da das Instrumentarium einer phänomenologisch und semiotisch ausgerichteten Aufführungsanalyse hier häufig nicht mehr ausreicht. Insbesondere im Hinblick auf den - für die Theaterwissenschaft zentralen - Begriff der Aufführung als einer zeitlich und räumlich geschlossenen Einheit sowie bezüglich der Idee eines gemeinschaft‐ lich schauenden (und nur schauenden) Publikums und eines unhintergehbar subjektiven Erlebnisses der Theatererfahrung, muss die Theaterwissenschaft sich und ihre Methoden erneuern (vgl. Kolesch 2017; Balme/ Szymanski-Düll 2020; Wihstutz/ Hoesch 2020). Diesem methodologischen Desiderat lässt sich mit einer sozialwissenschaftlich informierten, ethnografischen Verfahrensweise begegnen, die auf die Vielheit experimentierender Darstellungs- und Wahr‐ nehmungsmöglichkeiten mit methodologischer Heterogenität und Flexibilität antwortet (vgl. hierzu auch Husel 2020). Im folgenden Beitrag soll daher anhand einer dichten Aufführungsbeschrei‐ bung zu Enjoy Racism des Schweizer Künstlerduos Thom Truong aufgezeigt werden, dass aufgrund der spezifischen Logik des Feldes theaterwissenschaftli‐ chen Forschungsfragen nur dann effektiv nachgegangen werden kann, wenn die dort ausgeführten und/ oder vorgeführten Praktiken der Humandifferenzierung in ihrer ganzen Materialität, Körperlichkeit, Prozesshaftigkeit und Kontingenz erforscht werden. Hieran anschließend diskutiere ich, inwieweit und mit wel‐ cher Auswirkung sich Arbeiten wie die Beschriebene in den Rahmen eines Staging Differences 211 „ethischen Regimes der Kunst“ im Sinne Jacques Rancières einordnen lassen (Rancière 2006: 87). Schließlich plädiere ich dafür, die aufgeworfenen Fragen zukünftig im Rahmen differenzierter, ethnographisch inspirierter Studien zu untersuchen, in denen nicht nur Aufführungen situativ analysiert werden, son‐ dern auch Spielplanplatzierung bzw. Fördergeldbeschaffung, Casting/ Drama‐ turgie/ Produktion, Proben, Aufführungsserien und Publikumssowie mediale Resonanz wechselweise in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. Neben dem Mehrwert eines solchen Imports sozial- und kulturwissenschaft‐ licher Methodologie in die Theaterwissenschaft verspricht ein solches Vorgehen umgekehrt eine Bereicherung sozialwissenschaftlichen Vokabulars, indem Mo‐ delle der sozialen Rolle mit Blick auf eine stark veränderte Theaterlandschaft weiter justiert werden - stammen doch die älteren Schriften zum dramaturgi‐ schen Ansatz der Soziologie (z.B. Goffman 1959) mehrheitlich aus den 1950er und 1960er Jahren und schleppen insofern im Rahmen von Theaterpraxis und Theaterforschung längst überholte Ideen von Rollenübernahme und Figu‐ renbildung mit sich. In seinem jüngeren Essay „Footing“ (erschienen in der Aufsatzsammlung Forms of Talk (1981)) schlägt Erving Goffman vor, Gesprächs‐ situationen und ihre Teilnehmerrollen sehr viel feinteiliger zu untersuchen, als dies durch die „primitiven“ Begriffe des Sprechers und des Hörers vorgegeben sei; in diesem Rahmen behandelt er auch Publika und Bühnenvorführungen. Goffman erweitert das sozialwissenschaftliche Beschreibungsvokabular hierfür um die Konzepte des „participation status“ bzw. „participation framework“ sowie um das mit den Arten und Weisen der Teilnahme eng verquickten Begriffes „production format“: Jede Kommunikation teile (mehr oder minder implizit) mit, auf welche Weise sie rezipiert werden könne, sie forme insofern Teilnehmerschaft und prägt Teilnehmerrollen. Weiterhin mahnt Goffman an, die kaum ermessliche Bandbreite potenzieller „Einbettungen“ analytisch zu berücksichtigen, die menschliche Kommunikation in der Lage ist zu vollziehen, und die dazu führt, dass der aktuellen Situation ferne Sachverhalte aktualisiert und lokalisiert werden: It was recommended that one can get at the structural basis of footing by breaking up the primitive notions of hearer and speaker into more differentiated parts, namely, participation framework and production format. Then it was suggested that this picture must itself be complicated by the concept of embedding and an understanding of the layering effect that seems to be an essential outcome of the production process in speaking. (Goffman 1981: 153) Entsprechend ließe sich in den von mir untersuchten Fällen die Rede von der Darstellung und der Wahrnehmung im Rahmen der ganzen Theaterveran‐ 212 Friedemann Kreuder staltung zum einen sozialwissenschaftlich informiert, zum anderen aber mit theaterwissenschaftlich disziplinärem Feingefühl für die Zwischentöne und Abstufungen, für Stil, Rahmen, Winke/ Indizes und das momenthafte Spiel um die Teilnehmerrollen der gebotenen Situation untersuchen. Hierbei kann Theater für die sozialwissenschaftliche Perspektive - insbesondere in seiner experimentierenden, postdramatischen Spielart - gerade das im genannten Auf‐ satz Goffmans adressierte situative und performative (sowie äußerst komplexe) ‚Wie‘ der Humandifferenzierung vor Augen führen. Lässt sich doch bereits in traditionellen Theateraufführungen nachvollziehen, welche Darstellungsweise und/ oder Reflexion von Humandifferenzierung durch Zuschauer: innen ange‐ nommen und bereitwillig nachvollzogen werden, wer unter welchen Voraus‐ setzungen eine bestimmte Figur verkörpern kann, und wer nicht. Wenn Zu‐ schauer: innen bzw. Publikumsteilnehmer: innen darüber hinaus dazu motiviert werden, eine Art Bühnenrolle in künstlerischen Experimenten einzunehmen, ermöglicht dies umso deutlichere Einblicke in die flüchtige und performativ hervorgebrachte Materialität von Humandifferenzierung: So setzen Körperhal‐ tungen und Bewegungen, Gesten, Mimik, Stimmlagen und Affektpräsentati‐ onen Humandifferenzierungen überhaupt erst in Szene. Entsprechend lässt sich dem soziologischen Diskurs die feine Nuanciertheit theatraler Sprechbzw. Darstellungsweisen wie auch das spielerische Moment jeder damit verbundenen (Teilnehmer-)Rollenübernahme in ihrem liminoiden Charakter (Turner 1977: 40; Kreuder/ Husel 2018) erschließen. Besonderen analytischen Mehrwert verspricht dabei das in der Theaterwis‐ senschaft selbstverständliche Interesse am triadischen Setting aus Zuschauer: in, Darsteller: in und Figur, das sich gewinnbringend mit Goffmans Idee eines un‐ lösbaren Zusammenhangs von „production format“ und „participation status“ verbinden lässt; führt doch eine Veränderung im Verhältnis von Figur und Darsteller: in automatisch auch zu einer Neujustierung in der situativen Teil‐ nahme von Zuschauer: innen, wie es Erika Fischer-Lichte bereits beispielhaft an einem Klassiker der Performance-Kunst, Thomas Lips von Marina Abra‐ mović (Galerie Krinzinger, Innsbruck 1975) zeigte: In dem Moment, in dem die Performance keine Unterscheidung mehr zwischen einer möglicherweise dargestellten Performer-Figur und der körperlich anwesenden Darstellerin er‐ möglichte, da Abramović das Bewusstsein verloren hatte, musste sich der Status der Zuschauer: innen zwangsläufig ändern, vom Publikum einer künstlerischen Performance hin zu den besorgten Mitmenschen, die Abramović medizinischer Versorgung zuführten (Fischer-Lichte 2004: 9-22). Staging Differences 213 2 Herauf- und Herunterspielen von Humandifferenzierungen Das Spektrum der heute im experimentierenden Theater gebotenen, herausge‐ forderten bzw. auf den ersten Blick gar aufgelösten traditionellen Teilnehmer‐ rollen beginnt mit leichten Modifikationen des vormals Üblichen - indem Darsteller: innen z.B. nicht mehr eine dramatische Figur verkörpern, sondern scheinbar als „sie selbst“ auftreten bzw. als Vertreter: innen einer marginali‐ sierten Gruppe in Szene gesetzt werden (vgl. Wihstutz 2012), oder indem Zuschauer: innen nicht mehr im Zuschauerraum verharren, sondern ihrerseits inszenierte Räumlichkeiten begehen. Am anderen Ende des Spektrums findet sich eine weitgehende Inversion des Aktivitäts- und Erlebensmonopols der tra‐ ditionellen Theatersituation in Formaten, die den Zuschauer: innen immersive Extremerfahrungen anbieten, und/ oder im (schützenden und begrenzenden) Theaterrahmen Gruppendynamiken durch das Übernehmen von sozial inak‐ zeptablen Szenerien und Handlungsanweisungen erlebbar machen, indem sie beispielsweise die Grenzen zwischen BDSM-Club und Theatererfahrung ero‐ dieren (wie etwa in der Produktion Wir Hunde des Künstler-Duos SIGNA auf den Wiener Festwochen 2016; vgl. Wihstutz 2018), oder die Teilnehmer: innen gegen‐ einander ausspielen („Wir“ versus „die Anderen“) - so geschehen beispielsweise durch die zum Ende der Aufführung durch das Publikum per Diskussion zu treffende, hochpolitische Entscheidung zur Informationspolitik im Rahmen von machina eXs Arbeit Lessons of Leaking (Theater Freiburg, 2018). Inhaltlich lassen sich zwei - in jeder Aufführung unterschiedlich stark ausgeprägte - künstlerische Ausrichtungen ausmachen, die die theatrale Aus‐ einandersetzung mit Humandifferenzierung rahmen: einerseits das Betonen, andererseits das Relativieren von Humandifferenzen. Einige Theaterprodukti‐ onen verhandeln schwerpunktmäßig mit klar formuliertem aufklärerischem Anspruch Prozesse der Reproduktion von Humankategorien, die hierfür “he‐ raufgespielt“ werden - zum Beispiel, indem Rassismus praktisch erlebbar insze‐ niert wird. So werden in der Inszenierung Enjoy Racism des Künstlerduos Thom Truong (Impulse Theaterfestival 2018, siehe Abschnitt 3) Zuschauer: innen unter genauer Inaugenscheinnahme ihrer Augenfarbe in zwei Gruppen aufge‐ teilt und gegeneinander sowie gegen ein ‚farbiges‘ Darsteller: innen-Ensemble ausgespielt. Andere experimentierende Theaterformate sind hingegen durch ihren immersiven Charakter und durch Aufrufe zur Partizipation als eine affektmobilisierte handelnde Gemeinschaft gekennzeichnet. Hierbei sind aus dem Alltagsleben mitgebrachte Humankategorisierungen durch das Agieren in der spontanen Spielgemeinschaft relativiert - also „heruntergespielt“: So ist das Publikum in der Produktion “£¥€$“ der belgischen Gruppe Ontroerend Goed bei‐ 214 Friedemann Kreuder spielsweise eingeladen, in Sechsergruppen die wirtschaftliche Verantwortung für ein Land zu übernehmen, indem mit- und gegeneinander am Spieltisch dessen Kapitalströme reguliert werden - wobei schließlich gemeinsam der Crash des simulierten Wirtschaftssystems verschmerzt werden muss. Gleich‐ zeitig wird an ihrer Stelle die temporäre spielerische Differenzierung zwischen den (Mit-)Spieler: innen und der Außenwelt performativ verstärkt, und so eine intensiv erlebbare Differenz zwischen den Insidern der Spielgemeinschaft und den Außenstehenden hergestellt. Aus dem Publikum wird also scheinbar eine Gemeinschaft geformt. Bei zeitgenössischen experimentierenden Theaterprojekten lassen sich dem‐ gemäß Praktiken der Humandifferenzierung in komprimierter Weise und in situ beobachten, gewissermaßen in einem theatralen „Verdichtungsraum“ (Wehrle 2015: 16). Auf diese Weise lässt sich die grundsätzliche Praxis des situativen Herauf- und Herabspielens von Humandifferenzierungen - das Verstärken, Re‐ flektieren und/ oder Nivellieren von Unterschieden - im Rahmen mikrologischer situativer Zusammenhänge erforschen; dies kann möglicherweise auf ähnlich gelagerte meso- und makrogesellschaftliche Rahmenbedingungen übertragen werden - wie etwa das Hervorbringen gesellschaftlicher „Blasen“. Zeigen lassen sich hier unter Umständen die hochgradig situativ kontingenten Praktiken der Übernahme und „Einbettung“ (vgl. Goffman 1981: 147) von Teilnehmerrollen, Darstellungs- und Wahrnehmungshaltungen, die letzten Endes zur Verfestigung von Humandifferenzen führen. Unter den Theaterproduktionen, die Humandifferenzen explizit bearbeiten, um Sensibilität für marginalisierte Gruppen zu schaffen, sind besonders dieje‐ nigen forschungsträchtig, die dies mit dem Versprechen eines aufklärerischen Perspektiv- oder gar Seitenwechsels verbinden: Denn eines der wichtigsten Themen zahlreicher zeitgenössischer Theaterprojekte besteht in der theatralen Untersuchung von Machtstrukturen und den zugehörigen Prozessen von Ermächtigung und/ oder Marginalisierung, wobei Rezipient: innen aus einer wahrnehmungspraktischen Bewusstlosigkeit bzw. aus mangelnder Sensibilität o.Ä. herausgeführt werden sollen. Indem etwa tatsächliche Vertreter: innen stigmatisierter Gruppen (Sinti: zze, Muslim: innen, delinquente Jugendliche usw.) als „sie selbst“ mündig vor ein Theaterpublikum treten, sollen diesem die eigenen Wahrnehmungsroutinen vor Augen geführt und dadurch durchbrochen werden. Indem die Zuschauer: innen sich selbst zeitweise in der Rolle von stigmatisierten Opfern oder stigmatisierenden Täter: innen erleben, soll Sensi‐ bilität für Situationen und Positionen geschaffen werden, die marginalisierende bzw. diskriminierende Formen der Humandifferenzierung hervorbringen. Diese Theaterarbeiten explizieren Humandifferenzierungen hierfür und versuchen, Staging Differences 215 3 Hier und in den deskriptiven Passagen im Folgenden werden in der Aufführungssi‐ tuation und ihrer rezeptiven/ medialen Inszenierungsebene selbst wahrgenommene Feldstimmen - wie etwa sprachliche Askriptionen von ‚Spieleinsätzen‘, ‚Rollen‘, ‚körperlichen Eigenschaften‘, ersten ‚Interpretationsansätzen‘ - zur Distanzierung in einfache Anführungszeichen gesetzt. Sie bilden als Beobachtungen zweiter Ordnung ein Potpourri der hier in situ erforschbaren Humankategorisierungen. sie zu bearbeiten, um ihre Genese als kontingent auszuweisen, sie für das Publikum kognitiv erschließbar und damit eventuell sogar aktiv beeinflussbar zu machen. Besonderen Erkenntnisgewinn verspricht hierbei der Nachvollzug, wie ge‐ samtgesellschaftlich geführte Diskurse situativ und theatral relevant gemacht werden und dabei temporäre und erst im Spiel entstehende feldspezifische Humandifferenzierungen - Bühnenrollen/ Figuren sowie Teilnehmerrollen des Theaters - mit den vom Publikum mitgebrachten, gesellschaftsweiten Human‐ differenzierungen interferieren. So übersetzte beispielsweise der Autor, Drama‐ turg und Regisseur Björn Bicker die Rede von der „Bedrohung des christlichen Abendlandes“ durch die „Flüchtlingskrise“ nicht nur in theatrale Spielformate, sondern auch in Angebote zur Übernahme bestimmter Teilnehmerrollen im Rahmen des Projekts Munich Welcome Theatre (Münchner Kammerspiele, 2015/ 2016). In diesem zugleich künstlerischen wie politischen Projekt suchte er gemeinsam mit Malte Jelden die Kammerspiele zu einem Modellprojekt umzustrukturieren, das u.a. vorsah, im Rahmen einer aktiven Patenschaft für ein Wohnprojekt Geflüchtete auch in die Arbeits- und Gestaltungsprozesse des Theaters einzubeziehen, wobei offenbar rasch die Grenzen des institutionell Tragbaren erreicht waren: Denn übrig blieb vom Projekt lediglich dessen ursprünglicher Auftakt, ein „Open Border Kongress“ bei dem „KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen“ auftraten (vgl. zu diesem Thema die Darstellungen des Projektes auf den Webseiten von Björn Bicker, der Kulturstiftung des Bundes sowie der Münchner Kammerspiele). 3 Enjoy Racism! Ein stärker immersiv-spielerisches Projekt richtete das Künstlerduo Thom Truong mit seiner Arbeit Enjoy Racism beim Impulse Theater Festival 2018 aus, das im Folgenden etwas eingehender analysiert werden soll: Hier wurden Besu‐ cher: innen in eine ‚blauäugige‘ und eine ‚braunäugige‘ Gruppe unterteilt, 3 wobei die tatsächliche Augenfarbe der Besucher: innen peinlich genau in Augenschein genommen wurde und dem Spiel als Grundlage diente. Es lässt sich anmerken, dass schon durch die Inspektion des Auges die traditionelle Zuschauer: innen- 216 Friedemann Kreuder Rolle eine Thematisierung erfuhr und zur Disposition stand. Vorgenommen wurde die Unterteilung durch zwei Mitglieder des Darstellerensembles, eine Frau mit ‚asiatischem‘ und einem Mann mit ‚afrikanischem‘ Aussehen. Der kritische Blick auf tatsächliche Augenfarben machte weiterhin schon von Anfang an deutlich, dass praktische Konsequenzbefreitheit im Rahmen der besuchten Theaterveranstaltung nicht in jeder Hinsicht gelten würde und dass die konkreten Körper der Anwesenden (und nicht nur deren kulturelle Bedeutung) durchaus „eine Rolle spielen“ sollten. Während die Gruppe der ‚blauäugigen‘ Zuschauer: innen in einen Raum mit Sitzgelegenheiten und Buffet geführt wurde, wurden die ‚Braunäugigen‘ in einen engen Kellerraum verbracht, der keine Sitzgelegenheiten oder andere Annehmlichkeiten bot. Beide Gruppen konnten die jeweils andere über eine Leinwandprojektion sehen. Während die Inszenierung sich daraufhin für eine Weile hauptsächlich im Raum der ‚Blauäugigen‘ abspielte, verblieben die ‚Braunäugigen‘ eher in einer passiven Zuschauhaltung. Eine Showmasterin, bzw. Workshopleiterin trat im Raum der ‚blauäugigen‘ Besucher: innen auf und stellte sich als „Marie-Claire Blanche“ vor; sie trug eine geblümte Bluse, weiße Handschuhe, eine blonde Perücke und helles Make-up. Dennoch blieb sichtbar, dass die so hergerichtete Schauspielerin Ntando Cele „im echten Leben“ als ‚schwarz‘, bzw. ‚afrikanisch‘ betrachtet würde. Für eine Weile schwor „Marie- Claire Blanche“ in elitärem Duktus die ‚Blauäugigen‘ auf deren Privilegiertheit ein, um schließlich darauf hinzuführen, dass nun - im Rahmen eines künstleri‐ schen Experiments zu Rassismus und Diskriminierung, die ‚Braunäugigen‘ („the Brownies“) in den Raum geholt würden. Es wurden Regeln genannt, auf welche Weise die Minderprivilegierten dann zu diskriminieren seien („Betrachtet Sie nicht als Menschen“… etc.), damit der Rassismus einmal so richtig genossen werden könne („Enjoy Racism“! ). Tatsächlich wurden hierauf - zum Teil unter Protest der Besucher: innen - die ‚Braunäugigen‘ in den Raum gebeten und in der Mitte des Stuhlkreises platziert, in dem die ‚Blauäugigen‘ bislang saßen, wobei das Licht dramatisch gedimmt wurde; allerdings setzte sich „Marie- Claire Blanche“ nun unerwartet zu den ‚Braunäugigen‘ und entledigte sich ihrer Bluse, Handschuhe und Perücke, unter gebannter Stille schminkte sie sich ab. Das Licht ging wieder an, und die ‚Braunäugigen‘ und ‚Blauäugigen‘ wurden aufgefordert, ihre Positionen zu tauschen. Nachdem dies geschehen war, umrundete die nun abgeschminkte Showmasterin die Gruppe, jetzt eher militärisch rau artikulierend; sie befahl den nun abgegrenzten ‚Blauäugigen‘, den Mund zu halten, zu Boden zu blicken etc. Hierauf brandete endgültig innerhalb kürzester Zeit Protest auf. Die auf solche Weise Angesprochenen begannen vehement, das Mitspielen zu verweigern, sie folgten den „Befehlen“ Staging Differences 217 4 Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Arbeit ausschließ‐ lich von ‚weißen‘ Zuschauer: innen besucht wurde. Allerdings wurde die Inszenierung bislang nur in Deutschland und der Schweiz aufgeführt und richtete sich entsprechend an ein mehrheitlich ‚weißes‘ Publikum. nicht, suchten die Konfrontation. Schließlich wurde die Situation durch „Marie- Claire Blanche“ und die übrigen Figuren/ Ensemblemitglieder zunächst in eine Diskussion überführt und schließlich beendet. Unter expliziter Bezugnahme auf die als blue eyes - brown eyes exercise bekannt gewordenen Interventionen von Jane Elliott, die seit den 1970er Jahren zu einem Standard der Anti-Diskriminierungsarbeit geworden sind, führen Thom Truong die Teilnehmer: innen des Abends Enjoy Racism zu einer den ursprünglichen Interventionen Elliots regelrecht entgegengesetzten Erfahrung: Elliot zielte darauf ab, rassistische Markierung und Diskriminierung auch für im Alltag nicht rassistisch diskriminierte - also ‚weiße‘ - Mitwirkende affektiv erlebbar zu machen, und auf diese Weise darauf zu verweisen, dass Rassismus als nicht zu naturalisierende, kulturell erlernte Praxis jedem jederzeit widerfahren könne, dabei aber gewissermaßen reversibel bzw. situationsabhängig verän‐ derbar sei, kurz „verlernt“ werden könne. Besucher: innen der Inszenierung Enjoy Racism hingegen wurden zu der weit weniger erquicklichen Pointe geführt, dass sie, die im echten Leben privilegierten, unmarkierten ‚Weißen‘, selbst in der Welt des Spiels nicht stigmatisierbar sind - unbeeindruckt setzten sie sich in der Performance gegen zugeschriebene Minderwertigkeit zur Wehr, nur allzu hörbar äußerte der eine oder die andere dabei rassistische Klischees, bei denen die Hörer: in sich fragen musste, ob diese nun den Figuren des Spiels oder den tatsächlich rassistisch markierbaren Schauspieler: innen, insbesondere der Darstellerin der Showmasterin „Blanche“ galten. 4 In Theaterarbeiten wie der beschriebenen treten also unterschiedliche Diffe‐ renzierungsformen miteinander in Korrespondenz, interagieren miteinander bzw. führen ihre Interferenzen vor Augen: So geraten in der beschriebenen the‐ atralen Spielsituation die situativen Funktionsrollen der Theatermacher: innen bzw. Spielfiguren und des Publikums bzw. der Mitspieler: innen in Konflikt mit der unabhängig vom Theaterspiel mitgebrachten und situativ „hochgespielten“ Humandifferenz des Gesichtstyps bzw. der Hautfarbe als eines Markers von ‚Rasse‘. Besucher: innen werden mit dem praktischen Entstehen diskriminier‐ ender Grenzziehung konfrontiert, ja werden sie dazu animiert, selbst zu diskri‐ minieren (bzw. sich als Diskriminierte zu erleben): Sie lassen sich beispielsweise dazu hinreißen, die Bühnenfigur „Marie-Claire Blanche“ mit potentiellen Ras‐ sismen anzusprechen, die eigentlich der Darstellerin gelten, zum Beispiel, wie in der hier beschriebenen Aufführung, mit: „Du gehörst doch selbst zu den 218 Friedemann Kreuder Brownies“ - eine Replik, die, ausschließlich im Kontext des Spiels um den fiktiven Workshop betrachtet, nur die ‚Braunäugigkeit‘ „Marie-Claire Blanches“ kommentiert, ja darauf antwortet, dass die Figur die Gruppe der ‚Braunäugigen‘ zuvor mit dieser Bezeichnung tituliert hatte. Allerdings bezieht sich der Begriff auf den tatsächlichen, empirisch anwesenden Körper und die Augenfarbe der Darstellerin - und auf diese Weise möglicherweise auch auf den Rest ihrer körperlichen Existenz. In diesem Kontext betrachtet, als die Ansprache einer Frau mit ‚dunkler‘ Hautfarbe und ‚braunen‘ Augen, wird aus der Bezeichnung für ein süßes Schokogebäck ein sowohl rassistischer als auch sexistischer Angriff, und wirkt in ganz anderer und weit massiverer Weise beleidigend, als es der Fall war, wenn zuvor die (von der ‚farbigen‘ Frau gespielte) Figur eine gemischtgeschlechtliche Gruppe ‚weißhäutiger‘ Menschen mit ‚braunen‘ Augen so bezeichnete. Darüber hinaus spielen auch noch weitere, eher gesellschaftliche Differenz‐ ierungen in die Situation hinein, die von den Theatermacher: innen vermutlich nicht intendiert und auch kaum steuerbar sind. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass nur einige wenige Besucher: innen sich zu Rädelsführern im halb ernsten, halb gespielten Konflikt aufschwingen und sich zu kompromit‐ tierenden Äußerungen wie der zitierten hinreißen lassen; möglicherweise sind dies diejenigen Besucher: innen, denen die Inhalte antirassistischer Diskurse fremd sind, und die insofern falsch einschätzen, inwieweit ihr Verhalten für den Insider als „typisch privilegiert“ lesbar wird, sobald sie bestimmte potentiell sich anbietende Rollen im Spiel bereitwillig ausfüllen, vielleicht auch Personen, die sich mit den Dynamiken in Rollenspiel-Situationen nicht auskennen und nur aus diesen Gründen ein Mitspiel-Verhalten zeigen, bei dem sie als rassis‐ tisch oder zumindest massiv unsensibel geoutet bzw. vorgeführt sind. Insofern rückt in den Aufführungen neben der Übersetzung ubiquitärer Diskurse in konkrete situative Praktiken von Diskriminierung auch die Unterscheidung in mehr oder minder spezifisch gebildete Besucher: innen in den Fokus. Indem die Humandifferenzierung nach ‚Rasse‘ hier weitere, etwa nach ‚Geschlecht‘ oder/ und ‚Leistung‘ mit sich zieht, kann das Spiel nachgerade zu einem „Stere‐ otypen-Judo“ hinsichtlich der wechselseitigen diskriminierenden Askriptionen eskalieren. In Aufführungssituationen von Theaterprojekten wie Enjoy Racism, die Humandifferenzierung explizit bearbeiten und sie mit den Teilnehmerrollen der theatralen Spielsituation interagieren lassen, können also in situ Praktiken des Herauf- und Herabspielens von Humandifferenzen in ihrer mannigfachen Kontingenz beobachtet werden; zum Beispiel lässt sich nachvollziehen, welche Darstellungsformen zu welchen Teilnahmeangeboten führen, es wird disku‐ Staging Differences 219 tabel, welche Dispositionen der Mitspieler: innen möglicherweise dafür sorgen, dass etwa bestimmte Mitspielangebote umgesetzt und andere ignoriert werden. Darüber hinaus erlauben solche Projekte hinsichtlich ihres Produktionsproz‐ esses, zum Beispiel mit Blick auf ihre Planungs- und Finanzierungsphase, in ihrer Nachbesprechung und medialen Resonanz, Einblick in die Art und Weise, wie sich hier abstrakte und großskalige Humandifferenzen - im genannten Beispiel ‚Rasse‘ - diskursiv abbilden, auf welche Weise sie in unterschiedliche kulturelle Sinnschichten übersetzt werden, etwa in ästhetische Programme und Handlungsweisen, um schließlich wiederum in neue gesellschaftliche Diskurse und neue mediale Formen überführt zu werden - z.B. in Feuilletonartikel, Seminararbeiten oder Stammtischgespräche. Mithin rückt die Transformation der kulturellen Existenzweisen dieser Humandifferenzierungen und deren Be‐ dingungskonstellationen im Prozess der Produktion und Rezeption besagter zeitgenössischer Theaterinszenierungen in eine heuristische Perspektive: Mit Blick auf Theaterproduktionen wie die beschriebene lässt sich dann fragen, welche politischen, wirtschaftlichen, technisch-praktischen Voraussetzungen überhaupt dazu führen, dass bestimmte Humandifferenzen im Theater reflek‐ tiert werden: Haben beispielsweise Projekte mit verstärkt aufklärerischem Gestus bessere Chancen, finanziell gefördert bzw. im Spielplan platziert zu werden? Und welche Differenzierungserfahrungen werden hierbei als irritie‐ rend wahrgenommen, welche ereignen sich hingegen „unter dem Radar“ der Aufmerksamkeit des Publikums? 4 Aufklärung oder „Verdummung“? Mit Blick auf den aufklärerischen Gestus von Theaterarbeiten wie der oben beschriebenen bleibt weiterhin die Forschungsfrage nach der tatsächlichen gesellschaftlichen Reichweite in Anbetracht der feldspezifischen „blinden Fle‐ cken“ bestehen: Mit welchen Folgen und auf wessen Kosten sind ästhetische Situationen dazu in der Lage, Humandifferenzierungen - zumindest temporär - zu bearbeiten? Werden Diskriminierungen wirklich durchschaubar gemacht und/ oder situativ überwunden, oder tun sich vielmehr neue Machtgefälle auf ? So deuten - mit Andreas Reckwitz’ Theorie zur Herstellung sozialer Wer‐ tigkeit in der zeitgenössischen spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten gesprochen - Kulturalisierungsprozesse (Reckwitz 2017: 371-442) im instituti‐ onellen Feld von Freien Theatern, Kunsthallen und Festivalbetrieben darauf hin, dass eine individualisierende „Hyperkultur“ dort in tendenziell vergemeinschaf‐ tenden „Kulturessenzialismus“ radikal umzuschlagen vermag und vice versa: So geht es beispielsweise im kleinen und ökonomisch prekären Feld der Theater‐ 220 Friedemann Kreuder praxis und im davon oft abhängigen Feld ihrer akademischen Untersuchung vor allem anderen um Valorisierung und die damit zusammenhängende Ver‐ teilung von Fördergeldern, Aufmerksamkeit sowie anderen, äußerst knappen Ressourcen. Ferner lässt sich beobachten, dass die Teilnahme an einschlägigen Events gerade der neuen Kunstszene partizipativen Theaters als exkludierende, tendenziell vergemeinschaftende Praxis ausagiert wird: Eine sich individualis‐ tisch distinguierende Elite einer postmodern verklärten „Hyperkultur“ organi‐ siert sich und valorisiert gemäß latenter, tendenziell tribalistischer Strukturen. So ließe sich die viel beachtete Inszenierung von Shakespeares Hamlet durch Christoph Schlingensief (Schauspielhaus Zürich, 2001; vgl. Umathum/ Heineke 2002), bei der ausstiegswillige Neonazis auftraten, unter diesem Blickwinkel wie folgt abstrahieren: Eine Gemeinschaft großbürgerlicher und geldadeliger, kaum hyperkulturell gebildeter älterer Semester findet sich im Rahmen einer hochgradig etablierten und institutionalisierten Veranstaltung zusammen - und beobachtet sich dabei -, wie sie der Inszenierung eines jugendlich-intellek‐ tuellen enfant terrible des Off-Kulturbetriebs (einem Liebling hyperkulturell aufgestellter Bohemiens) beiwohnt, die sich ihrerseits mit sozial und kulturell devianten (wenn nicht gar delinquenten) Individuen befasst, die wiederum einer Szene kulturessenzialistischer Prägung zugehören. Auch und gerade im Rahmen solch komplexer Verhandlungen kulturali‐ sierender Praktiken lässt sich entsprechend nach dem Wissens-Machtgefälle zwischen Akteur: innen und Zuschauer: innen fragen. Inwieweit sind situativreflexive Inszenierungen wie die beschriebenen als die „neue Bühne der Gleich‐ heit“ zu verstehen, „[…] wo unterschiedliche Performances sich ineinander übersetzen [Hv. FK]« (Rancière 2015: 33), wie Jacques Rancière sie als die Inno‐ vation der Gegenwartskunst in seiner wegweisenden Schrift Der emanzipierte Zuschauer feiert? Benötigt doch eine ethische Ästhetik wie die beschriebene gerade die Gleichheit der übersetzerischen Fähigkeiten, wobei „die ‚gemeinsame Macht der Gleichheit der Intelligenzen […] die Individuen [verbindet], sie ihre intellektuellen Abenteuer untereinander austauschen [läßt]‘“ (Rancière 2015: 27 f.). Hierfür bedarf es, so Rancière, „[…] der Zuschauer, die die Rolle aktiver Interpreten spielen, die ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die ‚Geschichte‘ anzueignen und daraus ihre eigene Geschichte zu machen. Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Erzählern und von Übersetzern“ (Rancière 2015: 33). Voraussetzung solch wahrhaft aufgeklärter, intellektueller Abenteuer ist allerdings für Rancière - jenseits der pseudo-emanzipativen „Teilhabe an einer in der Gemeinschaft verkörperten Macht“ - dass die Theatersituation gerade Individuen (und ihre Teilnehmerrollen) „voneinander getrennt hält, sofern Staging Differences 221 sie alle fähig sind, die Macht aller zu verwenden, um ihren eigenen Weg zu gehen“ (Rancière 2015: 28). Rancière beschreibt also die geregelte Sicherheit einer traditionellen Theatersituation mit klaren Teilnehmerrollen als Grundvo‐ raussetzung für eine Interaktion in intellektueller Gleichwertigkeit, während er dem Spiel mit situativer Vergemeinschaftung u.