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Andacht oder Abenteuer

2020
978-3-8233-9388-7
Gunter Narr Verlag 
Hartmut Kühne
Gunhild Roth
10.24053/9783823393887
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Der Band publiziert Vorträge zweier Tagungen der Deutschen Sankt Jakobus-Gesellschaft. Die Beiträge zur Nürnberger Tagung von 2017 untersuchen (scheinbar disparate) Veränderungen und Kontinuitäten von Pilgerfahrten und Wallfahrtskulten, deren Erfahrungen und Rahmenbedingungen. Die Beiträge der Tagung von 2015 zur einst bedeutenden Wilsnacker Wallfahrt dokumentieren einen deutlichen Forschungsfortschritt und bieten neue Erkenntnisse in die Zusammenhänge zwischen den sogenannten großen Wallfahrten (Santiago de Compostela, Rom, Jerusalem) sowie Pilgerzentren und regionalen Wallfahrten im römisch-deutschen Reich.

Andacht oder Abenteuer Jakobus-Studien 22 im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Robert Plötz im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Peter Rückert Hartmut Kühne, Gunhild Roth (Hrsg.) Andacht oder Abenteuer Von der Wilsnackfahrt im Spätmittelalter zu Reiselust und Reisefrust in der Frühen Neuzeit Umschlagabbildung 1: Hyr ryth de Bischop mith synem gesynde vme | Jnnicheyt na der Wilsnagk. Aus: „De hystorie vnde erfindinghe des hilighen Sacraments tho der wilssnagk“. Flugblatt, Magdeburg um 1510, Ausschnitt (untere Reihe, 2. v. links). Umschlagabbildung 2: aus dem Druck der „Gräfin von Anhalt“, Bl. al V . Kraków/ Krakau, Biblioteka Jagiellońska, URL https: / / jbc.bj.uj.edu.pl/ publication/ 240606 (Stand 2.10.2019). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0934-8611 ISBN 978-3-8233-8388-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9388-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0206-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Dieser Band ist Robert Plötz gewidmet, der die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft maßgeblich geprägt hat: als Gründungsmitglied, als langjähriger Präsident und als Herausgeber unserer Buchreihe Jakobus-Studien. Mit ihm verlieren wir nicht nur einen Forscher, sondern auch einen Pilger, der sich unermüdlich und erfolgreich unserem Heiligen und seinem Kult widmete. Robert Plötz verstarb am 26. August 2017. Möge Jakobus ihn auch nach seiner irdischen Pilgerfahrt weiter begleiten. E Ultreia. 7 Inhaltsverzeichnis Hartmut Kühne und Gunhild Roth Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek Fürsten und Adlige in Wilsnack - sowie ein wiederaufgefundenes Gebet des Konrad von Weinsberg zum Heiligen Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Jan van Herwaarden Wilsnack in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Enno Bünz und Hartmut Kühne Die Wettiner und Wilsnack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Jan Hrdina Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa, 1370 bis 1430. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Toni Aigner Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums . . . . 117 Hartmut Kühne Rom - Jerusalem - Wilsnack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke gegen das (Wilsnacker Wunder-)Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Carina Brumme Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Oliver Duntze und Hartmut Kühne Nachweise der Erstbzw. Vorverwendungen der Holzschnitte im Druck der „Gräfin von Anhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Klaus Herbers Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 - ein Beispiel für den Niedergang der Compostelafahrten nach der Reformation? . . . . . . . . 257 Mordechay Lewy Konfessionelle Konfrontation und Ambiguität zwischen protestantischen Pilgern und katholischen Mönchen im Jerusalem des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Rainald Becker Wallfahrt und Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Resúmenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Register der Orts- und Personennamen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 8 Inhaltsverzeichnis Einleitung 9 Einleitung Hartmut Kühne und Gunhild Roth Vorbemerkung Auf dem Umschlag dieses Bandes finden sich zwei Holzschnitte. Der eine zeigt einen reitenden Bischof in Begleitung seines Gesindes. Gemeint ist der Havelberger Bischof, der dem Dörfchen Wilsnack zustrebt, das 1383 in einer Fehde verbrannt wurde, dank des Fundes von geweihten Hostien, die das Feuer verschonte, aber rasch zu einem europaweit bekannten Pilgerzentrum aufstieg. Der Bischof mit seinem Gefolge steht so auch für die vielen Tausende von Pilgern, die sich am Ende des Mittelalters nach Wilsnack auf den Weg machten. Der zweite Holzschnitt zeigt ein Schiff mit gerefften Segeln. In dem zugehörigen Druck, den der vorliegende Band behandelt, trägt es die Protagonisten der Erzählung an die spanische Küste vor Santiago de Compostela. Ursprünglich illustrierte er aber die weit exotischere Reise des Italieners Lodovico de Varthema, der im ersten Jahrzehnt des 16.-Jahrhunderts bis nach Indien und möglicherweise noch darüber hinaus in den Osten reiste. Diese beiden Holzschnitte, die fast gleichzeitig entstanden, illustrieren verschiedene Erfahrungswelten und scheinen so geeignet, die unterschiedlichen Schwerpunkte dieses Bandes zu markieren, der die Vorträge zweier Tagungen der Deutschen Sankt Jakobus-Gesellschaft Aachen e. V. vereint. Vom 8. bis 11. Oktober 2015 wurde in Bad Wilsnack zum Thema „Von der Apostelverehrung zur eucharistischen Frömmigkeit - Wilsnack als europäisches Pilgerzentrum“ getagt und vom 1. bis 3. Oktober 2017 in Nürnberg unter dem Titel „Pilgerfahrten und Heiligenverehrung zwischen Humanismus und Konfessionalisierung“. Die Tagung in Bad Wilsnack wurde gemeinsam von Volker Honemann und Hartmut Kühne vorbereitet, die in Nürnberg von Hartmut Kühne in Zusammenarbeit mit Klaus Herbers und vor allem und wie immer den Mitarbeitenden der Aachener Geschäftsstelle. Nach dem überraschenden Tod von Volker Honemann Ende Januar 2017 trat Gunhild Roth in die Herausgeberschaft ein und übernahm auch die redaktionelle Betreuung der Beiträge. Die Herausgeber danken den Beiträgern für ihre Bereitschaft, uns ihre Vorträge zum Druck zu überlassen und sie zu überarbeiten. Aus unterschiedlichen Gründen konnten leider nicht alle Beiträge der beiden Tagungen zum Druck gelangen, es gab aber zudem zwei Ergänzungen (s. u.). Auch aufgrund der re- 10 Hartmut Kühne und Gunhild Roth lativ geringen Zahl von Beiträgen wurde - wie bereits einige Male zuvor - im Wissenschaftlichen Beirat empfohlen, diese beiden Tagungen im Verbund zu publizieren. Nicht nur die Herausgeber haben einen schweren Verlust zu beklagen. Der Gründungspräsident und langjährige Präsident der Gesellschaft, Dr. Robert Plötz, hatte für die Nürnberger Tagung einen Beitrag über Stephan III. Praun (1544-1591) angekündigt. Leider konnte er diesen wegen seiner schweren Erkrankung nicht mehr ausarbeiten, er verstarb unerwartet am 26.-August 2017 in Würzburg. Seinem ehrenden Andenken sei der Band in dankbarer Erinnerung gewidmet. 1. Zum Profil der Nürnberger Tagung: Pilgern zwischen Humanismus und Konfessionsbildung In der Vorbereitung der Jahrestagung 2017, die im Kontext eines geradezu überbordenden Gedenkmarathons zum Beginn der deutschen Reformation stattfand, erwies es sich als schwierig, angesichts der allerorten und allenthalben begangenen Reformationsfeiern, -tagungen und -ausstellungen, Themen zu benennen und Vortragende zu gewinnen, die nicht bereits andernorts behandelt bzw. verpflichtet waren. Der Wissenschaftliche Beirat der Gesellschaft hatte sich daher bewusst entschieden, nicht die zentralen Gestalten oder Themen der Reformationsgeschichte in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen, zumal Volker Honemann auf der Würzburger Jahrestagung 2014 das Thema Martin Luther, das Wallfahrten und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela ausführlich behandelt hatte. 1 Es sollte vielmehr darum gehen, Veränderungen und auch Kontinuitäten von Pilgerfahrten und Wallfahrtskulten der frühen Neuzeit in den Blick zu nehmen, die abseits der vermeintlichen Hauptlinien der kirchengeschichtlichen Entwicklung stattfanden. Die so entstehende thematische Breite lässt sich zumindest nicht auf den ersten Blick zu einem einheitlichen Bild formen. Es sind also disparate Beobachtungen und Erzählungen über die Erfahrungen und Rahmenbedingungen von Pilgerfahrten zwischen 1500 und 1700, die sich in den Vorträgen widerspiegeln. Thematisch und chronologisch setzt der Bogen beim deutschen Humanismus ein, der in den letzten Jahrzehnten zumindest in den Kreisen der Wissenschaft das Image, eine antikirchliche und gewissermaßen voraufklärerische Bewegung 1 Volker Honemann, Martin Luther, das Wallfahren und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela, in: Jakobus in Franken. Kult, Kunst und Pilgerverkehr, hg. von Robert Plötz/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 22, 2018) S.-201-222. Einleitung 11 gewesen zu sein, verloren hat. 2 Dadurch wurde auch das Verhältnis der Vertreter dieser Bewegung zu Formen privater Devotion und traditioneller Kirchlichkeit neu in den Blick genommen, so zum Klosterleben 3 , zur Heiligenverehrung 4 , zur liturgischen Dichtung 5 , zur Wunderzeichendeutung 6 , zum Ablasswesen 7 und auch zur Wallfahrtspraxis. Zu Humanisten auf Pilgerfahrt hatte der Würzburger Mediävist und Humanismusspezialist Franz Fuchs in den letzten Jahren schon publiziert. 8 Daher war es ein großer Gewinn für die Tagung, ihn für einen Beitrag über den Nürnberger Humanisten und für die Frühgeschichte der Wittenberger Universität bedeutenden Juristen Christoph Scheurl gewinnen zu können. 9 Der Vortrag verfolgte den sich dezidiert gegen die Reformation stellenden Gelehrten auf seinen Reisen insbesondere nach Spanien, wofür die bis heute im Familienarchiv bewahrten Reisebücher Scheuerls erstmals ausgewertet wurden. Wir bedauern es sehr, dass wir auf den Beitrag von Franz Fuchs für diesen Band verzichten müssen. 2 Vgl. dazu jetzt den Sammelband Wie fromm waren die Humanisten? , hg. von Berndt Hamm/ Thomas Kaufmann (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 33, 2016). 3 Vgl. u. a. Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanismus im Dialog (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32, 2006). 4 Angelika Dörfler-Dierken, Die Verehrung der heiligen Anna in Spätmittelalter und früher Neuzeit (1992); Gabriela Signori, Humanisten, heilige Gebeine, Kirchenbücher und Legenden erzählende Bauern. Bemerkungen zur Geschichte der vorreformatorischen Heiligen- und Reliquienverehrung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999) S.-203-244; Volker Honemann, „Spätmittelalterliche“ und „humanistische“ Frömmigkeit: Florian Waldauf von Waldenstein und Heinrich Bebel, in: Tradition and innovation in an era of change = Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit, hg. von Rudolf Suntrup/ Jan R. Veenstra (2001) S.-75-98. 5 Volker Honemann, Christlicher Humanismus und Liturgie: Heinrich Bebel, Johannes Caselius und Leonhard Clemens verfassen Offizien zu den Festen des heiligen Hieronymus und der heiligen Anna, in: Christian Humanism. Essays in Honour of Arjo Vanderjagt, hg. von Alasdair A. MacDonald/ Zweder R. W. M. van Martels/ Jan R. Veenstra (2009) S.-13-39. 6 Dieter Wuttke, Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie, in: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Besch u. a. (1974) S.- 272-286; Ders., Erzaugur des Heiligen Römischen Reiches: Sebastian Brant deutet siamesische Tiergeburten, in: Humanistica Lovaniensia 43 (1994) S.-106-131. 7 Hartmut Kühne, Humanisten. Ablass - Heilige - Wunderzeichen: Fundstücke aus einem mitteldeutschen Ausstellungsprojekt, in: Hamm/ Kaufmann (wie Anm. 2) S.-159-186. 8 Franz Fuchs, Hartmann Schedel auf Wallfahrt nach St. Wolfgang im Salzkammergut, in: Schule, Universität und Bildung. Festschrift für Harald Dickerhof zum 65. Geburtstag, hg. von Helmut Flachenecker/ Dietmar Grypa (Eichstätter Studien NF 59, 2007) S.-19-28. 9 Vgl. den grundlegenden Beitrag von Franz Fuchs, Art. Scheurl (Schewrllius, Scheuerleyn), Christoph (II.), in: Deutscher Humanismus 1480-1520, Verfasserlexikon, hg. von Franz Josef Worstbrock 2 (2013) Sp.-840-877. 12 Hartmut Kühne und Gunhild Roth Markieren die dichten Reisenotizen des humanistischen „Pilger-Reisenden“ Scheurl gewissermaßen die eine Seite des Erfahrungsspektrums frühneuzeitlicher Pilgerfahrt, so eröffnete der Vortrag des Münchner Landeshistorikers Rainald Becker zum Wallfahrtswesen und der Bildung sakraler Topographien im Umfeld der Katholischen Reform Zugänge zu dem durch kollektive Vollzüge sowie territoriale Beschränkung und Verdichtung geprägten Transformation der Pilgerschaft nach der Tridentinischen Reform. Der Ansatz von Beckers Betrachtung bleibt freilich nicht bei der Feststellung oder Diskussion von Verstaatlichungs- oder Verkirchlichungsprozessen stehen, die mit der gesamten Gesellschaft der Frühneuzeit auch die Wallfahrten prägten, sondern versucht einen neuen Zugang zum Erfolg der katholischen Wallfahrten zu gewinnen. Dafür befasst er sich mit der Atlas-Marianus-Literatur, in der durch eine Verwissenschaftlichung der Argumentation eine moderne Begründung von Wallfahrten möglich wurde. Mit dem Beitrag des Diplomaten und Historikers Mordechai Lewy, der krankheitsbedingt auf der Tagung ausfiel und deshalb erst jetzt in der vorliegenden Druckfassung das Licht der Öffentlichkeit erblickt, öffnet sich eine Perspektive auf Pilgerfahrten jenseits der die Forschung der letzten Jahrzehnte prägenden Konfessionalisierungstheorien: Es geht um die Erfahrung von Protestanten bei ihren Besuchen im Heiligen Land bis zum Ende des 17.-Jahrhunderts, einem bisher kaum wahrgenommenen Phänomen, mit dem sich fast gleichzeitig auch Folker Reichert in einem grundlegenden Aufsatz beschäftigte. 10 Mordechai Lewy bringt mit dem frühneuzeitlichen Gästebuch der Jerusalemer Franziskanerkustodie eine bisher fast unbeachtete Quelle zum Sprechen, in der sich die Sicht der die Pilgerbetreuung abwickelnden Institution auf diese „andersartigen“ Gäste abbildet. Zugleich geht er den Motiven und Strategien der Jerusalem besuchenden Protestanten nach, deren Verhalten sich zwischen Anpassung und einer indifferenten Verleugnung der eigenen Konfession bzw. dem widerständigem Unterlaufen der ortsüblichen Konventionen bewegte. Einen ebenfalls quer zu den konfessionellen Blöcken verlaufenden Fall stellte Klaus Herbers mit dem mehrfach zwischen den Konfessionen wechselnden Franziskaner, evangelischen Pfarrer und Reiseschriftsteller Johannes Limberg (gest. 1714) vor. Seine Wahrnehmungen und Vorurteile trug er in einen umfangreichen Bericht über seine Reise durch Teutschland, Italien, Spanien, Portugall, Engeland, Frankreich und Schweitz etc. ein, in dem er auch seinen Aufenthalt in Santiago thematisierte. 10 Folker Reichert, Protestanten am Heiligen Grab, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 128 (2017) S.-41-71. Einleitung 13 Auch der ursprüngliche Besitzer des berühmten (Santiago-)Pilgergewandes, das heute eine kulturgeschichtliche Ikone des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg darstellt, steht in gewisser Hinsicht quer zu den konfessionellen Sichten auf die Frühe Neuzeit: Aus einem protestantischen Nürnberger Handelsgeschlecht stammend emanzipierte sich der junge Stephan-III. Praun (1544- 1591) schon als Lehrling in der Hauptfaktorei seiner Familie in Bologna von der familiären Tradition und führte schließlich im Dienst des römisch-deutschen Kaisers und anderer europäischer Potentaten das abenteuerliche Leben eines Diplomaten und Militärs, der Konstantinopel, Jerusalem und auch Santiago bereiste. 11 Die Vorstellung dieser Person und der von ihm in Spanien erworbenen Pilgerkleidung hatte der langjährige Präsident unserer Gesellschaft Robert Plötz übernehmen wollen, nachdem er zu dem Praun’schen Pilgerhut bereits einen Beitrag veröffentlicht hatte. 12 Sein plötzlicher Tod hat dies verhindert. Auch der Beitrag von Hartmut Kühne über „Lutherische Wallfahrten zu Wunderbrunnen im 17. Jahrhundert: Beispiele aus Franken“ rückte ein fast unbekanntes und in der Forschung bislang kaum wahrgenommenes Phänomen in den Blick: Der massenhafte Besuch von Heilquellen in protestantischen, besonders lutherisch geprägten Territorien des Reiches von der Mitte des 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, deren heilsame Wirkungen als göttliche Wunder gedeutet und deren Betrieb folglich durch lutherische Geistliche mit Betstunden, Predigten und Gesängen geprägt wurden. Diese kulturelle Bewegung, die ihren Höhepunkt 1646 in den sog. „Wunder- und Gnadenbrunnen“ von Hornhausen bei Halberstadt erlebte 13 , hinterließ auch in den fränkischen Gebieten seine Spuren; so in den Wunderbrunnen von Weihenzell im Fürstentum Ansbach und in Warmensteinach bei Bayreuth. Eine umfassende Monographie zu 11 Vgl. zur Biographie Friedrich von Praun, „Was sich auf meiner Reise zugetragen, da ich Stephan Praun von Nürnbergkh, den 20. Jenner bis 31. May, Anno 1569 mit Kaysers Maximillian Pottschaft, dem Herrn Kaspar von Minckwitz von Wien zu Landt nach Constantinoppol mit dem Tribut gezogen.“, in: Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum 1917, S.-49-58. 12 Robert Plötz, Der Pilgerhut des Stephan III. Praun, in: Zwischen Rom und Santiago. Festschrift für Klaus Herbers zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Claudia Alraum/ Andreas Holndonner u. a. (2016) S.-139-162. 13 Vgl. dazu vorerst Hartmut Kühne, Die Wunderbrunnen von Hornhausen und Gottschdorf bei Königsbrück. Ein Beitrag zur lutherischen Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts, in: Musik und Konfessionskulturen in der Oberlausitz in der frühen Neuzeit, hg. von Thomas Napp/ Christian Speer (Neues Lausitzisches Magazin. Beiheft 12, 2013) S.-83-99. 14 Hartmut Kühne und Gunhild Roth dem gesamten Phänomen der lutherischen Wunderbrunnen steht kurz vor dem Abschluss, weshalb der Vortrag in diesen Band nicht in Aufsatzform eingeht. 14 Überblickt man das Programm der Nürnberger Tagung und deren - zumindest dem geplanten Umfang der Beiträge nach - geschrumpften Niederschlag in diesem Band, stellt sich möglicherweise der Eindruck ein, dass es sich um randständige, abgelegene, gar abwegige Themen handelt. Dass sich diese Aufsätze nicht im Mainstream der Forschung bewegen, liegt auf der Hand. Doch gerade deshalb bieten sie Einsichten, die unsere Kenntnisse der frühneuzeitlichen religiösen Mobilität erweitern. Gewissermaßen als Bindeglied zwischen dem Nürnberger und dem Wilsnacker Teil dieses Bandes steht der Beitrag von Carina Brumme, in dem sie über einen 1522 in Straßburg hergestellten Druck berichtet, der in einer einzigartigen Weise die Geschichte einer - wohl fiktiven - Santiagoreise erzählt. Ein wesentlicher Teil dieser sich dokumentarisch gebenden Erzählung spielt im Umfeld des Reichstages von Worms im Jahre 1521, so dass die Protagonistin zwar nicht dem hier in die Reichsacht getanen Luther, wohl aber der dortigen Gesandtschaft des sächsischen Kurfürsten Friedrich (des Weisen) oder derjenigen des Kardinals Albrecht von Brandenburg begegnet. Es ist ein wahrlich eigentümlicher Blick auf die Szenerie dieses für die deutsche Reformation bedeutsamen Ereignisses aus der Perspektive einer fürstlichen Pilgerin! Angesichts des auffälligen Mangels an anderen erzählenden Quellen zu Santiagofahrten aus Norddeutschland wird dieser Druck, dessen Erzählung in Lübeck endet, im Faksimile nach dem Druck Straßburg: Martin Flach, 1522 beigeben. Ergänzend befasst sich der Beitrag von Oliver Duntze und Hartmut Kühne mit den hier sekundär gedruckten Holzschnitten und eruiert deren Erstverwendung. 2. Zum Konzept der Wilsnacker Tagung: Wilsnack als europäisches Pilgerzentrum 2015 tagte die Jakobusgesellschaft erstmals an einem Ort in Brandenburg. Das ehemalige Pilgerzentrum Wilsnack war mit Bedacht gewählt. Auch wenn diese Wallfahrt zu den großen religiösen Ereignissen des Spätmittelalters in Nordeuropa gehörte, hatte ihre Erforschung lange brach gelegen. Seit dem für seine 14 Vgl. dazu vorerst Hartmut Kühne, „… ein rechter Wunder-Brunn Gottes“. Ein Beitrag zur lutherischen Frömmigkeit im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 68, 2008 (2009) S.-63-92. - Zur Zeit dieses Vortrags hoffte der Beiträger, dass seine umfassende Monographie zum gesamten Phänomen der lutherischen Wunderbrunnen bis zur Drucklegung dieses Tagungsbandes bereits als Habilitationsschrift an der Universität Leipzig eingereicht sein würde. Da das Buch aber bislang noch nicht abgeschlossen ist, wurde auf den Beitrag verzichtet. Einleitung 15 Zeit durchaus bemerkenswerten Versuch des Wilsnacker Oberpfarrers Ernst Breest, der 1881 einen vom Umfang her fast monographischen Aufsatz zur Wilsnacker Wallfahrt verfasste 15 , waren nur noch einzelne Aufsätze publiziert worden, die sich mit speziellen Aspekten der Wallfahrt und insbesondere mit dem theologischen Streit um ihre Legitimität beschäftigten; statistisch gerechnet erschien seit 1945 bis zum Beginn des dritten Jahrtausends etwa alle sieben Jahre eine einschlägige Veröffentlichung. 16 Vor diesem unbefriedigenden Hintergrund wurde im Jahre 2005 ein Versuch unternommen, das verstreute Wissen und die Einzelforschungen zu Wilsnack zu bündeln und zugleich eine breitere Öffentlichkeit auf die einstige Bedeutung dieser Wallfahrt und ihre materiellen Überreste aufmerksam zu machen. Im Rahmen des von Kulturland Brandenburg e.V. geförderten Verbundprojektes „Wege nach Wilsnack“ unter der Regie des damals noch bestehenden Lehrstuhls für Christliche Archäologie, Denkmalkunde und Kulturgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden mehrere kleine Ausstellungen, ein Reiseführer 17 sowie ein populär gehaltener Überblick zur Geschichte der Wallfahrt und der Wilsnacker Kirche. 18 Eine ebenfalls in diesem Zusammenhang im Juni 2005 in Bad Wilsnack veranstaltete Tagung thematisierte erstmals in einem internationalen und interdisziplinären Zugriff die Forschungen zur Wilsnacker Wallfahrtsgeschichte. 19 Diese Veranstaltung fand auch durch eine bisher ungewohnte Konzentration auf Zeugnisse aus der Frühzeit der Wallfahrt und besonders aus dem mittelosteuropäischen Raum einige grundlegend neue Zugänge, etwa zur Rolle der Luxemburger und ihres höfischen „Netzwerkes“ für den raschen Erfolg Wilsnacks. Wie es bei wissenschaftlichen Pilotprojekten häufig der Fall ist, konnten aber nicht alle auf der Hand liegenden Fragen gleichermaßen ausführlich bearbeitet werden. Einige wichtige Themen mussten 2005 ausgeklammert werden, was die Herausgeber des damaligen Tagungsbandes auch bedauerten. Dazu gehörte etwa 15 Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-302. 16 Vgl. die bibliographische Zusammenstellung bei Volker Honemann, Art. „Wilsnack“, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a., 10 (1996-99) Sp. 1171-1178. Eine Skizze zur Forschungsgeschichte bieten Felix Escher/ Hartmut Kühne, Einleitung, in: Dies., Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter (Europäische Wallfahrtstudien 2, 2006) S.-9-19. 17 Von Berlin nach Wilsnack. Ein kulturhistorischer Wegbegleiter zu Stationen einer vergessenen Wallfahrt, hg. vom Förderkreis Alte Kirchen und dem Lehrstuhl für Christliche Archäologie, Denkmalkunde und Kulturgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin (2005; aktualisierter Nachdruck 2008). 18 Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne- Katrin Ziesak (2005). 19 Escher/ Kühne (wie Anm. 16). 16 Hartmut Kühne und Gunhild Roth die mangelnde Berücksichtigung des „belgisch niederländischen Raumes, in dem nicht zuletzt durch die Untersuchung der städtischen Strafwallfahrten durch Jan van Herwaarden dichte Testimoniumsreihen die Anziehungskraft Wilsnacks bezeugen.“ 20 Ebenso war die genauere „Verortung Wilsnacks in der norddeutschen Kultgeografie und […] besonders seine Einbindung in die unter dem Namen Heilig-Blut firmierenden Gnadenorte“ eine offene Frage geblieben. 21 Daher war die 2015 veranstaltete Jahrestagung auch als Ergänzung zu der zehn Jahre zuvor stattfindenden Konferenz gedacht. Vor diesem Hintergrund war es eine besondere Freude, dass der führende niederländische Wallfahrtshistoriker Jan van Herwaarden als langjähriger Freund der Jakobusgesellschaft auf der Jahrestagung den schon 2005 als Desiderat empfundenen Beitrag über „Wilsnack und die Niederlande“ übernahm. Der Leipziger Mediävist und Landeshistoriker Enno Bünz hatte bereits 2005 über Wilsnack-Pilger aus Dithmarschen berichtet. 2015 nahm er sich der Beziehung der Wettiner zu Wilsnack an. Die damaligen Landesherren von Thüringen und Sachsen bzw. auch deren Ehefrauen hatten wiederholt den märkischen Wallfahrtsort besucht. Auch der Prager Historiker und Archivar Jan Hrdina, der sich schon bei der ersten Tagung mit dem Engagement der luxemburgischen Dynastie in Wilsnack beschäftigt hatte, versuchte 2015, Wilsnack in das kultische Umfeld der eucharistischen Kulte im deutschen „Norden“, aber auch in Mittel- und Osteuropa einzuordnen. Sein Beitrag wird in Form des leicht überarbeiteten und mit Nachweisen versehenen Vortragsmanuskriptes gedruckt. Im Vortrag von Hartmut Kühne wurde die eigentümliche Verbindung zwischen der Pilgerreise des brandenburgischen Markgrafen und späteren Kurfürsten Friedrich II. nach Jerusalem, seinem zugleich diplomatisch ertragreichen wie auch rituell aufgeladenen „Abstecher“ auf dem Hinweg der Pilgerfahrt nach Rom und der Absicherung der Wilsnacker Wallfahrt durch eine päpstliche Entscheidung thematisiert. Volker Honemann hatte im Hinblick auf das bereits gut gefüllte Programm darauf verzichtet, in Wilsnack einen eigenen Vortrag zu halten. Er plante allerdings, zum Tagungsband eine kommentierte Ausgabe der berühmten Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke (um 1390-1454) auf dem Magdeburger Provinzialkonzil von 1451 beizusteuern. Ob er tatsächlich eine wissenschaftliche Neuausgabe der bisher nicht vollständig edierten einzigen Handschrift dieser Rede aus der Anhaltinischen Landesbibliothek Dessau samt deutscher Übersetzung erarbeiten wollte, war ihm wohl selbst noch 20 Escher/ Kühne, Einleitung (wie Anm. 16) S.-15. 21 Ebenda S.-16. Einleitung 17 nicht ganz klar. 22 Auf der Wilsnacker Tagung hatte er jedenfalls die deutsche Übersetzung dieses Textes in Kopie bei sich, die Otto Breest 1882 in einer Magdeburger Zeitungsbeilage gedruckt hatte, 23 und zitierte wiederholt mit Begeisterung einzelne Details aus dieser für die Geschichte der Wilsnacker Wallfahrt zentralen Quelle. Mit dem unkommentierten Abdruck der Übersetzung Breests in diesem Band wollen die Herausgeber dem Wunsch von Volker Honemann entsprechen, der die allgemeine Zugänglichkeit dieses Textes für ein dringendes Desiderat der Forschung zur Wilsnacker Wallfahrt hielt. Eine Überraschung der Wilsnacker Tagung war ein von Toni Aigner angebotener Workshop zu Andechs, dem Thema seiner Dissertation. 24 Parallelen zwischen den beiden auf die 1380er Jahre zurückgehenden Wallfahrten legten schon die in beiden Orten im Zentrum des ursprünglichen Kultes stehenden drei wunderbaren Hostien dar. Bereits Albert Brackmann hatte 1929 vermutet, dass der 1388 in Andechs „aufgefundene“ Reliquienschatz nicht ohne Einfluss Wilsnacks „komponiert“ worden war 25 , und es waren weitere Indizien bekannt, die eine frühe Verbindung von Wilsnack in den bayrisch-österreichischen Raum nahelegten. 26 Diesen Verbindungen zwischen der Wilsnacker Wallfahrt und dem bayerischen Kultort und insbesondere der Förderung des Letzteren durch die bayerischen Landesherren geht der Beitrag von Toni Aigner nach. Auch wenn das Thema der Wilsnacker Wallfahrt mit diesen Beiträgen längst nicht „ausgeforscht“ sein dürfte, dokumentieren sie in ihrer Gesamtheit einen deutlichen Fortschritt unserer Kenntnisse zu dieser einst bedeutenden Wallfahrt. Zugleich bieten sie neue Einsichten in die Zusammenhänge zwischen den sog. großen Wallfahrten, darunter besonders der Pilgerfahrt nach Santiago, und den 22 Es finden sich dazu auch keinerlei Vorarbeiten im Nachlass. - Zur Quellenlage vgl. unten die Einleitung zur Rede Tockes S.-167 f. 23 Vgl. dazu ebenda. 24 Toni Aigner, Das Andechser Heiltum. Religion und Politik im Haus Wittelsbach (2013). 25 Albert Brackmann, Die Entstehung der Andechser Wallfahrt (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, 1929). 26 Neben der Schenkung eines äußerst wertvollen goldenen Kreuzes durch Herzog Wilhelm „den Ehrgeizigen“ von Österreich an die Wilsnacker Kirche im Jahre 1397 (vgl. Jan Hrdina/ Hartmut Kühne, Wilsnack, Prag, Magdeburg: neue Perspektiven auf die ersten Jahrzehnte einer europäischen Wallfahrt, in: Der Havelberger Dombau und seine Ausstrahlung, hg. von Leonhard Helten [2011] S.- 20-44, hier S.- 27-30) ist vor allem eine frühe Wilsnacker Mirakelnotiz einschlägig, nach der im Jahr 1388 ein Kanoniker aus der Diözese Passau und zugleich Pfarrer von „Lichtenow“ nach Wilsnack gereist sei, vgl. Historia Jnuentionis et Osten= || sionis viuifici Sacramēti in Wilsz || nagk, Lübeck 1520 (VD16 D 2078), Bl.-B2 v . Zur Person wird hier angegeben, der presbiter canonicus Patauienß[is] plebanus in Lichtenow stamme aus Österreich. Möglicherweise ist ein Kanoniker des Stiftes Schlägl (Oberösterreich) gemeint, der eine der dem Stift inkorporierten Pfarreien unterhalb von Schloss Lichtenau, etwa St.-Oswald bei Haslach, verwaltete. 18 Hartmut Kühne und Gunhild Roth Pilgerzentren und regionalen Wallfahrten im römisch-deutschen Reich. Dies dürfte nicht nur für den Wilsnack-Teil dieses Buches zutreffen, sondern eine große Klammer bilden, die den ganzen Band umschließt. Diese große Klammer scheint uns auch jenseits dieses Bandes von Bedeutung zu sein. Die Forschungen zur Pilgerfahrt nach Santiago bilden das Rückgrat der wissenschaftlichen Arbeit der Deutschen Sankt Jakobus-Gesellschaft. Als diese Arbeit vor gut 40 Jahren begann, war sie in einem wissenschaftlichen Umfeld angesiedelt, im dem Wallfahrtsforschung Konjunktur hatte. Diese Situation hat sich inzwischen grundlegend geändert. 27 Die Jahrestagungen der Deutschen Sankt Jakobus-Gesellschaft sind damit zu einem der wenigen verbliebenen Foren geworden, auf dem regelmäßig Themen der Forschung zu Wallfahrt und Pilgerverkehr behandelt werden. Wir hoffen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Der Dank der Herausgeber gilt zunächst und vor allem den Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Forschungen und der Bereitschaft zum Verfassen ihrer Beiträge dieses Buch erst möglich gemacht haben. Ferner danken wir Manuel Santos Noya für die Übersetzung der Zusammenfassungen ins Spanische, der Deutschen Sankt Jakobus-Gesellschaft für die Übernahme der Druckkosten und Valeska Lembke, Narr Verlag, für die kompetent freundliche Betreuung der Drucklegung. Berlin, im Oktober 2019 27 Vgl. etwa die Einschätzung von Peter Hersche, Die profanen Riten der Wallfahrt, in: Liturgisches Jahrbuch 61 (2011) S.-64-83, bes. S.-82-f. Fürsten und Adlige in Wilsnack - sowie ein wiederaufgefundenes Gebet des Konrad von Weinsberg zum Heiligen Blut Hartmut Kühne und Martin Sladeczek Der rasante Aufstieg eines kleinen Dorfes im historischen Nirgendwo der spät christianisierten Markgrafschaft Brandenburg zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte der mittelalterlichen Christenheit ist ein bemerkenswertes und bisher kaum erklärtes Phänomen. Zwar wird die Entstehung spätmittelalterlicher Wallfahrten in der Literatur gerne mit Bildern geschwinder Wachstumsvorgänge umschrieben; es ist von üppigen Blüten oder von aus dem Boden sprießenden Pilzen die Rede. Dennoch lassen sich die Vorgänge, die nach 1383 auf den Untergang des Dörfchens Wilsnack im Feuer einer Fehde folgten, nicht mit der Entstehung der vielen boomenden regionalen Wallfahrten im 15. und frühen 16. Jahrhundert vergleichen. 1 Dafür verbreitete sich die Kunde von dem in Wilsnack geschehenen Wunder zu rasch im ganzen Römisch-Deutschen Reich und besonders nach Nordosten und Südosten auch weit darüber hinaus. Mitunter lässt sich diese rasant anwachsende Popularität freilich nicht gleich erkennen, weil gelegentlich gar nicht von dem Ort Wilsnack die Rede ist, sondern lediglich von dem „Heiligen Blut“, was die Identifikation des Gemeinten 1 Zur Entstehung und den ersten Jahren der Wallfahrt vgl. Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-302, bes. S.-137-157; Hartmut Kühne: „Ich ging durch Feuer und Wasser …“ Bemerkungen zur Wilsnacker Heilig Blut-Legende, in: Theologie und Kultur. Geschichten einer Wechselbeziehung. Festschrift zum einhundertfünzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst an der Humboldt-Universität zu Berlin, hg. von Gerlinde Strohmaier-Wiederanders (1999) S.- 51- 84; Jan Hrdina/ Hartmut Kühne: Wilsnack, Prag, Magdeburg: neue Perspektiven auf die ersten Jahrzehnte einer europäischen Wallfahrt, in: Der Havelberger Dombau und seine Ausstrahlung, hg. von Leonhard Helten (2011) S.- 20-44, hier S.- 27-30; Dies.: Pilgerziel Wilsnack: Anfänge eines europäischen Wallfahrtsortes, in: Im Dialog mit Raubrittern und Schönen Madonnen. Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter. Begleitband zum Ausstellungsverbund „Raubritter und Schöne Madonnen“, hg. von Clemens Bergstedt/ Heinz-Dieter Heimann u.a. (2011) S.-194-205; Dies.: Die Luxemburger und die Anfänge der Wallfahrt nach Wilsnack, in: Karl IV. Ein Kaiser in Brandenburg, hg. von Peter Knüvener/ Jan Richter/ Kurt Winkler (2016) S.-78-83. 20 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek erschweren kann. 2 Die schnell das ganze Reich erfassende Popularität der Wallfahrt bezeugt etwa der Schreiber des Wunderbuches der Theobalduskirche von Thann im Elsaß, der seinen Lesern im Jahre 1407 erläutern, dass der Ort Stargard (poln. Stargard Szczeciński), von wo aus eine pommersche Herzogin eine Wallfahrt nach Thann angetreten hatte, 32 „milen von dem heiligen blut“ entfernt gelegen sei. 3 Dies bedeutet doch wohl, dass man in dem etwa 800 Kilometer Luftlinie von Wilsnack entfernten Thann eine gewisse Vorstellung von der Lage des zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen Wallfahrtsortes haben musste. 1. Fürsten und Adlige in Wilsnack Der geradezu kometenhafte Aufstieg Wilsnacks am Ausgang des Mittelalters zum bedeutendsten Wallfahrtsort Nordeuropas verlangt nach einer Erklärung. In der Literatur über Wilsnack sind schon seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zwei Faktoren ins Feld geführt worden, die als Triebfedern der Wallfahrt angesehen wurden: Da waren zum einen die Geistlichen, die man je nach dem Grad des Übelwollens für ungebildet, dumm oder betrügerisch hielt und die jene große Wallfahrtsmaschinerie in Gang gesetzt haben sollten. Zum zweiten sei es das einfache Volk gewesen, dessen unreflektierten und niederen Frömmigkeitsinstinkten das Wilsnacker Blutwunder entgegengekommen sei. Auch der in vielfältiger Weise um das Verstehen des Spätmittelalters hochverdiente Historiker Hartmut Boockmann, der 1982 mit einem Aufsatz der neueren Forschung zu Wilsnack einen entscheidenden Impuls gab 4 , hat diese Sicht noch weitergetragen. Am Anfang der Wallfahrt stand in seiner Perspektive „eine Kirchenruine […], gelegen in einer elenden Region, in einer Gegend, wo die Kirchen arm und die Geistlichen ungebildet waren.“ 5 Zur Entstehung der Wallfahrt vermutete er: „Nachdem die roten Hostien einmal da waren, wurde die Sache auf der einen Seite durch rasch zunehmende Pilgergruppen vorangetrieben, während andererseits der zuständige Klerus für die notwendigen […] Ablässe sorgte.“ 6 Das hier evozierte Bild der gewissermaßen von selbst wachsenden Wallfahrergruppen 2 Vgl. zu dem Problem der Zuweisung Wolfgang Brückner, Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn, (1958) S.- 48- f. So hat etwa der Bearbeiter des Hildesheimer Urkundenbuches angenommen, die Reise einer Hildesheimer Bürgersfrau im Jahre 1397 to dem hilgen blode hätte Einbeck und nicht Wilsnack zum Ziel gehabt: UB Stift und Stadt Hildesheim 2: Hannover 1897, Nr. 723, S.-507. Die Identifikation des Ortes erfolgt im Register 3 Georg Stoffel, Tomus miraculorum sancti Theobaldi (1875) S.-3, Nr.-4. 4 Hartmut Boockmann, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982) S.-385-408. 5 Ebenda S.-388. 6 Ebenda S.-389. Fürsten und Adlige in Wilsnack 21 hängt wohl auch mit Nachrichten über sich spontan nach Wilsnack in Bewegung setzende Pilgermassen zusammen, die unter dem Schlagwort des „Wilsnacklaufens“ von einigen Chronisten in den Jahren 1475, 1487 und 1516 mehr oder weniger kritisch notiert 7 und besonders von den Erfurter Theologen getadelt wurden. 8 An diesen Pilgerzügen waren vor allem Menschen aus den niederen Ständen, darunter auch viele Jugendliche, beteiligt. Die Nachrichten könnten den Eindruck erzeugen, Wilsnack sei ein Ort gewesen, zu dem sich vornehmlich Menschen aus dem gemeinen Volk aufgemacht hätten, Bauern etwa oder Handwerker. Das sog. Wilsnacklaufen ist freilich ein Phänomen, das erst fast ein Jahrhundert nach der Entstehung der Wallfahrt bezeugt ist. Vor allem sollte aber darüber nicht aus dem Blick geraten, dass Wilsnack auch von fürstlichen und adligen Personen aufgesucht wurde. Die große Masse der namentlich bekannten Wilsnackbesucher dürften adlige, häufig auch fürstliche Personen gewesen sein, die mit einem standesgemäß großen Gefolge nach Wilsnack reisten. Diese Tatsache ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass wir über die Reisen von Fürsten und Fürstinnen durch deren Archive, etwa durch Rechnungsbücher und Korrespondenzen, wesentlich besser Bescheid wissen, als über die Mobilität von Bauern oder Handwerkern, die allenfalls dann einmal in Chroniken erwähnt werden, wenn sie in besonders erinnerungswürdige Zusammenhänge verstrickt waren, wie etwa bei den spektakulären Massenbewegungen des Wilsnacklaufens. Jenseits dieses Ungleichgewichts der Überlieferungslage muss aber daran erinnert werden, dass Wilsnack im 15.- Jahrhundert so etwas wie einen Treffpunkt und Konferenzort für die norddeutschen Fürsten darstellte. Dass adlige und besonders hochadlige Personen vor allem aus dem nördlichen Reichsgebiet immer wieder nach Wilsnack kamen, ist eine auffällige Tatsache. So besuchte z. B. der dänische König Christian I., ein geborener Graf von Oldenburg, Wilsnack mindestens sechs Mal und stiftete für die Kirche ein Glasfenster, das heute 7 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Felix Escher, „Sie sagen, dass sie nicht wissen, warum sie laufen“ - Gedanken zum Wilsnacklaufen, in: Kirche - Kunst - Kultur. Beiträge aus 800 Jahren Berlin-Brandenburgischer Geschichte. Festschrift für Gerlinde Strohmaier-Wiederanders zum 65. Geburtstag, hg. von Hartmut Kühne/ Erdmute Nieke (2008) S.- 73-82. Auf eine differenzierte Wahrnehmung der Wilsnackläufer bei verschiedenen Chronisten verwies Siegfried Bräuer, Wallfahrtsforschung als Defizit der reformationsgeschichtlichen Arbeit. Exemplarische Beobachtungen zu Darstellungen der Reformation und zu Quellengruppen, in: Spätmittelalterliche Wallfahrt im mitteldeutschen Raum. Beiträge einer interdisziplinären Arbeitstagung, Eisleben 7.-8. Juni 2002, hg. von Hartmut Kühne/ Wolfgang Radtke/ Gerlinde Strohmaier-Wiederanders (2002) S.-15-49, hier S.-33-f. 8 So etwa von dem Erfurter Augustinereremiten Johann von Paltz: Johannes von Paltz, Supplementum Coelifodinae, in: Johannes Paltz, Werke 2, hrsg. von Berndt Hamm, (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 3, 1983) S.-400-402. 22 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek noch in Resten erhalten ist. 9 Immer wieder besuchten die Wettiner 10 , welfische Fürsten, die mecklenburgischen Herzöge, die hessischen Landgrafen, die sog. Harzgrafen und natürlich auch die seit 1415 die Mark Brandenburg regierenden Hohenzollern Wilsnack, was Hartmut Kühne bereits früher summarisch zusammengefasst hatte. 11 Diese bereits bekannten Besuche sollen an dieser Stelle um einige weitere Nachrichten ergänzt werden, auf die wir in den letzten Jahren gestoßen sind. Zunächst ist hier nochmals die bereits eingangs erwähnte Herzogin aus Stargard zu erwähnen, die durch die Anrufung des hl. Theobald in Thann 1407 von einer „Besessenheit“ erlöst wurde. Der Eintrag im Mirakelbuch verrät, dass man für sie bereits zuvor ein Gelöbnis zu dem heiligen bluot geleistet hatte, welches erfolglos geblieben war. 12 Der Schreiber des Mirakelbuches nennt die Frau „Tecla“. Durch die beiden von ihm zuvor erzählten Mirakel ist allerdings deutlich, dass es sich um Anna, die Frau des Herzogs Swantibor I. von Pommern- Stettin (1351-1413), gehandelt haben muss. Der Hinweis auf einen weiteren fürstlichen Besuch in Wilsnack findet sich in den außerordentlich reichen Beständen des Göttinger Stadtarchivs: Herzog Otto II. von Braunschweig-Göttingen (um 1380-1463) forderte den Göttinger Rat am 16.-August 1420 auf, seinem Schreiber von dem dort deponiertem Geld 100-Gulden zu übergeben, die er für seine Frau benötige, die zu deme heiligen Blude zu zcyhen beabsichtige. 13 (Abbildung 1) Ob seine Frau Agnes (1391-1471), Tochter des Landgrafen Hermann II. von Hessen, tatsächlich Wilsnack besuchte, lässt sich zwar nicht sicher belegen, ist aber wenig zweifelhaft. Eine ganze Reihe von Belegen für regelmäßige Besuche in Wilsnack bietet die Rechnungsüberlieferung des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg. Heinrich Dormeier hat diese seriellen Quellen für die späten 1430er Jahre exemplarisch ausgewertet und trotz des geringen zeitlichen Umfangs der Untersuchung lassen sich hier eine ganze Reihe von Belegen für Wallfahrten finden. 14 So wurde Herzog Gerhard von Jülich und Berg (um 1416/ 17-1475), als er mit 40 Pferden 9 Vgl. Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg. Von Ute Bednarz/ Eva Fitz/ Frank Martin/ Markus Leo Mock/ Götz J. Pfeiffer/ Martina Voigt (mit einer kunsthistorischen Einleitung von Peter Knüvener), Band 1: Katalog, Band 2: Anhang, Regesten, Abbildungen (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland 22, 2010), hier 1, S.-99-f., 127, 133. 10 Vgl. dazu den Beitrag von Bünz/ Kühne in diesem Band S.-65-95. 11 Vgl. Hartmut Kühne: Unterwegs nach Wilsnack, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne-Katrin Ziesak (2005) S.- 19-47, bes. S.-29-37. 12 Vgl. oben Anm. 1. 13 Stadtarchiv Göttingen, B 1, Nr. 1043. 14 Heinrich Dormeier, Verwaltung und Rechnungswesen im spätmittelalterlichen Fürstentum Braunschweig-Lüneburg (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 18, 1994). Fürsten und Adlige in Wilsnack 23 nach Wilsnack ritt, am 5.- November 1438 auf dem Hinweg und 8.- November 1438 auf dem Rückweg in Lüchow auf Kosten des Amtes bewirtet. 15 Wenige Tage später traf auch Herzogin Magdalena (1412-1454), die Ehefrau Friedrichs des Frommen von Braunschweig-Lüneburg, auf dem Weg nach Wilsnack in Lüchow ein. 16 Auch im folgenden Jahr reiste die Herzogin nach Wilsnack; wiederum im November, diesmal aber in Begleitung ihrer Schwester Cäcilie (1405- 1449), der Ehefrau des Herzogs Wilhelm I. von Braunschweig-Wolfenbüttel. Bei der Rückkehr nach Celle am 18.-November 1439 wurde den Damen Einbecker Bier gereicht. 17 Die Frauen der Welfenfürsten sind wohl mit einer gewissen Regelmäßigkeit in das von Celle aus nur 150 Kilometer entfernte Wilsnack gereist. Die Markgräfin Agnes von Baden (1408-1473) scheint hingegen in einer verzweifelten Situation nach dem Tode ihres Ehemannes, des Grafen Gerhard VII. von Holstein, 1434 von Lübeck aus Wilsnack besucht zu haben. 18 Abbildung 1: Schreiben Herzog Ottos II. an den Göttinger Rat 15 Ebenda S.-210. 16 Ebenda S.-211 (zum 10. November 1438). 17 Ebenda S.-264. 18 Peter Hirschfeld, Der Aufenthalt der Markgräfin Agnes von Baden, Herzogin von Schleswig in Lübeck 1433-1434, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 97 (= NF 58, 1949) S.-178-189, hier S.-187-189. Die entsprechende Rechnungsnotiz Item 2 Mk zu zerunge gein der Wilsenach zu wallen könnte sich allerdings auch auf den Küchenmeister der Agnes von Baden beziehen, vgl. Stephan Selzer, Eine fürstliche Konsumentin und ihre Lübecker Einkäufe 1433/ 1434, in: Hanse und Stadt: Akteure, Strukturen und Entwicklungen im regionalen und europäischen Raum. Festschrift für Rolf Hammel-Kiesow zum 65. Geburtstag, hg. von Michael Hundt/ Jan Lokers (2014) S.-411-431, hier S.-414 mit Anm. 26. 2. Die Luxemburger in Wilsnack Ähnliche Notizen über fürstliche Besucher in der Prignitz werden auch künftig noch gefunden werden und eine vollständige Erfassung solcher Besuche ist kaum möglich. Auffällig ist freilich, dass sich im 15.-Jahrhundert all jene Fürsten und Fürstinnen in Wilsnack ein Stelldichein gaben, deren Nachkommen im 16.-Jahrhundert durch die Annahme der lutherischen Reformation dafür sorgen werden, dass Wilsnack wieder dem historischen Vergessen anheimfällt. Die starke Präsenz von adligen und fürstlichen Personen in Wilsnack ist aber auch für die Frage relevant, wie es zu dem Aufstieg jenes abgelegenen Fleckens zu einem Pilgerziel von europäischem Rang kommen konnte. Eine entscheidende Rolle spielten dabei wohl von Anfang an die Landesherren der Mark Brandenburg. Dass nicht nur eine diffuse Volksfrömmigkeit und Geistliche mit ihren Beziehungen zur kirchlichen Hierarchie für den Erfolg der Wilsnacker Wallfahrt sorgten, sondern auch die Förderung durch ein fürstliches Netzwerk, wurde erst erstaunlich spät erkannt. Im Jahre 2005 berichtete der Prager Historiker und Wallfahrtsspezialist Jan Hrdina auf einer Tagung in Wilsnack über die Beziehungen der Luxemburger zu der entstehenden Wallfahrt. 19 Im forschungsgeschichtlichen Rückblick erscheint es merkwürdig, dass zuvor niemand ernsthaft der Frage nachgegangen war, welche Beziehung es zwischen den Luxemburgern, die seit 1373 die Mark Brandenburg beherrschten, und der zehn Jahre nach ihrem Herrschaftsantritt entstandenen Wallfahrt gab. 20 Zu stark prägten offenbar die theologischen Verurteilungen des Wilsnacker Kultes durch Jan Hus und das Verbot dieser Wallfahrt durch den Prager Erzbischof Zbyněk Zajíc von Hasenburg 1405 die Sicht auf die böhmischen Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund konnte man sich eine Förderung der Wallfahrt durch die in Prag residierenden Luxemburger nur schwer vorstellen. Dabei hätte schon die 1520 in Lübeck in lateinischer Sprache gedruckte Wilsnacker Legende 21 der Forschung einen Fingerzeig geben können, denn in ihr wurde berichtet, dass Elisabeth von Pommern, die vierte Frau Kaiser Karls IV., im Sommer 1390 von Böhmen aus in den Norden Brandenburgs reiste, um so ein Gelübde zu erfüllen, das ihr Hof bei einer ernsten Erkrankung für sie geleistet hatte. 22 Die damals bereits ver- 19 Jan Hrdina, Wilsnack, Hus und die Luxemburger, in: Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter, hg. von Felix Escher/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 2, 2006) S.-41-63. 20 Zur Herrschaft der Luxemburger in Brandenburg vgl. Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg 2 (1961) S.-161-236; Karl IV. Ein Kaiser in Brandenburg (wie Anm. 1). 21 Historia Jnuentionis et Osten=||sionis viuifici Sacramēti in Wilsz||nagk, Lübeck 1520 (VD16 D 2078), Bl. B2 v -B3 r . 22 Vgl. Hrdina, Wilsnack, Hus und die Luxemburger (wie Anm. 19) S.-45-f. 24 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek Fürsten und Adlige in Wilsnack 25 witwete Kaiserin war die erste hochadlige Besucherin Wilsnacks, von der wir wissen. Jan Hrdina konnte zeigen, dass dieser Akt der Devotion keineswegs auf die Witwe des Kaisers beschränkt blieb, sondern auch ihre Söhne wiederholt Wilsnack besuchten oder Stellvertreter dorthin entsandten: Herzog Johann von Görlitz reiste mehrfach persönlich nach Wilsnack; auch sein Halbbruder, der römisch-deutsche König Wenzel, schickte von 1391 bis 1404 mehrfach enge Vertraute zu dem Wallfahrtsort. 23 Auch Elisabeths erster Sohn, der spätere Kaiser Sigismund, der von 1378 bis 1388 Brandenburg zumindest nominell regierte, schickte 1398 eine stellvertretende Gesandtschaft zum „Heiligen Blut“. 24 Den Spuren des böhmischen Einflusses in Wilsnack und deren Einbindung in die böhmische Kirchenpolitik an der mittleren Elbe mit dem Zentrum der Magdeburger Kathedrale wurde seither immer wieder nachgegangen, sobald ein neues Puzzlestück aus diesen Zusammenhängen gefunden wurde. 25 Durch das dynastische Netzwerk der Luxemburger ist auch zu erklären, warum sich in den 1390er Jahren die Kunde von Wilsnack an den Fürstenhöfen Ost- und Südosteuropas verbreitete. Auch an der Stettiner Residenz des Pommernherzogs Swantibor, der zum Prager Hof Karls IV. und Wenzels enge Beziehungen unterhielt und so auch in den Besitz der Brandenburger Herrschaft Beeskow kam 26 , könnten sich Nachrichten über Wilsnack durch diese Kontakte verbreitet haben. Aus Prag oder über den Hof Sigismunds gelangten entsprechende Informationen vielleicht auch an den polnischen Königshof nach Krakau, von wo aus Königin Hedwig, die Schwägerin Sigismunds, 1394 einen goldenen Kelch und einen Ornat samt zwei Dalmatiken, die in ihrer Hofstickerei gefertigt worden waren, nach Wilsnack sandte. 27 Auch die Schenkung eines äußerst wertvollen goldenen Kreuzes durch Herzog Wilhelm „den Ehrgeizigen“ von Österreich an die Wilsnacker Kirche im Jahre 1397 kam möglicherweise durch den Einfluss des Hofes Sigismunds zustande. 28 Diese Verbundenheit mit Wilsnack blieb im Umkreis der Familie Sigismunds auch über die Zeit seiner 23 Ebenda S.-46-55. 24 Ebenda S.-53 mit Anm. 46. 25 Vgl. Hrdina/ Kühne, Wilsnack, Prag, Magdeburg (wie Anm. 1); Dies., Pilgerziel Wilsnack (wie Anm.- 1); Dies.: Luxemburger und Anfänge (wie Anm. 1); Dies.: Die Luxemburger im Gravitationsfeld von Frömmigkeitspraktiken. Reliquien - Wallfahrt - Pilgerzeichen, in: Heilige, Helden, Wüteriche. Herrschaftsstile der Luxemburger (1308-1437), hg. von Martin Bauch/ Julia Burkhardt u. a. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 41, 2017) S.-107-145. 26 Vgl. Martin Wehrmann: Art. Swantibor III., Herzog von Pommern-Stettin, in: Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908) S.-640-f. 27 Vgl. Maria Starnawska, Die Beziehungen des Königreichs Polen und des Herzogtums Litauen zu Wilsnack und die Christus-Reliquienverehrung im Spätmittelalter, in: Die Wilsnackfahrt (wie Anm. 19) S.-79-95, hier S.-83. 28 Vgl. Hrdina/ Kühne, Wilsnack, Prag, Magdeburg (wie Anm. 1) S.-27-30. 26 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek politisch engen Kontakte nach Brandenburg und sogar über seinen Tod im Jahre 1437 hinaus erhalten. Das Tagebuch einer Hofdame der Tochter Sigismunds, Elisabeth von Luxemburg, hielt eine sonst völlig vergessene Episode fest: Die mit dem Habsburger Albrecht verheiratete Elisabeth sandte kurz vor dem Tode ihres Mannes (27.- Oktober 1439) ihren Vertrauten Hieronymus Vinsterel von Ungarn aus mit der Silberfigur eines Kindes nach Wilsnack (ain groß sylbrein pild als ain kind Zu dem heiligen plut gen Welsnakck), um durch diese Votivgabe einen männlichen Nachkommen zu erflehen. 29 Ihr Wunsch ging in Erfüllung und sie gebar im Februar 1440 einen Sohn, der wegen des bei seiner Geburt bereits verstorbenen Vaters Ladislaus „Postumus“ genannt wurde. Der rasch zum politischen Spielball gewordene Thronprätendent verstarb bereits vor seinem 18.-Geburtstag auf tragische Weise. 3. Konrad IX. von Weinsberg und Wilsnack Diese Hinweise auf Beziehungen des Hofes Kaiser Sigismunds zum Heiligen Blut sollen hier noch durch einen anderen prominenten Besucher des Wallfahrtsortes ergänzt werden. Gemeint ist der aus dem Südwesten des Reiches stammende Adlige Konrad IX. von Weinsberg (um 1370-1448). 30 Seine Familie führte ihren Namen nach der Burg Weinsberg in der Nähe von Heilbronn, auf der seine Vorfahren einst als staufische Reichministerialen gesessen hatten. Die Familie war „mit den führenden Häusern des deutschen Südwestens“ 31 verbunden, verfügte aber nur über äußerst versprengte Besitzrechte an Neckar und Kocher, die Konrad-IX. vergeblich zu einer kleinen Territorialherrschaft zusammenzufügen versuchte. Obwohl die Weinsberger am Ende des 14.-Jahrhunderts einen gewissen Einfluss im Reich besaßen - so war sein Onkel Konrad von 1390 bis 1396 Erzbischof von Mainz - waren ihre wirtschaftlichen Verhältnisse desolat. Als sich Engelhard VIII., Herr zu Weinsberg, 1404 aus dem ‚Geschäftsleben‘ zurückzog und seinem damals etwa 34 Jahre alten Sohn Konrad seine Rechte und Güter übertrug, übernahm dieser zugleich eine Schuldenlast von fast 20.000 29 Karl Mollay, Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin. Die ältesten deutschen Frauenmemoiren (1439-1440), in: Arrabona 7 (1965) S.-237-296, hier S.-267. 30 Aus der umfangreichen Literatur zu Konrad von Weinsberg sind grundlegend: Dieter Karasek, Konrad von Weinsberg. Studien zur Reichspolitik im Zeitalter Sigismunds (1967); Hartmut Welck, Konrad von Weinsberg als Protektor des Basler Konzils (Forschungen aus Württembergisch Franken 7, 1973); Franz Irsigler, Konrad von Weinsberg (etwa 1370-1448). Adeliger - Diplomat - Kaufmann, in: Württembergisch Franken 66 (1982) S.-59-80; Bernd Fuhrmann, Konrad von Weinsberg. Ein adliger Oikos zwischen Territorium und Reich (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 171, 2004). 31 Irsigler, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-59. Fürsten und Adlige in Wilsnack 27 Gulden. Unter diesen Voraussetzungen waren seine Betätigungen als kaufmännischer Unternehmer und vor allem als Diplomat im Reichsdienst in gewisser Hinsicht vorgezeichnet. Mit der Verleihung des Amtes des Reichserbunterkämmerers im Jahre 1411 und vor allem seiner Bestätigung durch Sigismund 1414 wurde Konrad einer „der einflussreichsten, auch in polit.[ischen] Missionen bewährten Räte des Luxemburgers“. 32 Schon bald nach der ersten persönlichen Begegnung im Herbst 1414 scheint Konrad ein enges Vertrauensverhältnis zum König entwickelt zu haben 33 , das für das folgende Vierteljahrhundert bis zum Tode Sigismunds bestand. 34 Sein Geschick in der Organisation der Reichsfinanzen 35 , worin er sich fast drei Jahrzehnte lang bewährte, brachte ihn in engsten Kontakt mit den wichtigen Personen und Ereignissen im Reich: Entscheidend war der enge, dauernde Kontakt mit dem Herrscher, dem Papst, den Fürsten und Herren des Reiches, auf den Huldigungsreisen, beim Konstanzer Konzil, auf den Reichstagen und bei vielen anderen Gelegenheiten. Angesichts der wirtschaftlichen Zerrüttung der Reichsfinanzen und der schwierigen politischen Situation war es ein außerordentlich anspruchsvolles, oft frustrierendes Amt, das die Arbeitskraft Weinsbergs absolut binden musste. Trotzdem wuchs sein Kompetenzbereich ständig. 36 - zumindest solange er im Dienste Sigismunds und seines Schwiegersohns und Nachfolgers Albrecht II. stand. Diplomatische Missionen führten Konrad in alle Gebiete des Reiches und angrenzende Territorien: u. a. nach Venedig, Burgund, in die Niederlande, nach Preußen, Schlesien, Böhmen und Österreich. Er stellt einen Prototyp des reisenden Adligen des Spätmittelalters dar: oft mit großer Entourage und Geleit, Audienzen und Bewirtung bei Fürsten und Herren sowie verschiedenen Boten. Darüber berichten detailliert Reiserechnungen, die sich im sehr bemerkenswerten Archiv der Herrschaft Weinsberg im Hohenlohe- Zentralarchiv Neuenstein erhalten haben. Frömmigkeit war immer ein wesentlicher Punkt der Reiseplanung. Konrad verfügte über päpstliche und konziliare Privilegien, die ihm u. a. die Wahl eines Beichtvaters, das Hören der Messe außerhalb einer Kirche und die Benutzung 32 Ernst Schubert, Art. Konrad von Weinsberg, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1999) Sp. 1366. Vgl. weiterhin Sabine Wefers, Das politische System Kaiser Sigismunds (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 10, 1989) die Registereinträge S.-254. 33 Vgl. Karasek, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-177-f. 34 Ebenda S.-185-193. 35 Vgl. etwa Wefers, System (wie Anm. 32) S.-61-64 und S.-205 zu Konrads modernen Ansätzen beim Einziehen der Judensteuer. 36 Irsigler, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-70-72. 28 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek eines Tragaltars gestatteten. 37 Das Aufsuchen von Wallfahrtsorten in der süddeutschen Region wie auch in der Ferne gehörte ebenso selbstverständlich zu den Reisen. Opfergaben lassen sich in beinahe allen Reiserechnungen finden - in großen Städten, wie auch in kleinen Gnadenorten. Sein Gelübde zu einer Wallfahrt zum Heiligen Grab ließ Konrad allerdings 1426 vom Würzburger Bischof in das Versprechen zu einem Kreuzzug gegen die Wyclifianer umwandeln. 38 Dass Konrad am Hofe Sigismunds von dem Wilsnacker Hostienwunder erfuhr, lässt sich nicht sicher belegen, ist aber wahrscheinlich. Verschiedene Aufenthalte Konrads in Wilsnack auf seinen Reisen nach Norddeutschland und Preußen in den Jahren 1426, 1436 und 1441 sind bekannt. Der Aufenthalt 1426 kann nur aus verschiedenen Einträgen rekonstruiert werden. Der entsprechende Posten in der Reiserechnung ist nicht eindeutig: Item zu swerin opffert ich zu dem heilgen plut i bischoff guld. 39 Er scheint sich eher auf die als regionaler Wallfahrtsort gut bekannte Heilig-Blut-Kapelle des Schweriner Domes zu beziehen. 40 Allerdings verweisen undatierte Reisenotizen eines Begleiters, die aber unzweifelhaft in Verbindung mit dieser Reise stehen, auf einen persönlichen Besuch Konrads in Wilsnack: Item als mein Herr von dem Tage heim kame da reyte er zu dem heiligen plut […]. 41 Wilsnack lag in diesem Fall nicht auf dem Weg, die Gruppe reiste von Lüneburg aus gezielt dort hin. Zehn Jahre später besuchte er den Ort wiederum im Rahmen einer diplomatischen Rundreise, die er von Ende Februar bis Mitte Mai 1436 offenbar im Auftrag des Würzburger Bischofs Johann II. von Brunn (reg. 1411-1440) unternahm. 42 Der Zweck der Verhandlungen mit den Herzögen von Sachsen-Lauenburg und dem Hildesheimer Bischof konnte bisher nicht festgestellt werden. Als Konrad am 5. Mai von Lüneburg aus die Rückreise antrat, besuchte er, über Dannenberg und die Elbfähre in Werben kommend, Wilsnack, wo er am 8.-Mai eintraf. Von dort führte der Weg über Tangermünde und Wolmirstedt nach Magdeburg, eine Strecke, die auch für andere Besucher Wilsnacks aus dem Süden gut be- 37 So etwa Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, F 20-F 22 die Privilegien durch Papst Bonifatius-IX. im Jahr 1401. Bestätigungen dieser und weiterer Privilegien erfolgten u. a. 1410 durch Papst Martin-V. und 1440 durch das Basler Konzil. 38 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, F-47. 39 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, P 27, Bl. 2r. Zu dieser Reise allgemein vgl. Karasek, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-95, zum Wilsnackbesuch ebenda S.-247. 40 Vgl. Hartmut Kühne, Zur Konjunktur von Heilig-Blut-Wallfahrten im spätmittelalterlichen Mecklenburg, in: Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte. Mecklenburgia Sacra 12 (2009) S.-76-115, bes. S.-86-92. 41 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, Q 30/ 31/ 34. 42 Vgl. Fuhrmann, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-206-209. Fürsten und Adlige in Wilsnack 29 zeugt ist. 43 Merkwürdig ist, dass in den akribisch geführten Rechnungen des Weinsbergers in Wilsnack keine speziellen Ausgaben für Opfer, Pilgerzeichenkäufe, die Feier einer Messe o. ä. ausgewiesen sind, dafür aber in Dannenberg ein Schilling zu opfern als er das heilig blut sahe doselbst festgehalten wird. 44 Ob dieser Eintrag vom Schreiber unter dem falschen Tag eingetragen wurde, oder es einen bisher nicht bekannten Gnadenort in Dannenberg gab, kann gegenwärtig nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. In beiden Fällen, 1426 wie 1436, muss auch die Überlieferung berücksichtigt werden: Von anderen Reisen Konrads ist bekannt, dass verschiedene, parallele Reisekassen geführt und die Manuale in Reinschriften übertragen wurden. Möglicherweise wurden weitere Ausgaben also von Konrad selbst aus dem Geldbeutel oder anderen Mitreisenden bestritten. Mag man die beiden Abstecher eines reisefreudigen Diplomaten noch als unwesentliche Episoden betrachten, so werfen die Zeugnisse des Jahres 1441 ein anderes Bild auf das Verhältnis Konrads zu dem Wallfahrtsort. Der im Reichsdienst tätige Finanzfachmann hatte inzwischen eine weitere Aufgabe übernommen, als er Anfang 1439 zum Protektor des Baseler Konzils ernannt wurde. Die Aufgabe des Protektors bestand darin, die Sicherheit der Konzilsteilnehmer in der Stadt und ihrer Umgebung sicherzustellen, wozu es einer Machtstellung bedurfte, wie sie etwa der erste Konzilsprotektor Herzog Wilhelm III. von Bayern-München (1375-1435) besaß, was aber „ein kleiner Herr ohne militärische Macht, noch dazu aus einem anderen Reichsteil“ 45 wie Konrad kaum leisten konnte. Dass Konrad dennoch dieses Amt übernahm, lag an der kirchenpolitisch, aber auch finanziell zunehmend bedrängten Lage, in der sich das Baseler Konzil Ende der 1430er Jahre befand. 46 Um zumindest dem finanziellen Notstand abzuhelfen, wollten die Konzilsväter auf die Gelder einer Ablassverkündigung zurückgreifen, die sie 1436 zur Unterstützung einer griechischen, d. h. byzantinischen Gesandtschaft für ein Unionskonzil im ganzen Reich angeordnet hatten. Da Papst Eugen IV. das Baseler Konzil 1437 für beendet erklärte, das Konzil daraufhin seinerseits den Papst absetzte und die „Griechen“ auf einer päpstlich orientierten Konzilsversammlung in Ferrara und Florenz über die Kirchenunion verhandelten, blieben die Ablassgelder 43 Vgl. Hartmut Kühne, Spätmittelalterliche Pilger und ihre Spuren zwischen Werben und Magdeburg, in: Die Altmark von 1300 bis 1600, hg. von Jiří Fajt/ Wilfried Franzen/ Peter Knüvener (2011) S.-252-266, hier S.-252-255. 44 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, P 32, Bl. 4 v . Der Eintrag ist schon bei Fuhrmann, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-208 knapp mitgeteilt. 45 Helmut Bansa, Konrad von Weinsberg als Protektor des Konzils von Basel 1438-1440, in: Annuarium Historiae Conciliorum 4 (1972) S.-46-82, hier S.-56. 46 Vgl. auch zum Folgenden Welck, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-53-69. 30 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek ungenutzt in den Bistümern liegen. Um diese Gelder für die Bedürfnisse des Konzils einzusammeln, schien der Diplomat und Finanzfachmann Konrad die richtige Person zu sein. Jedoch hatte er mit dieser Aufgabe weit weniger Erfolg als erwartet. Dass er die erhofften Geldmittel nicht eintreiben konnte, brachte ihn schließlich selbst in eine verzweifelte Lage, da er die ihm für seine Funktion zugesagte Entschädigung - monatlich immerhin 300 Gulden - nicht erhielt, selbst aber große Unkosten hatte. Als nach dem Tode König Albrechts dessen Cousin Friedrich III. von Österreich im Februar 1440 zum römisch-deutschen König gewählt wurde, verlor Konrad das seit Sigismund bestehende Vertrauensverhältnis zum Herrscher und auch das Protektorenamt; daher forderte er vom Konzil die Erstattung der ausstehenden Zahlungen von 5400 Gulden. 47 Da das Konzil ihm dieses Geld nicht auszahlen konnte, wurde ihm die Einziehung der Ablassgelder in den Kirchenprovinzen Mainz, Magdeburg und Riga sowie ihrer Suffragane übertragen, aus denen er seine Forderungen begleichen sollte; würde er mehr einnehmen, sollte er den Überschuss an die deutsche Konzilsnation auszahlen. 48 So machte sich der inzwischen wohl 72 Jahre alte Weinsberger im Juni 1441 von Neuenstadt am Kocher auf den Weg, um in Magdeburg, vor allem aber im Erzbistum Riga und insbesondere im Deutschordensland die Gelder des Konzils im eigenen Interesse einzusammeln. Diese Reise ist bereits vor einem halben Jahrhundert dargestellt worden. 49 Sie geriet für den inzwischen fast bankrotten Adligen zu einem Desaster, da er allenthalben vertröstet und an andere Personen und Institutionen verwiesen wurde. In unserem Zusammenhang ist aber von Interesse, dass er auf dieser Reise zwei Mal Wilsnack besuchte: Auf dem Weg von Magdeburg nach Lübeck, von wo er sich nach Danzig einschiffte, machte er in Wilsnack Station und erwarb hier für sich und die „Gesellen“ 13- Pilgerzeichen für 13- Pfennige. 50 Auf die Infrastruktur am Wallfahrtsort deuten Ausgaben für die Pferde (Schmied, Hafer, Stall) und die Bewirtung (u. a. Fleisch, eine Gans, Hühner, Butter, Brot und Bier) hin. Übernachtet wurde allerdings in Perleberg. Auch hier kann wegen verschiedener Reisekassen keine Vollständigkeit angenommen werden. Dass überhaupt mehrere Rechnungen und Akten zu einer solchen Reise erhalten sind, ist für das 15.-Jahrhundert eine große Besonderheit. Als Konrad nach plangemäßer Seereise auch auf der Marienburg vergeblich mit dem Hochmeister des Deutschen Ordens Konrad von Erlichshausen 47 Vgl. Welck, Konrad von Weinsberg (wie Anm. 30) S.-112-121. 48 Vgl. Ebenda S.-119; Karl Heinrich Lampe, Die Reise Konrads von Weinsberg im Auftrag des Baseler Konzils im Jahre 1441, in: Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift Erich Keyser, hg. von Ernst Bahr (1963) S.-58-65, hier S.-58-f. 49 Vgl. Lampe, Reise (wie Anm. 48). 50 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, G 62h, Bl. 5 r . Fürsten und Adlige in Wilsnack 31 (reg. 1441-1449) verhandelt hatte, kehrte er auf dem Landweg nach Lüneburg zurück, um sich mit den von ihm zur Einsammlung der Gelder Beauftragten zu treffen, dabei besuchte er nochmals das heilge blut gen welsnach. 51 In einem der Rechnungsbücher dieser Reise ist auf dem letzten Blatt von Konrad ein Gebet eingetragen, das im Zusammenhang mit einem der beiden Besuche in Wilsnack stehen muss. 52 (Abbildung 2) Diesen Text und ein gereimtes Mariengedicht hatte der regionalgeschichtlich interessierte Öhringer Stiftsprediger Adolf Friedrich Fischer bereits 1874 entdeckt und als Anhang in einem Aufsatz zu Stadt und Stift Weinsberg publiziert, um seinen Lesern „einiges Interesse für den Mann abzugewinnen“, da die beiden Gedichte „seine trübe Stimmung ausdrücken, so wenig auch poetischer Werth in ihnen liegen mag.“ 53 Das künstlerische Verdikt über die Dichtung verdankt sich freilich vor allem dem Geschmack des 19.-Jahrhunderts. Als Entdecker und Förderer des Meistersingers Michel Beheim, der von 1442 bis zum Tode Konrads 1448 in dessen Dienst stand, war er auf der literarischen Höhe der eigenen Zeit. 54 Da Fischer keine Angaben machte, wo er die beiden Gebete in den benutzten Archivalien entdeckt hatte, blieb die Fundstelle zumindest des Gebetes zum Heiligen Blut unbekannt. 55 Schon Dieter Karasek hatte 1967 einen Zusammenhang zwischen diesem Gebet und dem Wilsnackbesuch des Jahres 1441 vermutet 56 , was aber weder in der Literatur zu Konrad von Weinsberg noch in derjenigen, die Wilsnack betraf, rezipiert wurde. 57 Es ist ein glücklicher Zufall, dass unsere Recherchen über die Beziehungen des Reichserbkämmerers zur Wiederentdeckung des Textes im Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein führten. 58 51 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, G 63a; vgl. Lampe, Reise (wie Anm. 48) S.-62-f. 52 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, P 40, S.-41. 53 [Adolf] F.[riedrich] Fischer: Der Streit zwischen Herrschaft und Stadt Weinsberg, in: Württembergische Jahrbücher 2 (1874) S.-187-196, hier S.-195. Der handschriftliche Englische Gruß findet sich unter Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, Q 36. Zu Konrads literarischem Interesse ist weiterhin eine Aufstellung über seine Bücher von 1445 zu ergänzen; Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, Q 37. 54 Vgl. Hans Rupprich, Die Deutsche Literatur. Vom Späten Mittelalter bis zum Barock, Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520 (1994) S.-224-227; s.-a. Ulrich Müller, Art. Beheim, Michel, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 1 (1978) Sp.-672-680. 55 „Die Aufbewahrungsstelle des Gesangs auf das heilige Blut Christi im Weinsberger Archiv ist z.-Z. leider unbekannt“, so Karasek, Konrad (wie Anm. 30) S.-305, Anm. 1087. 56 Karasek, Konrad (wie Anm. 30) S.-247. 57 Auch Frieder Schanze, Art. Konrad von Weinsberg, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 5 (1984/ 85) Sp.-269-270, erwähnt diesen Zusammenhang nicht. 58 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, P 40, S.-41. 32 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek Abbildung 2: Konrad von Weinsberg, Gebet zum Heiligen Blut Da es sich bei dem gereimten Gebet um ein einzigartiges Zeugnis einer persönlichen Frömmigkeit handelt, die mit der Wilsnacker Wallfahrt verbunden ist, soll es hier - wenngleich eine weitere (auch literatur- und sprachwissenschaftliche) Untersuchung aussteht - vollständig abgedruckt werden: Chum heil’ges Blut mir zu trost, Ob ich werden moht herlost Nach gnaden din von herzenleit, Rat und hilf, daz hin werd geleit. 5 Al min sünd und trüren gar, Trüwlich min sel und er bewar Fürsten und Adlige in Wilsnack 33 Hie und dort umer ewiecklich, Erfül min hertz mit gnaden rich, Rüffen zu dir mit gantzer maht 10 Zu aller zyt beyd’ tag und naht. Us gründ mins hertzen sunder neit, Wan al min trost gantz an dir leit. Jch mag nümer herfrewet werden, Noch trost gehaben uff dieser erden, 15 Sunder an die hilffe din. Prüwe in dem hertzen min, Erkenen dich was ich von dir han, Ruw und byht: verly mir so ich stan Gnadericher Crist vor dem prister din, 20 Der von mir da sol nemen inn, Was ich dan ye gesündet han Mit fürsatz, daz ich wolle lan Alle sünd zu aller frist, Daz helff mir unser her Jhesu Christ. 25 Hiemit hat dies gebet ein end, Got uns allen kumer wend, Und alle, die dies lassen sin, Behüten vor der helle pin Und vor allem herzenleit, 30 Daz helff uns Marya, die reine meit. Biet für den, der dies hat gemaht Nach Christenburt als man aht Virzehnhundert virczieg ein iar, Dies gebet mus an uns werden war. Das Gebet demonstriert die innige Beziehung des Schreibers zu dem eucharistischen Mirakel. Er erhofft sich vom Heiligen Blut Trost, Gnade und Hilfe, aber auch Vergebung. Der Priester, der die Sünden abnimmt, verweist auf die unter dem Eindruck des Heiligen Blutes geleistete Beichte - möglicherweise bei einem mitreisenden Beichtvater. In Demut vor Christus und Gott wird weiterhin die Fürbitte Marias erbeten. Der Vers 31 Biet für den, der dies hat gemaht ist ein wichtiger Hinweis auf die eigene Verfasserschaft Konrads von Weinsberg. 34 Hartmut Kühne und Martin Sladeczek Der außerordentliche Eindruck, den Wilsnack auf Konrad gemacht haben muss, und die individuelle Frömmigkeit, die daraus resultierte, zeigen aber auch Stiftungen in seinem heimischen Umfeld. Nach der Rückkehr von der dritten Reise nach Norddeutschland stiftete er mit seiner Frau um 1442 eine dem Heiligen Blut und dem Heiligen Kreuz geweihte Vikarie in der Kapelle der Burg Weinsberg. 59 Der Besuch Wilsnacks dürfte für Konrad also mehr als nur eine zufällige Reisestation gewesen sein. Sicher war es kein Zufall, dass er den Ort auf jeder dieser Reisen besuchte und dafür auch Umwege in Kauf nahm. Ob er auf seiner ersten Reise auf die Wallfahrt aufmerksam wurde, oder durch den Kontakt zum Hof Sigismunds und die überregionale Bekanntheit bereits zuvor ein Verehrer des Heiligen Blutes geworden war, lässt sich aus dem zeitlichen Ablauf der vorhandenen Quellen nicht eindeutig feststellen. Konrad IX. von Weinsberg und die anderen genannten Beispiele verdeutlichen die eingangs vertretene Behauptung, dass Wilsnack auch von Fürsten und Adligen immer wieder besucht wurde. Dabei konnte das „Heilige Blut“ sowohl einziger Grund einer Reise, aber auch Station auf dem Weg sein. Die fürstlichen und adligen Gäste waren wegen der Gruppengröße und ihrer finanziellen Potenz sicher ein wirtschaftlicher Faktor für Wilsnack und für andere Wallfahrtsorte. Nicht unterschätzt werden sollte aber auch der kommunikative Aspekt: Besonders solche Reisegruppen sorgten für die weiträumige Verbreitung von Informationen über die Wilsnacker Wallfahrt und fungierten daher als Multiplikatoren. 59 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, F 65. Zu unbekanntem Zeitpunkt verhandelte Konrad mit dem Würzburger Bischof wegen einer Frühmessstiftung für die Stadtkirche von Aub, im dortigen „hinteren Chor“, der dem Heiligen Blut geweiht war. Da allerdings weiterhin unbekannt ist, ob dieses Patrozinium schon länger bestand, ist ein Zusammenhang mit Wilsnack nicht sicher; Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, GA 15, F 52. Fürsten und Adlige in Wilsnack 35 Wilsnack in den Niederlanden* Jan van Herwaarden Die Verehrung des Heiligen Blutes von Wilsnack 1 hat in den Niederlanden deutliche Spuren hinterlassen, wie vor allen Dingen aus der Praxis weltlicher Gerichte deutlich wird, Wallfahrten als Strafe zu verhängen. 2 Die gerichtlichen Entscheidungen offenbaren eine bunte Vielfalt an Verurteilungen. Die zusätzlichen Bestimmungen zeigen die Mannigfaltigkeit an strafbaren Taten und eine große Vielfalt von Verpflichtungen. Wilsnack als auferlegtes Reiseziel war vor allem in Antwerpen, Holland und Zeeland üblich. 3 Das „Signum“ des Ortes, die drei Hostien, ist in vielerlei Gestalt, zum Beispiel auf Glocken, bewahrt geblieben und als Pilgerzeichen in der Form eines Abzeichens hier und da wiederaufgefunden worden. 4 * Übersetzung aus dem Niederländischen von Friedel Helga Roolfs. Dies betrifft ggf. auch die Übersetzung der niederländischen Zitate. 1 Volker Honemann, Das Wilsnacker Wunderblut, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10 (1999) Sp. 1171-1178; Mario Müller, Das Wilsnacker Wunderbut, in: Killy Literaturlexikon 12 (2011) S.-434-438; Charles Zika, Hosts, processions and pilgrimages: controlling the sacred in fifteenth-century Germany, in: Ders., Exorcising our demons. Magic, witchcraft and visual culture in early modern Europe. Studies in Medieval and Reformation Thought XCI (2003) S.-155-196, bes. S.-179-191 und 193-194; vgl. für eine Übersicht noch immer Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen XVI (1881) S.-133-301; vgl. G.J.C. Snoek, Medieval piety from relics to the Eucharist. A process of mutual interaction. Studies in the History of Christian Thought LXI (1995) 332-334 und Anm. 104: ‘Fireproof Hosts’; in Nederland: Amersfoort (1340); Stiphout (1342); Dordrecht (1457); Meersen (1465). 2 Jan van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten. Een studie over de praktijk van opleggen van bedevaarten (met name in de stedelijke rechtspraak) in de Nederlanden gedurende de late middeleeuwen (ca 1300-ca 1550) (1968); Étienne van Cauwenbergh, Les pèlerinages expiatoires et judiciaires dans le droit communal de la Belgique au moyen âge. Recueil de travaux publiés par les membres des conférences d’histoire et de philosophie 48 (Louvain 1922); vgl. Lorenza Vantaggiato, Pellegrinaggi giudiziari dalla Fiandria a San Nicola di Bari, a Santiago di Compostella e ad altri santuari (secc. XIV-XV), (Studi e Testi 5, 2010). 3 Jan van Herwaarden, Pilgrimages and social prestige. Some reflections on a theme, in: Gerhard Jaritz/ Barbara Schuh (Red.), Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit. Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 14 (1992) S.-27-79, bes. S.-34-35; vgl. van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-414 und passim, siehe „Index op bedevaartsoorden“ s.v. Wilsnack. 4 Carina Brumme/ Hartmut Kühne, Jenseits von Wilsnack und Sternberg: Pilgerzeichen spätmittelalterlicher Heilig-Blut-Wallfahrten, in: Varia campanologiae studia cyclica. 25 Jahre Deutsches Glockenmuseum auf Burg Greifenstein. Zugleich eine Festschrift für Jörg Poettgen zur Vollendung des 70. Lebensjahres (Schriften aus dem Deutschen Einen bemerkenswerten Eindruck von der Popularität des Wallfahrtsortes geben zwei Eintragungen in hanseatischen Quellen von 1424 und 1480. In der ersten geht es um vierzehn Groninger, die im Jahre 1423 auf dem Weg ten hillighen bloede in Wilsnack von Dienern des Bremer Erzbischofs gefangengenommen wurden. In der zweiten ist von elf Engländern die Rede, die im geldrischen Nijkerk gefangengenommen wurden, während sie pilgrijmsgewyze reisende [waren] nae Wilsnack, om ’t hillige bloet aldair te versueken, gude, truwe, rechtverdige mannen (‚nach Pilgerart unterwegs nach Wilsnack waren, um das Heilige Blut dort zu besuchen, gute, treue, rechtschaffene Männer‘). 5 Beide Eintragungen zeigen jedenfalls, dass Pilger in Gruppen reisten, und zeugen nicht nur von der Popularität des Wallfahrtsortes Wilsnack, sondern auch von den Gefahren unterwegs. Im zweiten Fall war dies eine Folge der Streitigkeiten, die zu jener Zeit die Wege unsicher machten, weil een … distelveld was omhoog gegroeid tussen Holland en Gelre - ‚ein Distelfeld zwischen Holland und Geldern in die Höhe gewachsen war‘. 6 Hostienwunder Hostienwunder waren seit dem dreizehnten Jahrhundert populär, aber keineswegs unumstritten. 7 Das galt mit Sicherheit im Hinblick auf Wilsnack, über Glockenmuseum 6, 2009) S.- 129-142: nur ein Typus der Pilgerzeichen, nämlich drei in einem Dreieck zusammen gefügte Hostien; Otto-Friedrich Gandert, Das Heilige Blut von Wilsnack und seine Pilgerzeichen’, in: Brandenburgische Jahrhunderte. Festschrift für Johann Schultze zum 90. Geburtstag (1971), hg. von Gerd Heinrich/ Werner Vogel S.-73-90: behauptet irrtümlicherweise auch einen Monstranz-Typus; H.J.E. van Beuningen/ A.M. Koldeweij, Heilig en Profaan. 1000 Laatmiddeleeuwse insignes uit de collectie H.J.E. van Beuningen. Rotterdam Papers VIII (1993) S.- 145-146, Abb. 130-137; H.J.E. van Beuningen/ A.M. Koldeweij/ D. Kicken/ H. van Asperen, Heilig en Profaan 3. 1300 laatmiddeleeuwse insignes uit openbare en particuliere collecties (2012) S.-248-249, Abb. 2778-2780; vgl. Cornelia Oefelein, The signs - and bells - of mass pilgrimage, in: Mobs: an interdisciplinary inquiry, hg. von Nancy van Deusen (2012) S.-231-268. 5 Z.W. Sneller, Rotterdamsche poorters te Deventer en te Wilsnack, anno 1430, in: Ders., Rotterdams bedrijfsleven in het verleden (1940) S.-1-30; hier S.-26, Anm. 3. 6 Siegfried B.J. Zilverberg, David van Bourgondië, bisschop van Terwaan en van Utrecht (1427-1496) (Bijdragen van het Instituut voor Middeleeuwse Geschiedenis der Rijksuniversiteit te Utrecht 24, 1951) S.-68; es gibt keine übersichtliche Monografie zu den Streitigkeiten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den nördlichen Niederlanden; zu Holland und Zeeland: Michel Joost van Gent, Pertijelike saken: Hoeken en Kabeljauwen in het Bourgondisch-Oostenrijkse tijdperk (1994); vgl. Algemene Geschiedenis der Nederlanden 4 (1980) S.-291-299. 7 Für eine Übersicht vgl. noch immer: Peter Browe S.J., Die eucharistischen Wunder des Mittelalters. (Breslauer Studien zur historischen Theologie, Neue Folge 4, 1938); Caroline Walker Bynum, Wonderful blood. Theology and practice in late medieval Northern Germany and beyond (2006), zu Wilsnack S.-25-46; vgl. Krzysztof Bracha, Zwischen mi- 36 Jan van Herwaarden Wilsnack in den Niederlanden 37 das Kardinal Nikolaus von Kues 1453 während seiner berühmten Rundreise als päpstlicher Legat in deutschen Landen - wozu auch die Niederlande großenteils gehörten - ein paar Mal den Stab gebrochen hat. 8 Es ist sicher, dass er in Haarlem eine Predigt gehalten hat, in der er die Wilsnacker Hostienverehrung missbilligte. 9 Vielleicht hielt er die Predigt gerade deshalb dort, weil Hostienwunder in Holland dem Geschmack der um ihre Frömmigkeit Bemühten entsprachen. 10 Das Hostienwunder von Amsterdam, die „Heilige Stätte“, war seit 1345 eine religiöse Attraktion sondergleichen, während in Nordholland das Heilige Blut von Bergen seit 1422 und dasjenige von Alkmaar seit 1429 viele Pilger anzogen. Auch racula, mirabilia und mira. Die Wallfahrten nach Wilsnack im Urteil Jakobs von Paradies, in: Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter, hg. von Felix Escher/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 2, 2006) S.-165-177, bes. S.-169-171: der Streit zwischen 1443-1453, Nikolaus von Kues; siehe auch Kristen van Ausdall, Doubt and authority in the host-miracle shrines of Orvieto and Wilsnack, in: Art and architecture of late medieval pilgrimage in northern Europe and the British isles. Texts, hg. von Sarah Blick/ Rita Tekippe (Studies in Medieval and Reformation Traditions 104, 2005) S.-513-538, bes. S.-529-538 zu Wilsnack. 8 Erich Meuthen, Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/ 52, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Hartmut Boockmann/ Bernd Moeller/ Ludger Grenzmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3, Folge Nr. 179, 1989) S.- 421-499; vgl. Jutta Fliege, Nikolaus von Kues und der Kampf gegen das Wilsnacker Wunderblut, in: Das Buch als Quelle historischer Forschung, hg. von Joachim Dietze/ Jutta Fliege/ K. Klaus Walther (1977) S.-62-70; Hartmut Boockmann, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982) S.- 385-408,bes. S.- 403-404 zu Nikolaus von Kues; vgl. Morimichi Watanabe, The German church shortly before the Reformation: Nicolaus Cusanus and the veneration of the bleeding hosts at Wilsnack, in: Reform and Renewal in the Middle Ages and the Renaissance. Studies in Honour of Louis Pascoe S.J., hg. von Thomas M. Izbicky/ Christopher M. Bellitto (Studies in the History of Christian Thought 96, 2000) S.-210-223; Snoek, Medieval piety (wie Anm. 1) S.-376-379: Debatte über die sakramentale Wundermacht u. a. der Wilsnacker Hostien. 9 Josef Koch, Untersuchungen über Datierung, Form, Sprache und Quellen. Kritisches Verzeichnis sämtlicher Predigten. Cusanus Texte I. Predigten 7: Untersuchungen (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Jahrgang 1941/ 42, 1. Abteilung, 1942) S.-103 und Anm. 1: „XCV, In Harlem die lune post octavas nativitatis Marie, 1451“; Text in: Biblioteca Vaticana, Vat. Lat. 1245, 31 rb -31 va ; Magdeburg, Domgymnasium 38, 44 v . 10 Zum allgemeinen „Geschmack” siehe J. van Herwaarden, Religion and society: the cult of the eucharist and the devotion to Christ’s passion sowie Late-medieval religion and expression of faith: pilgrimages to Jerusalem and the cult of the passion and the way of the cross, beide in: Ders., Between Saint James and Erasmus. Studies in late-medieval religious life: devotions and pilgrimages in the Netherlands (Studies in Medieval and Reformation Thought 97, 2003) S.-15-35 bzw. 36-85; vgl. Ch.M.A. Caspers, De eucharistische vroomheid en het feest van Sacramentsdag in de Nederlanden tijdens de late middeleeuwen (Miscellanea Neerlandica 5, 1992). 38 Jan van Herwaarden in anderen niederländischen Gegenden erfreute sich gerade dieser Typus der Wallfahrt großer Beliebtheit. In Helpman bei Groningen gab es ein Hostienwunder, das sich 1483 ereignet hatte. Wie in Wilsnack ein Jahrhundert zuvor handelte es sich um drei wiederaufgefundene Hostien. 11 Am 12.-Juli 1495 wurde einem Einwohner von Kampen in einem Vergleich nach einem Totschlag auferlegt, unter anderem für die Seele des Opfers Wallfahrten zu unternehmen ten Hilligen blode ten Wilsenaken, Unserer Lieben Frau zu Amersfoort, der Heiligen Stätte zu Hasselt und der Hilliger Stede by Groningen, womit die Heilige Stätte von Helpman gemeint war, die hier also in einem Atemzug mit dem verwandten Wilsnack genannt wird. 12 Der Ruhm von Wilsnack Eine Eintragung in der Rotterdamer Stadtrechnung von 1429/ 1430 zeigt, dass die Wilsnacker Wallfahrt bereits Teil des üblichen Verhaltens von Händlern und Pilgern aus Rotterdam geworden war: Item Mouwerijn [een van de Rotterdamse stadsbodes] gesent tot Amersfoirt om onssen poirteren die tot Deventer in de marct waren, ende oic die waren upten wech then heyligen bloede te waerscuwen, (Item Mouwerijn [einer der Rotterdamer Stadtboten] nach Amersfoort geschickt, um unsere Bürger, die zum Markt nach Deventer gefahren waren, und auch die, die auf dem Weg zum Heiligen Blut waren, zu warnen) in diesem Fall vor möglichen Schwierigkeiten in Utrecht. Die Bemerkung zielte vor allen Dingen auf die Rotterdamer Tuchhändler, die in den deutschen Gebieten einen großen Absatzmarkt besaßen, aber sie galt natürlich auch den Rotterdamer Wilsnack-Pilgern. Im Handel mit den östlich gelegenen deutschen 11 Browe, Die eucharistischen Wunder (wie Anm. 7) S.-214-217: Ortsliste; siehe weiter für die Niederlande: Peter Jan Margry/ Charles Caspers (Red.), Bedevaartplaatsen in Nederland 1: Noorden Midden-Nederland (1997) S.-109-115: Alkmaar ( Jurjen Vis) S.-134-150: Amsterdam (Peter Jan Margry) S.-201-205: Bergen N.-H. (Frits David Zeiler); des Weiteren in Holland: S.-308-310: Dordrecht, 1338/ 1429 (Gerrit Verhoeven); außerhalb Hollands: ebd. S.-130-131: Amersfoort, 1340 (Ottie Thiers); S.-421-431: Hasselt (Ov.), 13e/ 14e eeuw (Willem Frijhoff); S.- 460-462: Helpman (Folkert Bakker/ Remi van Schaïk); S.- 553-556: Middelburg, 1374 (Charles Caspers/ Peter Sijnke); S.- 709-710: Schraard, ca. 1410 (Harm Oldenhof); S.-721-723: Solwerd, Anfang 16. Jh. (Folkert Bakker/ Remi van Schaïk); Bedevaartplaatsen in Nederland 2: Provincie Noord-Brabant (1998) S.-144-155: Boxmeer, ca 1400 (Peter Meurkens/ Jeroen van de Ven); S.-158-171: Boxtel, ca. 1380 ( Jeroen van de Ven); S.-173-185: Niervaart/ Breda, Sacrament van de Niervaart, ca. 1300/ 1449 (Charles Caspers); S.-815-819: Stiphout, 1342 (Henk Roosenboom); Bedevaartplaatsen in Nederland 3, Provincie Limburg (2000) S.-562-582: Meersen, 1222/ 1465 (Charles Caspers/ Jan van Herwaarden). 12 G.A. Meijer, Boetebedevaarten, in: Archief voor de geschiedenis van het Aartsbisdom Utrecht 38 (1912) S.-132-137, bes. S.-135-136. Wilsnack in den Niederlanden 39 Gebieten spielte Deventer eine Schlüsselrolle. Es geht hier aber vor allem um den Hinweis auf das Heilige Blut, womit zweifellos Wilsnack gemeint ist: Wilsnack lag im Absatzgebiet Deventers. Zwischen Holland und Brandenburg bestanden direkte Handelskontakte, die auch bei der Verbreitung von Nachrichten über einen neuen Wallfahrtsort förderlich waren. 13 Abbildung 1: Wilsnack, St. Nikolaus, Fenster des Frans von Borsselen 13 Sneller, Rotterdamsche poorters (wie Anm. 5) S.-1: die Notiz über Mouwerein; S.-23-28: Holländer auf dem Weg nach Wilsnack. 40 Jan van Herwaarden Einen Eindruck von der Popularität des Wallfahrtsortes im Rahmen dieser Kontakte bietet das Testament der Holländischen Gräfin Jakoba von Bayern (1401- 1436). Sie legte einen Betrag für ihren Fackelträger Jan van der List fest - dessen Ehefrau die Amme von Jakoba gewesen war -, um es ihm zu ermöglichen, nach Wilsnack zu reisen. 14 Auch Jakobas vierter Ehemann, der seeländisch-holländische Edelmann Frank van Borsselen (ca. 1400-1471), scheint, nach den Glasmalereien zu urteilen, die er 1460 und 1461 in der Wilsnacker Nikolaikirche anbringen ließ (Abbildung 1), eine Vorliebe für Wilsnack gehabt zu haben. 15 Dergleichen Beziehungen bestanden auch zwischen anderen niederländischen Regionen und dem deutschen Hinterland. So befand sich neben dem Taufbecken in der Heilig-Kreuz-Kirche bei Brügge eine Malerei mit der Darstellung der Wunder des Heiligen Blutes von Wilsnack, gestiftet durch den Vorsteher der vereidigten Schiffer zwischen Brügge und Sluis. 16 Der Mangel an Informationen über „Pilger aus Frömmigkeit“ wird aufgehoben „durch eine leidliche Anzahl von Stammesgenossen, die ihre Namen und tadelnswerten Taten in die Prozess- und Urteilsregister unserer alten Schöffengerichte eingeschrieben sahen“. 