Ä. misstraut. Der wahrhaft aufklärerischen Ästhetik stellt Rancière hierbei Strategien der „Verdummung“ gegenüber (Rancière 2015: 20), die ein Wissens- und Machtgefälle zwischen Produzent: innen und Rezipient: innen verfestigen und aufrechterhalten. Entsprechend lässt sich an dieser Stelle die Frage präzisieren, die immersivexperimentellen Theaterarbeiten wie der oben beschriebenen gestellt werden könnte: Müssten manche solcher Arbeiten, obgleich mit aufklärerischem Gestus agierend, nicht auch mit Blick auf ihre latenten Strukturen der „Verdummung“ untersucht werden? Indem beispielsweise auf Unterschiede in der Vorbildung von Theaterbesucher: innen in Bezug auf deren Praxiswissen verwiesen wird; kann in Veranstaltungen „Mitspielkompetenz“ (Reichertz 1989) durch die Besu‐ cher: innen hergestellt werden - oder wird coram publico beschämende Degra‐ dation vorgeführt? Besagte künstlerische Gemengelagen könnten mithin symptomatisch be‐ schrieben und analysiert werden für eine theaterästhetische Wende hinsichtlich der Regime der Künste (Rancière 2006: 87) seit Beginn des neuen Millenniums. Wird doch von zahlreichen Theatermacher: innen und -theoretiker: innen ein „ethisches Regime der Künste“ vorangetrieben, das Formen von Kunst in Bezug auf ethische Kriterien/ Normen von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ betrachtet und beurteilt. In Frage gestellt und modifiziert wird hierbei das traditionelle „äs‐ thetische Regime der Kunst“, aus dessen Perspektive Rancière grundsätzlich argumentiert - mit dessen von Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts (1795) her gedachtem ästhetischen Versprechen von Gleichheit und Freiheit. Einer solchen Vorstellung von Gleichheit, die nicht in der Politik realisiert werden kann, sondern nur auf der Ebene des von sozialen und politischen Zusammenhängen freien sinnlichen Erlebens, wirkt das von Rancière beschriebene neue ethische Regime der Künste entgegen. In einer auf Fragen der Humandifferenzierung zielenden und deren jeweilige Aktualisierungen in situ untersuchenden theaterwissenschaftlichen Analyse ließen sich Kunstformen mit ethischem und aufklärerischem Gestus hinsichtlich ihrer tatsächlichen empirischen Reichweite sowie hinsichtlich ihrer ggf. implizit mitrealisierten Differenz und ihrer Diskriminierung verstärkenden Effekte untersuchen, wobei sich mit Blick auf Rancières Ausführungen darauf fokussiert werden könnte, ob möglicherweise latente Strukturen der „Verdummung“ auch (und gerade? ) in Arbeiten mit explizit ethischer Sendung wiederfindbar sind. 222 Friedemann Kreuder 5 Schluss: Aufführungsanalytische Feinarbeit und theaterethnografische Verfahrensweise Solchen und ähnlichen Forschungsfragen wird wohl nur effektiv nachgegangen werden können, wenn theaterwissenschaftliche Studien sich in ihrer Beobach‐ tung der Aufführungssituation eine erweiterte methodische Perspektive er‐ schließen, die in der Lage wäre, die Mikro-Logik situativ gebotener und/ oder angenommener Teilnahme durch Publikumsmitglieder sowie das „Produktions- Format“ (vgl. Goffman 1981) darstellerischer Äußerungen zu untersuchen. Dies würde möglich durch eine Erweiterung der üblichen Zugriffe semiotischer und phänomenologischer Art, beispielsweise mittels (auto)ethnografischer Verfahrensweisen, die sich der Logik des beforschten untersuchten Feldes „anschmiegen“ (vgl. Husel 2019 und 2020). Denn erst in einem erweiterten Ver‐ ständnis der inter- und übersituativen Anschlüsse aufführungsinterner Darstel‐ lungs- und Wahrnehmungsweisen wird nachvollziehbar, wie Humandifferen‐ zierungen im Sinne von globalen Raumtrennern wie ‚Rasse‘ oder ‚Geschlecht‘ etc. situativ aufgerufen, rekrutiert, besetzt (oder gar ausgesetzt) werden. Um eine entsprechende Perspektive zu entwickeln, könnten als thematisch einschlägig identifizierte Projekte im Idealfall von ihrer konzeptionellen Ent‐ wicklung an mitverfolgt werden, um die Übersetzungsschritte nachzuvoll‐ ziehen, die Humandifferenzen im Rahmen ihrer künstlerischen Bearbeitung er‐ fahren, um schließlich in Aufführungssituationen aufzutauchen und wiederum von Publika verarbeitet zu werden. Hierbei könnten fünf Stationen im Prozess der Aufführungsgenese gesonderte Aufmerksamkeit erfahren: (1) Spielplanplatzierung (im Falle von Staatsbzw. Stadttheater-Projekten) und/ oder Projektanträge zur Mitteleinwerbung (im Freien Theater, in der Festival‐ szene): Welche Projekte werden aufgrund welcher thematischen Ausrichtung zur Spielplangestaltung, bzw. Förderung in Betracht gezogen und auf welche Weise wird hierbei mit Humandifferenzen umgegangen? Aus welchem Grund also wurde beispielsweise die oben besprochene Produktion Enjoy Racism auf bestimmte Festivals eingeladen, gefördert? (2) Casting, Dramaturgie und Produktion: Welche Darsteller: innen werden aus welchen Gründen gecastet (Geschlecht, Ethnizität, Sprache etc.), welche dramaturgischen Entscheidungen führen zur praktischen theatralen Bearbei‐ tung welcher Humandifferenzen und welche Produktionsumstände schreiben sich in die Inszenierungen ein? Welchen Einfluss hatte also beispielsweise die Besetzung der Workshopleiterin in Enjoy Racism durch die Darstellerin Ntando Cele, bzw. aufgrund welcher Produktionspolitik wird hier in Ankündigungen von einer Regiearbeit von Thom Truong gesprochen, während die ihrerseits Staging Differences 223 erfolgreiche Performerin Cele, die mit Sicherheit durch die Ausgestaltung ihrer Figur entscheidenden Einfluss auf die Performance hat, lediglich als Darstellerin geführt ist? (3) Probenprozess: Welcher inneren Logik folgt die künstlerische Arbeit - nach welchen Relevanzen werden Darstellungsmittel und Spielvorgaben ausgewählt, kombiniert, verworfen oder fixiert? Welche Übersetzungspraktiken materieller, diskursiver und physischer Art sind zu beobachten, die Humandifferenzierung in ihrer je spezifischen Zurichtung lokalisieren bzw. „im Projekt halten“; zu diesem Zweck müssten beispielsweise Interviews mit Künstler: innen und/ oder Probenbesuche der analysierten Produktion angestrebt werden. (4) Aufführungen: Den üblichen aufführungsanalytischen Blickwinkel der Theaterwissenschaft erweiternd, ließe sich an dieser Stelle spezifisch nach den temporären Besetzungen angebotener, künstlerisch gestalteter Teilnehmer‐ rollen (i.S.v. Goffmans „participation frameworks”) durch Zuschauer: innen/ Be‐ sucher: innen fragen - entstehen doch humandifferenzierte Zugehörigkeiten nicht nur über die Herkünfte von Menschen, sondern immer auch über „Ein‐ sätze, die (im Sinne Bourdieus) in ein feldspezifisches Spiel involvieren“ (Hirsch‐ auer 2017: 33). Für den Kontext konkreter Aufführungssituationen werden entsprechend all jene Praktiken, Diskurstechniken, Rahmenbedingungen und Artefakte interessieren, die den jeweiligen Teilnehmer: innen im Feld der un‐ tersuchten Aufführungen den Anschluss an humandifferenzierende Diskurse ermöglichen, erleichtern, erschweren oder verwehren. Im besprochenen Bei‐ spielfall wären Mitspielzüge wie die oben diskutierte Ansprache der Darstellerin Cele, bzw. der Figur Blanche als „Brownie“, besonderer analytischer Sorgfalt zuzuführen, z.B. indem das Gespräch mit der betreffenden Zuschauer: in/ Mit‐ spieler: in gesucht würde. (5) Publikums- und mediale Resonanz: Welche Aneignungen und diskur‐ siven „Rückübersetzungen“ von Humandifferenzierung nehmen die Teil‐ nehmer: innen der Aufführungssituationen für sich und/ oder für eine Öffent‐ lichkeit vor? An dieser Stelle ließen sich die medialen Besprechungen von Enjoy Racism untersuchen und/ oder Publikumsbefragungen durchführen. Im Rahmen einer solcherart ethnographisch erweiterten Untersuchungs‐ weise würde der Prozess der Produktion und Rezeption der beforschten Theater‐ projekte in umfassender Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die Aufführungsanalyse, als Kernstück theaterwissenschaftlicher Forschung, würde entsprechend eingebettet in ein sowohl temporal als auch methodisch breiter aufgefächertes, theaterethnografisches Untersuchungsdesign. Die ge‐ nannte Forschungshaltung ergibt sich dabei aus dem grundlegenden Interesse an der Logik des Feldes selbst, an den hier waltenden Kräften und Praktiken 224 Friedemann Kreuder der Humandifferenzierung, die - in ihrer ganzen Materialität, Körperlichkeit und Prozesshaftigkeit - erst in einem breiteren diskursiven, materiellen und temporalen Zusammenhang sinnvoll beschreibbar werden, wie er sich in den fünf Phasen der Projektgenese abbildet. Theaterästhetische Fragestellungen, beispielsweise im Zusammenhang mit dem o. g. „Regimewechsel“ in den Künsten, könnten in empirisch „tiefer ge‐ legter“ Art und Weise untersucht werden. Und der sozialwissenschaftlichen Dif‐ ferenzierungsforschung könnte die Theaterwissenschaft umgekehrt Einblicke eröffnen in das wohl flüchtigste Moment der Humandifferenzierung - Körper‐ haltungen, Bewegungen, Gestik, Stimmlagen, Affektpräsentationen - und zwar im Rahmen der Untersuchung der temporären und erst im Spiel entstehenden Interferenzen des feldspezifischen triadischen „production format“ (Goffman 1981) wie Bühnenrollen und Figuren sowie der zugehörigen Teilnehmerrollen bzw. „participation frameworks“ (Goffman 1981) und vom Publikum mitgeb‐ rachten, gesellschaftsweiten Humandifferenzierungen. Theaterwissenschaft könnte somit am Gegenstand postdramatischer experimenteller Theaterformen als um eine sozialwissenschaftlich informierte Differenzierungsforschung er‐ weiterte Aufführungsanalyse betrieben werden. Literatur Balme, Christopher/ Szymanski-Düll, Berenika (Hrsg.) (2020). Methoden der Theaterwis‐ senschaft. Forum Modernes Theater 56, Tübingen: Narr Francke Attempto. 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Marx Die zentrale Position, die die Aufführung in Erika Fischer-Lichtes Programm der Theaterwissenschaft einnimmt, hat unter anderem auch einen strategischen Vorteil, denn sie bietet der akademischen Theaterwissenschaft ein proprium, durch das sich die für die Konstituierungsphase typischen Abgrenzungsdis‐ kussionen vor allem gegenüber den Literaturwissenschaften durch ein klares a priori beantworten lassen. Gleichzeitig - und diese Doppelfigur hat sie selbst in ihrer 2010 erschienenen Einführung in das Fach entfaltet - lässt sich dieses Proprium sowohl semiotisch als auch phänomenologisch begründen und herleiten, sodass zwei zentrale methodisch-theoretische Pole abgedeckt sind. Dass sich aus dieser Perspektive Die Semiotik des Theaters (1983) und die Ästhetik des Performativen (2004) als Kernsäulen ihrer wissenschaftlichen Arbeit herausdestillieren, ist ebenso folgerichtig wie nachvollziehbar. Dieser Gedankengang hat allerdings auch einen klaren historischen Index, der sich - mal explizit, mal implizit - durch ihre Argumentation hindurchzieht: Er ist eindeutig ein Modell der Moderne. Dies lässt sich nicht allein an der Tatsache ablesen, dass die Prominenz der Aufführung sich aus der Spannung von Entliterarisierung und Retheatralisierung als den das Theater der Moderne konstituierenden Prinzipien ergibt. 1 Nun hat die Forschung seit einiger Zeit schon die Frage gestellt, inwiefern das Verhältnis von Literarisierung und 2 Es ist hier weder Ort noch Raum, den Moderne-Begriff bzw. das Konzept des modernen Theaters eingehender zu diskutieren, es sei aber darauf verwiesen, dass auch im Rahmen der Performance Studies mit dem Begriff der Aufführung das Konzept einer radikalen Gegenwärtigkeit kritisch diskutiert wurde (paradigmatisch hierfür Schneider (2011)). Es wird abzuwarten sein, inwiefern digitale Verfahren, die durch die Corona-Pandemie zusätzlich an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen haben, Anlass zu einer weiteren Revision dieses Kriteriums bieten. Theater für das vormoderne Theater anders zu fassen sei. 2 So hat Stephen Orgel beispielsweise mit Blick auf die Theatertexte der Elisabethanischen Epoche grundsätzlich festgestellt, dass diese nicht als ‚fixierte‘ zu denken seien, sondern vielmehr als Texte, die im Wechselspiel mit der theatralen Praxis eben im Fluss sind (vgl. Orgel 2002, bes. S. 42). Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern für historische Kontexte ein eng gefasster Aufführungsbegriff sachlich begründbar, aber auch aus heuristischer Perspektive einholbar ist. Konstruierte hier ein phänomenologischer Aufführungsbegriff, der unmittelbar auf das Erleben zielte, nicht eine Aporie, die letztlich jegliches Argumentieren verunmöglicht? Theater und Performanz in der Frühen Neuzeit nehmen in diesem Zusam‐ menhang eine besonders privilegierte Rolle ein, denn in dieser Epoche überla‐ gern sich unterschiedliche Episteme, deren Spannungen und auch hegemoniale Ansprüche auf offener Szene ausgetragen und ausagiert wurden. Gleichzeitig weist die Forschung hier eine optische Verzerrung auf, denn das Theater der Frühen Neuzeit wird immer noch häufig mit dem englischen (Shakespeare und Co.) oder dem italienisch-französischen Theater (Commedia dell’arte) gleichge‐ setzt. Dies blendet nicht nur die kontinental-europäische (sowie die globale) Dimension aus, die freilich sehr viel heterogener und weniger leitlinienförmig zu beschreiben ist, sondern verknüpft das Bild des historischen Theaters auf vielfältige Weise mit dem Diskurs der Moderne. Für die historische Avantgarde spielten sowohl die Commedia dell’arte (vgl. Balme/ Vescovo/ Vianello 2018) als auch das Elisabethanische Theater (vgl. hierzu die kritischen Anmerkungen bei Aebischer 2020) eine wichtige Rolle als Referenz ästhetischer Alternativen zum vorherrschenden bürgerlichen Theater. Um dieser Verkürzung zu entgehen, wird im Folgenden die medial-theatrale Praxis im Umfeld der Societas Jesu (SJ) in den Blick genommen. Diese Entscheidung gründet sowohl in der globalen Ausbreitung der SJ als auch in der Tatsache, dass für diese Praktiken ein eigenständiger, ausformulierter epistemischer Rahmen erkennbar ist. 230 Peter W. Marx 3 Vgl. allgemein zur Ordensgeschichte einführend Friedrich (2016). 1 Vorbemerkungen Als die Societas Jesu 1540 durch Papst Paul III. approbiert wurde, war noch keineswegs abzusehen, dass diese Gründung einen fundamentalen Umbruch in der katholischen Ordenskultur darstellen würde. Vielmehr kam mit diesem Schritt eine längerfristige Entwicklung, die keineswegs frei von Spannungen verlaufen war, zu einer stabilen Organisationsform. 3 Der baskische Edelmann Ignatius von Loyola (1491-1556) war durch verschiedene Lebenskrisen auf den Pfad einer religiösen Praxis gekommen, die späterhin die Grundlage für die von ihm begründete Form der geistlichen Übungen werden sollte (vgl. einführend Endean 2017). Diese Übungen bilden das spirituelle Zentrum der Societas Jesu, weil sie nicht allein in der individuellen Ausbildung von zentraler Bedeutung sind, sondern auch im Hinblick auf die Organisationsform: Im Ge‐ gensatz zu bestehenden Orden verzichtete Ignatius für seine Gemeinschaft auf etablierte Formen monastischen Lebens wie gemeinsames Leben (klösterliche Gemeinschaften), Habit oder Stundengebet, und schuf so eine Gemeinschaft, die sich durch besondere Mobilität auszeichnete. Dadurch waren die Jesuiten in besonderer Weise für die Mission sowie für die Aufgaben der Gegenreformation prädestiniert. Der Orden, der durch ein zusätzliches Gelübde zu besonderem Gehorsam gegenüber dem Papst verpflichtet ist, wuchs schnell und wurde durch seine Schulgründungen rasch zu einem bedeutenden Einflussfaktor (vgl. Friedrich 2016: 132 f.). Fehlten die äußeren Rahmenbedingungen, legte Ignatius umso mehr Wert auf die innere Formierung der Jesuiten, die bald nach einem komplexen und langen Ausbildungsprogramm organisiert wurde. Dabei spielten die dreißigtägigen, ignatianischen Exerzitien eine besondere Rolle. Im Zentrum dieser Übungen steht das Training der Imagination, verstanden als „an active power, not a passive capacity“ (Sluhovsky 2017: 75). Moshe Sluhovsky fasst zusammen: „Spiritual exercises were collections of visualisations, prayers, and meditations aimed at producing a permanent psychic and mental effect - to form rather than to inform” (2017: 71). Sluhovsky grenzt die ignatianischen Exerzitien damit nicht nur gegen die Foucault’sche Lesart einer repressiven Form der Selbstregulierung ab, sondern auch gegen die weit verbreitete These, wie sie etwa auch bei Jonathan Crary Jenseits der Aufführung 231 4 Hierbei geht es nicht um ein kleinliches Argument, sondern um die Frage, welche Referenzen als historische Bezugspunkte in den Blick genommen werden. In Techniques of the Observer (1992) legt Crary eine solche Traditionslinie nahe. Dadurch aber verengt sich der historische Blick. Die neuere Forschung - etwa Lehner (2016) - hat hier auf die Komplexität einer Reihe von Unterströmungen im Katholizismus, vor allem mit Blick auf die globalhistorische Dimension hingewiesen. 5 Vgl. hierzu Bailey (1998), der dies für den indischen Mogul-Hof ausführlich beschreibt, auch wenn dies von der jüngeren Forschung, etwa Singh (2017), zurückhaltender betrachtet wird. zu finden ist, dass die moderne Subjektkonstitution vornehmlich aus dem Protestantismus hervorginge. 4 Hier wird wiederum ein weiterer Grundzug der jesuitischen Praxis deutlich: Während Niklaus Largier, der mittelalterliche Kontemplationspraktiken näher untersucht hat (vgl. z.B. Largier 2007; 2018), die Weltabgewandtheit als Voraus‐ setzung der mystischen Imagination betont - eine Praxis, wie sie der älteren monastischen Tradition seit der Praxis der Eremiten eingeschrieben ist -, fordert Ignatius die Hinwendung zur Welt: „ Sie [die Studenten] können sich deshalb darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; […]“ (Loyola 1993: 350). Roland Barthes hat dies folgendermaßen als semiotische Konstellation reformuliert: In Wahrheit […] richten sich die Exerzitien nicht gegen die Proliferation der Bilder, sondern, sehr viel dramatischer, gegen ihre Inexistenz, als ob, von Anfang an, […] der Exerzitant […] Hilfe brauchte, um sie in sich aufzunehmen. Man kann sagen, daß Ignatius sich ebenso sehr bemüht, den Geist mit Bildern anzufüllen, wie die […] Mystiker sich bemühten, den Geist davon leer zu machen. (Barthes 2015: 81) Mit der Fülle innerer Bilder korrespondiert die intensive Praxis sinnlicher Bilderproduktion, die die Tätigkeit der Jesuiten insgesamt auszeichnete. Diese äußeren, materiellen Bilder fanden vor allem im Kontext der Gegenreformation (ecclesia militans) und in der Mission eine nachhaltige Verwendung. Dabei zielten Bemühungen des Ordens nicht auf die Herausbildung eines spezifischen Stils (vgl. Bailey 1999), sondern vielmehr auf eine effektive Nutzung etablierter Stile und bestehender ästhetischer und medialer Praktiken. Dieser Eklektizismus lässt sich im Sinne des ignatianischen Diktums „die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen“ durchaus als integraler Bestandteil der Ordenstätigkeit betrachten. Die intensive Nutzung von Malerei und Druckgraphik, etwa im Kontext der Mission, 5 korrespondierte mit einer Fülle theatraler Praktiken, die sowohl im Kontext der Schulausbildung als auch hinsichtlich der Wirkung auf die breitere Öffentlichkeit eine Rolle spielten. Hierbei unterscheidet sich 232 Peter W. Marx die Haltung des Ordens deutlich von einer in anderen Kontexten auffindbaren systematischen Theaterskepsis (vgl. hierzu einführend auch Marx 2020): Arguably, the Jesuit theatre appears even more sensual than the professional the‐ atre, which did not boast the financial or personnel resources that made such sumptuousness possible. The Jesuits understand the difference between these battling „sensualities”, however, in terms of their final causes. In the Jesuit theatre, the end of such an assault on the senses is to teach the actors eloquence in word and in deed and to educate them and their audience in religious and civic virtue. Jesuit antitheatrical writers construct and then interpret the professional stage as a foil to their own: the professional theatre indulges sensuality for its own sake especially in its exploitation of the love plot, the stock-in-trade of the professional comedy. (Zampelli 2005: 440) Im Folgenden soll die Sinnlichkeit jesuitischer Theater- und Medienpraxis an ausgewählten Beispielen untersucht werden. Um den Facetten des Konzepts von Aufführung auf die Spur zu kommen, wurde programmatisch auf die Analyse von Fällen des Jesuitentheaters im engeren Sinne verzichtet, um eine Diskussion des Aufführungsbegriffs für die Medienökologie der Frühen Neuzeit „von den Rändern her“ in den Blick zu nehmen. 2 Selbst-Reflexion: Das hundertjährige Jubiläum 1640 im Spiegel medialer Praxis Das hundertjährige Jubiläum der SJ fand 1640 inmitten des Dreißigjährigen Kriegs statt und ist schon allein deshalb als ein hochpolitisches Ereignis zu verstehen. Dass dieses Ereignis am Kölner Jesuitengymnasium Tricoronatum ausführlich und mit einer Reihe von Ereignissen gefeiert wurde (vgl. Kuckhoff 1931), ist ein deutlicher Ausweis für diese politische Bedeutung. Aus den Auf‐ zeichnungen der Schulakten sticht ein Apparat besonders hervor: Der Catoptrix. Es handelt sich um einen ausgiebig und mit einem wohlgewählten Bildpro‐ gramm verzierten Schaukasten, dessen Dekorum schon die Geschichte der Societas Jesu in Gestalt bedeutender Ordensmitglieder sowie in allegorischen Darstellungen der Kontinente, auf denen Mission stattfand, zum Ausdruck brachte. Dem/ der Betrachter: in boten vier Sehschlitze den Blick auf vier Schlüs‐ selszenen der Geschichte der SJ: Jenseits der Aufführung 233 Abb. 1: Die Überreichung der päpstlichen Bulle zur Anerkennung durch Paul III. im Jahr 1640 Abb. 2: Eine Messfeier 234 Peter W. Marx Abb. 3: Die Lehre im Hörsaal Abb. 4: Das Martyrium einiger Jesuiten Jenseits der Aufführung 235 6 Erika Fischer-Lichte hat eine Ästhetik des schweifenden Blicks bzw. des programmati‐ schen „Verpassens“ als programmatischen Bestandteil einer modernen Theaterästhetik unter dem Schlagwort „Entdeckung des Zuschauers“ beschrieben. Ohne die ästheti‐ schen Verfahren gleichsetzen zu wollen, sei hier doch auf die Parallelität, wenngleich unter gänzlich anderen Voraussetzungen vorkommend, verwiesen (vgl. Fischer-Lichte 1991). Anders als bei vergleichbaren Guckkästen dient der Apparat nicht der Betrach‐ tung eines zweidimensionalen Druckbildes, sondern dem Blick bietet sich en miniature eine dreidimensionale Szene, wobei der Effekt räumlicher Tiefe durch die raffinierte Spiegelung noch verstärkt wurde (In den meisten Fällen blickt der/ die Betrachter: in nicht frontal auf die Szene, sondern gewissermaßen „von hinten“, sodass die eigentliche Ansicht sich im Spiegelbild zeigt. Gleichzeitig lassen die detailreichen Skizzen erkennen, dass der Blick keine Olympic View vorfand, der die Szene in Gänze erfassen konnte, sondern dass der schweifende Blick gewissermaßen zu einer Animierung der Szene führte). 6 Leider ist der Apparat selbst nicht erhalten, sodass einzig die Zeichnungen in den Archivakten Aufschluss über diese Praxis geben. Allerdings findet sich bei Athanasius Kircher (1602-1680) in der berühmten zweiten Auflage seiner Ars Magna Lucis et Umbræ (1671) sowohl die Anleitung zum Bau eines vergleichbaren Kastens als auch die Beschreibung eines Exemplars, das Kircher in der römischen Villa Borghese gesehen zu haben scheint. Von diesem schreibt Kircher, dass er „mira rerum phantasma exhibit“ (Kircher 1671: 775, „wunderbare Erscheinungen der Dinge zur Schau stellt [Übers. PWM]“). In unserem Kontext ist besonders interessant, dass Kircher den Apparat als „theatrum catoptricum“ (Kircher 1671: 775) bezeichnet, denn diese Bezeich‐ nung ist ein Echo auf die Beschreibung der Guckkastenszenen als „interior scenographica representatio“, die sich in den Kölner Tricoronatum-Akten findet. Beide Bezeichnungen sind nicht nur ein Beleg für die terminologische Unsi‐ cherheit des „theatrum“-Begriffs und seines Umfeldes in der Frühen Neuzeit (vgl. Marx 2019a), sondern eröffnen auch den Blick auf eine historisch kontin‐ gente Medienökologie, in der ein solcher Apparat eindeutig dem Spektrum theatraler Darbietungen zugerechnet wurde. So heißt es bei Kircher: „similiaque diversissima sane diversis ostendit temporibus adeo ad vivum ut vel ipsius catoptrices caeteroquin haud imperitorum occulis apparationum fallacia ipsa imposuisse visa sit“ (Kircher 1671: 775, „Und er zeigt die verschiedensten Dinge zu unterschiedlichen Zeiten so lebendig, dass es scheint als würden die Spiegel die Täuschung der Erscheinungen auch sehr erfahrenen Augen auferlegen [Übers. PWM]“). 236 Peter W. Marx Weder im streng semiotischen noch phänomenologischen Sinne kann man hier von einer Aufführung sprechen, denn weder Kopräsenz noch Simultaneität von Produktion und Rezeption lassen sich hier vorfinden (Allerdings sei hier darauf verwiesen, dass diese Überlegungen, etwa bei Lessing im Sinne des Theaters als transitorischer Malerei, sich überhaupt erst im 18. Jahrhundert finden lassen). Und doch verweisen die unzweifelhaft vorhandene zeitliche Komponente im Akt der Betrachtung sowie der schweifende Blick auf das Spektrum theatraler Szenen - ein Zusammenhang, der zumindest für die Frühe Neuzeit so augenscheinlich war, dass die metaphorische Bezeichnung keinerlei Ausdeutung verlangte. Allerdings wird hieran nochmals deutlich, dass diese Erfahrung Betrachter: innen des 21. Jahrhunderts auch dann nicht zugänglich wäre, wenn der Apparat erhalten wäre oder rekonstruiert werden könnte. Für eine medienhistorische Betrachtung bleibt nur die Auseinandersetzung mit Analogien oder parallelen Erscheinungen. Ein solcher Querverweis findet sich im Repositorium des Kölner Stadtmu‐ seums: Es handelt sich um einen Guckkasten mit Passionsszenen (RM1937/ 976), dessen Datierung und Klassifizierung leider eher im Ungefähren bleibt. So spricht das Inventarbuch zwar von einem Objekt nach „Art der jesuitisch theatralischen Missionierungstätigkeit“, allerdings sind die genaueren Hinter‐ gründe, die zu dieser, vermutlich bei Aufnahme in die Sammlung erfolgten Beschreibung geführt haben, nicht mehr ermittelbar - sie decken sich aber mit dem Gesamtbefund. Auch die Datierung auf das 18. Jahrhundert ist plausibel, allerdings keineswegs etwa durch einen entsprechenden Vermerk am Objekt o.Ä. gesichert. Der Kasten, schon auf der Außenseite mit Bildern der Passion reich verziert, kann von vier Seiten durch insgesamt fünf Gucklöcher betrachtet werden. Anders als beim Catoptrix sind die einzelnen Szenen innerhalb des Kastens nicht räumlich voneinander getrennt oder durch Spiegel optisch verstärkt, dafür verfügt der Kasten über eine Mechanik, mit deren Hilfe einzelne Figuren bewegt werden konnten: Das Drehen der Kurbel erlaubte drei Bewegungen innerhalb der Figuren. Allerdings finden diese Bewegungen gleichzeitig statt, so dass sich keine einheitliche Perspektive ergab, sondern vielmehr die Betrachter: innen jeweils nur den Ausschnitt ihres spezifischen Gucklochs sehen konnten. Ver‐ mutlich wurden sie von einer/ m vorführenden Performer: in angehalten, sich die einzelnen Bilder in einer spezifischen Reihenfolge anzusehen. Der Kasten ist aus theaterhistorischer Perspektive bemerkenswert, weil er das Echo auf eine alte Puppenspieltradition in sich trägt, die schemenhaft, aber dennoch deutlich aus den Magistratsakten zahlreicher Städte seit dem 15. Jahrhundert hervortritt: das sogenannte Himmelreich (vgl. hierzu Purschke Jenseits der Aufführung 237 7 Begrifflich würde ich dennoch vorschlagen, diese Guckkästen klar von jenen Auto‐ mata zu trennen, die eine Fülle kleiner, bewegter Szenen durch einen Mechanismus präsentierten. Obgleich unbestreitbar ist, dass es auch hier eine Verwandtschaft in der Inszenierung gibt, sind die technisch bedingten Unterschiede doch überdeutlich. Vgl. zur geistesgeschichtlichen Rahmung der Automata Stöcklein (1969). 1979: 27-34). Soweit es den knappen Beschreibungen zu entnehmen ist, hat es sich wohl um mechanische Spielkästen gehandelt, mit deren Hilfe dem Publikum biblische Episoden präsentiert wurden. Dass die frommen Stoffe von diesen professionellen Performer: innen vermutlich eher aus strategischen Gründen gewählt wurden, um die oftmals theaterfeindlichen Magistrate günstig zu stimmen, spricht nicht dagegen, dass der Passions-Guckkasten sich eine ähnliche Technik angeeignet hat. Vielmehr zeugt es von dem oben angespro‐ chenen Kontinuum, das sich nicht gattungstheoretisch oder durch die kulturelle Einbettung eindeutig kartographieren lässt. 