17 Demnach markieren vor allem Informationen über Strafwallfahrten die Position Wilsnacks im Frömmigkeitspektrum. Soweit überhaupt vertrauenswürdige Informationen vorhanden sind - und dann betrifft es eben die Strafwallfahrten -, handelt es sich in der Gerichtsbarkeit um höchstens einige Dutzend Pilger verteilt über einen großen Zeitraum. Wir wissen nichts über das zahlenmäßige Verhältnis zwischen diesem Typus und den freiwilligen Wallfahrten, sondern können nur vermuten, dass der Anteil von Strafwallfahrten an den Pilgerreisen insgesamt relativ gering gewesen ist. Gleichwohl darf angenommen werden, dass die Häufigkeit, mit der ein Wallfahrtsort in gerichtlichen Urteilen vorkommt, die Popularität des betreffenden Ortes widerspiegelt. 14 Codex diplomaticus neerlandicus. Verzameling van oorkonden, betrekkelijk de vaderlandsche geschiedenis, uitgegeven door het Historisch Genootschap gevestigd te Utrecht, tweede serie, eerste afdeeling (1852) S.-210. 15 H. Janse, Een Nederlands gebrandschilderd glas in de Heilig Bloedkerk te Wilsnack (Duitsland), in: Bulletin Koninklijke Nederlandse Oudheidkundige Bond 91 (1992) S.-21- 26; A.A. Arkenbout, Frank van Borselen, ca. 1400-1470. Het dagelijks leven op zijn hoven in Zeeland en the Maasmondgebied (1994) S.-171 (Rechnung 5584) S.-173, S.-178, S.- 184-185: Abbildung; S.- 187-192: „Heer Frank en het venster in de kerk te Wilsnack“ (heraldischer Kommentar); Uta Bednarz, Die niederländischen Glasmalereien in der Wilsnacker Nikolaikirche, in: Die Altmark von 1300 bis 1600. Eine Kulturregion im Spannungsfeld von Magdeburg, Lübeck und Berlin, hg. von Jiří Fajt/ Wilfried Franzen/ Peter Knüvener (2011) S.-292-303. 16 Rijksarchief Brugge, Nieuw Kerkarchief 393: Decanale verslagen district bisdom Brugge, Sint Kruis door Hubertus Waeghenaers (28 december 1651). 17 Antoon Viaene, Vlaamse pelgrimstochten (1982) S.- 104: „… door een redelijk aantal stamgenoten die hun namen en berispelijke daden zagen inschrijven in de registers van processen en vonnissen van onze oude schepenbanken.“ Wilsnack in den Niederlanden 41 In der Literatur wird gern von der großen Zahl von Pilgern gesprochen, insbesondere wenn es um Wilsnack geht, aber es ist die Frage, wie groß die Zahlen tatsächlich gewesen sind. Dass sich unter den „hordes of pilgrims who swarmed to the bleeding host at Wilsnack“ auch Brügger befanden, ist unbestreitbar, aber von „Horden“ zu reden, ist wahrscheinlich übertrieben, und es geht viel zu weit, anzunehmen, dass Wilsnack den Platz von Santiago de Compostela als „the favoured place for long-distance punishment“ einnahm. 18 Im niederländischen Wikipedia-Eintrag zur Wilsnacker Wunderblutkirche ist diese Übertreibung noch forciert worden: Wilsnack wird hier „het Santiago van Noord-Europa“ genannt. Es ist dort das Ziel eines der größten Pilgerströme des Spätmittelalters im Abendland. Dann folgt die nach meinem Dafürhalten quantitative Übertreibung: „meer dan 170 jaar lang [? ; 1383-1552 = 169] pelgrimeerden honderdduizenden [??] bedevaartgangers naar Wilsnack om de relieken van het Heilig Bloed te bezoeken“ (‚mehr als 170 Jahre lang pilgerten hunderttausende Wallfahrer nach Wilsnack, um die Heilig-Blut-Reliquien zu besuchen‘). 19 Ich vermute, dass es sich bei den populärsten Orten wahrscheinlich um einige Tausend Besucher pro Jahr handelte. Dank Wilsnack dem Tode entronnen Wie stark sich der Ruf von Wilsnack in das kollektive Erleben eingenistet hat, zeigt uns ein Ereignis, das 1436 in dem seinerzeit Flandern zugehörigen Sluis geschehen ist. Am Abend des 3. Juni entstand ein Streit zwischen ein paar Flamen und einer Gruppe „Oosterlingen“ (das sind Leute aus dem Ostseegebiet) mit katastrophaler Folge: Der einen Überlieferung zufolge fanden vierzig, einer anderen zufolge sechzig und einer wieder anderen zufolge siebzig oder achtzig „Oosterlinge“ den Tod. 20 Am folgenden Tag wurden die vier Haupttäter gefangen genommen, von denen drei wiederum einen Tag später, also am Dienstag, den 5. Juni 1436, enthauptet wurden. Nummer vier, ein gewisser Loy Jordaens, entging seinem Schicksal auf wunderbare Weise. Als er mit gefesselten Händen und verbundenen Augen vor dem Henker kniete, rief er die Wundermacht des Heiligen Blutes von Wilsnack an und gelobte, das Heiltum zu besuchen, wenn er dem Tod entkäme. Während der Henker sein Schwert hob, bebte die Erde, weshalb der Henker sein Schwert fallen ließ und sich mit den Herren des 18 Andrew Brown, Perceptions of relics: civic religion in late medieval Bruges, in: Images of medieval sanctity. Essays in Honour of Gary Dickson, hg. von Debra Higgs Strickland (2007) S.-185-205, bes. S.-186-187 und Anm. 13. 19 „Het Santiago van Noord-Europa werd in de 15e eeuw de bestemming van een van de grootste pelgrimsstromen van de late middeleeuwen in het Avondland’“, nl.wikipedia. org/ wiki/ Heilig_Bloedkerk_ (Bad_Wilsnack) (Stand 20.8.2018). 20 Werner Paravicini, Schuld und Sühne: Der Hansenmord zu Sluis in Flandern anno 1436, in: Wirtschaft - Gesellschaft - Mentalitäten im Mittelalter: Festschrift zum 75. Geburtstag von Rolf Sprandel, hg. von Hans-Peter Baum (2006) S.-401-451, siehe S.-433 die Zahlen der Opfer und S.-441-446 zu Wilsnack. - Für diesen Literaturhinweis danke ich Hartmut Kühne. 42 Jan van Herwaarden Gerichts aus dem Staub machte. Loy konnte seine Hände befreien, nahm die Augenbinde ab und lief ruhig durch die Menge des Volks, die auf dem Markt versammelt war, wohl zweitausend Mann, zur Kirche Unserer Lieben Frau und kniete dort vor dem Marienbild und dem Heiligen Kreuz (das dort offenbar besonders verehrt wurde), um anschließend die Stadt in Richtung Wilsnack zu verlassen. 21 Reiserouten nach Wilsnack Das Rotterdamer Beispiel zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen Handels- und Pilgerwegen gab. Es gibt Fälle, in denen ein Heiltum seine Entstehung dem Wunsch zu verdanken hat, die eigene Stadt (und den Handelsmarkt) attraktiver zu machen und regelmäßigen Verkehr (und Einkommen) dorthin zu lenken. Vielleicht hatte das unbedeutende Wilsnack die Chance ergriffen, über das Hostienwunder ein attraktiver Zwischenstopp, aber auch ein Reiseziel zu werden. In jedem Fall ist ab und zu unverkennbar, dass Reisende für einen Besuch in Wilsnack einen Umweg machten. 22 Wie auch immer, Pilgerrouten und Handelswege korrespondierten miteinander, auch wenn nicht jeder Handelsweg eine Pilgerroute war und auch nicht jede Pilgerroute ein Handelsweg zu sein brauchte. Die berühmte Etzlaub-Karte zeigt als Vademecum für das Heilige Jahr 1500 in erster Linie die Routen aus allen Teilen Europas nach Rom. Die Karte konnte ohne große Mühe zu einer Karte der europäischen Handelswege umgearbeitet werden. 23 Auf solch einer Karte ist Wilsnack an einer Nord-Süd-Route (Wismar oder Rostock - Sternberg - Wilsnack - Tangermünde 24 - Magdeburg 25 ) zu finden (Abbildung 2), ohne klaren Anschluss an eine West-Ost-Route. 26 21 Kronyk van Vlaenderen van 580 tot 1467, hg. von Constant Philippe Serrure/ Philip Marie Bloemmaert II (1840) S.-39; vgl. Antonis de Roovere, Een keus uit zijn werk, met inleiding en aanteekeningen van Th. de Jager (1927) S.-96, dort auf den Dreifaltigkeitstag 12. Juni 1435 datiert; abgesehen von der bemerkenswerten Wunderrolle, die Wilsnack einnimmt, zeigt dieses Urteil eine spezifische Heilig-Kreuz-Verehrung in Sluis, die als solche noch nicht in das Register des Meertens-Instituts aufgenommen worden ist (vgl. Margry/ Caspers, Bedevaartplaatsen in Nederland 1 [wie Anm. 11] und das Internetregister). 22 Vgl. Oefelein, Signs (wie Anm. 4) S.-238. 23 Herbert Krüger, Des Nürnberger Meisters Erhard Etzlaub älteste Straßenkarten von Deutschland (1958; = Jahrbuch für fränkische Landesforschung 18 [1958] 1-286); die hier angegebenen Ortsnamen stehen auf der beigefügten Landstraßenkarte von 1501. Siehe dazu Erhart Etzlaubs Reisekarte durch Deutschland, Faksimile hg. von W. Wolkenhauer (1919). 24 Christine Lehmann, Tangermünde. Auf der Suche nach der wundertätigen Maria, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne- Katrin Ziesak (2005) S.-75-79. 25 Hartmut Kühne, Magdeburg - Wallfahrt und Wallfahrtskritik unter dem Mauritiusbanner, in: Kühne/ Ziesak, Wilsnackfahrt (wie Anm. 24) S.-169-176. 26 Vgl. Hartmut Kühne, Spätmittelalterliche Pilger und ihre Spuren zwischen Werben und Magdeburg, in: Fajt/ Franzen/ Knüvener, Die Altmark (wie Anm. 15) S.- 252-266; dort Wilsnack in den Niederlanden 43 Abbildung 2: Etzlaub, Romweg-Karte 1500, Ausschnitt Dieser Anschluss kann jedoch durch Ortsnamen auf der Karte ergänzt werden: Aus den nördlichen Niederlanden, und zwar vor allem aus Holland und Seeland, führt die Route nach Deventer, das auf der Etzlaub-Karte mit den Handelswegen in Großbuchstaben eingetragen ist, um die Bedeutung dieser Hansestadt herauszustellen (auf der Romwegkarte steht Deventer in Kleinbuchstaben). Von dort aus, kann weiter gefolgert werden, wendeten sich ostwärts Reisende weiter nach Osnabrück, Minden, Hannover, Celle, Salzwedel (die Karte suggeriert dessen Lage an der Elbe), von dort bei Werben 27 über die Elbe und weiter nach Wilsnack oder aber von Hannover via Gifhorn 28 nach Stendal und wiederum über Werben nach Wilsnack (Abbildung 3). die Romreisen-Etzlaub-Karte. 27 Hartmut Kühne, Werben/ Elbe - Von Barbieren, Fährleuten, Ordensrittern und dem Haupt Johannes des Täufers, in: Kühne/ Ziesak, Wilsnackfahrt (wie Anm. 24) S.-80-100. 28 Der Ortsname Gifhorn erscheint auf Etzlaubs Landstraßen-Karte von 1501 auf halbem Wege zwischen Brunsvig (Braunschweig) und Zelle (Celle) - die Route verläuft dann von Gifhorn via Wolfsburg, Oebisfelde und Gardelegen nach Stendal), vgl. Erhart Etzlaubs Reisekarte durch Deutschland (wie Anm. 23). 44 Jan van Herwaarden Abbildung 3: Etzlaub, Verkehrswege-Karte 1501, Ausschnitt Vom heutigen Belgien aus, insbesondere ab Flandern, führte die Route zunächst nach Aachen, dem Brügger Itinerarium zufolge von Brügge via Ursele, Gent, Dendermonde, Mecheln, Aarschot, Diest, Hasselt, Maastricht, mit der Variante ab Dendermonde: Vilvoorde, Löwen, Tienen, Sint Truiden, Tongeren, Maastricht, dann weiter nach Aachen und von dort via Jülich nach Köln. 29 Ab Köln ist auf der Handelswegekarte deutlich eine Route eingetragen, der Hellweg ‚heller, breiter Weg‘ 30 - über Unna, Werl, Soest, Geseke, Paderborn, Horn, Blomberg, Hameln und Hildesheim nach Braunschweig, wo auf der Karte diese West-Ost- Route endet, aber sie kann weitergeführt werden nach Stendal, Tangermünde oder Werben, von wo aus dann Wilsnack in Reichweite liegt. 31 29 Viaene, Vlaamse pelgrimstochten (wie Anm. 17) S.-104-105; vgl. Joachim Lelewel, Itinéraire Brugeois de la fin du XIVe siècle, in: Épilogue de la géographie du moyen âge (1857) S.-281-308, bes. S.-285 (vgl. Itinéraire Brugeois, composé vers 1380, publié d’après la copie du manuscrit de la bibliothèque de Gand. Extrait de la Géographie du Moyen âge, par J. Lelewel (1858) S.-5-32 (UB Gent bkt01: 000140639, einsehbar via Internet mit dem Suchbegriff Itinéraire brugeois Lelewel). 30 Joachim Hartig, Hirschweg, Heßweg und Hessenweg, in: Niederdeutsches Wort: Beiträge zur niederdeutschen Philologie 4 (1960) S.-80-91, bes. S.-85; der westfälische ‚Hellweg‘ ist eine Überlandverbindung zwischen Rhein und Elbe. In den Niederlanden sind diverse Hessenwege als West-Ost-Verbindungen bekannt, vgl. S.J. Fockema Andreae, Hessenwegen, in: Mededelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, Afdeling Letterkunde, Nieuwe Reeks 20 (1957) S.-283-301: Nr. 11. 31 Krüger, Straßenkarten (wie Anm. 23) S.-156-161: „Der Hellweg von Aachen über Paderborn nach Braunschweig“; siehe auch S.-224 (allgemeine Entfernungstabelle) und S.-268. Wilsnack in den Niederlanden 45 Über Routen aus den nordniederländischen Regionen Friesland, Groningen und Drente lässt sich anhand der Etzlaub-Karte kaum eine Route vorstellen, während tatsächlich durchaus Menschen von dort nach Wilsnack gereist sind. 32 Man kann sich anhand moderner Karten passende Routen ausmalen: zum Beispiel von Groningen aus über Bremen über Uelzen nach Wittenberge, oder etwas südlicher von Friesland und Drente aus über Meppen, Quakenbrück, Diepholz, Sulingen und Nienburg an der Weser - von dem schon im 11. Jahrhundert Adam von Bremen sagt, dass es an viam publicam quae dicitur Hessewech liegt 33 - nach Celle und dann weiter wie hier oben angegeben. Es gilt immer, dass viele Wege nach Rom - oder in diesem Falle nach Wilsnack - führen. Kardinal Nikolaus von Kues und Wilsnacks Popularität in den Niederlanden De volgende dag - dinsdag 13 september 1451 - hield hij (nl. Nicolaas van Kues) in Haarlem voor de hele goegemeente een preek, waarin hij zich heftig keerde tegen de toestroom van pelgrims naar Wilsnack en andere plaatsen waar op de een of andere wijze eer werd betoond aan Mariabeelden alsof die ook maar iets van goddelijke of bovennatuurlijke kracht in zich droegen dat soelaas zou bieden aan de smeekbeden van de gelovigen, (Am folgenden Tag - Dienstag den 13. September 1451 - hielt er (d. h. Nikolaus von Kues) in Haarlem vor dem gesamten gemeinen Volk eine Predigt, in der er sich heftig gegen den Zustrom von Pilgern nach Wilsnack und anderen Orten wandte, in denen auf die ein oder andere Weise Mariendarstellungen Ehre bezeigt wurde, als ob diese auch nur etwas von göttlicher oder übernatürlicher Kraft in sich trügen, was den Bittgebeten der Gläubigen Trost bieten könnte,) so Frederik van Heilo über die Predigt des Kardinals und päpstlichen Legaten Nikolaus von Kues, der kurz darauf in derselben Predigt jeden, der ein Gelübde über eine Wallfahrt zu dem Heiligtum getan hatte, von diesem entband. Gleichzeitig spornte er seine Zuhörer an, dem Heiligen Sakrament in der eigenen Kirche Ehre zu erweisen, statt sich auf den Weg nach Wilsnack zu begeben. Zugleich hielt er dem Kirchenvolk vor, dass Heiligenbilder durchaus verehrens- 32 Siehe z. B. A.M. Koldeweij, Van Holwerd tot Stavoren, van Wilsnack tot Santiago. Pelgrimstekens en profane insignes uit Friese bodem, in: Wat niet weet, wat zeker deert. Liber Amicorum Douwe de Vries, hg. von Antoon Ott 2014) S.-101-110, siehe S.-107 zu Wilsnack. 33 Hartig, Hirschweg, Heßweg und Hessenweg (wie Anm. 30) S.- 90; vgl. Andreae, Hessenwegen (wie Anm. 30) S.-297. 46 Jan van Herwaarden wert seien, insofern sie Gläubige dazu brachten, an die Heiligen selbst und ihr Vorbild, dem man folgen sollte, zu denken. 34 Während Nikolaus von Kues auf seiner Reise einerseits die Verehrung dadurch anregte, dass er örtlichen Kirchen Ablässe verlieh, vermehrte er andererseits die Skepsis im Hinblick auf allerlei Frömmigkeitserscheinungen, eingedenk des Dictums seines Auftraggebers Papst Nikolaus V.: Melior est oboedientia quam indulgentia („Gehorsam ist besser als Ablass“). 35 Seine Reformbulle enthielt Auffassungen, die an Erasmus erinnern, wie sein Plädoyer für einen schlichten Gottesdienst ohne polyphone Musik. 36 Nikolaus von Kues sollte seine diesbezüglichen Auffassungen in seiner Reformatio generalis von 1459 noch einmal nachdrücklich zusammenfassen. 37 In den Niederlanden stimmte der Aufruf des Kardinals vorzüglich mit den Glaubensauffassungen überein, die von der Devotio Moderna propagiert wurden. 38 In Haarlem sprach sich der Kardinal nicht zum ersten Mal während seiner Rundreise durch deutsche Lande gegen die Verehrung des Hostienwunders aus, das sich 1383 ereignet haben soll und allerorts hoch verehrt wurde. Es handelte sich um eines von vielen Hostienwundern der Zeit, die zwar überall bekannt wurden und viel Publikum anzogen, aber im wichtigsten Punkt auch der Kritik unterworfen waren, wenn auch nicht aufgrund des antijüdischen Elements in dieser Verehrung, was im Übrigen im Hinblick auf Wilsnack nicht zutraf. 39 So 34 J.C. Pool, Frederik van Heilo en zijn schriften (1866) S.-152-154; Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues: 1451 September 5 - 1452 März, ed. Erich Meuthen, Bd. I, Lieferung 3b (1996) S.-1130-1131, Nr. [1729a], Nr.-1730: Zitat aus Frederik van Heilo, Liber de fundatione domus Regularium prope Haerlem; vgl. Meuthen, Legationsreise (wie Anm. 8) S.-486-487, wo nicht explizit auf diese Predigt in Haarlem hingewiesen wird. 35 Acta Cusana [(wie Anm. 34)]: 1451 Januar - September 5, ed. Erich Meuthen, Bd. I, Lieferung 3a (1996) S.-1083, Nr. 1637, 1638; Meuthen, Legationsreise (wie Anm. 8) S.-432; vgl. Wiligis Eckermann, Buße ist besser als Ablaß. Ein Brief Gottschalk Hollens OESA (1481) an Hubertus Langen Can. Reg., in: Analecta augustiniana 32 (1969) S.-323-366. 36 Parallele Erasmus-Cusanus: Peter G. Bietenholz, History and biography in the work of Erasmus of Rotterdam (Travaux d’Humanisme et Renaissance 87, 1966) S.-83-88; Acta Cusana I, 3a (wie Anm. 35) S.- 947-949, Nr. 1409, Linien 4-11; vgl. J. van Herwaarden, Erasmus of Rotterdam: the image and the reality, in: Ders.: Between Saint James and Erasmus (wie Anm. 10) S.-509-533; 516; J.-C. Margolin, Recherches érasmiennes (1969) S.-85-97: “Érasme et la musique”. 37 Nicholas of Cusa, Writings on church and reform, translated by Thomas M. Izbicki (ITRL 33, 2008) S.-550-591: Reformatio generalis; S.-572-575, c. 22: Dreizehntens. 38 Nikolaus Staubach, Cusanus und die Devotio Moderna, in: Conflict and reconciliation: perspectives on Nicolas of Cusa, hg. von Inigo Bocken (Brill’s Studies in Intellectual History 126, 2004) S.-29-51, zu Wilsnack S.-40-42; R.R. Post, The Modern Devotion. Confrontation with reformation and humanism (Studies in Medieval and Reformation Thought 3, 1968), Index s.v. Cues, Nicolas of. 39 Felix Escher, Der Antijudaismus im späten Mittelalter, in: Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen. Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Wilsnack in den Niederlanden 47 sah schon Thomas von Aquin eucharistische Wunder als „nicht wünschenswerte Elemente“ an, und seine Argumente wurden von Nikolaus von Kues zugespitzt. 40 Der Kardinal war während seiner Rundreise durch die deutschen Lande höchstwahrscheinlich schon zuvor in Wilsnack selbst gewesen. Am 22. oder 23.-Juni 1451 soll er vermeldet haben, dass der Papst ihm den Auftrag gegeben habe, die Hostienverehrung näher zu untersuchen. 41 Nach dieser Untersuchung veröffentlichte der Kardinal am 5.-Juli 1451 in Halberstadt seinen ablehnenden Standpunkt bezüglich Hostienwundern, ohne allerdings Wilsnack ausdrücklich zu nennen. 42 Die Predigt des Kardinal-Legaten in Haarlem bestätigte die Kritik an dem Ort, wie sie seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts und vor allem um 1450 gängig war. Daten aus Antwerpen über das Auferlegen von Wallfahrten rechtfertigen die Vermutung, dass die Predigt des Nikolaus von Kues einen Einfluss auf das Pilgerverhalten gehabt hat. Zwischen 1450 und 1470 kamen Wallfahrten nach Wilsnack in den Antwerpener Urteilen so gut wie nicht vor. 43 Hingegen wurden an anderen Orten durchaus weiterhin Wallfahrten nach Wilsnack als Strafen verhängt, so etwa in Gouda, wo 1454 zwei Menschen zu einer solchen verurteilt wurden. 44 Trotz der ablehnenden Haltung des Cusanus erreichte die Wilsnack- Reformation, hg. von Friederike Rupprecht (2. Aufl. 2014) S.- 15-31, S.- 24 zu Wilsnack: „unrechte Umgang von Christen mit der geweihten Hostie“; Mitchell B. Merback, Pilgrimage and progrom. Violence, memory and visual culture at the host-miracle shrines of Germany and Austria (2012); Wilsnack nicht antijüdisch: Caroline Walker Bynum, The presence of objects. Medieval anti-judaism in modern Germany, in: Common Knowledge 10 (2004) S.-1-32, bes. S.-9: Wilsnack “never associated with Jewish desecration”. 40 Thomas von Aquino, Summa Theologiae III, q.76, art. 8; Meuthen, Legationsreise (wie Anm. 8) S.- 491-492; S.- 497: Cusanus-Thomas; vgl. Ludwig Meier, Wilsnack als Spiegel deutscher Vorreformation, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 3 (1951) S.-53-69, bes. 61-65; Charles Caspers, Joy and sorrow. The meaning of the blood of Christ in the late middle ages, in: Blood-symbol-liquid, hg. von Catrien G. Santing/ Jetze J. Touber (Groningen Studies in Cultural Change 49, 2012) S.-37-63, bes. S.-50-55: “Blood cults”. 41 Pool, Frederik van Heilo (wie Anm. 34) S.-161; vgl. Acta Cusana, Bd. I, Lieferung 3a (wie Anm. 34) S.-946-948, Nr. 1401-1403; der Kardinal befand sich auf jeden Fall zwischen dem 13. und dem 28. Juni in Magdeburg (und Umgebung? ), vgl. die Übersicht über die Reise in diesem Teil der Acta Cusana. 42 Acta Cusana Bd. I, Lieferung 3a (wie Anm. 34) S.-980-981, Nr. 1451; van Ausdall, Doubt and authority (wie Anm. 7) S.-535-536 und Anm. 81. Der Kardinal hat seinen Standpunkt möglicherweise in Dortmund wiederholt, vgl. Alois Schröer, Die Legation des Kardinals Nikolaus von Kues in Deutschland, in: Dona Westfalica. Georg Schreiber zum 80. Geburtstage dargebracht von der historischen Kommission Westfalens, hg. von Johannes Bauermann (1963) S.-304-338, hier S.-325-327. 43 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-186. 44 Streekarchief Midden-Holland, Gouda, ORA 176, 29; vgl. Jan van Herwaarden, Met staf en ransel op weg. Opgelegde bedevaarten in Gouda (1447-1563), in: Paul H.A.M. Abels/ 48 Jan van Herwaarden Verehrung in den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt: Nach Köln war Wilsnack zu dieser Zeit der wichtigste Wallfahrtsort im Deutschen Reich. 45 Kaum jedoch hatte der Legat die Attraktivität des Wallfahrtsortes auf quasi Null reduziert, erhielten die Propagandisten Wilsnacks wohlwollendes Gehör bei Papst Nikolaus V., wodurch die Reputation und damit auch die Popularität des Ortes wiederhergestellt wurden. 46 Strafwallfahrten 47 Im späten Mittelalter waren Wallfahrten in den Niederlanden wegen ihres Bußcharakters und ihres Wertes für das Opfer und seine Familie sowie für das städtische Zusammenleben insgesamt ein beliebtes Strafmittel. Zu dieser Zeit wurde die Konfliktlösung von der Privatsphäre über das (privatrechtliche) Sühneverfahren in den Bereich des öffentlichen Strafrechts verlegt. Verurteilte konnten in dem besuchten Wallfahrtsort für die Opfer (und deren Familien) sowie für ihre Herkunftsorte Fürbitte leisten. Eine Strafwallfahrt war eigentlich nicht als Strafe gedacht, sondern als Mittel zu innerer Einkehr. Hinzu kommt als weiterer Aspekt, dass insbesondere weite Wallfahrten bedeuteten, dass der Verurteilte eine Zeitlang abwesend war, was in Anbetracht des Ernstes des betreffenden Konflikts eine gute Gelegenheit bot, die Gemüter zu beruhigen. 48 Jan Jacobs/ Mirjam van Veen (Red.), Terug naar Gouda. Religieus leven in de maalstroom van de tijd (2014) S.-117-136, hier S.-121. 45 Watanabe, German church (wie Anm. 8) S.- 221, unter Hinweis auf Meier, Wilsnack als Spiegel (wie Anm.-40) S.-59-61; Klaus Schreiner, Peregrinatio laudabilis und peregrinatio vituperabilis. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Jaritz/ Schuh, Wallfahrt und Alltag (wie Anm. 3) S.-133- 163, bes. S.-146, wo er in diesem Zusammenhang Aachen nennt, das aber im Schatten Kölns steht; vgl. van Herwaarden, Between Saint James and Erasmus (wie Anm. 10) S.-274-275. 46 Acta Cusana (wie Anm. 34) hier Bd. 2, Lieferung 1: 1452 April 1 - 1453 Mai 29, ed. Erich Meuthen u. a. (2012) S.- 355-356, Nr. 3150, Rom, kurz vor dem 5. März 1453: Heinrich Pomert, Sekretär von Nikolaus von Kues, an den Erzbischof von Magdeburg über die Berufungsangelegenheit betreffend Wilsnack in Rom, über die Vorwürfe gegen Nikolaus von Kues über Ablassgelder und die Klage der Minderbrüder darüber und über eine in Kürze zu erwartende Reise nach Rom, vgl. Fliege, Nikolaus von Kues (wie Anm. 8) S.-67- 68; Acta Cusana Bd. 2, Lieferung 1 (wie Anm. 46) S.-370-371, Nr. 3209, Rom, 12. März 1453: Papst Nikolaus V. an die Bischöfe von Meißen und Merseburg und den Propst von Simon und Juda zu Goslar: Kriegsbeil zwischen Magdeburg und Havelberg begraben; Hostienverehrung Wilsnack erlaubt. 47 Für eine Bewertung: Michaele Wirsing, Strafwahlfahrten des Spätmittelalters. Perspektivische Überlegungen, in: Wallfahrten in der europäischen Kultur, hg. von Daniel Doležal/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 1, 2005) S.-301-346. 48 Jan van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten. Een populaire praktijk in de laatmiddeleeuwse Nederlanden, in: Madoc. Tijdschrift over de Middeleeuwen 24 (2010): Themanummer „Straffen in de Middeleeuwen“, hier S.-241-249. Wilsnack in den Niederlanden 49 Wallfahrten konnten als Strafmaß in rechtliche Satzungen aufgenommen werden. Es handelt sich dann um Anpassungen von Tarifen sowohl in der kirchlichen als auch in der weltlichen Rechtsprechung. 49 In solchen Rechtsaufzeichnungen kommt Wilsnack kaum vor. Im Lütticher Gebiet, in der Grafschaft Loon und in Maastricht verweisen nur die Satzungen von Hasselt und Bree auf Wilsnack als mögliche Sanktion. 50 Ein Beispiel für die Art und Weise, in der Wilsnack in diesem Zusammenhang genannt wurde, liefern die Statuten von Dendermonde aus dem Jahr 1546, in denen eine Wallfahrt nach Wilsnack, von der man sich loskaufen konnte, neben einem Bußbetrag aufgenommen wurde, was zeigt, dass Geldbußen und Wallfahrten konvertibel waren. 51 Strafwallfahrten waren öffentliche Strafen: Die Verurteilung wurde öffentlich bekannt gemacht, und der ebenfalls allseits kommunizierte Aufbruch fand in aller Öffentlichkeit statt, das Abholen von Stab und Ränzel in der Kirche betonte somit den öffentlichen Charakter der Strafe. 52 Aus einem Posten in einer Brüsseler Rechnung sehen wir, wie Trompeter für ihre Arbeit im Zusammenhang des Aufbruchs eines Wilsnack-Pilgers belohnt wurden (1522). 53 Darüber hinaus war diese Strafe häufig verbunden mit einem für alle sichtbaren Demutsgebaren, so musste die Person etwa bei der Prozession vor dem Kreuz gehen. 54 In der allgemeinen Aufregung nach dem Tode Karls des Kühnen am 5.-Januar 1477 vergriff sich ein ehemaliger Verwalter von Antwerpen an städtischem Besitz. Der Mann wurde verurteilt: Er musste den Schaden vergüten, seine Schuld bekennen, vor dem Rathaus um Vergebung bitten und einige Pfund Wachs in diversen Antwerpener Kirchen opfern, darüber hinaus musste er sich nach 49 Für die unterschiedliche Art und Weise, in der dies - abhängig von der gesellschaftlichen Struktur - stattfand, verweise ich auf meinen Beitrag Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-8-9; vgl. Jan van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten, in: Eigen schoon & de Brabander 96 (2013) S.-243-262. 50 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 90: Übersicht über Wallfahrtsorte in entsprechenden Rechtsaufzeichnungen. 51 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-8 und Anm. 67, unter Hinweis auf: Coutumes des pays et comté de Flandre. Coutumes de la ville de Termonde, hg. von Th. de Limburg Stirum (1996) S.-14-215: Statuten en ordinantien … Dendermonde (1546) Rubrica III, Van den vrede te gheven, art. 3: „Indien yemant daerenboven [nl. de vrede] qualyck toesprake oft injurieerde die saude verbueren“ („Wenn jemand darüber hinaus böse über jemanden spricht oder ihn beleidigt, der soll bestraft werden mit“) beim ersten Mal 10-Pfund + Wilsnack oder 6 Karolusgulden, ⅔ dem Landesherrn, ⅓ der Stadt, und „die noch daerenboven den andere dreechde te smytene“ („wer noch darüber hinaus jemanden zu beschmutzen droht“) mit 20-Pfund + Rom oder 15 Karolusgulden, ⅔ dem Landesherrn, ⅓ der Stadt; Aufbruch noch bei Tageslicht unter Verlust eines Fingers der rechten Hand. 52 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) Index, s.v. „Pelgrimsattributen“. 53 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-15 und Anm. 116. 54 Van Herwaarden, Between Saint James and Erasmus (wie Anm. 10) S.-160-164. 50 Jan van Herwaarden Wilsnack begeben. 55 In einer Rechtssache gegen zwei Kampener Kaufleute und einem Kaufmann aus dem norwegischen Bergen, in der unter anderem von einer Wallfahrt nach Wilsnack die Rede ist, war insbesondere die Öffentlichkeit der Bußübung den Betroffenen ein Dorn im Auge. Die Kampener hatten sich in der Gegenwart der „ganzen Gemeinde“ erniedrigen müssen, worüber sich die IJsselstädte im Hanseverbund beklagten. 56 Auch die Rückkehr konnte mit einigem Aufsehen verbunden sein. So lesen wir in den Bos’schen Protokollen, dass einige Leute am 10.-Juni 1447 öffentlich bekannt machten, dass ein gewisser Jacob Steenwech seine Wallfahrt nach Wilsnack und Saint Josse-sur-Mer - die ihm wegen Totschlags als Strafe auferlegt war - tatsächlich abgelegt hatte. 57 In Rotterdamer Quellen ist das Prozedere wiederzufinden, sowohl das Verfahren betreffend als auch inhaltlich. Der Vogt war meistens der Kläger, der den Strafantrag formulierte, nachdem der Beklagte auf die Anklage eingegangen war, manchmal mit Rede und Gegenrede. Die Schöffen kamen nach Beratung zu einem Urteil. In den meisten Fällen wurde nicht nur eine Wallfahrt als Strafe auferlegt. Zunächst musste der Verurteilte häufig das Gericht um Vergebung anflehen, nachdem er ein- oder mehrmals mit bloßem Haupt, eventuell barfuß und in leinenen Kleidern und manchmal mit weiteren Kennzeichen behängt, in einer Prozession mitgelaufen war. Dabei trug er eine brennende Kerze von einer bestimmten Menge Wachs in der Hand, die vor dem Heiligen Sakrament geopfert werden musste. Gelegentlich gingen der Prozession ein paar Tage Haft bei Wasser und Brot auf Kosten des Betroffenen voraus. Nach dem Urteil musste der Verurteilte noch am selben Tag, solange es hell war, oder innerhalb eines anderen Termins auf Wallfahrt gehen und darüber einen guten Beweis zurückbringen. Bevor er nach seiner Rückkehr wieder in der Stadt aufgenommen wurde, musste meistens eine Buße bezahlt werden, wobei der Landesherr in der Person des Vogts doppelt so viel bekam wie die Stadt. Die Sanktionen für den Fall, dass jemand den Bestimmungen des Urteils nicht genügte, variierten von Geldbeträgen oder Steinbußen (Lieferung von Steinen zum Bau der Stadtbefestigungen) bis zu Körperstrafen (Verlust von Hand oder Augen), (ewiger) Verbannung oder der Todesstrafe. 58 So wurde am 3.-November 1529 ein Rotterdamer verurteilt, weil er sich seinen Eltern gegenüber unehrerbietig betragen hatte. Er musste mit einer Fackel von einem Pfund Wachs in der Hand und mit einer umgehängten Tafel, auf der stand, was er seinen Eltern angetan hatte, dreimal in der Prozession mitgehen und am ersten Tag der kommenden Fastenzeit (2.- März 1530) nach Wilsnack 55 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-196. 56 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-5, Anm. 45, S.-433. 57 Stadsarchief ’s-Hertogenbosch, Bossche protocollen 1217, 178 v . 58 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-290-291; siehe auch den Anhang. Wilsnack in den Niederlanden 51 aufbrechen; darüber hinaus musste er dem Landesherrn vier und der Stadt zwei Karolusgulden bezahlen, dies alles bei Strafe von hundert Karolusgulden. 59 Obwohl sich Wallfahrten einer großen Popularität erfreuten und als Strafe geschätzt wurden, unterlagen sie der Kritik. Das hatte eine hemmende Wirkung auf diese Art der Bestrafung. In Dordrecht - wo nach allem, was man weiß, Wilsnack kein einziges Mal als Strafwallfahrt verhängt wurde - wurde im Jahre 1400 der Nutzen von Wallfahrten in Zweifel gezogen, weil Wallfahrten dem Verurteilten mehr schadeten als nutzten und dem Handel zum Nachteil gereichten. 60 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kamen immer mehr Zweifel insbesondere im Hinblick auf den sozial-psychologischen Wert dieser Art von Strafe auf, also auch schon bevor von einer um sich greifenden Reformation die Rede sein konnte, wie an dem Dordrechter Beispiel zu sehen ist. Auf das Vollbringen von Wallfahrten wetten In den Archiven von ’s-Hertogenbosch gibt es Informationen über Wallfahrtswetten, wobei hie und da auch eine Wilsnack-Wallfahrt erwähnt wird. So schlossen drei Männer am 17.-Dezember 1472 einen bemerkenswerten Vertrag, in dem sie einem gewissen Marcel Jansz. de Rijck erklärten, dass sie zwei Brüder dazu gebracht hätten, 1473 von Eindhoven aus eine Reise nach Rom, 1474 eine nach Santiago, 1475 zwei Reisen nach St. Joost aan de Zee und zum Hl. Blut nach Wilsnack und schließlich 1476 noch einmal zwei Reisen nach St. Matthias in Trier und zu Unserer Lieben Frau von Einsiedeln zu unternehmen. Diese Reisen waren jeweils an die Bedingung geknüpft, dass beide Brüder am Leben blieben und dass einer von ihnen auch die Herrschaft über seine Gliedmaßen behielte (mit anderen Worten: Einer der Brüder war wahrscheinlich schlecht zu Fuß, daher der Vorbehalt). Die drei Männer versprachen Marcel de Rijck, wenn die genannten Jahre vorbei und die innerhalb dieser Zeit abzuleistenden Wallfahrten nicht geleistet wären, für die entsprechenden Jahre jeweils zwanzig, zwanzig, zehn und zehn Gulden (à 10 Stüver) zu bezahlen. Zusätzlich wurden noch weitere Absprachen getroffen, die hier aber zu weit führen würden. 61 Wilsnack in gerichtlichen Quellen Unterlagen über die Rechtsprechung in den Niederlanden zeigen, dass Wilsnack-Wallfahrten in den nördlichen und südlichen Niederlanden sowohl durch landesherrliche als auch durch städtische Gerichte als Strafe auferlegt wur- 59 Stadsarchief Rotterdam, OSA, Schepenarchief 199, 10 r . 60 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-297. 61 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-395-396, die Reihe der Verträge S.-681-682. 52 Jan van Herwaarden den. 62 Meine Untersuchung umfasst 39 örtliche Gerichtsbarkeiten, von denen sich 12 in Holland befinden. 63 Außer Verurteilungen konnte dies auch zoenen (Sühneverfahren bzw. Vergleiche) betreffen, Einigungen (composities), bei denen rechtsprechende Instanzen oder speziell dafür angestellte Vermittler - in Gent waren das die paysierders, in Antwerpen, Brüssel und Löwen die paismakers 64 - zwischen zwei im Prinzip gleichwertigen Parteien vermittelten, klagende versus beklagte Partei, die beim Urteil beteiligt waren. 65 In Löwen verhängte auch die Universität mit ihrer besonderen Rechtsprechung ab und zu Wallfahrten als Sanktion, dabei ist zweimal von einer Wallfahrt nach Wilsnack die Rede. 66 In einem Sühneverfahren vereinbarte und zur Besserung auferlegte Wallfahrten liegen auf einer Linie: War bei den ersten in dem Modus (also in dem Vergleich) enthalten, dass eine Rechtsverfolgung nach der derzeit geltenden Norm verhindert wurde - also zum Beispiel die Sanktion durch eine Körperstrafe -, so manifestiert sich bei Letzteren die Neigung, auch in der Besserung so weit wie möglich strenge (Körper-)Strafen zu umgehen. Auf diese Art und Weise konnte man den sozialen und ökonomischen Status des Verurteilten berücksichtigen: Wo eine festgelegte Geldbuße wegen Zahlungsunfähigkeit unmöglich war, stellte gerade die Wallfahrt eine gute Alternative dar, denn die Sanktion für die Nichtzahlung der Buße, meistens eine Körperstrafe, konnte dann zurückgestellt werden. 67 Die Möglichkeit, sich von Wallfahrten loszukaufen, ändert an dem eben Gesagten nichts, da es dem Verurteilten zunächst freistand, die Wallfahrt anzutreten. Wohl konnte, im Interesse der Einnahmen, durch diesen oder jenen auf Loskauf gedrungen werden, aber mehr als Drängen auf einen Vergleich bedeutete das nicht, auch wenn dabei Machtmittel gebraucht werden konnten. 68 62 Zur Interaktion zwischen beiden Gerichtsbarkeiten siehe z. B. Maarten F. van Dijck, Tussen droom en daad. De beperkte invloed van de centrale overheid op de rechtspraak in Antwerpen en Mechelen gedurende de 15de en 16de eeuw, in: Dirk Heirbaut/ Xavier Rousseaux/ Alain Wijffels (Red.), Justitieen rechtsgeschiedenis, een nieuwe onderzoeksgeneratie / Histoire du droit et de la justice une nouvelle génération de recherches (2010) S.-299-317. 63 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 702; dort die Liste mit gerichtlichen Instanzen mit Bezug zu Wilsnack; Auflistung der Gerichtsbarkeiten S.-3-7. 64 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 8, 10; Varianten: peisiers, peismakers (Antwerpen); paisierres (Gent): ebd., S.-763 „Index nominum et rerum“, s.v. 65 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-1-13; S.-48-52; S.-404-407. 66 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-246-248; vgl. van Cauwenbergh, Pèlerinages (wie Anm. 2) S.-194-198. 67 Bemerkenswerterweise behauptet van Dijck, Tussen droom en daad (wie Anm. 62) S.-303, im Übrigen ohne Beleg und meines Erachtens zu Unrecht, dass dies gerade andersherum gewesen sei, dass also Körperstrafen als Sanktionen an Stelle von Wallfahrten fungiert hätten. 68 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-13. Wilsnack in den Niederlanden 53 Ein treffendes Beispiel für den Ablauf von einer in einem Sühneverfahren vereinbarten Wallfahrt ist in einer Notiz im Löwener Stadtarchiv zu finden. Nach einem Totschlag wurden zwei Personen unter anderem zu einer Wallfahrt nach Wilsnack verurteilt. Nach der Rückkehr meldeten sie sich bei dem Muntsühner, d. h. bei dem Verwandten des Opfers - in diesem Fall dem (ältesten? ) Sohn -, der gegenüber dem Gericht erklärte, dass die beiden Betroffenen in der Tat ihre Verpflichtung erfüllt hätten. 69 Von Wallfahrten, die in einem Sühneverfahren nach Totschlag vereinbart wurden, konnte man sich zu Anfang nicht loskaufen, aber in der Praxis zeigte sich, dass auch von dieser Regel Ausnahmen gemacht werden konnten. 70 In der landesherrlichen Rechtsprechung wurden weder in Flandern noch in Holland Wallfahrten in den Strafantrag aufgenommen, wenn die landesherrliche Macht - verkörpert gewissermaßen durch einen Oberstaatsanwalt - als klagende Partei auftrat. Sie kam aber durchaus vor in den Urteilen, als Teil der Strafverhängung oder einer Vereinbarung, sowohl zu Ehren der landesherrlichen Obrigkeit als auch der geschädigten Partei. In Holland wich der Gerichtshof nicht von der Art und Weise ab, in der Wallfahrten in der städtischen Rechtsprechung gehandhabt wurden. 71 Auch in den Registern des übergeordneten Parlaments von Mecheln und in Berufungsverfahren aus Flandern beim Pariser Parlament erschienen Urteile mit Wilsnack-Wallfahrten. 72 Aus Rotterdamer Unterlagen geht hervor, dass auch auf niedrigerem Niveau der Vogt als Repräsentant der landesherrlichen Macht meistens keine Wallfahrten forderte, während diese durchaus in Urteilen der Schöffengerichte vorkamen. 73 Ein typisches Urteil mit einer Wallfahrt nach Wilsnack ist die Verurteilung von sechs Personen aus ’s-Gravenzande am 18.-August 1447 durch den Holländischen Gerichtshof. Auf Grund von zu Unrecht erworbenen Briefen hatten die sechs einen Selbstmörder begraben. Als der Vogt sie darauf ansprach, waren sie ihm unhöflich begegnet, was den Vogt dazu brachte, sie vor den Gerichtshof zu laden. Die sechs mussten sich beim Rathaus von ’s-Gravenzande melden und den Vogt dort öffentlich um Vergebung bitten. Der Gerichtshof legte ihnen daraufhin auf, sich zur Ehre des Vogts auf eine Wallfahrt nach Wilsnack zu begeben; darüber hinaus mussten sie eine Geldstrafe zahlen. 74 69 Stadsarchief Leuven 7751, 307 r , Urteil vom 6. April 1458. 70 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-66 (Antwerpen). 71 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-377. 72 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-3; vgl. 424 f., Anm. 14: Verweis auf drei vom Parlament von Paris verhängte Wallfahrten nach Wilsnack (23. Dez. 1429, 28. April und 25. Mai 1453). 73 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-291. 74 Memorialen van het Hof (den Raad) van Holland, Zeeland en West-Friesland, van den secretaris Jan Rosa, Teile XI, XII, XIII, edd. R.W.G. Lombaerts/ Paula C.M. Schölvinck/ J. Th. de Smidt/ M.R. van den Toorn (1988) S.-206, 214-215, Nrr. 320, 385. 54 Jan van Herwaarden Dort, wo Wallfahrten an und für sich nicht zu den Strafanträgen der landesherrlichen Obrigkeit gehörten, ist es nicht so ungewöhnlich, dass sie während eines langen und wechselvollen Gerichtsverfahrens nicht mehr im endgültigen Urteil vorkamen, während sie durchaus in früheren, wie später deutlich wird, vorläufigen Entscheidungen aufgenommen waren. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür bietet die Abwicklung eines Vorfalls auf einer Hochzeit in Wulvergem (ca. 10-km südlich von Ypern), bei der die geschädigte Partei unter anderem gefordert hatte, dass einer der 41 Schuldigen eine Wallfahrt nach Wilsnack ablegen und sich darüber hinaus zehn Jahre lang nicht in Nieukerke - dem Wohnort des Geschädigten-- zeigen sollte. Im abschließenden Urteil des Rats von Flandern vom 4.- September 1495 kam die Wallfahrt nach Wilsnack nicht mehr vor. Während der Verhandlungen hatte einer der Betroffenen, der bei dem Vorfall verwundet worden war, durchzusetzen versucht, dass seine Klage gegen den an der Verletzung Schuldigen im selben Gerichtsverfahren verhandelt würde, und dabei auch eine Wallfahrt nach Wilsnack gefordert. Diese Klage wurde jedoch an die lokale Rechtsprechung zurückverwiesen, weil sie nichts mit dem ersten Verfahren zu tun habe. 75 Auch in Holland kam die landesherrliche Rechtsprechung mit dem Zuständigkeitsbereich der lokalen Schöffengerichte in Berührung. So wurden am 4.-April 1438 zwei Personen unter anderem zu einer Wallfahrt nach Wilsnack verurteilt - zur Ehre des Geschädigten - und zu Unserer Lieben Frau in Einsiedeln wegen des „Schadens“ und der „Beleidigung“ (scoffiericheyt), die sie „dem Landesherrn und der Stadt Schiedam angetan haben“, nachdem sie jemanden in Schiedam - im Zusammenhang einer durch das Gericht von Den Briel behandelten Klage gegen den Vogt von Den Briel - verletzt hatten. Zunächst wollte das Schiedamer Gericht die Sache verhandeln, aber der holländische Statthalter schickte den Sekretär Jan Rose nach Schiedam, um sie durch den Rat gerichtet zu bekommen, worin Schiedam trotz seiner Privilegien unter der Bedingung nachgab, dass der Streit mit einer gütlichen Einigung abgeschlossen würde. Im Urteil des Rats wurde Schiedam zugestanden, dem Verurteilten die nach dem Schiedamer Recht zu fordernden Bußen aufzuerlegen. Wegen des Kriegszustands, der zu der Zeit zwischen Holland und der deutschen Hanse herrschte, wurde am 6.-Mai 1438 für beide Betroffenen die Wallfahrt nach Wilsnack in eine Wallfahrt nach Aachen und Köln umgewandelt, die in einer Tour abzulegen war. 76 75 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 68-369; ob die Wilsnack- Wallfahrt in der niederen Gerichtsbarkeit hinterher auferlegt wurde, ist mir nicht bekannt. 76 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 382; Memorialen van Jan Rosa (wie Anm. 74), Teile I, II, III, edd. A.S.-de Blécourt/ E.M. Meijers (1929) S.-405-407, Nr. 770; der Krieg: Algemene Geschiedenis der Nederlanden 4 (1980) S.-277-279. Wilsnack in den Niederlanden 55 Handwerkergilden hatten ebenfalls ihre eigene Rechtsprechung und konnten Menschen auf Wallfahrt schicken. Ein Goldschmied aus Brügge, der ohne Zustimmung seiner Gilde nach Santiago de Compostela aufgebrochen war, womit er die Satzungen (keuren) übertreten hatte, wurde am 23.-Juni 1455 durch seine Gilde zu einer Buße und einer Wallfahrt nach Wilsnack verurteilt. 77 Ein anderes Urteil zeigt, dass auch eine Korporation als Kläger auftreten konnte: Kraft eines Genter Sühneverfahrens nach einem Totschlag musste der Täter im Auftrag des Vorstehers der kleinen Zünfte (wozu Täter und Opfer gehörten) zur Ehre der Zünfte eine Wallfahrt nach Wilsnack ablegen. 78 Auf das Nichterfüllen einer auferlegten Wallfahrt standen Sanktionen, die in den Urteilen festgehalten wurden und von Bußen und Körperstrafen bis zum Verlust von Leib und Gut reichen konnten. Diese Sanktionen traten nicht ein, wenn von höherer Gewalt die Rede sein konnte. In einem Schiedamer Urteil ist zu lesen, wie so etwas funktionierte. Am 15.-Februar 1502 wurde ein Mann bei einer Strafe von 20 Goldenen Löwen (Löwengulden) zu einer Wilsnack-Wallfahrt verurteilt, von der er sich für vier Rheinische Gulden loskaufen konnte. Der Mann entschied sich dafür, den Weg auf sich zu nehmen, aber overmits dat hij zieck is van den vocken ende niet reysen en mach, soe is geconsenteert … dat [hij] betalen zal … voir die 4 Rijnsgulden 5 Rijnsgulden; actum 10 dage in maerte („da er an den Pocken erkrankt ist und nicht reisen kann, so wurde vereinbart …, dass er bezahlen soll … anstatt der 4 Rheinischen Gulden 5 Rheinische Gulden; gegeben am 10. Tag im März“). Die höhere Gewalt wurde also durchaus auf den Preis aufgeschlagen. 79 Tariflisten Die Möglichkeit des Loskaufs führte zu Tariflisten, in denen der „Wert“ der betreffenden Wallfahrt angegeben wurde. 80 Die Loskaufsumme wurde durch die Entfernung des Wallfahrtsortes von der Gerichtsbarkeit, in der die Verurteilungen stattfanden, bestimmt: Die Tariflisten wurden auf der Basis von Entfernungstabellen erstellt. 81 Die Tariflisten galten für längere Zeit, aber es 77 Viaene, Vlaamse pelgrimstochten (wie Anm. 17) S.-229. 78 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-85. 79 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-346-347. 80 Zu solchen Tariflisten: Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-618-627: 21 Tariflisten; 628-640: Tariflisten von Gent (Aalst, Dendermonde, Oudenaarde); vgl. Vantaggiato, Pellegrinaggi giudizari (wie Anm. 2) S.-241-318: „Le liste di riscatto in uso a Gand“. 81 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-615-617 die drei Entfernungstabellen: Bergen (Hennegau), Nombre des lieuwes que montent les voyages cy après dénommez, Hl. Blut zu Wilsnack 104 Meilen; Parlament von Mecheln, Wilsnack ebenfalls 104 Meilen; Großer Rat von Mecheln, 1592, darin Wilsnack 200 Meilen; vgl. Vantaggiato, Pellegrinaggi giudiziari (wie Anm. 2) S.-247-280; die Entfernungen berechnet für Wilsnack: 750 km, ebd. S.-271. 56 Jan van Herwaarden scheint, dass ab und zu auch kurzfristig variiert werden konnte. Als es um 1435 wegen Kriegshandlungen gefährlich war, vom Bistum Lüttich aus nach dem französischen Vendôme zu reisen, wurde als Alternative dafür Wilsnack in den Tariflisten aufgenommen. 82 Die Entfernungstabellen zeigen, dass damit die 104 Meilen bis Wilsnack den 90 Meilen bis Vendôme gleichgestellt wurden. 83 Die Berechnungen von Luisa Vantaggiato erweisen, dass das sehr unvorteilhaft ausfiel: Vendôme hatte der von ihr benutzten Genter Liste nach drei Pfund als Loskaufsumme (für Wilsnack galten sechs Pfund) und lag 484 km von Gent entfernt (Wilsnack 750 km). 84 Wurden die verschiedenen Loskaufsummen als Vergleichsmaterial benutzt, dann wurde in Antwerpen Wilsnack mit Unserer Lieben Frau zu Paris und zu Brüssel gleichgestellt, mit einer reicheren Variation auf der Liste mit Basel, London, St. Ewald im Elsass - d. h. St. Theobald von Thann -, Chartres, Dijon, Straßburg, Orléans und Tours. Auf den flämischen Tariflisten stand für Wilsnack im Allgemeinen eine Loskaufsumme von 6- Pfund, womit der Ort den Tarifl isten nach vergleichbar war mit Unserer Lieben Frau von Vauvert, Avignon, St. Michel in Bordeaux, St. Louis in Marseille, St.-Gilles-en-Provence, Unserer Lieben Frau zu Lincoln, St. Thomas in Erfurt, Unserer Lieben Frau zu Lübeck, Unserer Lieben Frau zu Köslin, Te sente Marien Magdaleenen ter Spelunken (La Sainte Baume), Unserer Lieben Frau zu Regensburg, Unserer Lieben Frau zu Luzern und Prag. 85 Bescheinigungen und Reisedauer Die Verurteilten mussten die auferlegten Wallfahrten zunächst leisten und nach der Rückkehr beweisen, dass sie ihren Verpflichtungen nachgekommen waren. In den Wallfahrtsorten entwickelte sich eine eigene Verwaltung, die dafür sorgte, dass Pilger vertrauenswürdige Bescheinigungen mit nach Hause nehmen konnten. Wo dies gut registriert wurde, kann man auch jetzt noch nachverfolgen, inwiefern eine Wallfahrt tatsächlich geleistet wurde und wie lange die Reise gedauert hat, oder zumindest, nach welcher Zeit ein Betroffener seine oder ihre Bescheinigung eingereicht hat. Leider sind diese Verwaltungsunter- 82 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-91: Luik (Lüttich), 175: Tongeren. 83 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 615-617: Entfernungstabelle Bergen (H.), Vendôme 90, Wilsnack 104 Meilen; Entfernungstabelle Parlament von Mecheln: idem. 84 Vantaggiato, Pellegrinaggi giudiziari (wie Anm. 2) S.-264. 85 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.- 628-640: Anlage II: Tariflisten von Gent (Aalst, Dendermonde, Oudenaarde), dort zu Prag: „Te sente Gallen in de prochiekerke in Praghen“; vgl. Vantaggiato, Pellegrinaggi giudiziari (wie Anm. 2) S.-281-288, dort (S.-285) zu Prag: „Te Sente Ventselan in Praghen up VI weken varen en keeren“, mit einer Loskaufsumme von 7-Pfund. Wilsnack in den Niederlanden 57 lagen häufig verloren gegangen, aber in manchen Fällen ist es möglich, sich von diesem Aspekt ein leidliches Bild zu machen. Insbesondere in Antwerpen und Leiden sind solche Unterlagen erhalten geblieben, wodurch auch klar wird, dass ein zurückgekehrter Pilger nicht ohne Weiteres in die Stadt hineingelassen wurde: Nach Einreichen eines geeigneten Beweisstückes darüber, dass die Wallfahrt abgelegt wurde, durfte der Betreffende niet wedercomen in der stede van Leyden … ten sel wesen by den meesten ommeseggen van den gerecht („nicht wieder in die Stadt Leiden kommen …, es sei denn mit den meisten Stimmen des Gerichts“), das heißt, dass die Mehrheit des Gerichts dem zustimmen musste. Eine Notiz vom 7.-Januar 1447 in dem ältesten erhaltenen Leidener Correctieboek zeigt, wie das vonstatten ging: Jemand, der in Wilsnack gewesen war und darüber einen Beleg eingereicht hatte, durfte mit Zustimmung der Mehrheit des Gerichts wieder in die Stadt kommen, aber falls er sich wieder etwas zu Schulden kommen ließe, sollte er sofort so lange aus der Stadt verbannt werden, bis die Mehrheit des Gerichts beschließen würde, ihn wieder herein zu lassen. 86 Mit dieser Quellenart ist es auch möglich, einigermaßen nachzuverfolgen, wie lange man unterwegs war. Nach Leidener Angaben dauerte die Reise nach Wilsnack und zurück zwischen einem und anderthalb Monaten. 87 Aus Antwerpener Angaben ist zu sehen, dass eine Pilgerfahrt nach Wilsnack in 25- Tagen abgelegt werden konnte: Jemand, der eine Frau geschlagen und misshandelt hatte, war am 8.-März 1438 verurteilt worden und reichte am 12.-April seine Bescheinigung ein. Es ist allerdings auch ein Fall bekannt, dass ein zu einer Wilsnackfahrt verurteilter Antwerpener erst nach elf Jahren und sieben Monaten in die Stadt zurückgekehrt war. Am 8.-Oktober 1474 wurde ein Mann verurteilt, der behauptet hatte, sich gegen Bezahlung an einer verheirateten Frau erfreut zu haben, wonach die Frau einige Zeit von ihrem Mann getrennt war. Die Aussage erweckte den Anschein von Angeberei, aber der Täter musste dennoch eine Buße bezahlen und die Frau entschädigen; außerdem musste er sich auf den Weg nach Wilsnack begeben, von wo er erst am 20.-Mai 1486 in die Stadt zurückkehrte. 88 Antwerpen Soweit ich es nachverfolgen konnte, stammen die ältesten Verurteilungen zu einer Wallfahrt nach Wilsnack aus Antwerpen. Die ältesten Urteile zeigen übri- 86 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-324-325 und Nrr. 39 und 40; der Betreffende war am 27. November 1446 verurteilt worden und reichte am 4. Januar seine Bescheinigung ein. 87 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-327. 88 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-188 und Nrr. 57, 58. 58 Jan van Herwaarden gens, dass es zu Anfang Unsicherheiten über den richtigen Namen des Reiseziels gab. Am 25.-Juli 1410 wurde ein Mann wegen onnutschap (Unzucht), Falschspiels und auch sonst unredlichen Lebenswandels zu einer Wallfahrt zum Hl. Blut von Wilsnack - der korrekte Name - verurteilt. In zwei danach folgenden Verurteilungen vom 22.-September und 29.-November 1416, war Unsere Liebe Frau von Wilsnack das Reiseziel, während das Patrozinium der Kirche St. Nikolaus war. Im ersten Fall betraf es einen Mann aus einer Gruppe von 17 Personen, der wegen des Betrugs von Kaufleuten, Falschspiels beim Würfeln und des Herstellens von falschen, manipulierten Würfeln auf die Reise geschickt wurde und darüber hinaus eine Verbannung von zehn Jahren auferlegt bekam. Im zweiten Fall betraf es einen Schulmeister, der sich der Unsittlichkeit schuldig gemacht hatte und auch sonst ein unschickliches Leben führte. Er reichte am 4.-Januar 1417 die Bescheinigung ein, dass er die Wallfahrt absolviert hatte. Im darauffolgenden Fall, einem Urteil vom 19.-Mai 1419, wurde als Reiseziel das Heilige Kreuz von Wilsnack angegeben, es betraf wiederum einen Würfel-Falschspieler, der am 13.-Juni 1419 zeigen konnte, dass er wirklich in Wilsnack gewesen war. In einem Urteil vom 7.-August 1421 ist der Ort wieder korrekt genannt, so wie es auch im Folgenden immer der Fall ist. 89 Zwischen 1430 und 1450 wurde Wilsnack in Antwerpen 46 Mal und in den danach folgenden Jahrzehnten nur einmal (1460, wiederum ein zweifelhafter Würfelspieler) auferlegt - was möglicherweise eine Folge des Auftretens des Nikolaus von Kues ist; zwischen 1471 und 1475 wurde die Wallfahrt achtmal verhängt. 90 Die Antwerpener Angaben verweisen manchmal auch auf einen tragischen Ausgang. So wurde am 7.-Juli 1431 jemand wegen onredelijke wandeling (sittenlosen Verhaltens) zu einer Wallfahrt nach St. Lucas in der Toscana verurteilt - womit wahrscheinlich Lucca gemeint ist - und zu einer Verbannung aus der Markgrafschaft zu drei Jahren. Am 4.-Juli 1432 zeigte sich, dass der Mann, der am 31.-Dezember 1431 eine Bescheinigung aus Lucca präsentiert hatte, sich nicht an die Strafe gehalten hatte: Er wurde von Dienern des Herrn van Hoogstraten aufgegriffen, worauf ihm entsprechend der im Urteil aufgenommenen Sanktion eine Hand abgehackt wurde. Darüber hinaus musste er eine Wallfahrt nach Wilsnack machen und danach drei Jahre in der Fremde bleiben. Die Bescheinigung aus Wilsnack wurde am 7.-Juli 1433 präsentiert, und am 2. Oktober 1436 89 In Gouda war auch einmal die Rede von einer Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau von Wilsnack; dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine Verschreibung, weil im gleichen Urteil eine Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau von Halle vorkommt, Gouda: Streekarchief Midden-Holland, ORA 176, 77, 12 mei 1472: Unsere Liebe Frau von Wilsnack „tot gerechts [verman]inge“, also auf Bewährung. 90 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-186. Wilsnack in den Niederlanden 59 erhielt der Mann die Erlaubnis, die Stadt wieder zu betreten. 91 Ein vergleichbarer Vorgang betraf eine am 7.-Juli 1437 verurteilte Frau, die ohne die Bescheinigung über ihre Wallfahrt nach Tours in die Stadt Antwerpen zurückkehrte. Sie wurde, was die Körperstrafe betraf, kulanter behandelt und am 18.-März 1438 dazu verurteilt, die erwähnte Wallfahrt nach Tours nachträglich zu machen, zusätzlich aber auch eine Wallfahrt nach Wilsnack; darüber hinaus musste sie, nun unter der Androhung, widrigenfalls lebendig begraben zu werden, zehn Jahre in der Fremde bleiben. 92 Ab und zu wirft ein Urteil ein besonderes Licht auf eine strukturelle Erscheinung wie beispielsweise auf das Verhältnis zwischen Mecheln und Antwerpen, das unter anderem wegen des Gezänks über die freie Fahrt über die Senne gewaltig gestört werden konnte. So gab es zum Beispiel Streitigkeiten über die Fisch-, Salz- und Haferstapel, die seit dem 13.-Jahrhundert die Gemüter erregten. Aufgrund des Übertretens eines Mechelner Verbots von Proviantnachschub, wobei Mecheln eine Kette über die Senne gespannt hatte, wurden am 5.- November 1432 sechs Personen mit einer Wilsnack-Wallfahrt bestraft; einen Monat später folgte die Verurteilung eines weiteren Mannes zu derselben Strafe, dem darüber hinaus ein Jahr Verbannung auferlegt wurde. 93 Antwerpener Verurteilungen wegen Ketzerei Ein anderes bemerkenswertes Antwerpener Urteil betrifft einen gewissen Hansken van Remunde, der als Buchdrucker sein Brot verdiente und am 30.-Oktober 1526 zu einer Wallfahrt nach Wilsnack verurteilt wurde, weil er zekere boecken inhoudende de leeringe der Lutheriaensche ketteryen („bestimmte Bücher, die die Lehre der lutherischen Ketzerei zum Inhalt hatten“) gedruckt hatte. Er musste noch am selben Tag, bevor die Sonne untergegangen war, aufbrechen und innerhalb von drei Tagen die Markgrafschaft verlassen. Nach seiner Rückkehr durfte er sich nicht wieder in die Stadt begeben, bevor ihm nicht vom Landesherrn und der Stadt die Zustimmung dazu gegeben worden wäre. Hansken durfte wieder in die Stadt, nachdem er am 29.-März 1427 seine Bescheinigung vorgelegt hatte. 94 Übrigens hatte dies nicht die erhoffte Wirkung, denn kurz darauf besorgte 91 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-189 und Nr. 67 (S.-513). 92 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-207-208. 93 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-200, zwei andere Betroffene: St. Theobald Thann und Unser Liebe Frau zu Einsiedeln. 94 Stadsarchief Antwerpen, Correctieboeck 1513-1568, fol. 90; abgedruckt in: Antwerpsch Archievenblad VII (o. J. [ca. 1870]) S.-159; auf dem Blattrand steht: „Littere peregrinationis dicti Joannis fuerunt presentate dominis marchioni et magistratui XXIXo die mensis Martii anno XXVI (XXVII n. s.) et habet facultatem et consensum domini et oppidi intrandi marchionatum et oppidum.“ Hansken van Remunde den Druck der Antwerpener Ausgabe des ketzerischen Neuen Testaments von Tyndale und exportierte diese nach England, wofür er wiederum - nun in London - verurteilt wurde. 95 Ein früheres Beispiel einer Wallfahrt nach Wilsnack in einem ketzerischen Zusammenhang war ein Urteil vom 26.- März 1524 über eine Person, die in Abwesenheit verurteilt wurde, weil sie auf einer geheimen Versammlung das Evangelium gelesen und ausgelegt hatte, wobei ausdrücklich festgehalten wurde, dass dieser Mann darüber hinaus für sechs Jahre verbannt sein solle. 96 Es ist angesichts der Art der Delikte eigentlich bemerkenswert, dass diesen Personen diese Art von Strafe auferlegt wurde: In Ketzereiangelegenheiten war meistens von ganz anderen Strafen die Rede. Häufigkeit Insgesamt wurde Wilsnack in Antwerpen zwischen 1420 und ca. 1520 196 Mal als Strafe verhängt: Der Ort stand damit an vierter Stelle nach Köln, Trier und Den Bosch. In Brüssel wurden dem Witcorrectieboek (dem Register des örtlichen Schöffengerichts) zufolge zwischen 1430 und 1448 insgesamt 49 Personen zu einer Wilsnack-Reise verurteilt. Nach den Angaben des Brüsseler Rechnungshofes wurden Wilsnackfahrten nur sporadisch verhängt: Zwischen 1403 und 1510 zwölf Mal. In Lier betrug die Zahl der Verurteilungen zwischen 1401 und 1451 insgesamt 42. 97 In Löwen wurde eine Wilsnackfahrt kaum verhängt 98 und in Nivelles und Tienen niemals. In Holland sind die Zahlen höher als in Brabant, aber auch dort handelt es sich nur um einige Dutzend. In Brielle wurden Wilsnackfahrten ab 1424 bis zum Beginn des 16.-Jahrhunderts 27 Mal verhängt. Die erste Verurteilung dort fand am 12.- Februar 1424 statt und galt einem Mann, der sich insbesondere vroukjes („Fräulein“) gegenüber ungebührlich betragen hatte; in der 95 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-213; M.E. Kronenberg, Verboden boeken en opstandige drukkers in de hervormingstijd (Patria 44, 1948) S.-100-103; hier S.-133; vgl. Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae 5: Tijdvak der hervorming in de zestiende eeuw, eerste vervolg (24 september 1525-31 december 1528), ed. Paul Frédéricq (1902) S.-154-155; via Internet: Robby van Ruremonde, Kinderen van Rurae. Een studie naar families die vernoemd zijn naar de stad Roermond (Versie 16-1-2019); URL: https: / / www.historieroermond.nl/ afkomstiguitroermond/ Afkomstig%20uit%20Roermond.pdf (Stand 17.4.2020) S.-149. 96 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-212; Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae 4: Tijdvak der hervorming in de zestiende eeuw (1514-23 september 1525), ed. Paul Frédéricq (1900) S.-266-267. 97 Van Cauwenbergh, Pèlerinages (wie Anm. 2) S.-200-214, Annexe A: 30 Urteile über 42 Menschen zwischen 1401 und 1451. 98 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-241. 60 Jan van Herwaarden Wilsnack in den Niederlanden 61 Nacht hatte er gesmeten („sich geprügelt“) und - wahrscheinlich bei seiner Festnahme - onrackelijken woirde („ungehörige Worte“) dem Herrn, d. h. den Dienern, gegenüber geäußert. Er musste vor dem 24.-Juni aufbrechen; so er das nicht täte, sollte er für drei Jahre verbannt werden. 99 In Gouda wurde Wilsnack zwischen 1447 und 1536 56 Mal auferlegt; das letzte Urteil mit einer Wilsnackfahrt ist dort am 11.- Dezember 1536 registriert. 100 In Leiden wurde Wilsnack den Sühnebüchern (zoenboeken) zufolge zwischen 1422 und 1500 achtmal - die erste Leidener Wilsnack-Verurteilung fand am 27.-November 1422 statt 101 - und den Strafbüchern (correctieboeken) zufolge 22 Mal zwischen 1434 und 1557 verhängt. Leidener Quellen zeigen, dass sozial-politische Verwicklungen Wallfahrten nach Wilsnack zur Folge haben konnten. In der Dekade nach 1440 lebten überall in den holländischen Städten die Parteistreitigkeiten auf, auch in Leiden, wo van mei tot juli [1445] … slecht toeven („von Mai bis Juli [1445] … schlecht zu verweilen“) war. 102 Das führte unter anderem Ende August 1445 zur Verurteilung von zwölf Personen wegen ihrer Teilnahme an einem Aufruhr am 1.- Juli: Drei von ihnen wurden verpflichtet, eine Wallfahrt nach Wilsnack zu leisten, wohin sie innerhalb von drei Tagen nach der Entscheidung aufbrechen mussten. 103 In Schiedam wurde Wilsnack zwischen 1387 und 1538 fünfzig Mal verhängt. Eine Anzahl Schiedamer Urteil zeigt ebenfalls, dass politische Verwicklungen - in diesem Fall in den 1480er Jahren - zu Urteilen führen konnten, in denen Wallfahrten nach Wilsnack verhängt wurden (s. Anhang und Abbildung 4). Den Höhepunkt bildete eine Reihe von Verurteilungen am 3.-November 1489, als etwa zwanzig aufsässige Personen mit diversen Strafen belegt wurden, wobei fünf von ihnen unter anderem zu einer Wilsnack-Wallfahrt verurteilt wurden. 104 99 Rijksarchief Zuid-Holland, Brielle 9, 44: 12. Februar 1424. 100 Streekarchief Midden-Holland, Gouda ORA 176, 198-199. 101 Rechterlijk Archief Leiden 2: Zoenboek 1390-1435, 279; Ausführung datiert vom 17. Dezember 1422. 102 R. Ladan/ A.H. Netiv, Leiden 1445. Hoeken in verzet, in: Leids Jaarboekje 80 (1988) S.-24- 49; vgl. van Gent, Pertijelike saken (wie Anm. 6) S.-60-61; Zitat: J.W. Marsilje, Het financiële beleid van Leiden in de laat-Beierse en Bourgondische periode ± 1390-1477 (1985) S.-51. 103 Memorialen van Jan Rosa, Teile XI, XII, XIII (wie Anm. 74) S.-110-111, Nr. 348; vgl. Algemene Geschiedenis der Nederlanden 4 (1980) S.-280. 104 Van Herwaarden, Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 2) S.-353-355. 62 Jan van Herwaarden Abbildung 4: Urteil von Schiedam aus dem Sententieboek (ca. 1490) Auch in Rotterdam mit verhältnismäßig wenig relevantem Material war die Wallfahrt nach Wilsnack keine ungebräuchliche Strafe, wie im Übrigen auch schon oben deutlich wurde. Das letzte, mir bekannte Wilsnack-Urteil aus den Niederlanden ist ein Rotterdamer Urteil vom 30.-Juni 1547: Die Wallfahrt wurde tatsächlich abgelegt. 105 Das Ende Ein paar Jahre später, früh am Morgen des 28.- Mai 1552 - einem Samstag -, zerschlug der erste evangelische Geistliche von Wilsnack, Joachim Ellefeld, die Monstranz mit den Hostien und schüttete die heilige Substanz in einen Kessel mit glühenden Kohlen. 106 Das verhinderte aber nicht, dass die an die heilige Hostie von Wilsnack gebundene Verehrung bestehen blieb, wie in Gent die Fei- 105 Stadsarchief Rotterdam, OSA, Schepenarchief 199, 58 r/ v . 106 Breest, Wunderblut (wie Anm. 1) S.- 285; nota bene: Viaene, Vlaamse pelgrimstochten (wie Anm. 17) S.-103, das Lexikon für Theologie und Kirche 10 (1966) S.-1171 s.v. Wilsnack und Janse ‘Een Nederlands gebrandschilderd glas (wie Anm. 15) S.- 23 haben fälschlich 1532 als Jahreszahl; vgl. Anne-Katrin Ziesak, Das Ende der Wallfahrten zum Heiligen Blut, in: Kühne/ Ziesak, Wilsnackfahrt (wie Anm. 24) S.-197-212. Wilsnack in den Niederlanden 63 er des Hl.-Blut-Tages am ersten Sonntag nach Fronleichnam: Die organisierte Bruderschaft vom Heiligen Blut leitete ihre Existenzberechtigung ausdrücklich von der Wilsnacker heiligen Hostie ab. 107 Anhang: Urteil von Schiedam (s. Abbildung 4), Transkription: Schiedam, Gemeentearchief, Oude rechterlijke archieven 35: Sententieboek (ca. 1490) [440] Ten selven dage is den baeliu mitten gerechte geseten upten stede huys om te corrigieren ende samen te setten Heynrick Janss. om dat hy overhorich is geweest tgunt dat mit die gemene vroetscap gesloten is geweest dat nyemant dair tegen seggen en soude van enigen knechten die men in horen huyse biiden bode logierde op correctie van scepenen; darenboven heeft Heyn hem selven opgestelt tegen den knechten die dair tsinen huyse gelogiert waren ende woude dair iegen vechten. Soe is ziin samen tenden tsheren bruecken dat hy wt gaen sal tusschen dit ende onsse vrouwen lichtmis dach een bedevt ten heilighen bloede te Wilsnack ende betooch dair van breyngen eer hy binnen der stede vrijheit sal comen of iiijm [4000] steens an die stede vermetslen of iiij [4] riinsgulden daren voren geven, die te verborgen binnen daech sonneschiin optie peyne van l [50] gouden leuwen borge Willem Symonsz. Am selben Tag hat der Vogt auf dem Stadthaus zu Gericht gesessen, um eine Strafe für Heynrick Janszoon festzulegen, weil er ungehorsam gewesen ist in der Sache, die nach allgemeiner Kenntnis, der niemand mehr widersprechen soll, festgestellt wurde, von einigen Knechten, die man in ihrem Hause mittels des Boten auf Strafe der Schöffen untergebracht hatte; darüber hinaus hat sich Heyn selbst gegen die Knechte erhoben, die dort in seinem Hause untergebracht waren, und wollte gegen sie kämpfen. So ist seiner geurteilt, um das Vergehen gegen den Herrn zu bessern, dass er die Stadt zwischen diesem Tage und Unserer Frauen Lichtmess verlassen soll für eine Wallfahrt zum Heiligen Blut von Wilsnack und ein Zeugnis davon bringen soll, bevor er in der Stadt Freiheit zurückkommt, oder statt dessen 4000 Steine vermauern oder 4 Rheinische Gulden dafür geben soll, die zu hinterlegen innerhalb des Tages Sonnenschein, auf Strafe von 50 Goldenen Löwen. Zeuge: Willem Symonsz. [441] Eodem die etc. gecorrigeert ende samen geset Pieter Engebrechtz. om quade woirden die hy den bode gaf die dknechten tsinen huyse gelogiert hadde. Soe is ziin smeer (??) tend. sheren bruecken dat hy mede gaen sal een bedevert 107 Marcel Daem, Gentse ommegangsreuzen en -dieren in de 17 de eeuw en een reliek der H. Hostien te Wilsenaken, in: Oostvlaamse Zanten 67 (1992) S.-87-98. 64 Jan van Herwaarden ten heyilgen bloede te Wilsnack in allen manieren als voirs. is ende op die peyne voirs. borge Dirck Phillipsz. Am selben Tag etc. als Strafe festgelegt für Pieter Engebrechtszoon um der bösen Worte willen, die er dem Boten gab, der die Knechte in seinem Haus untergebracht hatte. So ist seiner ebenfalls geurteilt, um das Vergehen gehen den Herrn zu bessern, dass er mitgehen soll auf die Wallfahrt zum Heiligen Blut von Wilsnack in der gleichen Weise wie vorschrieben und unter der gleichen Strafandrohung wie vorschrieben. Zeuge: Dirck Phillipsz. Die Wettiner und Wilsnack Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16.-Jahrhundert Enno Bünz und Hartmut Kühne Vorbemerkung Die Wettiner haben im Mittelalter und in der Neuzeit zu den bedeutendsten Fürstenhäusern im Heiligen Römischen Reich gehört. 1 Die Familie lässt sich bis ins 10.-Jahrhundert zurückverfolgen und war ursprünglich im Raum der mittleren Saale ansässig, wo der namengebende Stammort Wettin liegt. Der Wettiner Dietrich-II. gelangte um 1034 in den Besitz der Ostmark, der späteren Niederlausitz. Sein Sohn Heinrich von Eilenburg wurde 1089 von Kaiser Heinrich-IV. mit der Markgrafschaft Meißen belehnt. Damit hatten die Wettiner zwei Reichslehen inne und stiegen zu einem der bedeutendsten Fürstenhäuser des Reiches auf. Nach 1247 konnten sie ihren ostmitteldeutschen Herrschaftsbereich um die Landgrafschaft Thüringen erweitern. Im 14.- Jahrhundert kamen Besitzungen in Franken um Coburg hinzu. 1423 erlangten die Markgrafen von Meißen dann durch kaiserliche Verleihung die sächsische Kurwürde, die an mittelelbische Besitzungen um Wittenberg gebunden war. Als Kurfürsten von Sachsen gehörten die Wettiner nunmehr zur kleinen Führungsschicht im Reich und herrschten über ein mitteldeutsches Territorium, welches große Teile der heutigen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen umfasste. 2 1485 wurde dieses Herrschaftsgebiet dauerhaft geteilt in das Kurfürstentum Sachsen, regiert von der ernestinischen Linie der Wettiner mit den Herrschaftsmittelpunkten Wittenberg, Torgau, Weimar und Coburg, sowie das Herzogtum Sachsen, regiert von der albertinischen Linie mit den Herrschaftsmittelpunkten Dresden, Meißen 1 Jörg Rogge, Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im Mittelalter (2005); Reiner Gross, Die Wettiner (Urban-Taschenbücher 621, 2007); Enno Bünz, Art. „Wettiner“, in: Neue Deutsche Biographie 27 (2020) S. 912-918. 2 Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen (2002); Karlheinz Blaschke, Die wettinischen Länder von der Leipziger Teilung 1485 bis zum Naumburger Vertrag 1554, Beiheft und Karte (Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, C III 1, 2010-2011). und Leipzig. 3 Die Wettiner haben als Markgrafen von Meißen, Kurfürsten und zuletzt Könige von Sachsen kontinuierlich von 1089 bis 1918 regiert und haben damit selbst die lange Herrschaft der Wittelsbacher in Bayern oder der Welfen im heutigen Niedersachsen in den Schatten gestellt. Wenn nun die Beziehungen der Wettiner zum Heiligen Blut in Wilsnack betrachtet werden sollen, handelt es sich zunächst um ein einigermaßen überschaubares Thema, denn es lassen sich zwischen 1421 und 1504 insgesamt acht Angehörige des Hauses Wettin als Besucher in Wilsnack nachweisen. Bevor diese Pilgerfahrten, die unterschiedlich gut dokumentiert sind, im dritten Abschnitt dieses Beitrags behandelt werden, sind aber noch zwei Abschnitte vorauszuschicken, die zunächst einmal nach der Verehrung der Eucharistie im Bistum Meißen fragen, zu dem der Großteil der Mark Meißen gehörte, und dann das Besondere fürstlicher Frömmigkeitspraxis in den Blick nehmen. Beides soll dabei helfen, die frömmigkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen fürstlicher Wallfahrten nach Wilsnack besser zu verstehen. 4 1. Die Verehrung der Eucharistie im Bistum Meißen Die Wallfahrt zum Heiligen Blut nach Wilsnack setzt eine besondere Wertschätzung, ja Verehrung der Eucharistie voraus. Peter Browe hat darüber 1933 ein Buch vorgelegt, das allerdings auf das lateinisch-papstchristliche Europa insgesamt ausgerichtet ist. 5 Dabei ist bewundernswert, was Browe an lokalen Einzelbefunden alles beibringen konnte, aber sein Buch ersetzt natürlich keine regionale Frömmigkeitsgeschichte, die im Detail viel tiefer gehen müss- 3 Enno Bünz, Sachsen im spätmittelalterlichen Reich und in Europa, in: Des Himmels Fundgrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert, hg. von Uwe Fiedler/ Hendrik Thoss/ Enno Bünz (Chemnitz: Kunstsammlungen Chemnitz, Schlossbergmuseum 2012) S.-8-27; Ders., Getrennte Wege: Die Reformation im Kurfürstentum und im Herzogtum Sachsen (1517-1539/ 40), in: Deutschland und die Britischen Inseln im Reformationsgeschehen. Vergleich, Transfer, Verflechtungen, hg. von Frank- Lothar Kroll/ Glyn Redworth/ Dieter J. Weiss (Prinz-Albert-Studien / Prince Albert Studies 34 = Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns 97, 2018) S.-275-301. 4 Zur Geschichte des Pilgerns und der Wallfahrtsorte in Mitteldeutschland siehe Spätmittelalterliche Wallfahrt im mitteldeutschen Raum. Beiträge zu einer interdisziplinären Arbeitstagung Eisleben 7.-8. Juni 2002, hg. von Hartmut Kühne u. a. (2002); Carina Brumme, Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (Europäische Wallfahrtsstudien 6, 2010); Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Hartmut Kühne/ Enno Bünz/ Thomas T. Müller (2013). 5 Peter Browe, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter (1933, unveränderter Nachdruck 1990). 66 Enno Bünz und Hartmut Kühne te. 6 Ergänzt wurde Browes Darstellung 15- Jahre später durch die kirchengeschichtlich-volkskundlich orientierte, außerordentlich materialreiche Bonner Dissertationsschrift von Johannes Heuser, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wurde und auch deshalb ungedruckt blieb. 7 Heuser erfasste einerseits Orte, an denen Reliquien des Blutes Christi verehrt wurden, und andererseits Kirchen mit „Bluthostienkult“, also Zeugnissen eucharistischer Wunder. Dabei ordnete er die Befunde in bestimmte Kulturräume ein, was einem besonders im Rheinland seit den 1920er Jahren populären, aber nach 1945 kaum noch verfolgten Forschungskonzept entsprach. 8 Wilsnack wurde von Heuser dem „norddeutschen Kulturraum“ zugerechnet 9 , während die wettinischen Territorien wohl eher zum „mitteldeutschen Kulturraum“ gehörten, der nach Heuser von Erfurt bis Wittenberg und vom hessischen Gottsbüren bis Braunschweig reicht. 10 Freilich fällt bei der Auflistung bereits auf, dass Heuser lediglich einen Ort in den wettinischen Landen kennt, an dem eine Blutreliquie verehrt wurde: das Gothaer Augustinerkloster. 11 Zwischen Erfurt im Westen und dem schlesischen Glogau im Osten, also im Kernbereich der wettinischen Herrschaft, fehlen in Heusers Übersicht allerdings eucharistische Kulte ganz. Der Befund ist wenig plausibel. Eine solche regionale Verortung der Befunde ist freilich schwierig genug. Ein Kernproblem dabei ist, dass sich im Mittelalter herrschaftliche und kirchliche Grenzen vielfach überschnitten, so dass es z.T. aufwendig ist, lokale Befunde räumlich-territorial einzuordnen. Der Herrschaftsbereich der Wettiner erstreckte sich im späten Mittelalter über die Bistümer Meißen, Merseburg und Naumburg, Mainz, Würzburg, Halberstadt, Magdeburg und Brandenburg. Im 6 Dies leistet streckenweise Walter Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 2 Bände (Mitteldeutsche Forschungen 27/ 1-2, 1962, 2., unveränd. Aufl. 1983), dessen Darstellung allerdings nur bis 1300 reicht, für das Thema der eucharistischen Verehrung deshalb nicht mehr einschlägig ist. Für Franken vgl. Wolfgang Brückner, Frommes Franken. Kult und Kirchenvolk in der Diözese Würzburg seit dem Mittelalter (2008). 7 Johannes Heuser, Heilig-Blut in Kult und Brauchtum des deutschen Kulturraumes (Phil. Diss. masch. Bonn 1948). 8 Vgl. dazu etwa den Forschungsüberblick Räume und Grenzen. Traditionen und Konzepte der Landesgeschichte. Epochenübergreifende Sektion auf dem 45. Deutschen Historikertag („Kommunikation und Raum“), Kiel, 14.-17. September 2004, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/ 140 (2003/ 2004) S.-145-178. 9 Ebenda S.-25-31. 10 Ebenda S.-22-25. 11 Ebenda S.-24. Zur dortigen Heilig-Blut-Reliquie vgl. Johannes von Paltz, Werke, Band 2: Supplementum Coelifodinae, hg. von Berndt Hamm (Spätmittelalter und Reformation 3, 1983) S.-408-413 (Determinatio doctoris Dorsten de cruore miraculoso); Friedrich Theodor Kolde, Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz. Ein Beitrag zur Ordens- und Reformationsgeschichte nach meistens ungedruckten Quellen (1879) S.-170-172. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 67 Folgenden konzentrieren wir uns auf das Bistum Meißen, welches den Kernraum des wettinischen Territoriums abdeckte. 12 Wie schon Peter Browe betont hat, geht es bei der eucharistischen Frömmigkeit nicht um die Verehrung der Eucharistie im alltäglichen Gottesdienst 13 , sondern um die besonderen Formen der Verehrung durch Aussetzung der Eucharistie zwecks Anbetung in der Kirche oder durch Sakramentsprozessionen. 14 Für beides wird die Einführung des Fronleichnamsfestes förderlich gewesen sein, die von Lüttich ihren Ausgang nahm und von Papst Urban IV. 1264 allgemeinkirchlich vorgeschrieben wurde. 15 Papst Clemens V. und das Konzil von Vienne „haben die Bulle 1311/ 12 wiederholt und ihre Ausführung streng befohlen“, und deshalb fand die Bestimmung auch Aufnahme ins allgemeine Kirchenrecht, nämlich in die 1317 veröffentlichten Clementinen. 16 Aber selbst ein halbes Jahrhundert nach der kirchenamtlichen Einführung war dieses Fest noch nicht sehr verbreitet. 17 In den mitteldeutschen Diözesen ist dieses Fest wohl durchweg erst im Laufe des 14.-Jahrhunderts eingeführt worden. Peter Browe bemerkt zur Diözese Meißen, dort „scheint das Fest erst spät gefeiert worden zu sein. In römischen Ablässen, die 1339 für die Urbankirche in Bernstadt und die Peterskirche in Budissin gegeben wurden, war es unter den Besuchstagen nicht aufgezählt. Dagegen datierte die Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters St. Mariental (Oberlausitz) 1334 eine Urkunde in festo gloriosissimi corporis d. n. J. Chr.“ 18 Dieses Kloster gehörte allerdings diözesanorganisatorisch zum Erzbistum Prag, nicht zum Bistum Meißen. Der Glaube an die Realpräsenz Christi führte im späten Mittelalter auch zu Veränderungen in der Kirchenausstattung, die vor allem an der Errichtung repräsentativer Sakramentshäuser ablesbar ist, 12 Erwin Gatz, Bistum und Hochstift Meißen um 1500, in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich - Deutschsprachige Länder, hg. von Erwin Gatz in Zusammenarbeit mit Rainald Becker/ Clemens Brodkorb/ Helmut Flachenecker (2009) S.-102 f. 13 Vgl. Peter Browe, Die Pflichtkommunion im Mittelalter (1940) und dessen weitere Studien, wieder abgedruckt in: Ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einführung hg. von Hubertus Lutterbach/ Thomas Flammer (Vergessene Theologen 1, 2003). 14 Browe, Verehrung (wie Anm. 5) S.-V (Vorwort). 15 Ebenda S.-73 f. - Die Bulle „Transiturus de hoc mundo“ ediert in: Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. von Peter Hünermann (43. Aufl. 2010) S.-350-352, Nr. 846-847. 16 Browe, Verehrung (wie Anm. 5) S.-76 f. 17 Ebenda S.-77 f. 18 Peter Browe, Die Ausbreitung des Fronleichnamsfestes, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 8 (1928) S.-107-143; wiederabgedruckt in: Ders., Eucharistie (wie Anm. 13) S.-509- 536, hier S.-525. 68 Enno Bünz und Hartmut Kühne in denen die gewandelten, aber nicht verbrauchten Hostien bis zur nächsten Messfeier für die Gläubigen sichtbar und verehrbar verwahrt wurden. 19 Obwohl es generell schwierig ist, einen Gradmesser für die Praktizierung von Frömmigkeitsformen zu finden, ist es nicht zwecklos, nach dem Stellenwert bestimmter Glaubenspraktiken wie die Verehrung der hl. Eucharistie zu fragen Ein Indikator ist die Verbreitung von Altarpatrozinien, denn im Laufe des späten Mittelalters wurden in Kloster- und Stifts-, Stadt- und Dorfkirchen von einzelnen Laien und Klerikern, von Gemeinden und Bruderschaften zahlreiche Nebenaltäre gestiftet, die mit einer Vikarie verbunden waren. Am Bischofssitz Meißen wird in der Domkirche 1343 ein neuer Altar erwähnt, der in honorem corporis Christi, sanctae Mariae Magdalenae, sanctorum Cosmae et Damiani martyrum et Agathae virginis geweiht werden sollte. 20 Hauptpatrone des Altars waren St. Cosmas und Damian, doch erscheint z. B. 1406 in einer Urkunde wieder das Konpatrozinium Corpus Christi. 21 Der Altar lag im Langhaus der Domkirche am von Westen gezählt dritten Pfeiler auf der Nordseite. 22 Allerdings ist die Fronleichnamsverehrung in Dresden, das zum Bistum Meißen gehörte, schon einige Jahrzehnte früher nachweisbar, denn bereits 1305 wird zugunsten der Kapelle Corpus Christi gestiftet, die an herausgehobener Stelle auf der Elbbrücke in Dresden stand. 23 In der Dresdner Kreuzkirche wur- 19 Dazu Achim Timmermann, Real presence. Sacrament Houses and the Body of Christ, c. 1270-1600 (Architectura medii aevi 4, 2009). 20 CDS II/ 1, S.-363-f., Nr. 445. - Es liegen zwei Urkunden von 1341 (CDS II/ 1, S.-352 f., Nr. 432) und 1343 (CDS II/ 1, S.-362-f., Nr. 444) über die Ausstattung der Vikarie vor, die verschiedene Stifter nennen. 21 czu sinem altire des heiligen lichenams vnd sente Cosmen vnd Damianen der heiligen merterere in der kirchen czu Missen gelegin, CDS II/ 2, S.-331, Nr. 791. - 1389 hingegen zcu lobe gote vnserme herrin almechtigin, sinir liben muter Marian der himiluorstin zcu erin sente Marian Magdalen, sente Cosme vnde Damiano, houptfrowin vnde houptherrin der egenantin vicarien, CDS II/ 2, S.-238, Nr. 709; 1419 als Altar St. Cosmas und Damian (ebenda II/ 2, S.-442, Nr. 900). 22 Zur Lokalisierung vgl. Matthias Donath, Die Altäre im Zeitraum von 1250 bis 1400, in: Ecclesia Misnensis. Jahrbuch des Dombau-Vereins Meißen 1 (1998) S.- 19-46, hier S.- 29 f., der aber das Patrozinium Corpus Christi gar nicht erwähnt; auch nicht in Ders., Die Altäre im Meißner Dom im Zeitraum von 1250 bis 1550 (Nachtrag), in: Monumenta Misnensia. Jahrbuch für Dom- und Albrechtsburg zu Meißen 6 (2003/ 04) S.-13-23, hier S.-14. 23 capella super dictum pontem sita et constructa, dedicata in honorem corporis Christi, CDS II/ 5, S.-16-f. Nr. 21 (= künftig: CDS UB Dresden 1, hg. von Ulrike Siewert u.a., Nr. 17). Siehe dazu Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah, Kirche, geistliches Leben und Schulwesen im Spätmittelalter, in: Geschichte der Stadt Dresden 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, hg. von Karlheinz Blaschke unter Mitwirkung von Uwe John (2005) S.-198-246 u. S.-662-673, hier S.-223 mit dem Hinweis, dass diese Kapelle 1468 als Alexiuskapelle erneuert wurde. Deshalb wird das Gotteshaus in der Bistumsmatrikel von 1495 verzeichnet als Allexii in ponte, siehe Walther Haupt, Die Meißener Bistumsmatrikel von 1495 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 4, 1968) S.-16. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 69 70 Enno Bünz und Hartmut Kühne de zudem 1381 ein Altar Corporis Christi eingerichtet. 24 Man kann also davon ausgehen, dass die Fronleichnamsverehrung schon im Laufe der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Bistum Meißen etabliert wurde. 25 Neben den regionalen und lokalen Urkundenbüchern, die hier nicht systematsch ausgewertet werden können, bieten auch die päpstlichen Register im Vatikanischen Archiv, die durch das Repertorium Germanicum erschlossen werden, für das 15. Jahrhundert noch etliche Nachweise. Es dürfte einsichtig sein, dass die Zusammenstellung solcher Belege ausgesprochen mühsam ist, da die meisten Urkundenbücher keine brauchbaren Sachregister aufzuweisen haben und ohnehin noch längst nicht alle spätmittelalterlichen Urkunden ediert sind. Für das Bistum Meißen bietet aber die 1495 aufgezeichnete Bistumsmatrikel einen guten Überblick der Altäre bzw. Vikarien mit ihren Patrozinien. 26 Bei der statistischen Auswertung der hier genannten Altarpatrozinien überrascht wenig, dass die Muttergottes mit 114 Belegen für B.M.V., Conceptionis B.M.V. mit 27 Belegen, Annunciacionis mit 16 und Compassionis B.M.V. mit 15 Belegen an der Spitze steht. Mit deutlichem Abstand folgt das Altarpatrozinium S.-Crucis mit 72 Belegen und St.-Anna, eine Modeheilige des ausgehenden Mittelalters, mit 69 Nachweisen, ebenso St.- Barbara. Das Patrozinium Corporis Christi ist ebenfalls mit 69 Altarstiftungen vertreten. Alle anderen Patrozinien folgen mit deutlichem Abstand, zunächst St.- Fabian und Sebastian mit 49 Nachweisen. 27 Betrachtet man die Verbreitung der 69 Altarpatrozinien Corpus Christi, trifft man auf 63 Städte und Dörfer im Bistum Meißen. 28 Leider fehlt in dieser Bistumsmatrikel von 1495 ausgerechnet der Bischofssitz Meißen, doch lassen sich mit Hilfe der gedruckten Meißner Urkunden außer in der Domkirche auch in der Stadtpfarrkirche Unserer Lieben Frau, im Augustinerchorherrenstift St. Afra und im Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz Fronleichnamsaltäre nachweisen. 29 Weitere Forschungen müssten zeigen, ob sich chronologisch eine Verbreitungsgeschichte des Patroziniums 24 Siehe CDS II/ 5, S.-68 f. Nr. 84 = künftig CDS UB Dresden 1, hg,. von Ulrike Siewert u.a., Nr. 55. 25 Eduard Machatschek, Geschichte der Bischöfe des Hochstiftes Meissen in chronologischer Reihenfolge. Zugleich ein Beitrag zur Culturgeschichte der Mark Meissen und des Herzogs- und Kurfürstentums Sachsen (1884) S.- 199 nennt als älteste Belege der Fronleichnamsverehrung im Bistum Meißen Dresdner Urkunden von 1381 (siehe oben), 1382 und 1396, geht also nicht in die Tiefe. 26 Haupt, Meißener Bistumsmatrikel (wie Anm. 23). - Das auf Veranlassung des Bischofs Johannes von Salhausen 1495 zusammengestellte Verzeichnis wurde noch einige Jahrzehnte weitergeführt, wie die Nachträge zeigen, siehe ebenda S.-80 f. die Zusammenstellung der Altarstiftungen 1501-1533. 27 Haupt, Meißener Bistumsmatrikel (wie Anm. 23) S.-78 f. 28 Ebenda S.-67 f. 29 CDS II/ 4, S.-422 f. im Register. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 71 darstellen ließe, aber die Quellenlage dürfte einem solchen Vorhaben vor allem in den kleineren Städten und Dorfkirchen enge Grenzen setzen. Angesichts der starken Verbreitung von Corpus-Christi-Patrozinien muss es erstaunen, dass im Bistum Meißen kein eucharistischer Wallfahrtsort existierte. Weder die Materialsammlungen von Peter Browe oder Johannes Heuser noch das - freilich im Detail historisch unzuverlässige - Wallfahrtsinventar für Sachsen, das Birgit Franke 2002 publizierte 30 , nennen einen Wallfahrtsort im Bistum Meißen, der wegen eines eucharistischen Wunders besucht wurde. Auch aus dem östlich angrenzenden Bistum Merseburg, das ebenfalls vorrangig zum Herrschaftsbereich der Wettiner gehörte, sind keine eucharistischen Wallfahrten bekannt. Dies ist umso auffälliger, als es in dem nordöstlich angrenzenden Bistum Brandenburg einige eucharistische Kulte 31 mit Wallfahrten von zumindest regionaler Bedeutung gab, so in dem Zisterzienserkloster Zehdenick, 32 in der Pfarrkirche des Dorfes Buckow (heute ein Ortsteil von Nennhausen) 33 und in der Heilig-Blut-Kapelle an der Pfarrkirchen von Beelitz. 34 Noch kurz vor Beginn der Reformation erlebte die Verehrung der Eucharistie unter antijüdischem Vorzeichen noch einmal einen Aufschwung, wofür der angebliche jüdische Hostienfrevel im mecklenburgischen Sternberg 1492 einen wesentlichen Impuls gab. 35 Auch in der Mark Brandenburg wurde nach dem Diebstahl eines Hostienbehälters im Dorf Knobloch bei Brandenburg (heute ein Ortsteil von 30 Birgit Franke, Mittelalterliche Wallfahrt in Sachsen. Ein Arbeitsbericht, in: Arbeits- und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege 44 (2002) S.-299-389. Vgl. dazu auch den Literaturbericht von Gerhard Billig, Archäologie, Siedlungskunde und Landesgeschichte. Bemerkungen zu einigen Neuerscheinungen, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 74/ 75 (2003/ 2004) S.-372-382, hier S.-375-378. 31 Vgl. dazu auch den Überblick von Karl-Hinrich Schäfer, Märkische Fronleichnamsverehrung, in: Wichmann-Jahrbuch 2/ 3 (1931/ 1932) S.-98-107. 32 Vgl. Heuser, Heilig Blut (wie Anm.-7) S.-27, Hartmut Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain. Perspektiven einer nord- und mitteldeutschen Wallfahrtsgeographie um 1500, in: Jahrbuch für Volkskunde 25 (2002) S.-45-76, hier S.-67-69 mit der älteren Lit. 33 Vgl. Hartmut Kühne, Rätsel des havelländischen Wunderblutes. Die Geschichte der Wallfahrt nach Buckow, in: Offene Kirchen. Brandenburgische Kirchen laden ein (2008) S.- 6- f; Dirk Schumann, Kleinod der märkischen Backsteingotik. Die Baugeschichte der Buckower Dorfkirche, in: ebenda S.