7 Dass der späte Kölner Kasten jesu‐ itischer Missionspraxis zugerechnet wird, kann insofern sachlich überzeugen, als die Zirkulation solcher Techniken und Verfahren sowie die Durchlässigkeit der unterschiedlichen Sphären durchaus charakteristisch für die noch nicht kategorial geordnete Medienökologie der Frühen Neuzeit ist (vgl. hierzu Marx 2021: 149-152). Hinsichtlich der Frage der Aufführung ist erkennbar, dass dieser (teil-)me‐ chanische Kasten nicht durch ein Verkörperungsparadigma beschrieben werden kann, wie es sich seit dem bürgerlich-dramatischen Theater des 18. Jahrhunderts etabliert. Vielmehr scheint hier die Szene der entscheidende dramaturgische Baustein zu sein. In Hinsicht auf die Präsentationssituation des Himmelreichs sind leider kaum belastbare Quellen erhalten. Allerdings findet sich in der Graphischen Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums eine Skizze von Johann Anton de Peters (1725-1795) (WRM Z00511), die einen gewissen, wenngleich sicherlich durch Genre-Konventionen verzerrten, Einblick gewährt. Das Bild zeigt im linken Bildfeld einen grimmig blickenden Mann mit Bart und Fellmütze, der eine Kurbel bedient, während am oberen Eck der Kiste ein Mann mit Turban auf die Umstehenden einredet. Deren karikaturhaft überdeutliche Skepsis lässt ver‐ muten, dass es sich um eine Performance fahrender Schausteller: innen handelt. Die Fahne an der Hauswand im linken Hintergrund lässt vermuten, dass es sich hier nicht um einen religiösen Ort, sondern um eine Gaststätte handelt. Auch wird durch einen Vergleich der Kleidung der dargestellten Figuren deutlich, dass der Turban hier als exotistisches Versatzstück anzusehen ist. Liest man das Bild als Dokument einer theatral-dramaturgischen Praxis, dann fällt vor allem das Auseinanderfallen von Erzähltem und Gezeigtem ins 238 Peter W. Marx 8 Vgl. ausführlicher erläuternd zum Begriff der scena bei Marx (2019b). Auge. Das hier vorherrschende Verkörperungsparadigma ist kategorial anders als jenes im Bereich der Performance oder des dramatischen Theaters. Zwischen der visuell-szenischen Präsentation, die verborgen im Kasten zu vermuten ist, und der Erzähler-Situation klafft eine Lücke, die einzig durch den deutlich als Kostüm erkennbaren Turban ansatzweise überbrückt wird. Vergleichbare Konstellationen eines Auseinanderfallens von szenischer Präsentation und rahmender Narration finden sich historisch im Bänkelsang oder auch - in anachronistischer Linie - etwa bei den Kino-Erzähler: innen. Dass der Catoptrix und der Passionsguckkasten in ähnlicher Weise Elemente einer zweigeteilten Präsentationsform darstellen, und es offenkundig für die jesuitische Theater- und Medienpraxis keine Rolle spielte, dass diese Verfahren mithin von säkularen oder auch weltanschaulich entgegengesetzten Gruppen übernommen werden konnten, markiert die grundsätzliche Offenheit jesuitischszenischer Praxis. Die pluri-mediale scena jesuitischer Inszenierungen steht in einer dreifachen Verortung: Auf der einen Seite wurzelt sie in der ignatianischen Übung der Imagination als Zentrum einer neuen spirituellen Praxis: so wie der Exerzitant als ein Zuschauer der inneren ‚scena’ gedacht ist, 8 so ist die materialisierte Imagination Teil der missionarischen Praxis. Ihre Vielstimmigkeit findet im Konzept der Thaumaturgia ihr Gravitationszentrum. Das Wunder-Machen überschritt a priori alle Gattungsgrenzen und ruft nach der größtmöglichen Fülle der Mittel. Schließlich - und das ist der dritte Anker - lädt die jesuitische Sendung („Gott in allen Dingen suchen“) zu einer radikalen Offenheit gegenüber den verschiedenen bestehenden Praktiken ein. 3 Sakral- und Theatralraum Im Unterschied zu vielen anderen katholischen wie protestantischen Gruppen pflegten die Jesuiten seit ihrer Gründung ein eher affirmatives Verhältnis zum Theater und zum Theatralen. Dies hatte zum einen mit der hier nicht näher zu berücksichtigenden Tradition des Schultheaters zu tun, die sich sowohl in humanistischen wie auch in protestantischen und katholischen Schulen finden lässt (vgl. hierzu Schmidt 1903). Zum anderen aber damit, dass die Bedeutung sinnlicher Zeichen in der ignatianischen Spiritualität - wie oben ausgeführt - ohnehin zu einer programmatischen Offenheit für mediale und performative Praktiken führte. Im strategischen Horizont der Gegenreformation kommt es auch zu einer grundsätzlichen Stärkung der theatralen Mittel auch in liturgisch- Jenseits der Aufführung 239 9 Die unveröffentlichte Niessen’sche Habilitationsschrift, die in Vielem durch die For‐ schung mittlerweile überholt ist, ist in diesem Punkte methodisch bemerkenswert, denn Niessen hat auf der Grundlage der vorliegenden Angaben und ausgehend von der noch existierenden architektonischen Struktur mithilfe des ehemaligen Dombaumeisters Ludwig Arntz (1855-1941) die statische Konstruktion des theatrums rekonstruiert. Hiervon entstand später auch ein verkleinertes Modell, das von Stadtmuseum und Theaterwissenschaftlicher Sammlung genutzt wurde, aber leider im Krieg zerstört wurde. Niessens Versuch einer modellhaften Raumrekonstruktion kann angesichts einer zu diesem Zeitpunkt immer noch sehr textfokussierten Wissenschaftspraxis als außergewöhnlich gelten. rituellen Vollzügen. Der bisweilen sehr strikten Bilder- und Theaterfeindlichkeit protestantischer Theologen wird eine visuelle Opulenz entgegengesetzt. So umfasst die jesuitische Medienpraxis und -strategie gleichermaßen Ap‐ parate zur „bloßen“ Anschauung wie auch deren Einbindung in liturgische Vollzüge. So wie das Prinzip des Guckkastens bzw. Catoptrix ikonographisch für die eigene Sache eingesetzt wurde, so konnte auch das liturgische Geschehen bzw. der Kirchenraum durch mediale Rahmung oder theatrale Weiterung neu semantisiert bzw. mit einem spezifischen ästhetischen Erfahrungshorizont ausgestattet werden. Aus diesem Blickwinkel ist es nur folgerichtig, dass die Einweihung der Kirche Maria-Himmelfahrt in Köln 1627 mit einem aufwändigen Ste‐ phanus-Spiel begangen wurde. Dieses umfassende Spiel erforderte eine mehr‐ stöckige, dramaturgisch dreiteilige Bühnenkonstruktion, die aufwändig in den Chor der Kirche eingebaut wurde. Carl Niessen deutet diese Konstruktion in seiner 1919 angenommenen Habilitationsschrift als Übernahme von der Bühnenpraxis der (protestantischen) englischen Komödianten: Es besteht kein Zweifel, dass diese Bühne von der englischen Bühnenform, die den Jesuiten durch englischen Komödianten vermittelt wurde, abhängig ist. Sie steht völlig im Einklang zu dem Wenigen, was sich über die Bühne der englischen Komödianten ausmachen lässt. (Niessen 1919: 41) 9 So bietet das Stephanus-Spiel eine doppelte Grenzüberschreitung: Auf der einen Seite zwischen Sakral- und Theatralraum, auf der anderen Seite zwischen unterschiedlichen Spieltraditionen. Maria-Himmelfahrt ist aber auch hinsichtlich der Ausstattung der Kirche interessant, nicht nur, weil die Seitenaltäre einen Mechanismus zum Wechseln der Altarbilder enthielten, sondern auch weil der Tabernakelaltar über ein Expositorium verfügte, bei dem durch einen Mechanismus eine Tür sich öffnete, zwei anbetende Engel erschienen und in der Mitte die Monstranz sichtbar wurde. Vergleichbare Mechanismen lassen sich auch in anderen Kirchen finden, 240 Peter W. Marx 10 Der Kunsthistoriker Walter Schulten schreibt über dieses Theatrum Sacrum: „Das geistliche Spiel, von den Jesuiten gefördert, war ein Wesenselement barocker Frömmig‐ keitsäußerung. […] Seit dem 16. Jahrhundert förderten die Jesuiten die Andacht zum Hl. Grab der Karwoche. Das Zentrum eines Hl. Grabes bildete das Allerheiligste in der Monstranz. Durch mancherlei mechanische Dinge und durch Spiel und Predigt vor dem Grabgerüst wurde die Andacht belebt. Es ist daher sehr wohl möglich, daß die Jesuiten die Anregung für das Figurenspiel im Expositorium ihres Hochaltares der Hl. Grabverehrung oder dem geistlichen Spiel verdanken“ (Schulten 1980: 221). jedoch handelt es sich bei dem Kölner Beispiel, das von der Forschung auf das Jahr 1628 datiert wird, um eines der frühesten seiner Art. 10 Auch hier ist wie‐ derum Kulturtransfer zu verzeichnen, allerdings ein diachroner, wie er für den humanistischen Diskurs prototypisch ist, denn ein solches Expositorium findet sich auch schon in den Schriften des Heron von Alexandria (Schmidt 1899: 341). Abgesehen von den komplexen Wechselbezügen zur Sakramentaltheologie, die hier nicht entfaltet werden können, ist zu vermerken, dass die Jesuiten solche Apparate vielfach in liturgischen oder paraliturgischen Kontexten einsetzten. So beschreibt Arnold von Anrath für das Jahr 1615 ausführlich eine von Jesuiten organisierte Prozession im an sich protestantisch geprägten Wesel, bei der allerlei „Gokelwerck [und] Puppen Werck“ (Bambauer/ Kleinholz 1992: 96) zum Einsatz kam. Die - in diesem Fall wohl hydraulisch betriebenen - beweglichen Engel und Szenen wurden, wie man bei Anrath erkennen kann, von protestantischer Seite als ‚theatral‘ abgelehnt. Wie stark diese szenische Logik auch den gesamten Kirchenraum durch‐ dringen kann, lässt sich besonders gut an der Mutterkirche der Societas Jesu in Rom, Il Gesù (1584; Innenraum umgestaltet von 1668-1673), ablesen. Schon das aufwändige Deckenfresko Triumph des Namen Jesu von Giovanni Battista Gaulli (1639-1709) ist Ausweis einer überbordenden, den Raum sprengenden Bildprogrammatik. Von besonderem Interesse ist aber der links vom Hauptaltar gelegene Grabaltar des Ignatius, der 1696-1700 von Andrea Pozzo SJ (1642- 1709) entworfen und errichtet wurde. Er beeindruckt durch ein komplexes, sich in der Vertikalen erstreckendes Bildprogramm: Beginnend mit dem Sarkophag des Ignatius, der die Basis des Altars darstellt, erhebt sich an zentraler Position über der Altarmensa ein von Pozzo gestaltetes Altarblatt, das Christus zeigt, der Ignatius ein rotes Banner mit seinem Namen übergibt - allegorisch für den Missionsauftrag der SJ (vgl. hierzu Greiselmayer 1987: 46-48). Darüber gruppieren sich allegorische Figuren der Dreifaltigkeit, in deren Mitte eine blaue Erdkugel prangt, die aus einem der größten jemals gefundenen Lapisla‐ zuli-Steine gefertigt wurde (dieselbe blaue Kugel findet sich auch auf dem Altarblatt wieder). Das zentrale, szenische Zentrum des Altares aber bildet ein Jenseits der Aufführung 241 11 Es sei an dieser Stelle nur knapp darauf verwiesen, dass Pozzos Altar einem Paradigma der Verkörperung zuzurechnen ist, wie es teilweise aus mittelalterlichen Prozessionen bekannt ist, denn eine Vervielfältigung der Figur (Bild, Reliquie, Statue) sprengt den Rahmen einer dramatischen Repräsentation hin zu einer allegorischen Vielfältigkeit. 12 Wie sehr dies dramaturgisch gedacht ist, lässt sich an dem Umstand ablesen, dass dieses kleine Fenster ebenfalls durch eine Verdunkelung so „gesteuert“ werden kann, dass die Sonnenstrahlen zur rechten Zeit auf den Hauptaltar fallen. Mechanismus, mit dessen Hilfe das Bild nach unten versenkt werden kann, um den Blick auf eine reich dekorierte Statue des Ignatius freizugeben: 11 It was a machine that allowed the altarpiece of St. Ignatius Receiving the Banner of the Name of Jesus to miraculously begin to move mid-Mass, whether pulled by men behind the scenes or initiated by the presider with a click of a button, like a garage door today. (Mochizuki 2017: 457) Mia M. Mochizuki deutet dies im Kontext des imago agens, das sie allerdings in einer Reihe mit Wagners Idee des Gesamtkunstwerks deutet (vgl. Mochizuki 2017: 456). Dabei ist die Statue nicht selbst das Zentrum der religiösen Vereh‐ rung, sondern verweist, wenn man dem Blick des Ignatius folgt, entweder auf die Trinität, die den Baldachin des Altars schmückt, oder - hier in verlängerter Achse der linken Hand - auf den Hauptaltar, über dem in einem goldenen Strahlenkranz das Signet IHS thront. Heutzutage, da der Mechanismus jeden Nachmittag um 17: 30 Uhr in Gang gesetzt wird, ist dies der Augenblick, an dem die Sonnenstrahlen durch ein Fenster über dem Eingangsportal - gegenüber dem Hauptportal - auf ebendieses Signet fallen. So verweist der spektakulär enthüllte Ignatius auf den zentralen Ort des liturgischen Geschehens. 12 Jesuit visual culture, defined as a specific intellectual investment manifested across media, thus relied on Kircher’s machines to activate materials, Pozzo’s dramatic enframement to actualize ritual performance in space, and Ignatian modes of rhetorical address to renegotiate sacred encounter, in order to invest the Chapel of St. Ignatius with the drive, the conceptual underpinning, and the value systems of the imago agens. In other words, machines, frames, and exchanges manufactured the requisite shares of mimesis and miracle for the Baroque spectacle. […] The animated, mechanized imago agens of Jesuit visual culture was an opportunity then and now. It was a challenge to ‘bring forth’ the image of the future as it beat onward, the chance to call the imminent to the present, one that still very much beckons today. (Mochizuki 2017: 476) Obgleich sie ihre Deutung völlig unabhängig von jeglicher theatralen oder per‐ formativen Theoriebildung betreibt, wird an Mochizukis Beschreibung deutlich, 242 Peter W. Marx dass es sich hier um einen theatralen Akt handelt, auch wenn „klassischen“ Bedingungen des Aufführungsbegriffs nicht gegeben zu sein scheinen. 4 Abschließende Überlegungen Die konstitutive Durchlässigkeit und Vielstimmigkeit frühneuzeitlicher Medi‐ enökologie verschiebt den Blick in zwei zentralen Dimensionen: Auf der einen Seite lenkt er die Aufmerksamkeit auf die komplexen Formierungsprozesse im System der Künste und Medien, die sich durch ein Wechselspiel von epistemischen, juristischen, wirtschaftlichen, technologischen und ästhetischen Prozessen ergeben. Diese Perspektive führt zu einer konsequenten kulturhisto‐ rischen Verortung der Künste und Medien - nicht um die ästhetische Dimension zu verkürzen oder als einen „Überbau“ zu marginalisieren, sondern um deutlich zu machen, dass Künste und Medien immer einen zentralen bzw. konstituie‐ renden Anteil an den gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen haben. Sie stiften Welt-Bilder als Handlungs-, Erkenntnis- und Erlebensräume, in denen sich Geschichte vollzieht. Mit dem Fokus auf die Formierungsprozesse rücken auch jene Phänomene in den Blick, die nicht als Vor-Geschichte nach‐ folgender Formationen, sprich: unserer Gegenwart, in evolutionäre Verläufe eingeordnet werden können. Die Abkehr von teleologischen Geschichtsbildern erlaubt es, Widersprüchlichkeiten beschreiben zu können, ohne sie auflösen zu wollen. Auf der anderen Seite ist es gerade die „Fremdheit“ frühneuzeitlicher Kon‐ zepte, die einen kritischen Blick auf etablierte Begriffsbildungen und ihre Voraussetzungen ermöglicht: So etwa auf das Konzept linearer Zeit, das für die Definition von Ereignishaftigkeit - einer der Schlüsselkategorien des Auffüh‐ rungsbegriffs - konstitutiv ist. Dieses ist ohne die Konzeption der modernen Naturwissenschaften im Wortsinne nicht denkbar; in der Frühen Neuzeit aber stehen hier unterschiedliche Konzeptionen nebeneinander oder teilweise in konfliktiver Überlagerung. Die jesuitische Theater- und Medienpraxis eröffnet in ihrer Ungeschiedenheit heterogener Elemente ein besonders privilegiertes Feld für eine solche kontras‐ tive Lektüre, deren äußere Umrisse hier nur angedeutet werden konnten. Dabei kommen zwei Aspekte verstärkend in diesem spezifischen Fall zusammen: zum einen der omnivorische Appetit, mit dem die Societas Jesu, vergleichsweise vorurteilsfrei und pragmatisch, unterschiedliche Formen und Techniken adap‐ tierte, anpasste und verbreitete. Zum zweiten erlaubt die globale Verbreitung dieser Praxis, die sich sowohl in Asien (vor allem China, Indien und Japan) als auch in Südamerika finden lässt, interessante Einblicke in die Frage der Jenseits der Aufführung 243 Übersetzbarkeit und der globalen Verbreitung. Die Grundzüge einer globalen, „connected history“ (vgl. einführend Subrahmanyam 1997) sind hier erkennbar und eröffnen weitere Fragestellungen. In der produktiven Unschärfe frühneu‐ zeitlicher Begriffe und der Vielstimmigkeit ästhetischer und medialer Praktiken entdeckt sich die Intensität kultureller Mobilität und Transformation. Literatur Aebischer, Pascale (2020). Shakespeare, Spectatorship and the Technologies of Perfor‐ mance. 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Es bleibt z.B. offen, ob von einer Gattung, einem Genre, einer räumlichen Anordnung oder einem Handlungsmuster die Rede ist. Die Vagheit des Begriffs wird noch dadurch unterstrichen, dass die unbe‐ stimmtere Pluralform dominiert: Man hat eine Vielfalt von Theaterformen vor Augen und betont die Diversität des Theaters zu einer bestimmten Zeit, während zugleich der Eindruck bekräftigt wird, dass in dieser Vielfalt Unterscheidungen und Sortierungen vorgenommen werden können. Die Rede von Theaterformen verspricht also Ordnung und Differenzierung zugleich. Theater begegnet in einer Vielfalt von unterschiedlichen Formen - auch heute. Es gibt traditionelle Formen wie die Boulevardkomödie, das Musical oder das Dokumentartheater, daneben aber auch zahlreiche neuere wie etwa den Audiowalk, die autobiografi‐ sche Performance oder das immersive Theater. Für alle diese Formen lassen sich jeweils definitorische Merkmale benennen. Es geht, wenn von Theaterformen die Rede ist, im Grunde um relativ stabile Muster in der großen Bandbreite heterogener theatraler Praktiken. Diese Muster scheinen über die einzelne Aufführung hinaus gültig zu sein. In welcher Beziehung stehen sie überhaupt zur einzelnen Aufführung? In diesem Beitrag soll das Verhältnis von Aufführung und Theaterform beleuchtet werden. Die Aufführung wird in der Regel als ein derart transitori‐ sches, emergentes, prozessuales Geschehen aufgefasst, dass sie mit der Idee einer (festen) Form nicht leicht vermittelbar scheint. Andererseits würde man vermuten, dass einschlägige Kenntnisse und Vorstellungen von Theaterformen beim Verständnis und in der Beschreibung von Aufführungen durchaus hilfreich sein können. Die inneren Dynamiken von Aufführungen könnten auf lange Sicht auch zum Wandel von Theaterformen beitragen. Mich interessieren in diesem Beitrag deshalb vor allem zwei Fragen zum Verhältnis von Aufführung und Theaterform: Wie wäre ein Formbegriff zu konzeptualisieren, der zu dem besonders flüchtigen Geschehen einer Theateraufführung passt? Inwieweit kann ein elaborierter Aufführungsbegriff dabei helfen, den theatergeschichtli‐ chen Formwandel genauer zu verstehen? Vorab sollen einige Spezifika von Theaterformen am Beispiel des Brecht’schen Lehrstücks angedeutet werden. 1 Das Lehrstück als Theaterform Im Lehrstück zeigt sich die Vieldimensionalität des Formbegriffs für das Theater exemplarisch, denn wann immer Brecht über das Lehrstück schreibt, wird klar, dass es ihm nicht nur um eine bestimmte Sorte von Theaterstücken, sondern auch um eine fest umrissene Aufführungspraxis sowie um eine genau gefasste Art des Spielens und Zuschauens geht. Um 1930 überlegte Brecht unter dem Ein‐ druck des aufkommenden Faschismus, wie er sein Theater neu ausrichten und politisch klarer positionieren könnte - nämlich auf der Seite der revolutionären Arbeiterbewegung. In diesem Kontext entstanden die Lehrstücke. Sie stehen für ein anderes Theatermodell als die großen epischen Dramen wie Mutter Courage, Der kaukasische Kreidekreis oder Galileo Galilei. Die Lehrstücke sind so lesbar, als sollten in ihnen wirklich Betroffene agieren. Sie richteten sich an kommunistische Arbeiter: innen oder an eine revolutionäre junge Generation, die im Theater politische Haltungen und Konflikte erproben sollte. In diesem Sinne machte Brecht 1930, wenn man so will, den Versuch, Expert: innen des Alltags in die Theaterarbeit einzubeziehen. Die wohl prägnanteste, beinahe definitorische Bestimmung der Form notierte Brecht 1937/ 38 im Exil, Jahre nach den wenigen Aufführungen in den letzten Monaten der Weimarer Republik: Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prin‐ zipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrund, daß der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden usw. gesellschaftlich beeinflußt werden kann (Brecht 1992 [1937/ 38]: 351) Es geht demnach um ein gemeinsames Spielen, in dem probeweise Haltungen - wie immer bei Brecht im doppelten, körperlichen und politischen Sinne - eingenommen werden. Das Lehrstück war eine kleine, streng anmutende Form, deren wichtigster programmatischer Grundzug darin bestand, sich an Akteur: innen und nicht an Zuschauer: innen zu richten. Gelernt werden sollte 248 Matthias Warstat durch Mitspielen. Alle fünf Lehrstücke, die Brecht um 1930 schrieb, behandeln Fragen des Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv oder, konkreter, zwischen individuellen Bedürfnissen und der Autorität einer revolutionären Partei. Lernen können aus diesen Stücken vor allem diejenigen, die sich den Kämpfen einer politischen Organisation schon angeschlossen haben. Ihnen bietet das Lehrstück die Möglichkeit, Probleme und Konflikte der eigenen politischen Arbeit zu reflektieren. Abb. 1: Uraufführung Die Maßnahme von Bertolt Brecht, Alte Philharmonie Berlin, 13./ 14. Dezember 1930 Das Foto von der Uraufführung der Maßnahme in der Berliner Philharmonie am 13./ 14. Dezember 1930 zeigt, dass die Form nicht genauso umgesetzt wurde, wie es in Brechts Schriften zu den Lehrstücken zunächst klingt (Abb. 1). Brecht scheint an eine kleine Gruppe von Mitwirkenden zu denken, die diese Stücke quasi für sich selbst oder füreinander spielt. Tatsächlich fand die Uraufführung der Maßnahme vor großem Publikum statt. Auf der Bühne agierten Einzel‐ spieler: innen vor einem Kontrollchor, der die Partei repräsentierte und vor dem sich die einzelnen ‚Agitatoren‘ zu rechtfertigen hatten. Immerhin wurde dieser Theaterform und Aufführung 249 Kontrollchor aber von Mitgliedern der Berliner Arbeiterchöre dargestellt. Die Akteur: innen auf der Bühne standen der KPD und ihren Kulturorganisationen nahe, und auch im Publikum dominierten Mitglieder der kommunistischen Organisationswelt. Für Brecht lag darin auch eine Emanzipation vom kommer‐ ziellen Theaterbetrieb: Wir nehmen diese wichtigen Veranstaltungen aus allen Abhängigkeiten heraus und lassen sie von denen machen, für die sie bestimmt sind und die allein eine Verwendung dafür haben: von Arbeiterchören, Laienspielgruppen, Schülerchören und Schülerorchestern, also von solchen, die weder für Kunst bezahlen noch für Kunst bezahlt werden, sondern Kunst machen wollen. (Brecht 1998: 89) In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass hier Menschen aus einer politischen Bewegung für ihresgleichen spielten - ein Spiel für Mitspieler: innen und vor Mitspieler: innen. Der Vergleich von Brechts Schriften zum Lehrstück mit der Uraufführung der Maßnahme kann uns aber auch darauf aufmerksam machen, dass zwischen Theaterform und Aufführung nicht selten ein Spannungsverhältnis besteht. Die Aufführung ist nicht einfach identisch mit der Theaterform. In welchem Ver‐ hältnis stehen Aufführung und Form? Können Aufführungen als Umsetzungen oder Realisierungen einer Theaterform beschrieben werden? Oder sollte man umgekehrt annehmen, dass aus den zahlreichen Aufführungen allmählich eine Form gerinnt? 2 Der Aufführungsbegriff Aufführungen finden sich in diversen Künsten, und zwar nicht allein in den darstellenden und performativen Künsten, sondern auch in der Musik (Kon‐ zerte), in der Literatur (Lesungen) und in diversen Spielarten von bildender Kunst (Installationen, Aktionen etc.). Gleichwohl erscheinen die Beziehungen des Theaters zum Aufführungsbegriff besonders eng. So wurde und wird der Begriff herangezogen, um das elementare Dispositiv des Theaters zu bestimmen. Theater wird demnach dort möglich, wo sich Agierende und Zuschauende zur selben Zeit im selben Raum versammeln. Mit Erika Fischer-Lichte ließe sich definieren: Für den Aufführungsbegriff sind leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, Emergenz der Erscheinungen und Ereignishaftigkeit konstitutiv. Eine Aufführung ereignet sich in der und durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. Damit sie zustande kommen kann, müssen zwei Gruppen von Personen, die als ‚Handelnde‘ und ‚Zuschauende‘ agieren - wobei die Zugehörigkeit zu den Gruppen 250 Matthias Warstat im Laufe der Aufführung wechseln kann - sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort versammeln und dort eine Situation, eine Spanne Lebenszeit miteinander teilen. Die Aufführung entsteht aus ihren Begegnungen - aus ihrer Konfrontation, aus ihren Interaktionen. (Fischer-Lichte 2004: 22) Entscheidend für Aufführungen ist nach dieser Definition die Interaktion zweier Gruppen, nämlich von Agierenden und Zuschauenden, die sich zur selben Zeit im selben Raum befinden. Innerhalb von Versammlungen, die als Aufführungen gefasst werden, lassen sich diese zwei Gruppen unterscheiden. Der Unterschied zwischen denen, die agieren, und denen, die zuschauen, ist für Aufführungen ei‐ nerseits konstitutiv, andererseits aber auch relativ, denn die Differenz zwischen Agierenden und Zuschauenden ist nur eine graduelle. Alle Teilnehmenden einer Aufführung führen bestimmte Handlungen durch - auch die Zuschauenden, die beispielsweise Applaus spenden oder ihren Platz aufsuchen. Genauso nehmen alle Teilnehmenden einer Aufführung das Aufführungsgeschehen wahr - auch die Schauspieler: innen, die aufmerksam auf die Impulse achten, die sie von ihren Mitspielenden empfangen. Insofern kann die Aufführung allgemein als ein Ereignis beschrieben werden, das von besonderen Intensitäten des Agierens und des Wahrnehmens geprägt ist, und zwar seitens aller Beteiligten. Der Versammlungscharakter von Aufführungen wird bei Fischer-Lichte an der leiblichen Ko-Präsenz festgemacht. So klingt in der zitierten Passage an, dass leibliche Erfahrungen zum tragenden Element von Versammlungen werden können. Aus dem körperlichen Beieinandersein erwachsen weitreichende äs‐ thetische, ethische und politische Folgen. In ästhetischer Hinsicht ist davon auszugehen, dass in der Versammlung alle Sinne des Körpers angesprochen werden können. Es bleibt nicht beim visuellen Schauen auf ein statisches oder bewegtes Bild, sondern akustische, haptische und olfaktorische Wahrneh‐ mungen kommen hinzu. Ethisch erscheint es folgenreich, dass das Exponieren des eigenen Körpers, das im Aufführungsraum nicht nur den Agierenden, sondern in gewissem Maße auch den Zuschauenden abverlangt wird, mit einer besonderen Verletzbarkeit verbunden ist. Wenn viele Menschen auf engem Raum versammelt sind, um sich wechselseitig zu beobachten und sinnliche Erfahrungen zu machen, kann man potentiell auch gefordert und bedrängt werden. In der politischen Dimension stellt sich die Frage, welche Partizipa‐ tions- oder Mobilisierungschancen sich daraus ergeben, dass die Teilnehmenden der Aufführung zur selben Zeit am selben Ort versammelt sind. Theaterform und Aufführung 251 3 Aufführung und Form Manche Komplikationen und Missverständnisse in theaterbezogenen Form‐ debatten erklären sich daraus, dass das Verhältnis von Aufführung und Form in zwei grundsätzlich unterschiedlichen Varianten gedacht werden kann. Jede Aufführung gewinnt in ihrem Verlauf zweifellos eine Form. So kann die Aufführung als eine realisierte Form betrachtet werden. Die Zeitlichkeit dieser Aufführungsform ist allerdings eine besondere - sie kann am treffendsten im Futur II angegeben werden: Die Aufführung wird eine Form gehabt haben. Aufgrund des performativen Entstehens und Vergehens von Aufführungen kann sich die Form nicht als etwas Stabiles realisieren. Vielmehr konstituiert sich die Form prozessual in der Aufführung, und mit dem Ende der Aufführung bleibt von der so konstituierten Form im Wesentlichen eine Erinnerung übrig, kein annähernd aussagekräftiges materielles Substrat. Anstelle der Bezeichnung ‚Form‘ wäre es in Bezug auf die in Aufführungen realisierte Form realistischer, von formativen Prozessen zu sprechen. In anderer Hinsicht geht der Aufführung eine Form jedoch auch voraus. Von ‚Theaterformen‘ wird in der Regel gesprochen, um etwas zu bezeichnen, das auch jenseits der einzelnen Aufführung bzw. der einzelnen Inszenierung oder Produktion fortbesteht. Die Theaterhistoriografie kennt - in sich natürlich veränderliche - Theaterformen, die über mehrere Jahrhunderte Bestand haben. Viele Aufführungen basieren in diesem Sinne auf einer ideellen Form, die auf die eine oder andere Weise im Inszenierungsprozess eine Rolle gespielt hat. So wäre zum Beispiel denkbar, dass ein Produktionsteam sich vornimmt, ein Lehrstück zu inszenieren. Oder eine Gruppe hat sich auf immersives Theater spezialisiert und arbeitet insofern mit einer ideellen Form oder nach bestimmten Formprinzipien, die bei der Entwicklung und Vorbereitung der Aufführung(en) berücksichtigt werden. Wenn von Theaterformen die Rede ist, sind meist solche ideellen Formen gemeint, die in Aufführungen umgesetzt werden oder zumin‐ dest einen Produktionsprozess informieren oder anleiten können. Ähnlich wie Theaterstücke bzw. Theatertexte sind solche ideellen Formen also etwas, was in Aufführungen eingehen kann. Nimmt man diese beiden Lesarten von ‚Theaterformen‘ zusammen, dann wird verständlich, warum es Schwierigkeiten bereitet, das Verhältnis von Aufführung und Theaterform systematisch zu fassen. Denkt man sich die Aufführung, wie es Theorien des Performativen nahelegen, als Prozess, dann begegnet die Form an zwei ganz unterschiedlichen Stellen: zum einen am (immer vorläufigen) Ende des Prozesses, wenn auf die Aufführung zurückgeschaut wird und sich aus der Erinnerung konkrete, materialisierte (Verlaufs-)Formen beschreiben 252 Matthias Warstat lassen. Zum anderen aber ganz am Anfang des Prozesses, indem die Aufführung rekursiv auf eine präexistente ideelle Form bezogen ist. Gerade das ist es ja, was aus dem Blickwinkel kanonischer Theorien das Performative der Auffüh‐ rung ausmacht: dass sie, die Aufführung, vorgängige Formen zitiert, auf eine vorhandene formale Norm Bezug nimmt, die sie wiederholt, aktualisiert und dabei selbstverständlich auch verändert. Die aufführungsspezifische Prozessualität selbst steht in einem Spannungs‐ verhältnis zum Formbegriff. Nicht zufällig wird der deutsche Aufführungsbe‐ griff im Englischen meist mit performance übersetzt: Aufführungen sind perfor‐ mativ, sie beruhen auf einem performare (lat. „durchformen“, „durchbilden“). Ihre Form wäre demnach ein Durchformen. Darin deutet sich allerdings ein Widerspruch an: Das ‚Durchformen‘ kann an sich nicht zugleich ‚die Form‘ sein. Möglich wird dieser Gedanke nur, wenn auf einen durch und durch dynamischen, prozessualen Formbegriff rekurriert wird. Die Herausgeber: innen des Bandes Generische Formen: Dynamische Konstel‐ lationen zwischen den Künsten (2017) beklagen in ihrer Einleitung, dass in der ästhetischen Theorie Form häufig „im Gegensatz zu Begriffen der Dynamik“ erläutert werde. Eine „zumindest relative“ Stabilität von Formen werde mit einer Dynamik „zum Beispiel von künstlerischen Verfahren“ kontrastiert. Eine solche „starre Gegenüberstellung“ werde allerdings dann problematisch, wenn Phänomene der Übertragung bestimmter künstlerischer Verfahren von einem künstlerischen Bereich in einen anderen zu erläutern sind - Phänomene wie etwa Narrativität in der Musik oder musikalische Wiederholungen im Film. In diesen Fällen zeigen sich Form und Dynamik verschränkt. (Maar/ Ruda/ Völker 2017: 7) - Wirklich nur in diesen Fällen? Ist es nicht vielmehr ein grundlegendes Kennzeichen aller performativen Künste, dass sie die Dialektik von Form und Dynamik schon je in sich mitführen? Der Begriff des Performativen verweist ja gerade darauf, dass der Formbegriff im Sinne einer Durchformung, einer Form im Verlauf, dynamisch gedacht werden muss. Insofern hat man es in den performativen Künsten stets mit „generischen Formen“ zu tun: Generische Formen sind dynamische Formen bzw. Formen in der Hervorbringung. Aus der Perspektive des Theaters ist es auch nicht unbedingt naheliegend, unter generischen Formen „vorstrukturierte Rahmungen von Materialien und Verfahren“ zu verstehen, „aus denen sich unterschiedliche Einzelformen heraus‐ bilden können“ (2017: 7). Die Herausgeber: innen beeilen sich zwar anzufügen, dass die „Rahmungen“ selbst nicht wieder in „fixierte Formen“ zu überführen wären. Aber sie bleiben doch bei einer Unterscheidung zwischen generischer Form und fester Form: „Generische Formen bezeichnen folglich eine ‚vorläufige Theaterform und Aufführung 253 Stufe‘ einer spezifischen Form.“ (2017: 7) Mit Blick auf Theateraufführungen wird man sich von der Vorstellung solch fester Formen, die am Ende eines Produktionsprozesses stehen könnten, verabschieden müssen. Darin liegt eine Besonderheit von Theaterformen: Eine endgültige Fixierung und Festigkeit können sie nicht erlangen. Von Anfang bis Ende müssen sie als raumzeitliche Prozessualität gedacht werden. Für die Aufführungskünste gilt: Die Form ist performativ, sie ist Prozess einer Durchformung. Der Produktionsprozess hört in der Aufführung nicht auf, weil die Aufführung im Hier und Jetzt hervorge‐ bracht wird. So wird es in der Reflexion über Theaterformen immer darauf ankommen, wie es im Denken der Form gelingen kann, sich deren anhaltende und unaufhaltsame Dynamik stets bewusst zu halten. 