-9-f. 34 Vgl. Heuser, Heilig Blut (wie Anm.-7) S.-27-f.; Kühne, Ahrensbök (wie Anm. 32) S.-65-67; Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Wunderblut von Beelitz (2009). 35 Vgl. Fritz Backhaus, Die Hostienschändungsprozesse von Sternberg (1492) und Berlin (1510) und die Ausweisung der Juden aus Mecklenburg und der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 39 (1988) S.- 7-26; Volker Honemann, Die Sternberger Hostienschändung und ihre Quellen, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Boockmann (1994) S. 75-102; Ders. Art. „Sternberger Hostienschändung“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9 (2. Aufl. 1995) Sp. 306-308; Kristin Skottki, Sternberg 1492. Zur Genese eines Hostienfrevelprozesses, in: Absichten, Pläne, Strategien. Erkun- 72 Enno Bünz und Hartmut Kühne Ketzin/ Havel) im Jahre 1510 ein jüdisches Komplott konstruiert. Man warf den dort lebenden Juden vor, an mehreren Orten mit den gestohlenen Hostien Frevel getrieben zu haben. Diese auch durch den Druck verbreiteten Nachrichten sorgten am Ort des Diebstahls sowie im Brandenburger Dom für die Entstehung von zumindest kurzzeitig besuchten Kultorten. 36 Auch im nordöstlich an das Bistum Meißen grenzenden Erzbistum Magdeburg sind eucharistische Kulte belegt. Schon 1315 führte in der Kathedralstadt Magdeburg ein Hostiendiebstahl zur Stiftung einer Fronleichnamskapelle. 37 Ein Fall, der auch die wettinische Herrschaft betraf, ereignete sich 1429 in dem Dorf Wartenburg in der Nähe Wittenbergs. Hier hatte der Ortspfarrer Nikolaus Tonemann 1429 versucht, ein Hostienwunder zu inszenieren. Darin wurde er von der Witwe des askanischen Herzogs Rudolfs III., Barbara von Liegnitz, tatkräfig unterstützt. Da nach dem Tod des letzten askanischen Herzogs 1423 die Kurwürde zusammen mit dem u. a. Wittenberg umfassenden Kurkreis an die wettinischen Markgrafen von Meißen gelangte, wurden diese auch mit diesem Fall befasst. Da der Ort westlich der Elbe und damit im Gebiet des Magdeburger Erzbistums lag, beauftragte der Erzbischof Günther den Magdeburger Domherren Heinrich Tocke mit der Untersuchung der Umstände vor Ort. 38 Als er mit seiner Prüfung der Sache in Wartenburg auf Widerstand stieß, der durch die Räte der Herzoginwitwe Barbara unterstützt wurde, reiste er nach Zwickau, wo sich die damals noch unmündigen Söhne des 1428 verstorbenen wettinischen Kurfürsten Friedrich I. aufhielten. Dort erbat und erhielt er freie Hand für die Untersuchung der Angelegenheit. Der Wartenburger Pfarrer lieferte schließlich die mit Blut befleckte Hostie aus und gestand, dass er das eucharistische Wunder mit Hilfe seines eigenen Blutes fingiert hatte. Für Heinrich Tocke wurde diese Erfahrung zu einem Beweggrund seines späteren Engagements gegen den Wilsnacker Kult. Fünf Jahre nach den Vorgängen in Wartenburg entstand der einzige eucharistische Wallfahrtsort im wettinischen Gebiet: die Fronleichnamskapelle von Heiligenleichnam. Sie lag wenige Kilometer südlich der wettinischen Residenz dungen einer historischen Intentionalitätsforschung, hg. von Jan-Hendryk de Boer/ Marcel Bubert (2018) S.-283-307. 36 Vgl. Heuser, Heilig Blut (wie Anm. 7) S.- 28. Grundlegend sind die Arbeiten von Friedrich Holtze, Das Strafverfahren gegen die märkischen Juden im Jahre 1510 (Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins 21, 1884); Backhaus, Hostienschändungsprozesse (wie Anm. 35). 37 Über den Vorgang berichtet die Magdeburger Schöppenchronik, hg. von Karl Janicke (Die Chroniken der deutschen Städte 7, 1869) S.-184-f. 38 Der Vorgang ist lediglich durch seine ausführliche Schilderung in der Magdeburger Synodalrede Heinrich Tockes von 1451 bekannt, vgl. dazu den Abdruck der Rede in diesem Band S.-175-177. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 73 Altenburg im Gebiet des Bistums Naumburg. 39 In der Woche nach Fronleichnam 1434 stahl ein Knecht aus der Altenburger Pfarrkirche eine Monstranz. Als er unterwegs nach Zwickau war, wo er das silberne Gerät verkaufen wollte, warf er die darin befindliche Hostie in ein Gehölz am Wegesrand, Der Dieb wurde in Zwickau verhaftet und verriet, wohin er die Hostie geworfen hatte. So holte die Geistlichkeit und Bürgerschaft die verunehrte Hostie aus der Nähe des Dorfes Gardschütz feierlich wieder nach Altenburg ein. Von hier soll sie der Legende nach aber des Nachts immer wieder in das Gehölz bei Gardschütz entschwunden sein, bis dort schließlich eine Kapelle gegründet wurde, in der man die Hostie verehrte. Die Stiftung geht auf den wettinischen Kurfürsten Friedrich-II. zurück, der die Kapelle gemeinsam mit seiner Frau Margarethe auch in den folgenden Jahrzehnten förderte. So erlangte er für ihren Besuch 1447 einen päpstlichen Ablass 40 und versuchte 1459, weitere päpstliche Gnaden für die Kapelle an der Römischen Kurie zu erlangen 41 , was aber erst seinem Sohn, Kurfürst Ernst 1480 bei einem persönlichen Besuch in Rom gelang. 42 Kurz vor 1500 wurde der Besuch der Kapelle noch mit einem in Leipzig gedruckten Mirakelbuch beworben. 43 Der Holzschnitt auf Blatt 1r verbindet die Verehrung der Hostie, die in einer Monstranz von zwei Engeln gehalten wird, mit dem kursächsischen Wappen (Abbildung 1). 39 Vgl. Hartmut Kühne, Das Mirakelbuch der Fronleichnamskapelle von Heiligenleichnam bei Altenburg, in: Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470-1525/ 30), hg. von Joachim Emig/ Volker Leppin/ Uwe Schirmer (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 1, 2013) S.-19-39 mit Edition der Quelle. 40 Den Ablass erteilte Papst Nikolaus V. am 21.-November 1447, vgl. Repertorium Germanicum 6: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Nikolaus V. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien, 1447-1455. 1. Teil: Text, bearb. von Josef Friedrich Abert/ Walter Deeters (1985) S.- 95, Nr. 921 (unter „Corsitz“ für „Gardschütz“). 41 . Vgl. Karl von Weber, Instruction des Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen für seine Gesandten an den Papst Pius II. zum Tag von Mantua, in: Archiv für Sächsische Geschichte 5 (1867) S.-113-129. 42 Ablass und Beichtfakultäten für die Kapelle prope villam Garsicz sind durch die Notizen der vatikanischen Register dokumentiert, vgl. Repertorium Germanicum 10: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Sixtus’ IV. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1471-1484. 1. Teil: Text in 3 Bänden, bearb. von Ulrich Schwarz/ Juliane Trede u. a. (2018) 1,1, S.-503-f., Nr. 2077. Zur fehlenden Empfängerüberlieferung vgl. Kühne, Mirakelbuch (wie Anm. 39) S.-23-f. 43 Ablass und Gnade mit den Wunderzeichen der Fronleichnams-Kapelle bei Altenburg [Leipzig: Wolfgang Stöckel, um 1498] (GW 0000910N). Das einzige bekannte Exemplar befindet sich im Besitz der Staatsbibliothek Berlin, Signatur Inc 1417.5 und ist im Digitalisat greifbar, URL: http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000B0EB00000000 (Stand 17.9.2019). 74 Enno Bünz und Hartmut Kühne Abbildung 1: Ablass und Gnade mit den Wunderzeichen der Fronleichnams-Kapelle bei Altenburg Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 75 2. Fürstliche Frömmigkeit Frömmigkeit ist praxis pietatis, „gelebter Glaube“, der selbstverständlich dem historischen Wandel unterliegt, von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen abhängig ist 44 und damit- - das macht Frömmigkeit auch für den Landeshistoriker interessant - in grundsätzlich gleichen und doch räumlich differenzierten Formen begegnet. Das Verhältnis von Theologie und Frömmigkeit hat der Erlanger evangelische Kirchenhistoriker Berndt Hamm folgendermaßen umschrieben: Theologie ist die Reflexionsgestalt der Religion, Nachdenken über den Glauben. Bei Frömmigkeit geht es immer, ob eher individuell oder kollektiv, ob mehr verinnerlicht oder in äußerer Praxis, um den konkreten Lebensvollzug des Glaubens durch eine bestimmte Lebensgestaltung. Dieser aneignende Vollzug von Religion durch eine formgebende Gestaltung des Lebens realisiert sich z. B. in der von einer Nonne erlebten mystischen Vereinigung mit dem Bräutigam Jesus, in der Meditationspraxis eines Mönchs, im Rosenkranzgebet einer Bürgersfrau oder in der Altarstiftung einer Dorfgemeinde. 45 Mit dem Begriff der „Frömmigkeit“ können wir folglich religiöse Handlungsweisen bezeichnen, die sich im normativen System der Kirche abspielen, denn Frömmigkeit ist ohne den Gegenpol der Theologie ebenso wenig denkbar, wie Kirche ohne Welt oder Klerus ohne Laien. In der Literatur gibt es für Frömmigkeit ein breites Begriffsspektrum, das von „Religiosität“ über praxis pietatis und „volksfrommes Brauchtum” bis hin zum etwas gesuchten Begriff „Sakralkultur“ reicht. Es gibt, wie das Zitat von Berndt Hamm deutlich macht, nicht nur eine Frömmigkeitsgeschichte der Laien, sondern ebenso der Kleriker und der Religiosen. Frömmigkeit ist selbstverständlich auch sozial offen (aber nicht 44 Wolfgang Brückner, Artikel „Frömmigkeit, III. Kulturhistorisch”, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (3. Aufl. 1995) Sp. 169-171. Siehe auch die Literaturhinweise in den folgenden Anmerkungen. 45 Berndt Hamm, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern 1, hg. von Gerhard Müller/ Horst Weigelt/ Wolfgang Zorn (2002) S.-159-211, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Ders., Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich/ Wolfgang Simon (Spätmittelalter - Humanismus - Reformation 54, 2011) S.- 244-298, Zitat S.- 247. Hamm zielt in der weiteren Argumentation dann auf das von ihm begründete Konzept der Frömmigkeitstheologie, die charakteristisch sei für die anderthalb Jahrhunderte vor der Reformation, siehe dazu auch Berndt Hamm, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Wolfgang Sommer, hg. von Hans-Jörg Nieden/ Marcel Nieden (1999) S.-9-45; wiederabgedruckt in: Hamm, Religiosität im späten Mittelalter (s. o.) S.-116-153. 76 Enno Bünz und Hartmut Kühne ungebunden), umfasst die praxis pietatis von Bürgern 46 , Bauern 47 und sozialen Randgruppen 48 , aber auch von Geistlichen und Fürsten. 49 Den Kupferstich Kurfürst Friedrichs des Weisen versah Albrecht Dürer mit einer Schrifttafel, auf der es heißt (Abbildung 2): „Er liebte das Wort Gottes in großer Frömmigkeit, würdig, verehrt zu werden in alle Zukunft” (Ille Dei verbo magna pietate favebat / Perpetua dignvs posteritate coli). 50 „Für das Mittelalter”, so Arnold Angenendt, 46 Hier und im Folgenden seien nur wenige neuere Beispiele genannt: Der Kaufmann und der liebe Gott. Zu Kommerz und Kirche in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Antjekathrin Grassmann (Hansische Studien 18, 2009). - Die Arbeiten zum Themenfeld „Stadt und Kirche“ sind kaum noch überschaubar, siehe Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft (2012) S.-605-668 und dazu die Literaturangaben S.-1056-1063. 47 Franziska Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 116, 1984); Bäuerliche Frömmigkeit und kommunale Reformation. Referate, gehalten am Schweizerischen Historikertag vom 23. Oktober 1987 in Bern. Redaktion: Hans von Rütte (Itinera, fasc. 8, 1988); Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400- 1803 (Studien zur Regionalgeschichte 11, 1998); Kirche, religiöse Bewegungen, Volksfrömmigkeit im mittleren Alpenraum. Chiesa, movimenti religiosi e devozione popolare nell’area alpina. Historikertagung in Sigmaringen. Convegno di storici di Sigmaringen, 11.-13. Mai 2000, 11-13 maggio 2000, hg. von Rainer Loose (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer, 2004); Enno Bünz, Dorf und christliche Religion, in: Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Werner Nell/ Marc Weiland (2019) S.-79-86. 48 Neuere Werke wie Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter (1995) oder Helmut Bräuer, Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1500 bis 1800. Essays (2008) gehen auf die Religiosität armer Leute nur am Rande ein, doch ist das natürlich auch ein Quellenproblem. Sie treten vor allem als Objekte christlicher Caritas in das Licht der Überlieferung, weniger als Akteure; siehe dazu Hanns Koren, Die Spende. Eine volkskundliche Studie über die Beziehung „arme Seelen, arme Leute“ (1954) und Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen (2017). 49 Enno Bünz, Gottesdienst und Frömmigkeit, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, hg. von Werner Paravicini (Residenzenforschung 15.2, 2005) S.- 35-37 und Farbtafel 8; Fürstenhof und Sakralkultur im Spätmittelalter, hg. von Werner Rösener/ Carola Fey (Formen der Erinnerung 35, 2008); Armin Kohnle, Die Frömmigkeit der Wettiner und die Anfänge der Reformation, in: Lutherjahrbuch 75 (2008) S.-125-140. - Besser als der religiöse Alltag bei Hof sind die großen fürstlichen Wallfahrten erforscht, siehe z. B. Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, hg. von Gerhard Faix/ Folker Reichert (Lebendige Vergangenheit 20, 1998); Folker Reichert, Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum Heiligen Land 1521 (Neuburger Kollektaneenblatt 153, 2005); Quellen zur Geschichte des Reisens im Spätmittelalter. Ausgewählt und übersetzt von Folker Reichert. Unter Mitarb. von Margit Stolberg-Vowinckel (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom- Stein-Gedächtnisausgabe 46, 2009). Siehe dazu auch die Hinweise unten Anm. 52. 50 Albrecht Dürer 1471-1971 [Katalog der Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 21. Mai bis 1. August 1971] (3. Aufl. 1971) S.-291 (Abbildung), dazu der Katalog- Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 77 „war Religion eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit und zwar für alle, für Volk und Herrscher, Kleriker und Gelehrte.“ 51 Abbildung 2: Albrecht Dürer, Kurfürst Friedrich der Weise (Kupferstich) artikel S.-294-296 zu Nr.-547 (Peter Strieder). 51 Arnold Angenendt, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68, 2003) S.-77. 78 Enno Bünz und Hartmut Kühne Fürsten und Bauern, Kleriker und Bürger praktizierten nicht grundsätzlich unterschiedliche Frömmigkeitsformen, diese differierten vielmehr und vor allem in ihren Dimensionen. Bauern stifteten für ihr Seelenheil bestenfalls einen Jahrtag in ihrer Dorfkirche, Fürsten hingegen gründeten eine ganze Stiftskirche, Bürger unternahmen Wallfahrten im regionalen Umkreis, Fürsten pilgerten lieber nach Jerusalem. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass auch dies nur scheinbare Gegensätze sind, denn tatsächlich praktizierten auch Fürsten wie die Wettiner ihre Frömmigkeit in ihrem Land, suchten wie der gemeine Mann auch manche lokalen und regionalen Gnadenstätten auf. Gerade die Wallfahrtspraxis der Wettiner zeigt dies recht anschaulich. 52 Mehrfach war der Weg nach Wilsnack mit dem Besuch anderer Gnadenorte verbunden, wie wir noch sehen werden, stellte also eine „Mehrfachwallfahrt“ dar. Die Fürsten hatten natürlich auch größere Möglichkeiten, im Kontakt mit der Römischen Kurie Privilegien, Indulte und Lizenzen zu erlangen, um das kirchliche Leben in ihrem Land und an ihren Residenzorten auszugestalten. Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang, dass Papst Calixtus III. am 14.-März 1456 die Bitte Kurfürst Friedrichs II. von Sachsen genehmigt hat, in der Domkirche zu Meißen das Allerheiligste zu weisen, während die von dessen Vorfahren gestiftete Fronleichnamsmesse an allen Donnerstagen gesungen wurde. 53 Grundsätzlich scheint die eucharistische Verehrung im Meißner Dom also schon Generationen älter gewesen zu sein, wurde nun aber weiter aufgewertet. Am 1.- Juli 1459 genehmigte Papst Pius II. dem sächsischen Kurfürsten eine weitere Vergünstigung; dieser hatte nämlich darum gebeten, dass im Meißner Dom, den Kollegiatstiften und den Pfarrkirchen der Diözese das Allerheiligste in feierlicher Prozession zum Altar gebracht werden dürfe, obwohl Kardinal 52 Besser untersucht sind natürlich die Fernwallfahrten, vgl. Folker Reichert, Von Dresden nach Jerusalem. Albrecht der Beherzte im Heiligen Land, in: Herzog Albrecht der Beherzte (1443-1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa, hg. von André Thieme (Quellen und Materialien zur Geschichte der Wettiner 2, 2002) S.-53-71; André Thieme, Pilgerreisen wettinischer Fürsten im späten Mittelalter, in: Der Jakobuskult in Sachsen, hg. von Klaus Herbers/ Enno Bünz ( Jakobus-Studien 17, 2007) S.-175-217 behandelt die Fernwallfahrten nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela und geht auf Wilsnack nicht ein. - Zur Wilsnackfahrt Hartmut Kühne, Unterwegs nach Wilsnack, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne- Katrin Ziesak (2005) S.-19-47. 53 de monstrando eucharistiam in eccl(esia) Misnen(si) ubi p(er) propatruum suum missa de corp(ore) Christi decantanda fund(ata) est: Repertorium Germanicum 7: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Calixts III. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1455-1458. 1. Teil: Text, bearb. von Ernst Pitz (1989) S.-72, Nr. 639. - Die Urkunde nach dem Original gedruckt in: CDS II/ 3, S.-121 Nr. 1034. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 79 Nikolaus von Kues als Legat diese Praxis verboten hatte. 54 Beide Dokumente verdeutlichen, dass sich die Verehrung des Allerheiligsten in Meißen bzw. am Hof des wettinischen Kurfürsten großer Beliebtheit erfreute und im Laufe des 15. Jahrhunderts weiter ausgestaltet wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die Verehrung des Heiligen Blutes in Wilsnack zu sehen. 3. Wettiner auf dem Weg nach Wilsnack Wilsnack gehörte zu den zahlreichen spätmittelalterlichen Wallfahrtsorten, die urplötzlich durch ein wundersames Geschehen aus dem Nichts entstanden. 55 Die kleine Dorfkirche in der Prignitz wurde in kürzester Zeit zu einem überregional, ja europaweit frequentierten Wallfahrtszentrum. Dies bezeugt noch heute eindrucksvoll die riesige spätgotische Hallenkirche, die seit der Mitte des 15.-Jahrhunderts errichtet wurde. Möglich wurde ein so gigantischer Kirchenbau durch die Spenden der zahlreichen Pilger. Das Allerheiligste der Wallfahrtskirche wurde in der Wunderblutkapelle verwahrt. Dort befindet sich noch heute ein Schrein, der aus der Mitte des 15.- Jahrhunderts stammt, und in dem die Pilger bei geöffneten Türen die drei Bluthostien verehren konnten, die in einem 54 de gratam habendo consuetudinem in eccl(esia) Misnen(si) et al(iis) colleg(iatis) et par(ochialis) eccl(esiis) Misnen(sis) dioc(esis) quod sacramentum corp(oris) Christi c(um) solempni processione ad alt(are) deportari consuevit, n(on) o(bstante) quod Nicolaus tit(uli) s. Petri ad vincula card(inalis) dum in illis partibus legationis fungeretur off(icium) eandem prohibuit: Repertorium Germanicum 8. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Pius' II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1458-1464. 1. Teil: Text, bearbeitet von Dieter Brosius/ Ulrich Scheschkewitz. Für den Druck eingerichtet von Karl Borchardt (1993) S.-186, Nr. 1262. Die Angelegenheit wurde vom Papst zur Entscheidung dem Bischof von Meißen übergeben. Ob sie nicht genehmigt wurde? Die Ausfertigung der Papsturkunde ist jedenfalls nicht erhalten. - Zum Verbot des Cusanus siehe Browe, Verehrung der Eucharistie (wie Anm. 13) S.-170 und Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues 1, Lieferung 4: Literatur und Register zu Band 1, hg. von Erich Meuthen (2000) S.-1796 s. v. Wilsnack. 55 Grundlegend ist noch immer Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-301. Seitdem zahlreiche weiterführende Beiträge in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52); Jan Hrdina/ Hartmut Kühne, Pilgerziel Wilsnack. Anfänge eines europäischen Wallfahrtsortes, in: Im Dialog mit Raubrittern und schönen Madonnen. Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter, hg. von Clemens Bergstedt/ Heinz-Dieter Heimann u.a. (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 6, 2011) S.-194-205. - Zu dem Büchlein von Olaf B. Rader, Hokuspokus. Bluthostien zwischen Wunderglaube und Budenzauber (2015), das über Wilsnack handelt, hat Wolfgang Brückner in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2015) S.- 228, das Nötige gesagt. - Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch den Beitrag von Toni Aigner in diesem Band S.-117- 119. 80 Enno Bünz und Hartmut Kühne Kristallgefäß verschlossen waren. Die Hostien selbst wurden hingegen 1552 von dem Wilsnacker lutherischen Pfarrer Joachim Ellefeld vernichtet. 56 Bereits die Zeitgenossen stritten erbittert über die Frage der Glaubwürdigkeit des Blutwunders. Auf der einen Seite standen vehemente Befürworter, wie die Bischöfe von Havelberg (in ihrer Diözese lag der Wallfahrtsort) oder der Franziskanertheologe Matthias Döring 57 , auf der anderen Seite erbitterte Gegner wie die Erzbischöfe von Magdeburg 58 oder der große Theologe und päpstliche Legat Nikolaus von Kues. Selbst Theologische Fakultäten wie die der Universität Erfurt wurden mit Gutachten betraut und verwarfen das Blutwunder. 59 Die Theologen der Universität Leipzig haben sich ebenfalls mit dem Blutwunder befasst. Der Universitätstheologe und Leipziger Dominikaner Dr. Johannes Kone, der im März 1446 bereits wegen der Universitätsreform mit dem Landesherrn aneinandergeraten war, predigte im April des Jahres dreimal in scharfer Weise gegen das Wilsnacker Wunderblut und wurde deshalb von der Universität relegiert sowie der Stadt verwiesen. Später ist er wieder zugelassen worden, allerdings unter der Auflage, in der Wilsnack-Sache zu schweigen. 60 In diesem Falle war es Kurfürst Friedrich II. der Sanftmütige, der zugunsten Wilsnacks durchgriff. Dass er wenig später, im Herbst 1447 auch für ‚seine‘ Fronleichnamskapelle in Heiligenleichnam bei Altenburg einen päpstlichen Ablass erwirkte 61 , ist möglicherweise auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Wettiner waren eben zugunsten des Wilsnacker Heiligen Blutes eingestellt, und entsprechend häufig zog es sie dorthin. 56 Breest, Wunderblut (wie Anm. 55) S.-285 f.; Anne-Katrin Ziesak, Das Ende der Wallfahrten zum Heiligen Blut, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52) S.-197-212, hier S.-201 f. 57 Petra Weigel, Matthias Döring - Wilsnacks streitbarer Verteidiger, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52) S.-177-179. 58 Hartmut Kühne, Magdeburg - Wallfahrt und Wallfahrtskritik unter dem Mauritiusbanner, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52) S.-169-176. 59 Vgl. Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Ein Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil 1: Spätmittelalter 1392-1460 (Erfurter Theologische Studien 14, 2. erw. Aufl. 1985) S.-147-152, Anne-Katrin Ziesak, Erfurt - von der löblichen und der tadelnswerten Wallfahrt, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52) S.-191-196. 60 Enno Bünz, Gründung und Entfaltung: Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409- 1539, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009, 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409-1830/ 31, hg. von Enno Bünz/ Manfred Rudersdorf/ Detlef Döring (2009) S.-17-325, hier S.-295 f. mit weiterführenden Hinweisen. 61 Siehe oben Anm. 40-42. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 81 Abbildung 3: Karte wettinischer Besuche in Wilsnack Die Wettiner kamen im Laufe des 15. und frühen 16.- Jahrhunderts in dichter Folge nach Wilsnack (Abbildung 3): 1421 die Markgräfin Katharina von Sachsen, die Gemahlin Markgraf Friedrichs-IV. von Meißen, der 1423 die sächsische Kurwürde erlangte, 1440 Sigismund, Bischof von Würzburg, 1456 Margaretha, die Gemahlin Kurfürst Friedrichs II. des Sanftmütigen, 1482 Herzog Wilhelm III. der Tapfere (es war allerdings sein Todesjahr, so dass es vielleicht nur bei dem frommen Vorsatz blieb), 1484 Kurfürst Ernst von Sachsen und mit ihm seine Söhne Erzbischof Ernst von Magdeburg und Friedrich, der spätere Kurfürst, Letzterer als nun regierender Kurfürst nochmals 1490, und schließlich 1504 sein Bruder Herzog Johann von Sachsen. 62 Da sich vor Ort in der Wallfahrtskirche selbst oder auch in der Stadt Wilsnack keine Quellen erhalten haben, die über den Einzugsbereich der Wallfahrt, also über die Pilger und ihre Herkunft Auskunft geben würden (es fehlen beispielsweise Mirakelbücher, die aus einigen mitteldeutschen Wallfahrtsorten wie z. B. Grimmenthal in Südthüringen oder Elende bei Nordhausen überliefert sind 63 ), sind die Quellen in den Herkunftsgebieten der Pilger zu befragen. Dabei muss 62 Die meisten schon genannt von Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.-33. 63 Siehe die Übersicht von Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.-131-144. 82 Enno Bünz und Hartmut Kühne man sich ein paar Grundgegebenheiten vor Augen führen. Wir gehen von der Wegstrecke Leipzig - Bad Wilsnack aus, die heute etwa 230 Straßenkilometer beträgt. Ein Pilger kann zu Fuß in der Stunde 4 bis 5 km zurücklegen. Die Kursächsischen Postmeilensäulen des 18. Jahrhunderts definieren eine Wegstunde als eine halbe Meile = 4,531 km. Die Wegstunde zu Pferd umfasst 2/ 3 Meile = 6,041 km. 64 Legt man eine Tagesleistung von zehn Stunden zugrunde, ergibt dies zu Fuß eine Distanz von 45 km, zu Pferd von 60 km, entsprechend eine Gesamtreisezeit von 5 Tagen zu Fuß, 4 Tagen mit dem Pferd. Wer aus der Mark Meißen bzw. Kursachsen kam, konnte eine Wallfahrt nach Wilsnack also mit Hin- und Rückreise in anderthalb bis zwei Wochen durchführen. Von daher ist gar nicht damit zu rechnen, dass Gläubige vor ihrer Abreise ein Testament errichteten oder anderweitig letztwillige Verfügungen trafen, wie das bei langwierigen Pilgerreisen beispielsweise nach Aachen, Rom oder Santiago de Compostela selbstverständlich war. 65 Auch zur Anfertigung eines Reiseberichts, wie ihn vor allem manche Jerusalempilger aufgezeichnet haben 66 , wird sich kein Wilsnack-Pilger veranlasst gesehen haben. Dafür war die Pilgerreise in die Prignitz zu kurz und zu unspektakulär. Als serielle Quelle sind die Stadtbücher eine ergiebige Quelle für Pilgerreisen, doch lässt sich beispielsweise in den ältesten Leipziger Stadtbüchern der Jahre 1466 bis 1500 nur einmal Wilsnack als Pilgerziel nachweisen: Als der Streit um den Nachlass des Leipziger Bürgers Antonius Wachau 1501 geregelt wird, heißt es u. a., dass seine Witwe „auch eine walfart zum heiligen blute [also nach Wilsnack] mit 12 lb wachß leisten solle“. 67 Diese Wallfahrt hatte wohl der Verstorbene gelobt und musste nun von seiner Frau vollbracht werden. In den jüngst edierten Stadtbüchern von Zwickau (1375-1481) 68 , von Dresden (1404- 64 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wegstunde (Stand 27.8.2019). 65 Vgl. die Zusammenstellungen von Christian Speer, Von Görlitz nach Rom. Regesten zur Geschichte der Pilgerfahrt in der Oberlausitz nach den Görlitzer Stadtbüchern, Ratsrechnungen und Testamenten (1358-1545), in: Neues Lausitzisches Magazin NF 10 (2007) S.-93- 132; Ders., Von Görlitz nach Rom. Regesten zur Geschichte der Pilgerfahrt in der Oberlausitz. Nachtrag zu NLM NF 10 (2007) S.-93-132, in: Neues Lausitzisches Magazin NF 13 (2010) S.- 137-142; Ders., Quellen zur Geschichte der Fernwallfahrten aus der Oberlausitz - die Kamenzer Stadtbücher, in: Neues Lausitzisches Magazin 134 = NF 15 (2012) S.-129-134. 66 Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520) ( Jakobus-Studien 4, 2. durchges. Aufl. 1991); Enno Bünz, Reiseberichte (Spätmittelalter), in: Historisches Lexikon Bayerns, Online-Ausgabe: www. historisches-lexikon-bayerns.de/ artikel/ artikel_45442 (Stand 27.08.2019). 67 Henning Steinführer, Die Leipziger Ratsbücher 1466-1500. Forschung und Edition, 2 Bände (Quellen und Materialien zur Geschichte der Stadt Leipzig 1, 2003) hier 2, S.- 496, Nr. 2337. 68 Urkundenbuch der Stadt Zwickau, bearbeitet von Jens Kunze/ Henning Steinführer, Teil 2: Das älteste Stadtbuch 1375-1481, bearb. von Jens Kunze (Codex diplomaticus Saxoniae, Hauptteil II,20, 2012). Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 83 1535) und von Altendresden (1412-1528) kommt der Wallfahrtsort Wilsnack hingegen überhaupt nicht vor. 69 Angesichts der bekannten überregionalen Anziehungskraft der Wallfahrt zum Heiligen Blut wird man daraus nicht schließen dürfen, dass die Bürger sächsischer Städte nicht nach Wilsnack gepilgert seien, aber diese Pilgerfahrten hinterließen eben keine Spuren in den Quellen. Dies alles muss vorausgeschickt werden, um die wenigen Nachrichten über Pilgerfahrten der Wettiner nach Wilsnack würdigen und einordnen zu können. Auch von den Wettinern als Angehörigen einer der mächtigsten reichsfürstlichen Dynastien des späten Mittelalters haben wir keine Pilgerberichte oder andere Selbstzeugnisse über den Besuch des Heiligen Blutes. 70 In der Regel werden die Wallfahrten nur indirekt erwähnt, weil die wettinischen Pilger bei der Durchreise Kosten verursachten, die dann in den Rechnungen der Ämter, also der regionalen Verwaltungsbezirke, oder der Städte verbucht wurden. Da es Dutzende Amtsbezirke gab und in vielen bereits aus dem 15.-Jahrhundert Jahresrechnungen der Schosser in Serie erhalten sind, kann man sich vorstellen, wie umfangreich diese Überlieferung ist. Hinzu kommen die Rechnungsserien der landesherrlichen Zentralverwaltung, die aus dem wettinischen Bereich ebenfalls sehr zahlreich erhalten sind. 71 Auf dieser Grundlage wurde vor einigen Jahren eine Geschichte der kursächsischen Staatsfinanzen geschrieben, aber der schier unerschöpfliche Reichtum der Rechnungsquellen für andere Themen wie die Frömmigkeitsgeschichte konnte dadurch natürlich überhaupt nicht ausgeschöpft werden. 72 Katharina, Tochter des Herzogs Heinrich von Braunschweig-Lüneburg, war seit 1402 mit Markgraf Friedrich IV. von Meißen verheiratet, der seit 1423 erster 69 Die Stadtbücher Dresdens (1404-1534) und Altendresdens (1412-1528). Kritische Ausgabe und Edition, hg. von Thomas Kübler/ Jörg Oberste, 1: Die drei ältesten Stadtbücher Dresdens (1404-1476), bearb. von Jens Klingner/ Robert Mund (2007), 2: Das vierte und fünfte Stadtbuch Dresdens (1477-1505), bearb. von Dies. (2008); 3: Das sechste und siebente Stadtbuch Dresdens (1505-1535), bearb. von Dies. (2011); 4: Die Stadtbücher Altendresdens (1412-1528), bearb. von Dies. (2009); Registerband: Die spätmittelalterlichen Stadtbücher Dresdens und Altendresdens, bearb. von Dies. (2013). 70 Mit Ausnahme des Briefes Herzog Wilhelms III. von Thüringen 1482, siehe unten bei Anm. 82. 71 Zu den Rechnungen als Quellen Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.-239-254; Thomas Lang, 1 gulden 3 groschen aufs Heyltum geopfert. Fürstliche Rechnungen als Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Enno Bünz/ Hartmut Kühne (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 50, 2015) S.-81-148. 72 Uwe Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (1456-1656). Strukturen - Verfassung - Funktionseliten (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 28, 2006). 84 Enno Bünz und Hartmut Kühne wettinischer Kurfürst von Sachsen war. 73 Die Markgräfin (gest. 1442), die „eine fromme Frau“ war 74 , hat mehrfach Wallfahrten unternommen, nach Wilsnack nachweislich im Frühjahr 1421. 75 Das Rechnungsbuch des Amtes Colditz an der Mulde verbucht am Pfingstsonntag (11.-Mai 1421) die Ausgabe von 1 Groschen pro domina, alzo [sy] czum heyligen blute fur. Sie hat sich dann noch einige Tage auf Schloss Colditz aufgehalten, denn am 14.-Mai vermerkt die Amtsrechnung, dass Katharina nach dem Frühstück nach Wilsnack aufgebrochen sei (facto prandio recessit domina in Welßnag). Damit tritt sie gewissermaßen aus dem Licht der Überlieferung, aber zehn Tage später können wir Katharina wieder nachweisen, denn am 24.-Mai 1421 heißt es in der Amtsrechnung von Grimma, am Samstag nach Fronleichnam sei die „Herrin“ aus Wilsnack zum Abendessen eingetroffen, dass sie gewiss auf dem Schloss in Grimma einnahm (venit domina de Welßnag ad cenam). Schließlich trifft sie am nächsten Tag wieder in Colditz ein. Die dortige Amtsrechnung vermerkt am 25. Mai: venit domina in Coldicz, alzo sy vom heyligen blute quam. 76 Man möchte annehmen, Katharina hätte Wilsnack am Fronleichnamsfest aufgesucht, das 1421 am 22. Mai begangen wurde. Das würde allerdings bedeuten, dass Katharina die rund 250 Kilometer Rückweg von Wilsnack nach Grimma in nur zwei Tagen (oder, falls sie an Fronleichnam schon mittags aufbrach, in zweieinhalb Tagen) zurückgelegt hätte, und das wäre wohl nur möglich gewesen, wenn sie unterwegs mehrfach die Pferde wechseln konnte, was aufgrund der wettinischen Ämterorganisation zumindest auf einem Teil der Reise möglich war. Wenn es im zitierten ersten Rechnungsbucheintrag heißt, dass die Fürstin czum heyligen blute fur, bedeutet das nicht zwingend, dass sie die Strecke in einer Kutsche zurücklegte, was für Herrscherinnen im späten Mittelalter tatsächlich belegt ist; aber das Verb varen kann im Mittelhochdeutschen alle möglichen Arten der Fortbewegung bezeichnen. 77 Aus der Ehe Kurfürst Friedrichs IV. des Streitbaren und Katharinas von Braunschweig-Lüneburg sind acht Kinder hervorgegangen, von denen zumindest ein 73 Otto Posse, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin Ernestinischer und Albertinischer Linie mit Einschluß der regierenden Häuser von Großbritannien, Belgien, Portugal und Bulgarien. Mit Berichtigungen und Ergänzungen der Stammtafeln bis 1993 (1994, erweiterter Nachdruck der Ausgabe 1897), Tafel 6 Nr. 1. - Zum Folgenden Hubert Ermisch, Kurfürstin Katharina und ihre Hofhaltung, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 45 (1924) S.-47-79. 74 Ermisch, Kurfürstin Katharina (wie Anm. 73) S.-61. 75 Kurz erwähnt von Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung: Der wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 101, 1989) S.- 481; Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.-32-f. 76 Alle Zitate nachgewiesen bei Ermisch, Kurfürstin Katharina (wie Anm. 73) S.-61 Anm. 3; dort auch der Nachweis für die Wallfahrt nach Ebersdorf 1420 (heute Chemnitz-Ebersdorf). 77 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (36. Aufl. 1981) S.- 264 s. v. varn. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 85 Sohn ebenfalls nach Wilsnack gepilgert ist. Sigismund, 1416 in Grimma geboren, trat 1437 in den geistlichen Stand und wurde 1440 Bischof von Würzburg. 78 Am 10.-Januar zum Bischof gewählt, zog er kurz danach in die Bischofsstadt ein, geriet aber sogleich in den Gegensatz von Sachsen und Brandenburg, so dass er erst im Oktober 1440 in Ansbach, also im markgräflich brandenburgischen Herrschaftsbereich, zum Bischof geweiht wurde. Es mag mit den Schwierigkeiten seines Amtsantritts in Würzburg zusammenhängen, dass sich Sigismund als Elekt entschloss, nach Wilsnack zu pilgern. Die einzige Nachricht darüber findet sich in den Altenburger Stadtrechnungen, wo es Mittwoch nach Jubilate (20. April 1440) heißt: Item 18 Groschen und 14 Heller vor eyn stobichen weltschen wyn vnd eyn stobichen frangkenbir geschankt vnßem gnedigin herrn dem Sigismunde als her zcu deme heyligin blute zyhin wolde. 79 Würzburger Quellen scheint es über diese Pilgerreise nicht zu geben, doch ist Sigismund im ersten Jahr seines Bischofsamtes ohnehin nicht weiter hervorgetreten. Der Altenburger Rechnungseintrag belegt die gängige Praxis von Stadträten, hohe Gäste bei der Durchreise zu bewirten, hier mit einigen Stübchen italienischen Weins und fränkischen Biers. 80 Vermutlich wäre es möglich, Sigismund von Würzburg auf dem langen Weg vom Untermain nach Wilsnack (immerhin eine Strecke von rund 600 Kilometern) noch in den Rechnungen anderer Städte, die am Reiseweg lagen, aufzuspüren, aber letztlich würden auch weitere Belege unser Wissen von der Pilgerfahrt Sigismunds nicht wirklich erweitern. Ein Bruder Sigismunds war Herzog Wilhelm III., der Tapfere genannt, 1425 geboren, der nach der Teilung der wettinischen Lande 1445 die Landgrafschaft Thüringen, die Besitzungen in Franken und Teile des Osterlandes erhielt. 81 Herzog Wilhelm war im Juli 1482 krank. Am 15. Juli schrieb er seiner Tochter Margaretha (1449-1501), Gemahlin des Kurfürsten Johann Cicero von Brandenburg, er hoffe auf Besserung der Krankheit, damit er seine betefard nach Welsnach leis- 78 Posse, Wettiner (wie Anm. 73) Tafel 6, Nr. 4. - Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg 2: Die Bischofsreihe von 1254 bis 1455 (Germania Sacra, Neue Folge 4,2, 1969) S.-164-173. 79 Stadtarchiv Altenburg, Stadtrechnung Nr. 2, 1439/ 40, Bl.-59r die ut supra, also Mittwoch post Jubilate = 20. April 1440. - 20 Groschen entsprachen 1 rhein. Gulden, vgl. Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 72) S.-49-f. 80 Siehe exemplarisch Doreen von Oertzen Becker, Die Geschenkpraxis des Leipziger Stadtrates im ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 82 (2011) S.- 225-242; Dies., „Für geschencke und furerung“. Geschenke und Beschenkte des Leipziger Stadtrats an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens, hg. von Detlef Döring (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 7, 2014) S.-257-276. 81 Posse, Wettiner (wie Anm. 73) Tafel 6, Nr. 8. - Über ihn vor allem Manfred Schulze, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation, NF 2, 1991). 86 Enno Bünz und Hartmut Kühne ten könne. 82 Schon Brigitte Streich hat vermutet, dass er sich vielleicht „davon Heilung von einer Krankheit versprach.“ 83 Falls er es tatsächlich noch schaffte, nach Wilsnack zu pilgern, hat es ihm nicht geholfen. Als Herzog Wilhelm am 17. September 1482 in Weimar starb, hatte dies für die Geschichte der wettinischen Lande in Mitteldeutschland erhebliche Konsequenzen, weil nach fast 40 Jahren die Landgrafschaft Thüringen wieder an die Hauptlinie der Wettiner fiel. Völlig unbekannt war bislang, dass die Gemahlin des Kurfürsten Friedrich II., des Sanftmütigen, die Habsburgerin Margaretha, 1456 nach Wilsnack gereist ist. 84 Die folgenden Nachrichten finden sich in den Rechnungen des Amtes Wittenberg. Demnach wurden im Juni 1456 11 Schock und 20 Groschen myner gnedigen frawen geben als ir gnaden zcum heiligen blute czog, also nach Wilsnack. Die Summe entsprach 34 Gulden. Vom 19. bis 21.- Juni fielen dann erhebliche Kosten in Wittenberg an, als der Kurfürst und seine Gemahlin mit 103 Pferden zum Morgenmahl kamen und dort bis Montag früh blieben. Wie es scheint, sind sie dann aber nicht gemeinsam nach Wilsnack geritten, sondern nur die Kurfürstin. Am 29.-Juni 1456 verzeichnen die Wittenberger Amtsrechnungen nämlich, dass meine gnädige Frau mit 52 Pferden wieder vom heiligen blut [also Wilsnack] zum Abendessen nach Wittenberg gekommen ist, während eine Rückkehr ihres Gatten mit Gefolge nicht vermerkt wird. 85 Offenbar war Margaretha von Österreich also 1456 zwar mit großem Gefolge, aber ohne den Kurfürsten in Wilsnack. 82 Deutsche Privatbriefe des Mittelalters 1: Fürsten und Magnaten, Edle und Ritter, hg. von Georg Steinhausen (Denkmäler der deutschen Kulturgeschichte, Abt. I,1, 1899) S.-246, Anm. 1. 83 Streich, Reiseherrschaft (wie Anm. 75) S.- 481; Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.-33. 84 Übrigens hat der Habsburger Wilhelm von Östereich 1396 u. a. ein goldenes Kreuz nach Wilsnack gesandt, vgl. Jan Hrdina/ Hartmut Kühne, Wilsnack - Prag - Magdeburg: Neue Perspektiven auf die ersten Jahrzehnte einer europäischen Wallfahrt, in: Der Havelberger Dombau und seine Ausstrahlung, hg. von Leonhard Helten (2012) S.- 23-48, Edition der beiden Urkunden S.-36-38. 85 Amtsrechnung Wittenberg 1456/ 57; Bb 2723, fol.- 20v: Item 11 ß 20 gr myner gnedigen frawen geben als ir gnaden zcum heiligen blute czog das warn 29 gulden on gold und 1 ß 40 gr on pfennigen per 50 d. - [19. Jun.-21. Jun. 1456] Sonnabend nach Viti et Modesti sind mein gnädiger Herr und meine gnädige Frau mit 103 Pferden zum Morgenmahl nach Wittenberg gekommen und zogen Montag früh wieder ab. Am Sonnabend wurden u. a. 100 Stockfische aus dem Vorrat verbraucht, frische Fische, Hechte, Butter und Gemüse gespeist [ebenda fol.- 59r]. Sonntag wurden 97 Pferde mit 30 Scheffeln Hafer versorgt, es wurden Kalbfleisch, Eier, Krebse und Gemüse hinzu gekauft, Schöpse, Kälber, Essefleisch etc. aus dem Vorrat verbraucht [ebenda fol.- 59v]. Es wurden u. a. Boten nach Rochlitz geschickt, Papier und Pergament eingekauft, die Räte im Trankgeld versehen [ebenda fol.-59v-60r]. Summe des Besuchs: 4 ß 7 gr 7 d. [ebenda fol.-21r, 59r-60r]. - [29. Jun. 1456-30. Jun. 1456] Dienstag Petri und Pauli ist meine gnädige Frau mit 52 Pferden wieder vom heiligen blut [Wilsnack? ] auf das Abendessen nach Wittenberg gekommen und Mittwoch nach dem Essen wieder weg gezogen. In der Auslosung erscheinen neben Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 87 Die Ämterrechnungen, wie sie hier nun mehrfach herangezogen wurden, bieten stets nur eine Momentaufnahme, sobald der Fürst oder die Fürstin auf dem Weg nach oder von Wilsnack Kosten verursachen. Die eigentlichen Kosten einer Pilgerfahrt erfahren wir aber nur, wenn darüber gesondert abgerechnet wurde. Über die Wallfahrt nach Wilsnack, die Kurfürst Ernst von Sachsen im Mai 1484 zusammen mit seinen Söhnen Friedrich (dem späteren Kurfürsten) und Ernst, dem Erzbischof von Magdeburg, unternommen hat 86 , gibt die Jahresrechnung Hans Gunterrodes von 1483/ 84 Auskunft. 87 Wie der Rechnungsführer vermerkt, hat er am Sonntag Vocem iocunditatis, also am 23. Mai 1484, in Leipzig mit dem Türknecht des Kurfürsten (N. N. Karlowitz) die Ausgaben der Wilsnack-Fahrt abgerechnet: Suntagk Urbany ader vocem jocunditat(is) hab ich mit Karlewitz vonn wegen meins gnedigen hernn hertzogenn Ernsts gerechent, was sein gnade auff der reiße gein der Welßnagk verthan hat, das ich ym dem wider gegeben habe etc. Die Gesamtausgaben aller Zcerung meins gnedign hernn gein der Welßnagk beliefen sich auf 22 Schock 27 Groschen 4 Pfennig und 1 Heller (also über 67 Gulden), doch waren noch weitere Kosten angefallen, heißt es doch im Anschluss: und di amptleute Wittenberg, Delitsch und ander haben meinem g(nedigen) hern alle außrichtung gethann. Dass der Landesherr auf dem Weg von und nach Wilsnack, solange er sich in seinem eigenen Territorium bewegte, in den Ämtern verköstigt wurde, die er durchreiste, war alles andere als ungewöhnlich, wie schon gezeigt wurde. Die Abrechnung bietet für die zahlreichen Einzelposten, die während der Pilgerreise verausgabt wurden, keine Tagesdaten, und die Einträge stehen auch nicht in chronologischer Reihenfolge, so dass es nicht ganz einfach ist, den Verlauf der Hin- und Rückreise zu rekonstruieren. Die Hinreise führte aber wohl über Delitzsch durch das Erzstift Magdeburg (Calbe und Burg bei Magdeburg werden genannt) nach Wilsnack. Wie schon gesagt, nahm Erzbischof Ernst von Magdeburg, der Sohn des sächsischen Kurfürsten, an der Pilgerreise teil. 88 Der Rückweg führte dann von Wilsnack über Sandau a. d. Elbe (4 km s. Havelberg), Rathenow an der Havel, Plaue (10 km w. Brandenburg) nach Torgau an „Russen“ [Reußen? ], Jane von Schleintz & Schönfeld. Es wurden schuw myns herrn jüngen gekauft, Boten nach Rochlitz und Ziegenberg entsandt. Summe des Besuchs: 2 ß 9 gr. [ebenda fol.-21r, 60v-61r]. - Herrn Thomas Lang M. A., wiss. Mitarbeiter an der Leucorea (Lutherstadt Wittenberg), danken wir dafür, dass er uns die im Folgenden ausgewerteten Quellennachweise zur Verfügung gestellt hat. 86 Posse, Wettiner (wie Anm. 73) Tafel 7, Nr. 1, 3 u. 4. 87 Zu dieser Pilgerfahrt knapp Streich, Reiseherrschaft (wie Anm. 75) S.- 480 f.; Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.-33; zur Kammer unter der Leitung Gunterrodes Schirmer, Kursächsische Staatsfinanzen (wie Anm. 72) S.-70-74. 88 Über ihn siehe die Beiträge in: Kontinuität und Zäsur. Ernst von Wettin und Albrecht von Brandenburg, hg. von Andreas Tacke (Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt 1, 2005). 88 Enno Bünz und Hartmut Kühne der Elbe, einer kursächsischen Residenzstadt. Die Rechnung verbucht nicht nur Herbergskosten, sondern verrät auch einiges über den Reiseverlauf: Bei Plaue musste die Elbe mit einer Fähre gequert werden (Item 4 gr uber das waßer zu schiffenn do wir gein Plawn riten). In Rathenow hatten sich die Schüler aufgestellt, um den Kurfürsten wohl mit Gesang zu begrüßen (Item 5 gr den schulernn zu Rotenaw), was verbreitete Praxis war. 89 Die größten Ausgaben verursachte der Aufenthalt in Wilsnack, denn dort wurden drei Herbergen für den Kurfürsten selbst (meins gnedignn hern herberg), Herzog Friedrich (inn meins gnedign hern herberg herczog Friderichs) und für die Schützen (in der schutznn herberg) in Anspruch genommen. Weitere Rechnungsposten belegen, dass Kurfürst Ernst auch mehrere Falkner und den Hofnarren Claus mit sich führte. Ein weiterer Eintrag vermerkt, dass der Kurfürst in Eilenburg an der Mulde mit 74 Pferden abstieg und 20 Gulden verzehrte. 90 Dieser Eintrag verdeutlicht die Dimensionen dieser Pilgerreise, die vom Fürsten mit großem Gefolge durchgeführt wurde. Als Kurfürst ist Friedrich der Weise 1490 nochmals nach Wilsnack gepilgert, und er hat auf dem Weg dorthin weitere Wallfahrtsorte aufgesucht. 91 Die Eintragungen im Rechnungsbuch verzeichnen die Ausgaben in der Woche nach dem Sonntag Trinitatis. 92 Ausgangspunkt der Pilgerreise war offenbar Torgau an der Elbe, denn als erste Station wird das nordwestlich von Torgau gelegene Vogelgesang (bei Elsnig, 7 km nordwestlich von Torgau) erwähnt, wo der Kurfürst 1 Gulden in den Opferstock der Marienkirche einlegte. 93 Der Weg führte weiter die Elbe entlang über Wittenberg nach Magdeburg und Tangermünde (Angermund), 89 Einige Hinweise bei Enno Bünz, Die mitteldeutsche Bildungslandschaft am Ausgang des Mittelalters, in: Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Interaktion von lutherischhumanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung, hg. von Jonas Flöter/ Günther Wartenberg (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 9, 2004) S.- 39-71, hier S.-58-f. 90 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Bb 4134, fol. 156v; zu Weiterem siehe die Transkription unten in Anhang 1. - Streich, Reiseherrschaft (wie Anm. 55) S.-481-f. hat diese Rechnung auch benutzt, nennt aber eine falsche Blattangabe. 91 Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463-1525 (1984) S.-351 erwähnt die Pilgerreise nur kursorisch, ebenso Bernd Stephan, „Ein itzlichs Werck lobt seinen Meister“. Friedrich der Weise, Bildung und Künste (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 24, 2014) S.-185-f. mit Anm. 735, ausführlicher Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.-247-f. 92 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Bb. 4142, fol. 37r-v, hier zitiert nach Georg Buchwald, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit am Kursächsischen Hofe kurz vor der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 27 (1930) S.-62-110, hier S.-66-f. - Einige ergänzende Rechnungsauszüge siehe unten Anhang 2. 93 Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.- 247 (hier irrig Vogelsang), mit Hinweis auf Karl Pallas, Aus der Frühzeit der Reformation in Kursachsen, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt 24 (1928) S.- 71- 103, hier S.-73. Es handelt sich wohl um eine regionale Wallfahrt. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 89 und an diesen beiden Orten wurde dem Kurfürsten auch das dort verwahrte Heiltum gewiesen. Auf der linken Elbseite dürfte es dann weiter nach Werben gegangen sein, denn die Rechnung verbucht dort die Ausgabe von 1 Gulden für die Fährleute. 94 Friedrich der Weise machte einen Umweg über die Stadt Brandenburg, wo er in der Marienkirche auf dem Harlungerberg 2 Gulden opferte 95 , und begab sich von dort nach Wilsnack. Offenbar war dem Kurfürsten zwischenzeitlich das Taschengeld ausgegangen, denn die Rechnung verbucht: iij gulden hat Graf baltzar von Swartzperg meym g h h fridrich geligen uf dem wege als sein gnaden zum heiligen bludt zoch. 96 Die tatsächlichen Kosten der Pilgerfahrt wurden aber in diesem Rechnungsbuch an anderer Stelle verbucht: 35 sch(ock) 25 gr. 4 den. hat m. gn. h. herzog Friedrich verzert, als s. g. zum heiligen pludt ist gewesen. 97 Das waren bescheidene Kosten, nicht nur im Vergleich zur Pilgerreise, die Friedrich der Weise 1493 ins Heilige Land unternahm und die 16.645 Gulden kostete. 98 Johann der Beständige, der 1468 geborene jüngere Bruder Friedrichs des Weisen und seit 1525 sein Nachfolger als Kurfürst (gest. 1532) 99 , hat 1504 ebenfalls Wilsnack aufgesucht. 100 Der Eintrag im Rechnungsbuch ist ebenso knapp wie aufschlussreich: 190 Gulden 15 Groschen und 1 Pfennig hat m g her hans mit lxxi pferden auf dem wege zcum heylichen bluet verzcert, ist Dinstag nach Reminiscere 94 Pilger, die von Süden kamen, überquerten oft die Elbe bei Werben, um nach Wilsnack zu kommen, siehe Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.-262; Hartmut Kühne, Werben/ Elbe - Von Barbieren, Fährleuten, Ordensrittern und dem Haupt Johannes des Täufers, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 52) S.-80-100. 95 In dieser Kirche, seit 1435 Sitz eines Prämonstratenserstifts, war ein Marienbild Ziel von Wallfahrern, siehe Gregor Seebach/ Christian Gahlbeck/ Joachim Müller, Prämonstratenserstift St. Marien auf dem Harlungerberg, in: Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bände, hg. von Heinz-Dieter Heimann/ Klaus Neitmann/ Winfried Schich (Brandenburgische Historische Studien 14, 2007) S.-307-328, hier S.-308, 310 und 318. 96 Buchwald, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 92) S.-67. 97 Zitiert von Paul Kirn, Friedrich der Weise und die Kirche. Seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517. Dargestellt nach den Akten im Thüringischen Staatsarchiv zu Weimar (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 30, 1926) S.-166, Anm. 7, der aber unsicher ist, ob die Reise 1490 oder 1491 stattfand. Dieser Rechnungseintrag fehlt bei Buchwald, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 92). 98 Martin Sladeczek, Rechnungsbuch Friedrichs des Weisen über die Reise ins Heilige Land, in: Alltag und Frömmigkeit (wie Anm. 4) S.-173-f., mit weiteren Hinweisen. 99 Posse, Wettiner (wie Anm. 73) Tafel 7, Nr. 6. - Doreen von Oertzen Becker, Kurfürst Johann der Beständige und die Reformation (1513-1532). Kirchenpolitik zwischen Friedrich dem Weisen und Johann Friedrich dem Großmütigen (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 7, 2017) erwähnt S.- 25, Anm. 85 die Wilsnack- Fahrt kurz. 100 Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.- 33; Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.- 248- f.; Lang, 1 gulden 3 groschen (wie Anm. 71) S.- 81-148, hier S.- 102 mit Anm.-107. 90 Enno Bünz und Hartmut Kühne [5. März] zcu Wittenberg auß geritten und auf dinstag nach Judica [26. März] wider gen Wittenberg kumen“. 101 Die Reisedauer ist auch angesichts der Entfernung von ungefähr 200 Kilometern mit drei Wochen ungewöhnlich lang, weshalb anzunehmen ist, dass Herzog Johann außer Wilsnack auch noch andere Orte besuchte. Das dürfte die weitere Auswertung der kursächsischen Rechnungsbücher erweisen, denn unsere Ausführungen basieren nur auf den Auszügen, die Georg Buchwald zur Frömmigkeitsgeschichte mitgeteilt hat. Viele Besucher der Wilsnacker Wallfahrt haben nicht nur Geldspenden und andere Opfergaben wie gewaltige Wachskerzen dargebracht, sondern auch Stiftungen in der Wallfahrtskirche vorgenommen. Während die mittelalterliche Ausstattung weitgehend verloren gegangen ist, haben sich noch große Teile der Chorfenster des 15.-Jahrhunderts erhalten, die auf verschiedene Stifter zurückgehen. 102 Fürstliche, adlige und bürgerliche Stifter stehen hier gewissermaßen nebeneinander und verdeutlichen noch einmal, dass es wenig hilfreich ist, zwischen einer fürstlichen oder Elitenfrömmigkeit auf der einen und einer breit angelegten Volksfrömmigkeit auf der anderen Seite zu unterscheiden. Auf Fensterstiftungen der Wettiner verweisen - erst 1889 seit im Chorfenster I angebracht, was für die historische Einordnung von Belang ist - die Wappendarstellungen der Landgrafschaft Thüringen, des Herzogtums Sachsen und der Mark Meißen (Abbildung 4), also der drei ranghöchsten Reichslehen, welche die Wettiner im Mittelalter innehatten. 103 Weitere Wappen zeigen die Pfalzgrafschaft Sachsen und die sächsische Kurwürde. Auf die Wettiner verweisen zudem die Wappen der Grafschaft Brehna und womöglich auch des Herzogtums Jülich-Berg. 104 Die jüngste wissenschaftliche Bearbeitung der Wilsnacker Glasfenster im Rahmen des Akademie-Vorhabens „Corpus Vitrearum Medii Aevi“ weist diese Fenster der nicht lokalisierten Altmark-Werkstatt zu und datiert sie auf 1460/ 70. 105 101 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Bb 4185, fol. 26v, hier zitiert nach Buchwald, Zur mittelalterlichen Frömmigkeit (wie Anm. 92) S.- 69. Nur kurz erwähnt von Stephan, „Ein itzlichs werck“ (wie Anm. 91) S.- 186, Anm. 735, der mutmaßt, ob auch Friedrich der Weise mit von der Partie war. 102 Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg. Von Ute Bednarz/ Eva Fitz/ Frank Martin/ Markus Leo Mock/ Götz J. Pfeiffer/ Martina Voigt (mit einer kunsthistorischen Einleitung von Peter Knüvener), Band 1: Katalog, Band 2: Anhang, Regesten, Abbildungen (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland 22, 2010), hier 1, S.-87-165 über die Nikolaikirche in Wilsnack und 2, S.-15-43 (Regesten) und Abb. 7-9. 103 Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg 1 (wie Anm. 102) S.-139 f. Kat.-Nr. 6. - Die wettinischen Fenster schon erwähnt von Kühne, Unterwegs nach Wilsnack (wie Anm. 52) S.-34. 104 Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg 1 (wie Anm. 102) S.-140 f. Kat.-Nr. 7. 105 Ebenda 1, S.-115 ff. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 91 Abbildung 4: Wilsnack, St. Nikolaus, Wettinische Fenster 92 Enno Bünz und Hartmut Kühne Damit besteht aber das Problem, dass die Darstellung des Wappens von Jülich-Berg im Zusammenhang mit einer wettinischen Stiftung um 1460/ 70 ganz ausgeschlossen ist. Erst 1483 hat Kaiser Friedrich III. dem Herzog Albrecht von Sachsen die Anwartschaft auf das Herzogtum Jülich-Berg verliehen. 106 Vor wenigen Jahren hat nun Helmut Naumann in einem Aufsatz der Zeitschrift „Herold“ vorgeschlagen, den im Chorfenster I in Gebetshaltung dargestellten Kurfürsten als Kurfürst Ernst von Sachsen anzusprechen. 107 Naumann geht sogar so weit, den Sohn des Kurfürsten, Erzbischof Ernst von Magdeburg, als Auftraggeber der Fenster zu betrachten, da mehrere dieser Wappendarstellungen, darunter auch die des Herzogtums Berg, auf dem Grabmal des Kirchenfürsten im Magdeburger Dom wiederkehren. 108 Das aber reicht gewiss nicht aus, um einen plausiblen Zusammenhang zwischen Ernst von Magdeburg und Wilsnack herzustellen. 109 Es gibt also keine zwingenden Argumente, den kurfürstlichen Stifter im Chorfenster als Ernst von Sachsen anzusprechen. Vielmehr ist weiterhin davon auszugehen, dass es sich bei der Stifterfigur um Kurfürst Friedrich-II. von Brandenburg handelt (1437-1470). 110 Dass auch dessen Sohn und Nachfolger Kurfürst Albrecht Achilles von Brandenburg (1470-1486) testamentarisch 100-Gulden für die Anfertigung eines Fensters in der Wilsnacker Kirche legiert hat, sei abschließend angemerkt. 111 Auf die Rolle der Brandenburger Kurfürsten für Wilsnack wurde bereits in einem anderen Beitrag des vorliegenden Bandes eingegangen. 112 Allerding ist damit weiterhin offen, welcher wettinische Fürst das mit den entsprechenden Wappen versehene Fenster für die Wilsnacker Kirche gestiftet 106 RI XIII, H. 11 n. 536, in: Regesta Imperii Online, URL: http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 1483-06-26_1_0_13_11_0_536_536 (Stand 14.04.2019); André Thieme, Herzog Albrecht der Beherzte im Dienste des Reiches. Zu fürstlichen Karrieremustern im 15. Jahrhundert, in: Herzog Albrecht der Beherzte (1443-1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa, hg. von André Thieme (Quellen und Materialien zur Geschichte der Wettiner 2, 2002) S.-73-101, hier S.-93. - Da das erwähnte Glasfenster auch das Wappen des Herzogtums Kleve zeigt, siehe: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg 1 (wie Anm. 102) S.-140, kann dieses auch deshalb nicht auf die Wettiner verweisen, weil sie damals noch nicht die Anwartschaft auf Kleve hatten. 107 Helmut Naumann, Wettiner-Wappen in der Prignitz. Datierung der Wilsnacker Glasmalereien und Identifizierung ihrer Stifter, in: Der Herold 50 = NF 17 (2007) S.-193-209, bes. S.-199-205. 108 Ebenda S.-199. 109 Zum Magdeburger Grabmal ausführlich Markus Leo Mock, Kunst unter Erzbischof Ernst von Magdeburg (2007) S.-93-164. 110 Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg (wie Anm. 102) 1, S.-130 und S.-141 Kat.-Nr. 8. 111 Ebenda 1, S.-130. 112 Hartmut Kühne im vorliegenden Band S.-135-165. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 93 hat. Die drei wettinischen Wappen waren ursprünglich Teil eines Fensters auf der Chorsüdseite und wurden erst 1889 an die heutige Stelle in Chorfenster I versetzt. Dazu gehörte auch, wie eine Beschreibung aus dem 18. Jahrhundert belegt, eine heute verlorene Darstellung eines sächsischen Kurfürsten als Stifter. 113 Wegen der kunsthistorischen Datierung des Fensters in das Jahrzehnt 1460/ 70 könnte man an den 1468 verstorbenen Friedrich II. denken. Auch wenn für ihn bisher kein Besuch in Wilsnack belegt ist, hat er sich im Fall des Leipziger Universitätslehrers Dr. Johannes Kone für Wilsnack engagiert 114 ; seine Ehefrau Margaretha besuchte Wilsnack und er trat als wichtigster Förderer der eucharistischen Wallfahrtskapelle Heiligenleichnam bei Altenburg auf. Ausblick Betrachtet man die Quellenbelege insgesamt, muss man feststellen, dass sie eigentlich nichts über die Wettiner und Wilsnack aussagen, sondern nur über die Wettiner auf dem Weg nach oder auf dem Rückweg von Wilsnack. Wie sich der fürstliche Besuch des Gnadenortes genau abgespielt hat, wie sich Gottesdienst und Andacht der Fürsten mit ihrem großen Gefolge in der Wallfahrtskirche gestalteten, mit welchen frommen Motiven die Wettiner beteten und Opfer darbrachten, das alles erfahren wir nicht. Immerhin verdeutlichen aber die noch erhaltenen wettinischen Wappendarstellungen in den Chorfenstern, dass sich die Wettiner mit der Wilsnack-Wallfahrt verbunden fühlten und Stiftungen für die Kirche vornahmen, über deren Dimensionen und Intentionen wir bislang freilich nichts wissen. Vielleicht wird die weitere Auswertung der wettinischen Rechnungsserien des 15.- Jahrhunderts auch Quellenbelege für den Zeitpunkt und die Kosten dieser Fensterstiftungen liefern können. Das Bild von den zahlreichen Wettinern auf dem Weg nach Wilsnack als Verehrer des Heiligen Blutes rundet sich, wenn man andere Frömmigkeitszeugnisse hinzuzieht. Deshalb erschien es uns wichtig, wie im ersten Abschnitt geschehen, Belege für die Verehrung der Eucharistie aus dem Bistum Meißen zusammenzustellen, vor allem solche, die mit den Wettinern zusammenhängen. Die Wettiner suchten nicht nur das Heilige Blut in Wilsnack auf, sondern sie förderten und praktizierten auch die eucharistische Verehrung in ihrem Herrschaftsgebiet. 113 Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg I (wie Anm. 102) S.-139 Kat.-Nr. 6. 114 Siehe oben bei Anm. 60. 94 Enno Bünz und Hartmut Kühne Anhang 1 Die Transkription verdanken wir der Hilfsbereitschaft von Thomas Lang M. A. (Leipzig/ Lutherstadt Wittenberg). Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Bb 4134, fol. 156r-v Leiptzk Suntagk Urbany ader vocem jocunditat(is) hab ich mit Karlewitz vonn wegen meins gnedigen hernn hertzogenn Ernsts gerechent, was sein gnade auff der reiße gein der Welßnagk verthan hat, das ich ym dem wider gegeben habe etc. Item 42 gr trangelt zu der Welßnagk“ [= Wilsnack] Idem 1 gr vor ein sagk zu fischenn mit gein Sand zufurn“ [Sandau a.d. Elbe, 4 km südl. Havelberg] Idem 22 gr trangelt zu Sand in der herberg Idem 3 gr trangelt do dj schutzn pf. gestanden habenn Idem 5 gr den schulernn zu Rotenaw [Rathenow an der Havel] Idem 2 gr dem schlechter Idem 1 guld. trangelt meins gnedign hern von Meidburgs koch Idem 42 gr trangelt inn der herberg zu Ratenaw Idem 11 gr inn meins gnedign hern herczog Fridrichs herberg Idem 5 gr in der herberg dj Meidburgen jungen innen geßen habn Idem 10 gr 4 d 1 h dem gesind in der selben herberg Idem 4 gr inn der herberg do meins gnedign hern gesind ynne gessen hat Idem 4 gr uber das waßer zu schiffenn do wir gein Plawn riten [Plaue, 10-km westl. Brandenburg] Idem 5 guldenn dem schreiber zu Plawn dj dey außrichtung gethan hat Idem 5 guld. trangelt zu Plawenn Idem 2 gr trangelt [in die Herberge] do dj schutznpf. gestanden habenn Idem 4 gr den schulern zu Torgaw Idem 11 gr botenlon zu margrave Hanßnn Item 6 gr zu Delitsch unnd Kalb trangelt, do dj schutznnpf. gestandenn habenn [Delitzsch und Calbe] Idem 20 guldenn trangelt inn meins gnedigenn hernn hoff zu Sand Idem 2 guldenn den die die fisch brachtenn zur Welßnagk trangelt Idem 1 ½ guld. in meins gnedignn hern herberg trangelt zur Welßnagk Idem 5 gr inn meins gnedign hern herberg herczog Friderichs Idem 5 gr loßung in der schutznn herberg Idem 2 gr hat Cristoff Heck vor mein g. hern ußgebenn Idem 1 guldnn den Felcknern zu zcerung von Kalb bis gein Witenbergk Idem 2 gr Claus Narn zu schuenn Idem 1 guldenn tranngelt in mein gnedigen hern herberg in Purch [Burg bei Magdeburg? ] Idem 4 d 1 h vor laugenn Idem 1 guld trangelt zu Sand Idem 20 guldenn hat mein gnediger her vorczert zu Eylennburgk uff ein nach mit 74 pf. [Eilenburg an der Mulde] Summa: 16 ß 58 gr Summa Summarum aller Zcerung meins gnedign hernn gein der Welßnagk 22 ß 27 gr 4 d 1 h und di amptleute Witenberg, Delitsch und ander haben meinem g. hern alle außrichtung gethann. Anhang 2 Die Transkription verdanken wir wiederum Thomas Lang M. A. (Leipzig/ Lutherstadt Wittenberg). Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. Bb 4142, fol. 37r-v: Item 2 guldin miltitz geben zu zerunge als in meyn gnediger here herzcog Friderich zu Magdeburg ließ mit 2 pferd. Item 1 guldin zu angermund geoppfert als man meym gnedigen ern das heiltum gewest hatt. Item 15 guldin hatt Cuntz von Maltitz meym gnedigen hern herzog friedrich gliechen [geliehen? ]. Item 2 guldin einem Margrefschen Reitenden botten hat mein gnediger hern herczog friedrich vonn angermundt gen Torgaw gegeschickt. [37v: ] Item 1 guldin des Marggraven rwentzer (? ) vnd pucker gebn von wegen meins gnedigen hern hertzog Friederichs. Item 6 gulden des marggraven Stallknecht zu trangeldt von einem fahelen Zwengken (? ) den der marggrave meinem gnedigen hern geschangkt hat. Item 1 gulden des marggraven lofenden boten trangelt uß bevell meins gnedigen hern. Item 1 gulden vor 3 degen zu angermund meym gnedigen hern herzog friderich. Item 1 gulden den ferleuten geben die meyn gnedigen hern in werbin vbir gefurdt haben. Item 2 gulden geopfret zu unser liebe frawen zu Brandenburg von wegen meyns gnedigen hern. Die Wettiner und Wilsnack. Zur praxis pietatis von Fürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert 95 Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa, 1370 bis 1430 Ein Rückblick auf zwei Bücher nach einem guten Jahrzehnt Jan Hrdina* Vor mehr als sechshundert Jahren lebte in Prag ein ehrwürdiger und reicher Bürger namens Petrus von Ach. Als in der Stadt an der Moldau Gerüchte über wundertätige Hostien in einem märkischen Dorf auftauchten, entschied er sich - weil er an einer Lähmung im Arm litt - nach Wilsnack, zu jenem weit von Prag entfernten Wallfahrtsort zu reisen, um persönlich um seine Heilung zu bitten. Er opferte in der Kirche eine silberne Nachbildung des Armes (ex Voto), wartete aber vergeblich auf ein Wunder. Am dritten Tag hörte er die Predigt an und war verblüfft, denn er hörte einen seine Opfergabe zeigenden Priester, der laut ausrief: „Hört Kinder, Seht mal. Ein Prager Bürger, geheilt vom Heiligen Blut an seinem Arm, hat für diese Wundertat diese silberne Nachahmung geopfert.“ Darauf erhob sich besagter Petrus, zeigte seinen gelähmten Arm und schrie: „Du Priester, warum lügst du. Mein Arm ist immer noch gelähmt, wie er früher auch war“. 1 Diese Geschichte über den betrogenen Bürger und den lügnerischen Priester wird in dem Traktat „Über das Blut Christi“ (De sanguine Christi) erzählt, den kein anderer als der berühmte Kirchenreformer Jan Hus verfasste. In dieser Schrift zitierte er die Ergebnisse einer vom Prager Erzbischof 1404/ 1405 angeordneten Untersuchung, die die verdächtigen Wunder in Wilsnack über- * Aus Zeitgründen war es mir leider nicht möglich den Beitrag auszuarbeiten, daher wurde die Vortragsform beibehalten, aber um Anmerkungen ergänzt. Für die Anregungen, wertvolle Ergänzungen und kritische Kommentare möchte ich Hartmut Kühne herzlichst danken. Ihm und Gunhild Roth gilt mein Dank für die sprachliche Korrektur. 1 Kritische Edition und Einleitung von Václav Flajšhans, Spisy M. Jana Husi [Die Schriften des Magisters Johannes Hus] (Sbírka pramen u o českého hnutí náboženského ve XIV. a XV. století, 3: De sanguine Christi), Praha 1903, S.- 32 f. Zum Traktat im Kontext der böhmischen Fernwallfahrten vgl. Jan Hrdina, Wilsnack, Hus und die Luxemburger, in: Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter, hg. von Felix Escher/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 2, 2006) S.-41-63, bes. S.-58. prüfen sollte. 2 Diese in der tschechischen und deutschen Wilsnack-Forschung weit bekannte Episode hat mich vor 10 Jahren erstmals an diesen ehemaligen Wunderort gebracht, um nicht nur über das Auftreten von Jan Hus gegen den Kult blutender Hostien, sondern auch und vor allem über die Luxemburger in Wilsnack einen Vortrag zu halten. Von daher stammt mein Interesse an den eucharistischen Wallfahrtsorten im spätmittelalterlichen Mitteleuropa. Diese Vorliebe verknüpft sich mit meiner persönlichen Obsession, verschiedene historische Erscheinungen im Bereich der spätmittelalterlichen Religiosität zu vergleichen, um die kulturelle Verortung der böhmischen Länder vor der hussitischen Revolution (bis 1420) besser zu verstehen und kulturhistorisch beurteilen zu können. 3 Nach meinen Forschungen zu den Wirkungen der päpstlichen Ablässe in der Ära des Großen Abendländischen Schismas (1378-1415) in einzelnen mitteleuropäischen Ländern, die bereits seit längerer Zeit meine Aufmerksamkeit weckte, versuche ich diesmal einen Vergleich der zahlreichen Fälle eines übernatürlichen Phänomens, d. h. der eucharistischen Wunder und der auf ihnen beruhenden Wallfahrtsorte. Ich werde einen kulturhistorischen Vergleich für die Zeit von ca. 1370 bis ca. 1430 in Mitteleuropa im weiten Sinne des Wortes (von den Niederlanden bis zu den Karpaten) unter Berücksichtigung des Wilsnacker Blutkultes unternehmen. Allerdings möchte ich betonen, dass dieser Überblick nur vorläufig ist und das jetzige Resultat eine Zwischenbilanz darstellt. I. Heiliges Blut Heiliges Blut gehörte ursprünglich zur Gruppe der Christusreliquien. Da Christus körperlich auferstanden und in den Himmel aufgefahren war, konnten von 2 Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-58-60. 3 Jan Hrdina, Päpstliche Ablässe im Reich unter dem Pontifikat Bonifazʼ IX. (1389-1404). Erste quantitative Ergebnisse, in: Wallfahrt und Reformation. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit, hg. von Jan Hrdina/ Hartmut Kühne/ Thomas Th. Müller (Europäische Wallfahrtsstudien 3, 2007) S.-109-130; Jan Hrdina, Papal Indulgences during the Era of the Great Western Schism (1378-1417) and the Cultural Foundation of their Reception in Central Europe, in: Processes of Cultural Exchange in Central Europe, 1200-1800, hg. von Veronika Čapská/ Robert Antonín/ Martin Čapský (2014) S.-345-387. - Zum vergleichenden Vorgehen in der Wallfahrtsforschung forderte Hartmut Kühne heraus, der zugleich einige Probleme dieser Aufgabe wie die dürftige Quellenlage, die unsichere Unterscheidung einer Wallfahrt von den spontan aufbrechenden concurcus, kurzfristige vs. langfristige Attraktion des Kultortes, die unterschiedliche historiographische Bearbeitung des Themas, die durch die konfessionellen Unterschiede bedingt war, betont, vgl. Hartmut Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain. Perspektiven einer nord- und mitteldeutschen Wallfahrtstopographie um 1500, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 25 (2002) S.-45-76, bes. S.-52-54. 98 Jan Hrdina ihm keine Körperreliquien verehrt werden. Allerdings wurden gelegentlich auch physische Überreste Jesu verehrt, die von seinem Leib abgetrennt worden waren wie Milchzähne, Haare und die Vorhaut. Die am weitesten verbreiteten Christusreliquien waren aber Partikel vom Kreuz Christi. Aber auch Tropfen vom Blut Christi konnten im Mittelalter verehrt werden. 4 Heiliges Blut bezeichnet in der m[ittel]a[lterlichen] Frömmigkeitspraxis unterschied[liche] reliquiare Kultojekte, die v. a. im deutschsprachigen mittel- und nordwesteurop[äischen] Raum weitverbreitet waren und sehr oft, zumindest eine zeitlang wallfahrstmäßige Verehrung erfahren haben. Ihre zeitbedingte Erscheinung läßt sich deutlich auf theologiegesch[ichtliche] Hintergründe im allgemeinen und kirchenwie sozialpolit[ische] Motivation im Einzelfall zurückführen. […] Es müssen dabei unterschieden werden: Reliquiares Blut Christi [… und] Eucharistisches Blut Christi. 5 Bis zum 13.- Jahrhundert verehrte man vor allem die angeblich am Kreuz vergossenen und von Longinus an der Lanze oder von Josef von Arimathia in ein Gefäß gesammelten Blutstropfen. Diese Blutreliquien tauchen im Westen zuerst in karolingischer Zeit auf, also noch bevor die Theologen anfingen, über die Eucharistie zu diskutieren. Viele Blutreliquien gelangten nach dem ersten Kreuzzug und besonders nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 in den lateinischen Westen. Ein Zentrum der Hl. Blut-Verehrung bestand in Mantua, wo man das angeblich von Longinus vergrabene Blut Christi in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts aufgefunden haben will. 6 Das noch heute im schwäbischen Weingarten verehrte Heilige Blut soll bereits aus dem 11.-Jahrhundert stammen 7 ; die ebenfalls noch existierende Heilig-Blut-Reliquie in Brügge aus dem 12. Jahrhundert. Auch die historisch mit einander verbundenen Blut-Reliquien in den Klöstern von Cismar, Marienfließ und in Braunschweig (Kloster St. Aegidien) soll Heinrich der Löwe von seiner Heilig-Land-Reise im Jahre 4 Vgl. Maria Starnawska, Die Beziehungen des Königreichs Polen und des Herzogtums Litauen zu Wilsnack und die Christus-Reliquienverehrung im Spätmittelalter, in: Die Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-79-95, hier S.-79-80. 5 W[olfgang] Brückner, Art. Blutwunder (Blut, Heiliges; Bluthostien) I. Frömmigkeitsgeschichte, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983) Sp. 292-293, hier Sp. 292. 6 Vgl. Lukas Weichenrieder, Das Heilige Blut von Mantua, in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten 1094-1994, hg. von Norbert Kruse/ Hans Ulrich Rudolf, 2 Bde. (1994) S.-331-336. 7 Vgl. den Band 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung (wie Anm. 6), darin besonders: Hans Ulrich Rudolf, 1090 oder 1094 - Wann erfolgte die Übergabe der Heilig-Blut-Reliquie? Die Frage nach den richtigen Jubiläumsdaten, ebenda S.-52-56; Norbert Kruse, Der Weg des Heiligen Bluts von Mantua nach Altdorf-Weingarten, ebenda S.-57-76. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 99 1172 mitgebracht haben 8 , während der Schweriner Graf Heinrich-I. das Heilige Blut des Schweriner Domes 1222 auf seinem Kreuzzug erworben haben soll. 9 Der Kult dieser Blutreliquien verband sich übrigens im gesamten Bereich der südlichen Ostseküste von Cismar über Schwerin bis Riga auffallend häufig mit der Jerusalemfahrt Heinrichs des Löwen. Jürgen Petersohn nahm an, diese Prägung gehe tatsächlich auf die Person des Sachsenherzogs zurück: „Der obodritische Sakralraum, insbesondere in seinen Bistümern Schwerin und Lübeck, präsentiert sich am Ausgang des Mittelalters als ein Gebiet intensiver christozentrischer Reliquien- und Wunderkulte. Auch diese […] Frömmigkeitsrichtung geht in ihren Ursprüngen auf Heinrich den Löwen zurück.“ 10 Im Gegensatz zu den Blut-Reliquien tauchten seit dem 13.-Jahrhundert Heilig-Blut-Objekte auf, die als Zeugnisse eucharistischer Verwandlungswunder galten. Dieser neue Typus von Reliquien waren blutende, meist geschändete Hostien oder sie stammten aus Messkelchen, deren Inhalt verschüttet worden war. Die eucharistischen Wunder waren der häufigste Ursprung dieser Blutreliquien aus der Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Wunderbares Blut konnte aber auch aus wunderwirkenden Bildern fließen, etwa wenn diese auf irgendeine Art geschändet wurden. Die eucharistischen Wunder dienten dazu, Zweifelnden die reale Anwesenheit Christi in der konsekrierten Hostie und im Wein zu demonstrieren, so wie es als Glaubenswahrheit endgültig vom IV.- Laterankonzil im Jahre 1215 dogmatisiert worden war. Die Hostie - während des Fronleichnamsfestes, das sich in Mitteleuropa seit dem Beginn des 14.-Jahrhunderts überall durchsetzte, durch die Straßen getragen oder am Altar in der Messfeier erhoben - wurde zugleich zum Symbol einer von Juden, Ungläubigen und Ketzern bedrohten Kirche. Viele Wundergeschichten wollen nicht nur die Zweifelnden von der Doktrin der Realpräsenz überzeugen, sondern sollen auch diejenigen anklagen, 8 Vgl. Detlev Hellfaier, Die Historia de duce Hinrico - Quelle der Heiligblutverehrung in St. Ägidien zu Braunschweig, in: Heinrich der Löwe, hg. von Wolf-Dieter Mohrmann (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 39, 1980) S.- 377-406. Zu Marienfließ vgl. Clemens Bergstedt, Das heilige Blut des Klosters Marienfließ, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin, NF 6 (2000/ 01) S.-7-20. 9 Vgl. G[eorg] C[hristian] F[riedrich] Lisch, Geschichte der Heilig-Bluts-Kapelle im Dome zu Schwerin, in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 13 (1848) S.- 143-187, bes. S.- 151-154; dazu auch Hartmut Kühne, Zur Konjunktur von Heilig-Blut-Wallfahrten im spätmittelalterlichen Mecklenburg, in: Mecklenburgia sacra 12 (2009) S.-76-115, bes. S.-86-92. 10 Jürgen Petersohn, Der südliche Ostseeraum im kirchlich-politischen Kräftespiel des Reichs, Polens und Dänemarks vom 10. bis 13. Jahrhundert. Mission - Kirchenorganisation - Kultpolitik (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 17, 1979) S.-111. 100 Jan Hrdina die die christliche Gemeinschaft und ihre Moral verletzten: Frauen, die mit der Hostie zauberten, Juden, die sie entweihten, Häretiker, die die Realpräsenz Gottes im Sakrament in Frage stellten. Die spätmittelalterlich-zeittypischen Konstellationen, durch die die Hostien zum Bluten gebracht wurden, sind folgende: - der Zweifel an der Transsubstantiation (Bolsena), - der Hostienfrevel, meist durch Juden verursacht und ausgeführt, - der Diebstahl von Hostien, ihre Verbergung und Wiederauffindung in unbeschädigter Form, - die Verletzung liturgischer Vorschriften bei der Messe und die dadurch geschehende Befleckung des Altars oder liturgischer Textilien, etwa im Fall des Korporale von Walldürn in Franken. 11 Antijüdische Elemente sind in den Ursprungserzählungen zahlreicher eucharistischer Kultort- und Wallfahrtsorte enthalten. 12 Die wichtigsten Elemente der Erzählungen über einen Hostienfrevel, die in dieser Form ab dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts in der ganzen westlichen Christenheit auftauchten, sind folgende: - Ein oder mehrere Juden erwerben die Hostie von einem Christen. - Er oder sie unterziehen die Hostie der Folter (durch verschiedene Geräte und Werkzeuge). - Die unverwüstliche Hostie reagiert auf die Folter und beginnt zu bluten. - Er oder sie erschrecken darüber und versuchen, die Hostie zu vernichten oder zu verbergen (Feuer, Boden, Wasser). - Das Verbrechen wird entdeckt, etwa durch den Sohn eines Juden oder eine christliche Frau und der oder die Juden werden verhaftet, verhört, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die jüdische Familie konvertiert häufig und wird getauft. - Schließlich wird am Ort des Hostienfrevels eine Kapelle errichtet, in der die mirakulöse(n) Hostie(n) verehrt wird (werden). Diese Muster waren für einen Komplex von Erzählungen und Legenden prägend, der im mecklenburgisch-brandenburgischen Raum in den drei Jahrzehnten vor dem Beginn der Reformation noch eine eigene Kultlandschaft entstehen 11 Vgl. Wolfgang Brückner, Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn (1958) S.-21-54. 12 Vgl. zum Folgenden: Hartmut Kühne, „Ich ging durch Feuer und Wasser …“. Bemerkungen zur Wilsnacker Heilig Blut-Legende, in: Theologie und Kultur. Geschichten einer Wechselbeziehung. Festschrift zum einhundertfünzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst an der Humboldt-Universität zu Berlin, hg. von Gerlinde Strohmaier-Wiederanders (1999) S.-51-84, bes. S.-69-72. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 101 102 Jan Hrdina ließ, die durch die Wallfahrten nach Sternberg 13 , Brandenburg-Knobloch 14 und Heiligengrabe 15 umrissen wird. II. Warum Blut? „Warum Blut? “ - mit diesen Worten hat die amerikanische Historikerin Caroline Walker Bynum das Schlusskapitel ihres Buches mit dem Titel „Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond“ überschrieben, das im Jahre 2007 erschien. 16 Nur ein Jahr früher wurde durch die deutschen Historiker Felix Escher und Hartmut Kühne der Tagungsband „Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter“ heraugegeben. 17 Beide Bücher nehmen in besonderer Weise dasselbe Phänomen in den Blick - den eucharistischen Wallfahrstort Wilsnack. Warum gerade Wilsnack? Im Jahre 1383 wurde die Pfarrkirche in diesem kleinen brandenburgischen Dorf verbrannt. Der späteren Überlieferung nach fand der Pfarrer in ihrer Ruine drei blutende Hostien, die bald zum Gegenstand der Verehrung wurden. Im Laufe von zwei Jahrzehnten wuchs Wilsnack zu einer eucharistischen Wallfahrtstätte von mitteleuropäischer Bedeutung heran. Die Stellung eines herausragenden Pilgerortes behielt Wilsnack bis zur Reformation. Den endgültigen Untergang des Kultes verursachte die Verbrennung der Hostien im Jahre 1552 durch einen evangelischen Prediger. 18 13 Vgl. Volker Honemann, Die Sternberger Hostienschändung und ihre Quellen, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Boockmann (1994) S.-75-102; Ders., Art. „Sternberger Hostienschändung“, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 9 (1995) Sp.-306-308. 14 Vgl. Fritz Backhaus, Die Hostienschändungsprozesse von Sternberg (1492) und Berlin (1510) und die Ausweisung der Juden aus Mecklenburg und der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 39 (1988) S.-7-26. 15 Vgl. die Beiträge des Sammelbandes Von blutenden Hostien, frommen Pilgern und widerspenstigen Nonnen: Heiligengrabe zwischen Spätmittelalter und Reformation, hg. von Friederike Rupprecht (2005). 16 Caroline Walker Bynum, Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond (2007) S.-249. 17 Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum (wie Anm. 1) 18 Zur Geschichte des Wallfahrtsortes: Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383- 1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-302; Hartmut Boockmann, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15.-Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982) S.- 385-408; Wunder - Wallfahrt- Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne-Katrin Ziesak (2005); Escher/ Kühne, Wilsnackfahrt (wie Anm. 1). - Siehe in diesem Band auch den Beitrag von Toni Aigner sowie den Abdruck der Tocke-Rede. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 103 Im Einklang mit der historiographischen Tradition beider Länder ist auch die Richtung beider eingangs genannten Publikationen unterschiedlich. Im deutschen Titel wird nämlich der weitreichende Einfluss des Wallfahrtsortes durch quellenbasierte Beiträge aus der Feder von einem Dutzend Historikern und Historikerinnen aus verschiedenen mitteleuropäischen Ländern verfolgt. Sie haben sich mit der Ausstrahlung des Wilsnacker Kultes im Hanseraum, in Livland, Polen und im Königreich Böhmen beschäftigt. Auf den breiten kulturhistorischen Kontext, in dem die Wilsnackfahrten zu verorten sind, machten die Herausgeber kurz aufmerksam und forderten zu zukünftiger Forschung auf. 19 Ihrem Wunsch ging unbewusst C. W. Bynum nach. Sie legte ein faszinierendes und provozierendes Buch vor - zugleich ein Buch über die Besessenheit von Blut in der spätmittelalterlichen Christenheit. Die bekannte Historikerin zeigte diese Erscheinung an Beispielen aus Norddeutschland auf, das - ihrer Meinung nach - einen Großraum darstellte, in dem mannigfaltige Formen der Verehrung des Blutes Christi im Gegensatz zu den sonstigen europäischen Ländern und Regionen besonders deutlich auftraten. Zu diesen typischen Erscheinungen zählten: Gebete, Kult- und Wallfahrtsorte, Kunstwerke, theologische Debatten, Berichte über die Visionen und Wunder sowie kirchenpolitische Streitigkeiten über das Wilsnacker Blut. 20 Die Einbettung des Wallfahrtsortes in allen diesen Kontexten spielt in ihrem Werk die Schlüsselrolle. Sie argumentiert, dass die Debatten über das Blut und die Blutfrömmigkeit eigentümliche Ängste des späten 14. und 15. Jahrhunderts widerspiegelten. Das Fundament dieser Debatten bildeten nämlich in ihrer Sicht zwei Grundfragen: das Problem der heiligen Substanz und das Problem eines Zuganges zu Gott. Wie kann Gott im Stoff präsent sein? Wenn Christus auferstanden und mit seinem Leib und Blut zum Himmel aufgestiegen ist, wie kann dann Christus hier auf Erden gefunden werden - jenseits der Eucharistie? 21 C. W. Bynum will den außerordentlichen Erfolg des Wilsnacker Kultes noch mit einer anderen historischen Tatsache in Verbindung bringen. Sie weist darauf hin, dass kultische Blutobjekte (d. h. Reliquienblut und blutende Hostien) gerade in Norddeutschland weitaus markanter und bedeutsamer waren, als es die ältere Forschung wahrgenommen habe. Mit anderen Worten: Warum konnte 19 Escher/ Kühne, Einführung, in: Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-9-19. 20 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-XVII. 21 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-7: „I shall argue in what follows that the blood debates and blood piety summed up peculiarly fifteenth-century anxieties. For behind debates over pilgrimages, relics, eucharist, miracles, and veneration … lay two closely connected issues: the issue of holy matter, and the issue of access to God … How - if matter signifies change and change signifies decay - can God inhere in matter? … How - if Christ has gone away in ressurection and ascension - do Christians find him present here on earth? … These were issues raised not solely in blood piety.“ ausgerechtet ein unbekanntes Dorf in der Prignitz zu einem zentralen Ort des spätmittelalterlichen Blutkultes im Reich und darüber hinaus werden? 22 Und wohl etwas zu Unrecht fügte sie eine Klage über die bisherige Forschung zu Wilsnack an, die sich nicht der Tatsache bewusst war, dass das Phänomen Wilsnack durch eine vorherige Entwicklung erklärt werden kann. 23 Das ist freilich ein kompliziertes Problem, zu welchem die beiden vorgestellten Bücher etwas abweichende Antworten bieten. Die methodischen Überlegungen bei Bynum und bei den Herausgebern des deutschen Tagungsbandes, besonders von Kühne, gehen dabei von den gleichen Prämissen aus: Von der Notwendigkeit der Erforschung der mit der Verehrung des Blutes und Leibes Christi verbundenen Kulte in konkreten historischen Regionen, wie beispielsweise in Brandenburg und Mecklenburg und deren Einbettung in die eucharistische Devotion des (mittel)europäischen Spätmittelalters. Caroline Bynum kam zu einem Schluss, der sich den Ansichten der älteren Generationen der Historiker der Mark Brandenburg nähert: „Der Blutkult in Wilsnack verdankt seine Berühmheit einem Kreis von Blutorten im Havelland ([Klöster der Zisterzienser(innen)] in Mariefließ, Heiligengrabe und Nauen) und in seiner Nachbarschaft (in östlicher Richtung liegt das Kloster Zehdenick, südlich die Pfarrkirche Beelitz). Die Bewohner in der Mark waren es gewohnt das Heilige Blut um Hilfe anzurufen.“ 24 Im Norden der Mark Brandenburg, in Mecklenburg, in Niedersachsen und Pommern wurden Blutreliquien zu den mächtigsten Reliquien überhaupt, im Vergleich zu anderen Überresten von Heiligen. 25 Daraus zog Caroline Bynum eine weitreichende Schlussfolgerung, nämlich dass der Wilsnacker Kult eine Kulmination der „Forderungen“ und des Verlangens nach Blut in Norddeutschland darstellt. 26 Und im gleichem Atemzug fügte sie hinzu: „Der wahre Beweggrund, warum man in Norddeutschland Blutkulte 22 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-50: „In all this, there is nothing that explains why an obscure village in the Prignitz would - or could - emerge as the center of late medieval blood cult, both for Germany and beyond.“ 23 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-48. 24 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.- 55: „But the immediate context for the successful cult at Wilsnack is surely the circle of blood sites in the Havelland (Marienfliess, Heiligengrabe and Nauen) and just beyond (Zehdenick to the east and Beelitz to the south). People in the Mark Brandenburg were used to petitioning the holy blood for assistance.“ 25 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-61: „To the north of the Mark Brandenburg - in Mecklenburg, Lower Saxony and Pomerania - blood relics were most powerful forms of blood presence in the later Middle Ages.“ 26 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.- 80: „Second, it is clear that, whatever the problem with our evidence (and they are considerable), the Wilsnack cult was prepared in the repeated blood claims [in the northern Germany].“ 104 Jan Hrdina findet, kann keinesfalls aus dem bloßen Ersatz von Reliquien durch die Eucharistie abgeleitet werden. Es ging vielmehr um den Übergang vom Kult der Blutreliquien zur Verehrung der wundertätigen Hostien.“ 27 Ihre Darstellung ergänzt sie noch um eine - in der modernen deutschen Geschichtsforschung bekannte - These: Die spät christianisierten Regionen, arm an Reliquien, suchten einen gleichwertigen Ersatz für die Überreste von Heiligen, den sie durch Importe aus dem Heiligen Land bei den Kreuzzügen (des frühen 13. Jahrhunderts) in den Reliquien des Heiligen Blutes und später in blutenden und wundertätigen Hostien fanden. 28 Die mutigen Konstruktionen von C. W. Bynum können auf Grund der jüngsten Forschungen der brandenburgischen Historiker, besonders von Hartmut Kühne, überprüft werden. Kühne hat nach einer kritischen Analyse der überlieferten Quellen eine andere Perspektive der Anfänge und Entwicklung der eucharistischen Kulte und Wallfahrten im spätmittelalterlichen Brandenburg und Mecklenburg vorgelegt. 29 Kühne urteilte: Diejenigen Erscheinungen, die im spätmittelalterlichen Brandenburg als Heilig Blut- Wallfahrten bezeichnet werden, hängen mit der Etablierung jenes kult- und kulturgeschichtlichen Komplexes zusammen, der meist unter dem Begriff ‚Fronleichnamsverehrung‘ firmiert. […] Erst um 1300 scheint die scholastische Theorie über die in allen geweihten Hostien substantialiter aussagbare Präsenz Christi zu jenem kulturellen Wandel geführt zu haben, der es möglich machte, in jeder geweihten Hostie auch ein potentiell kult- und damit u. U. wallfahrtsbegründendes Objekt zu sehen. 