4 Dimensionen von Theaterformen Aus dem Aufführungsbegriff ist abzuleiten, dass Theaterformen multidimensi‐ onal gedacht werden müssen, denn Aufführungen eröffnen per se eine Vielzahl von Dimensionen: Sie sind Versammlungen, und die Art, in der sich die Teilnehmenden einer Aufführung versammeln, ist einem historischen Wandel unterworfen. Die Versammlung kann z.B. in zwei Gruppen (Spielende und Zuschauende) zer‐ fallen. Zu anderen Zeiten kann sie sich eher wie eine ungeschiedene Menge darstellen, in der alle miteinander spielen und interagieren. Auch die zahlen‐ mäßige Größe der Versammlung kann stark variieren. Zu einem Kammerspiel versammeln sich vielleicht kaum mehr als zwei oder drei Dutzend, während für Masseninszenierungen in einem Stadion Tausende zusammenkommen können. Vielleicht ist es nur einer, der in der Versammlung spricht, oder es ergibt sich eine wahre Polyphonie, oder alle Versammelten sprechen im Chor mit einer Stimme. In Innenräumen, aber vor allem unter freiem Himmel sind Versamm‐ lungen stark geprägt vom Vereins- und Versammlungsrecht und überhaupt von der polizeilichen, kommunalen oder staatlichen Ordnung des öffentlichen Raums. Es steht daher außer Frage, dass politische, behördliche und rechtliche Regelungen des öffentlichen Raums auf das Theater (mit-)formativ wirken. Wenn Theater eine Versammlung um des Zeigens willen ist, dann ergibt sich die spezifische Theaterform auch und gerade daraus, wie gezeigt wird bzw. welche die Prinzipien des Zeigens sind. Im epischen Theater erfolgt das Zeigen beispielsweise überdeutlich. Die Schauspielerin, die etwas zeigt, macht dabei immer zugleich klar, dass sie etwas zeigt. Von daher wissen alle Zuschauenden, dass ihnen intentional etwas gezeigt wird. Demgegenüber gibt es Theaterformen, in denen das Zeigen sehr viel unauffälliger, kaum merklich 254 Matthias Warstat geschieht - wie etwa in Augusto Boals ‚unsichtbarem Theater‘. Aufführungen von unsichtbarem Theater erfolgen im öffentlichen Raum, außerhalb von Theatergebäuden im eigentlichen Sinne. Auf der Straße, in einem Café oder in einer U-Bahn werden Szenen vorgespielt, die auf das Passant: innen-Publikum nicht wie Theater, sondern wie die alltägliche Realität wirken sollen (vgl. Boal 1989: 74-82). Unvorbereitet und wie zufällig werden die Umstehenden dementsprechend mit einem lehrhaften Geschehen konfrontiert, das sie nicht als Theater identifizieren können. Die Prinzipien des Zeigens lassen sich am Schauspielstil, aber auch an anderen Elementen der Aufführung ablesen. Sie sind eingebettet in die alltäglichen Formen des Zeigens, die Brecht in seinem berühmten Fragment Die Straßenszene aus dem Jahr 1939 thematisiert (siehe Brecht 1999 [1939]: 370-381). Wie machen wir uns gestisch verständlich, wenn wir etwa einen Unfallhergang oder einen Konfliktverlauf gegenüber einer noch unwissenden Gruppe verdeutlichen wollen? Die Zeichen und Gesten, die in der Sozialisation für solche Aufgaben erlernt oder entwickelt wurden, werden nicht ohne Auswirkung bleiben auf die Art, wie im Theater mit Gesten umgegangen wird. Die Materialität von Aufführungen ändert sich, wenn sich - um eine tra‐ ditionelle, theatersemiotische Formulierung zu wählen - die dominanten Zei‐ chenträger ändern. Im Puppentheater ist beispielsweise nicht der menschliche Körper (der Spielenden) wichtigster Träger der Semiose, sondern Figuren aus Materialien wie Holz, Plastik, Styropor, Textilien und Metall bringen die Bedeu‐ tungen hervor. Die breite Integration von digitalen Medien, die wir in den letzten Jahrzehnten im Theater gesehen haben, manifestiert sich auch und gerade in einer veränderten Materialität des Theaters: Projizierte oder über Monitore vermittelte Bewegtbilder sind heute integraler Bestandteil dieser Materialität. Die Materialität von Theater war schon immer ähnlich vielfältig wie die Mate‐ rialität der Welt außerhalb des Theaters. Es gibt aber Theaterformen, in denen ein bestimmtes Material klar im Vordergrund steht, so etwa im Physischen Theater/ Körpertheater oder in bestimmten Spielarten von Objekttheater. Es gibt Theaterformen, in denen die Materialität eines anderen Mediums nahezu vollständig angeeignet wurde, so etwa in manchen Inszenierungen von Katie Mitchell die Materialität des Kinos. In solchen Inszenierungen wird auch der Zusammenhang von Materialität und Medialität (einer Theaterform) besonders deutlich. Auch der Produktionsprozess von Theater hat eine Form. Die Probenforschung der letzten Jahrzehnte hat herausgearbeitet, wie unterschiedlich die Herstellung einer Aufführung organisiert sein kann. Sind es viele oder wenige Proben? Sind die Proben öffentlich? Wer trifft die künstlerischen Entscheidungen? Setzen die Theaterform und Aufführung 255 Proben auf improvisatorische Offenheit oder geht es auf den Proben eher darum, ein Regiekonzept möglichst perfekt umzusetzen? Welche ökonomischen, po‐ litischen und sozialen Ressourcen werden genutzt? In Beantwortung dieser Fragen lässt sich die Form eines theatralen Produktionsprozesses umreißen. Wie korrespondiert diese Form mit der Struktur der ‚fertigen Aufführung‘? Bringen Probenprozess, Aufführung und Rezeption am Ende eine gemeinsame Theaterform hervor? Die Theaterform sollte nicht allein in der Aufführung aufgesucht werden, sondern auch in den Prozessen, die zu der Aufführung hinführen und die auf eine Aufführung folgen. Wird dies berücksichtigt, dann lässt sich auch kein scharfer Gegensatz zwischen einer Theaterform und ihrem Kontext behaupten. Über ihren Produktionsprozess ist jede Aufführung in die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen ihrer Zeit eingebunden. Die Rezeptionsweise einer Theateraufführung hängt nicht zuletzt davon ab, wer versammelt ist und wie die Versammlung angeordnet ist bzw. welche Blick- und Wahrnehmungsverhältnisse sie vorgibt. Zu bedenken ist, dass niemand ausschließlich Theater anschaut, sondern alle Zuschauenden auch vieles andere rezipieren, wenn sie gerade nicht im Theater sind. Sie sehen fern, gehen ins Kino, nutzen Streaming-Dienste, hören Radio oder Podcasts etc. Es liegt nahe, dass die Sehgewohnheiten und -präferenzen der Zuschauenden, die sie ins Theater tragen, von all diesen anderen Wahrnehmungspraktiken beeinflusst sind. Der Formwandel der Rezeptionsweisen im Theater muss von daher in Beziehung gesetzt werden zu mediengeschichtlichen Veränderungen unterschiedlichster Art. Zum einen werden die jeweils neuesten Medien, wie schon oft betont wurde, meist recht bald ins Theater integriert - wie derzeit etwa die digitalen Medien, die heute allesamt in Theateraufführungen anzutreffen sind und dort transformierend wirken. Zum anderen wirkt sich der mediengeschichtliche Wandel aber auch dadurch schon auf Theateraufführungen aus, dass er die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauenden prägt, die dann mit verän‐ derten Erwartungen und Neigungen ins theatrale Wahrnehmungsverhältnis eintreten. So hat das Kinder- und Jugendtheater beispielsweise längst erkannt, dass Jugendliche heute kurze, schnell geschnittene Videoclips auf TikTok, Insta‐ gram und anderen Plattformen konsumieren. Nicht zufällig gibt es inzwischen viele Varianten, wie sich eine solche Clip-Ästhetik auch im Theater realisieren lässt. Die Wahrnehmungsverhältnisse einer Aufführung sind im Kontext der Veränderung von Rezeptionsweisen in der Gesellschaft zu verstehen. Führt man sich die angedeuteten Dimensionen von Theaterformen vor Augen, wird sofort klar, dass es eine übergreifende Großtheorie des historischen Formwandels für Theater wohl nicht geben kann. Die Erklärung des Formwan‐ dels würde schnell zu einer Kalkulation mit zu vielen Faktoren: Politische und 256 Matthias Warstat rechtliche Einflüsse, alltägliche Konventionen des Zeigens, die Dynamik der verfügbaren Ressourcen und Materialien, der Wandel der Produktions- und Distributionsverhältnisse und der medialen Einbettung - keine einzelne Theorie könnte alle diese Veränderungsdimensionen im Zusammenhang erklären. Das Vorhaben einer solchen Großtheorie wäre schon deshalb zum Scheitern verur‐ teilt, weil sie sich auf zu vielen involvierten Diskursfeldern bewähren müsste: politische Theorie, ästhetische Theorie, Medientheorie, Gesellschaftstheorie - ein Entwurf, der auf alle diese Felder Bezug nehmen wollte, müsste zwangsläufig naiv oder vermessen klingen. Einem formorientierten Blick zeigt sich Theater‐ geschichte als ein Konglomerat von Formen und Formungsprozessen, das sich nicht in eine einheitliche Verlaufstheorie pressen lässt. Wohl aber können einige Beobachtungen zum Zusammenhang von Aufführung und Formwandel zusammengetragen werden. 5 Formwandel I: Wiederholung Wenn die Aufführung den Kern des Theaterereignisses ausmacht, dann müsste der Formwandel des Theaters als Strukturwandel von Aufführung(en) be‐ schreibbar sein. Wodurch ändern Aufführungen ihre Struktur? Wie gelangen Aufführungen überhaupt zu ihrer Struktur bzw. wie sind sie in ihre spezifische Struktur gekommen? Wenn wir uns Aufführungen als einmalige Ereignisse vorstellen, ist die Hervorbringung von Struktur kaum erklärbar: Einmalige Ereignisse können strenggenommen keine feste Struktur haben, denn Struk‐ turen zeigen und verfestigen sich erst in der Wiederholung. Eine Lösung für das Formproblem von Aufführungen deutet sich aber an, wenn wir davon ausgehen, dass sich die einzelne Aufführung auf ein vorangehendes Modell rückbeziehen kann. Diese Konstellation findet sich regelmäßig und unmittelbar einleuchtend im Bereich von Ritualen. Ein religiöses Initiationsritual wie etwa die Taufe kann als Beispiel dienen: Jede Tauffeier verläuft ein wenig anders, und die meisten Gemeindemitglieder erleben die (eigene) Taufe als Initianden nur ein einziges Mal in ihrem Leben. Gleichwohl besteht, wenn es eine Tauffeier zu organisieren gilt, wenig Zweifel unter den Veranstaltenden, wie ein solches Ereignis abzulaufen hat. Es gibt dafür ein festes Muster, das in der Gemeinde tradiert wird. Die Taufe rekurriert auf eine vorgängige Form, die auf lange Sicht nicht unveränderlich, aber doch recht stabil erscheint. Solche rituellen Elemente gibt es in der Kunst in gewissem Maße auch, wenn auch nicht so allgegenwärtig wie im Bereich der Religion. Es gibt ritualisierte Formen dafür, wie man sich in einem Theaterfoyer bewegt, wie man den Beginn der Aufführung erwartet, wo man sich in der Pause aufhält, wie man Beifall spendet und entgegennimmt: Das Theaterform und Aufführung 257 sind die sozialen Rituale des Theaters. Dass Theateraufführungen mit sozialer Ritualität verbunden sind, versteht sich wie von selbst. Komplizierter erscheint die Frage, ob auch die künstlerische Dimension der Aufführung am Modell des Rituals beschreibbar ist. Kann sich die künstlerische Form einer Theateraufführung durch bloße Wiederholung wie ein Ritual ver‐ festigen? Zweifellos gibt es etablierte Muster, wie eine Verwechslungskomödie beginnt, wie eine Tragödie auf kathartische Effekte zuläuft, wie sich der erste Auftritt eines Helden auf der Bühne gestalten lässt. Solche quasi ritualisierten Lösungen sind auch in performativen Praktiken der Gegenwart zu finden. Christoph Schlingensief hatte eine ganz eigene Art, im Theater nie dagewesene, unbestimmte Situationen herzustellen. Dennoch können wir heute sagen: ‚Dies ist ein Schlingensief-artiges Bühnenbild.‘ ‚Dies ist eine Aktionsanordnung, wie wir sie von Schlingensief her kennen.‘ ‚Diese Art, von der Bühne aus mit Einzelnen im Publikum zu sprechen, erinnert mich an Schlingensief.‘ Solche Aussagen sind möglich, wenn ein: e Künstler: in formprägend wirkte und ein Aufführungskonzept durch häufige Nachahmung (oder Abwandlung) rituali‐ siert wurde. Von da aus lässt sich die These formulieren: Aufführungsformen und mithin auch Theaterformen entstehen durch Ritualisierung. Sie entstehen, indem Anordnungen und Praktiken, die für eine bestimmte Aufführung ent‐ wickelt wurden, an unterschiedlichen Orten und über längere Zeit hinweg wiederholt werden. Dabei ist klar, dass jede Wiederholung mit Abweichungen verbunden ist. Ritualisierung in den Künsten wirft allerdings sofort Fragen auf. Ist es im Umgang mit Kunstwerken und insbesondere mit dem Theater nicht eher unser Interesse, den aus dem Alltag nur zu bekannten Ritualen zu entkommen? Sind Rituale strenggenommen nicht sogar das Ende der Kunst? Wir wünschen uns neue Erfahrungen, einmalige Erlebnisse, nie dagewesene Begegnungen. Diese im Bereich der Künste gerade heute virulente Bedürfnislage, der Vorbehalt gegenüber dem Traditionellen und Konventionellen, steht allerdings nicht nur dem Ritualisierungsgedanken, sondern dem Formbegriff als solchem entgegen. Das anhaltende Hadern der Kunsttheorie mit dem Formbegriff scheint auf einen antitraditionalen, antikonventionellen Impuls der Künste zurückzuführen. Mehr denn je scheint in der Gegenwart Einzigartigkeit bzw. Singularität zu den unstrittigen Anforderungen an die Künste zu zählen, wie Juliane Rebentisch in ihren Überlegungen zum Formbegriff konstatiert: Die entgrenzte Kunst der Gegenwart betont […] die Singularität, als die allein uns Kunst begegnet. Wir haben heute lauter Werke vor uns, die ganz eigene Gattungen begründen, aber doch zugleich nur für dieses jeweilige Werk: Nirgends geht es mehr darum, Prototypen fürs Kunstmachen im Allgemeinen zu generieren. Indem die 258 Matthias Warstat entgrenzten Werke heute nicht nur immer neue Gattungen schaffen, sondern diese zugleich auch in sich aufheben, zeigen sie, dass jedes Werk, um zu gelingen, nicht nur einer Dimension bedarf, die sich als Technik, Konzeption, Verfahren verallgemeinern lässt, sondern ebenso eines Zugs, durch den es, als singuläres, über diese Dimension hinausweist. (Rebentisch 2017: 15 f.) In eben jenem Jahr, in dem Andreas Reckwitz Die Gesellschaft der Singularitäten (2017) ausrief, unterstreicht Juliane Rebentisch hier Singularität als Ideal der Gegenwartskunst. Jedes Werk, jede Aufführung scheint eine ureigene Gattung zu proklamieren. Kein Kunstwerk, das als solches ernstgenommen werden möchte, lässt sich bereitwillig einem bestehenden Genre oder einer etablierten Gattung zuordnen. Wenn die Erfüllung vorhandener Erwartungen und Muster verpönt ist, wird allerdings auch der Formbegriff in Mitleidenschaft gezogen. Formen implizieren ja unweigerlich die Chance zur Konventionalisierung und Traditionalisierung. Wenn es Konvention und Tradition abzuwehren gilt, sollte man dann nicht um Formen jedweder Art einen Bogen machen? Rebentisch sieht indes eine Möglichkeit, den Formbegriff kunsttheoretisch beizubehalten und sogar aufzuwerten. Sie denkt an „jeweils singuläre Formen“ (2017: 18), an Formen also, die es nur einmal gibt und die nicht traditionsstiftend angelegt sind. Ihr Verhältnis zu Tradition, Konvention und Regel ist nicht zukunftsge‐ richtet, sondern als negativer Rückbezug beschreibbar: „Die jeweils singuläre Form gründet nicht einfach in traditionsfreier Zufälligkeit, sondern entsteht gewissermaßen durch die Schule hindurch, als ein Sprung aus der Regel heraus, der als Sprung vor dem Hintergrund der Tradition, der allgemeinen Konventionen lesbar bleibt“ (2017: 18). Die jeweils singuläre Form befindet sich gewissermaßen auf dem Sprung aus der Regel heraus. Ihr Traditionsbezug ist ein negativer - in der Vorwärtsbewegung stößt sie sich von der Tradition ab. Diese Abstoßungsbewegung erklärt auch, warum die Form nur als „in sich bewegte Form“ (2017: 19), als dynamische oder generische Form denkbar ist. In der Form lebt ein „Spannungsverhältnis von Allgemeinem und Besonderem“ (2017: 19) fort. Sie bezieht sich (wenn auch negativ) auf Tradition und Konvention als Allgemeines, will selbst aber als Singuläres verstanden werden. Folgt man Rebentischs Sicht auf die Künste der Gegenwart, dann entsteht der Eindruck, dass die Bildung und der Wandel von Theaterformen durch Wiederholung als schwierige Prozesse zu denken sind. Es gibt offenbar Kräfte, die der Wiederholung von Aufführungen, der Bildung von Aufführungsformen entgegenwirken. Die Tendenz zum singulären Auftritt, zur singulären Auffüh‐ rung steht der Formbildung entgegen oder macht die Form abhängig von einer zweiten, anderen Dynamik, die nicht in Wiederholung aufgeht. Die singuläre Form bedarf eines Aktes der Erfindung, der Einrichtung, der Institutionalisie‐ Theaterform und Aufführung 259 1 Vgl. zu einem betont offenen, dynamisch verstandenen Formbegriff auch Levine, Ca‐ roline (2015). Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton/ Oxford: Princeton University Press. rung. Formbildung und Formwandel wären dann als ein Zusammenspiel von Wiederholung und Institutionalisierung erklärbar. 1 6 Formwandel II: Instituierung Unter dem Blickwinkel der Instituierung erscheint die Form als Setzung. Auch Theaterformen können in diesem Sinne als Institutionen verstanden werden. Es liegt ihnen ein Akt der Instituierung zugrunde. Die Veranstaltung einer Aufführung und zumal die Gestaltung und Aufführung einer Theaterinszenie‐ rung ist ein instituierender Akt. „Noch unter dramatischsten Umständen hören Menschen nicht damit auf, das Leben zu instituieren, seine Grenzen und Ziele, Gegensätze und Möglichkeiten neu zu definieren.“ (Esposito 2022: 10) Menschen, so die elementare Beobachtung von Roberto Esposito, instituieren Neues, und in solchen instituierenden Akten bringen sie nicht zuletzt ihre eigene Subjektivität hervor. Momente von Subjektivierung können wir entsprechend in jeder Theateraufführung beschreiben. Die instituierende Praxis verändert nicht nur das Objekt, das sie einsetzt, sondern auch das Subjekt ihrer eigenen Praxis - also jene Subjekte, welche sie in Kraft treten lassen. Anstatt Subjektivität als etwas Gegebenes zu begreifen, das vor und außerhalb dessen liegt, was sich jeweils neu produziert, sieht das instituierende Denken diese aus ihrer eigenen Praxis entspringen. Vielmehr als auf existierende Subjekte verweist es zurück auf einen ‚Prozess der Subjektivierung‘. Kurz gesagt produziert der instituierende Akt dieselbe Subjektivität, die ihn ausführt. Indem es etwas Neues einsetzt, instituiert das Subjekt auch sich selbst, weil es sich in Bezug auf seine ursprüngliche Seinsweise transformiert. (2022: 45) Mit der Instituierung einer Aufführung, mit dem Akt selbst, hat man noch keine neue Theaterform geschaffen. Man kann strenggenommen überhaupt keine Theaterformen schaffen. Was man produziert und hervorbringt, sind Aufführungen - ob sie dann zu einer neuen Theaterform werden, hängt davon ab, ob sie sich wiederholen, ob sie ritualisiert werden, ob ihre Strukturen von anderen aufgegriffen werden. Die Notwendigkeit der Ritualisierung sorgt dafür, dass Theaterformen nicht einfach instituiert werden können. Ihr ge‐ heimnisvolles Entstehen vollzieht sich im Zusammenspiel von Instituierung und Wiederholung. Diese Feststellung berührt auch die nicht enden wollende Debatte in den Kunstwissenschaften um Autorschaft. Eine Position, die dem 260 Matthias Warstat instituierenden Akt der Formerfindung viel Gewicht gibt, kann leicht in die Gefahr geraten, einer Renaissance der souveränen Autorschaft das Wort zu reden. Ganz gleich ob man den großen Dramatiker oder den Meisterregisseur zum zentralen Schöpfer des Theaters und der Aufführung erklärt - es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich das Narrativ der großen Meister gerade in populären Diskursen fortschreibt. Heute ist es sicher nicht die wissenschaftliche Debatte, die einzelne glorifizierte Persönlichkeiten für maßgeblich in der Form‐ bildung hält. Hingegen ist im gesellschaftlichen Diskurs über die Künste - etwa in kulturjournalistischen Formaten in Presse, Rundfunk und Internet-Medien - weiterhin eine starke Personalisierung wahrnehmbar. Künstlerische Leistungen werden einzelnen Künstler: innen zugeschrieben - seien es Schauspieler: innen, Schriftsteller: innen, Regisseur: innen oder Dirigent: innen -, und die Beschrei‐ bung dieser Leistung liest sich häufig wie die Feier eines instituierenden Aktes, wenn etwa behauptet wird, eine ganz neue Form von politischem Theater, eine gänzlich neue Variante des multilingualen Schreibens oder ein nie dagewesener Gestus des (zeitgemäßen) jugendlichen Liebhabers sei gelungen. Betrachtet man solche Meister-Diskurse unter politischen Gesichtspunkten, dann ist unübersehbar, wie nah die Glorifizierung großer Autor: innen in den Künsten einer Wertschätzung personaler politischer Souveränität kommt. Aber genauso wie politische Souveränität nicht an einzelne Personen ge‐ bunden werden muss, muss auch künstlerische Autorschaft nicht einzelnen Künstler: innen-Persönlichkeiten zugerechnet werden. Bereits das 20. Jahrhun‐ dert kannte vielfältige Varianten von kollektiver Autorschaft - auch und gerade im Theater. Heute sind es die zahllosen Performancekollektive, die Autorschaft entweder als Gruppe reklamieren, also plural auffassen, oder gänzlich negieren. Wenn plurale, diversifizierte, zerstreute Konstellationen von Autorschaft heute nicht nur in Erwägung zu ziehen sind, sondern überall begegnen, dann müssen auch die instituierenden Akte selbst als plural, divers und zerstreut aufgefasst werden. Eine neue Theaterform zu instituieren bzw. eine ältere maßgeblich zu verändern, ist nicht das Werk eines einzelnen Autors, Meisters oder Impuls‐ gebers. Eine individuelle Zuschreibung erübrigt sich schon deshalb, weil sich die (veränderte) Form ohne Wiederholung durch andere nicht ritualisieren und entsprechend auch nicht etablieren wird. Aber schon mit Blick auf die Instituierung selbst, d.h. noch bevor es zu einer Wiederholung kommen kann, sind Pluralität, Multipolarität und Zerstreuung zu konstatieren. Die Betonung von Zerstreuung gehört zu einem realistischen Bild des instituierenden Aktes in den Künsten. An den verschiedenen Dimensionen von Theaterformen lässt sich das durch‐ deklinieren. Versammlungsstrukturen verändern sich in der Regel nicht deshalb, Theaterform und Aufführung 261 weil ein Einzelner neue Arten von Versammlungen einberuft. Im 20. Jahrhun‐ dert war vielmehr der mediale Wandel ausschlaggebend für die Expansion von Versammlungen im Freien und in gebauten Hallen - man denke an die Einführung der Saalmikrofonie oder an die in der zweiten Jahrhunderthälfte sich entwickelnden Techniken, ein entferntes Bühnengeschehen über Großbildlein‐ wände auch für das Publikum in den hinteren Reihen sichtbar zu machen. Wenn gestische Prinzipien sich ändern, können Veränderungen markant an einzelnen Schauspieler: innen studiert werden: Möglichkeiten, eine bestimmte Konfigura‐ tion von Identitäten anzuzeigen; neue Verfahren, eine Liebeserklärung gestisch zu begleiten; unzählige Varianten, sich die Haare aus der Stirn zu streichen - solche kleinen Neuschöpfungen können, wie es in den großen Zeiten des Hollywoodkinos üblich war, mit einzelnen Schauspieler: innen in Verbindung gebracht werden, aber selbst wenn das möglich ist, erscheint es wahrscheinlich, dass die neuen Gesten im Alltag, auf der Straße, in sozialen Medien entstehen und bewusst oder unbewusst von dort in die schauspielerische Figuration übernommen werden. Die Materialität der Aufführung ändert sich, wenn Einzelne, zum Beispiel eine Bühnenbildnerin oder ein Requisiteur, neue Objekte und Materialien auf die Bühne bringen. Aber im Hintergrund solcher Entscheidungen wirkt sich der langfristige gesellschaftliche Wandel von Ressourcen und Materialitäten aus. Dass heute beispielsweise mehr als früher auf die Nachhaltigkeit und Wiederverwendbarkeit von Bühnenausstattungen geachtet wird, ist nicht ein‐ zelnen Künstler: innen bzw. Produzent: innen zu verdanken, sondern ergibt sich aus dem gesteigerten Bewusstsein für einen schonenden Umgang mit Ressourcen. Um den Wandel der Produktionsverhältnisse an Theatern gibt einen jahrzehntelangen Kampf, der in den letzten Jahrzehnten auch von neuen gewerkschaftsähnlichen Verbänden wie etwa dem ensemble-netzwerk geführt wird. Kollektive wie SheShePop, Gob Squad oder Rimini Protokoll haben sich über nun zwei bis drei Jahrzehnte mit ihren Arbeitsweisen und Produktionsbe‐ dingungen auseinandergesetzt. Man kann nicht sagen, dass die Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse von den Entscheidungen einzelner Beteiligter unabhängig wäre, aber noch weniger sind sie ablösbar vom strukturellen Wandel der Produktionsbedingungen einer Gesellschaft. Und wer bestimmt über den Formwandel der Rezeptionsweisen? Mit Sicherheit keine einzelne Person, die als Autor: in zu bezeichnen wäre. Wenn neue Rezeptionsweisen, neue Wahrnehmungskonventionen instituiert werden, könnte das auf neue me‐ diale Möglichkeiten, aber auch auf neue gesellschaftliche Erfahrungshorizonte zurückgehen. 262 Matthias Warstat 7 Resümee Im Wechselspiel von Instituierung und Wiederholung werden Theaterformen generiert und verändert. Die bestimmenden Faktoren dieses Wechselspiels sollten nicht schematisch behauptet, sondern müssen in konkreten theaterhis‐ torischen Konstellationen beschrieben werden. Festzuhalten bleibt aber: Die Verfestigung von Theaterformen ist als Prozess - wie so vieles im Theater - letztlich nur an Aufführungen zu beobachten. Dabei kommt das Entstehen von Theaterformen vor allem dann in den Blick, wenn man sich nicht allein für das Ereignishafte, Einmalige, Unwiederholbare, sondern gerade auch für die Wiederholungsmechanismen von Aufführungen interessiert. Erst in der Wiederholung können sich Muster herausbilden, werden bleibende Gesten entwickelt oder neue Raumformen etabliert. Eine Theaterform wie die Wut‐ rede setzt sich durch, wenn Regisseur: innen an verschiedenen Orten und im Zusammenhang ganz unterschiedlicher Produktionen immer wieder auf sie zurückgreifen. Eine solche prozessuale Verfestigung von Form durch Wieder‐ holung ist auch innerhalb einzelner Produktionen zu beobachten - sei es auf der Probe oder in einem Zyklus von Aufführungen, wenn ein: e Schauspieler: in beispielsweise eine einmal gefundene Geste konsequent beibehält und in jeder neuerlichen Aufführung in gleicher Weise zu gestalten versucht. So ist das (im theaterwissenschaftlichen Theoriediskurs manchmal vernachlässigte) Re‐ petitive in der Aufführung wohl der entscheidende Formgenerator des Theaters. Andererseits zeugte es von einem zu großen Vertrauen in die repetitiven Mechanismen des Performativen, wenn man die instituierende Kraft einzelner Akte für die Herausbildung neuer Theaterformen unterschätzen würde. Die Rhythmen des Theaters sind in diesem Sinne wirklich andere als die des Rituals: Formbildung und Formwandel geschehen im Theater nicht immer langfristig, allmählich und in den ruhigen Bahnen tradierter Ritualität, sondern sprunghaft, erratisch, überraschend - eben abhängig von der instituierenden Energie von Akteur: innen, die - ob einzeln oder im Kollektiv - eine neue Form entwickeln und ins Werk setzen. Solche instituierenden Akte versprechen das Neue, das Zukünftige, machen neugierig auf Veränderung und tragen somit wesentlich dazu bei, dass Theater und Ritual trotz aller Ähnlichkeiten in ihrer performa‐ tiven Konstitution eben doch von gegensätzlichen Motivationen, Impulsen und Wünschen angetrieben scheinen. Wenn in diesem Beitrag vorgeschlagen wurde, über Theaterformen vom Aufführungsbegriff ausgehend nachzudenken, soll das keine Beschränkung des Formbegriffs auf das Hier und Jetzt der einzelnen Aufführung nahelegen. Viel‐ mehr gilt es zu unterstreichen, dass von der Aufführung aus ganz verschiedene Theaterform und Aufführung 263 Dimensionen von Theater beleuchtet werden können. Die Aufführung ist nicht nur der Ort, wo Produktion und Rezeption zusammenkommen, sondern auch Knotenpunkt für Infrastrukturen, Distribution und organisatorisch-technische Netzwerke des Theaters, außerdem Projektionsfläche für verschiedenste gesell‐ schaftliche Ansprüche und Zumutungen, die das Theater auf sich zieht. Was in Aufführungen neu entwickelt wird und sich zu wiederholen beginnt, kann in allen Dimensionen und Registern des Theaters Folgen zeitigen. Gerade deshalb bleibt das Verhältnis von Aufführungen und Theaterformen ambivalent. Selbst ihre zeitliche Konstellierung ist uneindeutig: Einerseits gehen Theaterformen den einzelnen Inszenierungen und Aufführungen voraus. Sie bilden starke Bezugspunkte und Orientierungen für die Proben- und Aufführungspraxis, selbst oder gerade dann, wenn diese auf eine Überwindung tradierter Formen abzielt. Andererseits sind Aufführungen die einzigen Orte, wo man neue Theaterformen im Entstehen beobachten kann. Nicht zufällig kennt die Thea‐ terwissenschaft vor allem eine originäre Methode der Formbeschreibung: die Aufführungsanalyse. Literatur Boal, Augusto (1989). Theater der Unterdrückten: Übungen für Schauspieler und Nicht- Schauspieler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1998). Die Maßnahme. Zwei Fassungen. Anmerkungen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1993). Die Straßenszene: Grundmodell einer Szene des epischen Theaters [1939]. In: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA). Band-22: Schriften 2, Teil 1. bearbeitet von Werner Hecht u.a. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 370-381. Brecht, Bertolt (1992). Zur Theorie des Lehrstücks [1937/ 38]. In: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA). Band 21.1: Schriften 1, bearbeitet von Werner Hecht. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 351, Ziff. 13-19. Esposito, Roberto (2022). Institution und Biopolitik. Zürich/ Berlin: Diaphanes. Fischer-Lichte, Erika (2004). Einleitung: Theatralität als kulturelles Modell. In: Dies. et al. (Hrsg.). Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Tübingen/ Basel: A. Francke, 7-26. Levine, Caroline (2015). Forms: Whole, Rhythm, Hierarchy, Network. Princeton/ Oxford: Princeton University Press. 264 Matthias Warstat Maar, Kirsten/ Ruda, Frank/ Völker, Jan (2017). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Generische Formen: Dynamische Konstellationen zwischen den Künsten. Paderborn: Wilhelm Fink, 7-8. Rebentisch, Juliane (2017). Singularität, Gattung, Form. In: Maar, Kirsten/ Ruda, Frank/ Völker, Jan (Hrsg.) (2017), 9-23. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die Maßnahme / Bertolt Brecht, 1930, Deutschland / Berlin, Fotografie: unbe‐ kannt. (c) Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv, Theaterdokumenta‐ tion 2141/ 004 Theaterform und Aufführung 265 5. Neue Medialität(en) 1 Der Haupttitel dieses Aufsatzes wandelt einen Titel von Sonja Eisl (2007) ab. Wegen thematischer Nähe nutzt der Text einige Passagen der nur elektronisch erschienenen ausführlichen Argumentation „Zur Resistenz von Theater im Medienzeitalter“ (Kotte 2022). Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? Reminiszenzen an die Dekade um das Millennium Andreas Kotte 1 Im Rausch des Audiovisuellen Was der Filmeinsatz für das Theater der 1920er Jahre bedeutete, übertraf der Videoeinsatz im deutschsprachigen Regietheater der 1990er Jahre bei weitem. 1 Die exzessive Anwendung von audiovisuellen und neuen Medien in Perfor‐ mances wie im Theater erreichte in den 2000er Jahren ihren Höhepunkt. Dass wir heute eine geläuterte und pragmatischere Theaterpraxis erleben, mag einige Erinnerungen an die Dekade ab Mitte der neunziger Jahre rechtfertigen. Medial trendsetzend waren damals - unter anderen - die Inszenierungen von Frank Castorf und Christoph Schlingensief. Wenn Castorf 2002 in Meister und Margarita immer wieder Innenräume mittels Video zu Außenräumen umformte, wenn 2004 in Kunst und Gemüse, A. Hipler Schlingensief Frau Angela Jansen, die seit dem 6. Dezember 1998 vollständig bewegungsunfähig im Bett lag, weil sie an ALS leidet, in der Volksbühne vorführen ließ, wie sie, gestützt durch ein Computerprogramm, mit ihren Augen den Computer animierte und über eine Laserkamera Texte schrieb, die die Zuschauenden lesen konnten, wenn etwas später Katie Mitchell in ihrer Inszenierung von Wunschkonzert die privaten Verrichtungen im Leben des einsamen Fräulein Rasch, die in einer engen, kaum einsehbaren Küche stattfanden, durch Helfer im Vordergrund einzeln wiederholen ließ, Ton hinzufügte und medial vergrößert im Live-Film abbildete - dann prägte Medienverwendung Theater. Postdramatisches Theater ohne Handkameras und Mikroports schien unmöglich. Wissenschaftlich versuchte man, das Switchen zwischen Theater und audiovisuellen Medien mit dem Begriff Intermedialität zu bannen, der auch Theater zum Medium machte, in erster Linie zum technisch-apparativen Medium, dessen Form der Vermittlung zugleich ein Inhalt ist. Die Grenzüberschreitungen waren jedenfalls dringend zu erforschen. Diese mediale Welle folgte auf Umbrüche im Theaterwesen und in der For‐ schung. Sie betrafen Budgetkürzungen und Zusammenlegungen von Theatern oder z.B. die Schließung des Berliner Schiller Theaters. Nach 1992 „mussten insgesamt 18 Theater in Deutschland schließen oder fusionieren“ (Ostermeier 2013). Theater wurden verstärkt nach Besucherzahlen bewertet. Preis, Speiche‐ rung und Mehrfachverwertung des Medialen wurden ihnen als leuchtendes Vorbild präsentiert. Künstlerintendant: innen ersetzte man am liebsten durch Managerintendant: innen. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft fielen Theaterwissenschaftsprofessuren an boomende Medienwissenschaften. Die Theaterwissenschaft in Leipzig wurde sächsisch-ministerial in Frage gestellt. Das weltweit erste theaterwissenschaftliche Universitätsinstitut in Berlin-Mitte, an dem ich studiert hatte, wurde aufgehoben, obwohl die Stadt durchaus zwei theaterwissenschaftliche Institute vertragen hätte. Was um das Millennium herum geschah, beklagten die einen als Vereinigungsschäden und die anderen apostrophierten es als notwendige Korrekturen, wobei die beiden Gruppen nicht nach den Himmelsrichtungen Ost und West unterschieden werden konnten. Medienwissenschaftler: innen befassten sich plötzlich mit Theater. Derrick de Kerckhove war 2001 bereit, heutige Begrifflichkeiten gnadenlos auf Zeiten vor Jesus Christus zu übertragen. Theater, durch die Schrift entstanden und so zum Medium geworden, besäße in der Gegenwart nur noch „zwei Bühnen“, nämlich „die Computerbildschirme und den gesamten Globus“ (de Kerckhove 2001: 521). Ein Beispiel für das globale Theater sei der Tod von Prinzessin Diana. „Alle Nationen weinten, sogar die Chinesen. Diana vereinte den Globus“ (2001: 522). Die Theatermetapher galt ihm als Analysemethode: „Eine andere Form globalen Theaters ist der Krieg. Kriege spielen sich heutzutage auf unseren Bildschirmen ab. Kosovo war ein globales Theater, eine globale Inszenierung“ (2001: 522). Der Kosovokrieg war uns damals so nahe wie jener in der Ukraine heute. Diesen bezeichnet kaum jemand mehr als Theater. Die Begriffsbildung scheint inzwischen sensibler betrieben zu werden. Nach dem Medienwissenschaftler Werner Faulstich waren in der archaischen Periode die „wichtigsten Medien der Zeit […] die Frau und das Opferritual“ und Theater war nicht nur für ihn ein „Menschmedium“ (2002: 23, 199). In seinem Buch Grundwissen Medien erschien Theater als das vierzehnte von siebzehn „Einzelmedien“, gleich nach Plakat, Schallplatte und Telefon (Uka 1994: 327). Studierende der Medienwissenschaften lösten mit solchen Ansichten in thea‐ 270 Andreas Kotte terwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen anregende Diskussionen aus. Die Theaterwissenschaft wurde von Faulstich unter sein medienwissenschaftliches Dachkonzept subsumiert, „auch wenn sich mancher Bibliothekswissenschaftler und manche Theaterwissenschaftlerin partout [noch] nicht der Medienwis‐ senschaft zugehörig fühlen wollen“ (Faulstich 2002: 54 f.). Bei diesem Satz musste ich stets an die Danone-Fruchtjoghurt-Werbung von 2002 denken: „Irgendwann kriegen wir euch alle! “ Dazu kam es zwar nicht, aber begeisterte Anhänger: innen in der Theaterwissenschaft fanden sich dennoch. Ich habe diese Zeit als problematisch empfunden, ganz im Gegensatz zum heute entspannten Verhältnis unserer Schwesterwissenschaften. 2 Die Aufführung des Performativen Eine meiner nachhaltigsten Performance-Erfahrungen machte ich Ende Juni 1997 an der Universidad de las Américas in Puebla, Mexiko, bei der Eröffnung des IFTR-Kongresses. Erika Fischer-Lichte, Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für theaterwissenschaftliche Forschung, hielt die Eröffnungsrede. Sie sprach nicht, wie erwartet, englisch, sondern spanisch. Der Saal mit mehr als dreihundert Theaterwissenschaftler: innen aus aller Welt nahm das für eine kurze Begrüßung als freundliche Geste hin, schließlich wusste man um das gespannte Verhältnis der Gastgebenden zum Englischen. Aber während die Mexikaner: innen mehr und mehr dahinschmolzen - sie wurden ernst genommen, einbezogen, ihnen wurde u.a. die Einrichtung der deutschen Thea‐ terwissenschaft durch Max Herrmann an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Oktober 1923 auf Spanisch erläutert, samt deren Folgen - schien man lautes Denken und leises Flüstern im Saal zu vernehmen und die Englisch- und Französisch-Enthusiasten rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Natürlich kam der Vortrag auch ein wenig selbstreferentiell daher. Aber wirklichkeitskonstituierend war er allemal: Jegliches Eis war gebrochen, man bemühte sich, den Gästen Wünsche von den Lippen abzulesen, der denkbar harmonischste Kongress folgte. Als ich Erika nachher fragte, ob auch Spanisch zu ihrem natürlichen Sprachenreservoir gehöre, war die Antwort, das hätte sie vorbereiten müssen. Doch die Durchdringung von Integrationsstreben, Fachgeschichte und Fachpolitik zur richtigen Zeit am richtigen Ort hatte sich gelohnt. In diesen intermedialen Jahren reicherte sich in Vorträgen und Artikeln das Substrat für die Ästhetik des Performativen immer mehr an, erschienen im Juni 2004, die, extrem komprimiert, auch das Lemma Aufführung im Metzler Lexikon Theatertheorie vom Oktober 2005 prägte. Der komplexe Aufführungsbegriff ver‐ Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 271 sammelte aus historischer Verdichtung gewonnene Kriterien der Einschätzung von Theater. Im „Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern“, verbunden im „soziale[n] Spiel“ (Max Herrmann), werden Zuschauer „als Mitspieler begriffen“, die die Aufführung „mithervorbringen“ (Fischer-Lichte 2005: 16). Warum dies „Medialität“ heißen sollte - womit allgemeine medientheoretische Grundlagen übernommen werden mussten, statt induktiv vom Spiel auszugehen -, blieb mir damals verschlossen. Das lag wahrscheinlich daran, dass in Bern seit einigen Jahren die Fachschule für Medialität eine Grundausbildung für „außer‐ sinnliche Wahrnehmungen, Geistiges Heilen und paranormale Erfahrungen“ anbot (Fachschule für Medialität 2022). Der treffsicheren Zusammenfassung der Grundlagen von Aufführung tat aber der Name keinen Abbruch. Insbesondere deshalb, weil die anderen drei Kriterien, die performative Materialität, die bedeutungserzeugende Semiotizität und die ereignishafte Ästhetizität sich aus der Vorannahme logisch ergaben. Leibliche Ko-Präsenz, so hieß der Stachel im Fleisch der Dekade. Der darauf basierende Aufführungsbegriff wurde den anderen Kunstwissenschaften dringend zur Übernahme empfohlen. Denn in deren Zentrum stand noch immer der Werkbegriff. Es gilt, das Werk in seinem Gemacht-Sein zu analysieren und zu verstehen. Wenn die Künste jedoch nicht mehr Werke, sondern A[ufführungen], und d.h. Ereignisse, hervorbringen, wie es nicht nur Theater, Musik, Performance- Kunst tun, sondern seit den sechziger Jahren des 20. J[ahrhunderts] auch die anderen Künste, dann greifen weder eine Werkästhetik noch auf sie bezogene Produktions- und Rezeptionsästhetiken. Ins Zentrum der Kunstwissenschaften muss vielmehr der Ereignisbegriff treten. (Fischer-Lichte 2005: 23) Alle Kunstwissenschaften brauchten daher neue Ästhetiken und Methoden „der Aufführungsanalyse als Ereignisanalyse“. Das waren fachpolitisch mutige Sätze. Ein spezielles Problem stellen medialisierte A[ufführungen] dar. Denn auch wenn Film, Fernsehen und Videoaufzeichnungen bzw. Übertragungen bisweilen ähnliche Effekte hervorbringen können wie Live- A[ufführungen], so geschieht dies doch mit gänzlich anderen Mitteln, nämlich nicht in leiblicher Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern und ohne die Möglichkeit der direkten Interaktion und Intervention, über die der Zuschauer vor Ort verfügt. Aus diesem Grund erscheint es nicht sinnvoll, Medialisierungen von A[ufführungen] unter den Aufführungsbegriff zu fassen. (Fischer-Lichte 2005: 23) Hier wurde medialisiert synonym zu mediatisiert verstanden. Sicher freuten sich weder Derrick de Kerckhove noch Werner Faulstich über die heilsame Rigorosität der Aussagen zur Aufführung. Prinzessin Dianas Tod konnte medial 272 Andreas Kotte 2 Max Herrmann war es bewusst, dass historische Aufführungen in ihrem Kern den Analysierenden nicht verfügbar sind und deshalb durch unterschiedlichste Materialien die eigentlichen Untersuchungsgegenstände erst konstituiert werden müssen. (Man denke an den erbitterten Streit von 1920 bis 1924 zwischen Max Herrmann und Albert Köster über die Rekonstruktion der Nürnberger Hans-Sachs-Bühne.) Er nutzte in den Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance die „genetische Methode“ Ernst Bernheims, wonach die historische Aufführung durch systematisierte „Arbeitsschritte in der Phantasie der Forschenden und schließlich in einer Darstellungsform von Wissenschaft“ erst zu konkretisieren war, ehe sie diskutier- und historisierbar wurde (Hulfeld 2007: 235 f., 261-264, 279 f.). durchaus den Globus vereinen, wenn selbst die Chinesen weinten, aber das hatte mit einer Bühne oder Aufführung nun nichts mehr zu tun. Kriege schon gar nicht. Auch mussten Bibliothekswissenschaftler: innen und Theaterwissen‐ schaftler: innen nicht mehr zu Medienwissenschaftler: innen mutieren. Ob man als Begrifflichkeit nun „Aufführung“ nach Herrmann oder „szenische Vorgänge“ nach Brecht bevorzugte, war unbedeutend gegenüber den Kriterien Spiel, Ko- Präsenz, Interaktion und Flüchtigkeit, die damit zusammengefasst wurden (Kotte 2005: 15-61). Die Analyse von Aufführungen warf ganz andere Probleme auf als die Analyse von Texten, Bildern oder anderen Arte‐ fakten. Da A[ufführungen] sich in ihrem Vollzug erschöpfen, also nicht fixier- und überlieferbar sind, lassen sich nur A[ufführungen] analysieren, an denen der Analy‐ sierende selbst teilgenommen hat. Anders als Texte und Bilder sind A[ufführungen] der Vergangenheit einer Analyse nicht zugänglich. (Fischer-Lichte 2005: 23) Buchstabengetreu ausgelegt verbot diese Formulierung einerseits der Theater‐ historiographie, ältere Aufführungen zu analysieren, andererseits der Auffüh‐ rungsanalyse, mediatisierte Aufführungen einzubeziehen. Das verstörte in der Dekade der Medienhypertrophie erheblich. Doch verhinderte die eindeutige Bestimmung von Aufführungsanalyse keineswegs, Texte, bewegte Bilder und vergangene Aufführungen zu untersuchen, nur eben mit anderen Mitteln als selbst erlebte Aufführungen und in dem Bewusstsein, vor allem dokumentierend vorzugehen. Die Verwendung von Videos als Hilfsmittel der Aufführungsana‐ lyse war partout nicht ausgeschlossen. Und selbst wenn die Rekonstruktion von historischen Aufführungen unmöglich schien, konnte sich gute Dokumen‐ tation, gepaart mit dem Glück ausreichender Materiallage und intelligenter Perspektivierungen, ihr weiterhin zumindest annähern. 2 Durch begriffliche Klarheit sollte letztlich verhindert werden, dass der überwundene Werkbegriff sich gegen den Ereignisbegriff erneut durchsetzen konnte. Wer das mittrug, hielt die Flüchtigkeit des Ereignisses aus und hatte verstanden, warum es eine vom Medienhype unabhängige Theaterwissenschaft brauchte. Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 273 3 Das Medium Theater Wird Aufführung so definiert, wie gerade dargestellt, dann ist es nicht sinnvoll, Theater ein Medium zu nennen, weil sonst die Gefahr besteht, dass man das, was man mit den Händen aufgebaut hat, mit anderen Körperteilen wieder einreißt. Denn der Medienbegriff gleich welcher Couleur, ob technisch eingeschränkt oder mit McLuhan entgrenzt, mag vielleicht Interaktion und Intervention zulassen, wird sich aber nie mit Ko-Präsenz und der Flüchtigkeit des Ereignisses zufriedengeben. Im Gegenteil, auf Kontrolle ausgerichtet, wird er stets nach Speicherung verlangen. Das gilt für das technische Medium Überseekabel wie für das nur scheinbar flüchtige Medium Sprache. Mit Theater als vierzehntem von siebzehn vor allem audiovisuellen „Einzelmedien“ würden die zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten zwischen Aufführungen und Medien so über‐ betont, dass die Unterschiede unter den Tisch fielen. Und tatsächlich ist ja Hegels erste Habilitationsthese - „Der Widerspruch ist die Regel für das Wahre, der Nichtwiderspruch für das falsche“ (Hegel 1986: 533) - durchaus umstritten. Wer Widersprüche und Unterschiede zwischen Theater und Medien erkenntnistheoretisch abwertet, wird selbstverständlich auch die Aufführung für ein Medium halten. Oder ist sie etwa eines, weil sie zwischen Agierenden und Zuschauenden vermittelt? Auf den Abstraktionsgrad der Begriffsverwendung kommt es an. Jedenfalls ist der Widerspruch nie die Wahrheit selbst, aber er führt zu ihr. Denn ein Gegenstand ist nie nur eines, sondern mehreres. Meist wird nur durch einen Begriff auf ihn hingewiesen, aber er ist dadurch noch lange nicht eineindeutig oder ausschließlich fixiert: Das ist ein Haus. Das ist ein Gebäude. Es ist eine Behausung. Es ist eine Schutzhütte. Es ist ein Blockhaus. So können die Bezeichnungen für denselben Gegenstand variieren und allen Bezeichnungen kommt ein wenig Wahrheit zu. Bezeichnet werden jeweilige Aspekte des Gegenstandes. Betrachtet man nun Theater als ein Medium, erkennt man den medialen Aspekt von Theater. Und sieht man audiovisuelle Medien als Theater an, begreift man einen Theateraspekt dieser Medien, beispielsweise den dramaturgischen. Solche Überlegungen gingen mir durch den Kopf, als sich die deutschspra‐ chige Gesellschaft für Theaterwissenschaft entschloss, sich über ihren Umgang mit „Theater und Medien“ zu vergewissern. Den Kongress unter diesem Titel richtete sie im Jahre 2006 in Erlangen aus. Das Institut für Theater- und Medi‐ enwissenschaft erschien als idealer Tagungsort, weil dort eine Abstimmung von Lehre und Forschung in beiden Fachdisziplinen stattfand, die Erkenntnis‐ gewinn versprach. Zwar handelte es sich um eine „kleine“ Theaterwissenschaft mit wenigen Studierenden und eine „große“ Medienwissenschaft mit vielen 274 Andreas Kotte Studierenden, doch solche Gewichte wurden erst später in der Publikation der Ergebnisse sichtbar, in deren Einleitung die Herausgeber von „Theater und (anderen) Medien“ sprachen. Sie trafen damit allerdings den Grundtenor des Kongressverlaufes (Schoenmakers et al. 2008: 13 f.) Die Frage, ob Theater ein Medium sei oder nicht war für mich eigentlich nicht die zentrale, obwohl ich nie einen anderen Theaterbegriff als den der leiblichen Ko-Präsenz und Lessings Transitorik aus dem Laokoon vertreten hatte, sondern mich störte vor allem die implizite und unhinterfragte Unterwerfung der Theaterformen unter ein Fortschrittskonzept, sobald ein Medienbegriff auf Theater übertragen wurde. Nach meiner Überzeugung war stets die Technik in ihrem Expansionszwang das Maß der Medien, das Maß von Theater aber der Mensch in seiner körperlichen Beschränktheit (Kotte 2005: 270). Die mediale Technik unterliegt unwiderruflich einer Entwicklung vom Niederen zum Hö‐ heren. Folgt daraus, Theater ist eine vom Leitmedienwechsel längst abgehängte, randständige Erscheinung? Oder darf es fortschrittsfrei bleiben, wandelt sich nur in seinen Formen? Was Entwicklung beim sozialen Spiel in Aufführungen und Theater bedeutet - und ob da überhaupt etwas vom Niederen zum Höheren fortschreitet -, kann jedenfalls nur im Einzelfall erforscht werden. Das musste im Einführungsvortrag erörtert werden, aus dem nun historisierend zitiert wird, um indirekt die letzten sechzehn Jahre der technischen Expansion mit einzuschließen. Befand sich das Kunstwerk Drama schon seit Gutenberg im Zeitalter seiner techni‐ schen Reproduzierbarkeit, so entstand durch das Aufkommen der Fotografie, des Films, des Fernsehens, des Videobandes, der DVD und des Internets doch eine bis anhin ungekannte Dynamik, die den Globus auf Weltdorfgröße schrumpfen ließ. Die meisten Filme und Serien werden für das ganze Dorf produziert. Deshalb darf im Mainstream auch nichts vorkommen, was vielleicht den Absatz auf den Malediven oder in Nepal schmälern könnte. Eine breite Akzeptanz gilt als Wert bei der Identitätsfindung der audiovisuellen Medien. Telenovelas gibt es nun auch fürs Handy, jene im Fernsehen sind dafür aber viel zu kompliziert, zu differenziert, die Geschichten werden entschlackt und die Konturen für den kleinen Bildschirm geschärft. Bollywood erreicht mehr als 3 Mrd. Menschen, Hollywood bleibt zurück (Follath 2006: 130). - Es ist atemberaubend, der Digitalisierung zuzuschauen. Wie lange ist es her, da konnte eine Festplatte grandiose 25 MB aufnehmen? Dann, als 1987 der Begriff Internet entsteht, sind sage und schreibe schon 27’000 Computer vernetzt, heute sprechen wir von einer Milliarde (Mingels 2005: 18). Es gibt einen medialen Fortschritt, und für Medien ist er das Nonplusultra. (Kotte 2008: 32) Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 275 Nach einem reichlichen Jahr amerikanischer Intervention in Afghanistan wurde im Nationaltheater in Kabul, das von den Taliban zerbombt worden war, wieder gespielt, wovon die Schweizer Tagesschau am 8. Januar 2002 in ihrer Hauptaus‐ gabe berichtete. Ich erinnere mich noch heute an diesen Filmbeitrag. Eine Ruine ohne Dach, sogar ohne Bühnenbretter. Zwischen den verbliebenen Eisenträgern der Drehbühne balancierten Darsteller, und zwar nicht in Kostümen, sondern in ihrer Alltagskleidung, mit Fackeln in den Händen. Gespielt wurde eine sehr alte Geschichte, ursprünglich ein Epos, gezeigt vor Männern und Frauen, vor Frauen ohne Burka. Solche Momente legen den Kern dessen bloß, was Theater ist, woher es kommt und was es vermag. Sie bestätigen eine - m. E. geniale - Theaterdefinition aus meiner Sammlung von achtundfünfzig Stück: „Das Theater ist die thätige Reflexion der Menschen über sich selbst“ (Novalis 1999: 836). Die Entwicklungen sind das Marginale, die das Bleibende bestätigen. Aus heutiger Vogelperspektive hätte sich das Problem von Theater und Medien auf dem Kongress 2006 leicht lösen lassen, indem jede Person voraus‐ geschickt hätte, ob sie einem engeren technischen Medienbegriff zuneigt oder einen ausgedehnten wie den McLuhan’schen bevorzugt. Aber das passte nicht in die damals hitzige Diskussion. Angeregt durch das apodiktische Statement einer Medienwissenschaftlerin - „Theater ist ein Medium“ (Leeker 1996: 99) - und den gegenteiligen Titel der Fachzeitschrift Theater heute - „Theater ist kein Medium“ (4/ 2004) - stellte die Gesellschaft für diesen Kongress die Preisfrage: „Inwiefern ist Theater (k)ein Medium? “ Von den vierzehn Essays zur Preisfrage votierten drei für „kein Medium“, sieben für „ein Medium“ und vier blieben indifferent (Kotte 2008: 40). Von 51 Teilnehmenden aus der Theater- und Medienwissenschaft, deren Vorträge im Sammelband nach dem Kongress veröffentlicht wurden, neigten fünf zu der Ansicht, Theater sei kein Medium, vierzehn verstanden Theater ausdrücklich als ein Medium und 32 untersuchten spezielle Gegenstände und Austauschprozesse, ohne eine Entscheidung als notwendig zu erachten. In der abschließenden Podiumsdiskussion mit je drei Theater- und Medienwissenschaftler: innen votierten fünf von sechs Teilnehm‐ enden für Theater als ein Medium (Schoenmakers et al. 2008: 545-560). Diese Ansicht prägte die Tagung. Das Allgemeinverständnis - fragt man Laien auf der Straße - unterscheidet (und unterschied schon damals) zwischen Theater und audiovisuellen Medien, weil niemand am Abend ins Medium geht, sondern ins Theater. Insofern neigen Laien spontan eher zu einem technischen Medienverständnis, das zwischen Theater auf der einen Seite und Film, Fernsehen Hörfunk sowie den neuen Medien einschließlich des Internets auf der anderen Seite differenziert. Selbst die Medienwissenschaft kannte 2006 eine Reihe von grundlegenden Veröffent‐ 276 Andreas Kotte lichungen über Medientheorie oder Mediengeschichte, in denen „das Theater völlig fehlt[e]“ (Schoenmakers et al. 2008: 14). Somit herrschte in Theater- und Medienwissenschaft eigentlich eine spiegelbildliche Situation. Dass die angereisten Forschenden eher an Medienbegriffen unter Einschluss von Theater interessiert waren, die auf der Straße gemeinhin nicht diskutiert werden, hatte vor allem zwei gute Gründe: die schon angedeutete überbordende Medienprä‐ senz in der Performancekunst wie im postdramatischen Theater der beiden das Jahr 2000 rahmenden Dekaden und der damit verbundene enorme Aufschwung von Untersuchungen zur Intermedialität. Während die Theaterkritik kurzfristig über Wandlungen im Theater reflektierte, von der unmittelbaren Nachtkritik bis zur Spielzeitzusammenschau, versuchte die Theatertheorie, längerfristige Entfaltungsprozesse und Veränderungen zu erfassen und zu erklären. Es war also unumgänglich, die exorbitante Medienpräsenz zu fokussieren. Gegenüber der Aussage „Es handelt sich um Theater, das Medien einbezieht“ ist das Wort „Medienwechsel“ schlicht knapper. Vor allem der boomenden Intermedialitäts‐ forschung wohnte der Zwang inne, im jeweils Verglichenen Medien zu sehen. Wenn ein Medienwissenschaftler festlegte, Intermedialität setze nicht Medien voraus, sondern erzeuge sie erst, denn per definitionem sei ein Medium, „was mit anderen Medien in Beziehung gesetzt wird“ (Ruchatz 2008: 115), wer könnte dann behaupten, Theater sei kein Medium? Wer Medien mit Marshall McLuhan als „Ausweitungen des Menschen“ verstand und seinem Buch Understanding Media folgte, musste Theater - obwohl es darin nicht vorkommt - als ein Medium ansehen (McLuhan 2003). Und wenn Theater mit Terenz’ Prologen über seine Grundsituation reflektiert, wird es sich seiner Vermittlerposition bewusst und ist als Mittleres ein Medium. Auch wenn Gedächtnis, Sprache, Schrift und Körper in einem Zusammenhang einmal als Medien angesehen werden, warum soll nicht auf solcher Abstraktionsstufe Theater ein Medium sein? Oder wenn man Theater als einen Ort der Vermittlung oder als Kanal auffasst, wie könnte es dann nicht Medium sein? Überhaupt gibt es auch mit den besonders theaternahen AV-Medien wie Film, Fernsehen und Hörfunk zahlreiche Ähnlich‐ keiten wie Agierende und Wahrnehmende, eine dramaturgische Grundanlage, Skripts und Fiktives. Es gibt gemeinsame Funktionen wie Unterhaltungs- und Bildungsaufgaben und vieles mehr. Selbst beim Internet oder Videospiel bietet sich zum Beispiel das Kriterium Interaktion als eine Affinität an, die zum Vergleich herausfordert. Die Behauptung „Theater ist ein Medium“ - kein Problem. Man denke an das Haus und seine Aspekte. Die Behauptung ist daher nur dann falsch, wenn sie als ein sogenannter „Nichts als“-Satz gerahmt wird (Precht 2020: 136), im Sinne von „Theater ist nichts als ein Medium“ - sonst kann sie nie falsch sein. Insofern ist es nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll, Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 277 Theater zu bestimmten Zwecken als ein Medium zu bezeichnen. Denn es ist ein Phänomen, das nebenbei sowohl Vermittler, Mittel, Vermitteltes oder Kanal sein kann. Allerdings weist Theater in seinen Eigenschaften darüber hinaus. Theater ist viel mehr als ein Medium - durch die Aufführung. 4 Das leere Plakat Es haben sich schon Menschen an Gefängnistore gekettet oder vor Castor- Behältern an Schienen. Pjotr Pawlenski nagelte 2013 innerhalb einer Minute seinen Hodensack mit einem zehn Zentimeter langen Nagel an den Roten Platz in Moskau und er sah es als Erfolg seiner Fixation an, dass der Notarzt fast anderthalb Stunden brauchte, ihn herauszuziehen (Nieberding 2014: 134). Klima-Aktivist: innen blockieren Straßen zur Rushhour und kleben ihre Finger mit Sekundenkleber auf Fahrbahnen. Der Kampf um Aufmerksamkeit tobt. Aus dieser Perspektive sind Plakate ohne Worte harmlos. Aber die auf die Aktionen folgenden Repressionen sind nicht der Verletzungsgefahr adäquat, sondern den Situationen im dramaturgischen Sinne. Wenn der Vortrag von Erika Fischer-Lichte vor den Kongressteilnehmenden in Puebla 1997 strukturell noch ganz zu ihrer semiotischen Phase gehörte, in der verschiedene Codes ausgesendet und dekodiert wurden, erhellt das leere Plakat vom 18. März 2022 ihren Aufführungsbegriff der performativen Phase in doppelter Weise. Abb. 1: Filmstill der heute-show, ZDF (18.03.2022) 278 Andreas Kotte (1) Nach Beginn des Einmarsches russischer Truppen am 24. Februar in die Ukraine war in Moskau umgehend ein Gesetz erlassen worden, das bis zu fünfzehn Jahre Haft androhte für jene, die der offiziellen Sprachregelung der „Spezialoperation“ nicht folgten. Niemand konnte vor einem öffentlichen Gebäude oder im Zentrum einer Stadt gegen den „Krieg“ demonstrieren, weder rufend noch mit einer Aufschrift auf einem Plakat. Die Szene vom Plakat ohne Aufschrift aus der heute-show entspricht vorübergehend dem Aufführungsbe‐ griff Erika Fischer-Lichtes. Da generiert jemand ein Ereignis, tritt in einer Gruppe mit einem leeren Blatt Papier auf und wird deshalb von einer Gruppe zunächst Zuschauender abgeführt. Das Blatt Papier ohne Aufschrift kann nur „selbstreferentiell“ sein, auch wenn alle Beteiligten wissen, warum dies so ist. Es ist zweifellos „wirklichkeitskonstituierend“ wegen der folgenden Repressi‐ onen. Was geschieht, geschieht live in leiblicher Ko-Präsenz und ist schnell vorbei, also flüchtig. Materialität im Vollzug, Semiotizität in überraschender Bedeutungserzeugung und eine gewisse Ästhetizität im Ereignis sind gegeben. Dass das Aufgreifen in einer Satiresendung mittels der Bildunterschrift „Hier könnte ihr Protest stehen“ noch ein wenig zusätzliche Semiotik fordert, ist dem Sendeformat geschuldet und zu vernachlässigen. (2) Die filmische Dokumentation besänftigt unsere Zweifel, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Nur hätten wir ohne die Filmsequenz nie etwas über dieses Plakat erfahren. Wir waren nicht dabei, also können wir es nicht analysieren, weil wir weder ein eigenes Erlebnis mit dieser in der heute-show von Oliver Welke zitierten ntv-Nachricht verbinden können, noch irgendwelche Umgebungsbedingungen kennen. Nicht einmal der Name der Stadt wird in der Sequenz genannt. Das Ereignis hat also sicher als Aufführung stattgefunden, ist aber als mediatisierte Aufführung keine Aufführung im Sinne von „leiblicher Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“ mehr, da ihr auch „die Möglichkeit der direkten Interaktion und Intervention, über die der Zuschauer vor Ort verfügt“ fehlt. Deshalb „erscheint es nicht sinnvoll“ sie „unter den Aufführungs‐ begriff zu fassen“ (Fischer-Lichte 2005: 23, s.-o.). Der Rausch des Audiovisuellen im Millenniumstheater ist abgeklungen. Verglichen mit damals glimmt das einstige Strohfeuer der Experimente mit neuen Medien nur noch. So ist die vom Staatstheater Augsburg ausgerufene „Fünfte Sparte“, digitales Theater mit Virtual-Reality und 360-Grad-Perspektive, ein wundervoller, profilbildender Adrenalinstoß für ein Haus, wäre aber keine Lösung für die gesamte Szene (Staatstheater Augsburg 2021). Die Zuschauenden genießen es sichtlich, sich im Theater und bei allen anderen Aufführungen von der alltäglichen Fixierung auf Bildschirme zu erholen, sie schätzen die Live-Situation mehr denn je. Deshalb geschieht der Medieneinsatz im Theater Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 279 heute weniger exzessiv, eher zielgerichtet. Dennoch schreitet die Digitalisierung voran, die mediale Prägung vieler Lebensbereiche vertieft sich. Was wir nach 1987 mit dem Cyberspace erlebt haben, wird durch Games und das Metaverse allmählich potenziert. Die Straßenszene mit dem Plakat ohne Aufschrift zeigt, wie wichtig es ist, den theaterwissenschaftlichen Umgang mit medial übermit‐ telten Informationen von Ereignissen zu klären. Die Frage, die sich stellt, lautet: Wie kann die Theaterwissenschaft definitorische Klarheit aufrechterhalten, ohne gleichzeitig auf die Erörterung ausgewählter Ereignisse vor Kameras zu verzichten? In Ermangelung einer perfekten Lösung lassen sich Suchfelder umschreiben: erstens - wie oben angedeutet - weiterhin sehr sensibel mit den Begriffen Auf‐ führung, Ereignis, Theater und Medien umgehen, strikt zwischen Affinitäten und Differenzen unterscheiden. Zweitens könnte ausführlicher dargestellt werden, dass sich das, was man für Theater als Entwicklung annimmt, vor allem auf den Rahmen der Theater‐ formen bezieht, auf die Bühnentechnik, Dekoration und den Theaterbau, die als Theatermedien in einer Mediengeschichte von Theater zu beschreiben wären. Drittens könnte der von Hans-Thies Lehmann benutzte Begriff Medienthe‐ ater helfen (1999: 440), sehr konkret und ohne metaphorischen Wortgebrauch Aufführungen vor der Kamera zu Vergleichszwecken im theaterwissenschaftli‐ chen Diskurs zu kennzeichnen. Die Vorschläge zwei und drei sind an anderer Stelle umrissen, aber noch nicht ausgeführt, sie können hier nur angedeutet werden (vgl. Kotte 2022). 