30 Zuvor war man davon ausgegangen, dass es bereits im 13.- Jahrhundert entsprechende eucharistische Kulte in diesem Gebiet gegeben hatte, wie etwa im Kloster Doberan (1201), in den Klöstern Zehdenick (1249) und Heiligengrabe (1287) sowie der Pfarrkirche des Brandenburgischen Beelitz (1249). 31 Die Quellengrundlage für diese angeblichen Wallfahrten des 13. Jahrhunderts erwies 27 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-77: „Third and most important, what we find in north German blood cult is not a replacement of relics by eucharist but rather a move from blood relics to miracle host. … The move from relic to host miracle to abused host was the replacement of one kind of sacred matter by another.“ 28 Petersohn, Der südliche Ostseeraum (wie Anm. 10) S.- 111; Kühne, Konjunktur (wie Anm. 9); Ders., Wallfahrtsziele im Bistum Brandenburg um 1450, in: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich - Deutschsprachige Länder, hg. von Erwin Gatz u. a. (2009) S.-50 und Karte S.-52. 29 Kühne, Konjunktur (wie Anm. 9); Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3) S.-65-76, 30 Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3) S.-75. 31 Vgl. etwa Johannes Heuser, Heilig-Blut in Kult und Brauchtum des deutschen Kulturraumes (Phil. Diss. masch. Bonn, 1948) S.-27-29. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 105 sich allerding als äußerst dünn. Daher ist festzustellen, dass sich zuverlässig bezeugte Heilig-Blut-Kulte „im mittel- und norddeutschen Raum erst gut einhundert Jahre nach der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre durch das IV.-Lateranense (1215) und d. h. auch gut fünfzig Jahre nach der - zunächst kaum rezipierten - Einführung des Fronleichnamsfestes durch Papst Urban-IV. im Jahr 1264 [finden].“ 32 Kühne machte auch auf die häufig übersehene Unterscheidung zwischen einem eucharistischen Wunder und einer eucharistischen Wallfahrt aufmerksam: „Eucharistische Wunder mussten nicht unbedingt dazu führen, dass ein Kultobjekt entstand - und auch wenn dieses vorhanden war, musste es nicht zum Ziel einer Wallfahrt werden. Erst im 14.-Jahrhundert sind Wallfahrten zu eucharistischen Objekten gut zu belegen.“ 33 Der bekannte Germanist und Volkskundler Wolfgang Brückner identifizierte auf der Grundlage einer exemplarischen Studie zu den Blutwundern von Bolsena und Walldürn die Jahre „um 1330“ als den Zeitpunkt, zu dem das Phänomen virulent wurde. 34 Die ersten namhaften Wallfahrtsziele im nördlichen Deutschland waren das hessische Gottsbüren (seit 1331), das mecklenburgische Güstrow (seit 1333) und die Klosterkirche im westfälischen Rulle (1347). 35 Die in der Errichtung von Fronleichnamsaltären, -kapellen oder -bruderschaften ausgedrückte eucharistische Devotion, mit der sich klösterliche oder städtische Gemeinschaften an ein solches Heiliges Blut banden und diese Verbindungen durch Rituale (vor allem regelmäßige Prozessionen) und Stiftungen immer wieder aktualisierten, waren aber noch keineswegs „Wallfahrt“, wie Kühne ausdrücklich betont: „Soweit sich über die Ursprünge der brandenburgischen Heilig Blut-Kulte neben Wilsnack überhaupt etwas aussagen läßt, dann wohl, daß diese Kirchen und Kapellen nur ganz leicht aus der dichten Schicht der seit dem 14.- Jh. allenthalben entstehenden eucharistischen Kapellen und Altäre herausragen.“ 36 32 Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3) S.-71. 33 Kühne, Zur Konjunktur (wie Anm. 9) S.-77. 34 Wolfgang Brückner, Liturgie und Legende. Zur theologichen Theorienbildung und zum historischen Verständnis von Eucharistie-Mirakeln, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 19 (1996) S.-139-168. 35 Escher/ Kühne, Einführung, in: Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.- 17-19. Die Bedeutung Güstrows ist erst in jüngerer Zeit durch die Identifikation der dortigen Pilgerzeichen erkannt worden, vgl. Kühne, Konjunktur (wie Anm. 9) S.-78-86; Jörg Ansorge, Pilgerzeichen und Pilgerzeichenforschung in Mecklenburg-Vorpommern, in: Wallfahrer aus dem Osten - mittelalterliche Pilgerzeichen zwischen Ostsee, Donau und Seine, hg. von Hartmut Kühne/ Lothar Lambacher/ Jan Hrdina (Europäische Wallfahrtsstudien 10, 2013) S.-81-144, hier S.-85-90. 36 Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3) S.-75. 106 Jan Hrdina Aus diesen Überlegungen ist zu schließen, dass der Autor im Unterschied zu C. W. Bynum das Phänomen Wilsnack nicht für die unmittelbare Auswirkung einer angeblich exponierten Verehrung des Blutes Christi in Norddeutschland hält. Für zukünftige Forschungen machte er auf zwei Zusammenhänge aufmerksam. 1. Im ersten Kontext kann das Wilsnacker Blut als der Erbe der ersten deutschen überregionalen Kulte, d. h. den im hessischen Gottsbüren und in Güstrow in Mecklenburg, gelten. Beide Wallfahrten entstanden in den 1330er Jahren und ihr überregionaler Horizont hielt sich spätestens bis zum letzten Viertel des 14.- Jahrhunderts. 37 Einen bisher eher unterschätzten Faktor des langjährigen Erfolges sieht er in der anhaltenden Förderung des Wunder- und Wallfahrtsortes durch die Landesherren. 2. Im zweiten möglichen Kontext wurde Wilsnack zu einem markanten Exponenten einer virulenten eucharistischen „Mode“ am Ende des 14.- Jahrhunderts und in deren Folge zu einem Impuls für die Entstehung eucharistischer Wallfahrtsorte in Mittel- und Ostmitteleuropa. 38 Eine Vorausetzung zur Bestätigung, Weiterentwicklung bzw. auch Verwerfung solcher Thesen ist eine ergänzte und revidierte Chronologie der Entstehung der mitteleuropäischen eucharistischen Kult- und Wallfahrtsstätten. Ein solcher Versuch kann sich nur sehr vorsichtig auf zwei Kataloge stützen, die kurz vor der Mitte des 20.-Jahrhundert zum einen Peter Browe und zum anderen Johannes Heuser zusamenstellten. 39 Mit meinen geringen Mitteln möchte ich gerne in die beiden angedeuteten Kontexte eingreifen. Ich werde mich besonders auf diejenige Zeitspanne konzentrieren, die für die Entstehung der Wilsnacker Wallfahrten von Bedeutung ist, und zwar auf die Zeit des Großen Abendländischen Schismas von 1378 bis 1415, zum Teil auch unter Berücksichtigung der vorhergehenden und nachfolgenden Jahrzehnte. Es mag überraschen, dass auch Quellen aus Ostmitteleuropa zur Resonanz des Wilsnacker Kultes bis zum Beginn des 15.-Jahrhundert etwas zu sagen ha- 37 Escher/ Kühne, Einführung, in: Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-17-18. 38 Escher/ Kühne, Einführung, in: Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-18-19. 39 Peter Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie N. F. 4, 1938) S.-139-146 (Verzeichnis der Dauerwunder und „Orte, an denen Wunderhostien oder Blutkorporalien aufbewahrt und verehrt wurden“, vom 7. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts); Heuser, Heilig-Blut (wie Anm. 31) S.-2-32, geteilt nach sieben kultgeographischen Großregionen: der schwäbisch-alemannische Kultraum; der altbayerische Kultraum = Ober-, Niederbayern, südliche Oberpfalz; der mainfränkische Kultraum samt den anliegenden Gebieten; der rheinisch-westfälische Kultraum mit Berücksichtigung Flanderns und der Niederlande; der mitteldeutsche Kultraum; der norddeutsche Kultraum; der ostdeutsche Kultraum. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 107 108 Jan Hrdina ben. Es hat sich aber gezeigt, dass unter den ersten namentlich bekannten Pilgern nach Wilsnack am Anfang der 1390er Jahre Angehörige des regierenden luxemburgischen Hauses waren: die Kaiserin Elisabeth, Witwe des 1378 verstorbenden Kaisers Karl-IV., ihr Sohn Johann von Görlitz und sehr wahrscheinlich auch der mährische Markgraf Jost, zugleich der regierende Landesherr der Mark Brandenburg, die die Luxemburger 1373 den Wittelsbachern abkauften. Der damalige römische und böhmische König Wenzel sandte seine Vertrauten sogar dreimal nach Wilsnack, damit sie dort als Stellvertreter für seine - dem Heiligen Blut zugeschriebene - Genesung danken. Cum grano salis kann man sogar behaupten, dass Wilsnack zur dynastischen Wallfahrtsstätte der Luxemburger wurde. Die Dynasten trugen als Landesherren in der Mark bis 1415 nicht nur zur Legitimität des neuen eucharistischen Kultes bei, sondern sie leisteten durch ihre Besuche und ihre Votivgaben den Wilsnacker Geistlichen willkommene Unterstützung zur Verkündigung des wundertätigen Potentials des Ortes. Die Spuren der Luxemburger wurden im 15.-Jahrhundert, in der Zeit des Streites um die Echtheit der blutenden Hostien, durch die Brandenburger Markgrafen aus dem Haus der Hohenzollern verwischt. 40 Der Ruhm des Wilsnacker Blutes drang ebenfalls an weitere Königs- und Herzogshöfe an den östlichen Reichsgrenzen. Dem Schutz der berühmten Reliquie vertrauten sich in den 1390er Jahren Sigismund von Luxemburg und seine Frau Maria, die polnische Königin Hedwig und der österreichische Herzog Wilhelm I. an, der ein wertvolles Reliquienkreuz nach Wilsnack schickte. 41 Ist es nur ein Zufall, dass die Quellen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts über Pilgerfahrten mittel- und norddeutscher Landes- und Territorialherren nach Wilsnack schweigen? Vergleichbare Devotions- und Votivakte, mit dem sich die Luxemburger an einen anderen damaligen Wallfahrtsort im Reich gewandt hätten, abgesehen vom Marienmünster in Aachen, sind nicht belegt. 40 Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-41-55; Jan Hrdina/ Hartmut Kühne, Pilgerziel Wilsnack: Anfänge eines europäischen Wallfahrtsortes, in: Im Dialog mit Raubrittern und Schönen Madonnen. Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter. Begleitband zur Ausstellung „Von Raubrittern und Schönen Madonnen“ 2011/ 2112, hg. von Clemens Bergstedt u. a. (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 6, 2011) S.-194-205, bes. S.-196-197; Dies., Wilsnack - Prag - Magdeburg. Neue Perspektiven auf die ersten Jahrzehnte einer europäischen Wallfahrt, in: Der Havelberger Dombau und seine Ausstrahlung, hg. von Leonhard Helten (2012) S.- 20-44, bes. S.- 25-27; Dies. , Die Luxemburger und die Anfänge der Wallfahrt nach Wilsnack, in: Karl IV. - Ein Kaiser in Brandenburg, hg. von Jan Friedrich Richter/ Peter Knüvener/ Kurt Winkler (2016) S.-78-83. 41 Starnawska, Beziehungen (wie Anm. 4) S.- 81-83; Hrdina/ Kühne, Pilgerziel Wilsnack (wie Anm. 40) S.-197-200; Hrdina/ Kühne, Wilsnack - Prag - Magdeburg (wie Anm. 40) S.-26-28; Hrdina/ Kühne , Luxemburger (wie Anm. 40) S.-78-83. Karte 1: Eucharistische Wunderorte, 1370-1430. - Die Karte stellt diejenigen Orte dar, an denen sich in der angegebenen Zeitspanne ein mit der Hostie bzw. Korporale verbundenes eucharistisches Wunder ereignete (rot, grün, rosa, gelb). Zugleich sind ebenfalls die bereits vor 1370 bestehenden eucharistischen Wunder- oder Kultstätten verzeichnet (blau). Diese mirakulöse Erscheinung wird grob in vier Initiations-Ursachen gegliedert (ein Hostienwunder; Korporale-Wunder; Diebstahl von Hostie(n); Judenpogrom). Das Datum bringt das Jahr eines ereigneten Wunders bzw. erste Erwähnung des Kultortes. Das Fragezeichen verweist auf umstrittene Lokalitäten, deren Existenz - ohne eine gründliche Überprüfung - eher unsicher ist. Aus den Ländern unter der Herrschaft der Luxemburger machten sich nicht nur Hunderte von Pilgern auf den Weg nach Brandenburg. Von Böhmen gingen auch die ersten kritischen Stimmen gegen die Begründung des Kultes aus. Für die Reformkreise an der Prager Universität wurde Wilsnack zum Synonym für den törichten Glauben an falsche Wunder, der verhindert werden muss. Der Prager Erzbischof verbot 1405 den Gläubigen im Prager Bistum nach Wilsnack zu pilgern, und Jan Hus thematisierte in seinem Traktat über das Blut Christi Argumente der Widersacher des Blut-Christi-Kultes, die die Existenz der körperlichen Reliquien Christi (Haar, Blut, Vorhaut) auf Erden bestritten und ablehnten. 42 Bei der Erwähnung der verehrten Hostien seufzte der gut informierte Hus: „Es gibt kaum ein Land, in dem keine Gerüchte über visibiles Blut kursieren würden.“ Ausdrücklich führt er in diesem Zusammenhang die wegen eines 42 Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-55-60. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 109 110 Jan Hrdina Missbrauchs der Hostien bestraften Kleriker aus Bologna, aus der Krakauer Diözese und Ungarn an. 43 Der Berichtshorizont des Prager Intellektuellen führt uns zu einem zweiten Kontext. Orientieren wir uns auf der Karte Mitteleuropas über die Orte mit zuverlässig belegten oder zumindest sehr wahrscheinlichen eucharistischen Wundern, die sich zwischen 1370-1430 ereigneten (Karte 1). 44 Aus ihr lässt sich eine zentrale Feststellung ableiten: Es gibt keinen markanten Unterschied zwischen dem Süden und Norden Deutschlands. Meiner Meinung nach gibt es auch keine Begründung für die Behauptung deutlicher kultureller Differenzen zwischen dem Süden und Norden des spätmittelalterlichen Reiches, wie sie z. B. dem Verzeichnis der eucharistischen Dauerwunder von Peter Browe zu entnehmen war. 45 Während es bei Browe eine klare Betonung der eucharistischen Kulte in Schwaben, Bayern und Österreich, aber auch in Mitteldeutschland gab, dreht Bynum die bisherige Optik um, so dass Norddeutschland zum „verheißenen Land“ der Blutkulte wird. 46 43 Flajšhans, Spisy - De sanguine Christi (wie Anm. 1) S.-28-29, 34-35, Zitat auf S.-35: „Iam enim rara est terra, quin de sangwine apparenti habeat magnam famam.“ Vgl. Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-62. 44 Als Grundlage für die Kartierung der eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte wurde benutzt die Karte: „Die Bistümer des Heiligen Römischen Reichs um 1500“, in: Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, hg. von Erwin Gatz unter Mitwirkung von Clemens Brodkorb und Helmut Flachenecker (2003), festgebundene Beilage nach S.-872. Karte 1 : Eucharistische Wunderorte, 1370-1430. Die Angaben in der Bildunterschrift zur Kartenlegende beziehen sich auch auf die Karten 2 und 3. Karte 2: Quelle: Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3) S.-45-76; Kühne, Konjunktur (wie Anm. 9) S.-76-115; Karl-Ferdinand Besselmann, Stätten des Heils. Westfälische Wallfahrtsorte des Mittelalters (1998) S.-66-81. Karte 3: Quelle: Anton Bauer, Eucharistische Wallfahrten zu ‚Unserm Herrn‘, zum ‚Hl. Blut‘ und zum ‚St. Salvator‘ im alten Bistum Freising (Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 23/ 2, 1963) S.-37-71; Manfred Eder, Eucharistische Kirchen und Wallfahrten im Bistum Regensburg, in: Wallfahrt im Bistum Regensburg (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 28, 1994) S.-97-172. 45 Browe, Wunder (wie Anm. 39) S.-139-146. 46 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-47-49. Karte 2: Die eucharistischen Kult- und Wallfahrtsorte in Brandenburg, Mecklenburg (grün) und Westfalen (rot) im Spätmittelalter Drei herausgehobene Gebiete zeichnen sich auf der Karte ab: im Norden die Niederlande und Flandern, die Mitte Deutschlands mit Westfalen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und die bayerisch-österreichischen Gebiete (Karte 2, s.a. Karte 1). Alle drei Regionen weisen z.T. unterschiedliche Merkmale auf. Flandern und die Niederlande waren ab der Mitte des 13.-Jahrhunderts Kernländer der Fronleichnamsverehrung. Zum Ausgang des 14.- Jahrhunderts erscheint hier verstärkt das Motiv des befleckten Korporale. 47 Der mitteldeutsche Raum ist ab 1390 von 47 Zur Grundlage für die Erstellung der Karte (Flandern, Niederlande) vgl.: Browe, Wunder (wie Anm. 39) S.-143-145; Friesische Papsturkunden aus dem Vatikanischen Archive zu Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 111 112 Jan Hrdina blutenden Hostien geprägt. 48 Im Süden, im Donauraum, fand das Motiv der gestohlenen Hostie und des Hostienfrevels von Juden einen besonders deutlichen Niederschlag (Karte 3). Die in der 2.-Hälfte des 14.-Jahrhunderts entstehenden regionalen Kult- und Wallfahrtstätten legitimierten häufig frühere Judenpogrome, die in den österreichischen Ländern in den 1330er Jahren stattfanden. 49 Welche Rolle spielte vor diesem Hintergrund Wilsnack für die Anfänge anderer eucharistischer Wallfahrtsorte? Verlassen wir uns auf die chronologische Reihenfolge, die aus dem Jahr eines belegten bzw. vorausgesetzten eucharistischen Wunders hervorgeht, scheint es so zu sein, dass die Quellen zwischen 1383 und 1410 wirklich einen mäßigen Anstieg der Anzahl von approbierten oder auch falschen eucharistischen Wundern und zugleich die Entstehung von neuen Kult- und Wallfahrtsstätten belegen. Dieser Vorgang ist nicht nur in Mitteldeutschland und teilweise im Donauraum deutlich ablesbar, sondern auch in Westpreußen (Elbing), Livland (Riga), Polen (Posen), Ungarn (Kaschau, Báta) und in Böhmen (Kuttenberg, Chrudim, Litomyšl). 50 Rom, hg. von Heinrich Reimers (1908); die Datenbank „Bedevaart en Bedevaartplaatsen in Nederland“: https: / / www.meertens.knaw.nl/ bedevaart/ (Stand 3.10.2019); Jean Pierre Delville, Le „Sang de miracle“, à la lumière de ľOriginale de Bois-Seigneur-Issac: faits et interprétations, in: Le miracle du Saint Sang: Bois-Seigneur-Isaac, hg. von Jean-Marie Cauchies/ Marie-Astrid Collet-Lombard (2009) S.-51-59. 48 Quelle: Repertorium Germanicum 2: Urban VI., Bonifaz IX., Innozenz VII. und Gregor XII. (1378-1415), hg. von Gerd Tellenbach (1933-1938); Browe, Wunder (wie Anm. 39) S.-143-145; Heuser, Heilig-Blut (wie Anm. 39) S.-22-25; Hartmut Kühne, Der Harz und sein Umland - eine spätmittelalterliche Wallfahrtslandschaft? , in: Spätmittelalterliche Wallfahrt im mitteldeutschen Raum, hg. von Hartmut Kühne/ Wolfgang Radtke/ Gerlinde Strohmaier-Wiederanders (2002) S.-87-103; Kühne, Von Ahrensbök bs Ziegenhain (wie Anm. 3) S.- 65-67; Carina Brumme, Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis (Europäische Wallfahrtsstudien 6, 2010) S.-316-320; Besselmann, Stätten des Heils (wie Anm. 44) S.-66-81. 49 Romuald Bauerreiss, Pie Jesu. Das Schmerzensmann-Bild und sein Einfluss auf die mittelalterliche Frömmigkeit (1931); Browe, Wunder (wie Anm. 38) S.-143-145; Heuser, Heilig-Blut (wie Anm. 30) S.- 7-14; Gustav Gugitz, Österreichs Gnadenstätten in Kult und Brauch. Ein topographisches Handbuch zur religiösen Volkskunde, 5 Bde. (1955- 1958); Bauer, Eucharistische Wallfahrten (wie Anm. 44) S.- 37-71; Manfred Eder, Die „Deggendorfer Gnad“. Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte (1992); Eder, Eucharistische Kirchen (wie Anm. 44) S.-97- 172; Martin Leitgöb, Wallfahrtsziele in Oberösterreich, in: Atlas zur Kirche (wie Anm. 28) S.-54-55; Mitchell B. Merback, Pilgrimage & Pogrom. Violence, Memory, and Visual Culture at the Host-Miracle Shrines of Germany and Austria (2012), die Karte mit ausgewählten „Host-miracle or Host-relics site“ auf S.-5. 50 Maja Gąssowska, Livländer auf der Wallfahrt nach Wilsnack und das Heilige Blut zu Riga, in: Escher/ Kühne, Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-97-115, bes. 101-108; Starnawska, Beziehungen (wie Anm. 4) S.-89-93; Gábor Tüskés/ Éva Knapp, Die Verehrung des Karte 3: Eucharistische Kult- und Wallfahrtsorte in den Bistümern Regensburg und Freising im Spätmittelalter Eine motivische Übereinstimmung (oder eine Inspiration? ) durch Wilsnack, d. h. die wunderbare Rettung der Hostien aus einer verbrannten Kirche, erscheint in Hausberge und Hillentrup, beide in Westfalen, und im preußischen Elbing. 51 Nach einem Initiationswunder bestimmten verschiedene Faktoren darüber, wie sich der Kult weiterentwickelte: die Approbation durch die Kirche (der Pfarrer, Heiligen Blutes in Ungarn, in: Jahrbuch für Volkskunde NF 10 (1987) S.-179-201; Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-61-f. 51 Besselmann, Stätten des Heils (wie Anm. 44) S.-73-75; Johannes von Posilge, Officials von Pomesanien, Chronik des Landes Preussen, hg. von Ernst Strehlke (Scriptores rerum Prussicarum 3, 1866) S.-238. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 113 114 Jan Hrdina Vorsteher eines Klosters und der Bischof), der Kreis der Förderer (der Landesherr, lokale Herrschaften), eine günstige Verkehrslage und auch singuläre, schwer zu erfassende Faktoren wie z. B. gesellschaftlich-mentales Klima in einer Region und Land usw. Alle diese Faktoren ergaben ein Zusammenspiel. III. Ein Fazit Die am Anfang gestellte Frage nach Wilsnacks Wurzeln und Vorbildern lässt sich immer noch nicht eindeutig beantworten. Das Wilsnacker Blut erscheint eher als ein Ausläufer jener eucharistischen Verehrung, die ganz Mitteleuropa ab der Mitte des 14.-Jahrhunderts mit nur geringen räumlichen und zeitlichen Verschiebungen mit internalisierten Formen (frommes Schrifttum) und in externalisierten, kollektiven und ritualisierten Äußerungen (Corpus-Christi-Bruderschaften, Fronleichnamsprozessionen) durchdrang. 52 Die drei verehrten Wilsnacker Hostien haben sehr wahrscheinlich das damalige individuelle und kollektive religiöse Bewusstsein getroffen. Sie spielten die Rolle eines Katalysators und eines bewussten oder auch unbewussten Vorbildes für die Genese eucharistischer Wallfahrtsorte mit lokalem und regionalem Echo. Die beobachtete Erscheinung fällt darüber hinaus in die Zeitspanne des Großen Abendländischen Schismas, in die Ära einer gespaltenen Christentheit, die von einer deutlichen Kultdynamik und religiösen Mobilität geprägt wurde. „Das Laufen“ oder „die Fahrt“, wie dieses Phänomen in den Quellen hieß, wurde durch das Heilige Jahr in Rom 1390 (von Papst Urban-VI. verkündet und während des Pontifikats des neu gewählten Papstes Bonifaz- IX. gefeiert) hervorgerufen. Derselbe Pontifex hat mit dieser Feier auch eine neue Etappe des spätmittelalterlichen Ablasswesens eröffnet, denn er begann damit, das Jubeljahr zur Nachfeier auch an Länder außerhalb Roms zu vergeben. In den Jahren 1393 bis 1397 erfreuten sich auf Gesuch einiger Landesherren und Kirchenprälaten die Gläubigen in Bayern, im Königreich Böhmen, in den wettinischen Ländern, in der Kirchenprovinz Magdeburg und in den angrenzenden Gebieten dieser Gnade. Hand in Hand mit diesem gesteigerten Ablassangebot ging der Reliquienkult, der sich am Ende des 14.-Jahrhunderts in den sogenannten Heiltumsweisungen (ostensio reliquiarum) manifestierte, sowie im Marienkult und in der Bildverehrung. 53 Im ausgehenden 14.- Jahrhundert bildeten sich überall 52 Siehe Károly Goda, The Medieval Cult and Processional Veneration of the Eucharist in Central Europe. Festive Culture in the Royal Cities of Cracow and Buda in a comparative Perspective (Mediaevalia Historica Bohemica 18/ 1, 2015) S.-101-184. 53 Grundlegend: Max Jansen, Papst Bonifatius IX. und seine Beziehungen zur deutschen Kirche (1904) S.-136-178; Karlheinz Frankl, Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad instar-Ablässe“, in: Römische Quartalsschrift 72 (1977) S.-57-124, 184-247; Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funkin Mitteleuropa vom Niederrhein bis zu den Karpaten Netze regionaler Gnadenstätten aus, die mit ähnlichen Mitteln um die Gunst der Pilger warben: nämlich durch hohe Ablässe, durch die Propagierung des wundertätigen Wirkens der verehrten Heiligen und durch Pilgerzeichen. 54 In allen Fällen spiegelte sich ein charakteristischer Zug der spätmittelalterlichen Frömmigkeit wider - das angestrengte Bemühen, sich die Erlösung durch eine Verbindung aller Mittel zu sichern, die von der schützenden Hand der Kirche angeboten wurden. Seitens der Amtskirche wurde dieses Bemühen als ein Teil der cura animarum (Seelsorge) wahrgenommen. Die Pflege um die Rettung der Seele wurde hauptsächlich von Geistlichen ausgeübt und zugleich kontrolliert, die versuchten, erlaubte Gnadenmittel (licita) von unerlaubten (illicita), zusammenfassend als Aberglaube definiert, zu unterscheiden. Zu diesen abergläubischen Äußerungen, die die Kirche zu unterbinden suchte, gehörte auch der Glaube an falsche Wunder, einschließlich falscher blutender Hostien. Wie ich schon angedeutet habe, war der Prager Erzbischof bei dieser Kontrolle besonders aktiv. Die hoch entwickelte und zentralisierte Kirchenverwaltung der Prager Diözese und der wachsende Einfluss der Reformgedanken unter den Gebildeten trugen dazu bei, dass im Namen der pastoralen Verantwortlichkeit und des innerlich gelebten Glaubens Wunder (miracula, signa) sofort nach einem mirakulösen Ereignis, also schon im Stadium der „Inkubation“ und vor der Konstituierung eines Kult- und Wallfahrtsortes überprüft und abgelehnt wurden. Das Zusammenspiel dieser zwei Tendenzen, das in der Prager Diözese meines Erachtens noch markanter als in anderen mitteleuropäischen Bistümern zum Ausdruck kam, führte dazu, dass die Pilgerfahrten von Böhmen in die Mark Brandenburg verboten wurden und verhinderte so auch, dass in Böhmen ein approbierter eucharistischer Wallfahrtsort entstehen konnte. 55 Mit der Lokalsynode in Magdeburg im Jahr 1411 tion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (2000), bes. S.-579-625; Jan Hrdina/ Carina Brumme/ Hartmut Kühne, More Pragensi? - Das Prager Pilgerzeichen, die Jubiläumsnachfeier 1393-1397 und die Pilgerzeichen mit Wappen im ausgehenden Mittelalter, in: Von Burgen und Kirchen. Gedenkschrift für Günter Hummel (Beiträge zur Frühgeschichte und zum Mittelalter Ostthüringens 7, 2016) S.-93-122, bes. S.-109-113; Jan Hrdina unter Mitwirkung von Hartmut Kühne, Die Luxemburger im Gravitationsfeld von Frömmigkeitspraktiken. Reliquien - Wallfahrt - Pilgerzeichen, in: Heilige, Helden, Wüteriche. Herrschaftsstile der Luxemburger (1308-1437), hg. von Martin Bauch u. a. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 41, 2017) S.-107-145, bes. 137-145. 54 Kühne, Von Ahrensbök bis Ziegenhain (wie Anm. 3); Hartmut Kühne, Der historische Kontext „erfolgreicher“ spätmittelalterlicher Gnadenorte im mittel- und norddeutschen Raum, in: Annali dell’ Istituto storico italo-germanico in Trento 29 (2003) S.-307-336. 55 Hrdina, Wilsnack (wie Anm. 1) S.-61-62; Krzysztof Bracha, Zwischen miracula, mirabilia und mira. Die Wallfahrten nach Wilsnack im Urteil Jakobs von Paradies, in: Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-165-177. Wilsnack und die eucharistischen Wunder- und Wallfahrtskulte in Mitteleuropa 115 116 Jan Hrdina begann eine Phase der kontinuierlichen Kritik an der Echtheit der Wilsnacker Hostien, die in der Mitte des 15.-Jahrhunderts in der gegenseitigen Exkommunikation des Magdeburger Oberhirten und des Havelberger Bischofs kulminierte. 56 C. W. Bynum gibt diesen Kontroversen ein universales Ausmaß, wenn sie vermutet: „Hinter den Streitigkeiten über die Kirchendisziplin und -kontrolle lagen ganz konkrete ontologische und soteriologische Komponenten, die Fragen über die Natur des menschlichen Wesens und über die Präsenz des Göttlichen beinhalteten.“ 57 Ich bin nicht im Stande, ihr ein ebenbürtiger philosophischer Gegner zu sein. Dennoch - dort, wo ich ihrer Argumentation folgen kann, d. h. bei ihrer These über die Exponiertheit Norddeutschlands als ein dem Heiligen Blut und den eucharistischen Wallfahrten verschriebenes Gebiet, habe ich nach dem skizzierten Vergleich mit anderen deutschen Großräumen Bedenken. 58 Trotz aller Komplimente, die man der Autorin für die inspirative Lektüre machen muss, erweist sich eine ihrer Hauptthesen als ein im guten Glauben formuliertes, verlockendes Konstrukt, das aber der kritischen Analyse der Quellen und einem konsequenten kulturgeographischen Vergleich nicht standhält. 56 Breest, Wunderblut (wie Anm. 18) S.-162-181 (die Prager Kritik und die Synode von 1411) und das 5. Kapitel auf S.- 181-275; Anne-Katrin Ziesak, „Multa habeo vobis dicere“ … - eine Bestandsaufnahme zur publizistischen Auseinandersetzung um das Heilige Blut von Wilsnack, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 59 (1993) S.-208- 248. 57 Bynum, Wonderful Blood (wie Anm. 16) S.-45: „… that behind issues of ecclesiastical discipline and control lay quite specific ontological and soteriological questions about the nature of the human person and about access to the presence of the divine.“ 58 Bei diesen vorläufigen Überlegungen lasse ich die gelegentlich auftauchenden Nord-Süd- Differenzen im spätmittelalterlichen Reich beiseite. Im Bezug auf das Wallfahrtswesen vgl. Lionel Rothkrug, Religious practices and collective perceptions. Hidden homologies in the Renaissance and Reformation (1980). Dazu auch das methodologisch-kritische Nachdenken von Wolfgang Brückner, Das Nord-Süd-Problem für die Erforschung religiöser Volkskultur. Allgemeines Vorurteil und Wissenschaftsstereotyp, in: Nord-Süd- Unterschiede in der städtischen und ländlichen Kultur Mitteleuropas, hg. von Günter Wiegelmann (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 40, 1985) S.-327-344. Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums Toni Aigner Das 14. Jahrhundert gilt als Krisenzeit schlechthin, denn es war in weiten Teilen Europas gekennzeichnet von tödlichen Seuchen, Hungersnöten und Naturkatastrophen, die als Vorboten der Kleinen Eiszeit gesehen werden. Die Pest suchte 1347/ 51 ganz Europa heim und dezimierte die Bevölkerung um ein Drittel. Es hat sicher mit den Nöten dieser Zeit zu tun, dass die Menschen nach Erlösung strebten und ihre Hoffnung auf Gott und die Kirche richteten und an Wunderzeichen und -taten glaubten. Papst Innozenz III. erhob mit dem 4. Laterankonzil 1215 die Lehre von der Verwandlung der Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi bei der Feier der Eucharistie zum Dogma, möglicherweise wurde damit die Wundergläubigkeit der Menschen befördert. Als dann im Jahre 1263 in Bolsena ein Priester während der Eucharistiefeier die Anwesenheit Christi in der Hostie bezweifelte, so wird berichtet, blutete diese. Im Jahr darauf wurde, auf Grund dieses Wunders, von Papst Urban-IV. mit der Bulle Transiturus de hoc mundo das Fronleichnamsfest zu Ehren der Eucharistie eingeführt. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen Bluthostienfunden und deren Verehrung in den verschiedensten Formen. Einige dieser Wunderfunde erregten eine so große Aufmerksamkeit und solchen Zulauf, dass sie deutliche Spuren in der Geschichte hinterlassen haben, wie zum Beispiel der von 1383 in dem kleinen, unbedeutendem Dorf Wilsnack im äußersten Nordwesten der Mark Brandenburg. Folgen wir den Quellen, die, wie in den meisten Fällen, erst viel später schriftlich überliefert wurden. Am 16.-August 1383 wurde in der Bischofskirche von Havelberg das Patronatsfest gefeiert. An diesem Fest nahmen auch alle Bauern und Bewohner des Dorfes Wilsnack teil, um einen Ablass zu erwerben. Deren Abwesenheit nützte der Ritter Heinrich Bülow, der mit dem Havelberger Bischof in Fehde lag. Elf Dörfer des Bischofs ließ er verbrennen, darunter auch Wilsnack. Schon auf dem Rückweg von Havelberg sah der Wilsnacker Pfarrer Johannes Calbux von weitem seine Kirche mit dem Turm und den Häusern hellauf brennen. Er erschrak sehr, denn angeblich hatte er das heilige Sakrament in Form von drei Hostien auf dem Altar zurückgelassen. Das Dorf war nicht mehr bewohnbar. So entschloss man sich, im benachbarten Lüben zu übernachten. Als der Pfarrer drei Tage später nach Wilsnack zurückkehrte, um im Schutt der Kirche 118 Toni Aigner nach Brauchbarem zu suchen, entdeckten er und seine Helfer, dass die Altarplatte, in der Pfarrer drei geweihte Hostien verwahrt hatte, verbrannt war. In der Meinung, dass sie mitverbrannt waren, verließen er und seine Begleiter die abgebrannte Kirche. In der folgenden Nacht, als er mit den Bauern am offenen Feuer schlief, hörte er eine Stimme, die ihn aufforderte aufzustehen und nach Wilsnack zu gehen, um dort in der abgebrannten Kirche eine Messe zu lesen. Kurze Zeit später wiederholte die Stimme die Forderung noch eindringlicher und beim dritten Mal fühlte er sich am Arm genommen, fuhr mit Geschrei aus dem Schlaf und versprach zu erfüllen, was ihm befohlen wurde. Obwohl ihm die Bauern abrieten, tat er, was ihm geheißen war. In den Ruinen der Kirche angekommen, sahen sich der Pfarrer und seine Begleiter verwundert an. Der Altartisch war mit einem Tuch bedeckt, darauf lagen die drei Hostien, vom Feuer nur an den Rändern etwas angesengt und in der Mitte einer jeden war deutlich ein Blutstropfen zu erkennen. Allen Anwesenden zeigte der Pfarrer das seltsame Ereignis, zelebrierte die Messe und brachte die drei Hostien zu ihrem Schutz in die Kirche von Groß Lüben. Dort soll, wie die Chronik berichtet, nach acht Tagen sich das nächste Wunder ereignet haben. Um Mitternacht sahen die Wächter des Dorfes fünf Kerzen, die vor dem verehrungswürdigen Sakrament selbst zu brennen begannen. Pfarrer Johann wurde benachrichtigt. Er hielt eine Messe ab und während dieser beobachtete man, dass zwei Kerzen ausgingen. Mit den drei noch brennenden Kerzen und den drei Hostien ging man in feierlicher Prozession nach Wilsnack und stellte mit großem Erstaunen fest, dass weder Sturm noch Unwetter die Kerzen löschen konnten. Wenn man sie ausblies, entzündeten sie sich immer wieder und wurden auch nicht kürzer. Der damalige Havelberger Bischof Diderich II. hörte davon und ließ sich in seiner Wittstocker Residenz vom Pfarrer die Ereignisse berichten. Schnell wollte er dem nachgehen und besuchte Wilsnack. Er wollte die Hostien neu konsekrieren, um keinen Unfug zu ermöglichen unterstützen. Während er zusammen mit dem Havelberger Dompropst und dem Pfarrer von Altruppin die Messe hielt, bemerkte er, dass die Hostien wieder zu bluten begannen, so dass das anschwellende Blut fast hinunterlief. Alle Beteiligten waren tief beeindruckt. Unter Tränen berichtete der Bischof von dem Wunder. Alle vorhergehenden Zweifel waren nun beseitigt. 1 In der nachfolgenden Zeit geschahen der Legende nach in der Umgebung von Wilsnack einige Wunder. Als im Jahre 1383 Dietrich Wenkstern, der vom Wunderblut erfahren und es verspottet hatte, von seiner unweit von Wilsnack an der Elbe gelegenen Burg durchs Land ritt, erblindete er plötzlich. Er stieg vom Pferd, kniete nieder und betete zu Gott und versprach, sollte er durch die Kraft der heiligen Hostien das Augenlicht wieder erlangen, wolle er jedes Jahr mit dreißig Leuten barfuß im Büßergewand das Heilige Blut in Wilsnack besuchen und Opfer bringen. Er konnte sofort wieder 1 Hartmut Kühne, August 1383 - Von Hostien und Kerzen, Bauern und ihrem Pfarrer, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne-Katrin Ziesak (2005) S.-9-18; sowie De hystorie und erfindinghe des hillighen Sacraments tho der wilsnagk. Die Geschichte von der Erfindung des heiligen Sakraments zu Wilsnack unter Verwendung eines von Paul Heitz im Jahre 1904 herausgegebenen Niederdeutschen Einblattdrucks aus der Zeit zwischen 1510 und 1520, hg. von Rita Buchholz/ Klaus-Dieter Gralow (1992). sehen. Aus dem Jahr 1388 ist ein weiteres Wunder aus Westfalen überliefert, das zeigt, mit welcher Intensität das Wilsnacker Wunder in ganz Deutschland und drüber hinaus verehrt wurde. Ein adeliger Westfale wurde überfallen und an einen Galgen gehängt, er betete zum Wunderblut und hing einen halben Tag, ohne erdrosselt zu werden. Der Täter befreite ihn und bat um Verzeihung, woraufhin der Gerettete bei Wasser und Brot nach Wilsnack pilgerte. Knapp tausend Kilometer südlich wurde 1388, also fünf Jahre nach dem Wilsnacker Fund, auf dem Andechser Berg, in der Nähe des Ammersees, damals etwa eine Tagesreise von München, der Residenzstadt der bayerischen Herzöge, entfernt, ein wertvoller Schatz gefunden. Dort gab es eine Burgkapelle, die von den Andechser Grafen stammte, die zwei Jahrhunderte zuvor dort residiert hatten, in der Epoche der Stauferkaiser mit denen als enge Gefolgsleute aufgestiegen und fast gleichzeitig ausgestorben waren. Der Legende nach, die allerdings erst siebzig Jahre später dokumentiert wurde, bemerkte der Mönch Jakob Dachauer am 26.-Mai 1388, als er die Messe las, eine Maus, die ihn zu einer mit Eisen beschlagenen Truhe führte. Sie enthielt unermesslich kostbare Reliquien und Heiltümer, die angeblich aus der Zeit der Andechser Grafen stammten und vor der Zerstörung der Burg vergraben wurden. Das wertvollste darin waren drei Hostien, die während einer Messe Papst Gregors des Großen geblutet haben sollen, weil eine spanische Königin die Anwesenheit Christi bezweifelt hatte. Bischof Otto-II. von Bamberg, ein Andechser Grafensohn, soll die Hostien als Hilfe in Notzeiten in seine Heimat am Ammersee geschickt haben. Darüber hinaus wurde ein Teil der Zweige der Dornenkrone Christi, die in der Sainte Chapelle in Paris wohlverwahrt sind, gefunden. Königin Agnes von Frankreich, eine Andechser Grafentochter, soll sie in ihre Andechser Heimatburg gesandt haben. Auch das Brustkreuz der heiligen Elisabeth und ihr Brautkleid sollen den Weg in die Andechser Burg gefunden haben, ebenfalls Reliquien, welche die Grafen aus dem Heiligen Land mitgebracht haben sollen: das Spottszepter und das Schweißtuch des Herrn vom Ölberg, das Tischtuch vom Letzten Abendmahl sowie Schleier und Gürtel der Gottesmutter und nicht zuletzt das Siegeskreuz Karls des Großen, das diesen siegreich aus einer Schlacht geführt haben soll. An den Seitenrändern der Pergamentblätter eines alten, unansehnlichen und nicht mehr benutzten Messbuchs aus dem 10. Jahrhundert, das ebenfalls gefunden worden war, ist die Geschichte der aufgefundenen Heiltümer von drei verschiedenen Schreibern niedergeschrieben, was die Echtheit und Authentizität der Funde beweisen sollte. Dieser Fund in der Andechser Kapelle weckte Begehrlichkeiten. Die damals gemeinsam regierenden bayerischen Herzöge, die Brüder Stephan III., Friedrich Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 119 und Johann II. 2 , die Enkel Kaiser Ludwigs des Bayern, machten ihre Ansprüche geltend, denn Heiltümer stellten nicht nur sakrale, sondern auch politische und gesellschaftliche Symbole dar. Ihr Besitz war für die Menschen jener Zeit nicht nur eine Brücke zur Heiligkeit und zu Gott, sondern spielte auch eine bedeutsame Rolle als herrschaftsbegründendes Zeichen. Die Wittelsbacher fühlten sich als Rechtsnachfolger der Andechser Grafen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der Anspruch, der mit der direkten Verwandtschaft Katharinas von Görz, der Ehefrau Herzog Johanns-II., mit den Andechser Grafen begründet war. 3 Ihre Vorfahren, die Grafen von Görz, hatten das Andechser Erbe in Tirol angetreten. Herzogin Katharina hatte sich von diesem ehrwürdigen Fund in der Andechser Burgkapelle, welcher der damaligen Meinung nach von ihren Vorfahren stammte, besonders angesprochen gefühlt und noch kurz vor ihrem Tod am 22.-Mai 1391 den Auftrag gegeben, drey ewig täglich Meß zu stiften, von denen sie eine für Andechs, die beiden anderen für die Münchner Burgkapelle und die Frauenkirche bestimmte. Der Abt des Benediktinerklosters Ebersberg, unter dessen Patronat der Andechser Berg zu der Zeit stand, reklamierte sein Recht auf das Eigentum an dem Fund. Das Drängen der Landesherren war so groß, dass der Abt sich entschloss, den Fund in sein Kloster zu bringen. Erst im Jahre 1389 um den Nikolaustag wurden aber die Heiltümer in feierlicher Prozession unter großer Anteilnahme des Volkes nach München gebracht, wo sie in der Hofkirche St.-Lorenz festlich empfangen und aufbewahrt wurden. Es ist nicht bekannt, mit welchen Argumenten sich die Münchner Herzöge gegen den Abt durchsetzten. Dass dieses große Ereignis mit einjähriger Verspätung stattfand ist erstaunlich, wenn man den Heiltumsfund mit dem anderer Orte wie Wilsnack, Marburg, Regensburg, Altötting, um nur einige zu nennen, vergleicht, wohin es sofort nach dem Bekanntwerden der Heiltumsfunde geradezu explosionsartig einsetzende Wallfahrten gegeben hat. 4 Die Gründe für die Verzögerung scheinen sowohl der Streit um den Anspruch auf den Andechser Heiltumsfund zwischen den Ebersberger Mönchen und den drei Münchner Herzögen, als auch die Kriegswirren dieser 2 Von 1375 bis in den Herbst des Jahres 1392 regierten die Brüder Friedrich (1375-1393), Stephan III. (1375-1413) und Johannes II. (1375-1397) gemeinsam. 3 Katharina von Görz, die Tochter Graf Meinhards-VI. von Görz (gest. 1385), stammte in fünfter Generation von Mathilde von Andechs (gest. 1194) ab, der Tochter Graf Bertholds- III. von Andechs (gest. 1151). Siehe Johannes Kist, Die Nachfahren des Grafen Berthold-I. von Andechs (1967) S.-43; s.a. S.-48, 56, 76, 109 und 231. 4 Jan Hrdina, Wilsnack und das Königreich Böhmen, in: Kühne/ Ziesak, Wilsnackfahrt (wie Anm. 1) S.-163-168, hier S.-164; Elisabeth Reber, Elisabeth von Thüringen. Landgräfin und Heilige (2006) S.-170-f.; Robert Bauer, Bayerische Wallfahrt. Altötting. Geschichte - Kunst - Volksbrauch (1970) S.-24-f. 120 Toni Aigner Zeit gewesen zu sein. 5 Schon Anfang des Jahres 1391 hatten die Herzöge eine Supplik an den Papst um Gewährung eines Ablasses für die Weisung der Heiltümer am Sonntag nach Jakobi gestellt, die ihnen am 11.-Juli 1391 auch gewährt wurde. 6 Diese Daten stellen neben dem Traktat des Johannes von Gubbio, von dem weiter unten die Rede sein wird, die ersten historisch gesicherten Erwähnungen des Andechser Heiltums dar. Einige Schenkungen, die in den kommenden Jahren folgten, lassen vermuten, dass spätestens seit der Schatzauffindung mindestens ein Priester ständig auf dem Andechser Berg tätig war. Von der Existenz eines früheren Klosters auf dem Andechser Berg gibt es aber nicht die mindeste historische Spur, auch wenn dies in den verschiedenen Klosterchroniken immer wieder behauptet wurde. Die Münchner Herzöge hatten aber noch andere Beweggründe, sich das Andechser Heiltum zu sichern. Die Erben Ludwigs des Bayern waren von König Karl-IV., dem späteren Kaiser, im Jahre 1350 politisch unter Druck gesetzt worden, die Reichsinsignien herauszugeben. Diese hatten sie in ihrer Münchner Residenz verwahrt als Repräsentanz kaiserlicher Macht des Hauses. Kaiser Karl-IV. demonstrierte noch dazu in den folgenden Jahrzehnten die Bedeutsamkeit und den Symbolwert der Insignien. Er verstand es, wie kein Herrscher vor oder nach ihm, mit ihnen seine Herrschaft metaphysisch zu erhöhen und ihr überirdische Bedeutung zu verleihen. Es ist darum gut nachvollziehbar, dass die Enkel Kaiser Ludwigs des Bayern schnell reagierten, um sofort nach der Auffindung der Andechser Heiltümer ihren Anspruch auf den Reliquienschatz anzumelden. Dieser bot Parallelen zu den Reichsinsignien, wie das Siegeskreuz Karls des Großen, diesem überaus politischen und gesellschaftlichen Symbol. Die noch nicht verwundene Herausgabe der Reichsinsignien an den Nachfolger Kaiser Ludwigs des Bayern nur eine Generation zuvor schien für die Münchner Fürsten das Motiv zu sein, schnell und effektiv zu handeln. Die Möglichkeit der Aufwertung ihres Hauses, die sich hier bot, scheint ihnen schnell klar geworden zu sein. Was für die Reichsheiltümer galt, hatte auch Bedeutung auf anderen Ebenen der Macht und der Herrschaftsausübung, wie Harmut Kühne in seinem wegweisenden Werk ostensio reliquiarum nachweist. 7 In München hatte man inzwischen den päpstlichen Legaten, den Dominikaner-Theologen Johannes von Gubbio, der sich gerade in Deutschland aufhielt, um ein Gutachten gebeten. Mit der Autorität des bei Papst Bonifaz IX. (1389- 1404) in hohem Ansehen stehenden Theologen sollten die Ansprüche der bay- 5 Vgl. Alois Schütz, Legende und Wahrheit: der Andechser Heiltumsschatz (1993) S.-171, Anm. 36, der auf die Widersprüche hinweist, welche die späteren Überlieferungen bezüglich dieses Vorganges aufweisen. 6 BayHStA Andechs KU 4. Vgl. auch Benedikt Kraft, Andechser Studien 2 (1940) S.-39. 7 Hartmut Kühne, Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (2000). Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 121 erischen Herzöge rechtlich untermauert werden. 8 Dabei wurden nicht nur die Gründe dargelegt, die für die Echtheit des Fundes sprachen, sondern gleichzeitig die Verdienste des wittelsbachischen Hauses um die christliche Religion hervorgehoben. Gott habe die Bayernherzöge mit dem aufgefundenen Sakrament 9 ausgezeichnet. Der Allmächtige zeige sich seinen Auserwählten einzigartig im Altarssakrament und habe auf Rat des Hl. Geistes beschlossen, durch gewisse, deutlich erkennbare Zeichen, in diesem Sakrament sichtbar zu bleiben. Dieses neue Zeichen seiner andauernden Präsenz würde mit dem Fund des Andechser Heiltums glorreiche Wunder aufzeigen. Damit hätte Gott nicht nur seine auserwählte Kirche ausgezeichnet, sondern auch das erlauchte Haus Bayern, das die ehrwürdigsten Kaiser und Herzöge hervorgebracht habe. Bemerkenswert ist der Superlativ des Nuntius, dass das, was er in München vorfand, ohne Zweifel wundersamer sei, als alles, was bisher an Wundern in den christlichen Ländern gezeigt wird. 10 Es folgt die Legende von der Gregorsmesse, die in verschiedenen Fassungen seit der Legenda aurea des Jacobus de Voragine aus dem Jahre 1264 in verschiedenen Fassungen in ganz Europa kursierte, eine volkstümliche und erbauliche Sammlung von Legenden über Heilige, die von der Kirche anerkannt ihren Platz im Kalender des Kirchenjahres hatten. Mit seinem Bericht über die lange glänzende Vorgeschichte der Reliquien, den der päpstliche Legat den Herzögen erstattete, schuf Johannes von Gubbio die Grundlagen für die Verehrung der Reliquien. Der Traktat sollte einen doppelten Zweck erfüllen, nämlich die Echtheit der Andechser Reliquien erweisen und die Wittelsbacher Herzöge verherrlichen. Von Ebersberger Ansprüchen auf die Heiltümer war nicht mehr die Rede. Man konnte das Gutachten also den päpstlichen Behörden vorlegen. 11 8 Der Dominikaner war bis Ende 1393 als päpstlicher Legat und Kreuzzugsprediger in Oberitalien und im südöstlichen Deutschland tätig; als terminus ad quem für die Abfassung des Traktats steht der Tod des Herzogs Friedrich am 4.- Dezember 1393. Johannes spielte unmittelbar darauf eine bedeutende politische Rolle im Südosten des Reiches und in Oberitalien, wie die an ihn gerichteten Schreiben von P. Bonifaz IX. beweisen. 9 Johannes von Gubbio bezeichnet das aufgefundene Andechser Heiltum immer nur als sacramentum. 10 Siehe den Originaltext bei Albert Brackmann, Die Entstehung der Andechser Wallfahrt (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1929) S.-23-27 sowie im Anhang Nr. 1. 11 Brackmann, Wallfahrt (wie Anm. 10) S.-11-f.; Alois Schütz, Der Andechser Heiltumsschatz, in: Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter. Katalog zur Landesausstellung, hg. von Josef Kirmeier/ Evamaria Brockhoff (1993) S.- 165-187, hier S.- 160-180; Kraft, Studien (wie Anm. 6) S.- 8 f., der hervorhebt, dass der Traktat des Johannes von Gubbio sowohl als autoritäre Empfehlung der gefundenen Reliquien, wie als Verherrlichung der Reliquien im Zusammenhang mit dem Plan der finanziellen Nutzbarmachung der Heiltümer stand. 122 Toni Aigner Die Präsentation der zur Verehrung frei gegebenen Andechser Heiltümer fand zwar nicht sofort nach dem Fund, dafür aber umso wirkungsvoller statt. Papst Bonifaz-IX. (1389-1404) hatte für das Jahr 1392 einen Ablass für die Feier eines Heiligen Jahres in München gewährt. Die Weisung der Andechser Heiltümer in der Stadt bot dafür den Anlass, das Jubeljahr begann am 17.- März 1392 und dauerte bis zum 1.-August (a tercia dominica Quadragesime usque ad octavam Jacobi apostoli maioris). Herzog Stephan III., zur Zeit der Auffindung des Schatzes Münchner Stadtherr, hatte 1390 in Rom das große Jubeljahr miterlebt und strebte, auf Grund der hervorragenden Beziehungen zum Papst, für München dessen Wiederholung an. Wer aus triftigem Grund an der Romfahrt verhindert war, konnte im Münchner Gnadenjahr des Segens einer Romfahrt teilhaftig werden. Unter der Auflage des Besuchs von vier Münchner Kirchen - St. Peter, Unsere Liebe Frau, Heilig- Geist-Kirche und St. Jakob -, Beichte und Absolution sowie der Opferung des Betrages, den eine Romfahrt gekostet hätte, wurde den Pilgern ein vollkommener Ablass erteilt. Zuerst hatte man fünfzehn Beichtväter bestellt. Es kamen aber so viele Pilger, selbst aus Österreich und den slawischen Ländern, dass zum Welt- und Ordensklerus der Stadt noch weitere 40 auswärtige Geistliche bestellt werden mussten. Jede Woche wurden die Heiltümer dreimal gezeigt. 12 Der zeitgenössische Augsburger Chronist Burkard Zink vermerkt kritisch und nicht ohne einen gewissen Neid 40.000 Pilger pro Tag und gewaltige Einnahmen. Es sei kein Tag vergangen, an dem nicht ein Augsburger Metzen voll Regensburger Münzen geopfert worden sei, denn Jedermann wolt gen hyml. 13 Die eingegangenen Opfergelder waren je zur Hälfte für das Heilig-Geist-Spital in München und Rom zur Finanzierung der dortigen vier Jubiläums-Basiliken bestimmt. Obwohl dieses Heilige Jahr mit einem jahrelangen Streit und der Exkommunikation von Münchner Räten wegen nicht abgeführter Abgaben an den Papst 12 Sigmund von Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 3: 1347 bis 1508 (1889; ND 1964) S.-834- 836. 13 Es ist ze merken, daß sovil pilgerin kamen von verre und von nahe, die den abloß suechten, daß man sagt, daß oft auf ain mal 40 tausent menschen wern. man mueßt 7 tag da beleiben, und alltag in 4 kirchen gan und ir almuessen darinnen laßen. und sol man wißen, daß die benedicier groß und vil gelts auflegten, darnach und der man reich oder arm was, und darnach sy statt funden an den Leutten. es was alles nur um das gelt zu tuen. man sagt fürwar, daß von pfingsten biß auf Jacobi kain tag nie kam, es wurd ain Augsburger metz Regensburger [Pfennige] da gelaßen und gegeben, dann iederman wolt gen himl. Chronik des Burkard Zink. 1368-1468, hg. von. C. Hegel (Die Chroniken deutscher Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 5: Augsburg 2, 1866 [unv. ND 1965]) S.-45 (zum Jahr 1392). Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 123 124 Toni Aigner endete, beeinflusste es sicherlich die Entwicklung der Stadt München und trug zum Aufstieg als letzlich definitive Residenzstadt des Hauses Bayern bei. 14 All diesen Quellen gemeinsam ist, dass nie von dem unermesslich kostbaren Heiltumsschatz der späteren Heiltumslegende die Rede ist, sondern nur von divinissima sacramenta 15 und keinerlei Aussage über die Zusammensetzung des Heiltumsschatzes getroffen wird. Eigenartig ist auch, dass nicht einmal im Münchner Heiligen Jahr 1392 der Schatz beschrieben wurde. Die ersten Quellen, die zuverlässig Umfang und Zusammensetzung des Heiltumsschatzes bieten, sind die Münchner Stadtrechnungen der Folgejahre. Solange das Andechser Heiltum in der herzoglichen Lorenz-Kapelle des Alten Hofes aufbewahrt wurde, wurde es jeweils zum Andechser Kirchweihfest um Michaeli in feierlichem Zug nach Andechs gebracht und dort ausgestellt. Die Schützen, also die bewaffnete Bewachung, die den Transport begleiteten, mussten entlohnt werden. Dabei ist von drei oder vier Wagen die Rede, die benötigt wurden und deshalb geschützt werden mussten. 16 Das zeigt deutlich, dass aus dem bescheidenen Andechser Fund des Jahres 1388 in wenigen Jahren etwas ganz anderes wurde, etwas viel Aufwändigeres und Bedeutenderes. Der Andechser Heiltumsschatz nahm erst im Jahre 1392 die Form und den Umfang an, den er - mit vielen Erweiterungen - bis zur Säkularisation besaß. Die Münchner Herzöge hatten das Andechser Heiltum mit ihren eigenen Schätzen und Kostbarkeiten zu einem repräsentativen Staats- und Familienschatz ausgebaut, offensichtlich für die Weisung im Heiligen Jahr, wobei die drei Bluthostien immer den zentralen Bestandteil des Schatzes bildeten. Dieses Anwachsen des Heiltumsschatzes von einigen wenigen Objekten auf einen Schatz, der drei Wagenladungen umfasste, kann nur dadurch entstanden sein, dass die Münchner Herzöge große Teile ihres eigenen Staatsschatzes 17 in das Andechser Heiltum integrierten. Den Heiltumsschatz hatten die Herzöge seit der Überführung nach München in ihrer Schatzkammer verwahrt. Ausnahmen wurden nur für die alljährlichen Wallfahrten nach Andechs gemacht, bei denen der Schatz mitgeführt wurde. Zurück in der Münchner Residenzkirche wurden die Heiltümer, laut einem Ab- 14 Vgl. Georg Schwaiger, Monachium Sacrum (2000) S.- 60; sowie Kraft, Studien (wie Anm. 6) S.-148-154. Die Quellenlage zu diesen Auseinandersetzungen ist äußerst dürftig. Es ist schwer nachvollziehbar, was wirklich geschah. 15 Brackmann, Wallfahrt (wie Anm. 10) S.-26-f. 16 Helmuth Stahleder, Chronik der Stadt München 1: Herzogs- und Bürgerstadt: die Jahre 1157-1505 (1995) S.-174. 17 Es ist problematisch, den Begriff Staatsschatz im Spätmittelalter zu verwenden, weil es noch keinen Staat in unserem Sinne gab. Trotzdem wird er hier benutzt, um aufzuzeigen, dass es sich um mehr als einen Familienschatz handelte. Gewisse staatliche Elemente deuteten sich schon an und wurden vorweg genommen. Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 125 lassbrief des Freisinger Bischofs aus dem Jahre 1407, regelmäßig bei feierlichen Anlässen gezeigt. 18 Im Jahre 1413 ist zum letzten Mal ein Heiltumstransport von München nach Andechs nachgewiesen. In den folgenden Jahren wurden die Reliquien wieder auf dem Berg Andechs, wie er damals noch hieß, verwahrt 19 , wie es jedenfalls die Münchner Chronik anführt. Der Heiltumstransport von 1413 ist auch noch wegen einer Änderung bedeutsam: Zum ersten Mal fand dieser am Mittwoch vor Christi Himmelfahrt und nicht am Michaelstag statt - abweichend von den früheren Jahren. Der Grund für den neuen Termin für die Weisung des Heiltums, bei dem es in der Folgezeit bleiben sollte, ist nicht bekannt. 20 In den Jahren zwischen 1413 und 1420 hatten Herzog Ernst und sein Bruder und Mitregent Wilhelm III. das Andechser Heiltum wieder auf den Andechser Berg gebracht. Dass der Heiltumsschatz sich seit dieser Zeit wieder in Andechs befand, belegen zwei Einträge der Münchner Stadtkammer, die am 24. August 1420 einen Heiltumstransport von Andechs nach München verbuchten - in umgekehrter Richtung wie bei den Wallfahrten seit dem Michaelitag 1396. Auf drei Wägen wurde der Heiltumsschatz nach München gebracht zu einem Zweck, der uns nicht bekannt ist - höchstwahrscheinlich einer Weisung der Heiltümer aus einem besonderen Anlass. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das 1388 in Andechs gefundene Heiltum, der Andechser Chronik nach, zunächst ins Kloster Ebersberg gebracht wurde und von dort um den Nikolaustag 1389 in die Münchner Residenzkapelle. Dort erfolgten die ersten uns bekannten Weisungen, wie die erteilten Ablässe zeigen. Es handelte sich also um einen Heiltumsschatz, der fast von Anfang an der Verfügungsgewalt der Münchner Herzöge unterstand und ihre Herrschaft repräsentierte. Gesichert ist in dieser Zeitspanne die Auffindung der Bluthostien. Diese bilden das Zentrum des Heiltumsschatzes, von dem in allen Dokumenten die Rede ist, wenn auch nur als sacramentum. Erst im Münchner Heiligen Jahr 1392 scheint er die Größe und Zusammensetzung erreicht zu haben, die er, von gewissen Ergänzungen abgesehen, der Heiltumslegende entsprechend, aufwies. Erst in den zwanziger Jahren des 15.-Jahrhunderts brachten die Münchner Herzöge den Heiltumsschatz endgültig nach Andechs zurück. Eine Klostergründung, die bald nach dem Heiltumsfund geplant war, konnte erst im zweiten Anlauf dauerhaft realisiert werden. In Folge dieses Schatzfundes 18 Vgl. Kraft, Studien (wie Anm. 6) S.-42 sowie S.-163. 19 Der Begriff Heiliger Berg ist für diese Zeit noch nicht nachweisbar, er ist im Jahr 1448 erstmals belegt. 20 Die Stadtkammer rechnete ab: Item wir haben geben 1 lb. d. dem Rietmair, das er die schüczen gefürt hat gen Andex mit dem hailligtum vigilia Ascensionis domini anno [14]13, Stahleder, Chronik (wie Anm. 16) S.-237. 126 Toni Aigner und der Wittelsbacher Klostergründung, eines jungen, vorbildlichen Reformklosters, wurde der verlassene Andechser Burgberg rasch zum Heiligen Berg und Ziel einer außerordentlich beliebten Wallfahrt, die vor allem nach München und Augsburg, aber auch weit in das Schwäbische und nach Tirol und Böhmen ausstrahlte. Diese letzte mittelalterliche Gründung eines Prälatenklosters in Altbayern sollte eine wichtige Rolle nicht nur in der Kirchen- und Klosterreform des 15.- Jahrhunderts, sondern auch in der Territorialpolitik der Wittelsbacher Herzöge spielen. Für die Münchner Herzöge und späteren Kurfürsten wurde der Andechser Heiltumsschatz ein Familien- und Staatsschatz, der im Wesentlichen die Säkularisation des Klosters überlebte und in der nachfolgenden Klostergründung bis heute noch verehrt wird. Das alles war der Wilsnacker Wallfahrt nicht beschieden - obwohl sie in den 170 Jahren ihrer Existenz das Ziel einer der größten Wallfahrtsbewegungen des Spätmittelalters bildete. Abbildung 1: Wilsnack, St. Nikolaus, Wunderblutschrein-Außenseite mit Gregorsmesse (Ausschnitt) Wilsnack, mit seiner Wunderblutkapelle, dem eigentlichen Ursprung des Kirchengebäudes, wurde zum zentralen Wallfahrtsort in Nordeuropa mit seinem bedeutendsten Kunstwerk, dem Wunderblutschrein, der aus der Mitte des 15.-Jahrhunderts stammt. Die Türen des hölzernen Schreins sind beidseitig be- Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 127 malt, sie zeigen außen die Gregorsmesse mit der Vision von Papst Gregor dem Großen bei der Feier der Messe (Abbildung 1). Der Ort, der auf den Ansturm der Pilgermassen von 1384 bis 1390 mit dem Bau einer ersten Wallfahrtskirche und ab 1450 dem Neubau der Kirche im Stil der norddeutschen Backsteingotik reagierte, wurde zu einem der fünf bedeutendsten Wallfahrtsziele des christlichen Abendlandes. Wie zu anderen Wallfahrtsorten in Europa so entstanden auch in Richtung Wilsnack regelrechte Pilgerstraßen. Bekannt ist der Weg, den die skandinavischen Pilger vor sich hatten, wenn sie in Lübeck ihre Schiffe verließen, um den Rest des Weges zu den Wunderhostien zu Fuß fortzusetzen, oder der 130 km lange Heilige Blutweg von Berlin aus. Ob es die Hunderttausende einfacher Menschen waren, besorgt um ihr seelisches und körperliches Heil, fromme Könige, Fürsten und Adelige, zur Wallfahrt verurteilte Mörder oder nur reiselustige und neugierige Menschen: Sie alle pilgerten in die Mark Brandenburg im äußersten Norden des Reiches zum Wilsnacker Wunderblut. Allerdings gab es auch Gegenbewegungen. Gegen den üppig wuchernden Wunderglauben machten schon sehr bald die Prager Reform- und Kirchenkreise, unterstützt von Universitätskreisen, Front. Brandenburg gehörte damals zum Königreich Böhmen. Der Prager Erzbischof Zbynko von Hasenburg untersagte sämtliche Pilgerfahrten nach Wilsnack. Jan Hus bestritt die Existenz von Christi Blut auf Erden in seinem Traktat De sanguine Christi glorificato. 21 In München war es nach dem enormen Aufsehen im Heiligen Jahre 1392 auffallend ruhig geworden um den Andechser Heiltumsschatz. Vielleicht waren es die engen Verbindungen zur böhmischen Hauptstadt, wo die Wittelsbacherin Sophia, Gemahlin König Wenzels, die Jan Hus sehr nahe stand, auf dem Königsthron saß. Ihre Brüder, die beiden Münchner Herzöge Ernst und Wilhelm IV., waren in der Zeit öfter in Prag, ihr Neffe und späterer Herzog Albrecht III. wurde an ihrem Hof erzogen. Um die Wilsnacker Bluthostien entspannte sich im Jahre 1412 und vor allem in den Jahren nach 1443 eine leidenschaftliche und offen geführte theologische Diskussion über die Existenz reliquiaren Blutes Christi auf Erden, geführt vor allem vom Magdeburger Domherr Heinrich Tocke, der sich im Konzil von Basel mit einigen Schriften zur Kirchenreform hervor getan hatte. In seiner schriftlichen Stellungnahme zu dem in den Wilsnacker Mirakelbüchern verzeichneten Wunder, deren Wahrheitsgehalt er bezweifelte, formulierte er in dreißig Artikeln seine Bestürzung. Dieser Götzendienst würde nur die Habgier der Wilsnacker Geistlichen und der Einwohner des Städtchens befriedigen. Man lüge der ganzen Christenheit vor, es seien dort Blutstropfen, wo absolut nichts sei. 21 Hridina, Wilsnack und Böhmen (wie Anm. 4) S.-163-168. 128 Toni Aigner Die Gegenposition nahmen, als Verbündete des Havelberger Bischofs, scharfzüngig zwei Franziskaner-Konventualen ein. Die große Politik beendete diese Auseinandersetzung. Der Landesherr, der Brandenburger Kurfürst Friedrich II. versuchte, alle Anfeindungen gegen das Heilige Blut abzuschirmen. Er sandte einen dieser Franziskaner nach Rom, um in dieser Gelegenheit an Papst Eugen IV. zu appellieren. Der Hohenzoller war auf dem besten Weg das landesherrliche Kirchenregiment zu erlangen. Er zählte zu den finanziellen Nutznießern der Wilsnacker Wallfahrt und nahm Anleihen bei dem godshuse tor Wilsznack. Es zahlte sich aus, dass er, nach dem Scheitern des Basler Konzils, sich wieder der römischen Oboedienz anschloss. Er wurde dadurch der wichtigste Förderer Wilsnacks, denn als Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches konnte er auf höchster Ebene Einfluss nehmen. Zu seiner Zeit fanden Fürsten- und Städtetage in dem kleinen Dorf statt. Am 2.- Januar 1447 versprach Papst Eugen IV. allen Besuchern und Wohltätern des Heiligen Blutes großzügigen Ablass und genehmigte damit amtlich die Wallfahrt. Die Magdeburger Seite gab aber nicht nach. Der Erzbischof und sein Domherr holten weiterhin Universitätsgutachten ein, die ihre Position untermauern sollten. Ihre große Zeit kam, als am 5.- Juli 1451 Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464), der wohl bedeutendste Gelehrte des 15.- Jahrhunderts, als päpstlicher Legat für die Kirchenreform, das strikte Verbot erließ, Bluthostien zu zeigen und von ihnen ausgehende Wunder zu verkünden. Bei Zuwiderhandlung drohte der Kirchenbann. Auf seiner langen Legationsreise hatte der Kardinal sich bei zahlreichen Predigten leidenschaftlich für eine tief greifende Erneuerung der Kirche und eine strengere Kirchen- und Klosterdisziplin eingesetzt. Massiv schritt er ein gegen Aberglauben, betrügerischen Reliquienhandel und die Verehrung von Bluthostien. Am Heiligen Berg Andechs - so wird er seit 1448 in Dokumenten genannt - verlief die theologische Diskussion einvernehmlicher. Von 1422-1430 baute der Wittelsbacher Herzog Ernst in der damaligen Waldeinsamkeit eine große, gotische Kirche zur Betreuung der Wallfahrt. Kurz vor seinem Tod, im Jahre 1438, stiftete er noch ein Chorherrenstift. Sein Sohn Albrecht-III., der nicht umsonst den Beinamen der Fromme trug, plante, es im Sinn der Kirchenreform in ein Benediktinerkloster umzuwandeln Diese Entscheidung fiel in engem Zusammenwirken mit Kardinal Nikolaus von Kues. Dessen Aufenthalt in München im März 1451 nutzte Herzog Albrecht für seinen Vorschlag zur Gründung eines Benediktinerklosters in Andechs. 22 Dem Besuch des Kardinals in der Fastenzeit 1452 in Andechs kam 22 Der erste Besuch des Cusanus in Andechs wird meist auf das Jahr 1451 datiert. Vgl. u. a. Kraft, Studien (wie Anm. 6) S.-207-f. Meuthen bestreitet aber den Besuch in Andechs schon im Jahr 1451 mit guten Gründen. Die Terminnot dieser Tage ließe dies unwahrscheinlich erscheinen. Nikolaus von Kues sei mehrmals in Andechs gewesen, das erste Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 129 die entscheidende Rolle zu. Bei einer Ablehnung der Andechser Hostien durch den päpstlichen Legaten hätte auch das Klosterprojekt Schaden erleiden können. Eine zeitgenössische Schilderung berichtet, dass der Kardinal zuerst ausgiebig in der Kirche gebetet und dann sorgfältig die ihm gezeigten Reliquien betrachtet habe, besunder das fronsacrament in den drein wunderlichen hosti, während der Herzog im Hintergrund stand und begierig auf die Reaktion wartete. Nachdem hueb an der guet andächtig Bischof und Legat ze loben und preysen seinen [d. h. des Herzogs] gueten willen und fürsatz. 23 Nikolaus von Kues sagte also offenbar kein einziges Wort über die Hostien, sondern lobte Albrecht überschwänglich für seinen Plan der Klostergründung. Die Hostien sowie zwei Pergamentauthentica in ihrem bleiernen Behälter nahm er mit nach Rom, um sie dem Papst vorzulegen. Dessen Ablassurkunde für Andechs vom 13.- April 1453 war gewiss vom Bericht des Kardinals bestimmt. Mit größter Wahrscheinlichkeit besuchte Nikolaus Andechs auch im Herbst 1453. Er übergab dort nicht nur die Ablass- und Bestätigungsbulle des Papstes, sondern auch die darin genannte Bleikapsel mit den Hostien. Der Papst hatte, im Gegensatz zu anderen Fällen, die Verehrung der Andechser Reliquien gestattet und der Errichtung eines Benediktinerklosters zugestimmt. 24 Das konnte nur auf der Basis eines günstigen Berichts des Kardinals geschehen. Dabei fällt auf, dass die drei Hostien im Text der Ablassbulle zwar genannt werden, aber nicht an vorderster Stelle und auch nicht mit besonderer Betonung. Vielmehr wird hervorgehoben, dass unter allen Reliquien diejenigen des Herren stets die größte Verehrung verdienten. Nikolaus von Kues bezieht sich ausdrücklich auf die Dornenkrone Christi, die zum Andechser Heiltum gehört. In einem späteren Brief an die Tegernseer Mönche umgeht Nikolaus jede Andeutung, dass es sich bei den Andechser Hostien um Bluthostien handelt, sondern bezieht sein Hauptargument aus der Gewissheit, dass sie tatsächlich geweiht waren, ihre Verehrung also keinen Götzendienst darstellen konnte und dass sie in alten Schriften bezeugt seien. 25 Mal aber erst im Jahre 1452, siehe Erich Meuthen, Nikolaus von Kues und die Wittelsbacher, in: Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag, hg. von Pankraz Fried/ Walter Ziegler (1982) S.-95-113, hier S.-101-105. S.a. Brackmann, Wallfahrt (wie Anm. 10) S.-20; Kurt HOGL, Andechs, Bayerns Heiliger Berg (1969) S.-67; Claudia Märtl, Herzog Albrecht III., Nikolaus von Kues und die Gründung des Benediktinerklosters Andechs im Jahr 1455. Festgabe des Freundeskreises Kloster Andechs e. V. aus Anlass der 550. Wiederkehr der Klostergründung (2005) S.-7-f. 23 Märtl, Albrecht III. (wie Anm. 22) S.-16-f.; sowie die Übersicht bei Kraft, Studien (wie Anm. 6) S.-21. 24 Nikolaus-V. hebt die genannte Kirche (sc. Kollegiatskirche) auf und erteilt, auf Bitte Hz. Albrechts, die Erlaubnis zur Errichtung eines Benediktinerklosters. BayHStA, KU Andechs 4; Repertorium Germanicum, S.-13, Nr. 146: 13. April 1453. 25 Märtl, Albrecht III. (wie Anm. 22) S.-17 f. 130 Toni Aigner Abbildung 2: Pilgerzeichen von Wilsnack Abbildung 3: Pilgerzeichen von Andechs Trotz der Zeitnähe der beiden Hostienfunde gab es wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Wallfahrten: In Wilsnack eine explosionsartig einsetzende Wallfahrt (Abbildung-2), organisiert vom örtlichen Klerus und dem zuständigen Bischof - in Andechs ein mehrjähriger Streit um die Besitzrechte des Heiltumsfundes zwischen dem zuständigen Patronatsherren der Kapelle, wo die Bluthostien gefunden worden waren, und dem zuständigen Landesherren. Der Beginn der Verehrung in großem Stil setzte erst vier Jahre nach der Auffindung mit dem Münchner Heiligen Jahr ein. Die Dimension der ungeheuren Wallfahrt, die in Wilsnack sofort einsetzte, konnte so nicht geplant gewesen sein, in Andechs war dies durchaus der Fall (Abbildung 3). Das zeigen die aufwändigen, sorgfältig geplanten und sogar auf historischem Hintergrund ausgerichteten Beigaben zum Hostienfund wie das Brautkleid der hl. Elisabeth, der Enkelin eines Andechser Grafen. Alois Schütz hat im Begleitband der Landesausstellung 1993 in Andechs aufgezeigt, dass es die Ebersberger Mönche waren, die hier eine Fälschung vorlegten, die mit den Mitteln der damaligen Zeit nicht erkennbar war. 26 Ein wesentlicher Unterschied bestand in der Art der Weisung der Heiltümer der beiden Orte. Die Massenwallfahrten, wie sie in Wilsnack anscheinend ganzjährig stattfanden, gab es in Andechs nur eine Woche lang - die Woche um Christi Himmelfahrt, mit Weisung aller Heiltümer, begleitet in den ersten Jahrhunderten von einem Mitglied der Herzogsfamilie, später von einem Delegierten des Kurfürsten. Ein Schlüssel, der den Zugang zur Schatzkammer, der Heiligen Kapelle ermöglichte, wurde in der Münchner Residenz verwahrt. Nur einmal im Jahr, zu Christi Himmelfahrt, wurde er feierlich nach Andechs gebracht, um die Heilige Kapelle zu öffnen. Dem Volk wurden die Heiltümer 26 Alois Schütz, Der Andechser Heiltumsschatz (wie Anm. 11) S.-165-185. Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 131 eine Woche lang mit sechs Hoftrompetern aus München präsentiert. Bei hohen Besuchen musste der Schlüssel für die Schatzkammer aus München geholt werden, auch bei politischen und persönlichen Anliegen der Münchner Fürsten. Das war zum Beispiel dann der Fall, wenn Kurfürst Maximilian-I. während des Dreißigjährigen Krieges den Menschen demonstrieren wollte, dass die Kriegsgefahren gebannt seien oder wenn er um das Gebet für seine mit dem Tod ringende Mutter bat. Die Andechser Heiltümer waren von Anfang an Eigentum des Hauses Wittelsbach - bis zur Säkularisation des Klosters im Jahre 1803 - genau genommen bis heute. 27 Trotz der großen Entfernung, der Unterschiedlichkeit der Funde und der historischen Gegebenheiten gab es einen inneren Zusammenhang zwischen den beiden Wallfahrten. Da ist zum einen die eucharistische Verehrung, der Glaube an die Anwesenheit Jesu Christi, die unzähligen Menschen Hilfe brachte, vor allem in deren Nöten, in ihrem Flehen um Hilfe an den Orten, wo sie annahmen, dass Jesus sich mit seinem Blut zeige. Zum andern wurden beide Heiltümer in den sakralen Dienst vormoderner Herrschaft gestellt. Weltliche Herrschaft wurde seit der Antike mit religiösen Motiven legitimiert. Dafür wurden seit je her verschiedene Strategien entwickelt. Da Macht als göttlichen Ursprungs galt und Herrschaft permanent demonstriert werden musste, spielten Heiltümer eine bestimmende, staatstragende Rolle. Der Besitz oder die enge Beziehung zu Herrenreliquien, in denen Christus sich gezeigt haben soll, sorgte für die erforderliche Außenwirkung. Diese so genannten göttlichen Gnadenerweise schufen Identifikation und Legitimitation. 28 Mit dem Zugriff der Wittelsbacher auf die Heiltümer sofort nach deren Auffindung war das in Andechs geradezu beispielhaft der Fall. Wilsnack gehörte in der Zeit der Auffindung der Bluthostien zum Königreich Böhmen, beherrscht von den Luxemburger Herrschern, die über die Reichskleinodien als Herrscherinsignien verfügten und diese in reichem Maß zur Demonstration ihrer gottgegebenen Macht benützten. Kaiser Karl- IV., der große Reliquienverehrer, der in seinen alten Tagen Tangermünde, in der Nähe von Wilsnack, zu seiner Lieblingsresidenz ausbaute, verschied fünf Jahre vor dem Wilsnacker Hostienfund. Er wäre zweifellos ein prominenter Verehrer der Wunderhostien gewesen. Der jüngste Sohn des Kaisers, Johann von Görlitz, war schon 1391 und 1392 auf seinen Pilgerfahrten vom Wilsnacker Wunder sehr beeindruckt. Wohl davon angeregt, sandte König Wenzel, der Nachfolger des Kaisers, zwischen den Jahren 1391 und 1408 vier Stellvertreterwallfahrten 27 Vgl. Toni Aigner, Religion und Politik im Haus Wittelsbach (2013). 28 Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde (2014) S.-232. 132 Toni Aigner nach Wilsnack. Vermutlich war es ein Ausdruck des Dankes für die Heilung von Krankheiten des Königs. 29 Markgraf Jobst von Mähren, der Inhaber der Markgrafschaft Brandenburg, sorgte 1401 bei Papst Bonifaz IX. für die Bestätigung des Bischofs Otto von Rohr, der den Bau der Wallfahrtskirche in Wilsnack vorantrieb. Auch die Kaiserinwitwe Elisabeth gehörte mit ihrem Hofstaat zu den zahlreichen gekrönten Häuptern, vor allem aus dem Norden Europas, die Wallfahrten zum Wilsnacker Heiltum unternahmen. Nach dem Jahr 1415, als die Mark Brandenburg an die Familie der Hohenzollern kam, waren sie es, welche die Hand über die ertragreiche Wallfahrt hielten. Kurfürst Friedrich II., der sich nicht umsonst zu dieser Zeit in Rom aufhielt, erreichte, dass am 6. März 1453 Papst Nikolaus V. den Spruch seines Legaten Nikolaus von Kues, Exkommunikation und das Interdikt aufhob. Einige Wochen später wurde in Rom eine Ablassbulle und die schon oben erwähnte Einwilligung der Umwandlung des Andechser Chorherrenstifts zu einem Benediktinerkloster unterzeichnet. Dieser offensichtliche Zusammenhang der kirchenamtlichen Bestätigungen der beiden Wallfahrtsorte gibt Anlass, die Zeit des letzten Aktes der Wallfahrt zu den Wilsnacker Bluthostien und den Andechser Heiltümern zu betrachten. Unter der Obhut der Brandenburger Kurfürsten florierte die Wilsnacker Wallfahrt bis um das Jahr 1500. Hier dürfte ein gewisser Rückgang der Pilger wegen der Konkurrenz vieler neuer Wallfahrtsorte zu verzeichnen gewesen sein. Aber das reformatorische Gedankengut, das sich im 16.-Jahrhundert ausbreitete, war hier kaum spürbar, weil Kurfürst Joachim-I. (1499-1535) versuchte, es zu unterdrücken, sogar über die eigene Lebenszeit hinaus. Seine Söhne verpflichtete er testamentarisch, der römischen Kirche die Treue zu halten. Sein Nachfolger Joachim-II. Hector (1535-1571) teilte auch die Leidenschaft seines Onkels, des Kardinals Albrecht von Mainz, für das Sammeln kostbarer Reliquien und heiratete die streng katholische Königstochter Hedwig. Obwohl er im Herzen Katholik blieb, empfing er am 1.-November 1539 das Abendmahl nach protestantischem Ritus. Er leitete damit eine neue Kirchenordnung ein, die den größten Teil des Kirchenbesitzes in landesherrliches Eigentum umwandelte. Das Bistum Havelberg, zu dem Wilsnack gehörte, widersetzte sich dem, weshalb der Übertritt für die Wallfahrt vorerst wenig Auswirkung hatte. Die große Zäsur erfolgte am Morgen des 28.-Mai 1552, als der protestantische Priester Joachim Ellefeld die drei Bluthostien verbrannte. Die Wallfahrten erfuhren aber kein abruptes Ende, denn altkirchliche Traditionen bestanden unter dem neuen Bekenntnis noch für geraume Zeit fort. Letztlich war aber die Zeit der Wallfahrten zu Ende: 29 Hrdina, Wilsnack und Böhmen (wie Anm. 4) S.-163-165. Der Fund der Wilsnacker Bluthostien und des Andechser Heiltums 133 Aus der einstigen Wallfahrtsstadt Wilsnack wurde ein unbedeutendes Landstädtchen. Im Dreißigjährigen Krieg wurde es, von Söldnerheeren verwüstet, durch Hunger und Seuchen dezimiert. 1632 wohnten hier noch zweiundsiebzig Menschen. 30 Am Heiligen Berg Andechs wurde, wie schon erwähnt, nach den Regeln der Kirchenreform 1455 mit Unterstützung von Nikolaus von Kues, ein Benediktinerkloster gegründet. Es war bis zum Bau der Münchner Kathedrale, der Frauenkirche, Hauskloster der Münchner Herzöge und ihre Begräbnisstätte. Bald erlebte es mit seiner populären Wallfahrt eine geistliche und wirtschaftliche Blüte. Aber schon 1519 trafen die Thesen Martin Luthers das junge, relativ kleine Kloster. Die Lehren Luthers wurden im Reich größtenteils mit Begeisterung aufgenommen, intendierte er doch keine Spaltung der Kirche, sondern eine umfassende Reform. Deshalb ist anzunehmen, dass die Thesen Luthers in dem Reformkloster, das sechzig Jahre zuvor, bereits seit seiner Gründung, verschiedene seiner Forderungen erfüllt hatte, auf offene Ohren stießen. Die Erschließung der Schrift durch oratio, meditatio und tentatio, wie Luther sie forderte, sowie seine Demutstheologie dürften für die Andechser Mönche eine Selbstverständlichkeit gewesen sein. Aber bereits Anfang der zwanziger Jahre des 16.- Jahrhunderts wurden in Bayern die Reformvorschläge Luthers abgelehnt, verboten und verfolgt. Nach einem halben Jahrhundert des Aufbaus und der Blüte geriet das Reformkloster Andechs in den Sog der Glaubensspaltung. Die Festlegung auf die Bewahrung des katholischen Glaubens wurde zunehmend zum Hauptbestandteil der gesamten Politik. Die mit den Lehren Luthers sympathisierenden Mönche mussten sich entscheiden. Beharrten sie auf ihrer Haltung, so blieb nur das klammheimliche Verschwinden aus dem Kloster und dem Herzogtum. Das scheint für ein Drittel des Konvents in Andechs der Fall gewesen zu sein. Quellen gibt es keine, weil sie vernichtet wurden. In den Ephemerides Andecenses, der Andechser Klosterchronik, wurden die Blätter, welche die Jahre 1518 bis 1523 betreffen, herausgerissen. Das Kloster wurde in den allgemeinen Niedergang hineingezogen, der für die Entwicklung des kirchlichen Lebens im Herzogtum Bayern bis zur Mitte des 16.-Jahrhunderts kennzeichnend ist. 31 In der Andechser Chronik wird diese Zeit bis zum Amtsantritt von Abt David Aichler 1588 als das dunkle Jahrhundert bezeichnet. 30 Anne-Katrin Ziesak, Das Ende der Wallfahrten zum Heiligen Blut, in: Kühne/ Ziesak, Wilsnackfahrt, (wie Anm. 1) S.-197-209. 31 Alois Schmid, Zwischen Reformation und Aufklärung, in: Andechs. Der heilige Berg. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, hg. von Karl Bosl/ Odilo Lechner u. a. (1993) S.-64- 74, hier S.-64. 134 Toni Aigner Die kritischste Phase dieser Zeit dürfte wohl die Zeit des Bauernkrieges gewesen sein. Man kann sich das Entsetzen und die Angst gut vorstellen, die am Heiligen Berg um sich griff, als man erfuhr, dass die Niederallgäuer Bauern am 11.-Mai 1525 das nur eine Tagesreise entfernte Kloster Steingaden geplündert, Altäre und Taufsteine zerbrochen, die Heiltümer auf die Erde verstreut und mit Füßen getreten und zuletzt Kirche und Klostergebäude niedergebrannt hatten. 32 Auch in Tirol, dem Andechs durch seine vielen Wallfahrer eng verbunden war, brach am 10.-Mai der blutige Aufstand aus. Dass an dem in Andechser Sichtweite gelegenen Hohen Peißenberg die Rottenbucher und Steingadener Bauern sich sammelten und den schwäbischen Bauern entgegentraten, war in Andechs sicher genau registriert worden. Die Angst vor solchen Rebellionen verfestigte die bayerische Politik, keine Reformen zuzulassen und konsequent den alten Glauben zu verteidigen. Im Rückblick auf diese brisante, dornige und kritische Zeit in der Geschichte des Klosters fällt die außerordentlich schwierige Personallage in den Jahren zwischen 1521 und 1588 auf: Sieben Äbte wurden in dieser Zeit entweder vom Konvent gewählt oder vom Herzog bestimmt, fünf Administratoren ernannt. Ein Konvent, der meist zwischen sechs und acht Konventualen umfasste, sicherte nicht recht viel mehr als das Überleben des Klosters. 33 Aber nicht einmal das war eine Selbstverständlichkeit. Allein im Heiligen Römischen Reich hatte der Benediktinerorden im Verlauf der Glaubensspaltung weit über hundert Männer- und Frauenklöster verloren. 34 Zweifellos hat aber der Münchner Hof sich der personellen Probleme seines Hausklosters angenommen. Die Münchner Herzöge hatten über ihrem Hauskloster mit seinem Heiltumsschatz, das sich von den Folgen der Glaubensspaltung nur schwer erholte, die Hand gehalten und verhindert, es aufzugeben. Der Münchner Hof stützte es, bis um das Jahr 1600 ein neuer Aufbruch und neue Blüte erfolgte, die bis zur Säkularisation im Jahre 1803 anhielt. Die Thesen Luthers, die Glaubensspaltung, traf beide Wallfahrten, Andechs sogar sehr viel früher als Wilsnack. Es waren letztlich die jeweiligen Landesherren, die das Schicksal der beiden Wallfahrtsorte entschieden. 32 Sigmund von Riezler, Geschichte Baierns. Bd. 4: 1508 bis 1597 (1899; ND 1964) S.-139 f. 33 P. Magnus Sattler, Chronik von Andechs (1877), S. 232-293. 34 Dieter J. Weiss, Katholische Reform und Gegenreformation. Ein Überblick (2005). Rom - Jerusalem - Wilsnack 135 Rom - Jerusalem - Wilsnack Die Pilgerfahrt des Markgrafen Friedrich-II. von Brandenburg und die Rettung der Wilsnacker Wallfahrt Hartmut Kühne In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Wallfahrt nach Wilsnack durch eine grundsätzliche theologische Kritik in ihrer Existenz bedroht. Die zunächst im Kreis universitär gebildeter Theologen diskutierten Bedenken fanden im Magdeburger Erzbischof Friedrich- III. von Beichlingen (reg. 1445-1464) und schließlich auch in dem päpstlichen Legaten Nikolaus von Kues (1401-1464) machtvolle Anwälte, die ein kirchliches Verbot der Wilsnacker Wallfahrt durchzusetzen versuchten. Dass sie dennoch bestehen blieb, ist dem Eingreifen des Brandenburgischen Landesherren Friedrich II. geschuldet, der schließlich persönlich an der Römischen Kurie zugunsten „seiner“ Wallfahrt intervenierte. Dieses Faktum wurde lange Zeit ignoriert. Angesichts des schlechten Rufes, dessen sich Wilsnack im später protestantischen Brandenburg-Preußen erfreute, hatte die landeshistorische Forschung „mit einer gewissen Scheu das Eingeständnis zu vermeiden gesucht, daß die Parteinahme des Fürsten die Hauptursache für das Weiterbestehen der Wunderstätte zu einer Zeit wirklicher Gefahr für ihre Existenz gewesen ist.“ 1 So formulierte es der Historiker Bruno Hennig 1906. Er hatte kurz zuvor eine bahnbrechende Untersuchung zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments in Brandenburg vorgelegt. 2 In den Zusammenhang der von ihm erforschten Verdichtung oder „Verstaatlichung“ der Landesherrschaft durch den strukturellen Zugriff auf kirchliche Ämter und Angelegenheiten ordnete Hennig auch das Engagement des Markgrafen Friedrich II. zugunsten Wilsnacks ein. Die Motive des Landesherren seien „vielleicht nicht lediglich finanzieller, sicherlich aber auch nicht rein religiöser Natur“ gewesen. 3 Schon gar nicht sei es um Fragen der persönlichen 1 Bruno Hennig, Kurfürst Friedrich II. und das Wunderblut zu Wilsnack, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 19 (1906) S.-391-422, hier S.-75. 2 Bruno Hennig, Die Kirchenpolitik der älteren Hohenzollern und die päpstlichen Privilegien des Jahres 1447 (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg 6, 1906). 3 Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.-75. 136 Hartmut Kühne religiösen Überzeugung oder des Gewissens gegangen, sondern um die Parteinahme für das „eigene“ Havelberger Bistum und die „Abwehr von Angriffen einer auswärtigen kirchlichen Instanz in das Selbstbestimmungsrecht eines zur Mark gehörigen Bistums“. 4 Diese erstmals von Hennig ins Spiel gebrachte Perspektive bestimmt bis heute die Sicht der Forschung. Hartmut Boockmann hat treffend formuliert, die Auseinandersetzung um Wilsnack sei „ein Streit um territoriale kirchenpolitische Ziele, um das landesherrliche Kirchenregiment der Kurfürsten von Brandenburg […] eine Auseinandersetzung darüber hinaus um Strukturen der Kirche überhaupt“ geworden. 5 Im Gegensatz dazu hat der bedeutende berlin-brandenburgische Archivar und Landeshistoriker Johannes Schultze (1881-1976) vermutet, der Markgraf habe sich „vornemlich […] aus einer wundergläubigen religiös-mystischen Vorstellungswelt heraus“ für die Wilsnacker Wallfahrt engagiert. 6 Inwiefern es sinnvoll ist, das Gewicht der individuellen religiösen Überzeugung und der landesherrlichen Aufgabe - man könnte mit Franz Machilek auch sagen von „Privatfrömmigkeit und Staatsfrömmigkeit“ 7 - in dieser Frage auszuloten, mag dahingestellt bleiben. Die Intervention des Markgrafen zugunsten Wilsnacks war aber verbunden mit einer Pilgerfahrt in das Heilige Land und dem vorausgehenden Rombesuch zur Feier des Osterfestes. Dieser aus unserer Sicht merkwürdigen Verquickung von diplomatischer Mission, Pilgerfahrt und Einsatz zugunsten der Wilsnacker Wallfahrt soll in diesem Beitrag nachgegangen werden. 1. Der fromme Landesherr Nur eine zeitgenössische Darstellung zeigt uns ein Porträt des Markgrafen Friedrich-II. und selbst bei diesem Bild ist nicht völlig gesichert, ob es sich tatsächlich um ihn handelt. Sie findet sich in einem Glasfenster der Wilsnacker Kirche und zeigt einen knienden Stifter mit Hermelinmantel und Kurfürstenhut. An der Stiftung der Wilsnacker Glasfenster hatten sich die dänischen Könige, die sächsischen Kurfürsten aus dem Haus Wettin und die Brandenburger Markgrafen aus dem Haus Hohenzollern beteiligt, aber auch niederländische Adlige, 4 Ebenda. 5 Hartmut Boockmann, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982) S.-385-408, hier S.-387. 6 Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg 3: Die Mark unter Herrschaft der Hohenzollern 1415-1535 (1963) S.-68. 7 Franz Machilek, Privatfrömmigkeit und Staatsfrömmigkeit, in: Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen, hg. von Ferdinand Seibt (1978) S.-87-94, 99-101, 441-443. Rom - Jerusalem - Wilsnack 137 Abbildung 1: Wilsnack, St. Nikolaus, Hohenzollern-Fenster (Friedrich II.? ) 138 Hartmut Kühne Städte wie Rostock und Aachen sowie einzelne Bürger. 8 Bei der Restaurierung der Fenster um 1900 wurden deren damals schon stark dezimierte Restbestände samt den erhaltenen Wappenschilden neu verteilt, so dass sie heute nicht mehr den ursprünglichen Bildszenen zugeordnet sind. Daher lassen sich die einzelnen Szenen nur noch schwer bestimmten Stiftern zuweisen. Bei der dargestellten Person handelt es sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit um einen brandenburgischen Kurfürsten. Nach dem, was wir über die Beziehungen der Hohenzollern zu Wilsnack und zur Ausstattungsgeschichte der Kirche wissen, muss entweder Friedrich II. oder aber sein jüngerer Bruder Albrecht Achilles dargestellt sein. 9 Friedrich II. wurde 1413 in Tangermünde als zweiter Sohn seines Vaters Friedrich, des ersten brandenburgischen Markgrafen aus dem Haus Hohenzollern, geboren. 10 Er war eines von zehn Kindern, die seine Mutter Elisabeth von Bayern-Landshut im Laufe ihrer Ehe gebar. Der erstgeborene Sohn Johann („der Alchemist“, 1405-1464) verzichtete 1437 auf seine Herrschaft in Brandenburg und damit auch auf die zukünftige Kurfürstenwürde. So übernahm Friedrich mit 24 Jahren im Auftrag seines Vaters die Regierungsgeschäfte in Brandenburg und wurde nach dessen Tod im Jahre 1440 mit 27 Jahren Kurfürst. Er regierte zunächst auch die westlich der Elbe gelegenen Gebiete Brandenburgs als Stellvertreter für seinen zehn Jahre jüngeren Bruder Friedrich (ca. 1424-1463), der wegen seiner Leibesfülle „der Fette“ genannt wurde. 1470 zog sich Friedrich resigniert von der Regierung zurück und übergab die Brandenburgische Herrschaft und die Kurwürde seinem Bruder Albrecht Achilles. 11 Die Bilanz seiner Regierungszeit war aus der Sicht der Landesherrschaft aber keineswegs negativ, denn Brandenburg erlebte unter seiner Regierung eine massive Stärkung der landesherrschaftlichen Gewalt. In diesem Konsolidierungsprozess des entstehenden Territorialstaates wurden die Rechte des Adels, der Städte aber auch der Bischöfe beschnitten, die geistliche Hierarchie wurde in einer ganz neuen Weise durch die territoriale Gewalt in ihren Dienst gestellt, was natürlich zu Widerständen und Konflikten führte. Insgesamt erlebte das kulturell gegenüber den westlichen und südlichen Gebieten rückständige Brandenburg damals einen 8 Siehe: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Berlin und Brandenburg. Von Ute Bednarz/ Eva Fitz/ Frank Martin/ Markus Leo Mock/ Götz J. Pfeiffer/ Martina Voigt (mit einer kunsthistorischen Einleitung von Peter Knüvener) Band 1: Katalog, Band 2: Anhang, Regesten, Abbildungen (Corpus Vitrearum Medii Aevi Deutschland 22, 2010) hier 1, S.-94-f. und 99-f. 9 Ebenda S.-130. 10 Zur Biographie vgl. Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) S.-53-106. 11 Zur Resignation vgl. ebenda S.-92-98. Rom - Jerusalem - Wilsnack 139 enormen Modernisierungsschub. 12 Von diesem Modernisierungsschub legt in gewisser Weise auch die Wilsnacker Kirche Zeugnis ab, deren Neubau in die Regierungszeit Friedrichs-II. fällt. 13 Verschiedentlich wurde betont, der Markgraf Friedrich II. sei von einer tiefen Religiosität geprägt gewesen; der schon zitierte Johannes Schultze sprach von einem Hang „zu Mystik und Schwärmerei, wie auch zur Schwermut, der neben der aus dem Elternhaus übernommenen Religiosität bei Friedrich zeitlebens sich bemerkbar machte.“ 14 Seine Neigung zu einer auf die innerliche Buße ausgerichteten Frömmigkeit wurde auf eine traumatische Erfahrung des jungen Prinzen zurückgeführt: Mit acht Jahren war er mit der polnischen Prinzessin Hedwig (1408-1431) verlobt worden und lebte zehn Jahre lang am polnischen Königshof. Mit 18 Jahren musste er den frühen Tod der fünf Jahre älteren Verlobten erleben - eine Erfahrung, die Friedrich zu einem melancholischen Menschen gemacht haben soll. 15 Vielleicht handelt es sich aber auch um eine unangemessene Interpretation auf der Grundlage moderner psychologischer Erkenntnisse. Der Tod seiner Braut hat Friedrich jedenfalls nicht daran gehindert, 1441 die Tochter des sächsischen Kurfürsten Friedrich I. Katharina zu heiraten, und mit ihr drei Kinder zu zeugen. Auch zeugte er mindestens einen illegitimen Sohn und ein Zufall hat uns auch Hinweise auf erotische Eskapaden des Markgrafen überliefert. 16 12 Vgl. Peter Moraw, Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter: Entwicklungsgeschichtliche Überlegungen im deutschen und europäischen Vergleich, in: Akkulturation und Selbstbehauptung. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Lande zwischen Elbe/ Saale und Oder im späten Mittelalter, hg. von Peter Moraw (2001) S.-13-36. 13 Vgl. Alexander Krauss/ Detlev von Olk, Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der Wilsnacker Wallfahrtskirche, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher. Die Wilsnackfahrt, hg. von Hartmut Kühne/ Anne-Katrin Ziesak (2005) S.- 126-132; Gordon Thalmann, Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte und Ausstattung der Wallfahrtskirche St. Nikolai zu Wilsnack, in: Peter Knüvener/ Dirk Schumann, Die Mark Brandenburg unter den frühen Hohenzollern. Beiträge zur höfischen Kunst und Architektur im 15. Jahrhundert (2015) S.-331-354, hier bes. 333-339. 14 Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) S.-49; vgl. dazu auch Adolph Friedrich Riedel, Über den Krankheitszustand des Kurfürsten Friedrich II. und seine Niederlegung der kurfürstlichen Würde, in: Märkische Forschungen 6 (1858) S.-194-235, bes. S.-204; G. Schuster, Aus den Jugendjahren des Kurfürsten Friedrich II. von Brandenburg, in: Hohenzollern-Jahrbuch. Forschungen und Abbildungen zur Geschichte der Hohenzollern in Brandenburg-Preußen 7 (1903) S.-142-156, hier S.-153-f. 15 „Das unmittelbare Miterleben des tragischen Hinsiechens der Geliebten muß tiefsten Eindruck in dem jugendlichen Gemüt hinterlassen haben.“, Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) S.-49. Ähnlich schon Theodor Hirsch, Art. „Friedrich II., Kurfürst und Markgraf von Brandenburg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 7 (1878) S.-475-480. 16 Vgl. ebenda S.- 76, Anm. 64. Zur Einordnung auch Peter Moraw, Der Harem des Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach († 1486), in: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen […], hg. von Jan Hirschbiegel/ Abbildung 2: Kette des Schwanenordens, Skulptur aus dem Kreuzgang des Klosters Himmelkron Eine gewisse Vorstellung von dem, was den jungen Fürsten religiös bewegte, vermittelt die Stiftungsurkunde des Schwanenordens, einer Adelsgesellschaft, die ihren Sitz an der Brandenburger Marienkirche auf dem Harlunger Berg hatte. 17 Friedrich gründete diese religiöse Bruderschaft am 29.-September 1440, nur neun Tage nach dem Tod seines Vaters. In gewisser Hinsicht war die Stiftungsurkunde so etwas wie eine Regierungserklärung. Bei der Gründung des Schwanenordens ging es fraglos auch um die Disziplinierung des einheimischen Adels durch den Landesherren und die Integration der durch die Hohenzollern nach Brandenburg gekommenen fränkischen Adligen. Gerade in der Stiftungsurkunde wurde aber die religiöse Absicht betont. Über das Ziel der täglichen Andacht, die für alle Mitglieder verpflichtend war, hieß es, dat vnnser hertte In bedrachtinge vnnser Werner Paravicini (2000) S.-439-448; Paul-Joachim Heinig, Fürstenkonkubinat um 1500 zwischen Usus und Devianz, in: „… wir wollen der Liebe Raum geben“. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500, hg. von Andreas Tacke (2006) S.-11-37. 17 Vgl. zum Orden, seiner Geschichte und seinen Mitgliedern Rudolf Freiherr von Stillfried/ Siegfried Haenle, Das Buch vom Schwanenorden. Ein Beitrag zu den hohenzollerischen Forschungen (1881); Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland. Ein systematisches Verzeichnis, hg. von Holger Kruse/ Werner Paravicini/ Andreas Ranft (Kieler Werkstücke. Reihe D. Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 1,1991) S.- 324-346; Heinz-Dieter Heimann, Mariengesellschaft und Schwanenorden der Hohenzollern als religiöse Figurationen von Adelslandschaften: Religiöse Stiftungen der Hohenzollern des 15. und 19. Jahrhunderts und ihre Öffentlichkeiten, in: Adelslandschaften: Kooperationen, Kommunikation und Konsens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne, hg. von Lisa Bauereisen/ Wolfgang Wüst (2018) S.-163-190. 140 Hartmut Kühne sünde In bitter vnd weedagen glick in einer premttzen sin schall. 18 Eine Bremse bzw. Premse war eine Nasenklammer, die störrischen Pferden angelegt wurde. 19 Diese Intention, das Herz in eine Klammer zu pressen, kommt auch im Symbol der Ordenskette zum Ausdruck, die von den Mitgliedern des Schwanenordens getragen wurde. Leider ist heute kein einziges Original mehr erhalten. 20 Aber zahlreiche Darstellungen geben ihr Aussehen wieder, so auch ein Reliefbild im Kreuzgang des Klosters Himmelkron in Oberfranken, der unter der Äbtissin Elisabeth von Künsberg (1460-1484) entstand und in dessen Gewölben verschiedene Ordenszeichen dargestellt werden (Abbildung 2). Die Ordenskette besteht aus Gliedern, die jeweils ein Herz zeigen, das in einer solchen Bremse eingequetscht wird. Die drei Jahre später erlassenen Statuten der Gesellschaft interpretieren dieses Sinnbild: Die Mitglieder sollen ihren stresen möd [frechen Mut] vnde eygen willen vnde wollust dwingen vnde vnder der mechtigen hant godes othmödigen [demütigen] vnde vnse herten mit premtzen warer vnde rechtuerdiger ruwe, Bicht vnde bute [Buße] so castigen [kasteien]. 21 Da aber alle menschliche Buße nicht ausreicht, um das jenseitige göttliche Gericht zu bestehen, sollen die Mitglieder des Schwanenordens sich täglich der Gnade und Hilfe Marias erinnern, um im Gericht in der dwelen [d. h. einem Handtuch] der vnschuld gefunden [zu] werden. 22 Dieses Vertrauen auf das Erbarmen Mariens bringen die beiden „Kleinode“ als Anhänger an der Ordenskette zum Ausdruck. Das obere Kleinod stellt ein Brustbild Mariens umgeben von den Strahlen der Sonne und des Mondes dar. Das untere Kleinod zeigt das um einen Schwan - als Sinnbild des Todes - geschlungene Handtuch, dessen zehn Zipfel die Zehn Gebote symbolisieren sollen. Ganz ähnliche Motive finden sich auch in einem Text, den der Markgraf am 13.- Mai 1445 - am Donnerstag vor Pfingsten - in Prenzlau im eigenen Namen niederschreiben ließ. 23 Im Unterschied zur Stiftung und den Statuten des Schwanenordens handelt es sich also um einen persönlichen, auf den Verfasser bezogenen Text, eine gantze beichte oder eine sogenannte Generalbeichte. Sie beginnt mit den sicher formelhaften Worten: Ich, Friderich […] Bekenne dich, allerbarmherzigster got vater, die grosze manigfaltigkeit vnd vnendenligkeit meiner sünde, übertretung vndt 18 Adolph Friedrich Riedel, Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Geschichtsquellen für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten, Dritter Haupttheil, Bd. 1 (= C,1) (1859) Nr. 148, S.-238-240, hier S.-238. 19 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 2 (1860, ND 1984) Sp. 363. 20 Die aus dem Baseler Münsterschatz durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. erworbene Ordenskette ging 1945 verloren, eine Abbildung bei Stillfried/ Haenle, Schwanenorden (wie Anm. 17) S.-33-f.; zur Symbolik des Ordenszeichens vgl. Ritterorden und Adelsgesellschaften (wie Anm. 17) S.-329-f. 21 Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 161, S.-257-269, hier S.-260. 22 Ebenda, S.-240. 23 Riedel, Codex (wie Anm. 18), Bd. C1, Nr. 190, S.-310-312. Rom - Jerusalem - Wilsnack 141 142 Hartmut Kühne aller vngerechtigkeit, die Ich ye begangen habe von der tauffe untz auff diesse stunde. 24 Aus Reue über diese Sünden fleht der Markgraf um die Gnade, alle tag plutzehren [blutige Tränen] weinen zu können zu eynem Zaichen warer rew für alle meine sünde vnd für ygliche besunder vnd für alle sünde der gantzen cristenheit; so will er sein Leben bessern, halten die zehen gepote vnd pichten, clagen, pussen, vnd genug tun mit allem dem, das ich vermag. 25 Am Ende des Bekenntnisses bittet der Markgraf seinen Heilige[n] engel, der ihm von Gott gegeben ist, er solle zusammen mit allen Heiligen in der czeite meiner letzten note odir am Jüngsten gerichte sein Zeuge sein und dieses vom ihm niedergeschriebene Bekenntnis Gott präsentieren, um in die himmlische Seligkeit einzugehen. 26 Die landesgeschichtliche Literatur hat den hier angerufenen Engel als die verstorbene Verlobte missverstanden. 27 Der persönliche Schutzengel, der im Gericht über das jenseitige Schicksal als Zeuge und Fürbitter auftritt, wird auch in anderen persönlichen Zeugnissen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts genannt 28 , kommt aber in dieser Aufzeichnung aus Laienhand mit seltener Anschaulichkeit zur Geltung. Dass dieses Beichtbekenntnis im Hinblick auf eine bevorstehende Pilgerfahrt des Markgrafen verfasst wurde, ist unwahrscheinlich. 29 Die historische Situation, in der dieses Bekenntniss abgelegt wurde, war vielmehr der Krieg, nämlich die Auseinandersetzung mit den pommerschen Herzögen um die Rückforderung verpfändeter brandenburgischer Besitzungen im Nordosten, die Friedrich II. schließlich mit militärischen Mitteln zurückforderte. 30 Er belagerte im Frühjahr mit grot volk ut de Marke, aber auch aus Sachsen und Meißen, die Stadt 24 Ebenda S.-310. 25 Ebenda S.-311. 26 Ebenda. 27 So Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) 3, S.-49; Riedel, Krankheitszustand (wie Anm. 14) S.-194. 28 So wird der Schutzengel neben dem persönlichen Apostel z. B. in den Gebetbüchern von Nonnen genannt, vgl. Henrike Lähnemann, Saluta apostolum tuum. Apostelverehrung im Kloster Medingen, in: Weltbild und Lebenswirklichkeit in den Lüneburger Klöstern. IX. Ebstorfer Kolloquium vom 23.-26. März 2011, hg. von Wolfgang Brandis/ Hans-Walter Stork (2015) S.-41-64. Auch Kurfürst Friedrich III. (der Weise) von Sachsen rief in seinem Testament vom 4. Oktober 1517 neben „seinem“ Apostel Bartholomäus unser[en] heiligen engel an; gedruckt in: Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung 1: 1513-1517, bearb. von Stefan Michel/ Beate Kusche/ Ulrike Ludwig unter Mitarbeit von Vasily Arslanov/ Alexander Bartmuss/ Konstantin Enge (2017) Nr. 629, S.-512-519, hier S.-513. 29 Dies vermutet Heinz-Dieter Heimann, „Über mehr ein rittervard“ und „heilige wege reiten“: Zu Frömmigkeitsverhalten und religiöser Identitätsbildung brandenburgischer und sächsischer Landesfürsten im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, hg. von Joachim Bahlcke u. a. (2006) S.-95-108, hier S.-103. 30 Vgl. auch zum Folgenden Paul Gaehtgens, Die Beziehungen zwischen Brandenburg und Pommern unter Kurfürst Friedrich II. 1440-1470 (1890), bes.18-21. Rom - Jerusalem - Wilsnack 143 Pasewalk und wolde de wynnen myt storme, wie eine Lübecker Chronik berichtet. 31 Freilich musste der Markgraf die Belagerung nach einer fehlgeschlagenen Brandstiftung am 3./ 4. April abbrechen und wurde nun selbst von pommerschen Truppen in die Uckermark verfolgt, wo vor allem Prenzlau Ziel immer neuer Angriffe wurde, bis ein Waffenstillstand am 15.-September 1445 den Auseinandersetzungen vorläufig ein Ende bereitete. 32 Mitten in dem militärischen Desaster nach der gescheiterten Belagerung Pasewalks und wohl im Angesicht einer möglichen Todesgefahr legte der Markgraf seine Generalbeichte ab. Als er diese knapp sieben Jahre später im Brandenburger Dom feierlich widerholte, war er freilich im Begriff, das heilige Grab vnsers hern ihesu cristi zu besuchen. 33 Im Hinblick auf die durchaus reale Gefahr, auf der Reise zu sterben, forderte er seine Nachkommen - unmittelbar zuvor war sein erster Sohn Johann geboren - und seine Testamentsvollstrecker auf, die in seinem Testament festgehaltenen Stiftungen auszuführen, falls er nicht lebend von der Reise zurückkehren würde. 34 2. Die Reise in das Heilige Land 1453 Es war nicht ungewöhnlich, dass sich ein christlicher Fürst aus dem Heiligen Römischen Reich im 15.-Jahrhundert auf den Weg nach Jerusalem machte. Nachdem sich die Verhältnisse im Nahen Osten nach dem Ende der Kreuzfahrerherrschaft stabilisiert hatten, besuchten abendländische Pilger seit der Mitte des 14.- Jahrhunderts wiederum die Heiligen Stätten Jerusalems. 35 In Palästina wurden sie vom 31 Die Ratschronik von 1438-1482 (Dritte Fortsetzung der Detmar-Chronik zweiter Teil), I. 1438-1465, hg. von Friedrich Bruns (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 30, 1910, ND 1968) S.-42. 32 Vgl. Riedel, Codex (wie Anm. 18), Bd. B4, Nr. 1669, S.-351-f. 33 Nachschrift vom 12. Januar 1453, Riedel, Codex (wie Anm. 18), Bd. C1, Nr. 190, S.-312. 34 Das versiegelte Testament hat sich nicht erhalten. 35 Neben dem immer noch grundlegenden Werk von Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande (Neue Ausgabe 1900) sei auf folgende Arbeiten hingewiesen, die - z.T. in exemplarischer Form - grundlegende Informationen auch für den folgenden Abschnitt bieten: Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiagopilger (1320-1520) (Jakobus-Studien 4, 1990); Christiane Hippler, Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters (1987); Marie-Luise Favreau-Lilie, The German Empire and Palestine: German pilgrimages to Jerusalem between the 12 th and 16 th century, in: Journal of Medieval History 21 (1995) S.- 321-342; Folker Reichert, Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, in: Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, hg. von Gerhard Faix/ Folker Reichert (1998) S.-9-59; Ders., Von Dresden nach Jerusalem: Albrecht der Beherzte im Heiligen Land, in: Herzog Albrecht der Beherzte (1443-1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa, hg. von André Thieme (2001) S.-53-71; Andrea Denke, Konrad Grünembergs Pilgerreise ins Heilige Land 1486. Untersuchung, Edition und Kommentar (Stuttgarter historische Forschungen 11, 2010). 144 Hartmut Kühne Franziskanerorden, genauer dessen Kustodie des Heiligen Landes, betreut, denn sowohl die Mamlukensultane als auch der Papst hatten dem Orden das alleinige Recht verliehen, sich um abendländische Pilger im Heiligen Land zu kümmern. Die Pilgerreise verlief fast ausschließlich über den Seeweg von Italien aus und faktisch besaß Venedig eine Monopolstellung für diesen Transport. Die Republik gab jährlich einer bestimmten Zahl von Schiffen die Genehmigung zum Transport von Reisenden nach Jaffa. Die venezianischen Pilgerschiffe fuhren zunächst durch die Adria über Korfu, entlang der Südspitze des Peloponnes und von dort nach Kreta; man bewegte sich also in Gebieten, die damals unter venezianischer bzw. ungarischer Herrschaft standen. Auf dem letzten Stück der Route machte man in dem vom Johanniterorden beherrschten Rhodos und im christlichen Königreich Zypern Station, um schließlich nach etwa 40 Tagen auf dem Meer in Jaffa anzukommen. Für die Hin- und Rückreise wurden von den Reisenden mit den venezianischen Reedern Transportverträge abgeschlossen, in denen die Leistungen an Bord, in den Häfen und in Palästina geregelt waren. Größere Reisegruppen, die in der Regel im Gefolge eines Fürsten reisten, charterten auch ganze Schiffe. Dies ist z. B. für den sächsischen Herzog Albrecht den Beherzten (1443-1500) gut bezeugt; ihm ließ der Schiffseigner eine finanzielle Nachforderung für eigene Verluste nachsenden. 36 Die Regelungen waren heutigen Pauschalreiseangeboten nicht ganz unähnlich. Bei diesem Vergleich ist aber zu bedenken, dass die Lebensbedingungen auf den eigentlich nicht für den Transport von Personen gebauten Schiffen, auf denen sich mehr als einhundert Passagiere zusammendrängten, wenig erfreulich waren. Daher sind die Reiseberichte voll von Klagen über die peinliche Enge an Bord, schlechtes Essen, üble Gerüche, Ungeziefer, eine unfreundliche und zuweilen diebische Schiffsbesatzung und andere Übel. Der hohe Preis für die Schiffspassage schränkte den Kreis der Heilig-Land-Pilger auf eine kleine Gruppe vermögender Personen ein: Der Transfer kostete zwischen 20 und 40 Dukaten pro Person, also etwa 25 bis 50 rheinische Gulden. Nimmt man zum Vergleich die jährlichen Einnahmen eines Steinmetzmeisters mit knapp 40, eines Fassbinders von gut 30 37 oder einer Amme von etwa sechs Gulden, wird sofort deutlich, dass nur Fürsten, vermögende Adlige oder Patrizier sich eine solche Reise leisten konnten. In Jaffa mussten die Pilger die gelegentlich zermürbenden „Einreiseformalitäten“ über sich ergehen lassen. Sie wurden dort von einem Bruder des Jerusalemer Franziskanerklosters in Empfang genommen, der sie unter bewaffnetem Geleit mit einem Eselsritt von etwa zwei Tagen nach Jerusalem brachte. Der dortige Aufenthalt von durchschnittlich einer guten Woche war von einem 36 Vgl. Reichert, Von Dresden nach Jerusalem (wie Anm. 35) S.-65-f. mit Anm. 33. 37 Vgl. Ulf Dirlmeier, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse-1, 1978) S.-198-f. Rom - Jerusalem - Wilsnack 145 standardisierten Besuchsprogramm geprägt, mit dem die Franziskaner den Besuchern die christlichen Heiligtümer in Jerusalem und der näheren Umgebung vorstellten. In der Regel gehörte dazu ein Ritt nach Bethlehem, gelegentlich auch ein Abstecher an den Jordan, zur Taufstelle Jesu. Trotz aller Routine waren die Heilig-Land-Fahrten des Spätmittelalters mit größeren Gefahren verbunden. Piratenangriffe auf See oder Reibereien mit den muslimischen Einwohnern Palästinas brachten Verletzungen und gar Todesfälle mit sich. Es waren aber vor allem die fremden klimatischen Bedingungen, die ungewohnten Lebensverhältnisse auf den Schiffen und auch die Infektionen mit Malaria, die zu schweren Erkrankungen führten, so dass besonders auf der Rückreise auffällig viele Todesfälle zu beklagen waren. Diese Gefahren vor Augen tat Friedrich II. gut daran, vor dem Aufbruch nach Palästina eine Generalbeichte abzulegen und sein Testament zu errichten. Bereits im Dezember 1452 hatte er für die Zeit seiner Abwesenheit eine Vormundschaftsbehörde eingerichtet, die in seiner Vertretung und anstelle des gerade erst geborenen Prinzen die Regierung führen sollte. 38 Auch im Zusammenhang dieser Regelungen wurde der Zweck der Reise zumindest formelhaft genannt: Der Markgraf ziehe mit ettlichen den vnnsern zu heiligen Steten vnd zu dem heiligen Grabe Gott zcu lobe, eren vnd zu vnnser sele selikeit. 39 Während die ältere landesgeschichtliche Forschung diese Pilgerfahrt im Wesentlichen als „die Erfüllung eines Herzenswunsches“ 40 , also als eine Angelegenheit der privaten Frömmigkeit des Fürsten betrachtete, hat Detlev Kraack zurecht betont, dass man „die rahmenden Zeremonien […] nicht unkritisch einzig und allein als Akte eines tief verinnerlichten Glaubens (über-) interpretieren“ dürfe, sondern diese Reise sei auch ein „Mittel adlig-fürstlicher Repräsentation“ gewesen. 41 Auch im Rahmen einer Pilgerfahrt war ein Fürst mit standesgemäßer Entourage unterwegs und wurde an den Etappenzielen seinem Rang gemäß empfangen. Die Reise gab so auch Gelegenheit zu diplomatischen Gesprächen und dynastisch-familiärem Austausch sowie zur europaweiten öffentlichen Präsentation des eigenen Ranges. Letzteres reichte vom demonstrativen Anschlagen der Wappen an den Quartieren auf dem Weg bis zum zeremoniellen Empfang durch die lokalen Obrigkeiten. André Thieme hat darauf hingewiesen, dass wettinische Fürsten seit der Mitte des 15.-Jahrhunderts auffällig häufig Reisen nach Jerusalem unternahmen. 42 Jenseits der individuellen Motive für 38 Urkunde vom 12. Dezember 1452, Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 189, S.-307-309. 39 Ebenda S.-307. 40 Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) 3, S.-74. 41 Detlev Kraack, Jerusalem als Reiseziel brandenburgischer Fürsten im 15. und im 19. Jahrhundert. Mittelalterliche Markgrafen und neuzeitliche Monarchen auf dem Weg ins Heilige Land, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 62 (2000) S.-37-61, hier S.-51. 42 André Thieme, Pilgerreisen wettinischer Fürsten im späten Mittelalter, in: Der Jakobuskult in Sachsen, hg. von Klaus Herbers/ Enno Bünz ( Jakobus-Studien 17, 2007) S.-175-217. 146 Hartmut Kühne die einzelne Reise hängt dieser Befund auch damit zusammen, dass die Wettiner sich seit Beginn des 15.-Jahrhunderts „von einem zweitrangigen Fürstengeschlecht zur mächtigsten Familie im Reich nächst den Habsburgern aufgeschwungen“ 43 hatten. Diesen neuen Rang demonstrierten sie auch durch diese aufwendigen Pilger-Reisen; der florierende Silberbergbau im Erzgebirge stellte ihnen die dafür nötigen Einnahmequellen zur Verfügung. 44 Auch der plötzliche Aufstieg der fränkischen Hohenzollern von der Stellung als Nürnberger Burggrafen zur Herrschaft über die Mark Brandenburg und damit zugleich in das Kurfürstenkollegium spielte bei der Entscheidung für den Aufbruch Friedrichs II. nach Jerusalem sicher eine Rolle. Denn es ist auffällig, dass sich drei der vier Söhne Friedrichs I., also des ersten Brandenburgischen Markgrafen aus dem Haus Hohenzollern, auf den Weg zum Heiligen Grab machten. Bereits vor Friedrich II. begaben sich dessen Brüder Johann (1406-1464) und Albrecht Achilles (1414-1486) auf den gleichermaßen ruhmwie gefahrvollen Weg 45 und folgten dabei ausdrücklich einem Wunsch ihres Vaters. 46 Beide reisten freilich mit 21 bzw. 29 Jahren noch nicht als regierende Landesherren. Als sich Friedrich II. 1453 zu der Reise rüstete, war er knapp 40 Jahre alt und regierte bereits seit einem guten Jahrzehnt sein Land. Er hatte bereits wichtige politische Ziele wie die Rückgewinnung von Gebieten und Rechten in der Lausitz und gegenüber dem Erzstift Magdeburg erreicht und es war ihm gelungen, die städtische Autonomie seiner Residenzstadt Berlin-Cölln zu beschränken, wo 1451 sein Schlossneubau fertig gestellt wurde. 47 Der Markgraf brach also in einer Phase der „gefestigte[n] und stabile[n] Herrschaft“ auf, wie es André Thieme auch für die nach Jerusalem reisenden Wettiner feststellte. 48 Dass der Markgraf mit dieser Reise auch eine „weitreichende landesinterne Wirkungsrichtung“, nämlich eine religiös-kirchenpolitische Stellungnahme zugunsten der Papstkirche und gegen den damals gerade gescheiterten Konziliarismus sowie gegen Hussiten und Waldenser beabsichtigte, lässt sich m. E. aus den wenigen Quellen nicht herauslesen. 49 43 Ebenda S.-186. 44 Zu den Kosten einer Pilgerfahrt vgl. auch Carola Fey, Fürstliche Wallfahrt im Spätmittelalter zwischen Aufwand und Ertrag, in: Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Gerhard Fouquet/ Jan Hirschbiegel/ Werner Paravicini (Residenzenforschung 2, 2008) S.-457-474. 45 Zur Reise vgl. den Reisebericht von der Hand des Leibarztes Hans Lochner gedruckt von Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 133, S.-197-217 sowie Röhricht, Deutsche Pilgerreisen (wie Anm. 35) S.-109-f.; Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie. Tl. 1: Deutsche Reiseberichte, bearbeitet von Christian Halm (Kieler Werkstücke. Reihe D. Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 5, 1994) Nr. 25, S.-79-81. 46 Vgl. Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 132, S.-196. 47 Vgl. Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) 3, S.-54-65. 48 Thieme, Pilgerreisen (wie Anm. 42) S.-193. 49 So Heimann, „Über mehr ein Rittervard“ (wie Anm. 29) S.-103-f. Rom - Jerusalem - Wilsnack 147 Als sich Friedrich II. 1453 auf den Weg in das Heilige Land machte, folgte er einem Trend der Zeit, denn die Zahl der abendländischen Jerusalempilger stieg seit dem Beginn des 15.- Jahrhunderts deutlich an und erreichte in den zwei Generationen vor dem Beginn der Reformation in deutschen Landen ihren Höhepunkt. Allerdings begaben sich regierende Reichsfürsten erst seit den 1420er Jahren und auch nur vereinzelt auf den gefahrvollen Weg, der zumindest in Palästina auch ein gewisses Inkognito erforderte. Jene fürstlichen Landesherren, die sich vor dem Brandenburger Markgrafen auf diese Pilgerfahrt begaben, lassen sich an einer Hand abzählen. 50 Sofern sich die Reise des Markgrafen also in einen Trend einfügt, so gehörte Friedrich II. eher zu den „Trendsettern“, als zu jenen, die von einer Entwicklung mitgerissen wurden. Seine Reise ist deshalb ungewöhnlich, weil fast nichts über ihren Verlauf bekannt ist - jedenfalls nicht aus Aufzeichnungen, die der Markgraf zur Festigung der eigenen Memoria beauftragt hätte. Als seine Brüder 18 Jahre vor ihm nach Palästina zogen, verfasste der mitreisende Leibarzt Dr. Hans Lochner einen ausführlichen Reisebericht. 51 In ähnlicher Weise haben auch andere Fürsten dafür Sorge getragen, dass die Kunde ihrer frommen und ritterlichen Fahrt durch Texte, Bilder und andere Monumente in Erinnerung blieb. Nichts davon findet sich im Falle Friedrichs- II. Nur die Erneuerung seines Beichtbekenntnisses am 12.- Januar 1453 verrät, dass er wahrscheinlich kurz danach zu seiner Pilgerfahrt aufbrach. Und ein zufällig am Jahresende 1453 angelegtes Kopialbuch seiner Verwaltung hat seine Rückkehr nach Berlin und Cölln am 5. November 1453 festgehalten. 52 Was wir über die Pilgerfahrt wissen, verdanken wir fast ausschließlich den Aufzeichnungen des Baseler Patriziers Peter Rot, der sich in Venedig der Reisegruppe des Markgrafen anschloss und dadurch zum Teil des fürstlichen Gefolges wurde; auch über die Reise hinaus blieb der später für Jahrzehnte das Bürgermeisteramt in seiner Heimatstadt bekleidende Baseler dem Markgrafen verbunden und wurde in die Gesellschaft des Schwanenordens aufgenommen. 53 Nebenbei war es seine Ordenskette, die über die Verwahrung im Baseler Münsterschatz im 19.-Jahrhundert schließlich wieder nach Berlin 50 Dazu zählten nach Reichert, Eberhard im Bart (wie Anm. 35) S.-11: Ludwig III. der Bärtige, Pfalzgraf bei Rhein und Herzog von Bayern (reiste 1426/ 1427), Graf Philipp d. Ä. von Katzenelnbogen (reiste 1433/ 1434), der spätere römisch-deutsche Kaiser Friedrich III., als Friedrich V. Herzog von Österreich (reiste 1436), Herzog Johann I. von Kleve (reiste 1451); Einzelheiten zu den Fahrten vgl. ebenda. In der Liste fehlt der hessische Landgraf Ludwig der Friedsame, der die Fahrt 1429 unternahm, vgl. Röhricht, Deutsche Pilgerreisen (wie Anm. 35) S.-106; Wilhelm Alfred Eckhardt, Zur spätmittelalterlichen Wallfahrt in Hessen, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 114 (2009) S.-39-68, bes. S.-50-53. 51 Vgl. oben Anm. 20. 52 Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 197, S.-318. 53 Zur Person vgl. Volker Honemann, Art. „Rot, Hans und Peter“, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 8 (1992) Sp. 260-262. 148 Hartmut Kühne gelangte und 1945 unterging. 54 Aber seine heute in Basel befindliche Handschrift, 55 „eine - wohl für die eigene Familie bestimmte - Mischung aus Erlebnisbericht und Pilgerführer“ 56 , verrät leider nicht all das, was man gerne über die Fahrt Friedrichs II. wissen möchte. Denn zum einen ergänzte Peter Rot in seinem Reisebericht nur den viel ausführlicheren Bericht seines Vaters Hans Rot, der die Pilgerfahrt 13 Jahre zuvor unternommen hatte. 57 Und zum anderen gibt es in der Handschrift größere Fehlstellen. So bricht zum Beispiel die Liste der Reiseteilnehmer nach den ersten Namen ab 58 und von dem mit dem venezianischen Reeder und „Patron“ Antonio Loredan (1420-1482) geschlossenen Vertrag werden nur die ersten zwei Absätze mitgeteilt. 59 Dennoch erlaubt der Reisebericht den Weg der Reisegruppe zu verfolgen und verzeichnet mit besonderer Gründlichkeit jene Ehrungen, die dem Markgrafen und seiner Reisegesellschaft unterwegs zuteil wurden, wie etwa in Zadar, wo der Fürst auf das Rathaus gebeten und mit confeckt und win traktiert wurde; schließlich kamen die Stadtpfeiffer auf das Schiff und hofiereten do sinen gnoden. 60 Peter Rot berichtet, dass der Markgraf am 7.-April 1453, dem ersten Samstag nach Ostern, von Rom kommend in Venedig eintraf. 61 An diesem Tag bat der Baseler Friedrich II. darum, in seine Gefolgschaft aufgenommen zu werden. Es sollten allerdings noch mehr als vier Wochen vergehen, bevor die Pilgergruppe tatsächlich zur Fahrt nach Jaffa aufbrach. Erst am 11.-Mai, einen Tag nach Christi Himmelfahrt, bestieg die Gruppe die Galeere, um zwei Tage später in See zu stechen. 62 Die einmonatige Wartezeit vertrieb man sich mit der Besichtigung der Kirchen, Klöster und Reliquien Venedigs, sah den Schatz von San Marco, reiste auch nach Padua und badete in den Thermen von Abano. 63 Am Himmelfahrtstag lud die Signoria den Markgrafen als Ehrengast zur Teilnahme an der Zeremonie der Vermählung mit dem Meer ein. 64 Über das Ergebnis der mit dem Reeder geführten Verhandlungen ist nur zu erfahren, dass der Markgraf für jeden Mitreisenden 35 Dukaten zu zahlen hatte. 65 Der Preis bewegte sich damit am oberen Rand des Üblichen und lässt darauf 54 Vgl. oben Anm. 20. 55 Basel, Universitätsbibliothek, Ms. H V 15. Die Handschrift ist online zugänglich, Permalink: www.e-codices.unifr.ch/ en/ list/ one/ ubb/ H-V-0015 (Stand 7.10.2019). 56 Honemann, Art. „Rot, Hans und Peter“ (wie Anm. 53), Sp. 262. 57 Der Text ist ediert von A.[ugust] Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte 11 (1882) S.-343-408, der Reisebericht Peter Rots hier S.-393-408. 58 Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen (wie Anm. 57) S.-408. 59 Ebenda S.-407-f. 60 Ebenda S.-401. 61 Ebenda S.-397. 62 Ebenda S.-400. 63 Zu den üblichen Aktivitäten der Heilig-Land-Pilger in Venedig vgl. Andrea Denke, Venedig als Station und Erlebnis auf den Reisen der Jerusalempilger im späten Mittelalter (2001). 64 Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen (wie Anm. 57) S.-399-f. 65 Ebenda S.-407-f. Rom - Jerusalem - Wilsnack 149 schließen, dass keine enge Massenbelegung an Bord vorgesehen war. Wie viele Personen mitreisten, bleibt unklar. Die Liste jener Pilger, die später in der Grabeskirche von Jerusalem den Ritterschlag erhielten, zählt mit dem Markgrafen 30 Namen. 66 Zu diesem Ritterschlag waren aber nur Personen von edler Geburt zugelassen, so dass z. B. die beiden Begleiter Peter Rots, sein Knecht Erhard Samuel und der Franziskaner Hans zum Rosen nicht in der Liste erscheinen. Auch der Nürnberger Patrizier Georg Ketzel (1423-1488) fehlt in dieser Liste, obwohl seine Teilnahme an der Reise gut belegt ist. 67 Möglicherweise haben sich noch weitere Patrizier oder auch Geistliche in der Gruppe befunden, die den Ritterschlag nicht erhielten. Der Markgraf wurde von dem Landgrafen Ludwig I. von Leuchtenburg (1463- 1486) und weiteren fünf Grafen, darunter Albrecht-IV. von Anhalt-Köthen (gest. 1469), Graf Otto-III. von Henneberg-Römhild (1437-1502) und Gebhard-V. von Mansfeld begleitet, die kaum ohne ein eigenes kleines Gefolge gereist sein werden. Es werden sich also mindestens 60, wohl eher 80 Personen mit dem Markgrafen zusammen eingeschifft haben. Die Galeere fuhr über Zadar (21.-24. Mai), Dubrovnik (Ragusa, 31.-Mai), Korfu (1.-3. Juni) nach Methoni (Modon), einem unter venezianischer Herrschaft stehenden Hafen am südwestlichen Ende der Peloponnes, wo sie am 12.- Juni einlief. Hier traf die Reisegesellschaft auf ein venezianisches Handelsschiff, das bei der Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer (29.- Mai) entkommen war und die Nachricht vom Fall der Stadt mitbrachte. 68 Die Pilger dürften die ersten Deutschen gewesen sein, denen diese die Türkenfurcht nachhaltig schürende Meldung zu Ohren kam. 69 Die Schiffsbesatzung wollte angesichts der Nachrichten die Reise abbrechen: Do das die regierer und ruderer der galleen horten, do meinten si uberein, nit furer mit uns ze faren. 70 Der Schiffspatron erbot sich aber, die Reise fortzusetzen, wenn der Markgraf es wünschte: wollt er furer varen, so wolt er lib und gut mit im wogen. Also gieng min her mit allen den sinen ze rot, und wurdent ze rot, wie er furer faren wolt. 71 So brach man noch am gleichen Abend auf und kam über Heraklion (Candia) auf Kreta (14.-18. Juni) vorbei an Zypern am 23. Juni in Jaffa an. Damit hatte die Fahrt ab Venedig 41 Tage gedauert. 66 Ebenda S.-405-f. 67 Vgl. Theodor Aign, Die Ketzel. Ein Nürnberger Handelsherren- und Jerusalempilgergeschlecht (1961) S.-22-f. 68 Ebenda. 69 Zur Verbreitung der Nachrichten über den Fall Konstantinopels vgl. Erich Meuthen, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: Historische Zeitschrift 237 (1983) S.-1-35. 70 Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen (wie Anm. 57) S.-402-f. 71 Ebenda S.-403. 150 Hartmut Kühne Abbildung 3: Jaffa, Sankt Peters Keller Rom - Jerusalem - Wilsnack 151 152 Hartmut Kühne Nach zwei Tagen Wartezeit im Hafen kam der Franziskanerguardian aus Jerusalem, um die Pilger mit dem bewilligten Geleit abzuholen. 72 Es folgten die üblichen Einreiseformalitäten mit der nächtlichen Unterbringung der Pilger im sog. Sankt Peters Keller (Abbildung 3) und der Bezahlung des Geleitgeldes: Do zaltent uns die heiden ein nach dem andern in ein alt gewelb, darinne beliben wir, untzen das der patron das gleitgelt usgericht. 73 Am 26. Juni ritt die Pilgergruppe nach Ramla (Rama), hörte am nächsten Morgen eine Messe im dortigen Hospital, machte einen Abstecher in das benachbarte Lod (Lydda), die stat do der heilig ritter Sant Jerge [St. Georg] enthouptet ward 74 , übernachtete nochmals im Hospital von Ramla und erreichte schließlich am 27.- Juni zur Vesperzeit Jerusalem. Die Mitteilungen über das dortige Besuchsprogramm sind äußerst kärglich, denn Peter Rot meinte, über die heilig stett, zu Jherusalem oder sust in dem Heiligen Land, bedarff ich nit schriben, da dies sein Vater schon in seinem Reisebericht von 1440 getan hatte. 75 So beschränkte er sich auf Angaben zum nächtlichen Ritterschlag in der Grabeskirche: Zunächst habe der Adlige Popelin (Poppo) vom Stein („Buppelin vom Stein“), der die Reise bereits zum zweiten Mal machte und deshalb bereits Grabesritter war, den Markgrafen zum Ritter geschlagen. Anschließend habe dieser den Ritterschlag 28 Herren in der Reihenfolge ihres Ranges erteilt; an letzter Stelle nennt sich Peter Rot selbst. Die Liste zeigt, dass sich zahlreiche Räte Friedrichs II. seiner Pilgerreise angeschlossen hatten. 76 Nach zehn Tagen kehrte die Pilgergruppe über Ramla nach Jaffa zurück und stach am 9.- Juli in See. Die Nordküste Zyperns erreichte die Galeere am 13.-Juli. Hier wurden die Reisenden von einem „Vogt“ des zypriotischen Königs empfangen, der sie nach Episcopia (Bellapais) geleitet, wo sie das Praemonstratenser-Kloster besuchten und der Herstellung von Rohrzucker zusahen. 77 Offenbar durch die Erzählungen anderer Reisender angeregt, identifizierte Peter Rot die dortigen Tiere mit der Legende von den schlangenvertilgenden Katzen, die aber bis heute am Nikolauskloster von Akrotiri südlich von Limassol haftet. 78 72 Ebenda S.-404. 73 Ebenda. 74 Ebenda. 75 Ebenda S.-405. 76 Dazu zählten die Grafen Albrecht von Anhalt und Gottfried von Hohenlohe sowie Georg von Waldenfels, Georg von Schlieben, Otto von Schlieben, Henning (Heyn) Quast, Hassow (Hassa) von Bredow, Caspar von Waldow, Nikolaus (Claus) Sparr(e), Nikolaus (Nickel) Pfu(h)l, Hans von Bredow; zu den Räten Friedrichs II. vgl. Hans Spangenberg, Hof und Zentralverwaltung der Mark Brandenburg im Mittelalter (1908) bes. S.-82-85. 77 Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen (wie Anm. 57) S.-406-f. 78 Vgl. u. a. Randall Herz, Die „Reise ins Gelobte Land“ Hans Tuchers des Älteren (1479- 1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts (2002) S.-367. Rom - Jerusalem - Wilsnack 153 Abbildung 4: Die von Konrad von Grünemberg auf seiner Pilgerreise erworbenen Ordenszeichen von links nach rechts: Jerusalemkreuz, zypriotischer Schwertorden, Kannenorden und halbes Katharinenrad 154 Hartmut Kühne Da der Schiffspatron die Liegezeit im Hafen abkürzen wollte, blieb keine Zeit, um nach Famagusta zu König Johann II. von Zypern (gest. 1458) zu ziehen und dort in den von Pilgern begehrten zypriotischen Schwertorden (sin geselschaft) aufgenommen zu werden. 79 Daher bot der schon genannte Vogt an, die Aufnahme stellvertretend zu vollziehen und das Ordenszeichen nach Venedig in unsers patrons hus nachzuschicken. 80 (Abbildung 4). Mit der Abreise von Zypern am Abend des 15.-Juli 1453 bricht der Reisebericht Peter Rots ab. Möglicherweise machte das Schiff anders als auf der Hinreise noch in Rhodos Station, denn wohl noch in Jaffa erreichte den Markgrafen ein am 30. Juni aus Rhodos an ihn gesandter Brief, der den Fall Konstantinopels meldete, aber versicherte, man könne „frei und sicher“ Rhodos anlaufen und ihn einlud, dort Station zu machen. 81 Man hatte dort durch den Johanniterkomtur Gottfried von Heimbach von seiner Pilgerfahrt erfahren. Spätestens am 1.-September muss die Galeere Venedig erreicht haben, denn an diesem Tag stellte der Markgraf dem mitreisenden Nürnberger Georg Ketzel dort einen Wappenbrief aus. 82 Die Rückreise nach Berlin nahm nochmals etwa zwei Monate in Anspruch, denn erst am 5.-November wurde dort die Rückkehr des Landesherren notiert. Was hat die Erzählung über diese Reise aber mit Wilsnack zu tun? Diese Frage zu beantworten ist das Thema des folgenden Abschnitts. 3. Die Rettung der Wilsnacker Wallfahrt Der große Erfolg der Wilsnacker Wallfahrt blieb nicht unwidersprochen. Dies ist in verschiedenen Beiträgen dieses Bandes bereits angeklungen. 83 Der Widerspruch gegen Wilsnack ist auch das Thema des Traktates von Heinrich Tocke, der im Anschluss an diesen Text abgedruckt wird. 84 Bereits 1404 wurde eine kritische Überprüfung der Vorgänge in Wilsnack durch den Prager Erzbischof vorgenommen. 85 Etwa gleichzeitig soll auch der Verdener Bischof Konrad von 79 Vgl. zum Schwertorden und dessen „Zeichen“ Detlev Kraack, Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14.-16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, Nr. 224, 1997) S.-97-99. 80 Bernoulli, Hans und Peter Rots Pilgerreisen (wie Anm. 57) S.-407. 81 Gedruckt bei Röhricht, Deutsche Pilgerreisen (wie Anm. 35) S.-122-f. 82 Vgl. oben Anm. 67. 83 Vgl. die Beiträge von Jan van Herwarden, Toni Aigner, Enno Bünz und Hartmut Kühne sowie Jan Hrdina in diesem Band. 84 Vgl. Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke in diesem Band, S.-167-186. 85 Vgl. Jan Hrdina, Wilsnack, Hus und die Luxemburger, in: Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter, hg. von Felix Escher/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 2, 2006) S.-41-63, bes. S.-58-60. Rom - Jerusalem - Wilsnack 155 Soltau in seiner Diözese Maßnahmen gegen den Besuch Wilsnacks getroffen haben. 86 Auch in Magdeburg wurden auf einer Synode 1412 eine Reihe kritischer Anfragen an den Wallfahrtsort gestellt. 87 Die Diskussionen betrafen im Kern zwei sehr unterschiedliche Themen: Grundsätzlich wurde gefragt, ob es theologisch überhaupt denkbar sei, dass es nach der Himmelfahrt Christi auf Erden Dinge gäbe, die man als Blut Christi bezeichnen könne? Und zweitens monierten die Kritiker, dass in Wilsnack unwahre Wunder verbreitet würden und man so der Verkündigung der Kirche schade. Zunächst scheinen die Angriffe gegen Wilsnack aus Prag und Magdeburg nur geringe Wirkung entfaltet zu haben. Dies änderte sich, als sich ein hochgebildeter und entschlossener Mann der Sache annahm und auch die Mittel in die Hand bekam, diesen Kampf gegen die Wallfahrt zu führen: der aus Bremen gebürtige Heinrich Tocke oder Toke (1390-1454), der zunächst in Erfurt und dann an der neugegründeten Universität Rostock die Artes und Theologie studierte, 1426 als Doktor der Theologie zum Magdeburger Domprediger berufen und damit auch Domherr an der Magdeburger Kathedralkirche wurde. 88 Durch einen Vorfall in dem Dorf Wartenburg (heute ein Ortsteil von Kemberg) scheint das kritische Interesse des Reformtheologen an den eucharistischen Wunderkulten geweckt worden zu sein. Der damals zu Kursachsen gehörige Ort liegt nur knapp 15 Kilometer südöstlich von Wittenberg entfernt, allerdings anders als die Elbestadt auf der linken, der westlichen Elbseite. Er gehörte damit kirchlich zum Magdeburger Erzbistum, während Wittenberg dem Brandenburger Bischof unterstand. In der wohl erst kurz zuvor gebauten Pfarrkirche von Wartenburg ereignete sich zur Osterzeit 1429 angeblich ein eucharistisches Wunder, als eine Hostie zu bluten begann. 89 Tocke wurde gemeinsam mit dem Augustinereremiten Heinrich Zolter mit der Untersuchung der Angelegenheit befasst. Da sich die in Wittenberg residierende Herzogin Barbara (gest. 1435), die Witwe des 86 Vgl. Die Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke, S.-180. 87 Vgl. Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-302, hier S.-175-177 und 296-f. 88 Zur Biographie vgl. Berent Schwineköper, Das Erzbistum Magdeburg 1,1: Das Domstift St. Moritz in Magdeburg (Germania Sacra A. F. Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, 1972) S.-529-533; Hildegund Hölzel[-Ruggiu], Art. Toke, Heinrich, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 9 (1995) S.-964-971; Johannes Helmrath, Art. Toke (Tocke), Heinrich, in: Lexikon für Theologie und Kirche (3. Auflage) 10 (2001) S.-88-f. 89 Die bisher einzige Quelle zu dem Vorgang stellt die Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke dar, im Abdruck dieses Bandes bei S.-175-177; vgl. zur Kirche von Wartenburg Karl Pallas: Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemaligen sächsischen Kurkreis, Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 41, 1906) S.-353-362. 156 Hartmut Kühne vorletzten askanischen Herzogs von Sachsen Rudolf III. (um 1373-1419), als Patronatsherrin der Kirche zugunsten des neu entstandenen Wunderorts engagierte, wandte sich Heinrich Tocke deshalb auch an die wettinischen Landesherren, die seit 1423 als Nachfolger der Askanier auch den sächsischen Kurkreis regierten. 90 Schließlich gelang es Tocke, den Wartenburger Geistlichen, der das Wunder verkündet hatte, als Fälscher zu entlarven und inhaftieren zu lassen. Dass Tocke an insgesamt 18 Orten der Magdeburger Diözese solche Wunder untersucht und unterbunden haben soll, scheint allerdings eine nachreformatorische Fabel zu sein. 91 Wann sich Tocke stärker für Wilsnack zu interessieren begann, ist unklar; möglicherweise spielte dabei auch seine Tätigkeit auf dem Baseler Konzil eine Rolle, auf dem er seit 1432 im Auftrag des Magdeburger Erzbischofs Günther von Schwarzburg tätig war. Erst gut zehn Jahre später, als er nach verschiedenen Zwischenstationen nach Magdeburg zurückkehrte, ergab sich durch den Aufenthalt des Havelberger Bischofs Konrad von Lintorff (1427- 1460) im Juni 1443 in der Elbestadt für Tocke ein Anlass, seine Bedenken gegen die Vorgänge in Wilsnack dem zuständigen Bischof vorzutragen. 92 Dieser zeigte sich der Kritik gegenüber zugänglich und versprach eine Prüfung. Wenige Wochen später besuchte Tocke, als er sich wegen anderer Angelegenheiten in Havelberg befand, die Wilsnacker Kirche. Sein Bericht über diesen Besuch am 11.-Juli 1443 ist das detaillierteste Zeugnis, das wir über das Aussehen und den Betrieb der Wallfahrtskirche besitzen. 93 Allerdings sah er nicht jene Kirche, die man heute vorfindet, sondern noch den ersten, sehr viel kleineren Saalbau; mit dem Bau der heutigen Kirche, genauer dem Chor und Querhaus derselben (Abbildung 5), wurde erst kurz nach diesem Besuch begonnen. 94 Tockes Missfallen erregte besonders der Zustand der dort verehrten Hostien, da sich diese bereits völlig aufgelöst hatten und ihm wie Spinnweben erschienen, daher auch keine Brotsubstanz mehr besaßen. 95 90 Vgl. dazu auch den Beitrag Bünz/ Kühne in diesem Band S.-72. 91 Dies behauptete Matthias Flacius, CATALOGVS TE/ ||stium ueritatis […], Straßburg 1652 (VD16 F 1294) S.-555-f. 92 Vgl. Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.-193; Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke, S.-179. 93 Vgl. Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke, S.-179-182. 94 Vgl. Krauss/ von Olk, Neue Erkenntnisse (wie Anm. 13); Thalmann, Neue Erkenntnisse (wie Anm. 13) bes. S.-333-339. 95 Vgl. Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke, S.-181 f. Rom - Jerusalem - Wilsnack 157 Abbildung 5: Wilsnack, St. Nikolaus, Längsschiff und Chor 158 Hartmut Kühne Die vom Havelberger Bischof in Magdeburg zugesagten Reformmaßnahmen blieben in den folgenden Monaten aus. Diese Untätigkeit wurde auch für den weiteren Verlauf der Ereignisse kennzeichnend, denn Konrad von Lintorff vermied auch in den folgenden Jahren jede konkrete Maßnahme und saß den Konflikt gewissermaßen aus. Ab 1444 trat dafür der Brandenburger Markgraf in der Angelegenheit deutlicher in Erscheinung. Seitdem Friedrich-II. 1437 mit 24 Jahren die Regentschaft in der Mark Brandenburg übernommen hatte, hielt er sich jährlich mindestens ein Mal in Wilsnack auf 96 und stiftete dort für das Seelenheil seines Vaters und seiner Familie zwei Altäre. 97 Die häufige Anwesenheit des jungen Markgrafen in Wilsnack deutet darauf hin, dass der Ort für ihn eine gewisse Bedeutung besaß. Aus seinem Verhalten in den folgenden Jahren hat Ludger Meier geschlossen: „Er war vielleicht die stärkste Bastion, an welcher die Angriffe an Wilsnack abprallten.“ 98 Als Friedrich II. 1444 auf dem Weg zum Nürnberger Reichstag in Magdeburg Station machte, suchte er das Gespräch mit Heinrich Tocke. 99 Der Magdeburger Domherr trug dem Markgrafen seine Bedenken an dem eucharistischen Kult vor. Der Fürst soll die Kritik an den dort verkündeten Wundern zwar akzeptiert haben, in der Frage nach dem Umgang mit den dort verehrten Hostien wich er aber aus. Mit dem Tod des Magdeburger Erzbischofs Günther und der Wahl Friedrichs von Beichlingen (gest. 1464) zu dessen Nachfolger veränderten sich die Möglichkeiten für Tocke. Als dessen theologischer Schüler ließ sich der neue Erzbischof bereitwilliger als sein Vorgänger für die Reformanliegen gewinnen, die nicht nur Wilsnack im Blick hatten, sondern vor allem der Reform der Ordensniederlassungen galten. Zugleich versuchte Friedrich von Beichlingen die Aufsicht über seine Suffraganbischöfe zu verstärken, zu denen auch Havelberg zählte. Durch die Autorität des Erzbischofs sollte der Havelberger Bischof nun endlich zu einer verbindlichen Stellungnahme in Sachen der Wilsnacker Wallfahrt gezwungen werden. Dazu wurden durch den Magdeburger Erzbischof Anhörungen, sogenannte „Tagfahrten“ angesetzt; in den Jahren 1446 und 1447 gab es insgesamt fünf solcher Termine. 100 Zu keinem dieser Treffen erschien 96 Vgl. die Nachweise bei Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.- 191- f.; Schultze, Mark Brandenburg (wie Anm. 6) 3, S.-68. 97 Dies ergibt sich aus dem Vertrag über die Landesteilung vom 16. September 1447, Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. C1, Nr. 173, S.-280-292, hier S.-283. 98 Ludger Meier, Wilsnack als Spiegel deutscher Vorreformation, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 3 (1951) S.-53-69, hier S.-64. 99 Vgl. Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke, S.- 182- f.; Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.-196-f. 100 Vgl. Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.- 204-232; Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.-89-99. Rom - Jerusalem - Wilsnack 159 der geladene Havelberger Bischof, der sich stets wegen Krankheit oder anderen Verpflichtungen entschuldigen ließ. Zu dem letzten dieser Treffen im Mai 1447 kam anstelle des Bischofs Markgraf Friedrich II. 101 Vom Markgraf gingen auch die Impulse zur theologischen Abwehr der Angriffe auf, indem er den Franziskaner Matthias Döring veranlasste, eine Verteidigungsschrift für Wilsnack zu verfassen. 102 Die zahlreichen theologischen Gutachten, Traktate und Predigten, die sich mit der Legitimität des Wilsnacker Kultes und der Verehrung von Bluthostien überhaupt beschäftigen und in diesen Jahren an Universitäten, von Ordensleuten und Weltgeistlichen verfasst wurden, wären ein eigenes Thema, das hier nicht verfolgt werden kann. 103 Der Brandenburger Markgraf wählte einen weiteren Weg, um der Kritik an Wilsnack auf grundsätzliche Weise zu begegnen: Er sandte den Franziskaner Johannes Kannemann 104 nach Rom, um an der Kurie die Bestätigung der von seinen Vorgängern erteilten Ablässe für die Wilsnacker Kirche zu erbitten. Zugleich sollte Papst Eugen-IV. erlauben, dass den drei 1383 aufgefundenen Hostien eine weitere, neu konsekrierte Hostie hinzugefügt werden dürfe, so dass ein möglicher Mangel der seit über sechzig Jahren verehrten Hostien behoben würde. Die entsprechenden Bitten wurden in Rom am 2.-Januar und am 5.-Februar 1447 durch Urkunden bewilligt. 105 Für die Entscheidung zugunsten der markgräflichen Suppliken spielte auch eine Rolle, dass Friedrich II. damals wie andere deutsche Fürsten seine neutrale Haltung gegenüber dem Baseler Konzil bzw. Papst Eugen- IV. aufgab und die päpstliche Autorität anerkannte. Diese Hinwendung zum Papsttum ließ sich Friedrich durch eine Reihe von Privilegien 101 Ebenda S.-227-f. 102 Vgl. Petra Weigel, Ordensreform und Konziliarismus. Der Franziskanerprovinzial Matthias Döring (1427-1461) ( Jenaer Beiträge zur Geschichte 7, 2005), Regesten Nr. 92, S.-367-f., Nr. 96-99, S.-368-372. 103 Vgl. dazu neben Breest, Wunderblut (wie Anm. 87); Ludger Meier, Der Erfurter Franziskanertheologe Johannes Bremer und der Streit um das Wilsnacker Blutwunder, in: Aus der Geisteswelt des Mittelalters. Studien und Texte, Martin Grabmann zur Vollendung des 60. Lebensjahres von Freunden und Schülern gewidmet, hg. von Albert Lang/ Joseph Lechner/ Michael Schmaus (1935) S.- 1247-1264; Ders., Wilsnack als Spiegel (wie Anm. 98); Boockmann, Streit (wie Anm. 5); Anne-Katrin Ziesak, „Multa habeo vobis dicere“ … Eine Bestandsaufnahme zur publizistischen Auseinandersetzung um das Heilige Blut von Wilsnack, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 59 (1993) S.-208- 248; Dies.: Wilsnacks Widersacher, in: Wunder - Wallfahrt - Widersacher (wie Anm. 13) S.-133-162; Volker Honemann, Art. „Wilsnacker Wunderblut“, in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a. 10 (1999), Sp. 1171-1178. 104 Zur Person vgl. L[ivarius] Oliger, Johannes Kannemann, ein deutscher Franziskaner aus dem 15.-Jahrhundert, in: Franziskanische Studien 5 (1918) S.-39-67. 105 Zu den Verhandlungen in Rom und den entsprechenden Suppliken vgl. Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.- 92-96; gedruckt bei Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. A 2, Nr. 13-f, S.-149-151. 160 Hartmut Kühne vergelten, die seine Stellung gegenüber den Bischöfen und Domkapiteln seines Herrschaftsbereiches stärkten. Diese sog. Fürstenkonkordate wurden am 5.-Februar 1447 in Rom formell bestätigt. In diesen Zusammenhang gehörte auch die faktische Legitimierung des Wilsnacker Kultes durch die Römische Kurie. Da Eugen IV. schon wenige Tage später, am 23.-Februar 1447, starb, suchte man sofort um eine neuerliche Bestätigung der zugunsten Wilsnacks ausgestellten Urkunden bei dessen Nachfolger Nikolaus-V. nach, die dieser am 10.-September 1447 vollzog. 106 Mit den päpstlichen Entscheidungen zugunsten Wilsnacks wurde den Gegnern der Wallfahrt zunächst die Handlungsgrundlage entzogen. Doch Heinrich Tocke fand im Jahr 1451 eine neue Möglichkeit, gegen Wilsnack vorzugehen. Am Ende des Jubiläumsjahres 1450 wurde Kardinal Nikolaus von Kues (1401- 1464) als päpstlicher Legat in das römisch-deutsche Reich geschickt, um den Jubiläumsablass zu verkünden. Sein Auftrag zielte gleichermaßen auf die kirchliche Versöhnung nach dem Ende des Konziliarismus wie auf die Durchsetzung von Reformen, die das Ordensleben, den Klerus und das Verhalten der Laien betrafen. 107 Der Jubelablass wurde von dem Legaten auf den vom ihm einberufenen und besuchten Provinzialkonzilien verkündet, die zugleich die Reformen vorantreiben sollten. Auf dem Reiseweg des Legaten folgte den Synoden von Salzburg und Bamberg die am 18.- Juni 1451 in Magdeburg eröffnete Versammlung, an welcher auch die Suffraganbischöfe des Magdeburger Metropoliten persönlich oder durch Vertreter teil nehmen sollten - es fehlte allerdings der Havelberger Bischof. 108 Nikolaus von Kues blieb vom 11. bis zum 28. Juni 1451 in Magdeburg und verkündete hier auch verschiedene Reformdekrete. 109 Im Zusammenhang dieses Magdeburger Aufenthaltes wurde auch die Frage des Wilsnacker Wallfahrtskultes verhandelt und wahrscheinlich auch jener Traktat des Heinrich Tocke verbreitet, der seit Otto Breest meist als Synodalrede bezeichnet wird. 110 Nach einer wenig belastbaren Überlieferung soll der Legat in dieser Zeit sogar 106 Vgl. ebenda S.-99; gedruckt bei Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. A2, Nr. 15, S.-151-f. 107 Vgl. Erich Meuthen, Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/ 1452, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik, Bildung, Naturkunde, Theologie, hg. von Bernd Moeller/ Hartmut Boockmann/ Karl Stackmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Folge 3/ 179, 1989) S.-421-499. 108 Die Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium, hg. von Wilhelm Schum, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 14 (1883) S.-361-516, hier S.-469-f. erwähnen nur die Anwesenheit des Brandenburger und Merseburger Bischofs. 109 Vgl. Acta Cusana: Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, hg. von Erich Meuthen/ Hermann Hallauer, Band 1, Lieferung 3. Teilband a: 3. Januar 1451 - 5. September 1451 (1996) Nr. 1373-1442, S.-931-975. 110 Vgl. dazu die Einleitung zur Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke in diesem Band, S.-168. Rom - Jerusalem - Wilsnack 161 Wilsnack selbst besucht haben, um den Fall vor Ort zu prüfen. 111 Nicht mehr in Magdeburg, aber an der nächsten Station seiner Reise in Halberstadt erließ der Legat am 5.-Juli 1451 das Dekret Hoc maxime, das Bluthostien zu zeigen verbot und untersagte, von ihnen ausgehende Wunder zu verkünden und Bleizeichen in Hostienform zu verkaufen. 112 Bei Zuwiderhandlung trotz dreimaliger Ermahnung drohte der Kirchenbann. Auch wenn der Name Wilsnack in dem Dekret nicht genannt wurde, zielte es eindeutig auf den märkischen Wallfahrtsort. Das an alle Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte sowie Priester Deutschlands (per Alamaniam) gerichtete Schreiben forderte die Erzbischöfe dazu auf, dieses Gebot auch gegenüber ihren Suffraganen durchzusetzen, was der Magdeburger Erzbischof sogleich umsetzte. Allerdings ignorierte der Havelberger Bischof das Dekret ebenso wie die darauf folgenden Ermahnungen und Vorladungen seines Magdeburger Metropoliten. 113 Schließlich exkommunizierte Friedrich von Beichlingen den Havelberger Bischof am 8. Januar 1452 und verhängte über Wilsnack das Interdikt. Daraufhin veranlasste Bischof Konrad seinerseits die Exkommunikation des Magdeburger Metropoliten. Es folgte „ein kleiner Krieg“ 114 , nämlich Brandschatzungen und Plünderungen auf dem Gebiet des Erzstiftes Magdeburg. In dieser Situation wandten sich beide Seiten an den päpstlichen Gerichtshof, die Rota, als oberste Richterin in der Christenheit. Die Position des Magdeburger Metropoliten und seines theologischen Beraters schien in Rom nun stärker zu sein als vier Jahre zuvor. Mit Nikolaus von Kues stand ein von Papst Nikolaus-V. hochgeschätzte Berater auf Seiten des Magdeburger Erzbischofs, der auch nach dem Verlassen Magdeburgs weiterhin den Kontakt dorthin hielt. 115 Man konnte sich aber noch eines weiteren Fürsprechers versichern: 1452/ 53 reiste der Franziskaner Johannes Kapistran, ein charismatischer Kanzelredner und Wundertäter, predigend und missionierend durch das römisch-deutsche Reich. 116 Noch bevor er in Magdeburg eintraf, sandte ihm der Magdeburger Erzbischof den Propst des Magdeburger Liebfrauenklosters Eberhard Waltmann (gest. nach 111 Acta Cusana (wie Anm. 109) Nr. 1401-1403, S.-945-946; vgl. auch den Beitrag von Jan van Herwaarden in diesem Band, S.-47. 112 Ebenda Nr. 1454, S.-980-f. 113 Vgl. Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.- 241-243; Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.-101-f. 114 Boockmann, Streit (wie Anm. 5) S.-405. 115 Vgl. Jutta Fliege, Nikolaus von Kues und der Kampf gegen das Wilsnacker Wunderblut, in: Das Buch als Quelle historischer Forschung. Dr. Fritz Juntke anläßlich seines 90. Geburtstages gewidmet, hg. von Joachim Dietze (1977) S.-62-70. 116 Vgl. den Überblick von Kaspar Elm, Johannes Kapistrans Predigtreise diesseits der Alpen (1451-1456), in: Lebenslehren und Weltentwürfe (wie Anm. 107) S.-500-519. Ein genaues Itinerar bietet Johannes Hofer, Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche, 2 Bde. (2. Auflage 1964/ 65). 162 Hartmut Kühne 1479) entgegen, um seine Unterstützung gegen Wilsnack zu gewinnen. Obwohl Kapistran theologisch grundsätzlich für den Kult blutender Hostien votierte, ließ er sich von der Magdeburger Position überzeugen. 117 Am 25.-Oktober 1452 richtete er von Leipzig aus Schreiben an Papst Nikolaus V. und zwei Prälaten der Römischen Kurie, in denen er eine genaue Untersuchung der Wunderstätte empfahl. 118 Am 6.- Dezember 1452 machte sich der Sekretär des Magdeburger Erzbischofs Vincenz Neumeister auf den Weg nach Rom, um an der Kurie wegen Wilsnack tätig zu werden. 119 Die Entscheidung der Rota über die Streitsache schien am Bericht des Nikolaus von Kues zu hängen, weshalb vermutet werden konnte, dass die Gewichte zu Ungunsten Wilsnacks ausschlagen würden. 120 In dieser für Wilsnack ungünstigen Situation fiel in Berlin die Entscheidung zum Aufbruch des Markgrafen in das Heilige Land. 4. Römisches Finale Wie im Frühjahr 1453 in Rom hinter den Kulissen über den Streitfall Wilsnack verhandelt wurde und wer daran im Einzelnen beteiligt war, lässt sich nicht mehr aufklären. Eine Rolle spielte dabei wohl der einflussreiche Kardinal Juan de Carvajal (gest. 1469), ein päpstlicher Gesandter und „Chefdiplomat“, der schon an den deutschen Fürstenkonkordaten des Jahres 1446/ 47 mitgewirkt hatte und als Auditor der Rota Einfluss auf das Wilsnacker Verfahren nehmen konnte. 121 Ihm stand freilich Nikolaus von Kues gegenüber, der sich seit dem 5.-März 1453 in Rom aufhielt. Nur vier Tage später traf auch der Brandenburger Markgraf in der Ewigen Stadt ein, wo er mit höchsten Ehren als Jerusalempilger empfangen wurde. Über seinen Aufenthalt in Rom informiert ein Brief des Generalprokurators des Deutschen Ordens an der Römischen Kurie, Jodocus Hogenstein, der darüber ausführlich an den Hochmeister Ludwig von Erlichshausen berichtete. 122 Danach kam der durchluchtige Furste Marggraff Frederich der elder, korforste […] am freitage vor mitfasten nach Rom, yn meynunge vorbass 117 Vgl. Breest, Wunderblut (wie Anm. 87) S.-243-f. und 255-274. 118 Vgl. Ziesak, Multa habeo (wie Anm. 103) S.-229-231. 119 Acta Cusana (wie Anm. 109) Band II, Lieferung 1: 1452 April 1 - 1453 Mai 29 (2012) Nr. 2937, S.-274; vgl. auch Fliege, Nikolaus von Kues (wie Anm. 115) S.-64. 120 Vgl. ebenda S.-65, 67-f. 121 Vgl. Fliege, Nikolaus von Kues (wie Anm. 109) S.-64-f.; zur Person Erich Meuthen, Art. „Carvajal, Juan de“, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983) Sp. 1536. 122 Vgl. Christiane Schuchard, Die Goldene Rose Papst Nikolausʼ V. von 1453 in der Berlin- Cöllner Schlosskapelle, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart (2000) S.-7-26, hier S.-7 mit Anm. 7. Der Brief vom 19. März 1453 ist gedruckt von Johannes Voigt, Die Erwerbung der Neumark. Ziel und Erfolg der brandenburgischen Politik unter den Kurfürsten Friedrich I. und Friedrich II. 1402-1457 (1863) S.-337, Anm. 1. Rom - Jerusalem - Wilsnack 163 übber meer yns heilige land zcu czyhen. 123 In seiner Begleitung reisten sechs Grafen - sicher dieselben Personen, die auch aus der Jerusalemer Ritterschlagsliste Peter Rots bekannt sind. Für die Reise von Berlin nach Rom dürfte der Markgraf etwa 50 Tage benötigt haben. Der sächsische Kurfürst Ernst, der im Februar 1480 aufbrach, um zum Osterfest in Rom zu sein, brauchte für seine Reise von Dresden aus 47 Tage. 124 Genau dieselbe Zeit benötigte der Gießener Rentmeister Balthasar Schrautenbach, als er 1498 im Auftrag des hessischen Landgrafen an der Römischen Kurie tätig war, für die Rückreise nach Marburg. 125 So wird auch die Reisegruppe des Brandenburger Markgrafen Mitte Januar in Berlin aufgebrochen sein. Für das Erreichen der Pilgerschiffe in Venedig wäre dieser frühe Aufbruch nicht nötig gewesen und auch zur Feier des Osterfestes in Rom wäre Friedrich II. noch rechtzeitig gekommen, hätte er seine Reise im Februar begonnen. Entscheidend für die Wahl der frühen Abreise war die Ankunft am Mittfastensonntag Laetare (11.-März 1453), da an diesem Sonntag jährlich in der Papstmesse eine Goldene Tugendrose geweiht und an den Würdigsten der dabei Anwesenden verschenkt wurde. 126 Gerade unter Papst Nikolaus-V. begann die Vergabe der Tugendrose an bedeutende nichtitalienische Landesfürsten eine Rolle zu spielen, wodurch sie gewissermaßen zur „politischen“ Auszeichnung wurde. 127 Deutsche Landesfürsten hatten die Rose in der ersten Hälfte des 15.- Jahrhunderts noch nicht erhalten. Nur der König bzw. Kaiser Sigismund empfing dieses besondere Geschenk auf dem Konstanzer Konzil 1415 und nochmals 1435, außerdem Kaiser Friedrich III. im Jahre 1452 im Anschluss an seine Krönung in Rom. Auch wenn im Laufe des 15.- Jahrhunderts noch mehrmals deutschen Landesfürsten die Goldene Rose überreicht wurde 128 , eröffnete der Brandenburger Markgraf mit seinem Rombesuch 1453 diese illustre Reihe. Er war auch in dieser Hinsicht ein „Trendsetter“. Die Bereitschaft, zur richtigen Zeit vor Ort zu sein, dürfte diese 1453 noch ungewöhnliche Entscheidung unterstützt haben. Der Bericht Hogensteins notierte genau die Übergabe der Goldenen Rose an den Markgrafen durch den Papst, wobei er ihm grosse ere darczeiget und bewisset, da alle Cardinal, biscchoff und prelaten […] yn vom Pallas santi Petri bass yn seyn herberge 123 Voigt, Erwerbung (wie Anm. 122) S.-337, Anm. 1. 124 Vgl. Franz Thurnhofer, Die Romreise des Kurfürsten Ernst von Sachsen im Jahre 1480, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 42 (1921) S.-1-63. 125 Vgl. Herbert Krüger, Itinerarstudien zu Balthasar Schrautenbachs Romreise von 1498, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 41 (1956) S.-22-45. 126 Vgl. Elisabeth Cornides, Rose und Schwert im päpstlichen Zeremoniell. Von den Anfängen bis zum Pontifikat Gregors XIII. (1967). 127 Vgl. Cornides, Rose und Schwert (wie Anm. 126) S.-93-f.; Schuchard, Goldene Rose (wie Anm. 122) S.-10-12. 128 Vgl. Schuchard, Goldene Rose (wie Anm. 122) S.-14-17. 164 Hartmut Kühne führte. 129 Im Anschluss an das folgende Essen ritt der Markgraf in einer Prozession mit der Goldenen Rose zur Lateranbasilika und weiter nach Santa Croce in Gerusalemme, begleitet von veelen deutschen Cortisan, […] ym zcu eren. 130 Eine spätere Aufzeichnung betont, dass der Markgraf entgegen dem Protokoll von zwei Kardinälen begleitet wurde, was ihm wegen der besonderen Treue während der Zeit des zurückliegenden Schismas gewährt worden sei. 131 Die in Rom rituell demonstrierte Wertschätzung des Brandenburger Markgrafen auf dem Weg in das Heilige Land brachte sofort diplomatische Früchte. Noch am Sonntag Laetare erhielt Friedrich für sich und sein auf dem Weg nach Jerusalem befindliches Gefolge das päpstliche Privileg zur freien Wahl eines Beichtvaters und zur Messfeier an mit dem Interdikt belegten Orten, eine Gnade, die diese Reise erleichterte. 132 Am 12.-März, dem unmittelbar folgenden Montag, wurde in der Wilsnacker Streitfrage entschieden: „In einer an die Bischöfe von Meißen und Merseburg gerichteten Bulle […] werden die von beiden Seiten [d. h. dem Erzbischof von Magdeburg und dem Bischof von Havelberg] verhängten Zensuren aufgehoben und jede neue Strafsentenz verboten“ 133 , wie Hennig die Urkunde knapp zusammenfasste. 134 Die Existenz der Wallfahrt war somit gesichert, ohne dass eine Verurteilung der Gegner in der Sache erfolgte. 135 Wiederum am darauffolgenden Tag verlieh Nikolaus- V. den Besuchern der Schlosskapelle in Cölln, wo der Markgraf die vom Papst verliehene Goldene Rose aufzubewahren beabsichtigte, einen siebenjährigen Ablass. 136 Dass der Markgraf damit die Absicht verband, „in Konkurrenz zu dem für den Bischof von Havelberg so einträglichen Wilsnack ein eigenes Wallfahrtszentrum einzurichten“, ist schon durch 129 Voigt, Erwerbung (wie Anm. 122) S.-337, Anm. 1. 130 Ebenda. 131 Schuchard, Goldene Rose (wie Anm. 122) S.-10. 132 Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Nikolaus’ V. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1447- 1455, 2 Bde., bearbeitet von Joseph Friedrich Abert/ Walter Deeters/ Michael Reimann (Repertorium Germanicum 6,1-2, 1985/ 1989) Nr.- 1259. Die eigentlich auch notwendige päpstliche Lizenz zum Besuch des Heiligen Landes ist aber nicht überliefert, vgl. Gritje Hartmann, Licencia apostolica intrandi terras Sarracenorum et communicandi cum eis. Die päpstlichen Register als Quelle für die spätmittelalterlichen Pilgerfahrten, in: Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung, hg. von Michael Matheus (2012) S.- 243-278, bes. S.-255. 133 Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.-102. 134 Gedruckt bei Riedel, Codex (wie Anm. 18) Bd. A2, Nr. 18, S.-156-158. 135 Vgl. auch die Überlegungen von Meier, Wilsnack als Spiegel (wie Anm. 98) S.-65-f. zu den sachlichen Gründen der Entscheidung. 136 Zum weiteren Schicksal dieser Goldenen Rose vgl. Schuchard, Goldene Rose (wie Anm. 122) S.-13-f. Rom - Jerusalem - Wilsnack 165 die zeitliche Verquickung mit der Urkunde zugunsten der Wilsnacker Wallfahrt wenig glaubhaft. 137 Dass mit dem päpstlichen Privileg vom 11.-März 1453 eine Serie von kurialen Urkunden einsetzt, die der Markgraf in den folgenden vier Wochen seines Romaufenthaltes erbat und erhielt, hatte bereits Bruno Hennig erkannt. 138 Die zahlreichen päpstlichen Privilegien, von denen auch die Mitglieder der fürstlichen Reisegesellschaft profitierten, lässt sich aufgrund der heute durch das Repertorium Germanicum gut erschlossenen kurialen Registerüberlieferung genauer erfassen, was an dieser Stelle aber nicht ausgeführt werden kann. 139 Am Schluss kann das knappe Fazit von Hartmut Boockmann stehen: „Im Jahre 1453 hat sich der Kurfürst persönlich nach Rom bemüht, und der Papst hat das Urteil seines Legaten [Nikolaus von Kues] kassiert - jedoch vielleicht nicht […] bloß dem Kurfürsten zuliebe.“ 140 Boockmann ging es darum aufzuzeigen, dass noch andere Gründe, etwa seelsorgerliche, bei der Entscheidung eine Rolle gespielt hatten, nicht nur politische Macht und diplomatisches Geschick. Aus der Sicht heutiger Forschung kommen aber auch Fragen des Gestus, der Haltung, der „Inszenierung“ in den Blick. In dieser Hinsicht ist es belangvoll, dass die Entscheidung der Römischen Kurie zugunsten Wilsnacks von einem Fürsten herbeigeführt wurde, der sich auf den gefahrvollen Weg in das Heilige Land begeben hatte. Im selben Jahr, als Friedrich II. nach Jerusalem zog, wurden im Übrigen auch jene Bäume geschlagen, die bis heute zum Dachgebälk für den damals bereits neu erbauten Chor der Wilsnacker Kirche dienen. 141 137 So Kraack, Jerusalem als Reiseziel (wie Anm. 41) S.-54. 138 Hennig, Kurfürst Friedrich II. (wie Anm. 1) S.-102-f. mit Anm. 3. Da Friedrich II. am 7. April 1453 in Venedig eintraf (s. o. S.-148), dürfte er kurz nach dem Osterfest (Ostersonntag war der 1.-April 1453) aus Rom abgereist sein. 139 Vgl. aber etwa den Hinweis bei Hartmann, Licencia apostolica (wie Anm. 132) S.- 268, Nr. 53. 140 Boockmann, Streit (wie Anm. 5) S.-405. 141 Vgl. Krauss/ von Olk, Neue Erkenntnisse (wie Anm. 13) S.-127. Die Rede des Magdeburger Domherren Heinrich Tocke gegen das (Wilsnacker Wunder-)Blut Abdruck der Übersetzung von Ernst Breest mit einer Vorbemerkung von Hartmut Kühne Für den im Folgenden in der deutschen Übersetzung von Ernst Breest (1843-1918) abgedruckten Text gibt es lediglich einen Textzeugen, der das lateinische Original des Tractatus magistri hinrici take [= Tocke] contra cruorem bietet: eine aus der Bibliothek des Kanonissenstiftes St. Cyriakus in Gernrode stammende Sammelhandschrift, die 17 verschiedene theologische Traktate enthält. Die letzten sechs Texte gehören in das Umfeld der theologischen Debatte um Wilsnack und stammen ausschließlich von Gegnern des Wilsnacker Kultes. 1 Nach der Reformation zu einem Damenstift umgewandelt, wurde es im 17. Jahrhundert aufgelöst; der Buchbesitz wanderte zunächst in die Herzogliche Bibliothek Bernburg, deren Bestände 1877 in die Herzoglich Anhaltische Behördenbibliothek übergingen. 2 Diese Provenienz erklärt auch die heutige Signatur des Handschriftenbandes „BB 3944“, die er auch behielt, als er der Stadtbibliothek Dessau zugeordnet wurde, die schließlich in der Anhaltische Landesbücherei Dessau, der heutigen besitzenden Institution, aufging. Ernst Breest ist als Erster auf diese Handschrift aufmerksam geworden. Er benutzte „Tocke’s Synodalrede von 1451, das eigentlich orientierende Werk“ als wichtiges Zeugnis für seine umfangreiche Darstellung zur Geschichte der Wilsnacker Wallfahrt. 3 Im Anschluss an diesen Aufsatz publizierte Breest seine deutsche Übersetzung des Traktats in der Beilage zu einer Magdeburger Zeitung. 4 Längere Auszüge aus der Handschrift hat der Franziskaner Ludger Meier (1898-1961) in einem Aufsatz über den Lektor des Erfurter Franzikanerkonventes Christianus de 1 Vgl. zur Handschrift Jutta Fliege, Die lateinischen Handschriften der Stadtbibliothek Dessau: Bestandsverzeichnis aus dem Zentralinventar mittelalterlicher Handschriften (1986) S. 116-120. Der Traktat umfasst die Blätter 261r-271v. 2 Vgl. Wilhelm Gröpler, Verzeichnis derjenigen Bücher, welche aus der Gernroder Stiftsbibliothek in die frühere Bernburger Landesbibliothek und aus Letzterer in die gegenwärtige Anhaltische Behördenbibliothek zu Dessau übergegangen sind, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde 3 (1883) S.-772-776. 3 Ernst Breest, Das Wunderblut von Wilsnack (1383-1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte, in: Märkische Forschungen 16 (1881) S.-131-302; zur Entdeckung der Handschrift hier S.-135-f., das Zitat S.-136. 4 Blätter für Handel, Gewerbe und sociales Leben. Beiblatt zur Magdeburgischen Zeitung 34 (1882) S.-162-f., 174-176, 177-180. Hiddestorf (um 1390-1420) abgedruckt. 5 Eine vollständige Edition des lateinischen Textes fehlt; bislang gibt es auch kein frei zugängliches Digitalisat der Handschrift. Die Annahme, dass der in der Handschrift als Traktat bezeichnete Text von Heinrich Tocke auf der Magdeburger Provinzialsynode im Juni 1451 vor dem päpstlichen Legaten Nikolaus von Cues vorgetragen wurde 6 , hat Breest ohne nähere Begründung massiv vertreten 7 und die Forschung ist ihm darin auch lange ohne nähere Prüfung gefolgt. 8 Die einleitenden Worte mit der sehr wahrscheinlichen Anrede an Nikolaus von Cues als Christo pater et domine sancte sedis apostolice ad has partes legate dignissime und an die übrigen Versammelten macht die Situation des Provinzialkonzils als vorauszusetzendes Auditorium der Rede zwar durchaus wahrscheinlich, der weitere Text, in dem mehrfach vom Legaten in dritter Person gesprochen wird und auch die fehlende Anrede an den Magdeburger Erzbischof lassen aber an eine komplexere Entstehung des Textes denken, so dass es sich kaum um das tatsächlich auf der Synode in dieser Form vorgetragene Redemanuskript handeln wird. Erich Meuthen (1929-2018) hat daher vermutet, es könnte sich um „die unzureichende Umformulierung eines in Erwartung der Herreise des N[ikolaus]v[on]K[ues] vorverfaßten Traktates in die dann tatsächlich gebotene Vortragsform“ handeln: „Daß die angeredeten auditores mit den Synodalen des Magdeburger Provinzialkonzils identisch sind, muß ebenfalls eine - wenngleich ansprechende - Konjektur bleiben.“ 9 Auch wenn daher der von Breest behauptete, geradezu dokumentarische Zeugniswert des Traktates mit einem leichten Fragezeichen versehen werden muss, bleibt der Text ein wichtiges Zeugnis für alle mit der Wilsnacker Wallfahrt in Verbindung stehenden Fragen. Deshalb wollte Volker Honemann ihn gerne - nach Möglichkeit in einer kommentierten Neuedition - im Rahmen dieses Tagungsbandes veröffentlichen. Der Abdruck der inzwischen schwer greifbaren und noch nicht digital verfügbaren Zeitungsbeilage möge als Provisorium und zugleich als erster Schritt hin zu dieser erwünschten Neuausgabe verstanden werden. 10 5 Ludger Meier, Christianus de Hiddestorf O. F. M. Scholae Erfordiensis columna, in: Antonianum 14 (1939) S.-43-76 und S.-157-180, hier S.-52-57. 6 Zur Magdeburger Provinzialsynode vgl. Acta Cusana: Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, hg. von Erich Meuthen/ Hermann Hallauer Band 1, Lieferung 3. Teilband a: 3. Januar 1451 - 5. September 1451 (1996) Nr. 1373-1442, S.-931-975 7 Breest, Wunderblut (wie Anm. 3) S.-237-240. 8 So etwa Ludger Meier, Wilsnack als Spiegel deutscher Vorreformation, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 3 (1951) S.-53-69, hier S.-58; Hartmut Boockmann, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982) S.-385-408, hier S.-388, Anm.-12 und S.-404. 9 Acta Cusana (wie Anm. 6) Nr.-1439, S.-973. 10 Zum Verfasser und den Einzelheiten der hier geschilderten Auseinandersetzung vgl. den Beitrag von Hartmut Kühne in diesem Band, bes. S.-154-162 mit weiterer Literatur. 168 Heinrich Tocke Synodalrede des Domherrn Dr. Heinrich Tocke von Magdeburg; gehalten auf dem Provinzialconcil zu Magdeburg im Juni 1451. Nach einem Manuscripte der herzoglichen Behörden-Bibliothek zu Dessau, deutsch von Ernst Breest 11 [S.- 167] Die nachfolgende Rede des Dr. Tocke wurde in Gegenwart des Cardinal=Legaten Nikolaus von Cusa gehalten. Sie giebt ein treues Bild von dem Ernst und Eifer, mit dem der Kampf gegen mittelalterlichen Aberglauben, nämlich gegen die Wunder des heil. Bluts zu Wilsnack und gegen die Wallfahrten dahin von Magdeburg aus geführt wurde. Magdeburg, eine der ersten Städte, die zur Reformation übertraten, war um die Mitte des 15. Jahrhunderts unter Erzbischof Friedrich von Beichlingen schon mit allerlei heilsamen Reformen vorangangen; Dr. Heinrich Tocke war des Erzbischofs rechte Hand. Näheres über den vorliegenden Stoff siehe im XVI. Bd. der „Märkischen Forschungen,“ 1881 12 ; vergl. auch Beiblatt der „Magdeb. Zeitung“ von 1875, S.-65 u. ff. Ich habe euch viel zu sagen ( Joh. 16,12), ehrwürdigster Vater in Christo und Herr, auch würdigster Legat des heil. apostol. Stuhls für diese Gegenden, und ihr übrigen Zuhörer meiner Proposition: in der That, ich habe euch viel zu sagen, was die Ehre Gottes, den heil. katholischen Glauben, die Ehrfurcht vor den Sacramenten, die christliche Moral und die Ehre der ganzen christlichen Kirche betrifft. Nicht ich aber allein, sondern auch meine Vorgeordneten und·meine hiesigen Collegen, die wir von unserem ehrwürdigsten Vater Friedrich, Erzbischof von Magdeburg und Primas von Deutschland, deputirt sind und in dessen Namen die nachfolgende Angelegenheit, die zugleich Gottes Sache ist, verhandelt werden soll. Für Christum übernehmen wir den Auftrag, und Gott vermahnt gleichsam durch uns. Da Er die Wahrheit ist, wolle Er uns um Seinetwillen die Wahrheit weisen. Möchte dieselbe so viel Vertheidiger als Widersacher haben, oder wenigstens so viel Förderer, daß man sie Bekenner der Wahrheit nennen kann. Urtheilt nun nicht nach dem Schein, sondern richtet recht. Wenn fromme Redner über bedeutende Dinge sprechen wollen, so pflegen sie mit einem Gottesworte zu beginnen; ich denke ihrem Beispiel zu folgen und 11 Abdruck nach dem Beiblatt zur Magdeburgischen Zeitung 1882 (wie Anm. 4); die Graphie und Absätze wurden beibehalten, die Zeilenumbrüche wurden aufgelöst, die Fortsetzungshinweise und Titelwiederholungen nicht übernommen. In eckigen Klammern erscheinen die Seitenzahlen der Vorlage sowie ggf. Namensergänzungen und Datumsangaben. 12 Vgl. oben Anm. 3. Synodalrede Magdeburg 1451 169 170 Heinrich Tocke da schien mir zur Einleitung dies Wort besonders passend zu sein: „Was wir gesehen und gehöret haben, das verkündigen wir euch“ u.s.w. Geliebteste! Das Zeugniß, welches seine Kraft den eigenen Augen und Ohren verdankt, ist ausreichend, ja ganz vorzüglich. In diesem Sinne sagt unser Herr, Jesus, zu Nikodemus: „Wir wissen, was wir reden und zeugen, was wir gesehen haben,“ Joh. 3, und ebendaselbst spricht Johannes der Täufer von Jesu: ·„Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er.“ Petrus und Johannes aber antworten den Obersten der Juden: „Wir können es nicht lassen, zu zeugen was wir gesehen und gehört haben“ (Apostelg. 4). Daher theilen auch wir euch mit, was wir gesehen und gehört haben. So groß ist fürwahr die Tugend und der Adel der Wahrheit, daß sie, mit menschlichem Zeugniß nicht zufrieden, auch ein göttliches verlangen. „Ich bin Richter und Zeuge,“ sagt Gott, Jerem. 29, Hiob sagt (C. 16): „Im Himmel ist mein Zeuge.“ Die Hauptleute sagten zu Jeremias: „Der Herr sei zwischen uns Zeuge der Wahrheit“ ( Jer. 42). So spricht auch Jesus, Gottes Sohn: „Ich bin dazu geboren, daß ich die Wahrheit zeugen soll“ ( Joh. 18) und ebenfalls: „Der heilige Geist wird zeugen von mir“ ( Joh. 15). Zu den Aposteln spricht er: „Jhr werdet meine Zeugen sein in Judäa und Samaria und bis an das Ende der Welt“ (Act. 1.) …. Was aber werden wir euch verkündigen? Ich antworte: Die unzweifelhafte Wahrheit, denn da wir reden, was wir gesehen und gehört haben, so kann es der Verstand nicht bezweifeln; dann aber auch die erwünschte Einigkeit der Liebe, die nach dem Text der Erfolg unserer Rede sein wird. Welche Liebe Gottes! Wie herrlich ist der Beruf, wie lieblich die Einigkeit, welche die Wahrheit zeigt und die Liebe nährt, so daß der ganze Mensch vollkommen wird! Neigt deshalb mit Recht unsern Ausführungen euer Ohr. So viel zuerst. Es wundern sich Manche, weshalb mein Herr, der Erzbischof Friedrich von Magdeburg, dazu geschritten ist, den Zulauf nach Wilsnack und die Dinge, die in diesem Städtchen getrieben werden zu prüfen, um zu erfahren, ob sich da Alles so verhält, wie er gehört hat, oder nicht. Sie sollten sich lieber darüber wundern, daß man die ganze Sache bisher so leicht genommen, und so viele Jahre hindurch nicht geprüft hat; die Träume eines verstorbenen dortigen Geistlichen bilden die einzige Approbation der Geschichte, aus der viel öffentliches Unheil und unzählige Lügen entsprungen sind; dieselben haben Glauben gefunden und sind bis jetzt noch nicht gehörig widerlegt und verhindert worden. Jeder, der Gott liebt, sollte auch Gott preisen, daß Er dieser Provinz einen solchen Hirten erweckt hat, der danach trachtet, der Sache auf den Grund zu kommen. Würde sich herausstellen, daß sie von Gott ist, so würde er sie mit den Seinigen anerkennen und allen Gegnern Stillschweigen auferlegen; sollte aber Betrug und Geiz dabei zu Tage kommen und allerlei Schlechtigkeit, so würden sich Alle, die noch Ehrbarkeit und die göttliche Gerechtigkeit lieben, freuen, von dem heiligen Blut dort loszukommen und würden die Wahrheit erkennen. Denn der Drang nach der Wahrheit und die Liebe zum Guten ist nach Boetius Jedem angeboren.·Nach Augustin ist das wahr, was ist, im höchsten Sinne ist also das göttliche Wesen Wahrheit, von dem alle Wahrheit abgeleitet wird. Daher muß die Wahrheit Allen·angenehm sein. Da nun schon berühmte Männer, die sich durch Sittenreinheit und durch Literatur auszeichnen, den genannten Ort seit vielen Jahren verabscheut haben, so war er meinem Herrn, dem Erzbischof, mit Recht verdächtig. Auf den bloßen Verdacht jedoch wollte er keine Sentenz fällen; er fing deshalb an zu prüfen, rein um Gottes [S.-168] willen, ohne irgendeine Nebenabsicht, wie ein gewisser (Matthias Döring, der sächsische Chronist ist gemeint) in einer Abhandlung gegen die Erfurter theologische Fakultät behauptet. Er wirft die Frage auf, wem denn die Wunder von Wilsnack verdächtig wären und antwortet: „Nicht den Königen, Fürsten und anderen frommen Leuten, denen die Wohlthaten zu Theil werden, sondern vielleicht denen, die Nichts abkriegen.“ Heißt das nicht, der Herr Erzbischof und seine Mitarbeiter schienen ihm von den Gaben und Opfern etwas abhaben zu wollen? Gott weiß, wie falsch dies ist. Wir haben nie etwas von jener Beute begehrt und begehren auch heut nichts. Vielleicht vertheidigt der Verfasser jener Abhandlung den Ort, weil er selbst sein Theil oder Belohnungen erhält. Wir haben nichts begehrt und sprechen ruhig mit Petrus: „Daß du verdammt seist mit deinem Gelde u.-s.-w.“ Unser Theil ist Gott, wie es im 118.- Psalm heißt, und Gottes Gebot zu halten, ist uns lieber. Um dieses göttlichen Antheils willen hat der Herr Erzbischof von Magdeburg zu rechter Zeit, schon im ersten Jahre seiner Regierung (1445), die Untersuchung begonnen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, zugleich im Interesse des christlichen Glaubens, zur Ehre und Erhöhung seiner Magdeburger Kirche, zum Heil der lebenden und der zukünftigen Geschlechter, sowie endlich, um den canonischen Institutionen nachzukommen. Augustinus sagt, man müsse etwas Unwahres verabscheuen, auch wenn es zum Lobe Gottes zu gereichen schiene, und es sei in Gottes Augen vielleicht ein größeres Verbrechen, das Falsche zu loben, als die Wahrheit zu tadeln. Wir müssen unsern Glauben so ehren, das wir nichts Falsches zu seiner Vertheidigung heranziehen, denn dann würde er ganz verdächtig. Die Magdeburger Kirche würde mit Recht der Nachlässigkeit beschuldigt werden, wenn keine Prüfung geschähe; man würde mit Recht annehmen, daß sie alle Bosheit und Schlechtigkeit, die in Wilsnack existiert oder noch sein wird, begünstigt, wenn sie nicht sucht die Wahrheit zu ergründen. Denn ein Irrthum, dem nicht widerstanden wird, der wird eo ipso approbirt. Wie sollten wir nicht Mitleid haben mit so vielen Wallfahrern beiderlei Geschlechts und aus allen Ständen, die sich Beschwerden auferlegen, um nach Wilsnack zu pilgern, die ermüdet, beunruhigt, beraubt, geschwächt werden und Synodalrede Magdeburg 1451 171 172 Heinrich Tocke umkommen! O Gott, wie Viele werden dort nur schlechter, werden betrogen und lernen betrügen! Wie viele lachen sich ins Fäustchen, die aus den Wallfahrten und Wundern ihren Gewinn und Unterhalt ziehen, indem sie schlimmerweise für die Wallfahrten nach Wilsnack betteln, wobei unendlich viel gelogen wird! Einige lassen sich schicken, andere gehen ohne Auftrag zu haben. Ist irgend Liebe in euch, so laßt uns Mitleid haben mit unseren Nächsten, für die Christus gestorben ist, wie Er selbst sagt: „Was ihr gethan habt einem unter den geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir gethan.“ Heißt es doch auch in den [! ] kanonischen Institut. „Die Prälaten sollen nicht gestatten, daß die, welche Wallfahrtsorte besuchen, durch Märchen oder falsche Zeugnisse getäuscht werden, wie vielfach um des Gewinnes willen geschieht.“ Ich beschwöre euch daher bei der Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi, bestärkt nicht, sondern entkräftet jenes bekannte Sprüchwort der Sarazenen. „Du lügst wie ein Christ.“ O Gott, der du die Wahrheit bist und deinen Knechten, den Christen, die Wahrheit offenbart hast, warum duldest du es, daß so die wahre Frömmigkeit aus der Religion verschwindet und daß durch solche Lügen dein heiliger Glaube verlacht wird, so daß die gotteslästerlichen Sarazenen solch Sprüchwort erfinden können? Seht, das sind die Gründe, weshalb der Erzbischof begonnen hat, den Ort Wilsnack in Untersuchung zu ziehen. Wenn ihn nicht Einige gehindert hätten, die ihm eigentlich hätten helfen sollen (der Markgraf von Brandenburg und der Havelberger Bischof sind gemeint), läge die Wahrheit längst zu Tage, es wäre manche Gefahr beseitigt und manchem leiblichen und geistlichen Schaden vorgebeugt. Außerdem lag ihm daran, sich nicht blos als Hirt der Schafe, sondern auch als Oberhirt der Hirten zu erweisen, wie es sein Amt ist. Er hielt sich daher zu dieser Untersuchung für ganz besonders berufen. Nach der Weise eines guten Hirten beschloß er, nicht zu fliehen oder nachzugeben, sondern für die Herde seines Herrn bis aufs Blut männlich zu kämpfen. Sollte nun einer von unseren Gegnern sagen: Wieso flieht der Erzbischof? Bleibt er nicht mit uns in demselben Lande? so antworte ich: Ein schlechter Hirte flieht, wenn er auch körperlich an demselben Orte bleibt, wie Augustinus sagt: „Er flieht indem er schweigt und er schweigt, weil er sich fürchtet.“ Da der Erzbischof nun Gott fürchtet, so schwieg er nicht, als der Wolf kam, sondern rief seine Hunde, d.-i. seine Doctoren. Von diesen Hunden ist er angereizt worden, den Wolf zu verfolgen. Man sagt immer, in Wilsnack sei von Anfang an (1383) die Hauptsache das Sacrament gewesen, was oft widerlegt worden ist. Aber selbst wenn es sich so verhielte, was wir freilich nicht zugeben, so kann doch Niemand läugnen, wie viel Betrügereien und Mißbräuche in Worten und Werken dort vorgekommen sind, welche laute Mißbilligung verdienten. Haben sie nicht oft versprochen, vorsichtig sein zu wollen, damit nicht so viele Wunder leichtsinnig und unehr- Synodalrede Magdeburg 1451 173 lich verkündigt werden? Sie sind schlau geworden: über die Wunder schweigen sie gewissermaßen und nennen das Ding nicht oft, reden auch nicht vom „heiligen Blute,“ sondern vom „hochwürdigen Sakrament.“ In welcher Absicht haben sie das geändert? Zweifellos nur um die Gewinnsucht weiterzutreiben, in der ihnen ihre Vorgänger ein schlechtes Beispiel gegeben haben. Wenn sie jenen Ort von Grund aus reformiren wollten, würden sie die Axt an die Wurzel legen und nicht blos so darüber hinwischen, wie man einen Fleck entfernt. Sie würden nicht die Worte, sondern die Werke bessern und innerlich ihr Gewissen reinigen. Warum erschrecken sie nicht vor der Drohung des Herrn: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Schüsseln und Becher auswendig rein haltet, inwendig aber sind sie voll Raubes und Unflat. Matth. 23. So viel zweitens. [S.-174] Da nun die Bedeutung dieser Wilsnacker Angelegenheit unläugbar vorhanden ist, will ich Einiges aus der Geschichte derselben treulich erzählen, sowohl aus früherer als auch aus späterer Zeit. Es war noch vor dem Concil zu Konstanz, etwa 1412, kann sein auch früher, da war der ehrwürdige Magister, Professor Christianus vom Minoritenorden bei Mag. Petrus Steinbeck im Universitätshause zu Erfurt zu Tische eingeladen. Der ehrwürdige Mag. Heinrich von Geismar, der damals Collegiat und später Magister war, und ich, Heinrich Tocke, damals Magister in artibus, wir waren dabei. Es kam die Rede auf Wilsnack und die Wallfahrten, und Mag. Christianus erzählte: „Als ich Lector zu Magdeburg war, kam jener Wilsnacker Geistliche, der die blutbefleckten Hostien gefunden zu haben vorgab, zu unserem Kloster und bat um Audienz bei den Vorstehern und Senioren. Als dieselben versammelt waren, sagte er: „Ich sehe, ihr Väter, daß es euch an vielem fehlt, da ihr nun eure Kirche abbrechen und eine neue bauen wollt. Ihr wißt, wie berühmt der Zulauf nach Wilsnack ist, den ich zuwege gebracht habe. Wenn ihr meinem Rathe folgt, werde ich euch einen größeren Zulauf verschaffen, als der nach Wilsnack ist. Als ich dort war, habe ich die Art und Weise nicht so gut verstanden als jetzt.