5 Theatermedien Am Anfang einer Beziehung zwischen Menschen zu gleicher Zeit am gleichen Ort (Ko-Präsenz) steht die Situation. Die Menschen bewegen sich unterschied‐ lich, wodurch sich Gruppen von Agierenden und Zuschauenden herausbilden können, zwischen denen sich Vorgänge entfalten. Um die Vorgänge zu ver‐ stärken, können Dinge in den Vorgang eingebracht werden, zum Beispiel ein Plakat. Der Charakter des Vorgangs ändert sich. Es ist ein dingliches Attribut des Handelns, etwas Eingeschobenes, zwischen Agierende und Zuschauende, ein Medium, das den Vorgang unterstützt, ihn einprägsamer macht und nach‐ haltiger. Zu diesen Theatermedien gehört die gesamte Theatertechnik vom Flugkran über den Vorhang und die Dekorationen bis zur Drehbühne, samt der Rahmenbedingungen des Theaterbaus. Die Geschichte der Theatermedien ist eine Mediengeschichte der Theaterformen. Sie reflektiert eine technologische Erfolgsgeschichte von mehr als dreitausend Jahren. Theatermedien sind damit 280 Andreas Kotte 3 Ohne gleich derart verabsolutiert werden zu müssen, wie bei Auslander (1999). Mittel, die über die Körper von Agierenden hinausgehend in der Beziehung mit Zuschauenden zur Spezifizierung des Erlebnisses Letzterer eingesetzt werden, von der Raumkonstellation und der Sitzanordnung über Bühnen bis zu Kos‐ tümen und Make-up. Immer andere Medien sind im Theater präsent, weil auch neue hinzutreten, wie um 1900 der Film oder ab den 1970er Jahren das Video, während zum Beispiel die Gasbeleuchtung allmählich verschwand. Es ist keine Frage, dass das tiefer in den Hang eingegrabene Theatron in Form eines Koilon in Theatern wie Epidaurus einen Fortschritt darstellte gegenüber der rektilinearen Anordnung der Sitzreihen in Thorikos. Viel mehr Zuschauende konnten unter ähnlich guten Sichtverhältnissen die Vorstellung verfolgen. So viel Verwandlung auch die Winkelrahmenbühne Serlios zuließ, klar übertroffen wurde sie von der Wandelbarkeit der Kulissenbühne im Teatro Farnese in Parma. Und Joseph Furttenbach gereicht es sicher nicht zum Ruhme, dass er, Kulissen verachtend, für den Binderhof in Ulm noch an den älteren Drehprismen festhielt. Drehscheiben und Versenkpodien besitzen ebenso ihre Fortschrittsgeschichte wie Scheinwerfer, Zerhacker, Kameras und die Film- und Videoprojektionsap‐ parate. Theatermedien stellen eine unglaubliche Bereicherung für Theater dar, nichtsdestotrotz kommt es auch ohne sie aus. Theatermedien eröffnen neue Raum- und Zeitdimensionen, sie entwickeln sich vom Niederen zum Höheren. Die Erforschung des Technologischen und Technischen setzt als Medienge‐ schichte von Theater die bisherige Geschichtsschreibung zum Theaterbau und zur Bühnentechnik komplexer fort. 6 Medientheater Unser Sehen ist viel stärker medial determiniert als noch vor sechzehn Jahren. Wir sind gewöhnt an die Mediatisierung von Geschehen. Wir vergleichen neue Eindrücke seltener mit selbst gemachten Primärerfahrungen als mit durch audiovisuelle und neue Medien kennengelernten Sekundärerfahrungen, d.h. Erfahrungen, über die wir uns informieren. Im Zuge einer solchen Verschiebung ist Medientheater eine wichtige Theaterform geworden. 3 Wer erstmalig den Begriff hört, könnte zunächst denken, es handele sich um Theater mit hohem medialem Anteil, mit Film-, Video- und Interneteinspielungen, Videokameras auf der Bühne, Mikrofonen und anderer Technik. Doch das wäre schlicht das schon oben beschriebene Gegenwartstheater unter Verwendung von Theater‐ medien. Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 281 Im Gegensatz hierzu ist Medientheater Theater für die Medien, Theater vor der Kamera. Der Begriff umfasst alle szenischen Vorgänge, die vor der Kamera zwischen Agierenden und Schauenden zwecks medialer Verwendung entstehen. Die Zuschauenden, die es für diese Vorgänge braucht, sind nicht etwa diejenigen, die später das mediale Produkt rezipieren, sondern diejenigen, die Einfluss auf dessen Entstehen nehmen, das sich vor der Kamera abspielt, zum Beispiel das Filmteam am Set oder das Aufnahmeteam einer Talkshow. Abgesehen von einem dokumentierenden Abfilmen von Realität oder auch von computergenerierten Aufnahmen muss alles, was auf einer Filmleinwand oder einem Bildschirm jemals gezeigt wird, vorher als szenischer Vorgang oder Aufführung vor der Kamera erzeugt werden. Richard Schechner zum Beispiel hat schon früh beschrieben, wie Reporter von Nachrichtenredaktionen amerikanischer Fernsehanstalten Vorgänge gezielt initiierten, um sie filmen und mediatisieren zu können (1990: 269-281). Das Nachstellen von Szenen bei der Kriegsberichterstattung kommt dabei einer Inszenierung gleich, einem Spiel, das einen Kampf um etwas darstellt. Das Wahrheitskriterium wird mittels eines Gut-Böse-Schemas abgedeckt, das durch jahrzehntelange Berichterstattung in der gleichen Manier schon etabliert ist, so dass nur darauf zurückgegriffen zu werden braucht. Das Ziel inszenierter Berichterstattung liegt in der Erzeugung von Affekten, von Emotionen. Die Inszenierung vor Ort soll zwei Kategorien von Zuschauenden zufriedenstellen. Erstens die Auftraggeber. Sie orientieren sich an Einschaltquoten und bestimmen danach den Marktwert des Journalisten oder der Journalistin. Zweitens die eigentlichen Konsument: innen, in denen zwei Bedürfniskomplexe konkurrieren: Sie möchten informiert werden, das jedoch möglichst unterhaltsam und spannend. Dadurch sind sie von vornherein disponiert, optische wie sprachliche Relativierungen, die den Schein von Seri‐ osität der Berichterstattung aufrechterhalten, indem sie auf den Inszenierungs‐ charakter verweisen, zu verdrängen. Das Geschehen ist für die Zuschauenden zuhause nicht eindeutig als Simulation erkennbar, aber daran sind sie gewöhnt. Das Beziehungsgefüge zwischen den vor Ort Beteiligten erfüllt die Kriterien für Medientheater. Nicht nur Theater kann als „Vielfraß“ (Bernard Beckerman) Mediales ver‐ schlingen, sondern auch die Kamera Szenisches. In unterschiedlichem Grad lässt sich trotz aller nachfolgenden Bearbeitungsschritte aus einem Film noch herauslesen, was sich vor der Kamera abspielte - unvermittelt, interaktiv. Das Rekonstruktionsvermögen der Rezipierenden vor der Leinwand oder am Bildschirm wird durch zahlreiche Filme, die wie Federico Fellinis R O MA gerade diesen Prozess thematisieren, ständig weiter ausgebildet, verstärkt durch Ma‐ king-of-Informationen. Die Schwierigkeiten entsprechender Dokumentation 282 Andreas Kotte sind seit Max Herrmanns Versuchen mit der genetischen Methode bekannt. Deshalb macht es auch keinen Sinn, all das, was vor einer Kamera stattfindet, zu dokumentieren. Die Forschung wählt für bestimmte Zwecke einzelne Ereignisse vor der Kamera aus, quasi als Blick hinter die Kulissen, darunter vielleicht ein Plakat ohne Worte. Die Aufführung besitzt Eigenschaften, die sie von Medien unterscheidet. Die wesentlichen: nämlich einmalig zu sein, oft arg begrenzt wirksam, zuweilen nicht mehrheitsfähig, fortschrittsresistent, und vor allem nicht in Informati‐ onen oder Daten speicherbar. Diese besonderen Qualitäten und Funktionen entscheiden darüber, ob Zuschauende und Teilnehmende kommen oder aus‐ bleiben. Ein auf Affinitäten basierendes Erkenntniskonzept verliert den Boden unter den Füßen, je mehr die speziellen Eigenschaften sich nach vorn drängen. Es muss dann für weiteren Erkenntnisgewinn gegen eines ausgetauscht werden, das Differenzen klärt. Medien brauchen die Eigenschaften der Aufführung nicht zu teilen, sie verfügen über eigene Alleinstellungsmerkmale. Auch weisen sie deshalb darüber hinaus, nur Medien zu sein. Der Computer zum Beispiel kann auf der Basis von Null und Eins betrieben werden. Die Schallplatte besteht aus Polyvinylchlorid. Das Fernsehen braucht Apparate. Fernsehformate, Film, Video, Smartphones, Computer und Internet bilden längst ein System, das eine digitale Parallelwelt konstituiert hat. Deren Grundlage ist Digitalisierung und damit Datafizierung „und Datafication bedeutet Dataveillance, wie Über‐ wachung nicht durch Kameras, sondern durch Daten heißt. Diese Dreieinigkeit des Internets ist unentrinnbar, sie gilt erst recht im Metaversum“ (Simanowski 2022: 52). Sie ist mittlerweile so omnipräsent, dass sich die analoge Welt durch emotionale Schübe, ausgelöst durch Naturkatastrophen, Krieg, Tod oder Liebe, aus dem Untergrund zurückmelden muss, um wahrgenommen zu werden. Gut, dass es Aufführungen gibt. Literatur Staatstheater Augsburg (2021). Staatstheater Augsburg startet Digital-Plattform. https: / / staatstheater-augsburg.de/ pm_pay_per_view (abgerufen am 10.12.2021). Auslander, Philip (1999). Liveness: Performance in a Mediatized Culture. London/ New York: Routledge. Eisl, Sonja (2007). 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Filmstill der heute-show, ZDF (18.03.2022) Bin ich im Theater oder sehe ich einen Film? 285 1 Viral Theatres ist ein von der VolkswagenStiftung finanziertes künstlerisches For‐ schungsprojekt und eine Kooperation zwischen freien Künstler: innen und Wissen‐ schaftler: innen der Freien Universität, der Humboldt Universität und des Bard College Berlin, das 2021-2022 die radikalen Veränderungen in Theaterarbeit und Zuschau‐ endenerleben in Form von Videodokumentationen, Interviewreihen und digitalen Umfragetools sammelte und in einem Living Archive online sowie in Ausstellungen in Berlin und Düsseldorf zeigte. Das Kernteam des Projektes bestand aus Janina Janke, Asynchron - Hybrid - Phygital Fragmente einer erweiterten Aufführungsterminologie Ramona Mosse und Nina Tecklenburg [W]enn ihm ein Mechanikus, nach den Forderungen, die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittelst derselben einen Tanz darstellen würde, den weder er, noch irgend ein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, […], zu erreichen imstande wäre. (Heinrich v. Kleist 1810: Über das Marionettentheater) Entwirft man ein Konzept von Theater mithilfe von Heinrich v. Kleist, dann trifft man auf ein komplexes Maschinentheater aus Automaten, Objekten und nicht-menschlichen Akteuren, deren Virtuosität und performative Kraft über die menschliche Begegnung hinausgehen. Kleists Aufsatz Über das Marionetten‐ theater ist ein Beispiel für die Entgrenzung des Theaters im Austausch mit und durch Automaten; und es ist gerade diese Form der Entgrenzung, die in den digitalen Theatern der COVID-19-Pandemie besonders in den Vordergrund rückte. So auch in unserem eigenen künstlerischen Forschungsprojekt zu Digitalität und Theater - Viral Theatres 1 - das hier den Einstieg bilden soll. In Ramona Mosse, Christian Stein und Nina Tecklenburg. Weitere Details zu Viral Theatres sind zu finden auf www.viraltheatres.org (abgerufen am 10.10.2022). einer interdisziplinären Gruppe aus Informatiker: innen, VR-Entwickler: innen, Theaterwissenschaftler: innen und -macher: innen setzten wir uns zum Ziel, die Grenzen dessen zu verschieben, was im Theater und in der VR möglich ist. Kleists Aufsatz zum Marionettentheater diente uns dabei als Blaupause, durch die wir mit der Möglichkeit einer virtuellen Tanzbegegnung live experi‐ mentierten, in der sich virtuelle und physische Räume und Körper miteinander verschränken und verschmelzen. In unserem Marionettentheater 3.0 trafen zwei Theatermaschinen und ihre Theatergeschichten aufeinander: Virtual Reality verschränkte sich mit Kleists Automaten oder Marionetten, um zu eruieren, wie VR als Theater funktionieren und eine soziale Begegnung in einem virtuellen Raum schaffen kann, die dadurch den Theaterraum virtuell erweitert und gleichzeitig das vereinzelte Erleben in der VR-Brille zu überwinden sucht. Bei unserem Versuch, Kleists Automaten aus dem 19. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert zu übertragen, mutierte die Marionette zu einem Avatar, der sich in Echtzeit bewegte und dessen Bewegungen von einem Darsteller in einem Motion-Capture-Anzug erzeugt wurden, um in einen lebendigen Austausch mit dem teilnehmenden Publikum zu treten. Als Fortsetzung der Marionette erfasste der Avatar den Vorteil, den Kleist bei nicht-menschlichen Akteuren beschrieben hatte, „antigrav“ zu sein: „Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts” (Kleist 2007: 5). Marionettentheater 3.0 wurde zu einem Experiment, in dem mithilfe einer live VR-Performance zwischen einer einzelnen Zuschauer: in und einem Zweierteam aus Tänzer: in und Erzähler: in die Möglichkeiten von Theater als auch von VR-Anwendungen untersucht und entgrenzt wurden. Zentral für unser künstlerisches Experiment war eine räumliche Aufspal‐ tung zwischen Zuschauer: innen und Darsteller: innen in drei Orte: einem physischen Raum für Zuschauer: innen, einem weiteren physischen Raum für die Darsteller: innen und einem dritten virtuellen Raum der Begegnung. Performer: innen und Zuschauer: innen blieben räumlich getrennt, gleichzeitig entstand ein intensiver Dialog zwischen ihnen als auch zwischen virtuellem und geografischem Raum, dem Tieranatomischen Theater Berlin (TAT), einem Schinkel-Bau aus dem 18. Jahrhundert, der sich durch eine zentrale Rotunde im Erdgeschoss und einen darüberliegenden, entsprechend kreisrunden Hörsaal auszeichnet. Unsere Performance war damit zugleich geografisch zerstreut wie ortsspezifisch: Der: die einzelne Zuschauer: in trat - ausgestattet mit VR-Brille - 288 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg im Erdgeschoss in der Rotunde in die virtuelle Realität ein und, statt den realen Raum zu erkunden, bewegte er: sie sich durch eine virtuelle eins-zu-eins Kopie des Erdgeschosses. RAUM 1 - ROTUNDE ERDGESCHOSS RAUM 2 - HÖRSAAL 1. STOCK GETEILTER VIRTUELLER RAUM 2 PERFORMER: 1 MOCAP PLUS 1 ERZÄHLER 1 TEILNEHMENDER IN VR MOCAP OCULUS QUEST VR BRILLE VIRTUELLE LIVE BEGEGNUNG LIVE AUDIO & WEBCAM VERBINDUNG Abb. 1: Skizze des virtuell-physischen Aufbaus für Marionettentheater 3.0 im Tieranato‐ mischen Theater Wichtiges Interaktionstool war ein gläserner virtueller Aufzug in der Mitte der Rotunde, der eine eigentümliche Konvergenz von geografischen und histo‐ rischen Räumen ermöglichte, da er den nicht mehr existenten Lastenaufzug der hier ehemals praktizierten Veterinärmedizin virtuell auferstehen ließ. Über den virtuellen Aufzug gelangte der: die Zuschauer: in - wie einst die auf dem Sezier‐ tisch aufgebahrten toten Tiere - in eine virtuelle Nachbildung des geografisch über ihm: ihr liegenden Hörsaals. Im virtuellen Hörsaal erwartete sie der Bär aus dem Kleist‘schen Marionettentheater, der den: die Zuschauer: in zum Tanzen aufforderte. Der Bär, der im Laufe des gemeinsamen Tanzes verschiedene menschliche und nicht-menschliche Gestalten annahm (klinischer Operateur, Gliederpuppe, Mickey Maus, Cyborg) war ein Avatar, dem Gestalt durch eine sich simultan bewegende Tänzerin ( Jung Sun Kim) im Motion-Capture-Anzug gegeben wurde. Während der: die Zuschauer: in und der Avatar sich im virtuellen Hörsaal begegneten, befand sich die Tänzerin im physischen Hörsaal, also direkt im Stockwerk über dem: der Zuschauer: in und übertrug von dort aus dank Motion-Capture-System ihre realen Bewegungen live auf den Avatar. Im Hörsaal ebenso physisch anwesend war ein Performer (Lajos Talamonti), der Asynchron - Hybrid - Phygital 289 dem Avatar eine Stimme verlieh, die dem: der Zuschauer: in im Erdgeschoss live über die VR-Brille aufs Ohr gespielt wurde. Auf diese Weise entstand für den: die Zuschauer: in eine Figur in wandelnder Gestalt, die stimmlich und körperlich auf die eigenen Bewegungen zu reagieren imstande war. Abb. 2 und 3: Die Tänzerin Jung Sun Kim im Mo-Cap-Anzug und ein Zuschauer in der VR. Bild: Janina Janke. Marionettentheater 3.0 ermöglicht eine Live-Begegnung über räumliche, zeit‐ liche und körperliche Grenzen hinweg. In dieser Live-Begegnung wird eine der fundamentalen und etablierten Definitionen des Theaters ausgehebelt: die der leiblichen Ko-Präsenz von Darsteller: innen und Zuschauer: innen. Im VR- Theater existiert eine solche Ko-Präsenz nicht, und trotzdem haben wir es mit einem künstlerisch intensivierten sozialen Ereignis zu tun, bei dem ein Spiel mit dem Hier und Jetzt des flüchtigen Aufführungsmomentes sich verschränkt mit dem „Weltenraum des Möglichen, des Virtuellen, der Phantasie, des Negativs, des ‚Nicht-Nicht‘“ (Schechner 1990: 218). Die folgenden thesenhaften Überlegungen versuchen Antwort zu geben auf eine sich erweiternde, entgrenzte Theaterpraxis. Unser Ausgangspunkt ist der von Erika Fischer-Lichte zu Beginn der Nullerjahre entwickelte Aufführungs‐ begriff, der uns als Grundlage dient, die im Zuge einer Digitalisierung entstan‐ denen, technisch innovativen Theaterpraktiken terminologisch neu zu erfassen. Galt es damals für Fischer-Lichte, durch eine Ästhetik des Performativen „den 290 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg vorhandenen Theorien des Performativen […] eine neue, eine ästhetische Theorie der Performance/ Aufführung“ (Fischer-Lichte 2004a: 41) hinzuzufügen, so gilt es jetzt, diese Ästhetik durch neue Begrifflichkeiten auszuweiten, die durch die Theaterpraxis während der Pandemie und durch medientheoretische Ansätze zum Digitalen inspiriert sind. Die hier vorgeschlagene Terminologie reflektiert und performiert den Hyb‐ ridcharakter vieler mit digitaler Technik experimentierenden Theaterformen. Mit den gewählten Begriffen versuchen wir den Dualismus zwischen ‚dem Analogen‘ und ‚dem Digitalen‘ bewusst aufzuheben; zugleich bleiben Überreste dieser Dichotomie in unseren Wortspielen der vorgeschlagenen Neologismen spürbar erhalten und markieren damit eine hybride Gegenwart, in der digitale Technologie sich in Körper und Handlungen konstitutiv eingeschrieben hat. Will das Gegenwartstheater und dessen Theoriebildung diesen Umstand ästhe‐ tisch, inhaltlich und strukturell thematisieren, muss es sich nicht nur dem hybriden Charakter unserer Gegenwart zuwenden. Es muss sich auch einge‐ stehen, dass die 1999 von Philip Auslander in seinem Buch Liveness beschriebene historische Periode einer Geburt theatraler Liveness aus dem Geiste der Repro‐ duktionstechnologien und der einseitig aussendenden Massenmedien an ihr Ende gekommen ist. Anstelle einer Dichotomie zwischen ‚nicht mediatisiert‘ und ‚mediatisiert‘, wie sie das TV-Zeitalter nahe legte, befinden wir uns heute in einem Zustand des stetigen Transfers zwischen materiell-physischen und digital-virtuellen Realitäten, den Matthew Causey als „postdigital condition“ (2016: 428) beschrieben hat, d.h. als ein „social system fully familiarized and embedded in electronic communications and virtual representations wherein the biological and the mechanical, the virtual and the real, and the organic and the inorganic approach indistinction“ (2016: 432). Entsprechend verstehen wir unsere Agenda für eine erweiterte Aufführungsterminologie: Wir möchten auf den Potentialen eines Aufführungsbegriffs aufbauen, der seinerzeit Dicho‐ tomien zu überwinden und liminale Prozesse zu fassen versuchte, den es aus heutiger Perspektive jedoch, d.h. nach zwanzig Jahren digital technologischer Weiterentwicklung, fortzuschreiben gilt, damit er selbst nicht in eine veraltete Dichotomie zwischen ‚analog‘ und ‚digital‘ abzurutschen droht. Obgleich es bereits vor der Lockdownperiode der Corona-Pandemie Thea‐ terformen gab, die mit digitalen Technologien experimentierten und sich den sozialen und politischen Auswirkungen einer zunehmenden Digitalisierung des Alltags zuwandten (vgl. Murray 1997; Giannachi 2004; Causey 2006; Parker- Starbuck 2011; Dixon 2007), bildet doch die Anfangsphase der Pandemie zwischen 2020 und 2021 samt ihrer globalen Lockdowns einen besonderen Anlass für ein Neudenken des Aufführungsbegriffs und der zugrunde liegenden Asynchron - Hybrid - Phygital 291 leiblichen Ko-Präsenz als dessen zentraler Prämisse. Mit den weltweiten Theaterschließungen vollzog sich eine fundamentale Verschiebung digitaler Theaterpraktiken, die nun nicht mehr, wie vor der Pandemie, eine vorrangig avantgardistisch-experimentelle Nische besetzten. Durch die Zäsur des Ausnah‐ mezustandes der Pandemie entstand eine Art Zwang des Digitalen, der sich auf alle Formen der darstellenden Künste ausweitete und neue Möglichkeiten distanzierter Performance zuallererst ermöglichte, wie Barbara Fuchs diese theatrale Transformation beschrieben hat (2021: 3). Existierende digitale Ten‐ denzen wurden seit 2020 auf einer breitenwirksamen Ebene sowohl verstärkt als auch beschleunigt. Die fast ausschließliche Fokussierung auf digitale Theater‐ formen infolge radikaler Restriktionen des öffentlichen Raums führte zu einer fundamentalen Verschiebung der Theaterarbeit und der Begegnung zwischen Publikum und Performer: innen - eine Verschiebung, die es im Folgenden theatertheoretisch weiter zu verankern gilt. 1 (Im)materialität und Phygitalität In der Ästhetik des Performativen entwickelte Erika Fischer-Lichte 2004 einen Materialitätsbegriff, der sich einer Vorstellung von physischer und körperlicher Festigkeit, messbarer Zeitlichkeit, lokalisierbarer Räumlichkeit und Stimmlich‐ keit widersetzt. Es ist ein Materialitätsbegriff, dem eine gewisse immaterielle Qualität zu eigen ist: ein Entzug an Fassbarkeit, der besonders in den Beschrei‐ bungen von rhythmischen, lautlich-klanglichen oder atmosphärischen Auffüh‐ rungsqualitäten deutlich wird (vgl. 2004a: 129-239). Im Begriff der Materialität bündelt sich das Paradox der Aufführung, nämlich zugleich flüchtig und präsent zu sein. Die Aufführung kennzeichnet ein spürbares Hier und Jetzt, das sich zugleich entzieht, weil es nichts hinterlässt: „Aufführungen verfügen nicht über ein fixier- und tradierbares materielles Artefakt, sie sind flüchtig und transitorisch, sie erschöpfen sich in ihrer Gegenwärtigkeit“ (2004a: 127). In unserem künstlerischen Experiment Marionettentheater 3.0, das ein Auf‐ führungserlebnis mithilfe von VR-Technologie herzustellen und herauszufor‐ dern versucht, wird die Entgrenzung des Materiellen fortgesetzt. Der Raum vervielfältigt sich (über den physischen Raum wird eine virtuelle Nachbildung des physischen Raums gelegt), er spaltet sich auf (man ist zugleich im oberen Stockwerk und im Erdgeschoss). Das immersive Setup ermöglicht eine gestei‐ gerte körperliche Selbstwahrnehmung als physische Entgrenzungserfahrung: Aus der Sicht des: der Zuschauer: in bleibt der eigene Körper in der VR unsichtbar, dennoch haben die eigenen physischen Bewegungen einen unmittelbaren Effekt auf virtuelle Körper und Räume. Der: die Darsteller: in begegnet einem 292 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg 2 Aus dem Skript zu Marionettentheater 3.0. 3 Weitere Informationen zur Produktion: https: / / www.hebbel-am-ufer.de/ en/ programm e/ pdetail/ anna-fries-malu-peeters-virtual-wombs (abgerufen am 10.10.2022) in Form eines Avatars, mit dem man sowohl interagieren - tanzen - als auch verschmelzen kann. Den Höhepunkt des Tanzes bildet das Ineinanderfallen virtueller Körper (Avatar: „Geh in mich hinein. Lass uns eins werden.“), 2 deren physische Äquivalente sich jeweils in unterschiedlichen Räumen des Gebäudes aufhalten. Wird in der Aufführungstheorie allgemein davon ausgegangen, dass sich die flüchtige Materialität der Aufführung dennoch in einem physisch-realen und messbaren Raum und im Rahmen eines zeitlich definierbaren Verlaufs mit An‐ fang und Ende konstituiert (zur zeitlichen Entgrenzung digitaler Theaterformen kommen wir später noch), erweitert sich die flüchtige Materialität in unserer Performance um eine phygitale Dimension, oder wie Jan Dalley, Feuilleton- Redakteurin der Financial Times, die Theaterentwicklungen der Pandemie zusammenfasste: „Don’t look back, the future is phygital“ (Financial Times, 17. März 2021). Eigentlich ein Marketing-Begriff (Prior 2021: n.p.; Horwitz n.d.), der schon 2013 von der australischen Agentur Momentum mitgeprägt wurde (Batat 2021: n.p.), findet das Konzept des Phygitalen vor allem auch in künstlerischen Augmented Reality (AR)-Erlebnissen und der NFT-Kunst Verwendung, um die Verschmelzung von Physischem und Digitalem zu beschreiben (makersplace n.d.). Nicht mehr die „gemeinsam geatmete Luft“ (Lehmann 1999: 12) sondern die physisch und räumlich entgrenzte und dennoch somatisch erfahrbare Zusammenkunft bilden ein zentrales Merkmal dieser Aufführungsform. Die virtuelle Fahrstuhlfahrt in Marionettentheater 3.0 löst Schwindel aus, obwohl mein Körper an derselben räumlichen Stelle verweilt; die Verschmelzung mit dem Avatar löst Unbehagen, Faszination oder Verunsicherung aus, obwohl die Tänzerin, mit deren physischem Körper ich virtuell interagiere, ein ganzes Stockwerk von mir entfernt ist. Eine Performance, die bewusst mit den Parametern alter und neuer Auffüh‐ rungsparadigmen spielt, ist das VR-Stück Virtual Wombs von Anna Fries und Malu Peeters, das im Herbst 2021 im HAU Premiere feierte. 3 Die Arbeit von Fries und Peeters ist außerdem ein Beispiel für einen Übersetzungs- oder Transpositionsprozess zwischen online- und hybrid-Varianten, der bezeichnend für pandemische Arbeiten ist. Vorläufer für Virtual Wombs war der digitale Multimedia-Essay The Host (2020), dessen Thematiken erweitert und auf die hybride VR-Performance Virtual Wombs zurückübertragen wurden. In Virtual Wombs ist das Publikum zwar wieder im Theater, wechselt aber zwischen verschiedenen Formen der Immersion, zum einen einer akustischen Immersion, Asynchron - Hybrid - Phygital 293 von der die Zuschauer: innen umgeben sind, und der visuellen Immersion der VR. Abb. 4: Das Bühnen-Setting für Virtual Wombs am HAU Hebbel-am-Ufer mit den Zuschauer: innen, die auf Drehhockern auf der Bühne platziert werden. Bild: Anna Fries Während der Aufführung werden die Zuschauer: innen mehrfach angewiesen, ihre VR-Brillen auf- und abzunehmen, zwischen virtueller und physischer Realität hin und her zu wechseln, um dabei die Möglichkeiten technoqueerer Er‐ weiterungen von Mutter-/ Elternschaft und transhumanen Formen von Schwan‐ gerschaft virtuell-leibhaftig zu erkunden. Ein Spiel mit phygitaler (Un)mittelbar‐ keit, somatischer Reaktion und sozialer Interaktion wird in dieser Performance besonders dann in Szene gesetzt, wenn in der VR erscheinende Avatare nach Abnehmen der Brillen als physische Darsteller: innen vor den Zuschauer: innen stehen und als Wandernde zwischen den Welten Blickkontakt suchen. Virtual Wombs eröffnet einen utopischen VR-Raum und kombiniert ihn mit einer interaktiven Bühne. Die Performance zeigt, wie hybride Formate die rein digitalen Experimente der Anfangsphase der Pandemie abzulösen vermögen. Wurde mit ähnlichen Authentizitäts- und Näheeffekten samt seiner körper‐ lichen und räumlichen Entgrenzungserfahrungen schon im live-Filmtheater der Nullerjahre experimentiert, wie etwa bei Frank Castorf, René Pollesch oder Gob Squad - bereits hier wurden aufführungstheoretische Prämissen 294 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg herausgefordert -, gehen viele VR-Performances und andere digitale Theater‐ formen einen entscheidenden Schritt weiter: Wurden in den Videokamera- und Leinwand-lastigen Stücken der Nullerjahre die Zuschauer: innen weitestge‐ hend auf Distanz gehalten, rücken im gegenwärtigen digitalen Theater die neuen phygitalen Formen des Sozialen in den Vordergrund, welche immersive Umgebungen zu ermöglichen imstande sind. Momente sozialer Interaktion und körperlich-partizipativer Involvierung der Zuschauer: innen nehmen einen zentralen Stellenwert ein - und zwingen uns, ein wesentliches Merkmal der hier zum Ausgangspunkt genommenen Aufführungstheorie weiter zu denken: das Merkmal der autopoietischen Feedback-Schleife. 2 Fernintimität Der theatrale Raum gilt als Ausgangspunkt theaterwissenschaftlicher Ausei‐ nandersetzungen mit der Aufführung. „Bühnenkunst ist Raumkunst“, wie Max Herrmann es paradigmatisch in seinem Aufsatz „Das theatralische Raumer‐ lebnis“ (2006 [1931]: 501) formulierte. Raumerleben bildet auch die Basis für das von Erika Fischer-Lichte entwickelte Konzept der autopoietischen Feedback‐ schleife, die einen energetischen und letztlich aufführungskonstitutiven Aus‐ tausch zwischen Performer: innen und Publikum umschreibt. Die autopoietische Feedbackschleife garantiert, „daß jedesmal eine andere Aufführung hervorge‐ bracht wird, daß in diesem Sinne jede Aufführung einmalig und unwiederholbar ist“ (2004a: 82). Fischer-Lichte erweitert somit die Theorie der Aufführung um die Dimension der Teilhabe der Zuschauer: innen. Der: die Künstler: in hat nicht mehr „als einzelner volle Verfügungsgewalt“ (2004a: 268) über das Geschehen. Im Konzept der autopoietischen Feedbackschleife wird eine theoretische Ver‐ schiebung manifest, die Theater nicht nur als Raumkunst, sondern auch als Zuschauer: innenkunst entwirft und das Publikum als aufführungskonstitutive Ko-Instanz sichtbar macht. Diese Feedbackschleife zwischen Darsteller: innen und Zuschauer: innen entsteht durch das Erlebnis von Nähe und Verkörperung, sprich von leiblicher Ko-Präsenz, die in der Ästhetik des Performativen in seinen Vielschichtigkeiten des gegenseitigen Miteinanders aufgeschlüsselt wird. Die Notwendigkeit der „leibliche(n) Ko-Präsenz aller Beteiligten“ (2012: 54) als Voraussetzung für das Stattfinden eines theatralen Ereignisses gehört zu den Grunddefinitionen im theaterwissenschaftlichen Verständnis. Durch den Bruch dieser Ko-Präsenz und Nähe im pandemischen Theater der digitalen Räume entsteht zunächst einmal der Verlust eines Publikums, das nicht mehr zusammenfinden kann. Gleichzeitig wird gerade dieser Verlust des Publikums in vielen digitalen Theateraufführungen während der Pandemie Asynchron - Hybrid - Phygital 295 4 Für eine ausführlichere Behandlung einer solchen Inszenierung des abwesenden Publi‐ kums, siehe folgenden Artikel: Ramona Mosse 2022. Auf der Suche nach dem Publikum: Zuschauerräume in der Pandemie. In: Wihstutz, Benjamin/ Vecchiato, Daniele/ Kreuser, Miriam (Hrsg.). #CoronaTheater. Der Wandel der performativen Künste in der Pan‐ demie. Berlin: Theater der Zeit, 29-42. bewusst in Szene gesetzt und durch eine neue Art von Intimität ersetzt, die wir als Fernintimität bezeichnen wollen. 