“ Die Brüder aber fürchteten Gott und antworteten, auf diese Weise wollten sie kein Geld erwerben,·worauf er beschämt abzog. Als ich dies 1445 dem Mag. Johannes Kannemann (einem Minoriten in Magdeburg) in meinem Hause sagte, kurz bevor der Herr Erzbischof die Untersuchung begann, erwiderte er mir: „auch ich habe von meinen Senioren gehört, daß Mag. Christianus dergleichen gesagt hat.“ Später kam Kannemann auf meine Bitte zu mir und ich sprach zu ihm: „Ihr wißt, was für tolle Geschichten in Wilsnack passiren; wenn Ihr darüber zufällig befragt werden solltet, so antwortet doch so wie es sich für einen gewissenhaften Professor der Theologie geziemt.“ Er versprach dies zu thun. Darauf sagte ich: „Mir ist durch einen namhaften Geistlichen (es war der Propst Petrus [Klytzke] von Brandenburg) mitgetheit worden, daß in diesem oder im vergangenen Jahre ei- 174 Heinrich Tocke nige von den Förderern jener Sache versammelt waren, um zu berathen, ob man das „Sacrament“ nicht erneuern sollte, aber es wagten doch manche dem nicht zuzustimmen.“ Er gab zur Antwort, daß er selbst vor Kurzem gebeten worden sei, sich für ein derartiges Vorhaben zu interessiren. Als ich diese Nachrichten über jene Geistlichen auf der Tagfahrt zu Burg (1446) vortrug, antwortete Mag. Matthias Döring, der Minoriten-Provinzial, er glaube nicht, daß Mag. Christianus, guten Andenkens, dergleichen gesagt habe. Ich möchte wohl, daß Döring und Kannemann eidlich vernommen würden, ebenso ältere Männer ihres Ordens, die etwa den Mag. Christianus noch gekannt haben, der seinerzeit 20 Jahre lang der einzige theologische Magister in der Provinz Sachsen war. Was wollen die Worte des Matth. Döring anders sagen als: „Ich glaube, daß du lügst,“ denn ich behaupte doch, diese Nachrichten aus dem Munde des Mag. Christianus gehört zu haben. Der Allwissende weiß, daß ich die Wahrheit rede. Ich berufe mich auch auf die genannten Zeugen. Hören wir noch etwas von dem Wilsnacker Geistlichen. Ich hatte den Magister Petrus Rumeland, Professor der Theologie in Magdeburg, Bischof von Bersaba i. p. i., Vicar des Erzbischofs Günther (von Schwarzburg) in pontificalibus, am 14. September 1429 [S.-175] zum Frühstück geladen, zugleich mit Mag. Dr. Friedrich Schützenfeld, dem Schatzmeister der Magdeburger Kirche. Da erzählte der Erstere, der Wilsnacker Geistliche hätte seine Brüder vom Predigerorden einst mit einem ähnlichen Ansinnen belästigt, indem er ihnen einen Wallfahrtsort gründen wollte. Als ich dies auf der Conferenz in Burg erzählte, that Mag. Matthias Döring sehr ehrenrührige Äußerungen über den verstorbenen Petrus Rumeland. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn er mich zu einem Lügner machen will, da er von dem verstorbenen Bischof so verächtlich spricht. Ebenso geringschätzend und unbillig drückt er sich auch in einem Briefe vom Jahre 1443, den er unter dem Siegel des Generalats an den Erzbischof schrieb, über die hervorragenden Männer vom Baseler Concil aus, nämlich den Präsidenten Julianus, Cardinal St. Angeli, Johann Polomar, Johann de Turrecremata, Nicolaus von Cusa und Johann de Lisura-.-.-.-.-.-.-. Petrus Rumeland sagte mir damals ferner, er habe gehört, daß der Wilsnacker Geistliche nach seiner Vertreibung aus dem Orte die Fälschung des Sacraments eingestanden habe, das heißt der angeblich blutigen Hostien. Ebendasselbe bezeugte eidlich ein Mann, den der Canoniker Nikolaus Werder, damals Official des Erzbischofs im Verein mit mir prüfte. Derselbe berichtete, ein alter frommer Priester habe einst auf einer Reise den Geistlichen in einer Herberge getroffen. „Da sie Beide in einem Raume schliefen, so hörte der Priester, wie der Geistliche oft schwer und tief seufzte. Am andern Morgen fragte er ihn, warum er in der Nacht so traurig gewacht und auch ihm die Ruhe gestört hätte. Darauf faßte der Geistliche zu ihm Vertrauen und bekannte ihm, er habe die drei Wilsnacker Hostien gefälscht und Synodalrede Magdeburg 1451 175 das Volk betrogen. Später habe er dem Bischof von Havelberg reuig gebeichtet, so trügerisch gehandelt zu haben. Der Bischof, der ihm, wie das Gerücht ging, sonst jährlich 6½ Mark Silber gegeben hatte, habe ihm entgegnet: „Du lügst und sprichst überhaupt nur so, weil du jetzt keine Unterstützungen mehr erhältst.“ So wisse er nun nicht, was thun und wie Vergebung finden. Einige Zeit darauf ging er nach Rom, kam auch mit der Versicherung zurück, dort Absolution erhalten zu haben, war aber seit der Zeit krank und starb 1412; in Stendal ist er begraben.“ Soweit der alte Priester. Einige erzählten auch, er wäre nach Prag gegangen, um auf der damals „gesunden und berühmten“ Universität nach einem gewissen namhaften Doctor zu fragen, der ihm rathen möchte. Hierüber sollen Manche gut orientirt sein, besonders war es Mag. Johannes Kone, vom Predigerorden, Professor der Theologie, der vor Kurzem in Leipzig starb. Auch bestätigte der ehrwürdige Mag. Conrad zu Magdeburg, Professor der Theologie und Predigerordens, in Gegenwart des Mag. Johannes Kone 1449 in meinem Hause die Mittheilung des Mag. Rumeland durch die Nachricht, daß der Wilsnacker Geistliche schon vor Auffindung des Wunderbluts den Brüdern vom Predigerorden in Wismar angeboten hätte, ihnen einen Wallfahrtsort zu verschaffen, und berief sich auf Bruder Ulrich, einen frommen, alten Mann, dem es bekannt gewesen wäre. Mag. Conradus wiederholte seine Aussagen am 27.-Juni 1450, wo wir im Capitelhause zu Magdeburg in Gegenwart des päpstlichen Gesandten Herrn Conrad de Monte Polliciano versammelt waren, nämlich Eberhard [Waltmann], Propst vom Kloster U. L. Fr., Mag. Heinrich Zolter vom Augustinerorden, Mag. Conrad vom Dominikanerorden, Herr Henning Storbeck Canonikus, Mag. Heinrich Hiltermann, Dr. beider Rechte, Ulricus Molitoris, Mag. und Baccalaur. der Theologie, Propst Hermanus vom Kloster Gottesgnaden und ich, Heinrich Tocke. Auch soll jener Geistliche noch einen Versuch in Efefelde mit einer großen Hostie gemacht haben, um einen Zulauf zu Stande zu bringen. Als ich so mehr und mehr hörte und sah, was doch alles erdichtet zu sein schien, schmerzte es mich tief, daß mit dem heiligsten Sacramente solcher Unfug geschehe und unzählige Menschen getäuscht, geblendet und durch den Erdkreis hin und hergejagt werden, ja daß Jemand, der die Vorgänge in Wilsnack mißbilligte, oder ihnen nicht zustimmte, in Verdacht kam, einen Glaubensartikel anzutasten. Als ich darauf an die Kirche zu Magdeburg berufen ward und immer mehr über diese Dinge vernahm, dachte ich ernstlicher darüber nach, wie man solchen Excessen steuern könnte und wartete auf einen günstigen Zeitpunkt, der aber wegen der zwischen der Stadt Magdeburg und dem Erzbischof ausgebrochenen Feindseligkeiten nicht kommen wollte. Indessen ereignete sich zu Ostern 1429 [27. März] ein ähnlicher Fall. Den haben wir selbst erlebt, Mag. Heinrich Zolter und ich. Gleich nach Ostern des genannten Jahres kam dem 176 Heinrich Tocke Erzbischof Günther [von Schwarzburg] ein von zwei Notaren unterschriebener Brief zu Händen, in welchem gemeldet wurde, daß in Wardenberg (Wartenburg) bei Wittenberg das hochheilige Sacrament, während es einem Landmanne gereicht werden sollte, wunderbar transformirt worden sei, so daß, wie der Brief sagt, „jene ganze Hostie von Blut getrieft habe.“ Der Erzbischof hielt diese ungewohnte Sache für wichtig genug, um sie eingehend prüfen zu lassen, und deputirte zu ihrer Untersuchung den Mag. Heinrich Zolter und mich. Wir kamen nach dem genannten Orte am Montag nach Jubilate [18. Apr.] und fanden außer vielen Klerikern und Laien dort auch einige Räthe der verwittweten Herzogin Barbara von Sachsen, wie es der Erzbischof schriftlich angeordnet hatte. Wir hielten eine feierliche Messe, besahen darauf die Hostie sorgfältig und lasen den Bericht über sieben Wunder, welche durch dieselbe geschehen sein sollten, wie der Geistliche, Nikolaus Tonemann, aufgeschrieben hatte. Uns beiden, die wir nur Gott vor Augen hatten, schienen die Wunder nichtig und gefälscht zu sein und wir schöpften Verdacht, ob die Hostie nicht auf trügerische und nichtswürdige Weise befleckt worden sei. Wir beschlossen daher, dieselbe mit nach Magdeburg zu nehmen, um sie in der Communion zn vertheilen; das gaben aber die Räthe der Herzogin nicht zu, da sie Auftrag hätten, die Hostie sorgfältig verwahren zu lassen. Der Erzbischof schickte mich daher zu den Herzögen von Sachsen nach Zwickau, und ich ersuchte dieselben, sich in die Angelegenheit nicht zu mischen, da sie nur den Erzbischof und die Organe der Kirche anginge. Sie stimmten sogleich gnädig zu und gaben mir Briefe an die Herzogin Barbara in denen sie ihr empfahlen, auf die Hostie Verzicht zu leisten. Diese aber machte im Verein mit den umliegenden Städten große Schwierigkeiten. Nach langen Verhandlungen und Arbeiten kam der Geistliche, Nikolaus Tonemann um Pfingsten nach dem Städtchen Gessen [ Jessen], wo er mir die Hostie überreichte. Ich nahm sie mit nach Magdeburg und hob sie auf, bis ich etwa den besagten Übelthäter überführen würde. Unterwegs berührte ich Jüterbok [ Jüterbog], Wittenberg und Zerbst, wo ich drei von den sieben Wundern als erlogen constatirte, das vierte war sehr verdächtig, das fünfte lächerlich und von den übrigen beiden ließ sich gleichfalls annehmen, daß sie auf Bosheit und Täuschung beruhten. Dann arbeiteten wir den ganzen Sommer, um den Geistlichen zu überführen. Endlich wurde er wegen einer Hure citirt, die er lange Zeit öffentlich bei sich gehabt hatte, und kam denn auch am Tage vor St. Nikolai nach Magdeburg, wo er festgenommen wurde, da er kein freies Geleit hatte. Nicht durch Strafen, sondern durch Drohungen gestand er, sich in den Finger geschnitten und die Hostie mit seinem Blute befleckt zu haben. Die Hostie wurde herbeigebracht und bestätigte diese Aussage, da das Brot, wo es blutig gewesen war, mit dem verdorbenen Blute verzehrt war, so daß nur noch Synodalrede Magdeburg 1451 177 wenige Spuren von Blut sichtbar blieben. O über diese erschreckliche, schwere Sünde, Gotteslästerung, Abgötterei, diese abscheuliche Verführung! Wie viel Menschen würde er sammt seinen Nachfolgern getäuscht haben, wie viel zeitliches Gut würden sie durch den schlechtesten Betrug frommen Christen entrissen haben, wie viel Wunder wären zum Schaden der Diöcese zusammengelogen worden! Gelobt sei Gott, der gleich zu Anfang die Wahrheit an den Tag brachte, gesegnet sei der Erzbischof, der solchen Irrthum nicht einreißen ließ. Schon kamen unter unsern Augen Leute mit Körben, um zur Ehre des heil. Blutes zu betteln, ihres eigenen Gewinnes willen; schon sah man Orte zu Herbergen aus, schon hofften die umliegenden Städte durch den Zuzug von Fremden bereichert zu werden. Die Wallfahrten würden an diesem Orte großartig geworden sein, denn sie verdankten ihren Ursprung nicht einem Traum und eitlen Einbildungen, sondern der heil. Communion am Osterfest, als schon Viele das Sacrament empfangen hatten und Andere am Altar standen, um es zu empfangen, während vier Ministranten dabei waren, von denen zwei die Kelche hielten, die andern aber die plötzlich blutende Hostie sahen; sie haben es mir eidlich bekräftigt und schienen den Betrug bis aufs Äußerste zu vertheidigen. Wenn man überall, wo angeblich heiliges Blut aufbewahrt wird, so schnell eingeschritten wäre, so wäre die Welt nicht so voll von dergleichen Unfug. In Wilsnack ist der Ursprung und das Fundament desselben; man erzählt, beschreibt und stellt die Vorgänge bildlich dar. Es war ein Traum des Geistlichen, wovon noch die Rede sein wird. Als der besagte Priester Nikolaus Tonemann gefangen genommen wurde, that er die Äußerung: „Bocksblut dauert lange,“ womit er uns zu verstehen gab, daß vielleicht in Wilsnack das Sacrament mit derartigem Blute befleckt worden sei. Am Tage vor St. Nikolai nach der Beichte wurde er zuerst einige Tage im [S.-176] Möllnhofe zu Magdeburg festgesetzt und danach in den Thurm zu Egeln deportirt, zuletzt in den Thurm zu Calbe eingekerkert, wo er mehrere Jahre blieb. Als dann der Erzbischof aus Magdeburg vertrieben wurde (1431), eroberten seine Gegner (die Magdeburger) auch den Thurm in Calbe und ließen den Priester frei. Als derselbe wieder so weit hergestellt war, daß er gehen konnte, wenn auch schwach, kam er nach Basel, wo damals das Concil tagte, um daselbst etwas für sich zu erreichen, ich weiß nicht was. Als der ehrwürdige Mag. Henning Storbeck aus Magdeburg ihn zufällig erblickt und dies dem Präsidenten des Concils, Cardinal Julianus, mitgetheilt hatte, entfloh er aus Basel. Ich war damals grade vom Concil mit vielen Vätern nach Prag geschickt worden, um mit den Böhmen über den Frieden zu verhandeln. Als ich aber zum Concil zurückgekehrt war, kam auch Nikolaus wieder nach Basel, erfragte mich und suchte mich auf. Frei und offen bekannte er mir vor dem Präsidenten Julianus im Refectorium der Minoriten, wo dazumal die deputatio fidei tagte, seine Schuld. Der Legat ( Ju- 178 Heinrich Tocke lianus) gab mir Vollmacht, ihn zu absolviren, wieder aufzunehmen oder seine Parochie einem Anderen zu geben u.-s.-w. Nachdem ich ihm zum zweiten male Beichte gehört hatte und seine Reue und Zerknirschung sah, legte ich ihm eine passende Buße und Satisfaction auf und erlaubte ihm, Messe zu lesen. Als er die erste im Minoritenkloster zu Basel las, war ich zugegen, und da er die Parochie, in welcher er das Verbrechen begangen, verloren hatte, so gestattete ich ihm, eine kleine Stelle bei Straßburg anzunehmen, welche eine Patronin zu besetzen hatte. O du grundgütiger Gott, der du wolltet, daß·jener Geistliche nach Wiedererlangung der Freiheit mich in Basel aufsuchte, um öffentlich und freiwillig ein nochmaliges Geständnis abzulegen, damit die bösen Vertheidiger der Sache nicht sagen könnten, ihm sei Unrecht geschehen und er habe das erste Bekenntniß nur aus Furcht vor Strafe und unfreiwillig gethan. Niemand glaube, daß es unnütz oder überflüssig sei, diese Geschichte hier angeführt zu haben, denn sie ist für unsere heutige Hauptsache sehr wichtig; zugleich können alle Zuhörer mit ihrer Hülfe sich in ähnlichen Fällen hüten, nicht leichtgläubig zu sein, wenn ein Wunder nicht ausdrücklich durch die zuständigen Autoritäten geprüft ist. Leider glaubt man den geizigen Priestern, Mönchen und Brüdern nur zu gern, die gleich bereit sind, derartige Lügen um zeitlichen Gewinnes willen zu verbreiten, oder um Fürsten, Gemeinden und dem Volke zu gefallen. Ist es nicht erbärmlich, daß, sobald dergleichen auf den Rath irgend einer leichtfertigen Person beschafft wird, Blut, ein Bild u.-dgl., gleich eine Capelle errichtet, ein Altar gebaut wird und daß Bischöfe, besonders Titularbischöfe diese Orte weihen und, wenn Jemand von Prüfung spricht, dagegen erwidern: „Warum sollen die Gläubigen nicht zu geweihten Orten pilgern? “ O Gott, wo sind die wahren Pastoren, wo sind treue Doktoren und Magister! Wird nicht jenes Wort Jeremias Cap. 5 bestätigt, wo es heißt: „Man findet unter meinem Volke Gottlose, die den Leuten Fallen stellen, sie zu fangen wie die Vogelsteller; ihre Häuser sind voller Tücke,-… daher werden sie gewaltig und reich, fett und glatt-… die Propheten lehren falsch und die Priester herrschen in ihrem Amte und mein Volk hat es gern also.“ Was wird also jetzt hier geschehen, da es nun in Deutschland grade eben so geht? Bedenkt, die Propheten werden Doctoren genannt; wenn diese böse sind, bringen sie der Kirche Gottes den größten Schaden; nicht blos, weil sie selber Lügen predigen, sondern auch, weil ihnen die Priester in der Regel gern zustimmen, da ihr Beutel davon voll wird. Ist einmal ein Prophet des Herrn darunter, so wird er geschmäht und verfolgt, wie es dem Propheten Micha zur Zeit Ahabs und Josphats erging. Nach dem Jahre 1429 wurde die Magdeburger Kirche durch viel Streit und Krieg zerrüttet und geschädigt, ich war vom Erzbischof nach Basel zum Concil geschickt (und kehrte erst 1435 mit demselben nach Magdeburg zurück); dann gab es viel Arbeit, um die Kirche und die·kirchlichen Verhältnisse sowohl in Synodalrede Magdeburg 1451 179 der Stadt Magdeburg wie auch in der ganzen Provinz zu reformiren, und so verstrichen die Jahre bis 1443. Am 11. Juni 1443, gleich nach Pfingsten, war der Herr Bischof Conrad [Lintorff] von Havelberg hier in der Stadt; er kam von Rom zurück und ich hatte eine brüderliche Besprechung mit ihm unter vier Augen in der Curie des jetzigen Propstes Arnold von Treskow, die gegenwärtig Balthasar von Schlieffen inne hat. Freundlich und ehrerbietig setzte ich ihm auseinander, wie unpassend und ärgerlich es wäre, wenn in Wilsnack täglich soviel Lügen verkündigt würden, und wie doch die ganzen Wallfahrten auf einem so sehr schlechten Grunde ruhten. Ich bat ihn, er möchte eilen, die Lügen zu unterdrücken, und gottesfürchtige Doctoren hinzuziehen, welche die blutige Hostie untersuchen müßten. Er antwortete gütig, ihm mißfiele auch selbst die Verkündigung von dergleichen Geschichten, und er wolle anordnen, daß seine Prediger vorsichtiger handelten. Fürs erste könnte jene Sache nicht ganz aus der Welt geschafft werden, er wolle aber Schriften über den Ursprung des ganzen Handels schicken, später zu uns zurückkehren, und im Laufe der Zeit Alles in ein vernünftiges Geleise bringen. Ich war mit dieser Antwort zufrieden, und sagte, es genügte mir vorläufig, wenn das Schlechte allmählich abgeschafft würde. Ich fügte noch hinzu, es sei doch eine schwere Sünde, so leichtsinnig zu sein und Lügen zu predigen, und noch sündhafter, das aufzuschreiben für die Nachfolger, welche dergleichen Schriften authentischen Werth beilegen und zu ihrer Zeit den Aberglauben in bester Meinung weiter verbreiten würden. Der Bischof antwortete: „Wir können ja jene Bücher verbrennen.“ Das war die erste Ermahnung, die ich dem Havelberger Bischof ganz insgeheim insinuirte. Außerdem ermahnte ihn der Herr Erzbischof Günther [von Schwarzburg] in jenen Tagen zweimal persönlich, von den unerlaubten Dingen jenes Ortes abzustehen. und er hat ihm versprochen, dies thun zu wollen. [S.-177] In demselben Jahre, am 10.-Juli, war ich im Auftrage der Magdeburger Kirche in Havelberg beim Bischof. Da sagte er zu mir, er hätte seine Kleriker versammelt und ihnen befohlen, keine zweifelhaften Wunder mehr zu verkündigen. Ich war noch nie in Wilsnack gewesen und nun so nahe bei, und daher sagte ich zum Bischof: „Es sind nur zwei Meilen nach Wilsnack, ich möchte selbst einmal hingehen und mir Alles ansehen.“ Der Bischof antwortete: „Ich werde euch geleiten lassen; der Herr Propst Petrus von Brandenburg will auch gerade dahin gehen.“ So brachen wir denn gegen Abend auf, vom Bischof wohl versorgt. Am andern Morgen trat ich in die Kirche und besah mir die Bücher, die Gemälde, Ketten und dergleichen, kurz alle die Dinge, deren in den Büchern Erwähnung geschieht, und die sonst berühmt waren. Da stand insbesondere in einem Buche die Geschichte von der Auffindung des Wunderblutes, wie dem 180 Heinrich Tocke betreffenden Geistlichen in einem benachbarten Dorfe nach dem Brande von Wilsnack dreimal ein Engel erschien u.-s.-w. Siehe da, ein Traum, wenn es überhaupt ein Traum war und nicht ein Betrug. Man glaubt [S.- 178] nämlich, daß er nur so gethan, als wenn er schliefe. Wer hat den Traum geprüft? Das mögen die Wilsnacker ausmachen. War es eine göttliche Offenbarung oder teuflische Illusion? War es ein guter oder ein böser Engel? War es schändliche Erdichtung oder ein natürlicher Traum? O welcher Leichtsinn! Im Traum und von Träumen wird gesprochen und Alle glauben es. Vernunft und heil. Schrift, Erfahrung und berühmte Männer nehmen das Gegentheil an und keiner achtet darauf: Ich kenne jetzt keinen berühmten Doctor oder Magister, der diese Wallfahrten gebilligt hätte. Gleich beim Beginn der Wallfahrten bezeugte Conrad Zoltow [Konrad von Soltau], Bischof von Verden, ein berühmter Dr. der Theologie und der freien Künste, seinen Abscheu gegen dieselben, indem er den Pilgern, die seine Diöcese passirten, die bleiernen Zeichen, die man ihnen in Wilsnack gab, von der Mütze reißen ließ. Mag. Johannes Zachariae vom Augustiner Orden (Erfurt) und Mag. Thiderikus Engelhus, ein literarisch gebildeter, frommer Mann, verwarfen dieselben gleichfalls. Ebenso Mag. Christianus vom Minoritenorden, Nikolaus de Libra, Petrus Rumeland, Mag. Conradus, Mag. Henrikus von Geismar und Petrus Steynbeck, die ganze theologische Facultät von Leipzig, wie aus ihrer an den Erzbischof gerichteten Missive von 1429 hervorgeht, endlich die ganze theologische Facultät von Erfurt, wie ihr katholisch und klug gehaltenes Gutachten vom Jahre 1446 beweist. Nenne mir Jemand einen erleuchteten Mann, der jemals diesen dunklen Aberglauben von Wilsnack gebilligt hätte. Vielleicht nennt er den Minoritenminister Matthias Döring und Johannes Kannemann; ich antworte: Sie sollten einmal beschwören, wie sie vor 10-Jahren und darüber von der Sache gedacht haben. Der Erstere ließ mir einst sagen, was er in der Sache gethan, das hätte er nur des Markgrafen von Brandenburg wegen gethan. Ich aber setze hinzu, was ich gethan habe, das habe ich um Gottes willen gethan. Den andern Magister habe ich in zweimaliger Unterredung nach dem Jahre 1446 dahin verstanden, daß er nicht mehr zu Gunsten jener Angelegenheit agitiren wolle; das hat er aber auf der Conferenz in Leitzkau 1449 nicht bewiesen, denn dort erschien er als erster und hauptsächlicher Sachwalter der Gegenpartei. Was die Magdeburger Kanoniker anbetrifft, welche besonders hervorragend waren, so werdet ihr wissen, daß Herr Heinrich de Roven (der Oven), Decan in Magdeburg, Doctor der Decretalien, die Wallfahrten nach Wilsnack sehr mißbilligte, und als er darüber auf dem Concil zu Basel befragt wurde, legte er ein gutes Zeugniß zu Gunsten der Wahrheit und gegen Wilsnack ab. Ebenso Johannes Kiritz, Mag. der Medicin und der Künste, Friedrich Schützenfeld, Dr. juris und der freien Künste, Johannes Barby, Decan und Licentiat der Decretalien. Zu dem Letzteren kam einst der jetzt verstorbene Propst von Havelberg mit einem Synodalrede Magdeburg 1451 181 anderen Propst und baten ihn, er möchte zu mir gehen und mich überreden, daß ich nicht ferner gegen Wilsnack spräche, und er schlug es ihnen rund ab. Einzig und allein jene beiden Minoritenbrüder mit ihrem Anhang haben Wilsnack vertheidigt und ihnen hat sich Mag. Heinrich Zolter mit mir durch Dick und Dünn entgegengestellt, zugleich mit vielen anderen Doctoren, die alle auf der Diät zu Burg versammelt waren. Ich hoffe zu Gott, daß er uns bei der guten Absicht, die wir für seine Ehre und zum Heil der Seelen hatten, nicht hat irren lassen. Wie ich so in der Wilsnacker Kirche stand und mich darin umsah, sagte ich zu dem Ortsgeistlichen, während noch andere Kleriker herumstanden: „Wo sind jene Schwerter, von denen man seiner Zeit viel gehört hat; wie Pilger einst auf der Rückkehr von Wilsnack von Räubern überfallen wurden, sollen sich ja ihre Pilgerstäbe in Schwerter verwandelt haben, mit denen sie die Räuber schlugen. Im Kreuzgang des Klosters St. Leonhard zu Basel habe ich diese Scenen bildlich dargestellt gesehen.[“] Auf diese meine Frage antwortete der Geistliche, er wüßte nichts davon. Aber auf der nördlichen Seite des Altars sah ich ein Schwert hängen und fragte: „Ist dies vielleicht eins von ihnen? “ Sie antworteten „nein.“ Nun war da ein Herr aus Ruppin, der richtete meine Augen auf eine Thür an der anderen Seite des Altars, wo ich viele Schwerter hängen sah. Ich rief aus: „Da sind sie! “ Aber wieder hieß es „nein.“ Ich wunderte mich, glaube aber, sie schämten sich dieser durch alle Länder verbreiteten Lüge. Nun nahm ich das Journal jenes Jahres, das auf dem Altar lag, und in welches die Wunder täglich eingetragen wurden, in Augenschein. Es stand u.- A. darin, in Hamburg hätte ein Brand stattgefunden und eine Mutter wäre mit ihrem Kinde aus dem Fenster gesprungen, in der Elbe aber wäre kein Wasser gewesen. Ich rief den Propst Petrus von Brandenburg, der in der Kirche auf und abging, heran und sagte zu ihm: „Denkt euch, es war kein Wasser in der Elbe! “ Wahrscheinlich wurde das Haus von·einem Fleet bespült und es war gerade Ebbe und da heißt es: Die Elbe ist leer. Man muß doch tadeln, daß sie gleich bei der Hand sind, zu schreiben, was sie selbst nicht verstanden haben. Als alle Leute die Kirche verlassen hatten, bat ich, man möchte mir jenes Blut zeigen. Wir traten in die Capelle, wo es aufbewahrt zu werden pflegt. Propst Petrus, der Priester, der die Kapsel öffnen wollte, und ich. Er öffnete und ich nahm die Monstranz in meine Hand, sorgfältig sah ich sie mir an, aber da war absolut nichts Rothes, die Hostien waren vielmehr sehr verzehrt und sahen aus wie Spinnweben, so daß man mit Recht zweifeln konnte, ob der Brotstoff zurückgeblieben war. Hierüber war ich ganz bestürzt, denn ich glaubte, es würden wenigstens einige rothe Flecke an der Hostien sein, wie man sie auf den Zeichen (Kokarden) abbildet, die auf den Hüten durch die Welt getragen werden, aber nichts dergleichen. Ich hatte schon viel Schlimmes über den Ort gehört, aber solche Bosheit hätte ich nicht erwartet, daß man da der ganzen Christenheit 182 Heinrich Tocke vorlügt, es seien dort Blutstropfen, wo absolut nichts ist. Ich fragte die Beiden, die rechts und links von mir standen: „Seht ihr etwas Rothes? “ Der Propst antwortete: „Ich sehe nichts Rothes und habe auch nie etwas gesehen.“ Auch der Priester sagte: „Ich sehe nichts.“ Bemerkt bitte das Wort des Propsten; er war oft da, weil er in der Nähe geboren war und demselben Orden, nämlich den Prämonstratensern angehört; er war wohl mehr als hundert mal da. Dieser Mann sagte: ich sehe nichts Rothes. Zwar darüber wunderte ich mich nicht, da nichts da war und ich sehr gute Augen habe; aber darüber wunderte ich mich, daß er hinzufügte: „Ich habe nie etwas Rothes gesehen.“ Ich dankte Gott, daß er ihm dies Wort in den Mund gelegt. Seht, da sind nun drei Zeugen. Von dem Tage an war ich noch mehr bekümmert, theils wegen der Betrüger, die immer von Blut sprechen, theils wegen der Betrogenen, deren Zahl Legion ist. Seht, so verkündigen wir euch, was wir gesehen und gehört haben. Ich sah mit eigenen Augen jenes „Etwas, ich weiß nicht was,“ ich hörte das Zeugniß jener Beiden, die doch zu den Förderern der Sache gehören. Wird nicht unser Herr Erzbischof mit Recht ermahnt, zu untersuchen, was dort sei, wie gehandelt worden ist und noch gehandelt wird? Und nicht bloß er, sondern auch andere benachbarte Prälaten, Magister und theologische Doktoren, besonders von jenen Bettelorden, welche die Kirche Gottes umziehen und am ersten wahrnehmen könnten, was faul oder beklagenswerth und was ein Aergerniß in ihr ist: fürwahr, das Herz müßte von Stahl sein, das von dem Gesagten nicht bewegt wird und es nicht schmerzlich empfindet, daß das Alles nun seit 68 Jahren besteht und ohne gehörige Prüfung zugelassen wird, als wenn Niemand da wäre, der Gottes Sache vertritt und das so gemißbrauchte heil. Sacrament und unsern verspotteten Glauben. Ich schied von Wilsnack noch an demselben Tage, indignirt über die Wunderdinge, die ich dort erlebt. Im folgenden Jahre, 1444, am Freitag nach S.-Timotheus und Symphorianus [27. Aug.] kam der Herr Propst Petrus von Brandenburg in meine Curie und theilte mir mit, der Herr Markgraf Friedrich der Aeltere (II.) von Brandenburg sei im Dom und wünsche mich zu sprechen. Ich machte mich auf und empfing Se. Herrlichkeit mit schuldiger Ehrerbietung. Ich bat ihn, ihm in Gegenwart des Propstes Vortrag halten zu dürfen. Er stimmte zu und hörte mich an, indem er sich auf den nächsten Altar lehnte. Ich klärte ihn nun über den Wilsnacker Handel auf und fügte hinzu, daß ich im vergangenen Jahre den Havelberger Bischof ernstlich ermahnt hätte, daß aber von den Versprechungen, die er mir damals gegeben, keine einzige gehalten worden sei, so viel ich bei meinem Versuche hätte sehen können; „jetzt“, fuhr ich fort, „weiß ich keinen Anderen, an den ich mich wenden könnte, als Euch, der Ihr der weltliche Herr jener Gegend seid. Wenn Ihr nicht Hand anlegt, die Dinge dort prüfen zu lassen, so giebt es Leute, Synodalrede Magdeburg 1451 183 die nicht ferner schweigen, sondern sich ihnen offen entgegen stellen werden. Das wollte ich Euch nicht unangezeigt lassen, damit Ihr Euch vorsehen könnt.“ Der Markgraf antwortete: „Es wäre gut, wenn das dem Geistlichen dort gesagt und die Wunder nicht so verkündigt würden. Was aber die Hostien betrifft, so weiß ich nicht, was damit geschehen soll.“ Er schien die Wallfahrten zu begünstigen. Soweit drittens. Als es im Jahre 1445 der Majestät Gottes gefiel, zum Erzbischof von Magdeburg einen Mann nach seinem Herzen zu erwählen, schöpfte ich viel Hoffnung für die Zukunft, denn ich wußte, daß ihm [S.-179] alles Böse mißfiel, und daß er alle Gerechtigkeit und Ehrbarkeit liebe. Im ersten Jahre lenkte er seine Augen auf Wilsnack als anf denjenigen Ort in seiner Diöcese, der der Reformation am meisten benöthigt war. Er lud also den Bischof von Havelberg ein, sich gewogentlichst am Tage der Bekehrung Pauli (1446 [25. Jan]) in Jerichow einzufinden, denn weder der Bischof noch der Markgraf thaten das Geringste, um die Uebelstände abzustellen. Der Bischof antwortete, er könne an dem Tage nicht erscheinen, denn er wäre in Angelegenheiten des Markgrafen anderweitig beschäftigt, er werde aber seinen Propst schicken. Da das Magdeburger Capitel dies für nutzlos hielt, so schrieb es zurück, die Conferenz würde hinausgeschoben bis nach der Entscheidung des Erzbischofs, der sich gerade in entfernteren Theilen seines Sprengels befand. Unser Herr berief also den Herrn Bischof von Havelberg zum zweiten male für den Donnerstag vor Palmarum nach Ziesar und ordnete an, daß der Herr Bischof von Brandenburg, der dort residirte, sich an dem Tage zu Hause hielte und seinen Propst Petrus bei sich hätte. Als der Termin kam, waren seitens des Erzbischofs von Magdeburg Mag. Heinrich Zolter und ich am Platze. Wir fanden den Bischof von Brandenburg und seinen Propst vor und warteten bis zum Abend auf den Havelberger Bischof. Aber er kam nicht. In seinem Namen erschienen drei Priester, die ihren Herrn Bischof entschuldigten; er wäre von seiner Residenz Wittstock in der Absicht aufgebrochen, nach Ziesar zu kommen, unterwegs aber hätte ihn in Wilsnack ein so starkes Unwohlsein befallen, daß er das Bett hüten müßte; er selbst hätte sehr gewünscht, gesund zu bleiben und wäre lieber erst nachher krank geworden. Wir bezeugten unser Mitleid und ließen ihm unsern Wunsch aussprechen, er möchte bald wieder an Leib und Seele genesen. Die drei Priester ließen wir zu; der eine hieß Jacob Gerber, Protonotarius des Havelberger Bischofs, der andere Nikolaus Witte, Procurator in Wilsnack, der dritte war der Geistliche von Schönhausen. Der Bischof von Brandenburg fragte, ob er einige von seinen Klerikern zuziehen dürfte; wir antworteten: „Ja; wir selbst aber werden Beide allein bleiben.“ Wir hätten uns ja einen Caplan mitbringen können, aber wir wollten es nicht thun, damit es 184 Heinrich Tocke nicht hieße, wir legten es auf die Verbreitung der Geschichten an, - wessen sie uns nachher doch ungerechterweise beschuldigt haben. Wir fingen also an und übergaben schriftlich dreißig Artikel mit sieben angefügten Fragen. (Tocke verlas nun eine Anrede, an deren Schluß es heißt: ) „Mein Herr, der Erzbischof, sagte: Ich will hinab und sehen, ob sie alles gethan haben, nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder obs nicht so ist, daß ichs wisse. Denn ich muß dafür am Tage des Gerichts Rechenschaft ablegen.“ - Laßt uns nun die Sachen durchnehmen. In Eurem Städtchen Wilsnack sollen unerlaubte Dinge vorgehen in Werken und Worten, so wie mit erdichteten und trügerischen Zeichen: damit die Punkte klarer hervortreten, haben wir sie in einige Artikel gebracht. 1) Es werden da ohne Prüfung unzählige und unglaubliche Wunder verkündigt, oft zum Beispiel, daß Todte auferstehen, von denen doch keiner gesehen worden ist. Jm Jahre 1431, am Tage vor Palmsonntag [24. März], kamen zwei Soldaten aus Franken, die mit dem Schatzmeister unserer Kirche, Friedr. Schützenfeld, bekannt waren, auf der Reise nach Wilsnack durch Magdeburg. Schützenfeld sagte ihnen, daß er sowohl wie ich das verabscheuten. Trotzdem gingen sie dahin und sagten bei ihrer Rückkehr: Wir haben unsagbare Dinge in Wilsnack gesehen und gehört. In unserer Gegenwart wurde verkündigt, in Halle sei ein Mensch, der vier Tage todt gewesen, durch das heil. Blut wieder erweckt worden. Ich schickte sofort einen erzbischöflichen Notar zum Herrn Erzbischof und bat, man möchte auf den auferstandenen Hallenser vigiliren. Aber es wollte sich gar kein solcher Mensch in Halle finden lassen. Wäre es wirklich geschehen, würde doch wohl die ganze Nachbarschaft es wissen und sich längst davon überzeugt haben, auch würden die Väter der Kirche dort den Mann ja gesehen haben. Ein anderes Beispiel. Wie Hinrich Gerlach, Kanonikus unserer Kirche, bezeugt, kamen einst zwei Priester nach·Wilsnack, mehr des Vergnügens als des Ablasses halber. Der eine von ihnen war sehr fett und hatte einen ungeheuren Bauch. Der andere ging heimlich zum Priester und bat ihn, dem Volke aufzubinden, in seiner Heimat gäbe es einen sehr fetten Mann, den die Fettsucht an den Rand des Grabes gebracht hätte, so daß er kaum noch athmen könne. Man hätte das heil. Blut angerufen und da wäre ihnen der Gedanke gekommen, dem Dicken den Bauch aufzuschneiden und das Fett herauszunehmen. Das wäre geschehen und der Patient gesund geworden. Der Prediger ging darauf ein und erzählte dies Märchen in Gegenwart des dicken Mannes.·Als derselbe die Lüge hörte, seufzte er grunzend, aber er wagte nicht während der Rede zu sprechen. Nachher ging er zu dem Prediger und schalt ihn, daß er von seinem Bauche Synodalrede Magdeburg 1451 185 Lügen predigte; niemals sei er geöffnet worden, sondern er müßte ihn nach wie vor mit sich herumschleppen. Nun fingen alle Zuhörer an zu lachen. Item: Eine Kupplerin behauptete, so lange sie in Magdeburg gewesen wäre, von einer Legion Dämonen besessen zu sein. Johannes Rehes, Kleriker in Magdeburg, entdeckte ihre Lüge und sie floh aus der Stadt. Später erschien sie in Wilsnack und dort wurde über sie verkündigt, in Magdeburg wären ihr alle Reliquien der Kirche vorgehalten, hätten ihr aber nicht geholfen; in Wilsnack wäre sie gesund geworden. Jemand, der ihre Bosheit kannte, war dabei und sagte zum Priester: Herr, sie hat gelogen. Die Priester aber antworteten abwehrend: Ei was, man kann nicht allen Menschen glauben. Item: Jm Jahre 1444 wurde nach Ostern [nach 12. Apr.] in Wilsnack verkündigt, in einer Stadt der Lübecker Diöcese wäre ein kleiner Knabe in einen Brunnen gefallen und ertrunken, aber auf die Anrufung des heil. Blutes durch seine Angehörigen wieder zum Leben gekommen. Ein Soldat aus dem Lübischen hörte das, suchte auf seiner Rückkehr die Stadt auf und fand Alles erlogen. Der Bischof Nikolaus Sachow von Lübeck erfuhr es und machte deswegen dem Bischof von Havelberg ernste Vorhaltungen, als sie in Salzwedel gemeinsam tagten, der Erstere als Abgeordneter des Bischofs, der Zweite des Kurfürsten. Im Jahre 1447 um Pfingsten [um 28. Mai] wurde in Wilsnack verkündigt, ein Mensch, der mit dem Schwerte getödtet war, und dessen blutiges Hemd gezeigt wurde, sei nach Anrufung des heil Blutes wieder lebendig geworden. Dies erzählte Jemand in der Herberge „zur Laterne“ (in Wilsnack) in Gegenwart der beiden theol. Mag. Johannes Gudermann, Dekan St. Severi in Erfurt und Gottschalk Meschede, Kanonikus ad beatam virginem in Erfurt, die auf den Wunsch des Erzbischofs die Universität Erfurt auf der Tagfahrt zu Fischbeck (gegenüber Tangermünde 1447) repräsentirten. Einmal kam ein Bote aus Erfurt zu mir und erzählte, er wäre blind gewesen, aber nachdem er ein Gelübde gethan gen Wilsnack pilgern zu wollen, hätte er einen Schimmer wieder erhalten und allmählich wieder sehen gelernt. Ich sagte ihm, er schiene mir noch sehr schlecht zu sehen und dafür gut zu lügen, und er antwortete heimlich lächelnd (grifflachend): Es kann wohl sein. Doch kann ich wohl das Unzählige aufzählen? Man sehe die Wunderbücher nach. Die Priester begünstigen das um des Opfers willen, die Laien wegen der Vortheile aus den Herbergen, aus Kauf und Verkauf, die armen Wallbrüder, um dort von reichen Fremden Geld zu erlangen. Manch einer pilgert auch um Lohn für Andere; dann biegen sie oft weit vom Wege ab und erzählen die Lügengeschichten. So traf ich einst in Salze (Solte) zwei Leute, die trugen Ketten. Sie sagten, sie wären gefangen gewesen und wollten nach Wilsnack. Ein Zeugniß des Geistlichen in Osterwiek hätten sie. Ich setzte ihnen hart zu und fragte: Ist 186 Heinrich Tocke dies der Weg von Osterwiek nach Wilsnack? Sofort gab einer von ihnen zu, daß er nie gefangen gewesen sei. 2) Wenn nun so viel Lügen da gepredigt werden, so haben wir doch nie gehört, daß ein Geistlicher deshalb öffentlich gestraft sei, Anderen zum Exempel. Jene Fälschung ist schlimmer als wenn man eine päpstliche Bulle fälscht. 3) Zu größerer Bekräftigung der Jrrthümer werden ganze Bände über die Wunder vollgeschrieben, und noch täglich geschieht dies. Es ist anzunehmen, daß von dem Herrn Christo und den Aposteln nicht so viel Wunder aufbewahrt sind als dort schon geschehen sein sollen; so doch besonders jetzt nicht die Zeit für Wunder ist. Welche Vermessenheit, unseren Nachkommen dergleichen schriftlich zu hinterlassen, als wenn es alles amtlich approbirt wäre. 4) Sie verehren dort ein Blut, ich weiß nicht was für eins, da dort kein Blut ist und nichts, was dem Blute ähnlich sieht. O blinde, eselhafte Einfalt und füchsische Schlauheit. Und wenn da jemals etwas Rothes sich gezeigt hätte, folgt daraus, daß es Blut war? Und wenn es Blut war, wessen Blut? Blut ist eine Flüssigkeit. Ist es aus dem Leibe Christi geflossen; so lebt es nicht, und wenn es nicht lebt, ist es kein wahres Blut-.-.-.-. Wenn das Blut, [S.-180] das irgend einer gesehen zu haben vorgiebt, wunderbar sein soll, wie Vieles wäre dann göttlich zu verehren. Wäre z. B. von dem Blutstrom in den Plagen Ägyptens etwas zurückgeblieben, wie müßte es nun verehrt werden! Oder die greifbare dichte Finsterniß etc. Nein, großartige Bosheit ist in Wilsnack vollführt. Kamen einmal vernünftige Leute und sahen genauer zu, so heißt es: Mancher siehts, Mancher nicht; wer in einer Todsünde ist der siehts nicht. Deshalb wagten die Leute gar nicht zu sagen, sie sähen kein Blut, damit sie nicht in den Verdacht kamen, irgend ein schweres Verbrechen auf dem Gewissen zu haben. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ Carina Brumme Eine junge Frau kämpft sich nach einem harten Schicksalsschlag auf einer abenteuerlichen Odyssee quer durch Europa. Dabei entgeht sie nur knapp einem Mordanschlag, bei dem sie schwer verletzt und ausgeraubt wird. Sie will nur zurück in ihre Heimat, doch der Weg dahin ist voller Gefahren, Unrecht und Elend. Eine Geschichte mit Bestsellerpotential, erst recht, wenn die junge Frau zur High Society gehört. Ob solches Kalkül den Straßburger Drucker Martin Flach im Jahr 1522 dazu bewogen hatte, genau diese Geschichte unter dem Titel Von einer Grefinn || von Anhalt-/ die hatt ein Gra= || fen von Schwartzenburg ge= || habt auß Schwedien-/ Vnnd || wie es ir vnd dem Grafen gangen ist vff || sant Jacobs fart zu o land vnd zu o was= || ser. Nach Christus geb u o rt im. xv c . || und zwentzigstē jar beschehen. 1 als Flugschrift zu veröffentlichen, ist nicht bekannt. Doch kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass derartige Beweggründe die Drucklegung zumindest begünstigt haben, denn gleich die erste Kapitelüberschrift enthält den Hinweis, dass die folgende Geschichte Gar erb a e rmlich z u o lesen sei [Bl. Aii r ]. In der Tat: Die geschilderte Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela war für die junge Adlige ein im wahrsten Sinne des Wortes schauerliches Erlebnis. Von Beginn an reihen sich nahtlos Unglück und Verzweiflung, Verrat und Mord, Totschlag, Grausamkeit und Habgier, nur selten von wundersamen Wendungen, Hilfsbereitschaft und Tugendhaftigkeit unterbrochen, zu einem spektakulären Abenteuer aneinander. Der Erzählstoff ist höchst spannend, ebenso ist es die Suche nach dem historischen Kontext des Werkes. Wie die Protagonistin der Geschichte, die sich mühevoll in Richtung Heimat durchschlägt und der die Rettung oft zum Greifen nah scheint, bevor eine plötzliche Wendung ihre Hoffnungen zunichte macht, durchlebt man bei der Ergründung der Entstehungsumstände der Flugschrift ebenso Höhen und Tiefen. Dabei trifft man ständig auf 1 Martin Flach d. J., Straßburg 1522, Titelblatt. - Im Folgenden werden die Blattangaben direkt im Text nach Zitaten oder Verweisen in eckigen Klammern angegeben. Zur Unterscheidung von realen und fiktiven Personen werden Letztere im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt. neue Rätsel, deren Lösung aber meist nur zu noch mehr Rätseln und selten zu Antworten führt. 2 Ursache dafür ist vor allem die Melange aus historischen Fakten und fiktiven Elementen, die in der Erzählung so geschickt miteinander verknüpft sind, dass es streckenweise nicht möglich ist, das eine von dem anderen klar zu trennen. Auch hinsichtlich der Verfasserschaft, der Textintention und der Provenienzgeschichte der Flugschrift, von der nur ein einziges Exemplar überliefert ist, stößt man immer wieder auf Merkwürdiges und Unerklärliches. Um in dieses kryptische Gefüge etwas Licht zu bringen, wird die Analyse der Flugschrift auf vier Ebenen erfolgen: I) Beschreibung der Druckschrift und Provenienzgeschichte, II) Inhalt der Erzählung, III) Textgattung, Struktur und Leitmotive der Erzählung, IV) historischer Kontext und V) die Verfasserschaft. I. Beschreibung der Druckschrift und Provenienzgeschichte Das hier besprochene Exemplar der Flugschrift Von einer Grefinn von Anhalt umfasst 12 Blatt (A4-C4) im Quartformat (ca. 21,5 cm auf 15,5 cm). Der Druckspiegel hat eine Höhe von 15-cm und eine Breite von 11-cm. Der Text umfasst 23 Seiten inklusive der Titelseite und enthält insgesamt 13 Holzschnitte mit szenischen Darstellungen. Die Illustrationen sind allerdings nicht speziell für dieses Werk hergestellt worden, sondern finden sich auch in anderen Drucken. 3 Zum äußeren Seitenrand hin wird der Text durch eine Randleiste begrenzt: einer Bordüre aus floralen Ranken, mit den für das frühe 16. Jahrhundert typischen Akanthusblättern sowie Tieren und kleinen Putten. Das Kolophon verweist mit dem Vermerk Getruckt z u o Straßburg durch || Martinum Flach. Im iar || nach Christus geb u o rt| Als man zalt. ||1522. auf die Herkunft aus der Offizin des Straßburger Druckers Martin Flach des Jüngeren und das Erscheinungsjahr 1522 [Bl. Civ r ]. Das hier beschriebene Exemplar ist nach dem bisherigen Kenntnisstand sowohl das einzig erhaltene als auch das einzige, das überhaupt in Katalogen und 2 Die Autorin möchte an dieser Stelle besonders Hartmut Kühne, Gunhild Roth, Volker Honemann (†), Oliver Duntze, Fidel Rädle, Gotthard Strohmaier, Gerlinde Strohmaier- Wiederanders und Wolfgang Baldauf-Rümmler danken. Sie haben durch ihre Hinweise auf Quellenmaterial, kritische Anmerkungen aber auch in langen Diskussionen viele wertvolle Anregungen gegeben, die diesen Beitrag ganz wesentlich bereichert haben. 3 Siehe dazu die Zusammenstellung von Oliver Duntze und Hartmut Kühne in diesem Band S.-251-255. 188 Carina Brumme Bibliografien überliefert ist. 4 Es wird heute in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau verwahrt. 5 Die Besitzgeschichte der Flugschrift lässt sich anhand einiger Kataloge und Übersichtswerke bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Das Exemplar erscheint erstmals 1835 in einem Auktionskatalog von Sotheby & Son. Der Katalog umfasste 4682 Einzelposten, die im Mai des gleichen Jahres, in einzelne Chargen unterteilt, in einer 20 Tage dauernden Aktion versteigert werden sollten. 6 Das gesamte Konvolut stammte aus dem Besitz eines einzigen Sammlers, des Frankfurter Arztes und Historikers Georg Franz Burkhard Kloss, der auf diesem Weg einen Teil seiner Privatbibliothek zum Verkauf anbot. Kloss hatte eine immense Menge an Handschriften und Druckwerken zusammengetragen und war den einschlägig interessierten Zeitgenossen bestens bekannt. Der Auktionskatalog, mit dem Sotheby’s den Verkauf bewarb, listet sowohl Manuskripte und Urkunden als auch Druckschriften und Bibelausgaben aus dem 15. und 16. Jahrhundert auf. Unter der Nummer 4107 findet sich der Eintrag: Von einer Grefinn von Anhalt, die hatt ein Grafen von Schwargenburg gehabt ausz Schwedien &c, Strasburg Martin Flach 1532. 7 Ungeachtet des Schreibfehlers im Titel (Schwargenburg) und der falsch angegebenen Jahreszahl (1532) handelt es sich nachweislich um das hier besprochene Exemplar, denn im Spiegel des vorderen Einbands findet sich das Exlibris von Georg Kloss. Mittig darunter ist handschriftlich die Signatur 110, 161 eingetragen worden, was die Vermutung nahelegt, dass es sich um die Signatur der Sammlung Kloss handelt (Abbildung 1). Oberhalb davon verweist die Signatur Yn3181R auf die Staatsbibliothek Berlin, wo sich das Exemplar befand, bevor es infolge des Zweiten Weltkrieges nach Krakau gelangte. 8 Zudem sind weitere Signaturen und Kürzel vermerkt: 1746 Hey, Histoire Gi 790. 4 Abgesehen von der Dissertationsschrift der Vf.n: Carina Brumme, Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis (Europäische Wallfahrtsstudien 6, 2010) ist der Druck bisher ausschließlich in Bestandskatalogen privater Sammlungen und Bibliotheken erwähnt worden, siehe unten. 5 Kraków, Biblioteka Jagiellońska, BJ St. Dr. Yu 3181, Digitalisat online, URL: http: / / jbc. bj.uj.edu.pl/ publication/ 240606 (Stand 27.-12.-2018); VD16 V 2684. 6 Catalogue of the Library of Dr. Kloss of Franckfort A. M. Including many original and unpublished manuscripts, and printed Books with Ms. Annotations, by Philip Melanchthon, hg. von Samuel Sotheby (London 1835). - Auch online, Permalink: http: / / mdz-nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb10801502-9 (Stand 20.9.2019). 7 Ebenda S.-294, Nr. 4107. 8 Siehe die Angaben im Online-Katalog der Staatsbibliothek Berlin (Stand 20.1.2019), Permalink: http: / / stabikat.de/ DB=1/ XMLPRS=N/ PPN? PPN=567497488. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 189 Abbildung 1: Besitzeinträge im Spiegel des vorderen Einbanddeckels Nach Berlin war der Druck ursprünglich über den Berliner Sprachwissenschaftler Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) gelangt, der an der Friedrich-Wilhelm-Universität lehrte 9 und auf den sich auch der Vermerk Heyse 1746 bezieht. Heyse veröffentlichte 1854 einen Band zu Deutschen Druckwerken des 16. und 17.-Jahrhunderts, in dem unter der Nummer 1746 der Titel unseres Druckes angeführt ist. 10 Heyse hatte das Exemplar aber wohl nicht im Zuge der Auktion erworben, sondern möglicherweise direkt von der Bibliothek Straßburg. 11 Das 9 Siehe Allgemeine Deutsche Bibliographie 12 (1880) S.-380-381. 10 Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Bücherschatz der Deutschen Nationalliteratur des XVI und XVII Jahrhunderts (1854) S.-115, Nr. 1746. - Auch online: Permalink: http: / / mdz-nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb10601405-0 (Stand 20.9.2019). 11 Heyse ist auf dem gleichen Weg in den Besitz von wenigstens zwei weiteren Drucken aus der Bibliothek von Kloss gelangt, die bei Sotheby’s 1835 versteigert worden sind. Im Besitz der Staatsbibliothek Berlin befinden sich drei Drucke, die im Einband ganz ähnliche Provenienzhinweise zeigen und von denen zwei im Londoner Auktionskatalog auf der gleichen Seite wie die Geschichte der Gräfin von Anhalt gelistet sind: 1. Das ist die loblich le= || gend-/ von des grossen Kayser Karls streyt || vor der stat Regenspurg geschehen || Nürnberg: Johan Stuchs, 1509 (Berlin SB, Yu 2986; Digitalisat: http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0001CA6C00000000 [Stand 12.7.2019]; VD16 ZV 23230); Sotheby, Catalogue (wie Anm.-6) S.-294, Nr. 4103. 2. Die schön Magelona. || EJn fast lustige vnd kurtzweilige Hi= || stori-/ von der schönen Magelona-/ eines Künigs || tochter vonn Neaples-/ vnnd einem Ritter-/ genannt Peter mitt 190 Carina Brumme legen zumindest die Anmerkungen in einigen Bibliographien nahe. Die Veräußerung der Werke aus den Beständen der Klossʼschen Bibliothek inkl. des zuständigen Kataloges war nicht nur wegen des beträchtlichen Umfangs der Sammlung und des hohen Anteils an seltenen Exemplaren in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten. Unter den von Kloss veräußerten Werken befanden sich etliche mit handschriftlichen Anmerkungen. Samuel Sotheby glaubte, als Urheber vieler dieser Anmerkungen den Reformator Philipp Melanchthon ausgemacht zu haben und vertrat dies öffentlich. Kloss lehnte diese Sichtweise entschieden ab und es folgte ein jahrelanger, erbitterter Streit. 12 Der bibliophile Sammler fürchtete um seinen Ruf als seriöser Historiker, wenn Bücher aus seiner Sammlung derart deklariert zum Verkauf angeboten würden. 13 Seit seiner Jugend war Kloss Mitglied der Frankfurter Loge zur Einigkeit und hatte nach seinem Aufstieg zum 1828 zum Meister vom Stuhl etliche grundlegende Werke zur Geschichte der Freimaurerei in Europa verfasst. 14 Der aus den genannten Gründen in mehreren Hinsichten bemerkenswerte Auktionskatalog von Sothebyʼs war den einschlägig interessierten Zeitgenossen daher sowohl wegen seines beachtlichen Umfangs, aber auch wegen der Kontroverse gut bekannt. Einer von ihnen war Johann Georg Theodor Graesse. Im 1859 veröffentlichten ersten Teil seines bibliografischen Übersichtswerkes erschien der Titel der Flugschrift zwar vollständig und mit der korrekten Jahreszahl, aber mit der gleichen falschen Schreibweise Grafen von Schwargenburg den || silberin schlüsseln-/ eins Graffen son auß Prouincia-/ durch Magister || Veiten Warbeck-/ auß Fantzösischer sprach in die teütschen ver || dolmetscht / mit einem Sendbrieff Georgij Spalatini. || Augsburg: Heinrich Steiner, 1536 (Berlin SB, Yu 2416, Digitalisat: http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0001C22700000000 [Stand 12.7.2019]; VD16 ZV 15953); Sotheby, Catalogue (wie Anm. 6) S.-294, 4108. 3. Dyt is de denscke kroneke || de Saxo grammaticus de poeta ersten gheschreeff || in dat latine vnde daer na in dat dudesck ghesettet || is Vnde inholt dat van Abrahams tyden is denne || marken eyn konninkryke ghewezen v n _ sodder hefft || Egene konninghe v n _ heren alletijd ghehat V n _ dar || tho van vele groter manheyt starke vnde vele grote || werke mit vele meer wunders de ghescheen syn by || dysser konninghe v n _ dat denscke volk. || Ribe: Matthäus Brandis, 1502 (Berlin SB, Inc 1480,5, Digitalisat http: / / resolver.staatsbibliothekberlin.de/ SBB0001C22700000000[Stand 12.7.2019], VD16 XL 168); Sotheby, Catalogue (wie Anm. 6) S.-291. 12 Georg Franz Burkhard Kloss, Über Melanchthons angebliche Handschriften, welche in dem Catalogue of the Library of Dr. Kloss verzeichnet sind, in: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Literatur 2 (1841) S.-369-377; Moritz St. Goar, Die Bibliophilen. Georg Burkhard Kloss und seine Bibliothek, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 6 (1902/ 3) S.-201-205. 13 Kloss, Handschriften (wie Anm.-12) S.-371-f. 14 Alexander Knoblauch, Br. C.F.B. Kloss. Vortrag von Br. Alexander Knobloch bei der am 21.- September 1861 von der  [Loge] zur Einigkeit gehalten Trauerfeierlichkeit, Freimauerer-Zeitung 17 (1863) S.-75-76, hier S.-76. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 191 192 Carina Brumme wie im Londoner Auktionskatalog. Angaben zum Verbleib der Flugschrift macht Graesse nicht. 15 In den folgenden Jahren findet sich der Titel in verschiedenen weiteren bibliographischen Werken. 1864 führt Emil Weller den vollständig Titel in der korrekten Schreibweise an und vermerkt zum Verbleib: in Berlin. 16 1893 listet Charles Schmidt den Druck mit dem Verweis auf Weller und der Anmerkung auf: Jadis bibl. de Strasburg incun nr° 332a. - Berlin. 17 Auch Josef Benzing führt den Druck in seiner 1981 erschienenen Bestandsübersicht der Straßburger Bibliothek mit dem Vermerk Jadis Berlin. 18 Die bei Weller angegebene Straßburger Signatur ist an dem Exemplar selbst aber nicht mehr zu finden. Allerdings ist im Spiegel des vorderen Einbandes eine andere französischsprachige Signatur (Histoire Gi 790) zu erkennen. Zudem wurde auf dem Vorsatzblatt des Einbandes handschriftlich eine französische Übersetzung des Titels notiert: Histoire dʼune Comtesse dʼAnhalt qui avait épousé un comte de Schwarzenberg en Suaben a qui leur arriva a tous dure en faisant par terre et par mer le pelerinage de St Jaques en lʼan 1520. Strasbourg, Martin Flach 1522. 4°. Bei dieser Übersetzung wurde der Graf von Schwarzenburg aus Schwedien nicht wortgetreu als comte de Schwarzenburg en Sueden, sondern als comte de Schwarzenberg en Suaben, also als „Graf von Schwarzenberg aus Schwaben“, übersetzt. Es handelt sich dabei m. E. nicht um einen Lese- oder Übersetzungsfehler, sondern vielmehr um eine bewusste Korrektur. Einen schwedischen Herrschaftssitz der Schwarzburger hatte es nie gegeben, was dem Urheber des Eintrages bewusst gewesen zu sein scheint. Daher nahm er offenbar an, dass ursprünglich die gefürstete Landgrafschaft Schwarzenberg im schwäbischen Reichskreis gemeint sein musste. 1522 befand sich diese allerdings noch unter dem Namen Klettgau im Besitz der Grafen von Sulz. Erst 1687 fiel sie als Erbteil an das Haus Schwarzenberg. 19 15 Johann Georg Theodor Graesse, Trésor de livres rares et précieux: ou, Nouveau dictionnaire bibliographique (1859) S.-131. 16 Emil Weller, Repertorium typographicum: Die deutsche Literatur im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts; im Anschluß an Hains Repertorium und Panzers deutsche Annalen (3, 1864) S.-241, Nr.-2095. 17 Charles Schmidt, Répertoire Bibliographique Strassbourgeoise VI (M. Flach, Père M. Flache Fils; 1893) S.-36, Nr. 67-1522. 18 Josef Benzing, Bibliogaphie Staßbourgeoise, bibliographie des ouvrages imprimés à Strasbourg (Bas-Rhin) au XVI. Siècle 1 (1981) Nr. 713 (Angabe nach VD16 V 2684). 19 Hansmartin Schwarzmaier/ Kurt Andermann, Herrschaft Schwarzenberg und Vorgänger (Grafen von Sulz) im Klettgau (Handbuch der baden-württembergischen Geschichte 5, 2007) S.-441-444, S.-441. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 193 Wahrscheinlich von gleicher Hand wurde die Signatur 3119 rechts über dem französischen Titel eingetragen. Direkt unter diesem vermerkte eine andere Hand: Inconnu à Panzer et à tous le Bibliographes und darunter wiederum eine weitere: Berlin 1840 Febr., und damit augenscheinlich den Zeitpunkt, zu dem Heyse in den Besitz des Druckes gekommen sein muss. Der französische Hinweis auf dem Vorsatzblatt, dass der Druck sowohl Panzer als auch allen anderen Bibliographen unbekannt sei, erscheint in deutscher Sprache im Spiegel des vorderen Einbandes: fehlt in Panzers deutschen Annalen. Bei dem gleich zweimal erwähnten Panzer handelt es sich um Georg Wolfgang Panzer, dessen 1805 erschienene mehrbändige Annalen der älteren deutschen Literatur als einschlägiges Standardwerk galten. 20 Bis zum Erscheinen des Londoner Auktionskataloges 1835 war der Druck demnach tatsächlich gänzlich unbekannt. Wann und in welchem Zusammenhang er in den Besitz von Kloss gelangte, ließ sich bisher noch nicht ermitteln. II. Inhalt Vor Beginn der eigentlichen Erzählung führen zwei Holzschnitte bildlich in deren Thematik ein. Beide beziehen sich auf die im Titel angekündigte Jakobsfahrt der Gräfin zu Land und zu Wasser, welche die unglückliche Protagonistin absolvieren musste. Auf dem Titelblatt ist ein frommes Pilgerpaar in der typischen Pilgertracht zu sehen, die Rückseite zeigt einen Seemann in einem Schiff [Bl.- A1 r-v ]. Die auf der nächsten Seite beginnende Erzählung ist in elf Kapitel unterteilt, dem jeweils ein Holzschnitt mit einer den Inhalt des Kapitels zusammenfassenden Überschrift vorangestellt ist. Den Beginn des folgenden Textes markiert jeweils eine große quadratische Initiale. Über dem Holzschnitt am Beginn ersten Kapitels, der eine höfische Szene zeigt, ist zu lesen: Hie fahet an die Hystori von einer Grefin || vō Anhalt., mit dem bereits erwähnten unheilverkündenden Zusatz: Gar erb a e rmlich zu o lesen [Bl. Aii r ]. Es folgt die Vorgeschichte der Pilgerfahrt, in der zunächst die Protagonistin sowie ihre Familie vorgestellt werden [Bl.- Aii r ]. In Schwedien, heißt es dort, lebt ein Graf „Johann von Anhalt“, der eine attraktive und edle Tochter hat, „Anna von Anhalt“. Diese hat sich mit einem Grafen, „Albrecht von Schwarzburg“, vermählt, der ebenfalls aus Schwedien stammt. Anna ist bald darauf schwanger geworden und, nachdem sie einen Knaben geboren hat, schwer erkrankt. Drei Wochen liegt sie im Kindbett, derart ihrer Sinne beraubt, dass man sie in Ketten legen und beaufsichtigen muss [ebenda] - wahrscheinlich 20 Georg Wolfgang Panzer, Annalen der ältern deutschen Litteratur oder Anzeige und Beschreibung derjenigen Bücher welche vom Jahre MDXXI-MDXXVI in deutscher Sprache gedruckt worden sind 2 (1805). 194 Carina Brumme wird hier eine Wochenbettdepression beschrieben. In großer Sorge um seine gerade erst 18 Jahre alte Ehefrau gelobt Albrecht von Schwarzburg eine Wallfahrt zum heiligen Apostel Jakobus nach Santiago de Compostela mit einem silbernen Abbild seiner Frau als Opfer, wenn sie nur wieder genesen würde. Bald darauf erholt sich Anna und kommt wieder zur Besinnung, woraufhin sich der Graf von Schwarzburg umgehend daran macht, sein Gelübde zu erfüllen. Kurze Zeit später treten er und seine Frau in Begleitung eines Schreibers und zweier Knechte eine Schiffsreise nach Santiago de Compostela an [Bl. Aii v ]. Im zweiten Kapitel wird von der gefahrvollen Seefahrt der Pilger nach Santiago de Compostela und einem tragischen Unglück auf ihrem Rückweg über Land berichtet [Bl.-Aiii r f.]. Die Pilger, heißt es da, seien durch einen schweren Sturm auf dem Meer in große Not geraten, hätten dann ihr Ziel aber wohlbehalten erreicht. Die Eheleute suchen die Kathedrale in Santiago de Compostela auf und Albrecht von Schwarzburg opfert das silberne Abbild Annas dem heiligen Apostel, so wie er es gelobt hatte. Nach einer kurzen Ruhepause treten sie den Rückweg über Land mit dem Ziel an, den Rhein zu erreichen und sich dort in ihre Heimat einzuschiffen. Der Graf kauft zwei Pferde, eines für sich und eines für seine Frau. Die Knechte und der Schreiber begleiten sie offenbar zu Fuß über die Pyrenäen nach Osten. Nun beginnt eine scheinbar nicht enden wollende Verkettung höchst unglücklicher Ereignisse. In der Nähe von Dolosa (Toulouse), so wird weiter berichtet, erkrankt der Graf schwer an der Pestilentz. Dem Tode nahe und in großer Sorge um seine Frau stellt er seiner Dienerschaft eine hohe Belohnung in Aussicht, wenn sie ihre Herrin nur wohlbehalten zurück in die Heimat brächten. Sie erreichen das Kloster zu Dolosa, in dem, so die Erzählung, die Gebeine des heilig[en] ritter sant Jo e rg lägen. 21 Kurz danach ist der Graf verstorben und im Kloster beerdigt worden [Bl. Aiii v ]. Die Überschrift des Holzschnittes am Anfang des dritten Kapitels, der drei Männer im Gespräch zeigt, kündigt den bösartigen Plan der drei Diener an, die sich verschworen haben, die junge Gräfin zu ermorden [ebenda]. Während der Leser bereits auf das Schlimmste gefasst ist, wird beschrieben, wie die junge Witwe völlig ahnungslos mit den drei Schurken die Reise in Richtung Rhein fortsetzt. Nach dem sie bereits eine Weile unterwegs sind, setzen die Diener ihren Plan in die Tat um. Zunächst machen sich die zwei Knechte eines frühen Morgens, als die Gräfin noch schläft, mit den beiden Pferden und ihrem vereinbarten Anteil der 21 Gemeint ist sicher die Basilika Saint Sernin in Toulouse. In der ehemaligen Abteikirche werden die Gebeine des heiligen Saturninus von Toulouse und anderer Heiliger verwahrt, darunter auch Reliquien des heiligen Georgs, der hier im Text als „Ritter Jörg“ erscheint. Siehe Marcel Durliat, Saint-Sernin de Toulouse (1986) S.- 161; Anke Krüger, Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert (2002) S.-292-294. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 195 Beute von je 200 Dukaten in den Taschen heimlich aus dem Staub. Der Schreiber spielt den Überraschten und bleibt bei der jungen Frau. In Wahrheit kommt ihm aber die tragende Rolle in dem Komplott zu: Er soll die junge Frau ermorden, um den Raub zu vertuschen. Dafür winkt ihm der Löwenanteil der Beute: 300 Dukaten, ein Siegel, eine in Gold gefasste St. Jakobsfigur 22 sowie ein Becher mit dem Wappen der Gräfin - der ihm später zum Verhängnis werden soll. Die ahnungslose Gräfin Anna beschließt indessen auf die Verfolgung der Knechte zu verzichten, ihr Schicksal unter den Schutz des heiligen Jakobus zu stellen und den Rest des Weges mit dem Schreiber zu Fuß zurückzulegen, was sich kurz darauf als fatale Fehlentscheidung herausstellen soll. Als sie nach einiger Zeit ein Gebirge erreichen und dort eine enge Hohlgasse passieren müssen, nutzt der Verräter die günstige Gelegenheit. Er lässt die Frau vor sich herlaufen und kann so unbemerkt sein Schwert zücken. Die folgende Szene wird in einer fast schon forensisch wirkenden Realitätsnähe beschrieben: Der skrupellose Verbrecher schlägt der Gräfin zunächst von hinten mit zwei Streichen durch ir haupt und den halß. Die Frau dreht sich daraufhin überrascht zu ihrem Angreifer um. Nun holt dieser zu einem weiteren Schlag aus. Fast möchte man glauben der Erzähler hat die Szene bildlich vor Augen gehabt. Denn er beschreibt den Tathergang exakt so, wie er hätte ablaufen müssen, wenn der Täter das Schwert mit der rechten Hand geführt hätte. Denn mit dem nächsten Hieb sticht er der Gräfin am linken Auge durch das Gesicht und schlägt dabei seinem Opfer auch die rechte, zur Abwehr erhobene Hand entzwei. Dann erfolgt ein weiterer Schlag über das rechte Knie der Frau, bevor er ihr abschließend zwei Stiche in die rechte Seite versetzt. Anna bleibt schwer verwundet und regungslos liegen. In dem Glauben, sie sei tot, lässt der treulose Schreiber von ihr ab und flieht mit ihrer gesamten Habe. Aber die Gräfin hat Glück im Unglück, denn ihr Marderfellmantel schwächt die Gewalt des Angriffes ab. Daher lebt sie noch, als der Schurke von ihr ablässt, ist aber ohne Besinnung und droht in der Wildnis zu verbluten [Bl. Aiv r f.]. An dieser Stelle erreicht das Drama seinen schrecklichen Höhepunkt. Nun braucht es einen Deus ex machina, denn ohne ein Wunder wäre die Frau verloren. Und so erfährt der Leser im vierten Kapitel gleich nach einem Holzschnitt, der einen alten Pilger und eine Pilgerin vor den Mauern einer größeren Stadt zeigt, von der wundersamen Rettung der Gräfin durch den heiligen Jakobus [Bl. Aiv4 r -- B r ]. Denn nach einer Weile kommt ein alter Pilger des Weges, ein Jakobsbruder mit prächtigem grauem Bart sowie vielen Muscheln an seinem Mantel und seinem Hut. Nach dem er die Sterbende entdeckt hat, richtet er sie 22 Wahrscheinlich handelt es sich um ein Pilgerzeichen, denn bei seiner Ergreifung trägt es der Verbrecher an seinem Barett [vgl. Bl.-Bii v , Z.-17-19]. 196 Carina Brumme auf und versichert ihr, dass sie an ihren Wunden nicht sterben würde, weil sie eine Jakobspilgerin sei. Sie solle in die Stadt gehen, dort würde ein Wundarzt kommen, um ihr zu helfen. Die Gräfin erhebt sich daraufhin, um sich nach der Stadt umzublicken. Als sie sich zurückwendet, ist der Alte verschwunden, der natürlich kein Geringerer als der Apostel Jakobus selbst gewesen ist. Mühsam schleppt sich die Frau den Berg hinab zu der Stadt, die im Text sant Anthonien 23 genannt wird, und bricht erschöpft vor den Toren der Stadt unter einem Baum zusammen [Bl. B r ]. Im fünften Kapitel erhält die Gräfin die versprochene Hilfe. Der Wundarzt, den der heilige Jakobus angekündigt hat, kommt der Schwerverletzten entgegen, nimmt sie mit in die Stadt, wo er ihre Wunden versorgt [Bl. B r ]. Auf dem Holzschnitt am Kapitelanfang ist die Szene dargestellt. Die junge Gräfin ist eine redliche Person. Um den Wundarzt für seine Dienste zu entlohnen, verkauft sie ihren Marderpelzüberrock, der ihr während des Mordanschlages das Leben gerettet hatte, weit unter Wert. Von dem verbleibenden Geld mietet sie ein berittenes Geleit nach Freiburg im Schweizer Üechtland. Sie übernachtet in einem kleinen Dorf nahe der Stadt, in die sie am nächsten Morgen geht. Dabei muss sie einen äußerst jämmerlichen Anblick geboten haben. Wegen der Wunde über ihrem Knie hinkt sie so sehr, dass sie sich auf einen Stock stützen muss. Am Leib trägt sie nichts als ihr schwarzes seidenes Unterkleid und ihren Pilgerhut auf dem Kopf. Im sechsten Kapitel wendet sich das Schicksal der Gräfin wieder auf wundersame Weise, denn sie trifft auf ihren Peiniger und kann ihn öffentlich seines Verbrechens überführen [Bl. B v -- Biii r ]. In Freiburg entdeckt Anna in der Auslage eines Goldschmiedes den silbernen Becher mit den Wappen ihrer Familie und ihres verstorbenen Ehemanns. Nachdem der Goldschmied zunächst abweisend auf ihre Nachfrage nach der Herkunft des Bechers reagiert, droht Anna ihn zu verklagen und erzählt ihm von dem Überfall [Bl.-Bii r ]. Daraufhin berichtet der Goldschmied von einem Edelmann, einem Jakobspilger auf der Rückreise in seine Heimat, der ihm den Becher verkauft habe. Wie sich herausstellt, logiert dieser Edelmann noch in einer Herberge in der Stadt. Der Goldschmied bietet Anna an, sie dorthin zu begleiten, um den Herrn in Augenschein nehmen zu 23 Gemeint ist Saint-Antoine-en-Viennois, das heutige Saint-Antoine-l’Abbaye. Das dortige Kloster war seit dem 13.- Jahrhundert das Mutterhaus des Antoniterordens, der sich neben der Pflege der am sogenannten Antoniusfeuer Erkrankten vor allem der Betreuung der Jakobspilger widmete und auch selbst Transitwallfahrtsort auf dem Weg nach Santiago de Compostela war. Vgl. Adalbert Mischlewski, Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Caprariis (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8,1976) S.-33-f. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 197 können. Als sie in der Herberge ankommen, erblickt Anna im Gastraum ihren ehemaligen Bediensteten, prächtig gewandet und ungeniert speisend in Gesellschaft eines Priesters. An dem großen roten Barett, dass der treulose Schreiber trug, steckt das goldene Jakobszeichen seines toten Herren. Der Goldschmied tritt umgehend vor ihn hin und stellt ihn wegen der Herkunft des Bechers zur Rede. Der Schreiber besteht weiterhin darauf, rechtmäßiger Besitzer des Bechers zu sein. Da offenbart der Goldschmied dem Übeltäter, dass hinter ihm eine Frau stünde, die das Gegenteil zu berichten wisse. Als der ertappte Verbrecher sich daraufhin umdreht und seine totgeglaubte Herrin erblickt, beginnen deren Wunden plötzlich für alle sichtbar zu bluten - ein untrügliches Zeichen für die Schuld des Schreibers. Dieser versteht den Ernst der Lage sofort und springt auf, wobei das Schwert (lange wer) an seinem Gürtel sichtbar wird. 24 Der Anblick der Waffe versetzt Anna in Panik. In ihrer Angst fleht sie den Priester an, sie zu schützen und ihr beizustehen. Der Priester wie auch die übrigen Gäste in der Herberge sehen, dass Annas Wunden in Gegenwart des Schreibers anfangen zu bluten. Der Schreiber ist damit vor Zeugen überführt und kann seinem Schicksal nun nicht mehr entkommen [Bl. Biii r ]. Im siebten Kapitel erhält der Schreiber seine gerechte Strafe, die „Gräfin von Anhalt“ erleidet allerdings erneutes Unrecht [Bll.- Bii v - - Biv v ]. Während der Schreiber von den Augenzeugen des Wunders festgesetzt wird, nimmt sich die Wirtin der Herberge der Pflege und Versorgung der Gräfin an [Bl. Biii v ]. Kurz darauf wird der Schreiber vor Gericht gebracht und in Annas Gegenwart auf der Streckbank verhört. Er gibt nicht nur zu, dass er die feste Absicht hatte, seine Herrin zu ermorden und nur von ihr abgelassen hatte, weil er sie für tot hielt. Das Verhör bringt weitere Missetaten ans Licht. So hatte er einen Brief an die Familie seiner Herrschaft verfasst und mit dem geraubten Siegel seines verstorbenen Herren versehen, in dem er um 1000 Dukaten zur Unterstützung seiner erkrankten Herrschaften gebeten hatte. Der Brief findet sich in den Habseligkeiten des Angeklagten und wird von den Freiburgern verbrannt. Weiter gesteht er den Mord an einem Reisenden, den er beraubt und ertränkt hat. Der Freiburger Rat verhängt das Todesurteil über den Schreiber und er wird drei Tage später auf der Richtstätte vor aller Augen gerädert [Bl. Biii v ]. Die Gräfin wohnt der Hinrichtung bei und verzeiht ihrem Peiniger, als dieser sie um Vergebung anfleht [Bl. Biv r ]. An dieser Stelle könnte die Geschichte zum Ende kommen, denn der Gerechtigkeit ist Genüge getan, doch sie nimmt abermals eine überraschende Wendung. Anna, so wird berichtet, widerfährt neuerliches Unrecht, diesmal 24 Vgl.- Bl.- iii r , zum Begriff siehe Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Artikel lang, Teil 2: http: / / fwb-online.de/ go/ lang.s.4adj_1533503883 (Stand 30.7.2018). 198 Carina Brumme von Seiten der Freiburger. Denn als sie zurückverlangt, was der Schreiber ihr geraubt hat, verweigern die Freiburger Ratsherren dies strikt. Sie verweisen stattdessen auf ihr Recht, alles einzubehalten, was ein in Freiburg verurteilter und hingerichteter Verbrecher bei sich trage. Als die Gräfin dagegen protestiert, drohen die Freiburger ihr Arrest an. Als Anna daraufhin klein beigibt, lässt man sie laufen, verweist sie aber der Stadt [Bl.-Biv v ]. Wieder macht sich die Gräfin mittellos und verzweifelt auf den Weg, nun in Richtung Bern. Was sie zum Leben braucht, muss sie sich unterwegs erbetteln. In einem kleinen Dorf vertraut Anna sich einem Priester an, worauf dieser in seiner Predigt den Dorfbewohnern vom harten Los der Frau berichtet. Gerührt vom Schicksal der Fremden, schenken sie Anna mehr Brot und Käse, als diese tragen kann. Erschöpft und verzweifelt lässt sie sich neben den angehäuften Gaben nieder. Bitterlich weinend wird ihr das ganze Unglück bewusst, das ihr widerfahren ist. Vor kurzem noch eine reiche und geachtete Frau sitzt sie nun bettelarm allein in der Fremde. Noch während sie ihr bitteres Los beklagt, kommt eine arme Familie vorbei. Die vier kleinen Kinder sind noch so klein, dass die Eltern zwei von ihnen tragen und die anderen beiden an der Hand führen. Der Anblick reißt Anna aus ihrem Selbstmitleid. Sie rafft sich auf, schenkt der Familie, was die Dorfbewohner ihr gegeben haben, und setzt ihren Weg nach Bern fort [ebenda]. Im achten Kapitel erweisen sich die Berner als großzügige Unterstützer [Bl.-C r f.]. In Bern angekommen, sucht Anna den Bürgermeister und die Stadträte auf und trägt ihnen ihre ganze Geschichte vor. Auch das Verhalten der Freiburger lässt sie nicht unerwähnt. Die Berner glauben der Frau und der Bürgermeister ordnet an, sie in einer guten Herberge unterzubringen und medizinisch zu versorgen. Während ihre Wunden nun schnell heilen, - der Autor der Erzählung will dies in Bern selbst gesehen haben - holen die Berner bei den Freiburgern Erkundigungen zu den Hintergründen der Geschehnisse ein. Diese bestätigen in ihrem Antwortschreiben zwar die genannten Fakten, beharren aber weiter auf der Rechtmäßigkeit ihres Handelns. So können die Berner Anna nicht weiterhelfen. Dafür versorgen sie sie ganze sechs Wochen auf Kosten der Stadt und lassen sie anschließend nach Einsiedeln führen. Nach der Rückkehr von der Gnadenstätte setzt Anna ihren Heimweg über Soliturn (Solothurn) fort [Bl. Ci v f]. Das neunte Kapitel berichtet von der Weiterreise Annas von Anhalt über Solothurn und Basel nach Straßburg [Bll. Cii r - Ciii r ]. Mit dem Berner Geleitschutz gelangt sie als nächstes nach Solothurn, wo sie auf Herzog Ulrich von Württemberg trifft, dem sie ihre Geschichte erzählt. Zutiefst gerührt schenkt dieser ihr daraufhin eine Schweizer Krone. Von Solothurn reist Anna weiter nach Basel, wo sie sehr freundlich empfangen wird, denn die Berner haben die Ratsherren von Basel bereits über Annas schwierige Lage informiert [Bl. Cii r ]. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 199 Wieder erhält sie Geld und Kleider, eine Herberge, einen treuen Knecht als Geleit nach Straßburg und ein Beglaubigungsschreiben des Baseler Rates. In Straßburg tritt Anna vor die Ratsherren mit den beiden Schreiben, die in Basel und Bern für sie erstellt wurden. Sie bittet die Straßburger darum, sie an den Hof des Kaisers Karl zu bringen, wo sie auf ihre Vetter, die jungen Herren von Anhalt, zu treffen hoffe [Bl. Cii v ]. Die Straßburger kommen ihrer Bitte nach und stellen ihr ein berittenes Geleit bis zum kaiserlichen Hof, versorgen sie mit allem Nötigen für die Weiterreise und überreichen ihr ebenfalls ein Schreiben, das ihre Glaubhaftigkeit bestätigt [Bl. Cii v f.]. Im zehnten Kapitel gelangt Anna nach Heidelberg an den kaiserlichen Hof [Bl. Ciii r f.]. Hier muss sie allerdings erfahren, dass ihre Vetter im Gefolge des Kurfürsten Friedrich des Weisen bereits aus Worms abgereist sind. Annas Hoffnungen, mit Hilfe ihrer Vetter nach Hause zu kommen, zerschlagen sich damit. Doch der Pfalzgraf (gemeint ist wahrscheinlich der pfälzische Kurfürst Ludwig der Friedfertige) und sein Bruder Heinrich, empfangen sie mit allen Ehren. Und als Anna darum bittet, zum Bischof von Mainz geleitet zu werden, bringt man sie auf einem Schiff nach Worms [Bl. Ciii v ]. Das elfte und letzte Kapitel berichtet vom Ende der Irrfahrt [Bl. Ciii v f.]. In Worms trifft die Gräfin den Bischof von Mainz, der sie auf einem Schiff nach Köln bringen lässt. Dort wird sie von mehreren adligen Herren wiedererkannt, die ihr zu einer Schiffspassage den Rhein hinab über die Nordsee nach Lübeck verhelfen. In der Hansestadt angekommen, sucht sie die Herberge zum Gülden Horn [Bl. Civ r , Z.-12.] auf, die Eigentum ihres Vaters Johann von Anhalt sein soll. Dort sind es Kaufleute, die sie wiedererkennen und ihr reichlich Geld leihen, mit dem sie die immerhin noch zwei Wochen dauernde Reise zum Schloss ihres Vaters antreten kann [Bl. Civ r ]. Damit endet die Erzählung von der Wallfahrt der Gräfin zu Anhalt nach Santiago de Compostela. Und somit beginnt die Suche nach dem Kontext, in dem der Text entstanden ist. Einiges an der Erzählung, insbesondere die bekannten realen Personen und Ereignisse, werfen die Frage auf, ob es sich bei dem Text möglicherweise nicht nur um eine fiktive Abenteuergeschichte handelt. In den nächsten beiden Kapiteln soll dieser Frage nachgegangen werden. Deswegen wird die Geschichte zunächst auf der sprachlichen und stilistischen Ebene betrachtet, bevor es im IV. Abschnitt um den historischen Kontext der erwähnten Persönlichkeiten und Ereignisse gehen wird. III. Textgattung, Struktur und Leitmotive der Erzählung Hinter der Abenteuergeschichte der Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ verbirgt sich ein konkretes Leitmotiv. Erkennbar ist es anhand eines festen Schemas, 200 Carina Brumme dem die geschilderten Ereignisse folgen und das die gesamte Erzählung vom Beginn bis zum Ende durchzieht - die Vergänglichkeit irdischer Privilegien und Güter. Die als verheiratete, attraktive junge Adlige beschriebene Protagonistin durchleidet im Verlauf ihrer Wallfahrt den Verlust sämtlicher Privilegien ihres gesellschaftlichen Standes. Sie steigt sukzessive in die Niederungen sozialer Randständigkeit und Rechtlosigkeit hinab, aus denen sie nur durch die Hilfe Dritter zu entkommen vermag. Als Tochter eines Grafen lebt sie im Schloss ihres Vaters, umsorgt von der Dienerschaft und behütet von ihrem fürsorgenden Ehemann. (Kap.- 1) Doch schon ein einziges außergewöhnliches Ereignis (die gelobte Wallfahrt nach Santiago de Compostela) genügt, um eine Reihe unausweichlicher Katastrophen auszulösen. Wie in einem Dominoeffekt folgt ein Unglück auf das andere. Durch den Tod ihres Ehemanns in der Fremde verliert die Frau den Schutz, der ihre adligen Privilegien garantiert. (Kap.- 2) Ihre Dienerschaft nutzt dies prompt aus und wendet sich gegen sie. Nachdem sie fast ihre gesamte Habe gestohlen haben, lassen sie die junge Witwe in der Fremde zurück. Lediglich der Schreiber bleibt bei ihr, allerdings nur, um den Diebstahl zu vertuschen, indem er bei der ersten sich bietenden günstigen Gelegenheit einen Mordanschlag auf seine Herrin verübt. (Kap.-3) Diesen überlebt die Protagonistin knapp, allerdings ist sie so schwer verletzt, dass sie nur durch die Hilfe des heiligen Jakobus und eines Wundarztes überlebt. (Kap. 4) Um das Honorar des Arztes bezahlen zu können, opfert sie ihre restliche Habe und verkauft sogar den wertvollen Teil ihrer Kleidung. Mittelos und allein muss sie sich zu Fuß weiterschleppen, was umso schlimmer ist, da sie körperlich durch das Attentat schwer gezeichnet ist und sich auf einen Stock stützen muss (Kap.-5). In Freiburg scheint das Schicksal sich zunächst zu wenden. Hier trifft sie auf ihren Peiniger, der noch einen Teil des Besitzes seiner Herrschaft bei sich trägt (Kap.- 6). Der Verbrecher wird überführt und hingerichtet, die Protagonistin wird mit dem Nötigsten versorgt - doch die Freiburger behalten den Besitz der Frau ein und drohen sogar sie einzukerkern. Hier wird der Frau bewusst, dass sie alles verloren hat. Sie ist obdachlos und mittellos allein in der Fremde. Ihre adlige Herkunft zählt nichts mehr, weil diese von niemandem bezeugt werden kann. So gibt es auch niemanden, der für sie spricht und ihre Rechte schützt. Die „Gräfin von Anhalt“ ist auf die Almosen barmherziger Dorfbewohner angewiesen (Kap.-7). An diesem Punkt wendet sich das Schicksal. Mit dem Aufenthalt in Bern erlangt die junge Frau ihre verlorenen Privilegien und Sicherheiten mehr und mehr zurück. In Bern erhält sie Kleidung, Unterkunft, eine amtliche Bestätigung über die Situation, in der sie sich befindet, und Protektion durch den Geleitschutz, der ihr für die Weiterreise gestellt wird (Kap.-8). Diese Zuwendung wiederholt sich in Basel und in Straßburg, wo ihr schließlich auch ihre adlige Herkunft schriftlich attestiert wird (Kap.-9). Ihre Reputation steigt sukzessive an, sie er- Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 201 hält Unterstützung von den pfälzischen Kurfürsten in Heidelberg, wo auch der Kaiser wegen des Wormser Reichstages Hof hält (Kap.-10). Schließlich trifft sie im letzten Kapitel auf Personen, die sie persönlich wiedererkennen und damit erfolgt die Legitimation ihrer Herkunft und die Rückkehr in ihren gesellschaftlichen Stand. Die eigentliche Rückkehr in die Residenz ihres Vaters braucht es für den Plot nicht mehr, sie wird nur noch marginal erwähnt (Kap.-11). Während die Erzählung also inhaltlich einen durchgängigen Faden spinnt, bemerkt man bei intensiver Lektüre, dass der Erzählstil nicht durchgängig der gleiche ist. Besonders auffällig ist ein stilistischer Bruch zwischen dem siebenten und achten Kapitel. Nach den hoch dramatischen Ereignissen in Freiburg, in deren Folge die Frau am Boden zerstört ist, geht es in den folgenden Kapiteln erstaunlich nüchtern zu. Konkret fassbar wird die Ursache dieses Wechsels in der Erzählweise durch das vollständige Wegfallen sämtlicher emotionalen Inneneinsichten in die Figuren. In den vorherigen Kapiteln sind es gerade die inneren Nöte der Protagonistin, die die Geschichte sehr lebendig und fesselnd machen. Mit jedem Unglück und jedem Unrecht steigt ihre Verzweiflung und der Leser fiebert mit. In den letzten vier Kapiteln geht es dagegen schon fast protokollartig zu. Sieht man sich den Anfang der Geschichte an, findet man ganz Ähnliches in den ersten beiden Kapiteln. Zwar ist der Erzählstoff hier abwechslungsreicher, die Erzählweise ist allerdings fast genauso nüchtern wie in den letzten vier Kapiteln. Dieser Perspektivwechsel zwischen äußerlicher Beschreibung und innerlicher Betrachtung ist bei Weitem nicht das einzige, was die ersten beiden mit den letzten vier Kapiteln gemeinsam haben und das sie von den Kapiteln drei bis sieben unterscheidet. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass der Text entsprechend in einen Rahmen und einen Kern unterschieden werden kann, die im weiteren Verlauf auch so bezeichnet werden. Der Kern ist durch eine epische Erzählweise charakterisiert. Die Kombination gegensätzlicher menschlicher Verhaltensweisen und individueller Emotionen mit konträren schicksalhaften Ereignissen bewirkt ein fortwährendes Wechselspiel zwischen Schuld und Unschuld, Verbrecher und Opfer, Niedertracht und Tugend. Damit wird eine starke Spannung erzeugt, die letztlich den abenteuerlichen Charakter des gesamten Textes in der Flugschrift ausmacht. Prominente Zeugen oder Anspielungen auf wichtige Kontextereignisse, die im Rahmen der Erzählung permanent angeführt werden, sucht man hier vergebens. Ganz offensichtlich ist die Identität der Beteiligten in diesem Teil ohnehin gleichgültig, denn keine der Personen wird namentlich genannt. Selbst von der Protagonistin wird durchgängig als edle Frau gesprochen. Nur an einer Stelle werden ihr Name und der des Schreibers genannt [Bl. Biv r ], dabei handelt es sich allerdings mög- 202 Carina Brumme licherweise um einen nachträglichen Einschub, wie weiter unten noch gezeigt werden wird. 25 Die Angaben zur Route, auf der die Protagonistin reist, beschränken sich abgesehen von der Stadt Freiburg im schweizerischen Uechtland auf die wichtigsten Stationen Toulouse und St. Antoine. Da es sich um sehr populäre Stationen auf einem der Wege nach Santiago de Compostela handelt, sind sie als Elemente einer typischen Jakobuswallfahrt und deshalb als Motive und nicht als Zeugnisse zu bewerten. Diese Einschätzung wird von dem Umstand gestützt, dass die geschilderten Ereignisse im Kern der Erzählung durchgängig Parallelen zu den Mirakellegenden des heiligen Jakobus in der Legenda Aurea erkennen lassen. 26 In der Kernerzählung werden einzelne Motive und sogar ganze Mirakelgeschichten aus den Überlieferungen der Legenda Aurea verwendet. Den deutlichsten Niederschlag hat dabei die wohl populärste Mirakelgeschichte über den Pilgerheiligen gefunden, die vor allem durch eine Variante, der Ursprungslegende des spanischen Wallfahrtsortes Santo Domingo de la Calzada, Berühmtheit erlangte. 27 Sie handelt von einem deutschen Pilger, der mit seinem Sohn zu einer Wallfahrt nach Santiago de Compostela aufgebrochen war. In der Stadt Toulouse sollen sie dann Opfer eines betrügerischen Wirtes geworden sein. Der habe die Pilger betrunken gemacht und nach dem sie eingeschlafen sind, in ihren Habseligkeiten einen silbernen Becher versteckt. Als sie am nächsten Tag weiterziehen wollen, hat sie der Wirt des Diebstahls bezichtigt. Nach der Entdeckung des Bechers wird der Sohn schuldig gesprochen und gehenkt - der Wirt hat sämtliches Eigentum einbehalten, das die beiden mitführen. Der Vater hat dann seine Wallfahrt in großer Trauer fortgesetzt. Als er nach über einem Monat auf dem Rückweg wieder an der Richtstätte vorbeikommt, hat sein Sohn noch immer am Galgen gehangen. Da hört der Vater die Stimme seines Sohnes, der ihm sagt, dass der heilige Jakobus ihn die ganze Zeit gestützt hat und er deswegen überlebt hat, woraufhin der Vater die Bewohner von Toulouse informiert. Diese sind dann Zeugen des Wunders geworden. Man hat den Sohn vom Galgen genommen und den kriminellen Wirt dafür gehenkt. 25 Siehe unten Tabelle 2, Vorkommen der Befunde aus der Textanalyse und der Analyse des historischen Kontextes in den Kapiteln. 26 Richard Benz (Übersetzer), Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (2014) 16. Auflage. - Das von 1263 bis 1273 entstandene Kompendium enthält die umfangreichste Überlieferung christlicher Heiligenlegenden des Mittelalters. Die ungeheuer populäre Schrift hat im 14. und 15. Jahrhundert diverse Erweiterungen erfahren und nicht zuletzt in Gestalt von mehr als 70 Druckausgaben weite Verbreitung gefunden, s. ebenda S.-XXII und XXV-f. 27 Ebenda S.-379. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 203 Im Kernteil der Geschichte der Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ wird diese Legende erweitert und überarbeitet - die Leitmotive und auch die inhaltliche Struktur stimmen in beiden Texten nahezu vollständig überein (siehe Tabelle 1). Tab. 1: Vergleich der Erzählmotive Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ / Jakobuslegenden in der Legenda Aurea nach Benz (wie Anm. 26) S. 379 204 Carina Brumme Deutlich erkennbar ist auch die Orientierung an einer weiteren Jakobuslegende aus der Legenda Aurea, die von einem Mann handelt, der mit seiner Frau und seinen Kindern zu einer Wallfahrt nach Santiago de Compostela aufgebrochen war. 28 Erzählt wird, wie der Mann nach dem Tod seiner Frau in Pamplona und dem Einbehalt all seines Eigentums durch den Wirt mittelos mit seinen Kindern zu Fuß weiterzieht. Seine Kinder sind noch so klein, dass er einige tragen muss und die anderen an der Hand führt, bis ihm ein mitleidiger Mann (der heilige Jakobus inkognito) einen Esel leiht. Mit nahezu den gleichen Worten wird die Familie beschrieben, der die Gräfin begegnet, als sie auf dem Weg nach Bern mit dem Schicksal hadernd zusammenbricht und der sie die Nahrungsmittel überlässt, die sie selbst gerade von den mitleidigen Dorfbewohnern bekommen hat [Bl. Biv v ]. Auch die Scham über die eigene Armut, die die Gräfin angesichts der Großzügigkeit der Spender empfindet 29 , ist ein Motiv, zu dem es ein Pendant unter den Mirakeln des heiligen Jakobus in der Legenda Aurea gibt. Hier ist es ein mittelloser Jakobspilger aus Vezelay, der sich schämt, um Nahrung zu betteln. Als er sich unter einem Baum niederlässt, erscheint ihm im Traum der heilige Jakobus und führt ihn auf eine Weide. Nach dem Erwachen findet der Pilger ein Brot, das sich in den nächsten Wochen, wann immer er davon isst, wieder vervollständigt. 30 In dem Teil der Flugschrift, die den Kern als Rahmen umgibt, klingen in den ersten beiden Kapiteln zwei ebenfalls typische Jakobus-Motive der Legenda Aurea an, die Heilung vom Wahnsinn und die Errettung aus Seenot. 31 Im Gegensatz zu den Adaptationen im Kern erscheinen sie allerdings lediglich als kurze Anspielung - entsprechend dem gänzlich anderen Erzählstil, der die ersten beiden und letzten vier Kapitel prägt. An die Stelle der abwechslungsreichen und spannenden Schilderung tritt eine eher nüchterne und im hinteren Teil sogar redundante Abhandlung. Das erste Kapitel enthält eine Fülle von vorgeblich faktischen Informationen über die Herkunft der Protagonistin und deren familiären Hintergrund. Dabei kommt die Sprache auch auf die mentale Erkrankung nach der Geburt des Kindes und die Genesung der jungen Gräfin nach dem Wallfahrtsgelöbnis. Gefühle der Beteiligten sucht man allerdings vergebens - abgesehen von den in einem Nebensatz erwähnten Sorgen des Ehemanns [Bl. Aiii r ]. Gleiches gilt für das zweite Kapitel. Hier geraten die Pilger in Seenot, erreichen das Ziel ihrer Wallfahrt und der Ehemann der Gräfin verstirbt. Alles zentrale und bezüglich der Seenot und des Ablebens des Ehemanns hochdramatische Ereignisse, deren Schilderung zwar viel faktische Information enthält, aber bezüglich der inneren Ansichten der Beteiligten schweigt [Bl. Biv r -f.]. Dieser Stil setzt sich 28 Ebenda S.-381. 29 Benz, Legenda Aurea (wie Anm. 26) S.-381. 30 Ebenda S.-382. 31 Ebenda S.-380 und 377. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 205 im hinteren Teil des Rahmens fort und wird sogar noch mehr verengt, denn in den letzten vier Kapiteln findet im Grunde an jeder Station immer wieder das Gleiche statt. Die junge Frau kommt in eine Stadt, berichtet von dem ihr widerfahrenen Unrecht, wird daraufhin mit Verköstigung, Obdach etc. versorgt und erhält Geleit zur nächsten Stadt. Der Grad ihrer Reputation steigt dabei durch die an den einzelnen Stationen ausgestellten Beglaubigungsschreiben kontinuierlich an, ebenso der Status ihrer Protegés, der von den Stadträten bis hin zum Kaiser reicht. Im Verlauf werden etliche historisch reale Personen und Ereignisse benannt, so dass die Geschichte im letzten Teil den Charakter einer Chronik trägt und den Anschein eines Tatsachenberichtes vermittelt, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden kann. Dazu trägt massiv bei, dass im Rahmen der Erzählung diametral zu den gezeigten Befunden im Kern fortwährend reale Persönlichkeiten und reale Ereignisse erwähnt werden bzw. Beteiligte der Erzählung sind und die Protagonistin oder Familienmitglieder namentlich erwähnt werden. Die Verschiedenheit der beiden Teile ist in erster Linie der unterschiedlichen Perspektive geschuldet, aus der sie erzählt werden. Der Kern berichtet aus dem Geschehen heraus und zieht den Leser in selbiges hinein, explizit durch die Einsichten in das Gefühlsleben und die Beweggründe der Charaktere. Er weist große Ähnlichkeiten zu den mittelalterlichen Mirakelgeschichten und epischen Erzählungen wie Abenteuerromanen auf. Der Rahmen bietet dagegen eine auf vorgebliche Fakten gestützte Retrospektive auf Ereignisse abseits von dem, was diese bei den einzelnen Figuren bewirken. Somit ist er am ehesten mit den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken vergleichbar. Auch das am Anfang dieses Kapitels beschriebene Leitmotiv der gesamten Erzählung, die trügerische Sicherheit irdischer Güter und Privilegien, verkörpert durch den sozialen, materiellen und rechtlichen Niedergang und Wiederaufstieg der Protagonistin, wird im Kern der Erzählung anders inszeniert als im Rahmen. In der Kerngeschichte verursachen die Handlungen von Personen die Leiden der Protagonistin, nämlich die Untreue und Gier der Diener, die ihren Höhepunkt in dem Mordanschlag findet (Kap.- 3), und die Hartherzigkeit der Freiburger, die ohne Rücksicht auf das schwere Los der Protagonistin auf dem Stadtrecht beharren und ihr die Rückgabe des Besitzes verweigern (Kap.-7). Die Rahmenerzählung greift am Ende diese Taten retrospektiv mehrfach wieder auf, in dem sie die Protagonistin an den verschiedenen Orten immer wieder berichten lässt, was ihr angetan wurde [Bll. C r , Cii r -f.]. Bei dem Leid, das die Gräfin im eigentlichen Verlauf der Rahmenerzählung erdulden muss, handelt es sich dagegen ausnahmslos um Schicksalsschläge und unglückliche Wendungen, die nicht auf die Taten anderer zurückzuführen sind. Das betrifft die Erkrankung im Kindbett [Kap.-1, Bl. Aii r ], den Tod ihres Ehemannes [Kap.-2, Bll. Aiii r -f.] wie 206 Carina Brumme auch die verfrühte Abreise ihrer Vetter aus Worms infolge der Erkrankung des sächsischen Kurfürsten [Kap.-10, Bl. Ciii v ]. Im Anschluss an den nun folgenden Abgleich der Erzählung mit den historischen Quellen werden die dortigen Befunde und die Ergebnisse dieses Kapitels zum Kern der Erzählung und zum Rahmentext tabellarisch gegenüber gestellt, um die zeitliche Stellung der Texte zu einander und auch mögliche Motive der Textentstehung zu eruieren. IV. Der historische Kontext Bezüglich des historischen Kontexts der Schilderung stellt sich primär die Frage nach Faktizität oder Fiktionalität. Angesichts der stilistischen Heterogenität des Textstiles ist zu erahnen, dass es hierauf keine klare Antwort geben kann. Inwieweit die als wahr geschilderten Begebenheiten plausibel in den zeitgenössischen Kontext eingeordnet werden können, soll nun durch einen Abgleich der genannten Personen und Ereignisse sowie den geschilderten Gegebenheiten mit den überlieferten Quellen eruiert werden. In den fünf Kapiteln des Rahmens der Erzählung finden sich die Namen einer ganzen Reihe von Personen. Die meisten davon gehören dem Hochadel an und sind daher leicht den entsprechenden historischen Vorbildern zuzuordnen. Bei den Angaben zur Protagonistin und ihrer Familie erschließt sich der Hintergrund auf den ersten Blick nicht und, wie sich noch zeigen wird, auf den zweiten auch nur bedingt. Zu allererst soll es aber um die Kulisse gehen, vor der die Geschichte spielt. Zwei Aspekte, die sowohl im Kern als auch im Rahmen erscheinen, bieten sich dafür an: die Reiseroute und die beschriebene Situation in der Schweizer Eidgenossenschaft, die insgesamt die Hälfte des Textes ausmacht. Im Text beginnt die Wallfahrt im zweiten Kapitel mit der Schiffsreise nach Santiago de Compostela. In den spätmittelalterlichen Itineraren adliger Pilger sind solche Schiffspassagen bei Fernwallfahrten üblich. Sie waren zwar teuer, ersparten aber die (noch) gefährlichere Reise auf dem Landweg. 32 Umso verwunderlicher ist, dass sich die Protagonistin und ihr Ehemann entscheiden, den Rückweg von Santiago de Compostela über Land anzutreten, um dann über den Rhein zurück in den heimatlichen Norden zu gelangen [Bl. Aiii r ]. Der Graf stiftet bei seinem Ableben dem Kloster in Toulouse 550 Gulden bzw. Dukaten [Bl. Aiii r , Z. 33] und die treulosen Diener erleichtern ihre Herrin zusätzlich um 700 Gulden bzw. Dukaten [Bl. Aiv r , Z. 1]. Eingedenk der Kosten für die Landreise von Santiago de Compostela bis Toulouse müssen die Protagonistin und ihr Ehemann demnach etwa 1500 Gulden besessen haben, als sie sich für den unkomfortablen und un- 32 Vgl. Marie-Luise Favreau-Lilie, Von Nord- und Ostsee ans „Ende der Welt“: Jakobspilger aus dem Hanseraum, in: Hansische Geschichtsblätter 117 (1999) S.-93-130. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 207 gleich gefährlichen Landweg entschieden, anstatt wieder eine Schiffspassage zu buchen. Überdies ist auch die Route, die sie für dieses Vorhaben wählen, denkbar ungünstig, denn sie reisen auf der via tolosana über Toulouse, Saint Antoine und die Schweiz. Für jemanden der von der galizischen Küste nach Schweden reisen wollte, ist die via tolosana von den vier gängigen Hauptrouten nicht nur die längste, sondern obendrein auch die beschwerlichste Strecke. Sie führt zunächst im großen Bogen weit in den Süden und, um dann zum Rhein zu gelangen, müssen die Alpen überquert werden (Abbildung 2). Sieht man sich die Streckenbeschreibungen der Kernerzählung und des Rahmens separat an, dann wird deutlich, dass der weite Umweg aus der Komposition der beiden Textteile resultiert. Im Kern der Erzählung erfährt man nur, dass die Protagonistin eine Jakobspilgerin ist und über Saint Antoine bis nach Freiburg im Uechtland gelangt. Die Rahmenerzählung berichtet in den ersten zwei Kapiteln über den Anfang der Reise. Vom Familiensitz „Annas von Anhalt“ in Schweden aus fahren die Eheleute mit den Bediensteten auf einem Schiff nach Santiago de Compostela und reisen dann weiter über Toulouse. Die Streckenbeschreibung im hinteren Teil des Rahmens beschreibt die weitere Reise, nachdem die Protagonistin aus Freiburg verwiesen wurde, und nennt dabei im Vergleich zum übrigen Text deutlich mehr Stationen: Bern, Solothurn, Basel, Straßburg, Heidelberg, Worms, Köln und Lübeck. Abbildung 2: Reiseroute der „Gräfin von Anhalt“ nach den benannten Stationen 208 Carina Brumme Für einzelne Abschnitte der beschriebenen Route, die Seefahrt nach Santiago de Compostela 33 , den Landweg auf der via tolosana über Saint-Antoine und die Route durch die schweizerische Eidgenossenschaft in die transalpinen, nördlichen Gebiete des Heiligen Römischen Reiches 34 , finden sich zeitgenössische Parallelen in Itineraren und Reisebeschreibungen der Wallfahrten von Hochadligen und Patriziern. Hermann Künigs von Vach Reiseführer nach Santiago de Compostela, der 1495 in Straßburg erstmals gedruckt wurde, beschreibt von Einsiedeln über Freiburg im Uechtland, Saint-Antoine-en-Viennois und Toulouse etwa die Route, die augenscheinlich für Pilger aus Süddeutschland, dem Elsass und der Schweiz etc. die günstigste war. Für den Rückweg, der an den Rhein nach Aachen und Maastricht führt, gibt Künig eine andere Route an, nämlich die via turonensis über Tours und Paris. Letztere wäre auch für die Protagonistin der deutlich kürzere Weg gewesen. 35 Die beschriebenen Begleitumstände der Reise der Protagonistin durch die Schweizer Eidgenossenschaft vermitteln sowohl im Kern als auch im Rahmen ein durchaus authentisches Bild. So spiegelt das Rechtsverständnis, das die Freiburger im Zuge des Urteilsverfahrens gegen den Schreiber Martin offenbaren und nach dessen Ende der Gräfin ihr Besitz ein zweites Mal entzogen wird [Bl. Biv r -f.], eine ganz übliche Praxis wider. Der hartherzige Umgang der Freiburger mit der Protagonistin mutet im Gesamtkontext der Erzählung wie ein neuerliches Unrecht an, ein fiktives Element, das die Geschichte um eine weitere dramatische Situation bereichern soll. Bestärkt wird diese Annahme zudem durch die oben gezeigte Adaption der Jakobuslegende aus der Legenda Aura. Auch in dieser wird berichtet, dass der Wirt nach der Verurteilung des Sohnes den gesamten Besitz der beiden von ihm verleumdeten Pilger behalten habe. In den Quellen finden sich aber Belege dafür, dass die Erzählung hier eine durchaus reale Praxis beschreibt. Das zeigen Einträge in den eidgenössischen Abschieden, den Protokollen der Tagungen, auf denen die Vertreter der einzelnen eidgenössischen Herrschaftsgebiete zusammenkamen, um gemeinsam geschäftliche, politische und rechtliche Entscheidungen zu treffen. Im Protokoll 33 Favreau-Lilie (wie Anm. 32) S.-105-ff. 34 Ich, Hans von Walthaym, Bericht über eine Pilgerfahrt im Jahr 1474 von Halle in die Provence, hg. von Birthe Krüger/ Klaus Krüger, Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 21 (2014), dort Itinerar ab 16.-Mai 1474 S.-259-f.; Brumme, Wallfahrtswesen (wie Anm. 4) S.-201-208. 35 Hermann Künig von Vach: Die strasz und meilen zu sant Jacob usz und yn war hen gantz erfaren sind stn [! ] in disem büchlin, Straßburg [Matthias Hupfuff] 1495. (4 Nachdrucke Braunschweig 1518, Nürnberg 1520 und Leipzig 1521). Angaben nach Christian Halm (Bearb.), Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters: eine analytische Bibliographie. Teil 1: Deutsche Reiseberichte (Kieler Werkstücke, Reihe D, Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 5, 1994) Nr. 107, S.-265-268. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 209 der Tagung vom 17.- Dezember 1504 in Zürich wird ein Fall erwähnt, der im Prinzip ganz ähnlich gelagert ist, wie die Verhandlung in Freiburg wegen des versuchten Mordes an der Protagonistin. Es ging dabei ebenfalls um die Herausgabe des Diebesgutes an den Geschädigten nach einer Hinrichtung: a. Es ist kürzlich zu Baden Einer hingerichtet worden, der einem armen Mann von Olten 30 Gl. gestohlen hat. Darauf haben unsere Eidgenossen von Solothurn sich bei denen von Baden verwendet, es möchte das gestohlene Geld, soweit es noch vorhanden sei, nämlich 11 rh. Gl., ihrem Angehörigen wiedergegeben werden. Das haben die von Baden schriftlich zugesagt, der Eidgenossen Vogt zu Baden meint aber, sie hätten dazu keine Befugniß, sondern es gehöre das Geld ihm zu Händen der VIII Orte nach Sage des Urbars. Darauf ist denen von Baden geschrieben, sie sollen das Geld hinter den Vogt legen; jeder Bote soll die Bitte Solothurns um Zurückstellung desselben an seine Herren bringen und auf nächstem Tag antworten. 36 Zwischen den Tagungen kommunizierten die Eidgenossen ihre Anliegen schriftlich untereinander. Im Fall des in Baden hingerichteten Diebes verwenden sich unter anderem die Solothurner mehrfach für die Rückgabe des Diebesgutes an das Opfer, da sich die Badener lange weigerten, diesem Wunsch nachzukommen. 37 Ganz ähnlich wird das Verhalten der Berner gegenüber der Protagonistin beschrieben. Der Berner Rat verhandelt schriftlich mit Freiburg wegen der Herausgabe des einbehaltenen Eigentums und schickt der Frau Boten voraus, um die Stadträte der Orte, die sich auf ihrer Route befinden, entsprechend vorzubereiten [vgl. Bll.-Ci v und Cii r f.] Die Rahmenerzählung enthält eine ganze Reihe von Verweisen auf bekannte historische Persönlichkeiten. Auf diese trifft man am Ende des Textes gewissermaßen auf Schritt und Tritt - explizit im letzten Kapitel, in dem etliche historische Personen im Kontext des Wormser Reichstages 1521 erscheinen. Gleich zweimal äußert die „Gräfin von Anhalt“ die Hoffnung, in Worms ihren Vetter, den jungen Herren von Anhalt, zu treffen. Zunächst als sie in Straßburg darum bittet, sie an Kaiser Karls Hof zu bringen [Bl. Cii v ] und dann erneut, als sie in Heidelberg vor den Kaiser gebracht wird und dort erfahren muss, dass ihre Vetter bereits im Gefolge des sächsischen Kurfürsten Friedrich von Sachsen abgereist sind [Bl. Ciii v ]. Die Anwesenheit des Kurfürsten auf dem Wormser Reichstag ist historisch unstrittig, entsprechende Teilnehmerlisten wurden 1521 als Flugschriften veröffentlicht. Aus diesen geht auch die Teilnahme Wolfgangs von Anhalt und anderer Adliger aus dem Hause Anhalt im Gefolge des Kur- 36 Anton Phillip von Segesser, Die eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume 1500 bis 1520 (Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede 3/ 2, 1869) S.-302, 202 a). 37 Ebenda 202- a) vom 17.- Dezember 1504 (S.- 302); 203- a) vom 7.- Januar 1505 (S.- 304) und 250-k) vom 23.-Juni 1506 (S.-350). 210 Carina Brumme fürsten hervor. 38 Ein interessantes Detail, das in der Erzählung am Ende noch einmal für Spannung sorgt, ist die Abreise des Kurfürsten, wegen der die Protagonistin ihre Vetter knapp verpasst, was impliziert, dass diese Abreise früher als geplant stattgefunden haben muss. Tatsächlich hatte Friedrich der Weise am 26.-Mai 1521 ein schriftliches Gesuch an den Kaiser gerichtet und darin um die Erlaubnis gebeten, wegen einer Erkrankung früher aus Worms abreisen zu dürfen. 39 Im Gesamtkontext des Reichstages ist dies sicher als marginal zu werten. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dieser Umstand in der Entstehungszeit des Textes sonderliche Beachtung gefunden hat oder einem größeren Personenkreis bekannt war. Umso bemerkenswerter ist, dass es im Text erwähnt wird. Auch im Blick auf die anderen namentlich genannten prominenten Hochadligen stimmen die zeitlichen und örtlichen Angaben im Text genau mit den Angaben in den Quellen überein. Überdies handelt es sich auch hierbei jeweils um Situationen, die zwar für die „Gräfin von Anhalt“ in der Erzählung eine gewisse Relevanz besitzen, die allerdings im zeitgenössischen Kontext kaum von Bedeutung gewesen sein dürften. Kaiser Karl-V., Erzbischof Albrecht von Mainz, der hier als Bischof von Mainz erscheint, der Pfalzgraf Ludwig der Friedfertige und sein Bruder Heinrich halten sich wegen des Wormser Reichstages an den angegebenen Orten bzw. in deren näheren Umfeld auf. Geht man von dem Abreisedatum des sächsischen Kurfürsten als Orientierungspunkt aus, dann bestätigen die Quellen die Anwesenheit der genannten Personen Ende Mai 1521 auf dem Wormser Reichstag, in Heidelberg oder Worms bzw. widersprechen dieser zumindest nicht. 40 Gleiches gilt für das geschilderte Zusammentreffen des Herzogs Ulrich von Württemberg und der Protagonistin im schweizerischen Solothurn. Ulrich von Württemberg befand sich seit 1519 in der Schweiz im Exil. 41 Drei Jahre zuvor hatte dieser Hans von Hutten erschlagen und war in Konflikt mit Kaiser Maximilian geraten, der die Reichsacht über ihn verhängte. Endgültig vertrieben wurde Ulrich von Württemberg 1519 nach einem Überfall auf Reutlingen. Etliche Einträge aus den Jahren 1520 und 1521 in den eidgenössischen Abschieden, den Sitzungsprotokollen der Schweizer eidgenössischen Versammlungen, in denen politische und juristische Verhandlungen zwischen den einzelnen Städten festgehalten sind, haben Streitigkeiten zwischen Ulrich von Württemberg und einzelnen Schweizer 38 Auff dem Reichstag || Anno domini. M.CCCCC.xxi. || zu worms gehalten. seind in || eygner personen gewesen. Druck: Erfurt, Mathes Maler, 1521 (VD16 A-4053). Hier erscheinen der Kurfürst (S.-6) sowie Wolfgang von Anhalt, Johann von Anhalt und Magnus von Anhalt (S.-9). Siehe auch Adolf Wrede (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Karl-V. (Deutsche Reichstagsakten 2, 1896) Nr. 101, S.-742 oben und Nr. 130, S.-788, Anm.-1. 39 Wrede, Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 38), Nr. 246, S.-950-f., Anm.-2. 40 Ebenda S.-949-954. 41 Vgl. Werner Frasch, Ulrich von Württemberg: Herzog und Henker (2011) S.-80. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 211 Städten, darunter auch Solothurn, zum Gegenstand. Bei einigen Zusammenkünften war der Herzog selbst anwesend und trug dort sein Anliegen vor. 42 Die im Rahmen der Erzählung erwähnten Persönlichkeiten einschließlich der Situationen, in deren Kontext sie dort erscheinen, stimmen mit den historischen Quellen sehr genau überein. Allerdings findet sich in keiner der genannten Quellen auch nur der Ansatz eines Hinweises auf eine Anna von Anhalt bzw. eine Gräfin/ Pilgerin oder auf die geschilderten Ereignisse. Das ist zwar nicht ungewöhnlich, aber angesichts der detaillierten Passgenauigkeit der gesamten diesbezüglichen Szenerie in die faktischen Überlieferungen, lag ein Vermerk zur Protagonistin im Rahmen des Anzunehmenden. Denn diese Genauigkeit geht doch schon sehr weit über das hinaus, was nötig gewesen wäre, um die Erzählung für den zeitgenössischen Leser nachvollziehbar in ein ihm bekanntes, populäres Ereignisfeld einzubetten. Das erste Kapitel der Erzählung liefert dafür ausführliche Informationen zum familiären Hintergrund der „Gräfin von Anhalt“, die durchaus den Eindruck vermitteln, auf Realem zu basieren. Hier wird berichtet, „Anna von Anhalt“ sei die Tochter eines reichen Grafen namens „Johann von Anhalt“, der in Schwedien residiert. Der ihr angetraute Ehemann, ein Graf „Albrecht von Schwarzburg“, stamme ebenfalls aus besagtem Schwedien. Zu Reisebeginn sei sie gerade 18 Jahre alt gewesen und gerade Mutter geworden [Bl. Aii r ]. Bei der Suche nach den faktischen Hintergründen wird nun allerdings unmittelbar klar, dass die bis ins Detail verifizierbare Historizität der Begleitumstände und Personen nicht gegeben ist, wenn es um die Protagonistin geht. In der angegebenen Konstellation treffen die Angaben auf kein Adelshaus dieser Zeit zu. Zwar sind die Häuser Anhalt und Schwarzburg reale adlige Dynastien, zwischen denen auch verwandtschaftliche Beziehungen bestanden, die aber nicht mit dem im Text angegebenen Verhältnis korrelieren. So ehelichte beispielsweise der Fürst Woldemar-IV. von Anhalt 1485 Margaretha von Schwarzburg 43 , aber eine Eheschließung zwischen einer Anna von Anhalt und einem Grafen Albrecht von Schwarzburg gab es weder 1520 noch zu einem anderen Zeitpunkt. Ein angeblicher Verwandter der Protagonistin ist zumindest als reale Person belegt, der im Gefolge des sächsischen Kurfürsten nach Worms reisende junge Herr von Anhalt, der ein Vetter der Gräfin Anna gewesen sein soll. Dabei kann es sich nur um Wolfgang von Anhalt-Zerbst (1492-1566) gehandelt haben. Wenn die reale Person hinter der Protagonistin seine Cousine gewesen wäre, dann wäre diese Anna von Anhalt also eine Angehörige des Hauses Anhalt, die kurz nach 1500 ge- 42 Unter anderem auch im April 1521 Anton Phillip von Segesser, Die eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume 1521 bis 1528 (Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede. 4/ 1a, 1873) S.-29. 43 Herrmann Wäschke, Annales Anhaltini (1911) S.-9. 212 Carina Brumme boren wurde, aber offenbar nicht im Stammgebiet der Anhaltiner, sondern, wie der Titel der Flugschrift bereits verkündet, aus Schwedien stammte. Schwedien steht zeitgenössisch für das Königreich Schweden. 44 Allerdings gab es nie einen Sitz des Hauses Anhalt in Schweden und damit auch keine schwedische Gräfin von Anhalt. Bleibt man im geographischen Norden und erweitert die Suche, dann führt dieser Hinweis dafür zu einer Frau, deren Biographie und Familiengeschichte streckenweise geradezu verblüffende Parallelen zu den Angaben über die Protagonistin aufweist: Anna von Oldenburg, Gräfin von Ostfriesland, die nach dem Tod ihres Ehemanns Enno von Ostfriesland 1540 die Vormundschaft über ihre noch im Kindesalter befindlichen Söhne übernahm und von da an als Landesherrin die Grafschaft Ostfriesland regierte. In den einschlägigen Zeugnissen zur Familiengeschichte der Anhaltiner und des Hauses Oldenburg finden sich sowohl passende primäre Angaben als auch sekundäre Übereinstimmungen mit den Schilderungen in der Flugschrift. Der bereits als Vetter angedeutete Wolfgang von Anhalt-Zerbst 45 , Fürst von Anhalt-Köthen, der mit dem sächsischen Kurfürsten nach Worms zum Reichstag reiste, war der Sohn des Fürsten Waldemar-VI. von Anhalt-Köthen (1450- 1508). Waldemars Halbschwester, Anna von Anhalt-Zerbst (nach 1454-1531) 46 war mit dem Grafen Johann-V. von Oldenburg und Detmold (1460-1526) verheiratet. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor. Die älteste Tochter, besagte Anna von Oldenburg, wurde am 14.- November 1501 geboren und war eine Cousine Wolfgangs von Anhalt-Zerbst. 47 Die Gräfin von Anhalt soll zu Beginn der Wallfahrt 1520 gerade 18 Jahre alt gewesen sein, also genau in dem gleichen Alter wie Anna von Oldenburg im selben Jahr [Bl. Aii r , Z.-16]. Leider gibt es fast keine urkundlichen Nachrichten über die Jugend Annas von Oldenburg. Alles, was man bis zu ihrer auffällig späten Heirat 1529 mit Graf Enno von Ostfriesland über sie erfahren kann 48 , 44 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch sub Lemma taub (https: / / fwb-online.de/ lemma/ taub.s.4adj? q=Schwedien&page=1 [Stand 15.8.2018]) mit Verweis auf Heinrich Brennwalds Schweizerchronik, hg. von Rudolf Luginbühl (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF., I. Abt.: Chroniken 1; 2, 1908 u. 1910) Bd.-1, S.-258, Zeile 26. 45 Geboren am 1. August 1492, Wäschke, Annalen (wie Anm. 43) S.-16. 46 Zu Anna von Anhalt-Zerbst, die aus der vierten Ehe Georgs I. von Anhalt-Zerbst, dem Vater von Waldemar IV. stammte, finden sich nur wenige späte Vermerke in den anhaltinischen Urkunden. Herrmann Wäschke (Bearb.), Regesten der Urkunden des herzoglichen Haus- und Staatsarchives zu Zerbst aus den Jahren 1401-1500 (1909): zur ersten Ehe mit Heinrich Burggraf von Meißen s. S.- 233-235, Nr.- 505-509; S.- 278, Nr.- 591. Zur Eheschließung 1498 mit Johann von Oldenburg s. S.- 643, Nr. 1472; S. 652-f., Nr.- 1496 und 1498, siehe auch Hermannus Hamelmannus, Oldenburgisch Chronicon Das ist Beschreibung Der Löblichen Vhralten Grafen zu Oldenburg vnd Delmenhorst / [et]c. Von welchen die jetzige Könige zu Dennemarck vnd Hertzogen zu Holstein entsprossen (1599 [VD16 H-407]) S.-302. 47 Hamelmannus, Oldenburgisch Chronicon (wie Anm. 46) S.-305. 48 Zur Verhandlung über die Eheschließung Gustav Rüthning (Bearb.), Urkundenbuch der Grafschaft Oldenburg von 1482 bis 1550 (1927) Nr. 447, S.-295-99. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 213 ist in einem Brief ihrer Mutter Anna von Anhalt-Zerbst vom 15.-November 1521 an ihre Schwester Margarete von Anhalt überliefert. In diesen Brief entschuldigte sich Annas Mutter bei ihrer Schwester dafür, dass sie ihre Tochter im letzten Jahr nicht wie vereinbart zu ihr geschickt hatte. Die angeführten Gründe beziehen sich auf widrige Umstände und haben nichts mit Anna von Oldenburg direkt zu tun. 49 Wenn die Protagonistin der Erzählung sich an der realen Anna von Oldenburg orientiert haben sollte, dann würde der Verweis auf Schweden nicht nur geographisch, sondern auch im Familienkontext einen Sinn ergeben. Denn wenn mit dem Grafen „Johann von Anhalt“ realiter der Graf Johann-V. von Oldenburg und Detmold gemeint wäre, wäre Schweden zwar hinsichtlich des Familiensitzes trotzdem falsch, aber wegen der engen verwandtschaftlichen Verbindung zwischen den Grafen von Oldenburg und dem schwedischen Königshaus erklärbar. Christian-I. (1426-1481), König von Dänemark, Norwegen und auch Schweden, war zugleich Herzog von Schleswig und Holstein, Graf von Oldenburg und der Onkel Johanns-V. von Oldenburg. 50 Abbildung 3: Lage der Bestattungsorte des Ehemanns der Protagonistin, Albrecht von Schwarzenburg, und des Grafen Gerd von Oldenburg, Großvater Annas von Oldenburg 49 Die Begründung lautete, der schwedische König Christian hätte den Grafen von Oldenburg aufgefordert, ihn zum Reichstag zu begleiten und danach hätte der Ausbruch der Braunschweigischen Fehde das Reisen zu gefährlich gemacht, Rüthning, Urkundenbuch (wie Anm. 48) Nr. 337, S.-229. 50 Hermann Onken, Graf Gerd von Oldenburg (1430-1500), vornehmlich im Munde seiner Zeitgenossen, Jahrbuch für die Geschichte des Herzogtums Oldenburg 2 (1883) S.-14-84, hier S.-20. 214 Carina Brumme Die Anna von Anhalt, heißt es in der Erzählung, sei verheiratet gewesen und habe 1520 ein Kind zur Welt gebracht [Bl. Aii r , Z. 7-10]. Weder für das eine noch für das andere finden sich für Anna von Oldenburg Anhaltspunkte in den Quellen. Dafür weisen die tragischen Todesumstände des Ehemanns der Gräfin von Anhalt, Albrecht von Schwarzburg, inklusive dessen Bestattung in Toulouse [Aii r f. Z. 15 ff.] erstaunliche Parallelen zum Ableben des Großvaters Annas von Oldenburg auf. Gerhard der Mutige, Graf von Oldenburg (1430-1500), war der Vater Johanns von Oldenburg und Bruder des schwedischen Königs Christian-I. Gerhard der Mutige war, glaubt man dem Urteil seiner Zeitgenossen, ein äußerst streitbarer und nicht unbedingt beliebter Mann. Seine Regentschaft war derart mit Konflikten beladen, dass er zu Lebzeiten abdanken und seinen Söhnen die Hoheit über die Grafschaft Oldenburg überlassen musste. 51 Er starb 1500 im Alter von 70 Jahren auf dem Rückweg von einer Wallfahrt nach Santiago de Compostela in Frankreich. Begraben wurde er in Saint Esprit, aller Wahrscheinlichkeit nach dem heutigen Pont Saint Esprit. Der kleine Ort liegt im Rhonetal und damit direkt auf dem Weg, den man hätte nehmen müssen, um von der via tolosana über Saint Antoine in die Schweiz zu gelangen. Der Überlieferung nach hat Gerhard der Mutige nahe der Kirche von Saint Esprit, die St. Saturninus von Toulouse geweiht ist, seine letzte Ruhestätte gefunden (Abbildung 3). 52 Wenn diese Parallele tatsächlich auf Anna von Oldenburg gemünzt wäre, würde dies im Übrigen mit der eigentümlich ineffizienten Auswahl der Route für den Rückweg korrelieren. Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch auf ein Detail verwiesen, das fast am Ende des Textes erwähnt wird. Der Vater „Annas von Anhalt“, heißt es dort, habe eine Herberge in Lübeck besessen, die den Namen zu o dem Gülden Horn getragen hätte [Bl. Civ r ]. Eine Herberge Tome Horne bzw. To dem gulden Horne ist in Lübeck belegt, in den Regesten der Eigentümer erscheinen die Grafen von Oldenburg allerdings nicht. 53 Bis zu diesem Punkt bleibt festzustellen, dass die Flugschrift eine Geschichte schildert, die im Zeitraum 1520 / Frühjahr 1521 stattgefunden haben soll, wobei als Orientierungspunkt das Ende des Wormser Reichstages (Ende Mai 1521) vorgegeben wird. Die Angaben zu den benannten realen Personen und Ereignissen stimmen sehr genau mit den Quellen überein. Die Identität der Protagonistin und ihre Familie wird im Gegensatz dazu verborgen. Allerdings geschieht dies 51 Onken, Graf Gerd (wie Anm. 50) S.-62-f. 52 Ebenda S.-78-f. 53 Das 1287 erstmals erwähnte Gebäude erscheint 1441 als Haus Tome Horne und ab 1448 als To deme gulden Horne. Von 1505 bis 1552 war das Goldene Horn im Besitz eines Mannes namens Simon Sure. Vgl. Hermann Schröder (Bearb.), Aus dem Oberstadtbuch. c. Marien-Quartier (1848) S.-775-f. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 215 nur oberflächlich. Fast alle diesbezüglichen Angaben verweisen auf das Haus Oldenburg bzw. auf Anna von Oldenburg. Dies und der Umstand, dass auch diese Hinweise sehr genau mit den zugehörigen Quellen übereinstimmen, macht deutlich, dass es sich bei dieser Verbindung nicht um einen Zufall handeln kann. Unklar ist allerdings, welcher Zweck mit dieser semifiktiven Methode verfolgt wird. Da sich keine Quellen finden, führt dies zunächst zurück zur Entstehung des Textes der Flugschrift (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Vorkommen der Befunde aus der Textanalyse und der Analyse des historischen Kontextes in den Kapiteln 216 Carina Brumme Stellt man die einzelnen oben besprochenen Aspekte - Textinhalt und -stil, literarische Vorlagen und Motive sowie historische Bezüge - nach ihrem Auftreten in den einzelnen Kapiteln grafisch gegenüber, dann zeigt sich in der so erzeugten Matrix ein Muster, aus dem sich das Vorgehen bei der Texterzeugung in einigen Punkten nachvollziehen lässt. Die Unterschiede zwischen Kern und Rahmen sind darin sehr gut zu erkennen, ebenso die Zeitstellung beider Teile zu einander. Die Rahmenerzählung umschließt den Kern nicht nur hinsichtlich der Kapitelabfolge, sie wurde regelrecht um den Kern herumgeschrieben und hineingewoben. Inhaltlich greift die Rahmenerzählung dabei sehr stimmig den Faden der Kernerzählung auf und führt ihn fort bzw. setzt vor den Anfang eine Vorgeschichte ein. Durch die Retrospektiven im hinteren Teil der Rahmenerzählung [Kap. 8, Bl. C r , Z. 5-11; Kap. 9, Cii r f, Z. 5 ff.], den namentlichen Verweis auf die „Gräfin von Anhalt“ [Bl. Biv r , Z. 5 und 7 f.] und den Namen des Schreibers [Bl. Biv r , Z. 13] 54 in der Hinrichtungsszene in Freiburg werden die beiden Texte verknüpft. Gleichzeitig wird anhand gerade dieser letztgenannten Einfügung des Namens der Protagonistin und ihres Schreibers Martin in den ansonsten anonymen Kern der Erzählung explizit klar, dass die Rahmenerzählung dazu diente, die ganze Geschichte nachträglich zu personalisieren. Nur in der Rahmenerzählung finden sich die Namen der Protagonistin sowie der anderen Persönlichkeiten und auch sämtliche mehr oder weniger direkten Anspielungen auf Anna von Oldenburg. Angesichts der übrigen analog auftretenden Unterschiede in Erzählstil und Motiven kann man hier nur schwer zu einem anderen Schluss kommen, als dass der Kern des Textes vor dem Rahmen entstanden sein muss und dass beide Teile von verschiedenen Verfassern stammten. Weiterhin steht damit fest, dass der Kern zeitlich vor dem Rahmen entstanden ist, denn dem Verfasser des Rahmens muss der Kern als Text vorgelegen haben. V. Die Urheberschaft Die Flugschrift Von einer Grefinn von Anhalt nennt keinen der beiden Verfasser. Da es außer dem zeitlichen Verhältnis der beiden verschiedenen Textteile zu einander und ihrem Inhalt keine weitere Anhaltspunkte zur Identität der beiden Verfasser gibt, kann man sich ihnen nur über die Suche nach der Intention nähern, aus der heraus sie ihre Texte verfasst haben. Dies soll zunächst für den Verfasser des Kerns und dann für den des Rahmens versucht werden. Der Verfasser des Kerntextes hat eine an die im Mittelalter sehr populären Jakobusmirakel angelehnte Abenteuergeschichte verfasst. Er lässt eine anonyme 54 Der Name des Schreibers wird nur an einer weiteren Stelle im Rahmenteil der Erzählung im 2. Kapitel erwähnt [Bl. Aiii r , Z. 20]. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 217 Protagonistin all die Gefahren erleben und lediglich den Umstand einfließen, dass es sich bei ihr um eine Adlige handelt. Das ist bedeutsam für den in jeglicher Hinsicht tiefen Fall, den die Frau auf ihrer Reise durchleben muss. Überdies hat er seine Variante mit einem lokalen Schwerpunkt versehen, dem schweizerischen Freiburg im Uechtland. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die ursprüngliche Kerngeschichte tatsächlich diese Verbindung mit Freiburg enthielt. Der Name der Stadt kommt im fünften, sechsten und siebten Kapitel mehrfach vor. 55 Die spätere Redaktion durch den Verfasser des Rahmentextes hat nur an einer Stelle den Namen der Protagonistin eingefügt, da ist es kaum vorstellbar, dass der Stadtname nachträglich an sieben Stellen eingefügt worden sein soll. Geht man weiter davon aus, dass dem Verfasser der Rahmengeschichte der Text der Kerngeschichte vorlag, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es eine gedruckte Vorlage war, eventuell auch das Manuskript für den späteren Druck des Textes. Die Abfassung des Kerntextes muss daher in den Jahren vor 1521 entstanden sein, wobei nicht auszumachen ist, ob es sich um einige Jahre oder einige Jahrzehnte handelt. Der Verfasser des Kerntextes könnte angesichts der Route und der Handlung in Freiburg aus der Schweiz stammen. Dass er selbst Freiburger war bzw. dass er mit dem lokalen Akzent in einer populären Mirakelgeschichte der Stadt Freiburg im Üchtland gewissermaßen ein literarisches Prestige zukommen lassen wollte, kann angesichts der geschilderten Hartherzigkeit der Freiburger gegenüber der Protagonistin angezweifelt werden (es sei denn er will seinen Landsleuten einen Spiegel vorhalten). Hinsichtlich des Verfassers des Rahmentextes ist die Situation wesentlich komplexer. Der Text enthält deutlich mehr und zudem sehr verschiedene Anhaltspunkte, die auf ihn bzw. seine Intention verweisen könnten. Der Verfasser hat an zwei Stellen im Rahmen direkte Hinweise auf seine Person eingefügt. Ob sie Fakten enthalten oder fiktive Aussagen sind ist nicht endgültig aufzuklären. So behauptet er, selbst Augenzeuge der Geschehnisse in Bern gewesen zu sein: vnd ich selber der diß bu e chlein von ir hab gemacht hab es gesehen [Bl. C v , Z. 4-f.]. Der Aussagewert der beiden Anmerkungen hängt von der Intention ab, mit der sie im Text platziert wurden. Wollte der Verfasser hier tatsächlich auf seine Person verweisen, dann muss man von jemandem ausgehen, der sich 1521 in der Schweiz aufhielt. Glaubt man den Angaben zu den Aufenthaltszeiten der Protagonistin, nämlich sechs Wochen in Bern [Bl. C v , Z. 23] und fünf Wochen in Basel [Bl. Cii v , Z. 5], und schlägt auf diese die geschätzte Dauer der weiteren Aufenthalte (Einsiedeln, Solothurn, Straßburg) und Reisezeiten dazu, dann 55 Siehe Bl. B v , Z. 15, 25 und erste Zeile der Überschrift von Kap. 6; Bl. Biii v , Z. 21, 26-f.; Bl. Biv r , Z. 21, 25. 218 Carina Brumme müsste man von mindestens 14 Wochen ausgehen, die die Gräfin seit ihrer Ankunft in Bern brauchte, um nach Heidelberg zu gelangen. Da sie Heidelberg kurz nach der Abreise des Kurfürsten von Sachsen aus Worms erreichte, also Ende Mai 1521, wäre sie etwa Mitte Februar in Bern angekommen. Zu dieser Zeit sollte sich dann auch der Verfasser des Rahmentextes in Bern aufgehalten haben. Später im Text nennt der Verfasser bei der knappen Erwähnung des Zusammentreffens der Gräfin mit dem Erzbischof von Mainz diesen mein genediger herr von Mentz [Bl. Civ r , Z. 3]. Damit deutet er an, dass er mit Albrecht von Mainz einen wie auch immer gearteten Umgang pflegt, möglicherweise in Gestalt eines Dienstverhältnisses. Denkbar wäre in diesem Kontext eine Verbindung zwischen dem Chronisten und den humanistischen Kreisen am Hof Albrechts von Brandenburg. Zu diesem Kreis gehörte u. a. auch Ulrich von Hutten. Er war ein Vetter jenes Hans von Huttens, den der im Text erwähnte Herzog Ulrich von Württemberg erschlagen hatte und den Ulrich von Hutten seinerseits in fünf seiner Schriften hart angriff. 56 Tatsächlich erscheinen in den eidgenössischen Abschieden des Frühjahrs 1521 etliche Verhandlungen im Rahmen des im selben Jahr geschlossenen Soldbündnisses zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft und anderer politischer Angelegenheiten. 57 Eine konkrete Person, die zu den Angaben des Verfassers über sich selbst passen würde, konnte bisher nicht ermittelt werden. Angesichts der halbbis undurchsichtigen Anspielungen auf Anna von Oldenburg bei der Darstellung der Protagonistin muss man m.-E. allerdings davon ausgehen, dass der Verfasser auch seine Identität ähnlich verschlüsselt hat. Ungeachtet dessen offenbaren die Angaben zu den im Text erwähnten zeitgenössischen Personen explizit zur Familie und Person Annas von Oldenburg ein diesbezüglich umfassendes Detailwissen. Einiges von dem, was der Verfasser an nachweislichen Fakten in den Text einfließen ließ, erscheint derart speziell und gleichzeitig kaum von großem gesellschaftlichem Belang, dass es sich nur um die Arbeit eines „Insiders“ handeln kann. Der Verfasser des Rahmentextes muss sich zumindest für eine Zeit im nahen Umfeld der gesellschaftlichen Elite aufgehalten haben, wie durch den Hinweis auf den Erzbischof von Mainz vielleicht sogar angedeutet werden soll. Er muss Zugang zu hohen gesellschaftlichen Kreisen gehabt haben oder zumindest zu Personen, die sehr detaillierte persönliche Informationen aus diesem Umfeld beschaffen konnten. Diese Informationen hat er benutzt, um den Kerntext der Flugschrift in einen Rahmen einzufügen, der die abgesehen von dem Bezug auf Freiburg allgemeine 56 Helmut Spelsberg, Aber Hutten kehrte nicht um: Betrachtungen zu Leben und Werk Ulrich von Huttens (2015) S.-32-47. 57 Vgl. Segesser, Eidgenössische Abschiede (wie Anm. 42) S.-5-30. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 219 Abenteuergeschichte über eine Jakobuswallfahrt mit einer konkreten Person und einem konkreten Zeitpunkt verband. Die Entstehung des Rahmentextes und dessen inhaltliche Verknüpfung mit dem Kerntext sind als Prozess nur in Gestalt eines einzigen Arbeitsganges denkbar, der frühestens nach dem Abschluss des Wormser Reichstages Ende Mai 1521 begonnen haben kann und 1522 vor Drucklegung abgeschlossen war. Welche Absicht der Verfasser damit verfolgte, lässt sich aus dem Text direkt nicht erschließen, da keinerlei moralische, theologische oder gesellschaftliche Urteile über das Geschilderte geäußert werden. Um diese und weitere offenen Fragen soll es im letzten Abschnitt dieses Beitrages gehen. VI. Desiderate Wie eingangs angekündigt, hat die Analyse des Textes einiges an Erkenntnissen, aber gleichzeitig auch viele neue Fragen ans Licht gebracht. Die drängendste ist dabei wohl, welches Anliegen der Verfasser des Rahmens damit verfolgte, dass er die Protagonistin mit Anna von Oldenburg verknüpfte. Doch es gibt noch weitere Aspekte, die im zeitgenössischen Kontext der Flugschrift ungewöhnlich erscheinen. Einige dieser Widersprüche und Fragen sollen nun kurz aufgezeigt werden. Das größte Rätsel, das dieses Werk birgt, ist die Suche nach einem Motiv, aus dem heraus die Erweiterung des Kerntextes erfolgte, die zur Personalisierung, zur Verbindung mit Anna von Oldenburg führte. Letzteres muss natürlich die Absicht des Verfassers des Rahmentextes gewesen sein, davon darf man ausgehen. Aber aus welchem Grund hat er dafür diese eher reißerische Schauergeschichte mit einem derartig komplizierten Irrgarten aus Fakten, Fiktionen und Halbwahrheiten versehen? Warum erschuf er eine faktisch derart genaue Kulisse und lässt die Person hinter der Protagonistin dann doch nur halbtransparent durchscheinen? Die Glaubwürdigkeit des Textes, im Sinne einer Belegbarkeit der geschilderten Ereignisse, dürfte für die zeitgenössische Leserschaft solcher Werke kaum eine Rolle gespielt haben. Wenn die Adressaten der Schrift auf ein tatsächliches Ereignis bzw. eine bestimmte Person hingewiesen werden sollten, wozu dann die seltsam semifiktive Darstellung der Protagonistin? Wenn im Gegenzug die wahre Identität der Protagonistin verborgen bleiben sollte, warum sind dann die Angaben zu ihr und zu ihrem familiären Umfeld teilweise doch so deutlich auf Anna von Oldenburg gemünzt, allein schon durch die Erwähnung des Hauses Anhalt? Sollte nur ein bestimmter Leserkreis die Hinweise richtig deuten können? In diesem Fall wäre dieser Kreis sicher sehr klein gewesen, denn die subtil angedeuteten Details aus den Verhältnissen im Haus Oldenburg dürften nur von sehr wenigen erkannt worden sein, erst recht, weil sie nicht nur 220 Carina Brumme auf die aktuellen Verhältnisse, sondern auch auf länger zurückliegende Ereignisse anspielen. Das Veröffentlichungsmedium, eine reich bebilderte Flugschrift, und der reißerische Charakter der Abenteuergeschichte, sprechen zudem eher dafür, dass eine größere Leserschaft und damit ein allgemeiner Leserkreis angesprochen werden sollte. 58 Die Kombination von bekannten Texten ist eine Praxis, die bei frühneuzeitlichen Flugblättern und Flugschriften durchaus öfter zu beobachten ist. Erkennbares Ziel der Urheber dieser Komposita war es dabei allerdings, mit möglichst wenig finanziellem Aufwand eine gut verkäufliche Publikation zu erstellen. 59 Es spräche einiges dafür, dass die Druckschrift über die Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ aus diesem Motiv heraus entstanden ist. Bei Flugschriften setzte man teilweise explizit auf die Popularität der verwendeten Textvorlagen bzw. der dort angeführten Prominenten, um bei den potentiellen Lesern Aufmerksamkeit zu erregen. 60 Allerdings waren es offenbar die Drucker selbst, die in ihren Werkstätten solche Zusammenstellungen vornahmen. So konnten sie einerseits die Beliebtheit der populären Texte zur Umsatzförderung nutzen und mussten andererseits keine Autorenhonorare zahlen. 61 Bei der hier besprochenen Flugschrift liegen die Dinge allerdings deutlich anders. Die Texte wurden nicht kombiniert, sondern es wurde ein zusätzlicher Rahmentext hinzugefügt, der so verfasst wurde, dass er inhaltlich die Erzählung des Kerntextes aufnimmt und weiterführt. Das kunstvoll angelegte Verwirrspiel aus detaillierten Fakten und Fiktionen erfordert einen gewissen zeitlichen Aufwand, sehr gute Kenntnisse der Hintergründe und Routine in der Abfassung von Texten. Der Text ist ohne Zweifel von einer Person, die über all das verfügte, erstellt worden und erst dann in die Offizin Martin Flachs gekommen. Dass der Verfasser mit dem großen Aufwand und dem Bezug auf Anna von Oldenburg eine dezidierte Absicht verfolgte, daran ist kaum zu zweifeln. Was seine Absicht war, ist allerdings nicht zu erkennen. Weder wird über die Thematik Verbrechen und Sühne hinaus eine moralische Aussage getroffen, es gibt 58 Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit: Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700 (Studien zur Sozialgeschichte der Literatur 29,1990) S.-228-f. Schillings Untersuchung ist zwar auf Flugblätter begrenzt, der Autor zeigt aber explizit für die populären Druckwerke mit eher reißerischem Inhalt Parallelen zwischen den Einblattdrucken und den mehrseitigen Flugschriften bezüglich der literarischen Genre, Themen und Verkaufsstrategien auf. Die große funktionale Ähnlichkeit der beiden Medien wird zudem an einem weiteren Umstand deutlich. Es gab Fälle, in denen eine Geschichte in zwei Varianten herausgegeben wurde, als ausführliche Flugschrift und als Flugblatt mit stark komprimiertem Inhalt, ebenda, S.-105-f. 59 Ebenda S.-282-286. 60 Ebenda S.-228-f. 61 Ebenda S.-285-f. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 221 auch keine versteckte reformatorische Kritik an Wallfahrten generell, noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass auf ein dezidiertes Ereignis hingewiesen werden soll. Sollte die einzige Intention die Schaffung einer gut verkäuflichen Schauergeschichte gewesen sein, würden all die mühevoll hineinkonstruierten Faktenbezüge keinen funktionellen Zweck erfüllen. Damit schließt sich der Kreis und die Frage nach der Verfasserabsicht bleibt weiter unbeantwortet. Die Suche nach Analogien und Parallelen in anderen zeitgenössischen Werken hat keine entsprechenden Resultate erbracht. Stattdessen führte sie zu einer neuen Frage. Zwar fanden sich sehr wohl zeitgenössische Drucke mit populären chronistischen Texten über Wallfahrten von Prominenten, aber sie unterscheiden sich in gleich zwei markanten Punkten von der Straßburger Flugschrift. Zum einen betrifft dies den Umgang mit der Identität der Protagonistin, zum anderen fehlt in der Schilderung der Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ fast durchgängig ein explizit in zeitgenössischen Prosatexten über Wallfahrten omnipräsentes Element - das Gebet. Beides soll exemplarisch an einem kurzen Vergleich mit einem anderen thematisch einschlägigen Text von 1507 verdeutlicht werden Die Gräfin erlebte auf ihrer Wallfahrt all die aus den Legenden bekannten Schrecken der Wallfahrer in der Fremde (Tod des Gefährten, Gewalt und rechtloser Status, Verzweiflung und Armut im Elend), aber auch die wundersame Errettung aus selbigen durch Heilung oder Barmherzigkeit. Außerdem wird die Gräfin selbst immer wieder als moralisch integre Person stilisiert, die selbst barmherzig und rechtschaffen agiert. So trägt sie für die Seelgeräte bei der Beerdigung ihres Gatten Sorge: vnd hat jm alle sein seelgerecht eerlich lassen halten wie sich dan einē abgestorbenen Grafen gezymmet hat [Bl. Aiii v ]. Sie bezahlt den Scherer, der ihre Wunden in St. Antoine versorgt, und veräußert dafür ein teures Kleidungstück weit unter Wert offenbar an einen Käufer zweifelhaften Rufes 62 : wa n _ sie het nit || einen pfennig noch sunst kein müntz das sie den sche || rer mo e cht bezalen-/ sie het aber ein ma e rderin rock an= || gehabt der ist mit dreissig gülden nit gemacht worden- / || den hat sie einem Riffien zu o kauffen geben vmb vier= || zehen gulden [Bl. B v ]. Überdies unterstützt sie auch eine arme Familie, so wie es der heilige Jakobus in der Legende selbst tat [Bl. Biv v ]. Das alles wirkt sehr authentisch, weil zeitgenössisch typische Inhalte transportiert werden. Bei genauerer Betrachtung fällt aber schnell auf, dass das Gebet als entscheidendes Element vorreformatorischer Texte, die personengebundene Frömmigkeitspraktiken thematisieren, fehlt. Gebete sind üblicherweise Vorrausetzung für die Er- 62 Zum Lemma ruffian bzw. riffian mit der Bedeutung „Lotterbube, Kuppler, Hurenwirt“ siehe Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde (1872-1878) hier 1, Sp. 533 bzw. http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=Lexer&mode=Vernetzung&lemid=LR02338#XLR02338 (Stand 27.9.2019). 222 Carina Brumme rettung durch einen Heiligen oder die Gottesmutter bzw. folgen als Dankgebet auf die Errettung. Gebet und Beistand sind eine Kombination, die gerade ab dem beginnenden 16.-Jahrhundert überall und in unterschiedlichsten Darstellungskontexten begegnen. Sie verkörpern eine zentrale theologische Aussage dieser Zeit, nämlich den direkten Zusammenhang zwischen Gebet und jenseitiger Erlösung bzw. Errettung aus irdischen Nöten. 63 Nicht nur in Mirakelbüchern, auch in Reiseberichten und umso mehr auf unzähligen bildlichen Darstellungen wie z. B. Retabeln ist dieses Motiv präsent. 64 Als Beispiel sei hier auf eine Druckschrift aus der Zeit um 1507 verwiesen. Es handelt sich um einen gereimten Text in Versform, ein Lied, das die Geschichte des jungen Prinzen Philipp des Schönen von Habsburg erzählt, der auf der Wallfahrt nach Santiago de Compostela verstarb. 65 Das Lied ist der Wallfahrt der „Gräfin von Anhalt“ in manchem ähnlich. Auch hierbei handelt es sich um ein abenteuerliches Drama über die Wallfahrt eines Hochadligen. Allerdings finden sich explizit in der fünften und in der siebenten Strophe die zeittypischen Dankgebete und Ehrbezeugungen an die Gottesmutter und den Pilgerapostel Jakobus Major. 66 Die verzweifelte „Gräfin von Anhalt“ dagegen gerät zwar auch von einer Katastrophe in die nächste, aus der sie auf wundersame Weise errettet wird, aber nicht ein einziges Mal geht einer solchen Rettung im Text ein Gebet voraus oder nach. Die Protagonistin beklagt ihr persönliches Schicksal; sie verzweifelt angesichts des Unglücks, der Gewalt und der Ungerechtigkeit, die ihr wiederfahren. Zu keinem Zeitpunkt tut sie aber das, was man in einem solchen Text aus dieser Zeit erwarten würde, nämlich um den Beistand der Gottesmutter und der Heiligen zu bitten. An einer einzigen Stelle am Anfang des Textes gibt es eine Situa- 63 Zur Allgegenwärtigkeit der Kommunikation mit den Heiligen im Gebet im ausgehenden Spätmittelalter siehe Hartmut Kühne, „die do lauffen hyn und her, zum heiligen Creutz zu Dorgaw und tzu Dresen …“. Luthers Kritik an Heiligenkult und Wallfahrten im historischen Kontext Mitteldeutschlands, in: „ich armer sundiger mensch“. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, hg. von Andreas Tacke (2006) S.-499-522. 64 Der Umfang der Überlieferung sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Als Beispiel für die lange Wirkung dieser Praxis sei hier stellvertretend das im Nachlass Georg Burkhart Spalatins überlieferte Itinerar der 1493 erfolgten Jerusalemfahrt Friedrichs des Weisen genannt, das erst nach dessen Tod 1525 verschriftlicht wurde. Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgenossen, hg. von Christian Gotthold Neudecker/ Ludwig Preller (Georg Spalatin‘s Historischer Nachlass und Briefe 1, 1851) S.-75-91. 65 Volker Honemann, Der heilige Jakobus als Retter aus Meeresgefahr. Spanienzug und Santiagobesuch Philipps des Schönen von Habsburg (1506) in einem Lied des Peter Frey, im ‚Weißkunig‘ Kaiser Maximilians und in zwei niederländischen Historienliedern. Mit einer Neuedition von Freys Lied, in: Jakobus und die anderen ( Jakobus-Studien 21, 2015) S.-101-122. 66 Ebenda S.-104 und S.-116. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 223 tion, die auf ein Bittgebet verweist. Der Ehemann der „Anna von Anhalt“ gelobt eine Wallfahrt mit seiner erkrankten Frau nach Santiago de Compostela und die Stiftung eines silbernen Votivbildes, wenn der heilige Jakobus als Fürsprecher vor Gott ihre Genesung bewirken würde [Bl. A ii v , Z. 2 f.]. Warum verzichtet der Autor, der an keiner Stelle eine reformatorische Gesinnung erkennen lässt, in dem er beispielsweise Kritik an Wallfahrten übt, überall sonst ausgerechnet auf dieses zeitgenössische Leitmotiv? Gleichzeitig tut sich in diesem Kontext wieder eine neue Frage auf, denn die Gebete fehlen nicht nur im Rahmentext, sondern auch im Kerntext der Erzählung. Auch den indirekten und verklausulierten Verweisen auf die hinter der Protagonistin zu vermutende Anna von Oldenburg stellt der exemplarische Vergleich mit dem Lied über den auf der Jakobswallfahrt verstorbenen Habsburger Prinzen Philipp des Schönen den Normalfall gegenüber, denn hier ist die Identität des Protagonisten klar ersichtlich. 67 Dass dies der reguläre Umgang mit derartigen Themen war, ist allein schon aufgrund der Interessen derer offensichtlich, die solche Druckerzeugnisse herstellten. Michael Schilling fasst diesen Aspekt in Bezug auf die Produzenten der Flugblätter wie folgt zusammen: „Zum anderen versprach bei Königs- oder Fürstenmorden die Prominenz der Opfer eine rege Anteilnahme des Publikums am Geschehen und veranlasste somit auch aus geschäftlichen Gründen die Flugblatthersteller, entsprechende Drucke auf den Markt zu bringen.“ 68 Zu all den Rätseln, die der Text inhaltlich wie auch bezüglich seiner zeitlichen Kontextualität birgt, gesellen sich schließlich auch noch einige Auffälligkeiten, die beim kritischen Blick auf die Überlieferungsgeschichte der Flugschrift offenbar werden. Da ist zum einen der Umstand, dass bisher nur diese eine Ausgabe der Flugschrift bekannt ist, die zudem auf den ersten Blick nur wenige inhaltlichen Anknüpfungspunkte zu den übrigen Drucken Martin Flachs des Jüngeren aufweist. Als Flach 1501 die Offizin seines Vaters übernahm, setzte er zunächst dessen Verlagsprogramm mit lateinischen, überwiegend theologischen und humanistischen Abhandlungen fort. Nach einer bisher nicht schlüssig erklärten Pause in seiner Produktion (1504-1506) trat Flach mit deutlich verändertem Publikationsschwerpunkt auf und druckte überwiegend kleinere deutschsprachige Texte, Historien, populäre Schwänke und Lieder, populärmedizinische Erörterungen und Frömmigkeitsliteratur. Nach einer erneuten Pause (1514-1516) setzte sich diese Ausrichtung in Flachs Druckprogramm fort, ab 1519 traten dann verstärkt reformatorische Schriften hinzu. Als Flugschrift über eine missglückte Pilgerfahrt hat 67 Honemann, Der Heilige Jakobus (wie Anm. 65) S.-105-f. 68 Schilling, Bildpublizistik (wie Anm.-58) S.-229. 224 Carina Brumme die „Gräfin von Anhalt“ in Flachs Druckprogramm keine direkten Anknüpfungspunkte. Allenfalls ergeben sich durch die „fromme“ Thematik Anknüpfungspunkte an die von Flach zum Teil verlegte deutschsprachige religiöse Literatur. Unter formalen Gesichtspunkten (deutschsprachiger Text geringen Umfangs) passt der Text jedoch gut zu der von Flach ab 1507 verfolgten Ausrichtung. 69 In diesem Zusammenhang gewinnt das Faktum, dass der Druck erstmals 1835 im Auktionskatalog von Sothebyʼs belegt ist, an Bedeutung. Wie die Flugschrift in den Besitz von Georg Kloss gekommen ist, ist nicht bekannt. Allerdings weiß man, aus welchen Gründen Kloss frühneuzeitliche Drucke sammelte. Cecil H. Clough sieht es als erwiesen an, dass Kloss seine Sammlung ursprünglich angelegt hatte, um eine Ergänzung zu Panzers Bibliographie 70 zu schreiben. 71 Tatsächlich finden sich im Nachlass von Georg Kloss eindeutige Belege in Gestalt handschriftlicher Vorarbeiten für dieses Projekt. 72 Somit ist davon auszugehen, dass Kloss für seine später bei Sothebyʼs versteigerte Sammlung explizit solche Drucke suchte und ankaufte, die in Panzers bibliographischem Standardwerk nicht aufgeführt waren. Unter den Desideraten ist der Anteil an Einzelexemplaren ganz sicher höher gewesen, als unter den in Panzers Übersichtswerk verzeichneten Exemplaren, da die Wahrscheinlichkeit bei Recherchen auf ein Exemplar eines mehrfach überlieferten Druckes natürlich größer ist. In der ersten Hälfte des 19.-Jahrhunderts blühte der Handel mit antiken Kunstobjekten. Die Nachfrage unter den Sammlern und Museen nach Preziosen, Gemälden, Keramiken und auch Büchern war immens. Entsprechend umfänglich waren die Kontingente, die beschafft werden mussten, um den Bedarf zu decken. Nicht immer waren die Stücke echt, denn parallel zum Boom des regulären Geschäfts hatte sich eine professionelle Fälscherszene entwickelt. Diese jubelte ahnungslosen Interessenten nachgeahmte Originale und auch frei erfundene Phantasiekreationen von teilweise beachtlicher kunsthandwerklicher Qualität unter. Das Ausmaß der Fälschungsindustrie lässt sich an einem Schreiben von 1860 erahnen. In diesem beklagte ein Mitglied der Akademie von Dijon, dass das Übermaß an in Umlauf gebrachten Kunstfälschungen mittlerweile das Ansehen 69 Ausgaben im VD 16 (www.vd16.de, Stand 27.9.2019); Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet: auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51, 2007; 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. 2015). - Ich danke Oliver Duntze für die Auswertung der Drucke Martin Flachs d. J. und der Bewertung des Profils. 70 Panzer, Annalen (wie Anm. 20). 71 Cecil H. Clough, Samuel Leigh Sotheby und seine Bibliothek, in: Librarium, Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft / Revue de la Société Suisse des Bibliophiles 19 (1976) S.-108-118, dort S.-108. 72 Georg Franz Burkhard Kloss, Catalogus librorum palaeotyporum a Panzero omissorum, Manuskript, Anfang 19.-Jh., Frankfurt am Main, Universitätsibliothek, Sign.: Ms. lat. oct.-242. Intrige, Raub und Mordanschlag - die leidvolle Jakobsfahrt der „Gräfin von Anhalt“ 225 seriöser Sammlungen und Wissenschaftler ernsthaft bedrohe, und forderte die Einführung fachlich autorisierter Zertifikationen. 73 Der französische Sammler Paul Eudel hat den Brandbrief in seinem Werk Le Truquage. Les contrefaçons dévoilées abgedruckt. Die Brisanz des Themas spiegelt sich in den drei Neuauflagen nach der Erstveröffentlichung 1884 wider und auch darin, dass schon 1885 eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Die Fälscherkünste erschien. 74 Es ist aus verschiedenen Gründen sicherlich abwegig, die Herkunft der vorliegenden Flugschrift in einem solchen Umfeld zu vermuten. Allein die Komplexität des Inhaltes und die Authentizität der drucktechnischen Umsetzung sprechen ohne Zweifel dagegen. Die merkwürdig enigmatische Art, mit der die Person Annas von Oldenburg als zu vermutende Identität der Protagonistin offenbar ganz gezielt in den Text eingebracht wurde und die gleichzeitig gänzlich ungreifbare Intention des Verfassers, aus der heraus dies geschehen ist, stehen allerdings in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinander. Allen Bemühungen zum Trotz hat sich bisher keine stichhaltige Erklärung dafür gefunden. Die Antwort auf die Frage nach dem Entstehungshintergrund muss daher augenscheinlich auf einer anderen Ebene liegen als die Kontexte, in denen bisher nach ihr gesucht wurde. 73 Paul Eudel, Le Truquage. Les contrefaçons dévoilées (1884) S.-9-11. 74 Paul Eudel, Le Truquage. Les contrefaçons dévoilées (1887), überarbeitete Neuauflage Ders., Le truquage: altérations, fraudes et contrefaçons dévoilées (1903 und 1908) und Ders., Die Fälscherkünste (Grenzhaken-Sammlung 2/ 9, 1885). Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 227 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Druck Straßburg: Martin Flach, 1522 nach dem Exemplar Kraków/ Krakau, Biblioteka Jagiellońska, St. Dr. Yu 3181 (olim Berlin, Königliche Bibliothek). Zur Zweitverwendung der Holzschnitte siehe den folgenden Beitrag von Oliver Duntze und Hartmut Kühne. 228 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 229 230 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 231 232 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 233 234 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 235 236 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 237 238 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 239 240 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 241 242 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 243 244 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 245 246 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 247 248 Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ Faksimile der „Gräfin von Anhalt“ 249 Nachweise der Erst- bzw. Vorverwendungen der Holzschnitte im Druck der „Gräfin von Anhalt“ Oliver Duntze und Hartmut Kühne Vorbemerkung Kurz nachdem Carina Brumme im Rahmen ihrer Dissertation den Druck entdeckt und ein Digitalisat desselben aus Krakau erhalten hatte, sprach Hartmut Kühne mit Hedwig Röckelein auf einer Tagung im September 2008 über diesen Fund. Es stellte sich heraus, dass die Gesprächspartnerin diesen Druck ebenfalls kannte und Kopien desselben besaß, da ihr Mann Gottfried Wendling ihn während eines Polen-Urlaubs in der Krakauer Bibliothek zufällig entdeckt hatte. Als Folge dieses Gesprächs schrieb Gottfried Wendling am 19.-Juni 2009, dass er nach anfänglichen Überlegungen zu einer Edition des Textes das Vorhaben aufgegeben habe und die Ergebnisse seiner bisherigen Recherchen für eine künftige Ausgabe dieses Druckes gerne zur Verfügung stelle. Diese Ergebnisse bestanden in der Zusammenfassung der bisherigen Erwähnungen des Druckes in verschiedenen Bibliographien sowie in einem noch lückenhaften Nachweis der Erstverwendungen der in dem Druck benutzten Holzschnitte. Gottfried Wendling ist für diesen großherzigen Beitrag zu einer künftigen Ausgabe des Druckes sehr zu danken. Seine Informationen wurden damals auch Carina Brumme für die Weiterarbeit zur Verfügung gestellt, die sich im Rahmen ihrer Dissertation allerdings auf eine knappe Vorstellung des Stoffes und Überlegungen zu historischen Vorbildern oder Parallelen der literarischen Figuren beschränkte. 1 Nicht nur diese Holzschnitte, sondern der ganze Druck warf komplexe Fragen auf, die in druckgeschichtlicher, literaturhistorischer, historischer und vor allem auch in unterschiedlicher regionalgeschichtlicher Perspektive zu diskutieren sind. Deshalb war schon nach dem Schreiben Gottfried Wendlings daran gedacht, Interessierte aus verschiedenen Disziplinen zu einem Gespräch über diesen Druck zusammenzuführen. Aber erst nach der Vorstellung des Werkes auf der Wilsnacker Jahrestagung 2015 durch Carina Brumme kam es zu einem ersten Anlauf: Im Herbst 2016 trafen sich Carina Brumme, Oliver Duntze, Falk 1 Carina Brumme, Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis: Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (Europäische Wallfahrtsstudien 6, 2010) S.-228-233. 252 Oliver Duntze und Hartmut Kühne Eisermann, Volker Honemann, Hartmut Kühne und Gunhild Roth in der Berliner Staatsbibliothek, um über eine weitere gemeinsame Bearbeitung zu sprechen. Dabei spielte auch die Wiederverwendung von älteren Holzschnitten in diesem Druck eine Rolle. Die weitere Arbeit spiegelt sich in dem Beitrag von Carina Brumme in diesem Band wider, in den auch von uns unternommene Recherchen sowie Gespräche mit befreundeten Kollegen einflossen. Als Ergänzung dazu wird im Folgenden die Identifikation der Erstbzw. Vorverwendungen der Holzschnitte geboten, die Gottfried Wendling einst in Angriff nahm und an der wir seither weitergearbeitet haben. Die Holzschnitte Die Praxis der Wiederverwendung von Holzschnitten zur Illustration neuer Drucke ist nicht ungewöhnlich. Auch die Leihe oder der Aufkauf von Druckmaterien anderer Werkstätten sowie das Zerschneiden von Holzstöcken und die Zusammensetzung von Fragmenten unterschiedlicher Stöcke zu einem neuen Bildensemble ist keine Besonderheit unseres Druckes; in Straßburg hatte diese Praxis der Buchillustration eine bis in die Inkunabelzeit zurückreichende Tradition. 2 Für die Illustration der „Gräfin von Anhalt“ spielte unter anderem die Straßburger Offizin von Matthias Hupfuff (1497/ 98-1520) eine wichtige Rolle. Hupfuff zeichnete sich beim Rückgriff auf eigene und angekaufte „Bildarchive“ besonders aus und erwarb unter anderem das umfangreiche Illustrationsmaterial der bis 1509/ 1510 tätigen Offizin des Bartholomäus Kistler. 3 1516 stellte Hupfuff den Betrieb seiner Offizin ein 4 , und sein Holzschnittmaterial, inklusive der von Kistler und anderen Straßburger Druckern übernommenen Druckstöcke, gelangte im Anschluss in den Besitz Martin Flachs oder seines Stiefvaters Johann Knobloch. 5 Dadurch konnte Flach es für die Illustration der „Gräfin“ wiederverwenden. Auffällig ist, dass sich abgesehen von den Holzschnitten 1 und 15 für alle weiteren Bildmaterialien frühere Nutzungen finden lassen, und auch der Holzschnitt 15 mit einiger Sicherheit sekundär verwendet wurde. Auch wenn der Druck der „Gräfin“ auf den ersten Blick eine aufwändige Ausstattung 2 Vgl. Gero Seelig, Inkunabelillustration mit beweglichen Bildteilen, in: Gutenberg-Jahrbuch 70 (1995) S.-102-134. 3 Vgl. Oliver Duntze, Ein Verleger sucht sein Publikum: die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/ 98-1520) (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Studien 4, 2007) S.-49-58. 4 In der Folgezeit erschien nur noch 1520 ein vereinzelter Druck mit seinem Namen im Impressum. 5 Zum Verwandtschaftsverhältnis vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51, 2. Aufl. 2015) S.-952-953. Nachweise der Erstbzw. Vorverwendungen der Holzschnitte 253 mit Illustrationen bietet, meinte der Drucker doch auf neu angefertigte Illustrationen verzichten zu können. Allenfalls das Titelbild könnte neu angefertigt worden sein, ist aber in seiner Darstellung nicht wirklich auf den speziellen Inhalt der Erzählung bezogen. Die auffällig starke Verwendung (fünf von 16) der Holzschnitte aus dem 1516 in Straßburg gedruckten Reisebericht des Italieners Lodovico de Varthema (um 1470-1517), der von 1501 bis 1508 den Nahen und Fernen Osten besuchte 6 , dürfte auch dem Wunsch entsprochen haben, dem Publikum einen möglichst abenteuerlichen Lesestoff zu empfehlen. Holzschnitt 1 (Bl. a1 r ; s.o. S. 227): Pilgerpaar mit Hüten und Stöcken in freier Landschaft, von rechts nach links schreitend. Erstverwendung nicht identifiziert. Holzschnitt 2 (Bl. a1 v ; s.o. S. 228): Segelschiff mit eingerolltem Segel, ein Mann am Mast stehend. Aus: Johannes Lichtenberger, Prognostikon auf das Jahr 1500, Straßburg: [Bartholomäus Kistler], 22.IX.1500 (GW M18236); vgl. Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke 20: Die Straßburger Drucker, 2.-Teil (1937) Abb.-2055 auf Tafel 262. Holzschnitt 3 (Bl. a2 r ; s.o. S. 229): Adeliges Paar und drei Bedienstete in einem Gebäude. Aus: Lodovico de Varthema, Die Ritterlich vnd || lobwirdig raiß des gestrēg=||en vnd über all ander weyt || erfarnen ritters v n _ landt=||farers/ herren Ludowico || Vartomans von Bolonia […], Straßburg bei Johann Knobloch 1516 (VD16 ZV 15157), Bl. A7 v . Holzschnitt 4 ( Bl. a2 v ; s.o. S. 230): Ein Schiff mit geblähtem Segel und drei Personen an Bord. Im Wasser Fische und Meerungeheuer, an Land Häuser einer Stadt, befestigte Kaianlagen mit einem großen Turm. Aus: Lodovico de Varthema (wie Holzschnitt 3), Bl. A3 v ; wiederverwendet als Titelillustration zu: Sebastian Brant, Von dem anfang vnd || Wesen der hailigen Statt Jerusalem […], Straßburg bei Johann Knobloch d.Ä. 1518 (VD16 B 708), Bl. A1 r . Holzschnitt 5 (Bl. a3 v ; s.o. S. 232): Drei Männer, die etwas miteinander besprechen, vor einer Stadtbefestigung, vor dem Stadttor eine Brücke, oben hängt eine Fahne hervor mit einem Wappen darauf. Aus: Lodovico de Varthema (wie Holzschnitt 3) Bl. T2 v . Holzschnitt 6 ( Bl. a4 v ; s.o. S. 234): Pilgerpaar in Landschaft, im Hintergrund links eine Kirche, der wohl Jakobus darstellende Pilger hat keinen Heiligenschein. 6 Vgl. Ludovico de Varthema: Reisen im Orient, hg. von Folker Reichert (1996). 254 Oliver Duntze und Hartmut Kühne Aus: Liber vagatorum || der betler orden, [Straßburg: Matthias Hupfuff 1510] (VD16 L 1548), Bl. A1 v (bereits als Nachnutzung). Holzschnitt 7 ( Bl. b1 r ; s.o. S. 235): Vor einer Landschaft eilt ein junger Mann auf eine unter einem Baum sitzende Frau zu. Aus: Zu Amor, die Liebe, Straßburg: Mathis Hupfuff 1499 (GW 01619), Bl. b5 v : „Hie sytzt eyn fraw truriklich yn zerrißen schwartzem kleyt“; vgl. Schramm (wie Holzschnitt 2) Abb.-2092 auf Tafel 268. Holzschnitt 8 (Bl. b2 r ; s.o. S. 237): Eine Person in einer Goldschmiedewerkstatt, in der ein Mann den Blasebalg für das Feuer bedient, während ein anderer an einem Tisch etwas abwiegt Aus: Antichristus <dt.>, Hye hebt sich an des Endkrist/ || leben vnd regierung durch verhengnis gottes || Wie er die welt d u o t verkerē mit siner falschē ler […], Straßburg: Matthias Hupfuff 1503 (VD16 ZV 31406), Bl. A4 r ; ebenfalls im Nachdruck VD16 V 2648, Bl. A4 r ; vgl. La gravure d’illustration en Alsace au XVIe siècle 2 (2000) Abb.-292-349. Holzschnitt 9 (Bl. b3 r ; s.o. S. 239): Ein Gefangener wird in einem Raum zu einem Loch im Boden mit Seilwinde darüber geführt (Verlies), dabei stehen vier weitere Personen Aus: Lodovico de Varthema (wie Holzschnitt 3) Bl. E 1 r. Holzschnitte 10 + 11 (Bl. c1 r ; s.o. S. 243): linkes Bilddrittel: ein männlicher Pilger mit Stock und Rosenkranz in Landschaft (Holzschnitt beidseitig beschnitten). Aus: Johannes Lichtenberger, Prognostikon auf das Jahr 1500, Straßburg: [Bartholomäus Kistler], 22.IX.1500 (GW M18236); vgl. Schramm (wie Holzschnitt 2) Abb. 1792 auf Tafel 233. rechte zwei Bilddrittel: Zwei berittene Männer werden vor einem großen Haus (Kirche? ) von zwei Frauen willkommen geheißen. Aus: Das helden buch || mit synen figuren. Hagenau: Heinrich Gran für Johann Knobloch in Straßburg, 1509 (VD16 H 1566), Bl. k5 r . Von dem aller ko(e)nste(n) weygant || herr. dietrich von bern. Straßburg: [Bartholomäus Kistler], 1510 (VD16 S 6393), Bl. C7 v . Holzschnitt 12 + 13 (Bl. c2 r ; s.o. S. 245): linkes Bilddrittel: stehende Frau. Aus: Alexander Magnus. Historia Alexandri Magni, deutsch in der Fassung des Johannes Hartlieb, Straßburg: Martin Schott, 12.VI.1493 (GW 00889), Bl. 43 r ; vgl. Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke 19: Die Straßburger Drucker, 1.-Teil (1936), Abb. 805 auf Tafel 123. rechte zwei Bilddrittel: Ein Edelmann zu Pferde, mit Szepter und Wappen auf Satteldecke, hinter ihm drei weitere Personen zu Fuß. Titelillustration von: Historia. Tundalus, deutsch, Straßburg: Bartholomäus Kistler, [nach 1500(? )] (GW 12835), Bl. A1 r (schon zusammengesetzt in Zweitverwendung) - Titelillustration von: Geschribē stad in disem bu o ch || Wie vff kōmen wolt der bundsch u o ch […], Straßburg bei Matthias Hupfuff (VD16 W 2503), Bl. A1 r . Eusebius <Caesariensis> / Johannes Hartlieb, Das buch der geschicht des || grossen Allexanders wie die Eusebius be=||schriben v n _ geteüfcht hat/ new getruckt mit vyl schönen figuren, Straßburg bei Matthias Hupfuff (VD16 E 4314), Bl. 4 r , Bl. 6 r , Bl. 11 r (schon zusammengesetzt in Zweitverwendung). Holzschnitte 14 + 15 (Bl. c3 r ; s.o. S. 247): linkes Bilddrittel: ein Landsknecht zu Fuß. Ein hübsche History von der künigcliche(n) statt. Troya. Wie sie zerstoeret Wart. Straßburg: Johann Knobloch, 1509 (VD16 H 5679), Bl. E3 v (möglicherweise schon Zweitverwendung). Eusebius <Caesariensis> / Johannes Hartlieb, Das buch der geschicht des || grossen Allexanders wie die Eusebius be=||schriben v n _ geteüfcht hat/ new getruckt mit vyl schönen figuren, Straßburg bei Matthias Hupfuff (VD16 E 4314), Bl. 4 r , Bl. 6 r , Bl. 11 r (schon zusammengesetzt in Zweitverwendung). rechte zwei Bilddrittel: ein Ritter neben seinem Pferd, vor ihm stehende Frau, im Hintergrund eine zweitürmige Kirche. Vermutlich sekundäre Verwendung, da der Holzschnitt bereits deutliche Ausbruchspuren an der Randlinie aufweist. Erstverwendung nicht identifiziert. Holzschnitt 16 (Bl. c3 v ; s.o. S. 248): Ein Segelschiff liegt in einem Hafen vor Gebäuden am Kai. Aus: Lodovico de Varthema (wie Holzschnitt 3), Bl. Q1 v . Nachweise der Erstbzw. Vorverwendungen der Holzschnitte 255 Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 - ein Beispiel für den Niedergang der Compostelafahrten nach der Reformation? 1 Klaus Herbers I. Als der niederösterreichische Adelige Bartholomäus Khevenhüller mit seinen drei Begleitern am 4.- Oktober nach Santiago de Compostela kam, wurde die Gruppe offensichtlich schon bald aufmerksam beobachtet. Sie hatten die Sehenswürdigkeiten des Ortes besucht, aber die gezeigten und gewiesenen Reliquien nicht mit den üblichen Devotionsriten verehrt. Vor ziemlich genau 458 Jahren, am 4.-Oktober 1559, waren sie dort eingetroffen und wollten die Stadt am 6.-Oktober wieder verlassen. Sie hatten aber - wie sonst üblich - nicht die Beichte in Compostela abgelegt. Das genügte, dass man ihnen nachsetzte: Die Inquisition wollte genauer wissen, was es mit dieser oberdeutschen Reisegruppe auf sich hatte. In ihrem ersten Nachtquartier wurden sie verhört und ausgefragt. Offensichtlich war der Verdacht der Inquisition auf sie gefallen, und sie wurden als Gefangene nach Santiago zurückgebracht. Erst am 15.-November gelang es ihnen dann nach langwierigen Verhören und Fürsprache verschiedener Personen sowie einiger Spenden, wieder auf freien Fuß zu kommen. 2 Die Einzelheiten wissen wir aus Originalzeugnissen und dem Tagebuch Khevenhüllers, die Bernhard Czerwanka in seiner 1867 publizierten Studie mit dem Titel „Die Khevenhüller“ in seine Darstellung des steirischen Geschlechtes mit langen Zitaten eingefügt hat. 3 Khevenhüller war ursprünglich des Studierens wegen in das Spanien Philipps II. gereist, hatte aber dann die genannte Fahrt unternommen, und schon ganz zu Anfang seiner Reise diese bittere Erfahrung in Compostela 1 Der Beitrag folgt im wesentlichen dem im Oktober 2017 auf der Jahrestagung der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft in Nürnberg gehaltenen Vortrag. Der Duktus der mündlichen Rede ist beibehalten. 2 Konrad Häbler, Das Wallfahrtsbuch des Hermannus Künig von Vach und die Pilgerreisen der Deutschen nach Santiago de Compostela (Straßburg 1899) hier S.-86-f. 3 Bernhard Czerwanka, Die Khevenhüller. Geschichte des Geschlechtes mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhunderts, nach Archivalischen Quellen (Wien 1867, Neudruck 2016) S.- 145-177 (auch digital https: / / play.google.com/ books/ reader? id=npNAAAAAcAAJ&hl=de&pg=GBS.PR3 [Stand 21.8.2019]). gemacht. Dabei war Khevenhüller katholisch. Stand man als Deutscher in Compostela zu dieser Zeit etwa unter Generalverdacht? Die kurze Episode zeigt aber auch, dass Compostela nach der Reformation nicht unbedingt an Strahlkraft verloren hatte. Wer aus katholischen Gebieten nach Spanien reiste, suchte den Pilgerort ohnehin auf. Hatte demnach die Reformation keine oder nur wenig Auswirkungen auf den Besuch Compostelas? Die tiefgehende Studie zur Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela zwischen 1400 und 1650 ist Ilja Mieck zu verdanken, der 1978 mit dem Untertitel „Resonanz, Strukturwandel und Krise“ 4 hierzu Stellung bezogen hat. Im Schlussteil wird darauf zurückzukommen sein. II. Es gibt aber auch aus dem Zeitalter der Reformation und danach immer wieder Zeugnisse von Reisenden und Pilgern, auch aus Deutschland 5 , so von dem Nürnberger Sebald Örtel 1521, der allerdings pilgerte, als die Reformation in Nürnberg noch nicht Fuß gefasst hatte 6 , oder von dem Schweizer Heinrich Schön- 4 Ilja Mieck, Zur Wallfahrt nach Santiago de Compostela zwischen 1400 und 1650. Resonanz, Strukturwandel und Krise, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 1.-Reihe: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens-29 (1978) S.-483-533. Allgemein vgl. Martin Scheutz, Andacht, Abenteuer und Aufklärung. Pilger- und Wallfahrtswesen in der Frühen Neuzeit, in: Österreich in Geschichte und Literatur 49 (2005) S.-2-38. 5 Teilweise in Klaus Herbers/ Robert Plötz, Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans „Ende der Welt“ (dtv 4718, 1996; spanische Übersetzung: Caminaron a Santiago. Relatos de peregrinaciones al „fin del mundo“ [Santiago de Compostela 1999]). Vgl. weiterhin insgesamt Robert Plötz, Deutsche Pilger nach Santiago de Compostela bis zur Neuzeit, in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus Herbers ( Jakobus- Studien-1, Tübingen 1988) S.-1-27; Klaus Herbers, Deutsche Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela und Spuren des Jakobuskultes in Deutschland, in: Santiago de Compostela. Pilgerwege, hg. von Paolo G.-Caucci von Saucken (Augsburg 1993) S.- 297-332. - Zu weiteren Neufunden vgl. die Bände der Jakobus-Studien. Zu der regen Forschung zu Reisen und zur Reiseliteratur in der frühen Neuzeit vgl. außerdem die Beiträge zur Grand tour: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Rainer Babel und Werner Paravicini (Beihefte der Francia 60, 2005) sowie jüngst exemplarisch den Sammelband: Prinzen auf Reisen. Die Italienreise von Kurprinz Karl Albrecht 1715/ 16 im politisch-kulturellen Kontext, hg. von Andrea Zedler und Jörg Zedler (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 86, 2017). 6 Vgl. Theodor Hampe, Deutsche Pilgerreisen nach Santiago de Compostella und das Reisetagebuch des Sebald Örtel (1521-1522, in: Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum, 1896) S.- 61-82; Herbers/ Plötz, Nach Santiago zogen sie (wie Anm. 5) S.-235-247. Zu den Nürnberger Pilgern siehe auch Klaus Herbers, Nürnberger Pilger des späten Mittelalters in Santiago de Compostela und ihre Berichte, in: Jakobus in Franken. Kunst, Kultur und Pilgerverkehr, hg. von Robert Plötz/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 22, 2018) S.- 189-200; knapper Einstieg: Gerd Rötzer, Von Nürnberg nach Santiago: Jakobspilger aus Franken. Ein kleines Vademecum (Kleine fränkische Bibliothek 15, 2004). 258 Klaus Herbers brunner, der sich 1531 von Zug aus auf den Weg machte, aber in seinem Bericht deutlich erkennen lässt, dass er ein Anhänger des katholischen Glaubens war. 7 Nach Bartholomäus Khevenhüller war der Schlesier Erich Lassota von Steblau 1581 unterwegs 8 , und die Pilgerfahrt Christoph Gunzingers 1654/ 55, die Gottfried Wendling unter das Motiv der pietas austriaca gestellt hat 9 , liegt nur wenige Jahrzehnte vor der hier interessierenden Beschreibung Limbergs. Aber geht man die von Mieck und anderen zusammengestellten Listen zu Reise- und Pilgerberichten durch, so scheint die Tradition der Compostela-Pilgerfahrten in Frankreich und Italien stärker als in Deutschland gewesen zu sein. 10 Nur einige besonders bekannte Pilger seien hier nochmals aufgeführt. Jahr Reisender Herkunft/ Ausganspunkt 1521 Sebald Örtel Nürnberg 1531 Heinrich Schönbrunner Zug 1559 Bartholomäus Khevenhüller Niederösterreich 1581 Erich Lassota von Steblau Schlesien 1654/ 55 Christoph Gunzinger Wiener Neustadt 1690 Johannes Limberg von Roden Waldeck Tabelle 1: Compostela-Pilger des 16. und 17. Jahrhunderts 1690 - also schon lange nach Ende des Dreißigjährigen Krieges - zeigt aber das Beispiel des Johannes Limberg, wie verworren die Situation bleiben konnte. Er hat eine umfassende Reisebeschreibung oder eher ein kosmographisch-geographisches Werk hinterlassen, das nur noch in wenigen Exemplaren erhalten ist. 7 Herbers/ Plötz, Nach Santiago zogen sie (wie Anm. 5) S.-248-254. 8 Das Tagebuch des Erich Lassota von Steblau, ed. Reinholt Schottin (Halle a. d. Saale 1866), vgl. Ilja Mieck, Les témoignages oculaires du pèlerinage à Saint-Jacques de Compostelle. Étude bibliographique (du XIIe au XVIIe siècle), in: Compostellanum-22 (1977) S.-3-32, S.-22-f. 9 Gottfried Wendling, Zur Spiritualität im 17. Jahrhundert. Christoph Gunzingers Pilgerbericht nach Santiago de Compostela aus dem Jahre 1655, in: Spiritualität des Pilgerns. Kontinuität und Wandel, hg. von Klaus Herbers/ Robert Plötz ( Jakobus-Studien 5, 1993) S.- 83-102; kurze Skizze und Textauszüge bei Herbers/ Plötz, Nach Santiago zogen sie (wie Anm.- 5) S.- 268-283. Warum das Werk Peregrinatio Compostellana anno 1654. Die abenteuerliche Pilgerreise des Christoph Guntzinger von Wiener Neustadt nach Santiago, wiederentdeckt von Peter Lindenthal (Innsbruck 2014) von einer „Wiederentdeckung“ spricht, bleibt unklar. 10 Mieck, Les témoignages oculaires (wie Anm. 8). Diese Aufstellung ist fortlaufend zu vergleichen. Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 259 260 Klaus Herbers Kaum etwas ist zu seiner Lebensgeschichte bisher erforscht. 11 Limberg wurde um 1650 in der Grafschaft Waldeck geboren. Sein Studium erfolgte in Marburg, später in Erfurt. Danach weilte er wohl in Italien und studierte von 1673 bis 1675 in Wien. Wie zu erfahren ist, arbeitete er danach in verschiedenen westeuropäischen Ländern, darunter Spanien. Zu seinen Berufen gehörten militärische Engagements, aber auch Tätigkeiten als Geistlicher oder Lehrer. 1684 ist Limberg im Minoritenkloster Bruck an der Mur belegt. 1689 konvertierte er zum Protestantismus, wurde Pfarrer, trat dann aber nach einer weiteren Konversion in ein Franziskanerkloster in Köln ein. Eine Reise nach Eisenach 1705 führte dann 1707 zu einer erneuten Konversion zum Protestantismus. 1714 starb Limberg. Sein erstes Werk erschien 1690 in Leipzig unter dem Titel Denckwürdige Reisebeschreibung durch Teutschland, Italien, Spanien, Portugall, Engeland, Frankreich und Schweitz etc. 12 Darin verband Limberg die Beschreibung seiner Reisen mit autobiographischen Elementen. F. Ratzel charakterisiert in der Allgemeinen Deutschen Biographie das Werk folgendermaßen: Das Buch ist eines der merkwürdigeren seiner zahlreichen Gattung, insofern es die in demselben beschriebene Reise an des Verfassers Lebensbeschreibung knüpft, sodaß unter der Fülle der trockenen Itinerarien, Länder- und Städte-, Wappen- und Münzbeschreibungen die Autobiographie des Verfassers von seinem ersten Ausflug auf die Schule nach Marburg bis zu seiner 18 Jahre später vollbrachten Reise nach Leipzig ‚in die längst von mir verlangte Ruh-Stadt‘ fortläuft. Außerdem zeichnet es sich durch einen stark hervortretenden deutschen Patriotismus aus, der besonders Italien gegenüber geltend gemacht wird, und durch eine große Zahl kulturgeschichtlich werthvoller Notizen, Kataloge von Kunstkammern […]. 13 11 Zur Biographie Limbergs vgl. F.- Ratzel in: Allgemeine Deutsche Biographie- 18 (1883) S.-654. Die Neue Deutsche Biographie hat keinen Eintrag mehr. 12 Johann Limberg, Denckwürdige Reisebeschreibung durch Teutschland, Italien, Spanien, Portugall, Engeland, Frankreich und Schweitz etc., Leipzig 1690. Digital: https: / / reader.digitale-sammlungen.de/ de/ fs1/ object/ display/ bsb10467335_00201.html? rotate (Stand 23.8. 2019). Vgl. auch die Abbildungen. 13 Zur Biographie Limbergs (s. o. Anm. 11) vgl. außerdem Zedlers Universal-Lexikon- 17 (Halle, Leipzig 1738) Sp.-1239; dort wird die Konversion zum Luthertum in das Jahr 1684 gelegt. - Im weiteren folge ich teilweise Herbers/ Plötz, Nach Santiago zogen sie (wie Anm. 5) S.- 291-296. Nur knappe biographische Notizen sowie eine französische Übersetzung der Beschreibung Compostelas bietet: Françoise Michaud-Fréjaville/ Philippe Picone/ Adeline Rucquoi, Le voyage à Compostelle du Xe au XXe siècle (Paris 2018) S.-233-237. Abbildung 1: Johannes Limberg von Roden, Reisebeschreibung, Titelseite Abbildung 2: Johannes Limberg von Roden, Reisebeschreibung, Frontispiz Das Gesamtwerk legt es eher nahe, von einem Spanienreisenden als von einem Compostelapilger zu sprechen. Die Passagen zu Compostela und zum Pilgerweg bleiben gleichwohl aufschlussreich, und es stellt sich die Frage, ob das Schwanken des Autors zwischen Katholizismus und Protestantismus sich in irgendeiner Form in seinem Werk und besonders in diesen Passagen niedergeschlagen hat. Der Titel des Werkes, aus dem auch der anschließende Quellentext stammt, ist bereits Programm: Denckwürdige Reisebeschreibung durch Teutschland- / - Italien / Spanien / Portugall / Engeland / Franckreich und Schweitz etc. / Darinnen nicht allein die vornehmsten Städte / sondern auch die merckwürdigsten Schätze und Raritaeten-/ in denen Kirchen / Klöstern / Kunst=Kammern / Zeughäusern-/ und Gärten &c. Item die Wapen obgedachter Königreiche, Fürstenthümer und fürnehmsten Städte / das Geld so darinnen gangbar, die Meilen von einem Ort zum anderen, samt vielen anderen curiosen Anmerckungen-/ mit fleißiger Sorgfalt Persönlich in gedachten Ländern auffgezeichnet und auff vielfältiges Begehren in öffentlichen Druck gegeben durch Johann Limberg-/ von Roden. Leipzig / Verlegts Johann Christian Wohlfart / Jm Jahre 1690 (vgl. Abbildung 1). Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 261 262 Klaus Herbers Einbezogen werden in den Text zahlreiche autobiographische Streiflichter. Der Kupferstich zu Anfang (vgl. Abbildung 2) gemahnt dann auch eher an einen Reisenden, der eine Bildungs- oder Kavaliersfahrt unternimmt. Gewidmet ist das Werk dem Grafen zu Waldeck. Die Beschreibung Spaniens, welche auf Seite 500 beginnt, beansprucht implizit, auch immer wieder die Eigenheiten eines ganzen fremden Reiches zu erfassen. Dort finden sich Bemerkungen über die Könige, das Rechtswesen und kulturelle Eigenheiten, die dem Autor bemerkenswert erscheinen. Es erstaunt nicht, daß sich hier viele Vorurteile und Pauschalisierungen finden. Nur als Beispiel mögen seine Vorstellungen über die spanischen Frauen dienen: Die Weiber gehen selten aus-/ wann sie aber ausgehen-/ so verhüllen sie sich in einen Flor-/ daß man weder Kopff noch Gesicht sehen kan. Sie sind von Natur nicht schön-/ sondern schmüncken sich mit rother Farbe- / - das macht sie hernacher im Alter so heßlich- / daß man Kinder damit verjagen solte- / - sie sind sehr geil und unzüchtig- / dann eine kan mit ihrem Manne allein nicht zu frieden seyn-/ so bald als es ein wenig finster worden- / - sind sie so unverschämt- / - und bitten die Jungen Bursche auf der Strassen sie zu regaliren-/ -und sind in Spanien auch mehr HurenHäuser als sonst in gantz Europa. 14 III. Nun aber zu der Passage, die im Zusammenhang des Bandes besonders interessiert. Der Reisebericht, der auch den Weg Limbergs durch Zentralspanien nach Santiago de Compostela im Einzelnen schildert, ist für diesen Weg wenig einschlägig, dafür sticht aber der Abschnitt zu Santiago de Compostela hervor. Er zeigt, wie sich bei Limberg Wissen aus der Lektüre mit eigener Anschauung und Nachfragen verband. Johann Limberg erreichte von Orense aus die Apostelstadt Compostela am 19.-August 1676 15 ; anschließend reiste er weiter nach Pontevedra. Der Bericht erzählt im einzelnen die verschiedenen Geschichten, wie der hl.- Jakobus nach Compostela gekommen sein soll, gibt auch seine Quellen - Beleth, Marinaeus und andere - an, die er offensichtlich bei der Niederschrift benutzte. Danach beschreibt er die Kirche selbst, den Ritus, wie die Pilger die Jakobusstatue am Hochaltar umarmen 16 , sowie die Heiligtümer und Schätze in der Kirche und in der Schatzkammer und die neu gegossenen Glocken: 14 Limberg, Reisebeschreibung (wie Anm. 12) S.-507-508. 15 Der Bericht beginnt Limberg, Reisebeschreibung (wie Anm. 12) S.-607. 16 Zur apreta vgl. Herbers/ Plötz, Nach Santiago zogen sie (wie Anm. 5) S.-288. Diß ist eine kleine Stadt-/ -und wird von den Teutschen fernen S.-Jacob genandt-/ sie ist klein-/ schlecht-/ -und mit Mauren umbgeben. In der Haupt=Kirchen ist der Leichnamb des H.-Apostels Jacobi-/ -welcher nach dem Tode wunderlicher weise solle hierher kommen seyn-/ -wie Pater Steinmayer, der auch noch bey Leben-/ -aus dem alten Scribenten Belleth 17 bezeuget: daß nehmlich nach der Enthauptung dieses H.-Apostels Jacobi, die andern Apostel-/ -aus Furcht der Juden-/ -bey Nachtzeit den H.-Leib hinweg genommen- / - und auff ein Schiff getragen- / - und wo er solte begraben werden- / - der göttlichen Fürsichtigkeit befohlen-/ -sie setzten dem H.-Leib in das Schiff ohne Ruder und Seegel- / - und der Engel des HErrn führete sie in Galliciam, alwo sie an Land traten- / - und den H.- Leib auf einen Stein nieder legten- / - welcher gleich wie Wachs gewichen-/ -und dem H.-Leib ein rechtes Grab formirt. In dieser Landschafft war eine Königinne-/ -mit Nahmen Lupa, von dieser begehrten die Apostel einen Ort-/ -an welchen sie Jacobum ehrlich begraben könten. Lupa die Königin sagte aus Boßheit zu ihnen: Nehmet meine Ochsen-/ -so auff dem Berge weiden-/ -spannet solche an einen Wagen-/ -und führet euren Herrn-/ -wohin ihr wollet; diß hat sie geredet-/ -weil sie wohl wuste-/ -daß die Ochsen wild waren-/ -und daß alles würde zu Grund gehen. Sehet was Wunder! als die Apostel zu den wilden Ochsen getreten-/ -haben sie das Creutz über sie gemacht-/ -und sind alsobald gantz sanfftmüthig worden-/ -wie ein Lamb-/ -spanneten sie an den Wagen-/ -auff welchem der H.-Leib in dem Steine lag-/ -und haben die Ochsen ohn eintziges Regieren den Heil.-Leichnamb in den Pallast der Königinnen Lupae gezogen-/ -als sie dieses gesehen-/ -hat sie nicht allein geglaubt-/ sondern sich auch zu dem Christlichen Glauben bekehret-/ -und ist der Pallast meistentheils über einen hauffen geworffen-/ und zu einer Kirche erbauet-/ -und dem H.-Apostel zu Ehren geweihet worden-/ -und hat bemeldte Königin diese Kirche mit grossen Reichthümern beschencket. Der Leichnamb des H.-Apostels Jacobi liegt unter dem hohen Altar 18 -/ welcher sehr prächtig und schön gebauet ist-/ -hat 46. Pfeiler-/ -mit Weinbeer von Kupffer gezieret und vergüldet-/ -und stehen auf grossen Marmor=Pfeilern. Im Altar hangen 20. grosse silberne Lampen- / - darunter zwey sehr groß- / - deren eine Don Juan de Austria 19 , die 17 -Limbergs folgender Bericht basiert auf Johannes Beleth, den schon Jakob von Voragine in der Legenda aurea zum Kronzeugen für die Translation der Jakobusgebeine zitiert; vgl. die deutsche Fassung von Richard Benz (1925) S.