4 Fernintimität akzeptiert die sozialen Distanzierungen während der Pandemie und macht sich gleichzeitig zunutze, dass unser alltägliches Erleben insgesamt durchwoben ist von einem sozial-digitalen Austausch, der über geografische Grenzen hinweg Nähe herstellen und eine Form der Intimität erzeugen kann, die keiner körperlichen Anwesenheit bedarf. Ein Beispiel solcher Erzeugung von Fernintimität ist die digitale Produktion werther.live (2021) des Kollektivs punkt.live. Ihre digitale Adaption von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther erlangte nationale und internationale Anerkennung durch das formale Experiment, mit digitalen Mitteln die leidenschaftliche Obsession Werthers auf dem Laptop-Bildschirm zu verwirklichen und dabei ein mashup aus Film, sozi‐ alen Medien, Literatur und Theater entstehen zu lassen. Dabei aktualisierte die Gruppe punkt.live Werthers Liebesgeschichte in pandemische Zeiten und ließ Werthers Sorgen in einer Multi-Plattform-Version über Instagram, WhatsApp und Zoom spielen, in die auch das Publikum einsteigen konnte, indem es mit den Figuren über die eigens dafür kreierten Instagram-Konten chattete. Ästhetisch erschuf punkt.live Nähe und Präsenz einer fiktionalen Welt durch die Verflechtung verschiedener digitaler Plattformen. Werther, Lotte und die anderen Figuren existierten nicht nur in einer Zoom-Kachel, sondern verfügten über reiche Social-Media-Geschichten auf Instagram, sie hinterließen Sprach‐ nachrichten auf WhatsApp und recherchierten im Web. Nicht eine einzige App, sondern der gesamte Laptop-Bildschirm nahm an der Erzählung dieser unglücklichen Liebesgeschichte teil. Hierin liegt eine zentrale formale Neuerung: Das Stück inszeniert den Laptop-Bildschirm als Proszenium. Für weite Strecken der Performance dop‐ pelt punkt.live den Home Screen eines Macbooks als Bühnenbild. Dadurch ertappen sich Zuschauer: innen wiederholt dabei, den Screen vor sich und die Bewegungen des Mauszeigers als ihre eigenen zu verstehen und so eine komplexe Identifikation mit den Figuren aufzubauen, deren Unterhaltungen sie verfolgen. Die Grenze zwischen digitaler Theateraufführung und Wiederer‐ kennung der eigenen Nutzungsgewohnheiten digitaler Medien und des Laptops selbst verschwimmt hier zunehmend, je mehr man sich voyeuristisch im digitalen Innenleben einer anderen Person aufhält. So mag punkt.live hier als 296 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg repräsentatives Beispiel für eine Entwicklung von Fernintimität stehen, die auf einer Familiarität mit digitalen Gewohnheiten beruht. Abb. 5: Die Laptop-Bühne von werther.live mit multiplen offenen Fenstern und gleich‐ zeitiger Nutzung von Instagram, Apple Notes, und WhatsApp. Bild: punkt.live Punkt.lives Ansatz steht exemplarisch für das, was Philip Auslander als die affektive Erfahrung des Publikums in der Auseinandersetzung mit digitalen Me‐ dien definiert hat. Auslander macht deutlich, dass es notwendig ist, die „affektive Erfahrung des Publikums“ vom Ereignis eines kollektiven Zusammenkommens im gemeinsamen Raum zu entkoppeln: It may be that we are now at a point in history at which liveness can no longer be defined in terms of either presence of living human beings before each other or physical and temporal relationships. The emerging definition of liveness may be built primarily around the audience’s affective experience. To the extent that websites and other virtual entities respond to us in real time, they feel live to us and this may be the kind of liveness we now value. (2012: 6) Als Auslander 2012 diesen Artikel zur digitalen Liveness als Erweiterung seiner ursprünglichen Publikation Liveness aus den späten 1990er Jahren schrieb, war dies eher eine theoretisch fesselnde oder sogar prophetische Beschreibung der Erfahrung digitaler Realität im Allgemeinen. Aus post/ pandemischer Perspek‐ tive eines breiten Theaterpublikums, das auf Instagram-Monologe, Livestreams, Asynchron - Hybrid - Phygital 297 5 Weitere Information zur Produktion: https: / / 600highwaymen.org/ a-thousand-ways/ (abgerufen am 10.10.2022) digital immersive Puzzlespiele und interaktive Zoom.coms angewiesen war, wird Auslanders Aussage zu einer treffenden Zusammenfassung des Erlebens von digitaler Liveness im Theater. Während das Erleben von Fernintimität als Aspekt digitaler Liveness ein prinzipielles Potential von digitaler Performance ist, so bleibt diese Form digitaler Nähe mit den Realitäten der Pandemie als deren vorrangige digital-äs‐ thetische Erfahrung verstrickt. Anders formuliert, das Interesse an Fernintimität als Performance-Erlebnis entsteht insbesondere als Antwort auf die sozialen Restriktionen der Lockdowns, wird es doch durch die umfassende Distanzierung zu dem, was gesellschaftlich fehlt. Dieses Bedürfnis nach alternativen Formen sozialer Begegnung lässt sich auch an Beispielen wie dem Tryptich A Thousand Ways der U.S.-amerikanischen Performance Gruppe 600 Highwaymen veran‐ schaulichen. 5 Die Performance ist aufgebaut als dreiteiliger Kommentar auf soziale Distanzierung, die sich aus einem Telefonat in „A Telephone Call“, einer eins-zu-eins Begegnung mit Spielanweisungen in „An Encounter“ und einer interaktiven Gruppen-Performance in „An Assembly“ zusammensetzt. Das Te‐ lefontheater, das 2020-2021 weltweit lief, ist hierbei von besonderer Relevanz, da es als Begegnung zweier Fremder konzipiert ist, deren einstündige Unterhaltung von einer KI dramaturgisch geleitet wird. Die Zuschauer: innen werden hier selbst zu Performer: innen ihrer eigenen Isolation und erfahren gleichzeitig die Verstrickung von Technologie und Sozialem sowohl als Teil des pandemischen Ausnahmezustandes, als auch als Symbol für die Alltäglichkeit digitaler Kom‐ munikation nicht nur mit anderen Menschen, sondern (hier symbolisiert durch die KI) als Kommunikation mit der Technologie selbst. Matthew Causey hat diese Verschmelzung zwischen Sozialem und Technologie als Advent digitalen Denkens bezeichnet (2016: 431); wir würden hier hinzusetzen, dass Fernintimität - verstärkt durch das digitale Lockdowntheater - ein zentraler Aspekt solch digitalen Denkens darstellt, da geografische Dimensionen sich im digitalen Raum zunehmend auflösen und so über sie hinweg gedacht werden kann. Fernintimität als Ausdruck digitaler Liveness basiert hier nicht so sehr auf einer Verschiebung von leiblicher auf zeitliche Ko-Präsenz, sondern ergibt sich aus der gegebenen Interaktivität oder auch dem Reaktionsmodus, der verschiedenen sozialen Medien eingeschrieben ist, wie z.B. die drei Punkte auf WhatsApp, die markieren, das jemand schreibt oder die Doppelhäkchen, die die Nachricht als ‚gelesen‘ einordnen. Fernintimität basiert somit auf einem Level von digitaler Resonanz. 298 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg 3 (Im)materielle Ko-Aktant: innen Eine Vielzahl der während der Pandemie entstandenen digitalen Theaterformen stellten die soziale Begegnung ins Zentrum ihrer Arbeit. Pandemisches Theater war weniger ein Theater für, sondern ein Theater mit dem Publikum (Mosse/ Tecklenburg et al. 2022: 24). Während der Lockdowns bot dieses Theater damit nicht nur Trost in Zeiten von social distancing oder überzeugte mit beeindruck‐ enden Überführungen dramatischer und epischer Stoffe in digitale multiopti‐ onal-partizipative Erzählformen, sondern es erkundete - mittels künstlerischer Verfremdung digitaler Interaktionstechnologien - den digitalen Raum als sozi‐ alen Raum: als Ort der fernintimen Begegnung und des Aushandelns (wie z.B. in Irgendwie Mitte von Turbo Pascal (2021) oder Nestervals Goodbye Kreisky (2021)), aber auch als Ort des sozialen Ein- und Ausschlusses und der algorithmischen (und zumeist profitorientierten) Präfigurierung digitaler Kommunikation (wie z.B. in Garden of Tangled Data von doublelucky productions (2020) oder Loulou von onlinetheater.live). Mit der digitaltechnologischen Neuausrichtung des Theaters verschiebt sich das aufführungstheoretische Narrativ: Die Aufführung lässt sich nicht länger als ‚unmittelbares‘ physisch-soziales Ereignis fassen, das sich grundlegend von Speicher- und Übertragungsmedien abgrenzt und genau in jener Abgren‐ zung eine scheinbar widerständige Kraft entfaltet (Schechner 1990; Phelan 1993; Lehmann 1999; Fischer-Lichte 2004a) - dieses ‚alte‘ Narrativ entpuppt sich spätestens nach den Lockdown-Theaterexperimenten als Resultat einer spezifischen medienhistorischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, wie Philip Auslander es bereits in seinem Buch Liveness 1999 gezeigt hatte. Die Auffüh‐ rung fungiert in diesem Narrativ als Gegenspieler des ‚Medialen‘. Anders im neuen aufführungstheoretischen Narrativ, das sich im Kontext einer verän‐ derten medienhistorischen Konstellation situiert: Die Aufführung ist hier nicht länger Gegenspieler, sondern sie geht eine Liaison mit dem ‚Medialen‘ ein, das heißt mit den virtuellen und digitalen Kommunikations-, Interaktions-, aber auch Speicher- und Algorithmus-basierten Auswertungsmedien - eine mediale Konstellation, der Martin Burckhardt in seinem „Manifest für eine neue Welt“ die revolutionäre Kraft einer „digitalen Renaissance“ attestierte, die unser Denken und Handeln nachhaltig verändern würde (2014: 1). Im Rahmen dieser Entwicklungen verändert die Aufführung nicht nur ihre Form, sondern auch ihre Funktion: Im Kontext einer Medialisierung des Alltags fungiert sie nicht mehr als (widerständige) Opposition, sondern als (subversive) Affirma‐ tion. Die aufführungskonstitutive autopoietische Feedbackschleife zwischen Zuschauer: innen und Darsteller: innen erfolgt nicht jenseits, sondern mittels Asynchron - Hybrid - Phygital 299 6 Aus Skript zu Marionettentheater 3.0, frei nach Heinrich von Kleist. technologischer Medien: was immer gechattet, gepostet, gezoomt, gebreakoutroomt wird, ist Teil der Aufführung, oder in Fischer-Lichtes Worten: Die Auffüh‐ rung entsteht „immer erst in ihrem Verlauf. Sie erzeugt sich sozusagen selbst aus den Interaktionen zwischen Akteuren und Zuschauern“ (2004b: 12) - und, wie zu ergänzen wäre, digitaler Technologie, die zu einem weiteren aufführungskons‐ titutiven Ko-Akteur avanciert. Hatte es bereits in den Zehnerjahren theoretische Bemühungen gegeben, vor dem Hintergrund „postspektakulärer“ oder neuer narrativer Theaterpraktiken das dichotomische Verhältnis aus Darsteller: innen und Publikum als aufführungstheoretische Prämisse aufzuweichen und um eine symbolische dritte Ebene zu erweitern (Eiermann 2009, Tecklenburg 2014), so schiebt sich im pandemischen Theater eine weitere aufführungsgenerierende Ebene ins Blickfeld. KIs, Maschinen, Bots, Algorithmen haben als (im)materielle Ko-Aktanten - sichtbar oder unsichtbar - Anteil an der autopoietischen Feed‐ backschleife. Nicht selten wird das komplexe Verhältnis zwischen Menschen und Ma‐ schinen selbst zum Thema digitaler Theaterformen - so auch in unserem Mario‐ nettentheater 3.0, wenn der: die Zuschauer: in, ihre ersten tastenden Bewegungen in der VR vollziehend, eine Erzähler: innenstimme in Anlehnung an Kleist sagen hört: „Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt scheint sich wie ein Netz um das freie Spiel Deiner Gebärden zu legen. Vielleicht bist Du eine Puppe und jemand anderes spielt Dich.“ 6 Im Feedback-Verhältnis zwischen Zuschauer: in, Performer: in und Maschine spielt die Verhandlung ethischer Fragen häufig eine zentrale Rolle. Als weiteres Beispiel dafür wäre die Performance Deep Godot von Interrobang zu nennen, in der das Dreiergespann aus Performer: in, Zuschauer: in und Maschine bewusst modifiziert wird. Die Teilnehmer: innen sind Zuschauer: innen und Performer: innen zugleich, die jeweils vereinzelt in einer Kabine sitzen - in der online-Version zuhause auf dem Bett liegend - und einer stimmlich anwesenden künstlichen Intelligenz begegnen, die sich als zukünftige (im)materielle Alterspflegekraft der Teilnehmer: in ausgibt. Mittels voice recognition steigt die KI in einen dialogischen Austausch mit dem: der Teilnehmer: in ein, bei dem es um die eigene körperliche Endlichkeit und den Verlust/ Gewinn von Autonomie durch die KI geht. Auch wenn die Grenzen der KI-Technik besonders in Momenten von Glitches deutlich zutage treten, ent‐ facht die Performance eine starke affektive Kraft und stellt damit die körperliche ‚Fleischlichkeit‘ als Bedingungen des autopoietischen Feedbackmechanismus nachhaltig infrage. 300 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg 4 Neue Theaterrituale und interaktive Hybridgemeinschaft Digitales Theater konstituiert sich zudem als Aufführung durch die Etablierung einer neuen phygitalen Ritualität: eine spezifische Form der Zusammenkunft einer interaktiven Hybridgemeinschaft. Die sozialen Möglichkeiten digitaler Umgebungen, die Zusammenkünfte jenseits physisch-räumlicher Grenzen er‐ möglichen, sind grundlegend für die neuen Theaterrituale. Damit letztere Gül‐ tigkeit haben, müssen sie erfahrbar gemacht werden, das heißt die interaktive Hybridgemeinschaft muss sichtbar, fühlbar, hörbar gemacht werden, sprich in Szene gesetzt werden - wobei es weniger um verifizierbare Authentizität einer Hybridgemeinschaft, sondern um Hybridgemeinschaft als Effekt geht. Häufig verwendete künstlerische Strategien sind hier die Inszenierung des Publikums, etwa durch die Ermöglichung eines direkten Austauschs in Chaträumen, durch eingeschaltete Webcams oder Interaktionsräume wie Breakout Rooms. Als Beispiele zu nennen wären hier neben explizit partizipativen Stücken wie u.a. Goodbye Kreisky von Nesterval (2020) oder Familiodrom von Interrobang (2021), auch konventionellere Drameninszenierungen, etwa wie Caryl Churchills Mad Forest, inszeniert 2020 als Teil von Upstreaming, der virtuellen Bühne des Fisher Center at Bard in Annandale, NY - eine Zoom-Aufführung, deren die Bühnenhandlung begleitender Chat de facto eine weitere Bühne eröffnete, deren Handlung spontan und improvisiert war und die knapp 2000 Zuschauer: innen aus fünf Kontinenten zu einem Global Village einte. Eine weitere künstlerische Strategie der Sichtbarmachung neuer Theaterri‐ tuale liegt in der Überführung des ‚analogen‘ Theaterrituals in den digitalen Raum, wie etwa durch bewusst gerahmte, den Beginn der Aufführung mark‐ ierende Kassen- und Foyersituationen. Der one-on-one Zoom-Performance As Far As Isolation Goes (2021) von Tania El Khoury zum Beispiel geht eine 20-minütige Begegnung mit einer Person des Zoom-Einlasspersonals voraus, die das Publikum nicht nur technisch auf die Inszenierung vorbereitet (inklusive Downloads und Upgrades von Programmen und Apps), sondern - intendiert oder nicht - den: die einzelne Zuschauer: in in ein persönliches Gespräch verwickelt und damit einen Moment von spontaner Nähe herstellt, der in der anschließenden Inszenierung ein künstlerisch zugespitztes Pendant findet. Ein weiterer künstlerischer Ansatz, der besonders häufig in Livestreams während der Lockdown-Periode zu beobachten war, ist das Zitieren traditio‐ neller Theaterbzw. Theatralitätsindikatoren wie zum Beispiel mittels digitalaudiovisueller Effekte projizierte Proszenien, Vorhänge, Prologe/ Epiloge, das Einspielen von Theatergeräuschen (der Sound des Publikums, das Klatschen) oder die visuelle Übertragung des Auditoriums oder des Theatergebäudes. Die Asynchron - Hybrid - Phygital 301 physisch-körperliche Leere des Auditoriums - das Fehlen der Zuschauer: innen in den Reihen des Theatergebäudes - wurde wiederholt zum Thema, so zum Beispiel in Gob Squads Show Me a Good Time (2020), eine durational onlineperformance über die Suche nach dem physisch anwesenden Publikum, die live aus einem lokalen Theatergebäude und den Straßen verschiedener europäischer Orte übertragen wurde. Während der mehrstündigen Performance stellten die Performer: innen in regelmäßigen Abständen direkten Kontakt zu online- Zuschauer: innen her und wiesen sie an, im Rahmen wiederkehrender Rituale mit zu lachen, mit zu weinen oder die Performer: innen auf dem Screen mit den Händen zu berühren. Neue Theaterrituale wurden hier über die Abwesenheit alter Theaterrituale etabliert; ähnlich auch in To Be a Machine/ Die Maschine in mir (1.0) von Dead Centre. Hier waren die Zuschauer: innen im Vorfeld aufge‐ fordert, sich als lachendes, schlafendes oder aufmerksames Publikum vorab zu inszenieren und diese Performances des Zuschauens in Form von kurzen Video- Impressionen auf eine Datenbank hochzuladen. Während der Aufführung sollten diese Videos als Zuschauer: innen-Doubles fungieren und stellvertretend für die Zuschauer: innen selbst einen Sitzplatz im menschenleeren Auditorium einnehmen. Statt mit Körpern, waren die Sitzreihen hier mit hunderten von Tablets besetzt, auf denen die Zuschauer: innen schließlich von zuhause aus per Livestream ihre eigenen Videoaufnahmen wiedererkennen und damit ihre Teilhabe an einer zugleich an- und abwesenden phygitalen Hybridgemeinschaft erleben konnten. 302 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg Abb. 6: Screenshot: Michi Maertens im phygitalen Spiel mit Transhumanismus in To Be a Machine/ Die Maschine in Mir 1.0 (Burgtheater Wien, 2021) Bild: Marcella Ruiz Cruz Asynchron - Hybrid - Phygital 303 7 Weitere Informationen zu Homecoming: https: / / www.machinaex.com/ events/ http s/ wwwhebbel-am-uferde/ programm/ pdetail/ 3222-93285-gyndk-mke9y-zpl3s-62xlc-fm wer-e7b5g-j9hm5-rbagf (abgerufen am 10.10.2022) 5 Dokuformance: Schlussgedanken zu Archiv, Performance und (a)synchroner Liveness In einem Interview zu seiner Livestream-Produktion Selbstvergessen am Jungen DT Berlin (2021) äußert sich Regisseur Gernot Grünewald zur Verschiebung des Performance-Gedankens und der Absage an leibliche Ko-Präsenz wie folgt: „Nun ist es so unter Coronabedingungen, dass wir seit Monaten keine Räume teilen dürfen, vor allen Dingen Großveranstaltungen wie Theater. Was aber möglich ist, ist die gemeinsam geteilte Zeit.” (zitiert nach Mosse 2022b: 03: 35-03: 46) Grünewalds Beurteilung der Ko-Präsenz aus der Notsituation der Theater im Lockdown spiegelt eine Grundtendenz, Theater in der Vermischung mit dem Digitalen eher zeitlich als körperlich zu fassen. So beschrieb Henry Bial in seiner Neubewertung von Performance im digitalen Zeitalter bereits 2014 „liveness as simultaneity rather than presence. Performer and spectator may no longer share physical space, but they share virtual space and actual time“ (2014: 409). Doch die Pandemie hat gezeigt, dass selbst das Moment der Simultanität verhandelbar ist und von einigen neuen Theaterpraktiken bewusst herausgefordert und in asynchrone, auf digitale Speicherung angelegte Aktivitäten einzelner Akteur: innen überführt wird. Beispiele hierfür wären die Multi-Plattform-Produktion Homecoming (2021) des Performance-Kollektivs machina eX oder die Instagram-Accounts der Figuren von werther.live. Im Falle von werther.live bleiben die Instagram-Accounts und Chats zwischen Werther oder Lotte und einzelnen Zuschauer: innen während der Performance losgelöst von der Aufnahme bestehen und sind auch potentiell weiter asynchron bespielbar. Bei machina eX hingegen beginnt die Performance mit einem Aus‐ tausch via Chatbot und als physische Briefsendung mit asynchroner Umfrage, die es vor dem Aufführungstermin auszufüllen gilt. 7 An beiden Beispielen wird deutlich, dass diese Interaktionen mit dem Publikum eine neue Fluidität des Aufführungsbegriffs verlangen, der synchrone und asynchrone Momente gleichermaßen umfasst. Es bedarf einer Neukonzeption der Relation von Archiv und Performance, wenn sich Aufführungen als eigene archivarische Spuren entpuppen und eine Unterscheidung zwischen Live-Aufführung und Archivauf‐ nahme kaum mehr möglich ist, da digitale Speichermedien zum Einsatz kommen und live-Archivierungsvorgänge auf digitalen Plattformen vollzogen werden, die sich an ein nachfolgendes, zukünftiges Publikum wenden. 304 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg 8 Weitere Details zu den beschriebenen als auch weiteren Projekten: Decameron Row (2020, www.decameronrow.com, abgerufen am 10.10.2022), produziert von Itamar Ku‐ bovy, Stefanie Sobelle, Juan Diaz Bohorquez, Sherry Huss und Josef Szuecs; Infinitos von La Quinta de Lobos/ Carmen Gil Vrolijk (2020, www.infinitos.co/ en/ home, abgerufefn am 10.10.2022); Theater in Quarantine von Joshua Gelb (2020, www.joshuawilliamgelb .com/ theater-in-quarantine, abgerufen am 10.10.2022); ENTER, kurtatiert von Onassis Center Athen (2020, www.onassis.org/ enter/ , abgerufen am 10.10.2022); 1000 Scores von Rimini Protokoll (2021, www.1000scores.com, abgerufen am 10.10.2022); Impulse-Fon von Interrobang (2021); https: / / impulse.programm.art/ (abgerufen am 10.10.2022); htt ps: / / www.interrobang-performance.com/ impulse-fon-3/ (abgerufen am 10.10.202); DIE Wir möchten diese Verwischung von Grenzen zwischen digitalem Archiv und Performance mit der Wortschöpfung der Dokuformance umreißen, die den auf Flüchtigkeit fokussierten Performancebegriff Peggy Phelans aufhebt und ein neues Genre benennt, in dem Prozesse des (digitalen) Dokumentierens einen wesentlichen Teil der Performance ausmachen. Die Dokuformance spielt künst‐ lerisch mit dem Umstand, dass jede digitale Performance potentiell speicherbar ist und wir folglich im theoretischen Umgang mit digitalem Theater dazu veranlasst werden, das häufig als dichotomisch oder aporetisch beschriebene Verhältnis zwischen Aufführung und Dokumentation neu zu fassen. Am deutlichsten manifestiert sich die Dokuformance in den zahlreichen online-Performancearchiven, die den Ausnahmezustand der Pandemie emoti‐ onal und intellektuell zu fassen versuchen. Die Pandemie hat einen Drang zur Dokumentation kreiert, der sich auch in vergangenen Pandemien spiegelt (siehe auch Daniel Defoes Journal of the Plague Year). Die bleibende Relevanz des Dokumentierens zeigt sich in der Fülle von online-Archiven, die während der COVID-19-Lockdowns entstanden sind und sich selbst als künstlerische und/ oder kuratierte (Performance-)Projekte verstehen. Hierbei geht es weniger um die das Genre des Reenactments oder um die Performance des Archivs (Schneider 2011), sondern um eine kreative Archivierung als dominantes Genre der künstlerischen Produktion während der Pandemie. Die Beispiele reichen von einzelnen Künstler: innen, die ihre Erfahrungen mit der Pandemie selbst dokumentieren (z.B. Joshua Gelbs Theater in Quarantine, das in seinem Kleider‐ schrank in der Lower East Side auftritt), bis hin zu Theatern/ Kollektiven, die kre‐ ative Interventionen sammeln (z.B. das internationale Decameron Row Project; das Time-Capsule Projekt von Yves Regenass, in dem die Lockdownerfahrungen für eine Performance in der Zukunft gesammelt werden; die als Kettenbrief strukturierte Brick-Theatre-Serie Out of Abundance of Caution) oder Webseiten, die in Form von Skripts modellhaft Anleitungen zur Performance daheim konzipieren (z.B. die „instructional scripts“ von Rimini Protokolls kuratierter Plattform 1000 Scores). 8 Viele dieser digitalen Lockdown-Theaterarchive sind Asynchron - Hybrid - Phygital 305 BALKONE, kuratiert von Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza (2021 und 2022, www.diebalkone.net, abgerufen am 10.10.2022). Theatre Time Capsule (2020, https: / / t heatre-time-capsule.com/ , abgerufen am 10.10.2022), produziert von Yves Regenass. partizipativ, zerstreut und prozesshaft; sie sind „rogue“ - ein Begriff, mit dem Abigail de Kosnik (2016) eine Vielzahl von online-Archiven beschreibt, die sich auf open source-Basis entfalten und damit ein Gegenmodell zum etablierten, schwer zugänglichen (Staats)Archiv samt seiner Macht- und Wissensformen darstellt. Zwei der Beispiele seien hier kurz detaillierter herausgegriffen: Das New Yorker Decameron Row Project mit seiner explizit pandemischen Rahmung durch Boccacio gab einminütige Performance-Videos von Kulturschaffenden aller Disziplinen in Auftrag, mit denen eine digitale Mietshausreihe befüllt wurde. So avancierten unbekannte Künstler: innen zu digitalen Nachbar: innen, die ihre Erfahrungen teilten. Bemerkenswert ist, dass weniger die Originalität der Beispiele hervorsticht, sondern die fundamentale Ähnlichkeit zum eigenen Lockdown-Alltag, wodurch die globale Dimension der Pandemie einmal mehr verdeutlicht wurde. Einen anderen Ansatz verfolgt die online-Plattform 1000 Scores, kuratiert vom deutsch-schweizerischen Regielabel Rimini Protokoll, bei dem es nicht um konsumierbare, fertige Aufnahmen von Aufführungen geht, sondern um Anleitungen zum Selbstspielen auf Basis der Skriptimpulse, wodurch die Performance auf die Zuschauer: innen zurückgeworfen wird. Was diese und weitere Beispiele miteinander verbindet, ist die asynchrone Basis dieser entgrenzten Aufführungen im weitesten Sinne. In diesen Dokuformances kommen Archivierung und Performance als kollektiver und kreativer Akt zusammen, durch die es gelingt, eine gemeinsame globale Erfahrung des Lebens in der veränderten sozialen Realität der Pandemie erfahrbar zu machen. Eine entlokalisierte Gemeinschaft entsteht durch die Potenzierung vieler und doch immer ähnlicher Erlebnisse, die durch die digitale Überwindung geografischer Distanz noch verstärkt wird. Gerade die Speicherbarkeit dieser Dokuformances impliziert einen Aufruf zur Teilnahme. Mit diesen fünf Konzepten zu einem digital erweiterten Theaterbegriff geht es uns um eine eine Neujustierung der autopoietischen Feedbackschleife jen‐ seits der Ästhetik des Performativen, so dass die Idee der Körperlichkeit als Grenze überwunden werden kann. Die von uns umrissenen Verstrickungen von virtuellen und physischen Welten bieten ebenso die Gelegenheit, den Begriff der Autopoiesis zu ihrem ursprünglichen, technologisch-maschinellen Kontext zurückzuführen, der wie auch Kleists Marionettentheater einem Ma‐ schinentheater gleichkommt. Denn die autopoietische Feedbackschleife, die 306 Ramona Mosse und Nina Tecklenburg 9 Unser Dank geht an Kai Tuchmann, der uns im persönlichen Gespräch (September 2022) an diese Genese der Autopoiesis erinnerte. Fischer-Lichte für die Theaterwissenschaft nutzbar gemacht hat, kehrt mit dieser digitalen Wendung in gewisser Weise zurück zu ihren Ursprüngen - d.h. zu ihrer terminologischen Basis in der Neurophysiologie und der Kybernetik, wo Autopoiesis für die Selbststeuerung von Maschinen benutzt wurde. 9 Katherine Hayles beschreibt diese Autopoiesis als eine maschinelle Selbstorganisation, deren Produkt das Bewusstsein ist: “For autopoiesis, cognition emerges from the recursive operation of a system representing to itself its own represen‐ tations” (1999: 156). Im digitalen Theater der Lockdowns verstricken sich Technologie und Bewusstsein auf neue Weise und kreieren so ein verändertes Theatererlebnis. Ultimativ entsteht ein neues ästhetisches Handwerkszeug für ein hybrides Theater der Zukunft, in dem sich virtuelle und reale Welten unauflösbar miteinander verflechten. Literaturverzeichnis Auslander, Philip (1999). Liveness. Performance in a Mediatized Culture. London und New York: Routledge. Auslander, Philip (2012). Digital Liveness: A Historico-Philosophical Perspective. PAJ: A Journal of Performance and Art 34 (3), 3-11. Batat, Wided (2021). Getting Phygital with Consumers. In: Ivey Business Journal (März/ April) https: / / iveybusinessjournal.com/ getting-phygital-with-consumers/ (abgerufen am 12.10.2022). Bial, Henry (2014). Performance Studies 3.0. In: Citron, Atay/ Aronson-Lehavi, Sharon/ Zerbib, David (Hrsg.). Performance Studies in Motion: International Perspectives and Practices in the 21st Century. London: Bloomsbury. Burckhardt, Martin (2014). Digitale Renaissance. Manifest für eine neue Welt. Berlin: Metrolit. Causey, Matthew (2016). Postdigital Performance. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Skizze des virtuell-physischen Aufbaus für Marionettentheater 3.0 im Tieranato‐ mischen Theater Abb. 2 und 3: Die Tänzerin Jungsun Kim im Mo-Cap-Anzug und ein Zuschauer in der VR. © Janina Janke Abb. 4: Das Bühnen-Setting für Virtual Wombs am HAU Hebbel-am-Ufer mit den Zuschauer: innen, die auf Drehhockern auf der Bühne platziert werden © Anna Fries/ hairygaze Abb. 5: Die Laptop-Bühne von werther.live mit multiplen offenen Fenstern und gleich‐ zeitiger Nutzung von Instagram, Apple Notes, und WhatsApp © punkt.live (Perffor‐ manccekollektiv my Jonny Hoff und Klara Wördemann) Abb. 6: Michi Maertens im phygitalen Spiel mit Transhumanismus in To Be a Machine/ Die Maschine in Mir 1.0 (Burgtheater Wien, 2021) © Marcella Ruiz Cruz Asynchron - Hybrid - Phygital 309 Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen Doris Kolesch Der Aufführungsbegriff kann mit Fug und Recht als ein, wenn nicht als das zent‐ rale Konzept der deutschsprachigen Theaterwissenschaft gesehen werden - und zwar sowohl mit Blick auf ihre Entstehung und institutionelle Etablierung zu Beginn des letzten Jahrhunderts, als auch mit Blick auf ihre Professionalisierung und nachhaltige Verankerung im Konzert geisteswissenschaftlicher Disziplinen in den letzten fünf Jahrzehnten. Bekanntlich ging die Theaterwissenschaft aus der Abgrenzung vor allem von der Literaturwissenschaft und ihrem Ge‐ genstand, dem Drama, hervor. Hierzu wurde die Aufführung als genuiner Gegenstand der neuen Disziplin etabliert, und zwar als „soziales Spiel […] - ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind, - Teilnehmer und Zuschauer“, wie Max Herrmann dies zu Beginn der 1920er Jahre postulierte (Herrmann 1981 [1920]: 19). Die Anerkennung des Aufführungsgeschehens als einer eigenständigen künstlerischen Leistung, die gleichwertig zu anderen künstlerischen Hervorbringungen aufgefasst wurde, war ein entscheidendes Moment in der Entwicklung und Etablierung der Theaterwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin mit entsprechenden Begrifflichkeiten und Methoden. Seit den 1960er Jahren wurde diese Bewegung gleichsam unter anderen Be‐ dingungen noch einmal wiederholt und weitergeführt, indem die Methode der Aufführungsanalyse entwickelt wurde. Zudem intensivierte die deutschspra‐ chige Theaterwissenschaft, dabei maßgeblich inspiriert von den Forschungen und Überlegungen Erika Fischer-Lichtes, den Dialog und Austausch sowohl mit anderen Geisteswissenschaften als auch mit den Sozialwissenschaften und prägte in diesem Zusammenhang die kulturwissenschaftlichen Leitbegriffe des Performativen und der Theatralität entscheidend mit, in denen Situationen und Szenen des Aufführens in künstlerischen wie außerkünstlerischen Zusammen‐ hängen einen geradezu paradigmatischen Stellenwert einnehmen. Zur historischen wie theoretischen Bedingtheit eines so verstandenen Auf‐ führungsbegriffes ist in den letzten Jahren einiges geforscht worden. So wurde davor gewarnt, den Aufführungsbegriff als ein flüchtiges, emergentes 1 Frl. Wunder AG. https: / / fraeuleinwunderag.net/ de/ wir/ (abgerufen am 12.02.2023). Geschehen in leiblicher Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern zu ontologi‐ sieren oder gar zu essentialisieren. Und Ulf Otto hat die diskursiven und wissen‐ schaftspolitischen Interessen herausgearbeitet, die sowohl in den Anfängen der Theaterwissenschaft um 1910 bis 1930 als auch in ihrer Konsolidierungsphase ab den 1960er und 1970er Jahren dazu geführt haben, dass sich die deutschspra‐ chige Theaterwissenschaft nicht nur vom Drama und von der Literaturwissen‐ schaft abzusetzen suchte, sondern zugleich auch von den jeweils neuen Medien Film, Video, Fernsehen und Computer (vgl. Otto 2013) - eine Suchbewegung, die sich nach der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Digitalisierungs‐ schub sowohl für die Theater als auch die Theaterwissenschaft in verschärfter Dringlichkeit erneut stellt (vgl. Wihstutz/ Vecchiato/ Kreuser 2022). Neben dieser wissenschaftsgeschichtlich wie diskursiv-theoretisch orien‐ tierten Kritik am Aufführungsbegriff stellt sich des Weiteren die Frage, inwie‐ fern aktuelle Erscheinungen und Phänomene in Kunst und Populärkultur den Aufführungsbegriff an seine Grenzen bringen, zugleich aber sein besonderes Potential und seine Leistungsfähigkeit erweisen. Ich möchte im Folgenden ar‐ gumentieren, dass eine wesentliche Strömung nicht nur des deutschsprachigen Gegenwartstheaters und der Gegenwartsperformance, nämlich partizipative, kollaborative und immersive Formate, den Aufführungsbegriff in seiner bis dato bekannten Form verabschieden, ihn jedoch zugleich als soziales Beziehungsge‐ schehen aller Beteiligten geradezu radikalisieren, indem es um die Darstellung, Inszenierung und Hervorbringung affektiver Dynamiken und komplexer Emo‐ tionsrepertoires geht. Exemplarisch seien hier nur drei Beispiele erwähnt, die belegen, welch hohe Relevanz der Inszenierung und Ermöglichung eines affektiven Beziehungsge‐ schehens in der Gegenwartsperformance zukommt. Die Frl. Wunder AG annon‐ ciert auf ihrer Homepage einmalige Erlebnisse und hautnahe Begegnungen, nämlich „Magic Moments“ 1 und über die Performance-Installation Das halbe Leid von Signa, die im Winter 2017/ 18 in Hamburg zu erleben war, hieß es auf der Website des Deutschen Schauspielhauses Hamburg: Wer das Gute sucht, der möge sich hier einfinden. Der Verein „Das halbe Leid“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, Empathiefähigkeit und Solidarität unter den sogenannten privilegierten Menschen zu fördern. Dazu werden 12stündige Kurse angeboten, in denen die neu entwickelte Methode der Identitätsteilung erprobt werden soll. Das halbe Leid e. V. ermöglicht es jeweils 50 Personen, eine Nacht unter „Leidenden“ und „Mitleidenden“ zu verbringen. Bislang galten diese Kurse als Geheimtipp in gehobenen Kreisen, doch werden sie künftig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich 312 Doris Kolesch 2 Deutsches SchauSpielHaus Hamburg. Das halbe Leid. https: / / schauspielhaus.de/ stuec ke/ das-halbe-leid (abgerufen am 12.02.2023). 3 Interrobang. Emocracy. https: / / www.interrobang-performance.com/ emocracy-2/ (ab‐ gerufen am 12.02.2023). gemacht. Selbst die Gründer des Vereins staunen darüber, dass manche Teilnehm‐ enden regelrecht süchtig nach dem geteilten Leid zu sein scheinen. 2 Last but not least beschreibt die Gruppe Interrobang ihre Produktion Emocracy, die von 2017 bis 2020 in Berlin, Kiev und Moskau aufgeführt wurde, wie folgt: In Emocracy kann das Publikum seine Gefühle, Wünsche und Überzeugungen direkt in das Spielgeschehen einspeisen. Zwei Performer*innen entwerfen ein Panorama von Lebensmöglichkeiten und prekären Alltagsszenen. Das Publikum kann in Echtzeit darauf reagieren und mit Abstimmungen und Aktionen die Erzählungen lenken und bewerten: Was spricht mich an, was regt mich auf, was stößt mich ab, was nimmt mich mit? Im Zusammenspiel aller Anwesenden entsteht jeden Abend eine neue gefühlspolitische Mikrogesellschaft. Wut, Witz und Liebe zählen mindestens genauso viel wie ein gutes Argument. 3 Diese Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Bühnen der Kunst derzeit eine ausgeprägte Sehnsucht nach großen Emotionen und starken Affekten zur Schau stellen. Im Zeitalter des vermeintlich Post-Faktischen werden Affekte und Emotionen gesucht und mobilisiert, nicht mehr Bildung, Erkenntnis, Einsicht oder auch Verstehen, um einige Leitbegriffe zu zitieren, die lange Zeit mit der Wirkung von Theater und Kunst in Europa assoziiert waren, derzeit aber offenbar ausgedient haben. Angesagt scheinen vielmehr Überwältigung, Verführung, Faszination, Rührung, aber auch Schock, Irritation und Erregung. Nun könnte man meinen, das war schon immer so - was sind denn Theater, Tanz und Performance anderes als kulturell wirkmächtige Dispositive der Darstellung wie Erzeugung von Emotionen? Schlaglichtartig seien hier einige wenige Praktiken und Konzepte aus der westlichen Theatergeschichte benannt, die stellvertretend für zahlreiche weitere Beispiele belegen, wie stabil sich bei aller historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Differenzierung im Einzelnen die Vorstellung von Theater als einer gut geölten Maschinerie der Darstellung und Herstellung von Emotionen durch die europäische Kulturge‐ schichte bis heute zieht. Zu denken wäre an die antike Katharsis-Lehre, also die Erregung von Jammer und Schaudern durch die tragische Verwicklung sowie die Reinigung von diesen Erregungszuständen, oder an die erste genuine Schauspieltheorie der Neuzeit, die 1727 erschienene Dissertatio de Actione Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen 313 Scenica (Abhandlung über die Schauspielkunst) des Jesuitenpaters Franciscus Lang. Darin schreibt er: „Als Schauspielkunst bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen.“ (Lang 1975 [1727]: 163; Hv.i.O.). Ein paar Jahrzehnte später, gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir Rezeptionszeugnisse von Theaterbesuchern, die in Tagebüchern oder auch Briefen mit Stolz und Inbrunst hervorheben, dass sie mal wieder drei Stunden im Theater „geweinet und geschluchzet“ haben. Heftige emotionale Erregungen und starke körper‐ liche Affektionen wie tiefe Rührung, lange anhaltendes, erschüttertes Weinen, Seufzen, Schluchzen, anteilnehmendes Aufspringen und Geschrei, ja sogar Ohn‐ machten kennzeichneten das Verhalten und die Reaktionen des empfindsamen Theaterpublikums. Als letztes Beispiel in dieser unsystematischen und fragmentarischen Reihe möchte ich aus dem 20. Jahrhundert noch Antonin Artauds Vision eines Theaters der Grausamkeit in Erinnerung rufen: Das Theater der Grausamkeit ist geschaffen worden, um dem Theater den Begriff eines leidenschaftlichen, konvulsivischen Lebens zurückzugeben; und im Sinne dieser heftigen Unerbittlichkeit und äußersten Verdichtung der Bühnenelemente muß die Grausamkeit verstanden werden, auf die es sich gründen soll. (Artaud 1979: 131) Doch trotz dieser und zahlreicher weiterer Belege aus der Theatergeschichte reicht die Erklärung, dass Theater, Tanz und Performance seit jeher von und mit Gefühlen handeln, nicht aus, um zu erläutern, weshalb Emotionen zu der Währung der Gegenwartskunst und überhaupt der Gegenwart geworden sind - und zwar im konkreten wie übertragenen Sinn. Nach den ironischcoolen Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts und den beschleunigtambivalenten Nullerjahren scheinen die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhun‐ derts durch die Ausstellung und Vorführung intensiv erlebter Emotionen charakterisiert, ob in der Politik, der Werbung, der Kunst oder in den sozialen Medien und der mediatisierten Populärkultur. Und während bis dato in den Wissenschaften die Psychologie für Gefühle zuständig war, entdecken und untersuchen in jüngster Zeit zahlreiche kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen - von der Theater-, Tanz- und Musikwissenschaft über die Affect Studies, die Philosophie, die Literaturwissenschaft und Geschichte bis hin zu Soziologie, Ethnologie, Politologie und Ökonomie - die Bedeutungen affektiver und emotionaler Dynamiken in ihren Auswirkungen sowohl für die Einzelnen als auch das soziale und gesellschaftliche Miteinander (vgl. u.a. Slaby/ von Scheve 2019). 314 Doris Kolesch Im Bereich der performativen Künste sind nicht nur die einleitend genannten drei Beispiele von Frl. Wunder AG, SIGNA und Interrobang ein Indiz für die Virulenz von Gefühlen und Emotionen als Thema, Medium und Material der Gegenwartskunst. Auch die deutliche Zunahme immersiver Theaterformen in den letzten Jahren und die - bisweilen naive - Betonung von Partizipation als einer quasi-demokratischen, enthierarchisierten Teilhabe aller am künstler‐ ischen Ereignis, das vielfach als soziales Experiment verstanden wird, müssen hier genannt werden. Charakteristisch für diese Aufführungen ist, dass das Publikum durch verschiedene Strategien der Immersion in das aufgeführte Ereignis emotional involviert wird und dass die gängige Unterscheidung zwi‐ schen künstlerischer und außerkünstlerischer Wirklichkeit nicht mehr greift. Hier geht es paradoxerweise darum, im künstlerischen Rahmen eben diesen Rahmen zu verlassen und statt der bloßen Darstellung und Wahrnehmung von Emotionen und Affekten diese nicht nur zu erfahren, sondern handelnd und erlebend auszuagieren, was selbst wiederum integraler Bestandteil des Aufführungsgeschehens wird. Genau mit diesem Umstand ist jedoch eine Konsequenz verbunden, die den Aufführungsbegriff in seiner bisherigen Kontur und seinem bisherigen Verständnis an seine Grenzen bringt: wurde bislang doch immer von einer Aufführung gesprochen. Bei zahlreichen partizipativen und immersiven Ar‐ beiten jedoch sind wir konfrontiert mit einer strukturell angelegten Diversität unterschiedlicher Aufführungen, die daraus resultieren, dass Zuschauende unterschiedliche Parcours durch einen Abend vorgeschrieben bekommen, dass durch one-on-ones einzelne Teilnehmende aus dem Publikum herausgelöst werden und dass insgesamt das zu erlebende Geschehen durch zahlreiche räum‐ lich-szenographische wie dramaturgische Entscheidungen diversifiziert und individualisiert wird. Dies geht weit über die bei Prozessen der Kunstrezeption und bei Wahrnehmungserfahrungen allgemein immer zu bedenkende und zu berücksichtigende Subjektivität individueller Wahrnehmung, Achtsamkeit und Sensibilität hinaus. Statt einer Aufführung am Abend gibt es eine unüberschau‐ bare Serie von Aufführungsversionen, die sich in Struktur und Gesamtanlage ähneln, in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch signifikant unterscheiden. So provozieren immersive und partizipative Formate der Gegenwartskunst fol‐ gende Fragen: Wie kann die strukturelle Serialität und zugleich radikale Singula‐ rität einzelner Aufführungsversionen angemessen beschrieben und untersucht werden? Welchen Stellenwert können Beobachtungen und Überlegungen, die aus der Erfahrung einer einzelnen, konkreten Aufführungsversion resultieren, im Hinblick auf das künstlerische Gesamtereignis beanspruchen? Wie können wir Aussagen anderer Teilnehmer/ innen überprüfen, die im Widerspruch zu Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen 315 eigenen Aufführungserfahrungen stehen? Die Theaterwissenschaft ebenso wie angrenzende Kunstwissenschaften müssen hier geeignete Methoden, Verfahren und Beschreibungsweisen entwickeln, um diese und ähnliche Fragen und die konstitutive Multibzw. Polyperspektivik, die die Serie unterschiedlicher Aufführungsversionen entfaltet, zu beschreiben und zu analysieren (vgl. dazu Kolesch/ Schütz 2022 und Kolesch/ Warstat 2019). Aufführen ist im Deutschen entweder ein reflexives oder ein transitives Verb: Man kann sich aufführen, oder man kann etwas (ein Spektakel, eine Szene, ein Stück etc.) aufführen. Der Aufführungsbegriff ist also noch immer auf einen - wenn auch bisweilen immateriellen - Gegenstand (z.B. ein Thema) bezogen, der bzw. das aufgeführt wird. Was aber geschieht, wenn - wie bei zahlreichen im‐ mersiven Performance-Installationen und partizipativen Theaterformaten - gar nichts mehr aufgeführt wird, sondern es um die Ermöglichung unterschiedlicher Szenen sozialer Interaktion und wechselseitiger Affizierung - sei es in Resonanz oder eher Dissonanz - geht? Wer nach dem Grund für diese Sehnsucht nach großen Gefühlen fragt, dem bieten sich mehrere Erklärungen an. Da ist zum einen die These von der zuneh‐ mend abstrakter, unüberschaubarer und un(be)greifbarer werdenden Gegen‐ wart. In einer Welt, in der Liebesbeziehungen per SMS beendet, Kommunikation an Call-Center delegiert und zahlreiche Praktiken des alltäglichen Lebens per Mouseklick im Internet getätigt werden, wachse das Bedürfnis nach konkreten, leibhaftigen Erfahrungen und Anschauungen. Eine andere kursierende These verweist auf die neoliberale Event- und Spektakelkultur, in der die Arbeit an einem flexiblen Selbst und das chamäleonartige Anpassen an unterschiedlichste Situationen verbunden mit einem entsprechenden Emotionsmanagement zum gesellschaftlichen Imperativ gehören. Hier sei, so Kritiker, eine regelrechte experience industry entstanden, die den Einzelnen glauben mache, für sein Glück und seine Erfahrungen selbst verantwortlich zu sein, ihm letzten Endes perfiderweise aber doch nur, wenngleich unter geänderten Vorzeichen, die Position eines Konsumenten zuweise und von wirklicher Handlungsfähigkeit oder gar Handlungsmacht im starken Sinn des Wortes weit entfernt sei. So plausibel diese Erklärungsansätze erscheinen, sie reichen meines Erach‐ tens nicht hin, um die Virulenz von Emotionen und Affekten und deren Relevanz insbesondere auch in künstlerischen Zusammenhängen zu erläutern. Gerade künstlerische Auseinandersetzungen mit Gefühlen und Affekten können dazu beitragen, ein Verständnis von Emotionen zu entwickeln bzw. dafür zu sensibili‐ sieren, das in der bisherigen Beschäftigung mit Emotionen häufig unterbelichtet blieb. Zumeist nämlich werden Emotionen nur als Begleitumstände, als eine Art Färbung von Handlungen oder als zu Auffassungen, Positionen und Situa‐ 316 Doris Kolesch tionen zusätzlich hinzutretendes Moment einer Bewertung oder Einordnung aufgefasst. Demgegenüber wäre es wichtig, Emotionen als Modi des Weltver‐ hältnisses zu beschreiben und zu analysieren. Nicht als Begleiterscheinung unserer Welterfahrung, sondern als Art und Weise des In-der-Welt-Seins und als Erfahrung von Welt. Wenn ich in Interrobangs Emocracy gelangweilt aufstehe und den Daumen nach unten zeige - das vorher erläuterte Zeichen, wenn ich eine Geschichte nicht weiterhören möchte -, oder wenn ich in freudiger Erwartung des Gesche‐ hens mit anderen im Publikum für Licht, Musik und atmosphärischen Nebel auf der Bühne stimme, dann sind Langeweile oder freudige Erwartung nichts, was von der Wahrnehmung und Erfahrung dieser Aufführungssequenzen ab‐ gezogen werden könnte, ich könnte diese Passagen nicht neutral, nicht ohne ihr affektives und emotionales Gegebensein beschreiben, sondern diese Gefühle sind die Art und Weise, wie diese Szenen von mir erfahren wurden. Mit diesem Verständnis von Emotionen als Modi des Weltverhältnisses ist eine weitere Neuakzentuierung verbunden. Während die bisher dominante psychologische Forschung Gefühle als innere Zustände eines Subjekts kon‐ zeptualisierte, unterstreicht ein Verständnis von Emotionen als Formen der Erfahrung von Welt die relationale Dimension von Emotionen und Affekten. Freude, Wut, Trauer, Zorn, Ekel, Ärger oder auch Scham sind nicht einfach innere Zustände eines Subjekts, sondern sie verbinden vor allem dieses Subjekt mit anderen Subjekten, aber auch mit seiner weiteren belebten wie unbelebten Umwelt (vgl. Röttger-Rössler/ Slaby: 2018). Insbesondere Theater, Tanz und Performance können wesentlich dazu bei‐ tragen, Emotionen als relationales Geschehen zwischen Menschen ebenso wie zwischen Menschen und Umgebungen zu verstehen, und nicht einfach als biologische oder psychologische Prozesse. Und zwar weil Aufführungen spezifische künstlerische Formate des Zusammenkommens von Menschen und Dingen sind. In ihnen also wird Relationalität selbst thematisch, sie wird ge‐ zeigt, vorgeführt, gestaltet. Aufführungen wie die eingangs erwähnten, können daher vor allem als soziales Beziehungsgeschehen zwischen allen Anwesenden beschrieben werden. Ich möchte dies abschließend am Beispiel immersiver Situationen ausführen (vgl. Kolesch 2021: 422-441). Zunächst ist bemerkenswert, dass immersive Situationen und Settings charakteristisch nicht nur für ästhetische Formationen in Theater, Film, Video, Computerspiel oder auch Virtual Reality-Anwendungen sind, sondern verstärkt alle nur denkbaren gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche durchziehen: vom militärischen Einsatz immersiver Szenarien zur Kriegsvorbereitung und Soldatenausbildung über medizinische Anwendungen, Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen 317 unterschiedliche edukativ-didaktische Kontexte wie die Museumspädagogik oder die Vermittlung verschiedenster Wissensbestände und Erfahrungsformen, ökonomisierte Werbe-, Konsum- und Arbeitswelten bis hin zur Erlebnis- und Unterhaltungsindustrie. Immersion leitet sich vom lateinischen Verb immergere her, das ursprünglich das Eintauchen eines Körpers oder Gegenstands in eine Flüssigkeit bezeichnet und im übertragenen Sinn das Sich-Versenken, Sich-Vertiefen in eine bestimmte Situation. Von daher werden Immersionserfahrungen häufig beschrieben als Eintauchen, als Verschmelzen und als Aufgehen in einer anderen Welt. Es gibt aber ein weiteres, insbesondere in der Theater- und Medienwis‐ senschaft etabliertes Begriffsverständnis, welches Immersion gerade nicht als unreflektiertes Eintauchen, als naives Verschmelzen mit einer medial gestalteten Welt versteht, sondern als Unterbrechung der ästhetischen Illu‐ sion. Dieses Verständnis von Immersion als Unterbrechung der ästhetischen Illusion möchte ich für das Nachdenken über immersive Theaterformate produktiv machen. Für diese nämlich, so meine These, ist insbesondere das Moment der Distanz, des Bruchs konstitutiv für die Erfahrung tiefer Versun‐ kenheit oder intensiver Immersion. Mit anderen Worten prägt vor allem die Spannung zwischen dem Eintauchen in eine künstliche oder auch virtu‐ elle Welt und dem Auftauchen aus dieser Situation Immersionserfahrungen in theatralen Aufführungen und performativen Installationen. Gleichwohl gehört es zum Mythos der Diskurse des Immersiven, einseitig Erfahrungen des Eingetauchtseins, des vollkommenen Gebanntseins in einer anderen Welt zu betonen und das für das Erleben dieser Erfahrungen wesentliche Moment der Distanz und des Rahmenbewusstseins häufig zu unterschlagen. Insbesondere in künstlerischen Zusammenhängen - und das ist vielleicht eine ihrer (selbst-)reflexiven Stärken - wird deutlich, dass die bloße Hingabe an die Illusion, die Bereitschaft, sich verführen zu lassen und sich distanzlos der Sogwirkung einer Illusion emphatisch hinzugeben zur Erklärung immersiver Situationen und Erfahrungen nicht hinreicht. Vielmehr geht es, so meine These, um eine subtile Choreographie von Eintauchen und Auftauchen, um das Zusammenspiel von Illusionierung und Desillusionierung. Spezifisch für die zunehmenden Immersionserfahrungen ist neben ihrer perzeptiven Intensität auch ihre physisch-körperliche Dimension, egal ob es sich um Desorientierung, Schwindel, Schock oder auch (den Eindruck per‐ fekter) Körperbeherrschung handelt. Dabei sind durchaus mediale wie histori‐ sche Unterschiede von Immersionserfahrungen zu differenzieren. So scheinen sich künstlerische immersive Welten von außerkünstlerischen dadurch zu unterscheiden, dass die Welten des Konsums, der Arbeitswelt oder auch 318 Doris Kolesch des Computerspiels eher das Gefühl der narzisstischen Selbstversicherung zu befördern scheinen, während künstlerische Entwürfe demgegenüber eher dystopische, verunsichernde und irritierende Aspekte in den Vordergrund stellen. Doch künstlerische ebenso wie technische Entwicklungen allein er‐ scheinen nicht hinreichend, um die gegenwärtige Faszination des Immersiven zu erklären. Wenn, wie gerade erläutert, Immersion nicht einfach als Erweiterung und Totalisierung von ästhetischer Illusion, sondern gerade als deren Unterbrechung und Bruch verstanden werden muss, dann wäre Immersion weniger als to‐ tales, überwältigendes Spektakel des Eintauchens oder der Verschmelzung zu konzeptualisieren, sondern vielmehr als ein Bewusstmachen der spezifischen Betrachterposition, als ein Aufmerksam-Machen auf die kritische Beziehung zur Darstellung. Entsprechend müsste das kritische Potential einer Ästhetik der Immersion entfaltet werden. Ein Ansatzpunkt in unserer vernetzten, globa‐ lisierten Welt könnte sein, dass die künstlerische Gestaltung immersiver Räume dafür sensibilisieren kann, dass es einen gleichsam archimedischen Punkt der Weltbetrachtung, einen richtigen Standpunkt nicht mehr gibt, und wie diese Vielzahl von Perspektiven und Positionen miteinander verwoben ist, bisweilen auch im Widerstreit miteinander liegt. Immersionserfahrungen unterlaufen etablierte Vorstellungen von Räumen als abgegrenzten, Container-gleichen Orten und damit verbundenen festen Perspektiven und Standpunkten, indem Räume, Grenzen und Sichtweisen verflüssigt werden. Das damit verbundene Potential ist meines Erachtens im Kontext zweier miteinander verbundener, weitreichender Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu sehen: Zum einen haben wir es mit einem noch unklar und vage sich abzeichnenden neuen Modell des Verhältnisses des Menschen zur Welt zu tun. War spätestens seit der Aufklärung der distanzierte Überblick und die rational-abwägende, vermeintlich unbeteiligte Betrachtung dominant, so sind die Einseitigkeit und Problematik dieser Sichtweise in den letzten Jahrzehnten umfangreich und aus unterschiedlichsten Perspektiven thematisiert und kritisiert worden. Das zunehmende Interesse an emotionaler Intelligenz, die Betonung von Empathie, von intuitiven Entscheidungsprozessen, wie auch von affektiven Relationen und Resonanzen nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch in politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder edukativen Kontexten seien hier nur exemplarisch als Beispiele genannt. So sind es in naturwis‐ senschaftlicher, in wirtschaftlich-politischer und in kulturwissenschaftlicher Hinsicht meines Erachtens drei Phänomene, die den Blick auf die Welt und den Versuch des Menschen, sich in und mit ihr zu positionieren, in den letzten Jahr‐ Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen 319 4 Interrobang. Emocracy. https: / / www.interrobang-performance.com/ emocracy-2/ (abgerufen am 12.02.2023). zehnten geprägt haben: Klimakatastrophe, Globalisierung und postkoloniales Denken. Alle drei kennzeichnet, dass sie nicht mehr aus einer Perspektive des Gegenüber, nicht mehr aus der Perspektive des einen Überblicks formuliert und erklärt oder auch gestaltet werden können, sondern nur durch Einnahme und Akzeptanz der Position eines vielfach vernetzten Mittendrin. Zum zweiten ist der rationale und distanzierte Überblick, der immer wieder avisiert und zugleich beständig verfehlt wird, eng mit bestimmten Kulturtech‐ niken und Technologien verbunden. In früheren Jahrhunderten waren dies bei‐ spielsweise die Zentralperspektive oder auch die (malerische) Perspektive aus der Vogelschau, aber auch Technologien der Ausbeutung, der Unterdrückung und Abwertung. Heute ist selbst im Alltag eine Kombination verschiedener (Medien-)Techniken geradezu omnipräsent. Im 21. Jahrhundert suggerieren uns Satellitenbilder von Oben, trivialisiert z.B. als Google Earth, den souveränen Überblick - doch dabei bleibt es nicht: Der Überblick von Oben wird verbunden mit einem visuellen Hineinzoomen in konkrete Orte eines politischen Gesche‐ hens, einer militärischen Auseinandersetzung, einer Naturkatastrophe oder auch einer sozialen Situation. Die Message ist klar: Bequem auf meinem Sofa sitzend, kann ich paradoxer Weise Überblick (Google Earth) und Immersion (das Hineinzoomen) auf höchst realistische und zugleich phantasmatische Weise realisieren. Vor dem Fernseher oder am Computerbzw. Smartphone-Bildschirm sitzend bin ich zugleich - so die Illusion - im Zentrum des Geschehens, dabei al‐ lerdings abgekapselt und geschützt vor den (lebens-)gefährlichen Dimensionen von Naturkatastrophen oder kriegerischen Auseinandersetzungen. Damit wird das widersprüchliche Versprechen von Überblick und zugleich Eingebettet- Sein, von kritischer Distanz und perzeptivem, affektivem wie körperlichem Eintauchen in eine Situation gegeben. Diese komplexe Konstellation macht Immersion meines Erachtens im Alltag wie in der Kunst so attraktiv: sie verspricht Einsicht durch Eintauchen, Kompetenz und Durchdringung nicht durch das Aufbauen, sondern im Ge‐ genteil das Eliminieren von Distanzen, sie verspricht die paradoxe Trennung und zugleich Verflüssigung von Medium und Welt. Oder, in den Worten von Interrobang: „Wut, Witz und Liebe zählen mindestens genauso viel wie ein gutes Argument.“ 4 320 Doris Kolesch Literatur Artaud, Antonin (1979). Das Theater der Grausamkeit (Zweites Manifest). In: Ders. Das Theater und sein Double. Frankfurt/ M.: Fischer Taschenbuch. Deutsches SchauSpielHaus Hamburg. Das halbe Leid. https: / / schauspielhaus.de/ stuecke / das-halbe-leid (abgerufen am 12.02.2023). Frl. 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Aufführungen als soziales Beziehungsgeschehen 321 Autorinnen und Autoren Christopher Balme ist Professor für Theaterwissenschaft an der LMU Mün‐ chen und Ko-Direktor des Käte Hamburger Kollegs „Global Dis: connect“. Forschungsschwerpunkte: Theater und Globalisierung, Theater als Institution, postkoloniales Theater. Gabriele Brandstetter ist Professorin für Tanz- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Projektleiterin im SFB „Intervenierende Künste“. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Virtuosität in Kunst und Kultur, Beziehung von Körper, Bild und Bewegung. Barbara Gronau ist Professorin an der Universität der Künste Berlin und seit 2022 Präsidentin der Bayerischen Theaterakademie „August Everding“. Forschungsschwerpunkte: Schnittstellen von Bildender Kunst und Theater, Theorien der Agency und Performanz sowie Epistemologien des Ästhetischen. Christian Horn ist forschender Kulturmanager. Er entwickelt Formate der Erinnerungskultur (Ausstellungen, Events, Publikationen), implementiert neue Museumskonzepte und engagiert sich für Aufbau und Pflege von Ökosystemen für kreatives Tun. Torsten Jost ist Postdoktorand und Academic Coordinator am Exzellenzcluster 2020 „Temporal Communities: Doing Literatur in a Global Perspective“. For‐ schungsschwerpunkte: Gertrude Stein Forschung, Verflechtungen von Theater‐ kulturen, Praktiken und Theorien des Zuschauens. Doris Kolesch ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Uni‐ versität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theatralität und Performativität, Stimme und Akustische Kultur, kulturwissenschaftliche Affekt- und Emotions‐ forschung. Andreas Kotte ist Emeritus am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte und systematische Theater‐ wissenschaft. Friedemann Kreuder ist Professor für Theaterwissenschaft an der JGU Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theater Richard Wagners, Geistliches Spiel des Mit‐ telalters, Theater der Frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts, Gegenwarts‐ theater, Theaterwissenschaft als sozialwissenschaftliche Differenzierungsfor‐ schung. Peter W. Marx ist Professor für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität zu Köln sowie Direktor der Theaterwissenschaftlichen Sammlung. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte seit der Frühen Neuzeit, Fragen der Theater- und Medienhistoriographie. Ramona Mosse ist Studienleitung Theater an der Zürcher Hochschule der Künste. Forschungsschwerpunkte: Digitale Dramaturgien, Intermedialität und Theater, Künstlerische Forschung, Theater im Anthropozän, Politisches Theater, Moderne Tragödie, Shakespeare. Clemens Risi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Friedrich-Ale‐ xander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Musikthe‐ ater vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Affekte und Emotionen in Musik und Theater, Rhythmus und Zeiterfahrungen im Theater. Jens Roselt ist Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Probenforschung, Aufführungsanalyse, Ästhetik des Kostüms, Theater und Institutionenkritik. Jenny Schrödl ist Juniorprofessorin an der Freien Universität Berlin. For‐ schungsschwerpunkte: Gegenwartstheater, Performancekunst seit den 1960er Jahren, Gender, Queer und Diversity Studies, Stimme und Sound. Natascha Siouzouli ist Assistant Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Peloponnes, Griechenland. Ihr jüngstes Buch: Ethical Militancy - The Workings of Aesthetics ist 2022 bei Neofelis, Berlin, erschienen. Nina Tecklenburg ist Professorin für Theater und Performance (Bard College Berlin) und Performancekünstlerin (Interrobang). Forschungsschwerpunkte: Theater und Digitalität, Partizipation, Erzählforschung, Gegenwartstheater und Performancekunst, künstlerische Forschung. Matthias Warstat ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Uni‐ versität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politisches Theater, Theater und Gesellschaft, Theatergeschichte der Moderne. 324 Autorinnen und Autoren Christel Weiler war von 1996 bis 2017 Akademische Oberrätin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, ab 2009 Programmdirektorin des Internationalen Forschungskollegs „Verflechtungen von Theaterkulturen“. Forschungsschwerpunkte: Aufführungsanalyse, Ästhetik des Gegenwartsthea‐ ters. Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der JGU Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theater und Performance der Gegenwart, ästhetische und politische Theorie, Geschichte des Theaterpublikums, Perfor‐ mance und Dis/ ability. Autorinnen und Autoren 325 ISBN 978-3-7720-8785-1 Im Zentrum von Erika Fischer-Lichtes theaterwissenschaftlichem Schreiben steht der Begriff der Aufführung. Die Beiträge dieser Festschrift zeigen, wie heute in der Theaterwissenschaft und in den Performance Studies mit dem Aufführungsbegriff gearbeitet wird, welche Tendenzen der Veränderung von Aufführungen aktuell zu beobachten sind und welche Perspektiven der Begriff für die Zukunft eröffnet.