-491. Zu Beleth vgl. die Einleitung zur Edition von dessen Summa de ecclesiasticis officiis. Praefatio. Additiones, hg. von Herbert Douteil (Corpus Christianorum 41, 1976) S.- 30*-36*. Zu Lucius Marineus Siculus vgl. vor allem Teresa Jiménez Calvente, Marineo Sículo, Lucio, in: Diccionario biográfico y bibliográfico del Humanismo español, siglos XV-XVII, hg. von Juan Francisco Domínguez (Madrid 2012) S.-542-546, sowie die Einleitung in Dies., Un siciliano en la España de los Reyes CatólicoS.-Los Epistolarum familiarium libri XVII de Lucio Marineo Sículo (Alcalá de Henares 2001). 18 Der folgende Text bietet eine der wenigen Baubeschreibungen aus deutscher Feder dieser Zeit. 19 Vgl. zu Juan de Austria, einem Bastardsohn Philipps-IV., und seiner Stiftung vom 11.-4. 1668: Antonio López Ferreiro, Historia e la Santa Apostólica Metropolitana Iglesia de Santiago de Compostela, 11 Bände (Santiago de Compostela 1898-1909) hier 9, S.-145; vgl. zu einer weiteren Lampenstiftung 8, S.-328. Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 263 264 Klaus Herbers ander aber der König in Portugal geopffert. Mitten auff dem Altar stehet das Bildnüß des H.- Jacobi des Kleinen- / - wie ein Pilgram- / - mit Silber bekleidet- / - welchen man hinterwerts umbarmen und küssen muß. Gleich hinter ihme ist eine Cuppel schön vergüldet-/ -hinter dieser ist noch ein schön geziertes Altar-/ -über gedachter Cuppel stehet Jacobus der Grosse- / -welchen Philipus der dritte und vierdte bey den Füssen halten. Den Tabernacul, welcher über dem Altar ist-/ halten 8. grosse Engel-/ -die Spitze des Tabernaculs ist ein Stern. Vor dem Altar stehen zwey Predigt=Stühle aus Metall. In den Altaren sind unzehlbare Heiligthümer zu sehen. Als vom Grabe Christi-/ -von seinem Rock-/ -ein Stück von seinem Creutz-/ -Milch von der Jungfrauen Mariae, &c. &c. In der Schatzkammer ist zu sehen ein Spanischer Doublon von feinem Golde-/ -welcher 27. Pfund wiegt- / - welchen Philipus- IV. 20 dem H.- Jacobo geopffert. Gleich dabey im Kasten ist eine Bischoffs=Mütze-/ -dermassen mit Diamanten und Perlen besetzt-/ -daß sie noch so hoch geschätzet wird als der vorbemeldte Doublon. Im andern Kasten waren zehen güldene Kelche- / - und silberne Leuchter. Item der Königinnen Braut Spanbett-/ -aus Silber-/ -und 4. grosse silberne Gitter. &c. Vor wenig Wochen war eine neue Glocke gegossen worden- / - so 30000- Pfund wiegt-/ -das Pfund zu 20. Untzen gerechnet-/ -im Umbkreiß hat sie 46. Spannen-/ -in der breite 15. unten ist geschrieben: […] Es folgt dann die lateinische Inschrift. Schließlich heißt es: Zu dieser Glocken war ein eigener Thurn gebauet. In einem andern Thurn gleich darneben hangen 14. Glocken. Nicht weit davon auf dem Dache stehet ein Creutz-/ -bey welchem 2. Löcher-/ -sie gaben vor-/ -wer eine Tod=Sünde auff sich hätte-/ -könte nicht durch das Loch krichen. 21 Limberg rühmt sodann das Hostal de los Reyes Católicos, obwohl die Pilger dort schlecht unterkämen - noch heute werden Fußpilger mit dem offiziellen Pilgerausweis, der „Compostela“, dort umsonst bewirtet, aber der Kontrast ist ähnlich wie zu Limbergs Zeiten: Vorne ein Fünf-Sterne-Hotel, der Pilger aber wird im rückwärts gelegenen Gebäudeteil - und heute nur in reduzierter Zahl - bedient. Limberg schreibt: Das Hospital 22 ist hier so prächtig gebauet-/ -daß weder Kayser noch König sich schämen dörffte-/ -darinnen zu wohnen. Die arme Pilgramme aber werden gar schlecht darinn accommodirt, dann sie haben nur bloß die Lägerstadt-/ -und die ist noch schlecht genung. 20 Philipp-IV., der Planetenkönig, geb. 1605, gest. 1665. 21 Limberg, Reisebeschreibung (wie Anm. 12) S.-614 22 Zu diesem 1501-1511 erbauten Hospital vgl. Dieter- Jetter, Santiago, Toledo, Granada. Drei spanische Kreuzhallenspitäler und ihr Nachhall in aller Welt (1987) S.-19-102. Danach bemüht Limberg erneut literarische Quellen, um das berühmte Hühnerwunder zu erzählen - wieder ist es Steinmeyer, der sich auf Marianus stützt 23 , den Limberg anführt. Der vielleicht „aufgeklärte“ Katholik und spätere Konvertit Limberg bleibt aber skeptisch. Er „entlarvt“ die Zuverlässigkeit der Erzählung vor Ort: Er erkundigt sich in Compostela, wo man das Ganze schon längst für eine Fabel hält, und befragt auch den deutschen Freiherrn Don Antonio Prado, bei dem er sechs Tage Unterkunft fand, mit einem ganz ähnlichen Ergebnis. Die Ergebnisse werden ein Licht auf Limberg und seinen Umgang mit hagiographischen Traditionen. Hier kan ich nicht vorbey gehen-/ -dem günstigen Leser zu entdecken-/ -dasjenige grosse Miracul-/ -so alhier zu Compostella sol geschehen seyn. Es schreibet obgedachter Pater Michael Steinmeyer aus dem Mariano, libr. 5. de rebus Hispaniae 24 : daß ein frommes Paar Eheleute auff eine Zeit Walfahrten gangen- / - mit ihrem Sohn- / - Pilgrams weise-/ -nach Compostel, den H.-Jacob aus Andacht zu besuchen-/ -als sie unter weges in einem Wirthshause einkehrten-/ -und des Wirths leichtfertige Tochter-/ -der Pilgramen Sohn- / - durch vielfältige Anreitzungen- / - zu fleischlichen Thaten nicht konte bewegen-/ -hat sie die Liebe in Haß verändert-/ -und heimlicher weise ihm einen silbernen Becher in den Rantzen gestecket-/ -und im Abreisen als einen Dieb ergreiffen lassen. Der Diebstahl wurde vor Gericht angeklagt- / - das Urtheil würcklich über ihn gefället- / - also daß der keusche unschuldige Jüngling solte gehencket werden. Bilde ihm nun ein jeder ein die Bestürtzung der Eltern-/ -mit was Hertzeleid sie ihre Pilgerfarth fortgesetzet- / - den H.- Jacobum besuchet- / - und nach verrichter Andacht nach Hause gedacht-/ -und wiederumb gen Caleiat, alda ihr Sohn gehenckt worden. Die biß in den Tod betrübte Mutter begiebt sich-/ -wider den Willen ihres Manns-/ -hinaus ins Feld zum Galgen-/ -ihren Sohn zum wenigsten noch tod zu sehen-/ -den sie also elendiglich hat müssen verlassen. Aber sehet Wunder über Wunder-/ -kaum kombt sie zum Galgen-/ -da 23 Limberg, Reisebeschreibung (wie Anm. 12) S.-614-619, zur Entwicklung des Motivs vgl. grundlegend vor allem Robert Plötz, „der hunlr hinder dem altar saltu nicht vergessen“. Zur Motivgeschichte eines Flügelaltars der Kempener Propsteikirche, in: Epitaph für Gregor Hövelmann. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins, hg. von Stefan Frankewitz (1987) S.-119-170; Ders., „res est nova et adhuc inaudita“. Motivindex und literarisch-orale Evolution der Mirakelerzählung vom Pilger, der vom Galgen gerettet wurde, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999) S.-9-37 und allgemein im Rahmen der Ikonographie: Ders., Jacobus Maior - Geistige Grundlagen und materielle Zeugnisse eines Kultes, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland. Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive, hg. von Klaus Herbers/ Dieter R. Bauer ( Jakobus- Studien 7, 1995) S.- 171-232. Die Passage Limbergs zum Hühnerwunder kurz bei Klaus Herbers, Deutschland und der Kult des hl.- Jakobus, in: Yves Bottineau, Der Weg der Jakobspilger. Geschichte, Kunst und Kultur der Wallfahrt nach Santiago de Compostela. Mit einer Einleitung und einem Kapitel zur Jakobsverehrung in Deutschland v. Klaus Herbers (1987, Neudruck 1992) S.-252-273, hier v. a. S.-269. 24 -Es geht im Folgenden um das Hühnerwunder, das Limberg nach Juan de Mariana, Historiae de rebus Hispaniae libri XX (Toledo 1592) wiedergibt. Vgl. auch die vorige Anmerkung. Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 265 266 Klaus Herbers schreyet ihr erhenckter Sohn zu ihr: Meine vielgeliebte Mutter weinet nicht-/ -denn ich bin frisch und gesund-/ -weiln mich die glorwürdige Jungfrau Maria und der Heilige Jacobus erhalten-/ -daß mir der Strick biß dato nicht geschadet-/ -gehet hin-/ -und zeiget es dem Richter an-/ -denn unschuldiger weise bin ich hingerichtet worden. Die Mutter zeigete es dem Richter an-/ -daß ihr hingerichter Sohn noch lebe-/ -der Richter sasse eben bey dem Tische-/ -und hatte unter andern Speisen einen gebratenen Hanen und Henne in der Schüßl-/ -und sprach mit einem Gespött zu der Mutter-/ -so wenig dieser gebratene Han und Henne leben-/ -so wenig lebet auch dein Sohn-/ -der Richter hatte kaum ausgeredet-/ -da sprangen sie augenblicklich aus der Schüssel-/ -mit ihren natürlichen Federn bekleidet-/ -und flogen herumb. Der Han schwinget seine Federn zusammen-/ -und fängt an zu krähen-/ -und wird mit so himmlischen Wunderzeichen / als einem Zeichen der Unschuld des erhenckten Pilgrams- / - der Richter überwiesen- / - hat ihn also vom Galgen wieder herunter nehmen lassen-/ -und den erfreueten Eltern wieder überantwortet. Gemeldter P.- Steinmeyer bezeuget auch sehr hoch- / - daß alle Reisende- / - so dort gewesen-/ -sagen-/ -daß noch biß dato ein weisser Han und Henne von demselben verhanden- / - sintemahlen sie alle 7. Jahre ein paar Eyer legen- / - und ausbrüten- / - und darauf sterben-/ -und pflegen die Pilgramme und Reisende zum Warzeichen eine Feder mit ihnen zu bringen-/ -ist auch ein grosses Wunder-/ -daß so viel 1000. Frembde dahin kommen-/ -und Federn ausrupffen-/ -und dannoch kein Abgang gespüret wird. Soweit die in vielen Passagen deskriptive Darstellung der Wundererzählung bei Limberg. Interessanter ist die Bewertung: So weit schreibet der Pater Steinmeyer, wer ihm glauben wil-/ -das stehet ihm frey . Ich aber sage das-/ -es sey alles dieses nicht wahr-/ -indem ich zu Compostell mit vielen wackern Herren von diesem Hanen und Hennen discutirt, haben aber solches selbsten vor eine Fabel gehalten-/ -und sagten mir: Amigo non hallamos a qui un puerco blanco menos una gallina, das ist: Mein lieber Freund-/ -man findet alhier nicht einmahl eine weisse Sau, geschweige dann einen weissen Hanen und Hennen. Ja sogar der deutsche Frey=Herr Don Antonio de Prado, so daselbst wohnhafft-/ -bey welchem ich auch 6. Tage logirt, lachte darüber-/ -und sprach: Mich wundert-/ -daß sich die Teutschen von den Italienern und Spaniern so bethören lassen-/ -also daß ich nichts weder von dem Hanen noch von der Hennen daselbst erfahren konte. Derowegen reisete ich weiter. 25 Zeigt sich hier dann doch möglicherweise der Protestant oder Kryptokatholik, der seine Zweifel hegt? Jedenfalls vergewisserte sich Limberg wie schon gesagt auch bei Herren in Santiago und bei einem Deutschen, der allerdings einen spanischen Namen trägt, die deutsche Kritikfähigkeit romanischer Fabulierlust gegenüberstellen. Man weiß allerdings nicht so recht, ob hier eher nationale oder religiöse Differenzen für Limberg in den Vordergrund rücken. 25 Limberg, Reisebeschreibung (wie Anm. 12) S.-620. IV. Dies führt zu einer kurzen Bilanz und zu einem Ausblick. Was bedeuteten Reformation und die anschließenden Auseinandersetzungen konkret für den Pilgerort Santiago und die Pilgerfahrten dorthin? Mieck hat die These vertreten, dass das Pilgern nach Santiago im 16.- Jahrhundert ähnlich populär wie im 15.-Jahrhundert gewesen sei und dass gewisse Krisenmomente sicher nicht erst im 16.-Jahrhundert einsetzten. 26 Die Vervielfältigung der Motive zu Pilgern und die Missstände gehörten zu den strukturellen Problemen. Insofern gab es vielleicht schon vor der Reformation eine Krise (p. 518). Kritische Nachfragen - wie sie Limberg äußerte - machte auch beispielsweise der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer 1494, der an der Gegenwart der Jakobusreliquien zweifelte. 27 Für das 16.-Jahrhundert führt Mieck aber vor allem vier neue Gründe an: Die Inquisition, die angespannten Beziehungen zwischen Frankreich und Habsburg, die auf die Gestaltung des Pilgerweges Einfluss hatten, die Zunahme der Polizei sowie - besonders unter Philipp II. - eine Reglementierung und Bürokratisierung der Pilgerfahrten nach Santiago. Dazu traten ökonomische Krisenerscheinungen, die auch auf Pilgerherbergen und Hospize Einfluss gewannen. Der Reformation kam somit - wenn man nicht nur auf Deutschland schaut - deshalb eine untergeordnete Bedeutung zu. Dass aber auch in Deutschland Pilgern nach dem Dreißigjährigen Krieg in den katholischen Landesteilen wichtiger wurde, zeigen unter anderem die dann neuen theoretischen Versuche, Pilgern und Wallen neu zu propagieren. Louis Richeôme tat dies mit einer Apologie („Défense des pèlerinages“) 1605, ein Jahr später legte Jakob Gretser seine Verteidigung der Pilgerfahrt vor. 28 Pilgerfahrten blieben also bestehen, und der Ruf Compostelas erreichte auch noch im 16. Jahrhundert nicht nur Katholiken. Zum Pilgerhut des Stephan III. Praun und zu seinen Aktivitäten bietet die Nürnberger Dokumentation zahlreiche Hinwei- 26 Mieck, Zur Wallfahrt (wie Anm. 4) bes. S.-499-518. 27 Hieronymus Münzer, Itinerarium, hg. von Klaus Herbers unter Mitarbeit von Wiebke Deimann/ René Hurtienne/ Sofia Meyer/ Miriam Montag/ Lisa Walleit/ Tina B. Orth- Müller (Monumenta Germaniae Historica, Reiseberichte des Mittelalters 1, 2020) S. 215. 28 Jacob Gretser, De Sacris et religiosis peregrinationibus libri quatuor. Ejusdem de catholicae Ecclesiae processionibus seu supplicationibus libri duo. Quibus adjuncti de Voluntaria flagellorum cruce, seu de disciplinarum usu libri tres (Ingolstadt 1606). Gretser behandelt 2 Kap. 16 auch das Hühnerwunder nach Marinaeus Siculus (siehe hierzu oben Anm. 17); Louis Richeôme, Le Pélerin de Lorète (Bordeaux 1604). Vgl. zu Gretser und weiteren Protagonisten der „Gegenreformation“ allgemein Mieck, Zur Wallfahrt (wie Anm. 4) bes.-S. 518-533. Die Santiago-Reise des Johannes Limberg 1690 267 268 Klaus Herbers se. 29 Der Name Compostelas blieb klingend, gleichgültig, ob man in dieser Zeit nach Compostela kam oder nicht. Wie man mit den Traditionen umging oder umgehen konnte, zeigt aber schön der Bericht des Johann Limberg, der zwischen katholischer und protestantischer Welt offensichtlich relativ leicht umschalten konnte. 29 Vgl. hierzu Robert Plötz, Der Pilgerhut des Stephan III. Praun, in: Zwischen Rom und Santiago. Festschrift für Klaus Herbers zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Claudia Alraum/ Andreas Holndonner/ Hans-Christian Lehner/ Cornelia Scherer/ Thorsten Schlauwitz/ Veronika Unger (2016) S.-139-162. Konfessionelle Konfrontation und Ambiguität zwischen protestantischen Pilgern und katholischen Mönchen im Jerusalem des 17. Jahrhunderts* Mordechay Lewy Während Ludwig Tschudi im Jahr 1519 noch an die 190 Pilger zählte, die in zwei Schiffen von Venedig aus nach Palästina segelten 1 , notierte drei Jahre danach der venezianische Chronist Marino Sanuto d.J. in seinem Tagebuch, dass sich lediglich 40 reisewillige Personen eingefunden hätten. Es bestanden daher Zweifel, ob sich ein Schiffsherr finden lassen würde, für den sich die Schiffsreise bei einer solchen geringen Anzahl von Passagieren noch lohnte. 2 Ein Jahr danach berichtete derselbe Chronist, es hätten sich zu wenige Pilger in Venedig eingefunden, als dass es sich lohne, ein Schiff an die Küste der Levante auslaufen zu lassen. 3 Lässt sich dieser Niedergang im Pilgerwesen nach Palästina um 1520 mit dem Ausbruch der Reformation erklären? Zweifelsohne war es eine Krise, denn der Ausfall von Einkünften durch die ausbleibenden Pilger hat teilweise zur Verarmung der Franziskanischen Kustodie in Jerusalem beigetragen. 4 Luthers kritische Haltung zu Pilgerorten war jedoch keinesfalls mit dem ausdrücklichen Verbot einer Pilgerfahrt verbunden. Das Fernbleiben der Pilger von Jerusalem kann jedoch keinesfalls allein durch die Auslösung der Reformation erklärt werden. * Unter Protestanten sind in dieser Studie Lutheraner, Calvinisten, Zwinglianer, Anglikaner und Presbyterianer miteingeschlossen. 1 Reyß und Bilgerfahrt zum Heyligen Grab deß Edlen und Gestrengen Herren Ludwigen Tschudis von Glarus, (1606) S.-26: Also das der Bilgern bey hundert und neunzig wurden, deshalben der Senat zwo Galeazen auf die Bilger disß Jahres verordnet. 2 Diarii di Marino Sanuto, Bd. 33 (Venezia 1892) S.- 310-311: Ma per esser poco numero di pelegrini per andar in Hierusalem, zercha 40 in tutto è venuti e non più, questo anno non si mete nave al viazo dil Zaffa, perché la spexa non porta. 3 Diarii di Marino Sanuto, Bd. 34 (Venezia 1892) S.- 239: Fo pochissimi pelegrini, né pono andar al peregrinazo per esser pochi, né poleno nolezar nave. 4 Marie-Luise Favreau-Lilie, The German Empire and Palestine. German pilgrimages to Jerusalem between the 12th and 16th century, in: Journal of Medieval History 21 (1995) S.-321-341, hier S.-339. 270 Mordechay Lewy Abbildung 1: Jerusalem-Ansicht van Aelst mit Spital am alten Franziskanerkloster Die eigentlichen Ursachen, die diesen Niedergang des Pilgerwesens begünstigten, sind eher in den damaligen politischen Umständen in Jerusalem zu suchen. Das Hauptquartier der katholischen Vertretung im Heiligen Land, das franziskanische Kloster am Berg Zion, befand sich in arger Bedrängnis. Die seit 1517 in Jerusalem herrschenden Osmanen setzten mit der Verdrängung der Franziskaner aus dem Abendmahlsaal in der Marienkirche am Berg Zion die Politik ihrer Vorgänger fort. Schon die Mameluken hatten seit 1452 die Kultrechte der Franziskaner eingeschränkt. Sie durften nämlich den benachbarten Raum der Heiliggeistkapelle nicht mehr betreten, seitdem das Davidsgrab im Erdgeschoß darunter zu einem muslimischen Gebetsraum umgestaltet worden war. 5 1524 wurden die Mönche völlig aus dem Abendmahlsaal verdrängt, da der Sufi Muhammad al Adschami eine Verfügung bei Sultan Süleyman I. erwirkt hatte, 5 David Jacoby, The Franciscans, the Jews, and the issue of Mount Zion in the 15th century, in: Cathedra 39 (April 1986) S.-51-70 (Hebr.); Amnon Cohen, Expulsion, The expulsion of the Franciscans from Mt. Zion, in: The early Ottoman period - a reassessment, in: Cathedra 22 ( Januar 1982) S.-61-74 (Hebr.). Konfessionelle Konfrontation 271 derzufolge Ungläubige nicht neben einer Moschee ihren Kult verrichten und schon gar nicht deren Bethaus erweitern durften. 6 Im Jahre 1535 verloren die Franziskaner ihren Fürsprecher in der Hauptstadt Istanbul mit der Ermordung des Großwesirs Ibrahim Pascha. Er galt als der Architekt der Beziehungen der Osmanen mit Venedig und die Mönche pflegten diesen diplomatischen Kanal, um ihre Interessen im Heiligen Land zu verteidigen. Im Jahre 1535 fiel aber nicht nur Venedig als Fürsprecher der Mönche aus. In diesem Jahr besiegte Karl V. die Osmanen bei Tunis. In Istanbul beschwor man daraufhin die Gefahr, dass das Ziel Karlsʼ V. möglicherweise die Wiedereroberung der Heiligen Stadt Jerusalem sei. 1537 begann man deshalb, die ruinöse Stadtmauer Jerusalems zu befestigen. In osmanischen Augen musste das Franziskanerkloster unter diesen Umständen als ein lateinischer Fremdkörper, geradezu als die „Fünfte Kolonne“ der europäischchristlichen Mächte, erscheinen. Spanien und Venedig befanden sich „auf dem Kriegspfad“ mit dem Osmanischen Reich Süleymans I. (der Prächtige, um 1495- 6 Cohen, Expulsion (wie Anm. 5) S.-61-74. 272 Mordechay Lewy 1566, Sultan seit 1520), das sich erst wieder konsolidieren musste, nachdem es vor Wien 1526 und in Tunis 1535 militärisch gescheitert war. Das Kloster lag sehr nahe an der zu befestigenden Stadtmauer, so dass in Istanbul eine folgenschwere politische Entscheidung fiel: Die Existenz des Klosters soweit zu erschweren, dass eine Verlegung des Klosters vom Berg Zion als sinnvollste Lösung erschien. Nachdem alle Mönche zeitweise eingekerkert wurden und in ihrer Abwesenheit die Ruinen ihres Gästehauses als Baumaterial für die nahgelegene Mauer benutzt worden waren, wurde die Verlegung 1551 unvermeidlich. Die Franziskaner mussten ihr Kloster am Berg Zion räumen. Die eben geschilderte desolate Situation der Franziskaner in den ersten drei Jahrzehnten der Osmanischen Herrschaft in Jerusalem hat die geordnete Betreuung von Pilgern aus Europa zweifelsohne sehr erschwert. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erholte sich der Pilgerverkehr aus Europa nach Palästina langsam wieder. Ziel der Studie Diese Studie fragt danach, ob - wie allgemein angenommen - die konfessionell bedingte Konfrontation von protestantischen Jerusalempilgern und den katholischen Franziskanern der Kustodie die gegenseitigen Beziehungen entscheidend prägte oder ob das Gegeneinander und zugleich ein Miteinander nebeneinander existieren konnten, oder gar die konfessionelle Uneindeutigkeit (Ambiguität) vorherrschend gewesen war. Diese Fragestellungen zum Jerusalemer Pilgerwesen blieben auf der richtungsweisenden Tagung über konfessionelle Mehrdeutigkeit in der frühen Neuzeit im Jahre 2010 ausgeblendet. 7 Die konfessionelle Ambiguität brachte Verhaltensnormen wie Ausweichen, Notlügen, Verstellung, Simulation oder auch Indifferenz hervor. Sie machte zu jener Zeit auch keinen Halt vor der Römischen Kurie. Bekannt ist die Antwort des Heiligen Offiziums nihil esse respondendum 8 auf eine innerkirchliche Frage, in der die Einhaltung der Glaubensdoktrin nach Meinung der Kurie der Kirche größeren Schaden als die stillschweigende Akzeptanz von religiöser Unvereinbarkeit hätte verursachen können. 9 Ebenso ist bekannt, dass in den wenigen Fällen, in denen sich muslimische Galeerensklaven der päpstlichen Flotte zum Katholizismus bekeh- 7 Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger/ Andreas Nikolaus Pietsch (2013). 8 Übersetzt: „es braucht nicht beantwortet zu werden“. 9 Christian Windler, Uneindeutige Zugehörigkeiten. Katholische Missionare und die Kurie im Umgang mit communicatio in sacris, in: Stollberg-Rilinger/ Pietsch, Konfessionelle Ambiguität (wie Anm. 7) S.-314-345, hier S.-338. Die hier vorliegende Frage war, wie man mit Kinderehen unter den mit der katholischen Kirche unierten Armeniern umgehen sollte. Konfessionelle Konfrontation 273 ren ließen, kaum einer dadurch seine Freiheit erlangen konnte. 10 Konversionen der päpstlichen Galeerensklaven waren praktisch unerwünscht. Protestantische Verhaltensmuster in der konfessionellen Konfrontation Für die historische Dominanz des Konfrontationskurses spricht eine vehemente katholische Feindseligkeit gegenüber einer möglichen Allianz zwischen Protestanten mit der Griechisch-Orthodoxen Kirche, die von den Franziskanern als eine Bedrohung ihrer Stellung in Jerusalem angesehen wurde. Die Kontakte der Protestanten mit Würdenträgern der Griechisch-Orthodoxen Kirche erschienen den Franziskanern daher oft verdächtig. Der Jerusalempilger Salomon Schweigger wurde während seines dreijährigen Aufenthalts als lutherischer Prediger an der kaiserlichen Gesandtschaft in Istanbul mit einer solchen Kontaktaufnahme beauftragt. Sein abschließendes Urteil über eine mögliche Annäherung war allerdings vernichtend, weitere Bemühungen schienen ihm sinnlos. 11 Eine Episode aus den Jahren 1638-1641, in denen die Verbreitung in Griechisch verfasster Predigten mit calvinistisch geprägten Inhalten auf Veranlassung der Kustodie unterbunden werden sollte, veranschaulicht diese Vehemenz, die keinen Raum für Mehrdeutigkeit zuließ. Francesco da Serino berichtete 1638 in seiner franziskanischen Chronik, dass Kyrill, der neue griechische Patriarch von Konstantinopel, zusammen mit dem holländischen Botschafter Cornelius Haga, der wohl Calvinist war, und als heretico perfido beschrieben wird, diese Predigten formulierte, die in Holland oder Deutschland gedruckt werden sollten. 12 Angesichts der Gefahr, dass diese perniciosa e diabolica dottrina gedruckt und verbreitet würde, sollte das Heilige Offizium in Rom die Weiterreise des Emissärs, der auf einem englischen Schiff nach Livorno fuhr und das Manuskript mit sich 10 Nicole Priesching, Taufe als Weg in die Freiheit? Konversionen muslimischer Sklaven im frühneuzeitlichen Rom, in: Barocke Bekehrungen: Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit, hg. von Ricarda Matheus/ Elisabeth Oy-Marra/ Klaus Pietschmann (2013) S.-45-62, hier S.-55-57. 11 Folker Reichert, Protestanten am heiligen Grab, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 128/ 1 (2017) S.-41-71; hier S.-59. Vgl. auch Walter Engels, Salomon Schwigger, ein ökumenischer Orientreisender im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 7 (1955) S.-224-244, der diese Kontaktaufnahme positiv bewertet. Engels erwähnt die protestantenfreundliche Nominierungspolitik des Kaisers Maximilian II. in den Jahren 1573-1581, adelige Protestanten als Gesandte in der kaiserlichen Vertretung in Istanbul einzusetzen, vgl. S.-226; es handelte sich dabei um David Ungnad von Sonnegk und Joachim von Sintzendorff. 12 Francesco da Serino, Chroniche o Annali di Terra Santa, 2 Bde., hg. von Girolamo Golubovich, Biblioteca Bio-Bibliografica della Terra Santa (= BBBTS) 11 und 12 (Quaracchi 1939) hier Bd.-1, S.-241-244. 274 Mordechay Lewy trug, in die Häfen der christianità 13 verhindern. In einem Eintrag in der Chronik von Francesco da Serino vom März 1640 wird erwähnt, dass der Patriarch Kyrill ein Glaubensbekenntnis veröffentlichte, das dem der englischen Protestanten ähnelte. 14 Dieser Vorfall sollte dem Emissär der Kustodie, der nach England geschickt wurde, als Argumentationshilfe nützlich sein. In London sollte er die griechische Kirche bei der englischen Königin Henriette Maria 15 anschwärzen, um die diplomatische Unterstützung Englands im Streit der Franziskaner mit den Griechen um die heiligen Stätten in Jerusalem abzusichern. Im Jahr 1699 verdächtigte der Gelehrte und Diplomat Heinrich Wilhelm Ludolf die Mönche - wahrscheinlich zu Recht -, sie hätten seine Briefe aus Jerusalem unterschlagen, da sie mein umgang mit Leuten aus der orientalischen kirche mit schalen augen angesehen. 16 Ludolf knüpfte im Orient tatsächlich Kontakte, um eine gegen den Katholizismus gerichtete christliche Allianz zu schmieden. Auf der persönlichen Ebene hören wir in einigen Berichten, dass sich protestantische Pilger davor fürchteten, von Mönchen vergiftet zu werden, weil sie weder an der Beichte noch an der Messe teilnehmen wollten. Hans Jakob Breuning von Buchenbach 17 und Otto Friedrich von der Gröben 18 nahmen die Mahlzeit nicht ein, bevor diese an die anderen ausgeteilt worden war. Die Schiffskapitäne 13 Gemeint sind die Häfen im Bereich des päpstlichen Staates, wo auch die Inquisition, die dem Heiligen Offizium (heutige Glaubenskongregation) untersteht, Zugriff hatte. 14 Francesco da Serino, Chroniche 2 (wie Anm. 12) S.- 99-101: publicata una professione di fede simile a quella de‘ Protestanti d’Inghilterra. 15 Die katholische Gattin des englischen Königs Karl I.,der sich damals im Krieg mit Schottland befand. 16 So steht es in seinem Brief aus Amsterdam an August Wilhelm Francke vom 2. September 1700. Vgl. Anne Schröder-Kahnt, Ludolfs Reise in den Orient, in: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert, hg. von Anna Schröder-Kahnt/ Claus Veltmann (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 35, 2018) S.-160-173, hier S.-166 (Anm. 42). 17 Hans Jakob Breuning von Buchenbach, Orientalische Reyß Deß Edlen unnd Vesten Hanß Jacob Breüning von und zu Buochenbach (Strassburg 1612) S.- 223. Buchenbach wählte bei einem gemeinsamen Essen im Kloster immer die Schüssel, die am weitesten von ihm auf dem Tablett serviert wurde. Selbstreflektierend schrieb er: Die Münche mußtens endlich mercken und lachten darüber heimlich. Mag auch sein daß wir uns selbsten diss orts vergebliche gedancken gemacht. 18 Otto Friedrich von der Gröben, Orientalische Reisebeschreibung des Brandenburgischen Adelichen Pilgers Otto Friedrich von der Gröben (Marienwerder 1694) S.-89: Endlich kam ein Spanier zu mir, welcher in einem weitläufftigen Discurs mir zu verstehen gabe, daß er es für keine Sünde hielte, sondern vielmehr vor ein gutes Werck, einen Ketzer mit Gifft hinzurichten, weil er dadurch das Unkraut ausrotte, so dermahl eins der Römischen Kirchen Schaden könnte, welche Worte ich mir wohl lassen zu Hertzen gehen, zumahlen weil mir der Spanier und Italiener List genugsam bekandt war […] weßwegen ich mich im Essen und Trinken wohl in acht genommen und nichts genossen was nicht die anderen zu erst gekostet. Konfessionelle Konfrontation 275 Henry Timberlake und Master Burell mieden überhaupt das Essen im Kloster. 19 Wolfgang Müntzer von Babenberg berichtete im Jahr 1556, dass der Guardian vor einer zurückkehrenden Pilgergruppe, die in Ramla vom örtlichen Kommandanten gefangen gehalten worden war, predigte und deren Missgeschick als Strafe Gottes deutete, weil unter ihnen Lutheraner seien. Als solche, betonte er, verspotteten sie die Sakramente, den Papst und verachteten die Mönche. 20 Der Ulmer Lutheraner und Handelsreisende Hans Ulrich Krafft (1550-1621) berichtete von seiner Rückreise von Tripoli nach Marseille 1577, dass der Schiffspatron ein grober Papist, angesichts des stürmischen Seegangs verkündete, es müssten große Sünder im Schiff sein, weil es uns so widerwärtig gehe. 21 Er drohte daher, den Lutheraner an Land zu setzen. Von Johann Georg von Eckhart (1664-1730), dem Sekretär und ersten Biografen des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), wird die Anekdote überliefert, wonach Leibniz bei stürmischem Seegang im Adriatischen Meer um 1689 befürchtet habe, von „altgläubigen“ Seeleuten als Ketzer angesehen und über Bord geworfen zu werden. Leibniz hat sich vorsorglich als Katholik verstellt und einen Rosenkranz aus der Tasche hervorgeholt, um ein frommes Gebet zu simulieren. 22 Zeitraum der protestantischen Quellen Unsere Untersuchung beginnt mit dem ersten Beleg einer Pilgerreise eines protestantischen Pilgers nach Jerusalem im Jahre 1546. In diesem Jahr trat der in Halle geborene und in Zeitz und Wittenberg ausgebildete Apotheker Wolf Holzwirth gemeinsam mit dem Prager Ulrich Prefat von Wilkenau die Pilgerreise an 19 Der Brief von Henry Timberlake ist abgedruckt in: Purchas his Pilgrimes in five bookes, Contayning a history of the world, in sea voyages, & lande-travells, by Englishmen and others … Some left written by Mr. Hakluyt at his death, more since added, his also perused, & perfected. All examined, abreviated, illustrates w[i]th notes, enlarged w[i]th discourses, adorned w[i]th pictures, and expressed in mapps. In fower parts, each containing five bookes. [Compiled] by Samuel Purchas (London 1625) Teil 2, S.-1640-1642, hier S.-1640. 20 Reyßbeschreibung des gestrengen und vesten Herrn Wolffgang Müntzers von Babenberg, Ritters etc. (Nürnberg 1624) S.-66-67. 21 Ein deutscher Kaufmann des 16. Jahrhunderts - Hans Ulrich Kraffts Denkwürdigkeiten, hg. von Adolf Cohn (1862) S.-378. 22 Zitiert nach Herbert Jaumann, Konfessionelle Ambiguität. Forschungen aus Münster zeigen, wie man schon in der Frühen Neuzeit sich den Zumutungen der kirchlichen Orthodoxien zu entziehen suchte, in: literaturkritik 5 (Mai 2014): http: / / literaturkritik. de/ id/ 19150 (Stand 3.06.2018). Eckharts Leibnizbiographie wurde erst nach seinem Tod 1779 veröffentlicht. Er selbst flüchtete aus Hannover wegen Schulden, konvertierte 1723 in Köln zum Katholizismus und begann 1724 eine Tätigkeit als Hofhistoriograph beim Fürstbischof von Würzburg. 276 Mordechay Lewy (Abbildung 2, s.a. Abbildung 4). 23 Reinhold Röhricht betrachtet hingegen den Schweizer Pilger Daniel Ecklin (Egli) aus Aarau als den ersten Protestanten, der nach Jerusalem reiste - dieser begab sich aber erst 1552 auf diese Fahrt. 24 Dass Holzwirth Lutheraner war, geht aus der Inschrift seines Epitaphs in Halle hervor. Vor allem die Verse Non juvat hic vidisse soli vestigia sancti, Includit Christum pectore sola fides deuten auf sein lutherisches Bekenntnis und auf die Bedeutung der sola fides hin. Dies Bekenntnis misst der Pilgerfahrt daher lediglich eine sekundäre Bedeutung für das Seelenheil bei. 25 Luther hatte Pilgerfahrten nicht verboten, aber deren Bedeutung für das Seelenheil deutlich in Frage gestellt und damit den Ablass als wirkungslos gekennzeichet. 26 Der Untersuchungszeitraum der Arbeit endet mit der Orientreise des dem Pietismus nahestehenden Gelehrten und Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf in den Jahren 1699-1700. Die protestantischen Pilgerberichte aus diesem Zeitraum lassen Nuancen in den protestantischen Ansichten erkennen, häufig jedoch auch nur erahnen. Wie mit einem Seismograf können aus den Berichten Stimmungen und Befindlichkeiten aufgefangen werden, die uns Einblicke in das Verhältnis zwischen konfessioneller Konfrontation und Ambiguität gewähren. 23 Der in Tschechisch verfasste und mehrmals gedruckte Reisebericht von Prefat z Wlakanowa (von Wilkenau) ist nicht übersetzt und daher in Deutschland weniger bekannt. Zu Wolf Holzwirths handschriftlicher Reisebeschreibung vgl. Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande (1900) S.- 220-221. - Zur Holzwirth-Handschrift (heute) Schlossmuseum Sondershausen, Schwarzburgica-Sammlung, Signatur HS2, siehe jetzt den biographischen Beitrag von Felicitas Marwinski/ Konrad Marwinski, Reyse Wolffen Holtzwirdts nach Jherusalem sambt allem, waß sich zugetragenn, in: Sondershäuser Beiträge, Püstrich, Zeitschrift für Schwarzburgische Kultur- und Landesgeschichte 32 (= NF 18, 2017) S.-168-187. - Ich bin Dr. Hartmut Kühne für diesen Hinweis dankbar. 24 Röhricht, Pilgerreisen (wie Anm. 23) S.- 226. Vgl. Arnold Esch, Fernhandel und früher Protestantismus. Beobachtungen zur Frühgeschichte der lutherischen Gemeinde in Venedig, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 94 (2014) S.-129-141, hier S.-140-141. 25 Übersetzt: „Es hilft hier nicht, die Spuren auf heiligem Boden gesehen zu haben, (denn) allein der Glaube schließt Christus in das Herz ein“. Vgl. die kopial überlieferte Inschrift bei Johann Gottfried Olearius, Coemiterium Saxo-Hallense (Wittenberg 1674) S.- 48-49, vgl. DI 85, Halle/ Saale, Nr. 196† (Franz Jäger), www.inschriften.net, urn: nbn: de: 0238di085l004k0019603 (Stand 23.08.2018). 26 Siehe dazu jetzt Volker Honemann, Martin Luther, das Wallfahren und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela, in: Jakobus in Franken. Kult, Kunst und Pilgerverkehr, hg. von Robert Plötz/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 22, 2018) S.-201-222. Konfessionelle Konfrontation 277 Abbildung 2: aus: Holzwirth-Handschrift, Schlossmuseum Sondershausen, Schwarzburgica-Sammlung, Signatur HS2, S. 19 Franziskanische Quellen Um ein differenziertes Bild von den Begegnungen zu erhalten, mussten auch franziskanische Quellen herangezogen werden. Diese sollen die Einstellung der katholischen Seite zu den protestantischen Pilgern erkennbar machen. Zu diesem Zweck wurden die gedruckten franziskanischen Dokumente zur Geschichte der Kustodie bis zum Jahr 1642 herangezogen. 27 Als eine weitere, bislang wenig konsultierte Quelle wurde das Pilgerverzeichnis der Kustodie Navis 27 Pietro Verniero di Montepeloso, Croniche ovvero Annali di Terra Santa, Bände 1-5, hg. von Girolamo Golubovich, Biblioteca Bio-Bibliografica della Terra Santa, Bände 6-10 (Quaracchi 1930-1937). Die Chronik von Verniero wurde von Francesco da Serino bis 1642 fortgesetzt (s. o. Anm. 12). 278 Mordechay Lewy Peregrinorum benutzt, das für die Zeitspanne von 1561 bis 1695 eine zwar umfangreiche, aber nicht immer verlässliche Liste der im Gästehaus des franziskanischen Konvents logierenden Pilger wiedergibt. 28 Das ledergebundene papierene Gästebuch für die Jahre 1561 bis 1695 wird im Archiv der Kustodie in Jerusalem aufbewahrt. 29 Der Herausgeber Zimolong und die Erforscher des Archivs der Kustodie, Lemmens und Arce, gehen von drei Phasen der Herstellung des überlieferten Verzeichnisses aus. Die älteste überlieferte Schicht ist eine Abschrift der Liste bis 1633. Vor allem die sehr fragmentierte und sporadisch geführte Liste von 1561 bis 1597 ist kaum brauchbar für eine systematische Erfassung der Pilger aus jener Zeit. Um 1633 wurde die Liste kopiert und fortlaufend bis 1695 fortgesetzt. Da aber eine Hand kaum über 62 Jahre allein die Registrierung der Namen vornehmen konnte, ging Zimolong davon aus, dass der heute überlieferten Gästeliste eine dritte Abschrift zu Grunde liegt, die laut Kolophon 1709 angefertigt wurde. 30 Das Gästebuch weist auf eine teilweise sprachlich korrumpierte Namensliste der Pilger hin, die zwischen den Jahren 1561 und 1695 im Kloster logierten. Die seit 1601 eingeführte Markierung der konfessionellen Zugehörigkeit der Gäste in der Navis liefert Anhaltspunkte für die Schwankungen des protestantischen Pilgerstroms im 17. Jahrhundert. Eine Auflistung der gesamten Eintragungen der Gäste für die Zeitspanne von 1601 bis 1695 (siehe Anhang 1) ergibt 7129 Pilger 31 , darunter 406, die als Protestanten markiert wurden. Sie machen insgesamt nur 5,5% der Gäste aus. Im Laufe des 17. Jahrhunderts ist deren Anteil in bestimmten Jahren gestiegen. Betrug deren Zahl 1609 nur 9 Pilger von 45 (20 %), waren es schon 1626 35 % (7 von 20 Pilgern), oder 1654 36,3% (8 von 22 Pilgern). Für das Jahr 1663 waren von 46 Pilgern die Hälfte Protestanten. Ähnliches lässt sich für 1669 feststellen (von 66 Pilgern waren es 31). Auch die Jahre 1683 und 1684 zeichneten sich durch eine erhöhte Präsenz der Protestanten unter den Gästen aus, nämlich 27 von 62 (43,5%) bzw. 13 von 29 (44,8%). In den Jahren 1613 bis 1615 wurden keine Protestanten registriert. Ebenso gab es in den Jahren 1628-1629, 1635-1638, 1643-1644 und 1646-1649 keine registrierten protestantischen Gäste. Diese Ausfälle sind vermutlich durch die kriegerischen Auseinandersetzungen 28 Navis Peregrinorum. Ein Pilgerverzeichnis aus Jerusalem von 1561 bis 1695, hg. von Bertrand Zimolong (Palästina-Hefte des Deutschen Vereins vom Hl. Lande, Heft 12-14, 1938). 29 Eine kurze Beschreibung der zwei im Kloster überlieferten Redaktionen bringen jeweils die franziskanischen Gelehrten Leonhard Lemmens und Agustin Arce. Vgl. Leonhard Lemmens, Collectanea Terrae Sanctae (BBBTS 14, Quaracchi 1933) S.- 254-255; Agustin Arce, Documentos y Textos, Band 1 (1620-1622) (1970) S.-384. 30 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28), Einleitung, S.-X-XI. 31 Diese Zahl ist mehr als doppelt so hoch wie die zur selben Periode von Shalev 3400 geschätzten Pilger, vgl. Zur Shalev, Sacred Words and Worlds. Religion and Scholarship, 1550-1700 (2011) S.-77-78. Konfessionelle Konfrontation 279 in den deutschsprachigen Ländern und in England verursacht. Nach dem Westfälischen Frieden 1648 gab es lediglich in den Jahren 1655, 1662, 1667 und 1670 keine protestantische Präsenz unter den Pilgern im Gästehaus des Konvents. Darüber hinaus konnte im 17. Jahrhundert die jeweilige Dichte der nationalen Herkunft deutlicher quantifiziert werden. Die Protestanten aus England machten mit 248 bei weitem die größte Pilgergruppe aus. Danach kamen Niederländer mit 75; die deutschsprachigen Pilger bildeten mit 51 die drittgrößte Gruppe. Namen und Herkunftsangaben im Gästebuch Da die Namen und Herkunftsorte der zumeist nichtitalienischen Gäste phonetisch transkribiert wurden und den italienisch sprechenden Schreibern fremd klingen mussten, bringt die Liste nicht wenige „verballhornte“ Namen. 32 Darüber hinaus haben sich auf manchen Seiten Kopierfehler eingeschlichen; bei der Edition von Zimolong machen sich überdies auch einige Unsicherheiten bei der Auflösung der Handschrift bemerkbar. Es muss ferner eine unbestimmte Anzahl von Pilgern gegeben haben, die sich weigerten, ihre vollen Namen preiszugeben. Damit verzichteten sie darauf, ihren Besuch in den heiligen Stätten mit einem Zertifikat der Kustodie bestätigen zu lassen. Zumindest hat es so der Schreiber des Gästebuches vermerkt, der die am 2.-August 1605 ankommenden Pilger einschreiben wollte. 33 Ein Vergleich der Pilgerliste in der Navis mit den Namen, die Reinhold Röhricht in seinen Studien zum Pilgerwesen veröffentlichte, und ein Abgleich mit den in den letzten Jahrzehnten erschienenen Verzeichnissen der europäischen Reisenden könnten bei der Identifizierung mancher Namen und Ortschaften hilfreich sein. 34 Diese Listen dokumentieren aber nur zum geringeren Teil die tatsächliche Anzahl der Pilger des 17. Jahrhunderts, da sie sich nur auf die ersten 32 Dazu einige Beispiele: Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-5 mit Anm.-28: Fürst Radzivil wird comes in Esnich statt Nieswicz genannt; S.-9: Christopher Harant von Polschitz wird zu de Arnan ex Polsiz; S.-28-f. werden im Jahr 1611 drei deutsche Pilger genannt, deren Namen ebenfalls entstellt sind: Paulus Bosepolschy Pomeranus de Cassubia Hereticus; D.-Joannes Socolout de Sucolovia Germanus; Adulphus Zuueiffel de Wissen, Ducatus Bergensis Germanus. 33 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.- 19: Reliqui vero dictorum peregrinorum noluerunt nomina et cognomina eorum patefacere, nec attestationem, eos fuisse ad haec Sancta Loca visitanda curarunt. 34 Röhricht, Pilgerreisen (wie Anm. 23); Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters: Eine analytische Bibliographie. Teil I: Deutsche Reiseberichte, bearb. Christian Halm, hg. von Werner Paravicini (Kieler Werkstücke Reihe D: Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 5, 1994); Dass., Teil 2: Französische Reiseberichte, bearb. von Jörg Wettlaufer in Zusammenarbeit mit Jaques Paviot, hg. von Werner Paravicini (dass. 12, 1999); Dass., Teil 3: Niederländische Reiseberichte, bearb. von Jan Hirschbiegel nach Vorarbeiten von Detlev Kraack, hg. von Werner Paravicini (dass. 14, 2000); Stephane Yerasimos, Les Voyageurs dans L’Empire Ottoman (XIV e -XVI e siècles). Bibliographie, Itinéraires et Inventaire des Lieux habités (Ankara 1991). Die zehn 280 Mordechay Lewy Jahrzehnte erstrecken. Es bleibt zu hoffen, dass die für die systematische Erforschung des Pilgerwesens nach Palästina im 17. Jahrhundert notwendige Rekonstruktion der Navis Peregrinorum in absehbarer Zeit in Angriff genommen wird. Die Registrierung der Nicht-Katholiken war offenbar nicht konsequent. Dafür gibt es, über die phonetische Hürde hinaus, offensichtlich mehrere Gründe. Nicht jeder Pilger wollte sich als Nicht-Katholik zu erkennen geben, nicht wenige haben sich verstellt, um ihre konfessionelle Zugehörigkeit zu verbergen. Keiner der Lutheraner in der deutschen Pilgergruppe, die Jacob Wormbser 1561 namentlich erwähnt hat, wurde als solcher im Gästebuch gekennzeichnet. 35 Die Verstellung gehörte offenbar zur mehrdeutigen Verhaltensweise. Der böhmische Pilger Christoph Harant von Polschitz und Weseritz (1564-1621) entschuldigte sich sogar bei seinen Lesern, dass er auf seiner Pilgerreise seine Herkunft so oft habe verschleiern müssen. 36 Der früheste Eintrag eines Protestanten im Gästebuch ist der eines englischen Schiffskapitäns namens Henry Timberlake, der als Henricus Timberlare de Anglia, Ereticus am 8. April 1601 eingetragen wurde. 37 Im Jahr 1612 findet man den schottischen Presbyterianer William Lithgow im Gästebuch ohne jeden Vermerk seiner Konfession. In seinem Reisebuch erweist er sich jedoch als ausgesprochener Gegner der „Papisten“. 38 Eine Verstellung läßt sich bei Lithgow nicht ausschließen. Bände von Ralf C. Müller, Prosopographie der Reisenden und Migranten ins Osmanische Reich (1396-1611) (2005) waren mir nicht zugänglich. 35 Vgl. Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.- 3-4; Jacob Wormbser, Eigentliche Beschreibung der Außreysung und Heimfahrt deß edlen und vesten Jacob Wormbsers, hg. von Sigmund Feyerabend, Reyßbuch deß heyligen Lands (Frankfurt a. M. 1584) S.-218v; Reichert, Protestanten (wie Anm. 11) S.-44-52. 36 Vgl. Christoph Harant, Der christliche Ulysses, Oder der Weitversuchte Cavalier: Fürgestellt in den Denckwürden Bereisung, so wol des Heiligen Landes, als vieler anderer morgenländischer Provintzen, welche Herr Christoph Harant, Freyherrvon Polschitz und Werenz aus Pezka im Jahr 1598 rümlich vollenbracht (Nürnberg 1678) S.-39 in der unpaginierten Einleitung: Habe aber inzwischen mich selbsten und mein Vatterland verläugnen und einen der Herrschafft Venedig Untergebenen, auch wol gar zuweil für einen Pohlen (dann mit diesen Nationen waren dazumal die Türcken auf das allerbeste Bundes vereiniget) ausgeben müssen. Harant reiste 1598 als Katholik und konvertierte erst 1618 zum Protestantismus. Seine Reisebeschreibung erschien zunächst auf tschechisch 1608, sie wurde 1637 ins Deutsche übersetzt und erst im Jahr 1678 in Nürnberg gedruckt. 37 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-11. 38 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.- 31: Gulielmus Litteous Scotus Lanerki. Lanark ist sein Geburtsort. Seine anti-katholische Haltung kommt im Kapitel seines Aufenthalts in Jerusalem deutlich zum Ausdruck, vgl. The rare Adventures and painful Peregrinations of William Lithgow, hg. von Gilbert Phelps (1974) S.-141-142. Lithgows Reisebuch wurde erst 1632 vollständig gedruckt. Konfessionelle Konfrontation 281 Abbildung 3: Tätowierung des Rathge Stubbe Jahrzehnte später, 1669, wird im Gästebuch ein Hamburger Bürger als D. Rochus Stubbe mit der konfessionellen Bezeichnung a fide cath[olica] alien[us] registriert. 39 Wir hätten seinen richtigen Vornamen nie erfahren, wenn nicht eine unabhängige Quelle diesen Pilger als Rathge Stubbe, Spross einer bekannten Seefahrerfamilie, bezeichnet hätte. Über diesen Rathge erzählt der Hebraist Johannes Lundius (1638- 1686) in seinem Die alten jüdischen Heiligthümer, er habe 1669 in Jerusalem auf seine Haut eine Pilgertätowierung anbringen lassen, die Lundius auch in einem Kupferstich als Illustration des Textes wiedergab (Abbildung 3). 40 Eine weitere Quelle bezeugt, dass ein franziskanisches Pilgerzertifikat, das sich noch 1911 im Archiv des Vereins für Hamburgische Geschichte befand, bevor es einem Brand zum Opfer fiel, auf den Namen Rochus Stubbe civitatis Amburgi ausgestellt wurde. 41 So wurde 39 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-86. Übersetzt bedeutet es: „Des katholischen Glaubens nicht kundig“. Dieser Begriff wird weiter unten eingehend behandelt. 40 Johannes Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten […], posthum hg. von Heinrich Muhlius (Hamburg 1704) S.-732. Grundlegend über Jerusalemer Pilgertätowierung: Mordechay Lewy, Jerusalem unter der Haut. Zur Geschichte der Jerusalemer Pilgertätowierung, in: Zeitschrift für Religions-und Geistesgeschichte 55/ 1 (2003) S.-1-39. 41 Otto F. A. Meinardus, Jerusalemer Pilgerstätten auf Hamburger Armen. Zur Tätowierung eines Hamburger Jerusalem-Pilgers, 1669, in: Beiträge zur deutschen Volks-und Altertumskunde 26 (1988/ 91) S.-117-122. 282 Mordechay Lewy auch Stubbe im Gästebuch verzeichnet. Anscheinend wirkte der Vorname Rathge so fremd auf den Schreiber, dass er stattdessen den ihm weit mehr geläufigen Pestheiligen Rochus eintrug. Was als erzwungene Taufe eines Protestanten erscheinen könnte, war vermutlich einer willkürlichen Entscheidung des Schreibers geschuldet und hatte nichts damit zu tun, dass die Franziskaner von einem Lutheraner eine Beichte oder eine Kommunion vor dem Besuch der Grabeskirche hätten erzwingen wollen. Auch auf die Angaben der Nationalität ist nicht immer Verlass, bei manchen Pilgern wurden falsche Angaben hinsichtlich ihrer Herkunftsländer gemacht. Der Fall von Martinus Seusenius, der aus Franken kam, aber als Franzose eingetragen wurde, verdeutlicht die Komplexität der damaligen politisch nicht genehmen Herkunftsangaben. In der Navis steht: Martinus Suesfenio de Mergenteini ex Gallia. 42 Mergentheim liegt freilich nicht in Frankreich (= Gallia), aber so konnte man Frankonia missverstehen. Am Ende seines Jerusalemaufenthalts fügte Martinus in seinen Reisebericht ein selbstentworfenes Dokument ein, um seine Pilgerreise von illustren Vertretern der Kustodie wie auch von seinen Reisegefährten bezeugen zu lassen. In diesem Dokument stellt sich Martinus nicht als Franzose vor: Ego Martinus Seusenius à Mergentheim ex Francia Orientali alias dicta Franconia Hierosolimam in Sanctam Civitatem Veni. 43 Die Doppeldeutigkeit von Francia orientalis und Franconia wurde soweit ausgedehnt, dass Martinus sich als Franzose ausgeben konnte. Er hatte sich schon unterwegs in Famagusta vor dem Schiffseigentümer und auch vor dem Stadtrichter in Jerusalem als solcher bezeichnet. 44 Seit der antihabsburgischen Allianz zwischen dem französischen König Franz I. und Sultan Süleyman I., die dann 1569 zum Kapitulationsabkommen geführt hat, wähnten sich Jerusalempilger sicherer, wenn sie sich als Franzosen ausgaben. Die Erwartung Papst Clemensʼ-VIII. (1592-1605), die Deutschen würden sich gegen die Osmanen standhafter zeigen, tat bei Seusenius das ihrige, um sich nicht als Deutscher vor dem Kadi zu offenbaren. Die vorgegebene Zweideutigkeit Francia Orientalis hat Seusenius zu seinem Nutzen verwendet. Ohne seine eigene Reisebeschreibung würde man ihn für einen Gallus halten, wie es die Navis auch registriert hatte. Auch Christoph Harant hat sich 1598 vor dem osmanischen Vertreter des Jerusalemer Stadtkommandanten als Franzose ausgegeben, im Gästebuch des Klosters ist er jedoch als Böhme, Christopherus de Arnan ex Polsiz Boemus, eingetragen. 45 42 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-13. 43 Bertrand Zimolong, Zu der Pilgerbescheinigung in Martinus Seusenius’ Reise in das heilige Land i. J. 1602/ 3, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 65 (1942) S.-212-223, Zitat S.-212. 44 Martinus Seusenius’ Reise in das Heilige Land im Jahre 1602, hg. von Ferdinand Mühlau (1902). 45 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-9. Konfessionelle Konfrontation 283 Die Kennzeichnung der Konfession im Gästebuch Mit Hilfe der Bezeichnungen, mit denen die protestantischen Pilger im Pilgerverzeichnis Navis Peregrinorum gekennzeichnet wurden, kann man die Gästeliste in drei Blöcke unterteilen. Der erste Block ist eingegrenzt vom ersten Eintrag eines Pilgers überhaupt im Jahr 1561 bis 1600. Diese Zeitspanne ist dadurch gekennzeichnet, dass die uns durch anderweitige Quellen als Protestanten bekannten Pilger im Gästebuch keine konfessionellen Bezeichnungen erhielten. Während dieser Zeit sind uns elf gedruckte Reisebeschreibungen von Protestanten überliefert. Die fehlenden Bezeichnungen lassen sich mitunter auf eine unübersichtliche Überlieferung des Gästebuches für diese Jahre zurückführen. Der zweite Block umfasst die Jahre von 1601 bis 1645. Charakteristisch für diesen Zeitraum sind religiös gehässige Bezeichnungen. Die Bezeichnung Ketzer (ereticus) erscheint zum ersten Mal 1601 bei dem englischen Schiffskapitän Henry Timberlake. Sie wird in dieser Zeitspanne zur häufigsten Bezeichnung für 50 Pilger von insgesamt 108 erkennbaren Nicht-Katholiken. Bis 1645 erscheinen wechselnd auch weitere Bezeichnungen: Seit 1602 discessit hinc absque Sacramentis. = ging von hier weg ohne Sakramente. Seit 1605 disc. Absque confessione. = ging von hier ohne Beichte. Seit 1606 disc. Absque conf. et com. = ging von hier ohne Beichte und Kommunion. Seit 1618 inconfessus et incom. = hat nicht gebeichtet und nicht kommuniziert. Es sind vor allem liturgische Begriffe, die hier den Unterschied machen sollen zwischen den katholischen Bräuchen und den Ketzern. Diese sind abtrünnig und vom richtigen Glauben abgefallen, repräsentieren aber als Ketzer keinen eigenen Glauben, sondern werden als negatives Gegenteil des vermeintlich richtigen Glaubens definiert. Aus dieser Zeit sind uns neun gedruckte protestantische Reisebeschreibungen überliefert. Der dritte Block bezieht sich auf Eintragungen in den Jahren 1646 bis 1695. Er ist seit 1650 durch die Einführung der theologischen Bezeichnung a fide catholica alienus gekennzeichnet, die seitdem ausschließlich für die Bezeichnung der Protestanten gebraucht wurde. Man kann diesen Begriff verschieden übersetzen: dem katholischen Glauben entgegengesetzt bzw. unkundig, fremd oder feindlich gesinnt. Bezüglich seiner Genese erscheint dieser Begriff dreimal bei Aurelius Augustinus in seinen polemischen Schriften, vor allem gegen Pelagius. Demzufolge 284 Mordechay Lewy nehmen Abtrünnige (apostatae) und a Christi fide alieni gleichermaßen ihren Platz in der Hölle ein. 46 Der maßgebliche Theologe des Mittelalters Thomas von Aquin verwendet a fide catholica alienus zweimal in der Bedeutung deutlich dem katholischen Glauben entgegengesetzt. Seine Äußerungen fallen im Kontext eines Diskurses, in dem er die Richtigkeit der katholischen Doktrin zu beweisen sucht. 47 Die Äußerung a fide catholica alienus nimmt eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen ein, das Verhältnis zwischen den Franziskanern und den protestantischen Pilgern zu bestimmen. Warum hat man in der Kustodie seit 1650 auf verunglimpfende Bezeichnungen wie Häretiker oder Perverse verzichtet und stattdessen auf den zwar immer noch negativ beladenen, aber weniger konfrontativen Begriff a fide catholica alienus zurückgegriffen? Wir finden in dem in Folge des Trienter Konzils von Papst Pius V. 1568 publizierten Catechismus Romanus eine interessante Verschiebung im Verständnis der Begriffe alienus (fremd), hostis (feindselig) und infidelis ( ungläubig ). Ein alienus soll wie auch ein Feind oder ein Ungläubiger einem nahestehen und von einem geliebt werden.48 Aus dieser Differenzierung konnte später a fide catholica alienus die Bedeutung des katholischen Glaubens unkundig bekommen. Dieser Bedeutungswandel wird auch in dem Bekehrungsangebot des katholischen Bischofs von Roermund Henricus Cuyckius, an den calvinistischen Fürsten Moritz von Nassau von 1599 deutlich: Quid mirum in illustri viro, qui ab infantie sic edoctus et à catholica fide alienus, nullum adhuc verae fidei gustum habuit. 49 Warum die Verwendung der Floskel im Gästebuch erst 1650 einsetzt, bleibt noch unklar. Vielleicht ist es lediglich eine verwaltungstechnische Vereinheitlichung der Registrierung der Gäste. Vielleicht ist es dem Sprachwandel der politischen Großwetterlage nach dem Westfälischen Frieden 1648 geschuldet, 46 Eine ausgesprochen feindselige Bedeutung erhält a fide catholica alienus in Augustinusʼ polemischer Predigt gegen die pelagianische Erwachsenentaufe. Vgl. Ders., Sermo 294 (De baptismo parvulorum contra Pelagianos, Kap 3), in: MPL 38 col. 1337. 47 Thomas de Aquino, Summa contra gentiles, 4.- Buch, Kapitel 47, Perikope 3: quod est a fide catholica alienum ; Ders., Summa Theologiae, Pars I quaestio 104, articulo 3c: haec positio est falsa et a fide catholica penitus aliena. 48 Catechismus Romanus ex decreto sacrosancti Concilii Tridentini, Iussu PII V. Pontifici Maximi editus, Pars IV, Caput 5 (Pro quibus orandum sit) (Antwerpen 1572) S.-500: Orandum igitur et pro omnibus sine ulla exeptione vel inimicitiarum, vel religionis, vel gentis. Nam sive hostis sit, sive alienus, sive infidelis, proximus est. Quem quia Dei jussu amare debeamus […]. 49 Henricus Cuyckius, Ad Mauritium comitem Nassauium paraenetica epistola (Löwen 1599) S.-93. In einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung, die in Ingolstadt 1600 gedruckt wurde, heißt es auf S.-93: Was wunders ist es an einer hohen Person, die von Kindswesen also underwisen worden bei der Catholischen Religion nit herkommen ist, noch den wahren Glauben jemalen verkostet. Konfessionelle Konfrontation 285 dass man die Protestanten jeglicher Couleur nicht einfach als Ketzer verunglimpften wollte? Vielleicht war es die nie versiegende Hoffnung der Mönche, diese Besucher noch mit friedlichen Mitteln bekehren zu können? Die franziskanischen Chroniken und auch die Navis berichten gern von erfolgreichen Bekehrungen unter den protestantischen Pilgern. Zwölf Bekehrungen von Europäern sind zwischen 1613 und 1640 im Pilgerverzeichnis Navis vermerkt. Über zehn weitere Bekehrungen wird in den Chroniken von Verniero und Serino zwischen den Jahren 1621 und 1641 berichtet. 22 Konversionen fanden zwischen 1613 und 1641 statt. 50 Im Zuge der Vorbereitung dieser Studie konnte ich 29 Pilgerberichte zwischen 1546 und 1700 identifizieren, die aus der Feder von protestantischen Autoren stammen, zumeist aufgrund eigener Aussage und seltener aufgrund des historischen Kontextes (siehe Anhang 2). Man sollte jedoch davon ausgehen, dass weitere Berichte in noch unedierten Quellen vorhanden sind. Außerdem haben vermutlich nicht alle Autoren der gedruckten Reiseberichte sich als Protestanten ausgeben wollen. In seiner Dissertation aus dem Jahr 2014 stellte Sean Eric Clark eine Liste von elf protestantischen deutschsprachigen Autoren aus den Jahren 1552 bis 1624 zusammen. 51 Sie deckt sich nicht ganz mit meiner Liste, zumal Melchior Seydlitz meiner Meinung nach nicht als Protestant zu zählen ist. Nach 1650 scheint eine sachlichere Atmosphäre gegenüber protestantischen Pilgern im Kloster geherrscht zu haben. Neben der Einführung der Bezeichnung a fide catholica alienus im Sinne von „des katholischen Glaubens unkundig“ könnte man in den nach 1650 verfassten protestantischen Reiseberichten Indizien für eine versachlichte und weniger konfrontative Atmosphäre erwarten. Es fällt aber schwer, dieses sicher festzustellen, da wir nur von sechs protestantischen Reiseberichten ausgehen können. Ein Reisebericht, der von dem brandenburgischen Ritter von der Gröben verfasst wurde, strotzt von Gehässigkeiten gegenüber den Franziskanern in Jerusalem. Der Anlass der Pilgerfahrt von Heinrich Wilhelm Ludolf musste konspirativ behandelt werden, da er eine anti-katholische Allianz fördern sollte. Andere Berichte, die von den Calvinisten Myrike und de Bruyn und dem Anglikaner Henry Maundrell verfasst worden sind, verbreiten einen eher konzilianten Geist. Leider stehen uns für diesen Zeitraum keine franziskanischen Chroniken zur Verfügung, sodass eine schlüssige Antwort bezüglich der Versachlichung beim jetzigen Wissensstand noch unmöglich ist. 50 Vgl. Anmerkungen in der Tabelle in Anhang 1. 51 Sean Eric Clark, Protestants in Palestine: Reformation of Holy Land Pilgrimage in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (University of Arizona, Electric Dissertation submitted in 2014), http: / / hdl.handle.net/ 10150/ 312483 (Stand 14.4. 2018). 286 Mordechay Lewy Abbildung 4: Ansicht von Jerusalem 1546 aus dem Bericht des Ulrich Prefat. - Inschrift oben links: Pravý a jistý Conterfect, neb vymalování nynějšího Mesta Geruzalema i s jeho položením tak jak jest bylo Léta Paně 1546, kteréž jest vyconterfectoval neb vymaloval Místr Dominic, příjmím De le Greche / Malíř Benatský téhož Léta etc. čtyřidcátého Šestého / a nyní nakladem Voldřicha Prefata k imprimování a vytlačení vydané / Léta etc. 1563. [Wahrhaftiges und sicheres Konterfei, oder Zeichnung der heutigen Stadt Jerusalem auch mit seiner Lage, so wie sie Anno Domini 1546 war, das konterfeit und gemalt wurde von Magister Dominic mit dem Zunamen De le Greche, einem Venediger Maler im selben Jahr etc. sechsundvierzigsten, und nun auf Verlagskosten von Voldřich Prefat zur Imprimierung und Druck herausgegeben, im Jahre etc. 1563. (Wir danken Václav Bok und Eliška Bokova, Česke Budĕjovice, für Transkription und Übersetzung.)] Konfessionelle Konfrontation 287 288 Mordechay Lewy Konfliktstoffe bei protestantischen Pilgern Die ersten Tage nach der Ankunft Bevor wir die protestantischen Pilger zu Wort kommen lassen, ist es wichtig, sich mit der normalen franziskanischen Ankunftszeremonie für Pilger vertraut zu machen. Sie liegt in der Beschreibung des Chronisten Pietro Verniero als Eintrag aus dem Jahre 1634 vor, sollte aber als zeitlich nicht ganz sicher bestimmbare, in jedem Fall frühere interne Verordnung angesehen werden. 52 Demzufolge war der Einzug in die Stadt nur durch das Damaskus-Tor möglich. Der Zugführer meldete die Ankunft der europäischen Pilger (pellegrini Franchi) und deren Anzahl (frati e seculari) beim Konvent S. Salvator an. Zwei Brüder wurden zum Gouverneur und zum Kadi geschickt, um die osmanische Besuchsgenehmigung einzuholen. Die Vertreter dieser Autoritäten wurden von zwei Brüdern begleitet und gingen zu den Pilgern, die am Damaskus-Tor warteten, um anhand einer Namensliste identifiziert zu werden. Das Gepäck wurde von Lastenträgern in die Stadt getragen, nachdem es am Damaskus-Tor von Vertretern der osmanischen Lokalbehörde nach Tabak, Speisen und Waffen durchsucht worden war. Im Konvent wurden die Zimmer den Pilgern gemäß ihrer Anzahl und ihres Standes (conforme il numero e qualita di persone) zugeteilt. Die schlechteren Zimmer waren diejenigen, deren Fenster zum Garten gingen. Am Abend versammelten sich alle Brüder mit dem Guardian am Platz vor der Pforte, um die Fußwaschung der Pilger vorzunehmen. Nach dieser Zeremonie folgten die Pilger dem Guardian mit einer weißen Kerze in der Hand in einer Prozession zur Kirche, wobei das Te Deum laudamus gesungen wurde. Dort knieten alle Pilger vor dem Hauptaltar nieder und zündeten die Kerzen am Altar an. Während ihres gesamten Aufenthalts aßen die Pilger gemeinsam mit den Brüdern im Refektorium. Nach der Prozession in der Konventskirche gingen die Pilger gemeinsam mit den Brüdern zur Grabeskirche und traten ein, nachdem die Eintrittsgelder bezahlt wurden. Sie erhielten eine Kerze und wurden von den Mönchen bei den verschiedenen Stationen darüber informiert, wieviele Indulgenzen man jeweils erhielt. Nach diesem Besuch und der kurzen Prozession in der Grabeskirche kehrten sie zum Konvent zurück. Am nächsten Tag wurden die Pilger zum Morgengebet geweckt; danach bereiteten sie sich alla confessione e communione vor. Am Morgen wurde eine Messe vor der Kapelle des Heiligen Grabes gehalten. Nach der Messe wurde die Grabeskapelle drei Mal umrundet und das Te Deum laudamus gesungen. 52 Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 4, S.-52-54. Konfessionelle Konfrontation 289 Logistische Reibungsflächen - das angebliche Pilgermonopol der Franziskaner Während des Aufenthalts ergaben sich öfter Reibungsflächen, die vor allem logistischer Natur waren: Eine Frage war, inwieweit das angebliche Monopol der Kustodie bei der Ankunft und Unterkunft in Jerusalem respektiert werden musste. Die Mehrzahl der europäischen Pilger im 16. und 17. Jahrhundert pflegte im Kloster der Franziskaner zu übernachten und unter der logistischen Obhut des Vorstehers (des Guardians) ihren Aufenthalt zu gestalten. Dies war jedoch nur Brauch und vor allem Bequemlichkeit, da die Reiseorganisation schon mit dem Schiffsvertrag in Venedig und später in Marseille begonnen hatte. 53 Der Reeder arbeitete vom Beginn der Reise an Hand in Hand mit der franziskanischen Kustodie, um die Effizienz zu erhöhen und seine Ausgaben zu senken. Diese frühe Art von Pilgerpauschalreisen hatte ihre Hochblüte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und zu Anfang des 16.-Jahrhunderts, wo oft Hunderte von Pilgern jährlich über das Mittelmeer ins Heilige Land verschifft wurden. 54 Es half der Kustodie den Eindruck eines de facto-Monopols über den Pilgerstrom zu erwecken. Die venezianische Dominanz in der Reiseorganisation erlebte im Laufe des 17.- Jahrhunderts große Einbußen und die Verkehrsroute verlagerte sich nach Marseille als Ausgangshafen. Dies kann nicht nur an der Anzahl der im Gästebuch eingetragenen Pilger aus Marseille im Vergleich zu den venezianischen Pilgern abgelesen werden, sondern auch an der Anzahl der ankommenden Schiffskapitäne. In der ersten Hälfte des 17.- Jahrhunderts sind drei Schiffskapitäne eingetragen. Der eine ist der bereits als englischer Häretiker erwähnte Henry Timberlake. Die beiden anderen waren Franzosen, der eine Mattheus Vassalle Patronus navis 55 , der andere D.-Aymardus Reimnodin Massiliensis Navarchus. 56 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben zwischen 1653 und 1691 laut Gästebuch neun französische, sieben englische und nur drei venezianische Schiffs- 53 Der Text eines Schiffsvertrages findet sich in den überlieferten Dokumenten der Pilgerreise von Herzog Bogislaus X. von Pommern (1497). Vgl. Diplomatische Beiträge zur Geschichte Pommerns aus der Zeit Bogislafs X., hg. von Richard Klempin (1859) S.-542- 545. Den Schiffsvertrag der Reisegruppe des Pfalzgrafen Ottheinrich aus dem Jahr 1521 siehe bei Folker Reichert, Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum Heiligen Land 1521 (2005) S.-132-145. 54 Mit dem Herzog von Pommern reisten 1497 etwa 300 Personen. 55 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-14. Er ist mit französischen Pilgern im Juni 1603 angekommen, darunter auch einem aus Marseille. 56 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-39. Er ist am 2. April 1618 angekommen. Navarchos ist der klassische griechische Begriff für Kapitän. 290 Mordechay Lewy kapitäne im Kloster übernachtet. 57 Sie sind mit Namen, Herkunft und auch mit dem Namen ihrer Schiffe eingeschrieben. Die französische Präsenz dominierte. 58 Manche Pilger akzeptierten das vermeintliche Monopol der Kustodie als gegebene Tatsache, ohne es zu hinterfragen. George Sandys schrieb 1611, dass ankommende Pilger sich an das Kloster halten mussten, sonst würden sie Gefahr laufen, als Spione angeklagt und sonstigen Kalamitäten ausgesetzt zu werden. 59 Der unklare Monopolstatus lässt sich anhand folgender Beispiele illustrieren. Muslime, mit denen Daniel Ecklin mit einer Reisegruppe 1552 aus Damaskus angereist war, versuchten Ecklin zum Übertritt zum Islam zu zwingen. Der Streitfall wurde beim Kadi von Jerusalem verhandelt. Er beschloss, Ecklin nicht zum Religionswechsel zu bewegen, sondern zur Betreuung an die Kustodie zu übergeben. 60 Es ist bemerkenswert, dass der Kadi solch einen Beschluss zu einer Zeit der tiefsten Krise der Kustodie fällte, ein Jahr, nachdem die Osmanen die Mönche vom Zionsberg verjagt hatten. Hier handelte der Kadi, als ob die Kustodie eindeutig für europäische Pilger zuständig wäre. Von einer anderen Erfahrung berichtet John Sanderson, der 1601 mit einer jüdischen Reisegruppe von Saida (Sidon) aus Jerusalem erreichte, ohne überhaupt Kontakt mit der franziskanischen Kustodie aufgenommen zu haben. 61 Er ist daher auch nicht im Gästebuch eingetragen. Bei der Eingangstür zur Grabeskirche zahlte Sanderson wie jeder europäische Pilger den Tarif an den Vertreter des Kadi, der diese Einkünfte für den Sultan einsammelte. Jedoch die am Tor stehenden Franziskaner ermahnten den muslimischen Wächter, Sanderson keinen Einlass zu gewähren, weil er Jude sei; diesen sei der Eingang in die Grabeskirche grundsätzlich verboten. 62 Die arabischen Wächter winkten zwar Sanderson hinein, aber der entstehende Aufruhr veranlasste den Kadi, der Sache 57 Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) S.-71, 80, 82, 83, 85, 89, 96, 102, 105, 107, 108, 110, 112. Zusätzlich hatte sich auch der Amsterdamer Schiffskapitän Cornelius van Leimmen am 28.-4.-1671 im Kloster einschreiben lassen, vgl. ebenda S.-89. 58 Es ist auch die Periode der verstärkten Einflussnahme Frankreichs im Vorderen Orient. So kann auch die an Kapuziner- und Jesuitenorden gewährte politische Unterstützung Frankreichs im heiligen Land verstanden werden. In Jerusalem konnten diese Orden wegen des franziskanischen Widerstands noch nicht Fuß fassen und mussten sich mit der Präsenz in den Hafenstädten der Levanteküste begnügen. Vgl. Megan Armstrong, Bourbon imperialism and the early modern Holyland, Video Vortrag: https: / / www.youtube. com/ watch? v=8tCidHBTugo&t=2s (Stand 17.06.2018). 59 George Sandys, A Relation of a Journey (London 1621) S.- 159: For all that come must repaire to their convent, otherwise they shall be accused for spies and suffer much trouble. 60 Daniel Ecklin, Reise zum Heiligen Grab. Nach der Druckausgabe Basel von Samuel Apiarius 1575 hg. und erläutert von Max Schiendorfer (2014; revidierte Ausgabe). 61 The Travels of John Sanderson in the Levant 1584-1602, in: Purchas his Pilgrimes (wie Anm. 18) Band 2 (London 1625) S.-1629-1639, hier S.-1631-1632. 62 Sanderson (wie Anm. 61) S.-1633. Konfessionelle Konfrontation 291 auf den Grund zu gehen. Er bestellte Sanderson und den Guardian, der sich von seinem Dragoman vertreten ließ, zu sich. Bei der öffentlichen Verhandlung beschuldigte der Dragoman Sanderson, er sei ein Jude, weil er mit einer jüdischen Reisegesellschaft in die Stadt gekommen sei. Der Einwand der Franziskaner bezog sich auf den unerlaubten Einlass eines Juden in die Grabeskirche und nicht auf die Missachtung ihrer Monopolstellung als die Zuständigen für europäische Pilger. Der Kadi entschied, Sanderson wieder auf freien Fuß zu setzen. Den Franziskanern wurde wegen der Auslösung der Unruhe ein Bußgeld von 200 Sequin 63 auferlegt. Sanderson hingegen musste lediglich 20 Sequin zahlen. Es gab also keine Verfügung des osmanischen Sultans, wonach europäische Pilger sich der Obhut der Franziskaner zu unterstellen hätten. 64 Der lutherische Arzt Leonhard Rauwolf 65 aus Augsburg wie auch der böhmische Reisende Christoph Harant 66 und der protestantische Prediger William Biddulph 67 aus England attestierten 1576 bzw. 1598 und 1601 den Osmanen eine tolerante Nicht-Einmischungspolitik in religiösen Fragen. Rauwolf schrieb in seinem Reisebuch, die Osmanen mischten sich in die Religionsausübung der verschiedenen Gruppen der Christen in Jerusalem nicht ein. Sie ließen sie in Frieden, so lange sie die jährliche Tributzahlung von jeder Kirche erhielten. 68 63 Eine venezianische Goldmünze, die zunächst Dukat hieß, und seit 1284 über 500 Jahre im Mittelmeerraum in Umlauf war und auch von den Osmanen als Goldmünze imitiert wurde. Sequin wird im Italienischen zecchino genannt und stammt von Zecca, dem Ort der venezianischen Münze. Der Begriff zecca kommt vom Arabischen sikka, was so viel wie Münzprägung bedeutet. 64 Firmans Ottomans émanés pour les Lieux Saints ( Jerusalem 1982, ND der Ausgabe von 1934). Auch unter der Mamlukenherrschaft hatte die Kustodie in Jerusalem im Laufe der 14. und 15. Jahrhunderte keine solche Verfügung vorzuweisen. 65 Leonharti Rauwolfen, der Artzney Doctorn, und bestelten Medici z u o Augspurg. Aigentliche beschreibung der Raiß, so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer fürnemlich Syriam, Iudaeam, Arabiam, Mesopotamiam, Babyloniam, Assyriam, Armeniam [et]c. nicht ohne geringe mühe und grosse gefahr selbs volbracht: neben vermeldung vil anderer seltzamer vnd denckwürdiger sachen, die alle er auff solcher erkundiget, gesehen und observiert hat ( Laugingen 1582). 66 Harant, Der christliche Ulysses (wie Anm. 36) S.-430. 67 William Biddulph/ Theophilus Lavender, The travels of certaine Englishmen into Africa, […] (London 1609) S.-119: True it is, that the Turks give liberty of conscience unto all that come thither. But they give not entertainment unto any Christians in their houses. 68 Rauwolf (wie Anm. 65) S.-394-395: Die lässt der Türke zufrieden, ficht es am wenigsten der Religion halber nicht an von ihrem Glauben abwendig zu machen und zu seinem Mahometischen Alcoran zubringen. Sondern lässt sie in guter ruhe sitzen in ihrem Tun und Gottesdienst ungerhindert. Und ist wohl vergnügt wenn er jährlichen gesetzten Tribut empfängt den er fleißig läßt erheischen. Beide Darstellungen werden durch Oded Peris eingehende Untersuchung osmanischer Quellen bestätigt, vgl. Oded Peri, Christianity under Islam in Jerusalem. The Question of the Holy Sites in Early Ottoman Times (2001) S.-161-200. 292 Mordechay Lewy Vielmehr war es der Gouverneur des Sandschak (Distrikt) Jerusalem 69 , der an einer Kontrollfunktion der Kustodie über den europäischen Pilgerstrom interessiert war, da er als Verantwortlicher für die öffentliche Ordnung bei jeglicher vermeintlichen oder tatsächlichen Unordnung die Kustodie zur Verantwortung ziehen konnte. Geld erpressten Wegelagerer und Gouverneure, die sich in Schwächeperioden der Zentralregierung in Istanbul stark genug fühlten, um die Kustodie mit nicht genehmigten Einnahmen zu erpressen. Eine solche Periode begann mit dem Ableben des Sultans Süleyman- I. nach 1566. Über eine misslungene Erpressung berichtete 1586 die franziskanische Chronik des Pietro Verniero. 70 Die Vorschrift, dass jeder Pilger bei seiner Ankunft eine päpstliche bzw. kirchliche Reiseerlaubnis vorzuweisen hatte, da er sonst in den Kirchenbann geriete, war nicht nur eine Kontrollmaßnahme der Kirche, die aus dem 13.-Jahrhundert stammte, sondern war ursprünglich gegen die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit den muslimischen Mächten gedacht. 71 Da dieses Verbot wiederholt nicht eingehalten wurde, konzedierte Papst Martin- V. im Jahr 1420, dass der Guardian jährlich bis zu 100 Absolutionen an Pilger, die ohne päpstliche Lizenz in Jerusalem angekommen waren, vergeben könne. 72 Durch diese Forderung nach einer päpstlichen Pilgerlizenz ins Heilige Land konnte die Kustodie im 16.-Jahrhundert den Eindruck aufrecht erhalten, dass sie ein de facto-Monopol über den Pilgerstrom besitze. Der Ulmer Handelsherr Samuel Kiechel erfuhr 1587 in Venedig, dass er ohne diese Lizenz nicht zu den heiligen Stätten zugelassen würde, daher besorgte er sich vom päpstlichen Legaten in Venedig ein entsprechendes Dokument. 73 Kie- 69 Sancak (Sandschak) ist ein Distrikt einer Provinz (Eyalet) in der Territorialverwaltung des Osmanischen Reichs bis 1867. Jede Provinz war einem Bejlerbej im Rang eines Paschas mit 2 Tughs (Rossschweifen) unterstellt. 70 Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 1, S.-227-229. Der Gouverneur des Sancaks Jerusalem Abusifer wird darin als ein großer Feind bezeichnet, der die Kustodie tyrannisierte und von ihr 7000 Zecchini verlangte. Der Guardian reiste heimlich nach Aleppo, um sich dort bei dem Pascha zu beklagen. Abusifer wurde abgesetzt, ins Gefängnis gesteckt und hatte die Summe zurückzuzahlen. 71 Röhricht, Pilgerreisen (wie Anm. 23) S.-5-6. 72 Die Bulle Martins V. vom 12.- 7.- 1420 ist abgedruckt in Francisci Quaresmii, Elucidatio Terrae Sanctae (Antwerpen 1639) Buch 2, Kapitel 23, Absatz 5, S.-410. Für die Genese und Praxis der apostolischen Lizenzvergabe an Palästinapilger vgl. Gritje Hartmann, Licencia apostolica intrandi terras Sarracenorum et communicandi cum eis. Die päpstlichen Register als Quelle für die spätmittelalterlichen Pilgerfahrten, in: Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung, hg. von Michael Matheus (2012) S.-243-277, hier S.-247-249. 73 Die Reisen des Samuel Kiechel. Aus drei Handschriften herausgegeben von Konrad Dietrich Haszler (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, 1866) S.- 241. Kiechels Jerusalembesuch fand vom 1. bis 9.-März 1588 statt. Konfessionelle Konfrontation 293 chel berichtet, dass der Guardian jeden, der keine päpstliche Lizenz vorweisen konnte, als Lutheraner verdächtigte. Weiterhin drängte der Guardian die Pilger vor dem Besuch der heiligen Stätten, dass sie confessiren und communiciren. 74 Das franziskanische Monopol über die Vergabe der katholischen Pilgerlizenzen wurde auch juristisch von der Kustodie in ihrem innerkirchlichen Konkurrenzkampf gegen die Aktivitäten der Jesuiten in ihrem Jurisdiktionsbereich ausgespielt. Im Jahre 1615 standen zwei französische Jesuiten in Jerusalem unter dem Verdacht, eine nicht genehmigte Niederlassung gründen zu wollen. Wie Verniero zu erzählen wusste, wurden sie vom Guardian unter dem Vorwand, keine päpstliche Pilgerlizenz vorgewiesen zu haben, zu unrecht exkommuniziert. 75 Wir kennen neben John Sanderson auch weitere Fälle von Pilgern, die während ihres Besuchs die Kustodie gemieden haben. Johann Wild wurde 1604 als Landsknecht von den Ungarn, die mit den Osmanen verbündet waren, gefangen genommen und als Sklave verkauft. Er besuchte Jerusalem als Sklave eines muslimischen Herrn. Wild reiste bis 1611 durch den Orient und besuchte Mekka, Medina, die Al-Aksa Moschee und die Grabeskirche in Jerusalem. Er suchte in Jerusalem heimlich den griechischen Patriarchen auf, um sich eine Pilgerbestätigung geben zu lassen. Ein zeitweiliger Übertritt zum Islam muss angenommen werden. Über sein Gebet in der Al-Aksa Moschee schrieb Wild: ich aber betetete in meinem Herzen zu Gott. 76 Während Wild tatsächlich ein Sklave war, hat ein anderer Reisender namens Jürgen Andersen 1649 nur vorgetäuscht, ein Sklave zu sein, als er mit einer Händlerkarawane aus Aleppo ankam. Er hatte sich nämlich als Sklave des syrisch-christlichen Karawanenführers ausgegeben, um das Eintrittsgeld in die Grabeskirche so niedrig wie möglich zu halten. Er konnte nach Zahlung von nur zwei Dukaten weit günstiger als andere Europäer die Grabeskirche besuchen. Andersen hatte aus naheliegenden Gründen den Kontakt mit den Franziskanern gemieden. 77 74 Kiechel (wie Anm. 73) S.-293-294, Zitat S.-294. 75 Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 1, S.-297-302. Dieser gescheiterte Niederlassungsversuch steht in Zusammenhang mit dem gesteigerten französischen Interesse, in Jerusalem Fuß zu fassen. 76 Neue Reysbeschreibung eines Gefangenen Christen / Wie derselbe neben anderer Gefährligkeit zum sibendem Mal verkaufft worden / welche sich Anno 1604. angefangen / und 1611. ihr end genommen […] Auffs fleisigst eigner Person beschreiben vnd außgestanden Durch Johann Wilden … Mit einer Vorrede Herrn Salomon Schweiggers … Gedruckt und verlegt zu Nürnberg / durch Ludwig Lochnern / Im Jahr Christ 1623, S.-133 und 135. 77 Orientalische Reise-Beschreibung: Jürgen Andersen aus Schleßwig/ Der Anno Christi 1644 außgezogen/ und 1650 wieder kommen […] hg. von Adam Olearium (Hamburg 1696) S.-135-136. 294 Mordechay Lewy Liturgische Reibungsflächen Die Forderung der Mönche, vor dem Besuch der Grabeskirche zu beichten und zur Messe zu gehen, hat bei vielen nicht-katholischen Pilgern eine Umgehungstaktik hervorgerufen, um einerseits ihr Bekenntnis nicht zu verleugnen, jedoch andererseits die Grabeskirche besuchen zu können. Diese Zwangslage führte zu einem mehrdeutigen Verhalten, wobei sich Verhaltensmuster wie Notlügen, Verstellungen, Simulation bis hin zur Selbstverleugnung und Indifferenz nachweisen lassen. Viele protestantische Pilger berichteten positiv über die Willkommenszeremonie der Fußwaschung, die vom Guardian und den übrigen Mönchen vollzogen wurde. Auch sonst wurde die franziskanische Gastfreundschaft gegenüber den ankommenden Pilgern gelobt. Der Universalgelehrte und Diplomat Heinrich Wilhelm Ludolf schrieb in seinem Brief an August Herrmann Francke aus Jerusalem, der auf dem 19./ 29. Oktober 1699 datiert ist, wie herzlich er von den Mönchen im Konvent empfangen wurde, noch bevor er ihnen die Empfehlungsschreiben vorzeigen konnte. 78 Es liegt in den Berichten keine Klage über diese Gepflogenheit vor. Sie wird höchstens einmal verschwiegen wie etwa bei dem sonst ausführlich berichtenden Breuning von Buchenbach. Anders verhielt es sich mit der franziskanischen Forderung, vor dem Besuch der Grabeskirche zu beichten und zu kommunizieren. Manchen traf diese Forderung so unvorbereitet wie den Ulmer Samuel Kiechel. Beichte und Kommunion machten ihm viel zu schaffen und dennoch entzog er sich diesen konsequent. Kiechel wurde sowohl im franziskanischen Katharinenkloster in Bethlehem als auch auf Golgotha in der Grabeskirche von Mönchen angehalten, die ihm die Beichte abnehmen wollten. Kiechel tat zunächst so, als ob er deren Sprache nicht verstünde. 79 Sein Ausweichen könnte auch als bewusst eingesetztes mehrdeutiges Verhalten verstanden werden. Der Mönch aus Bethlehem schnappte sich Kiechel abermals in der Grabeskirche, zog ihn zum Hügel Golgatha und insistierte dort darauf, Kiechel die Beichte abnehmen zu wollen. Kiechel antwortete, er könne kein Italienisch und daher würde der Mönch nichts von seiner Beichte verstehen. Kiechel beschrieb das offensichtlich zähe Gespräch apodiktisch: Was sich nun weütter von wort zu wortt were zu melden vül zu lanng, allein verharette ich steüf uf meiner meinung; endlich sprach er mür gleichwohl düe ab- 78 Joachim Tetzner, Briefe H. W. Ludolfs aus Kleinasien und Ägypten am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Der Islam 33 (1958) S.-326-336, hier S.-333: Muß ihre Liebe und Gutthaten ümb so viel mehr rühmen, weil meine Recommendationsschreiben erst fünff Tage nach mir mit meiner Bagage und den Pilgrimmen anckommen. Ludolf wusste damals noch nicht, dass die Mönche in Jerusalem seine Briefe nach Europa abfingen, um mehr über seine Kontakte mit dem griechischen Patriarchen zu erfahren. Siehe auch oben Anm. 13. 79 Kiechel (wie Anm. 73) S.-308-309. Konfessionelle Konfrontation 295 solution, verert ich ime einen halben ducaten, und scheideten also von einander. 80 Es darf also vermutet werden, dass Kiechel am Ende einlenkte und gebeichtet hat. Er blieb in seiner Beschreibung des Gesprächs allerdings mehrdeutig, vor allem um seine Leserschaft davon zu überzeugen, die richtige Gesinnung verteidigt zu haben. Da Kiechel an keinen katholische Messen teilnehmen wollte, erhielt er am Ende seines Aufenthalts keine Pilgerurkunde ausgestellt. Angesichts der wiederholten liturgischen Forderungen seitens der Mönche verstieg sich Kiechel zu der Empfehlung an alle nachkommenden Pilger, wegen des Konfessionskonflikts eine Pilgerfahrt nach Jerusalem nochmals zu überdenken. 81 Salomon Schweigger hatte 1581 mit Hilfe seiner protestantischen Gefährten mit einer sonderbaren Notlüge die Aufforderung des Guardians, zu beichten und zu kommunizieren, abgewehrt. Sie gaben vor, eine Gruppe von Totschlägern zu sein, die ihre Pilgerfahrt als Buße auferlegt bekommen hatten. An der Messe könnten sie daher erst nach vollendeter Buße, also nach Rückkehr in ihre Heimat, teilnehmen. 82 Auch Breuning von Buchenbach wollte zwei Jahre davor, im Jahr 1579, der Aufforderung zu Beichte und Kommunion nicht Folge leisten. Er gab vor, in der Heimat eine Fehde noch nicht beendet zu haben, und daher müsste er bis zu ihrer Befriedung von der Messe ausgeschlossen bleiben. Der Guardian ließ sich von dieser Ausrede nicht beeindrucken. Als der Franziskaner drohte, ihn vom Besuch der Grabeskirche auszuschließen, schrieb Buchenbach, der Guardian habe gar keine Befugnis ihn auszuschließen, da die Muslime und nicht die Mönche die Kontrolle über den Eintritt zur Grabeskirche hätten. 83 Kein anderer protestantischer Pilger brachte diesen richtigen Einwand vor. Dies bezeugt Buchenbachs Gabe, als erfahrener Diplomat politische Kräfteverhältnisse schnell zu erkennen, um zukünftige protestantische Pilger zu warnen, sich nicht von solchen leeren Drohungen beirren zu lassen. Am Ende fand sich ein Kompromiß, indem die Pilger dem Guardian einige Dukaten überließen und 80 Kiechel (wie Anm. 73) S.-314-f., Zitat S.-315. 81 Kiechel (wie Anm. 73) S.-318: Es wüll einem, der nicht catholisch ist […] nach Jherusalem zu reüsen sehr beschwerlich sein: denn costen, müeh und arbeytt, wüe auch düe gevahr und wagnus, so einer zu wasser und landt ausstöhn mues, aller hündan gesözt, ist das gröste der religion halber, dorüber einerr [! ] wol leübsgevahr auszustöhn hatt, nicht der inquisition halber, dann dieselbüge an disen ortten nicht ist, sondern anderer sachen halber, davon alhie zu melden ohn noth. 82 Salomon Schweigger, Eine newe Reyßbeschreibung auß Teutschland nach Constantinopel und Jerusalem (Nürnberg 1608) S.- 289-291. Schweigger gilt als erster lutheranischer Geistlicher, dessen Pilgerreise ins heilige Land dokumentiert ist. Die günstige Quellenlage in Nürnberg nach der Reformation hat eine Anzahl von Studien über Salomon Schweigger und seinen Orientaufenthalt hervorgerufen, vgl. Reichert, Protestanten (wie Anm. 11) S.-56-59. 83 Breuning von Buchenbach, Orientalische Reyß (wie Anm. 17) S.-223. 296 Mordechay Lewy er sich weiterer Drohungen bezüglich ihrer Zukunft in der Hölle enthielt. Die protestantische Pilgergruppe, die mit Jacob Wormbser die Grabeskirche 1561 besuchte, hat den Zugang nicht durch eine Notlüge erlangt, sondern diesen durch finanzielle Zuwendungen erkauft. Nationale und politische Reibungspunkte Verniero erwähnte in seiner Beschreibung der kichlichen Zeremonien,welche Regenten mit wöchentlichen Messen in der Kirche des franziskanischen Konvents bedacht werden sollten. Die Beschreibung, die im Supplement zu seiner Chronik erschien, wurde nach dem Ableben der spanischen Königin Isabella von Bourbon (Oktober 1644) verfasst, wahrscheinlich im Laufe des Jahres 1646. 84 Demzufolge wurde am Donnerstag dem Kaiser eine Heiliggeistmesse gewidmet, am Freitag die Passionsmesse dem französischen König, am Samstag die Messe der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau dem spanischen König gewidmet und am Sonntag wurde eine stille Messe (Messa privata) für die Republik Venedig abgehalten. 85 Diese Anordnung spiegelte die zunehmende Machtposition Spaniens und Frankreichs als katholische Mächte wider, die der Kustodie finanziell und politisch unter die Arme griffen. Gleichzeitig signalisierte die Widmung einer Privatmesse an die Serenissima den abnehmenden Einfluss Venedigs in der Kustodie. Diese liturgisch-nationale Präferenz der Kustodie konnte sich bei Pilgern negativ auswirken, sollte deren Herkunftsland in Kriegshandlungen mit einer der katholischen Mächte verwickelt werden. Nationale Animositäten konnten auch zur Ablehnung der Würde eines Ritters vom Heiligen Grab führen. Der presbyterianische Pilger William Lithgow aus Schottland, der sich in seiner abenteuerlichen Reisebeschreibung als Heißsporn zu erkennen gibt, war an dieser Würde nicht interessiert, da er meinte, infolge des Rittereides für das Wohlergehen des Papstes, des Dogen von Venedig und der Könige von Spanien und Frankreich beten zu müssen. Anhand der überlieferten Beschreibungen der Zeremonie und des Textes des Rittereides von 1519 entbehrten Lithgows Einwände eigentlich jeder Grundlage 86 , denn der Eid enthielt keinen Bezug auf 84 Der terminus a quo der Beschreibung der Zeremonien, die in der Kustodie abgehalten wurden, erschließt sich aus dem Sterbedatum 6.- Oktober 1644 der Regina Isabella, der spanischen Königin Isabella aus dem Hause Bourbon, da die Mönche an jedem Mittwoch eine Totenmesse für ihre Seele abhalten sollten. Vgl. Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 4, S.- 54: In mercordi [= Mittwoch] si canterà per obbligo la Messa per l’anima della Regina Isabella. 85 Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 4, S.-54. 86 Der für das 16. Jahrhundert relevante Inhalt des Rittereides und die Beschreibung der Zeremonie finden sich frühestens im Jahr 1519 in einer spanischen Handschrift des Marquis von Tarifa. Der Titel seiner Reisebeschreibung lautet: Este libro es del viaje que yo, don Konfessionelle Konfrontation 297 die Regenten. Vielleicht hatte Lithgow die Abfolge der Messen für die Regenten in der Konventskirche gemeint. Auch seine Behauptung, der Eid verpflichte dazu, Protestanten als Ungläubige zu bekämpfen, ist weit überzogen, denn mit infideles waren eher Muslime gemeint. Auch dass die Herrschaft des Papstes anerkannt werden müsste, wurde im Rittereid nicht gefordert. 87 Mehrdeutigkeit bei der Verleihung der Ritterwürde George Sandys (1577-1644) schrieb in seinem Reisebuch von 1611, dass in der Vergangenheit keiner, der nicht katholischen Glaubens war, zum Ritter des Heiligen Grabes geschlagen werden konnte. Zu seiner Zeit dürften die Mönche aber bereits jede Person akzeptiert haben, wenn sie ihnen Einkommen versprach. So haben sie etwa auch einen römischen Apotheker während dessen Jerusalembesuchs zum Ritter geschlagen. 88 Diese Tendenz kann man schon 1561 feststellen, als die Ritterwürde an den Sohn des venezianischen Schiffsreeders Viviano verliehen wurde, was einen gewissen Unmut bei adligen und bürgerlichen Pilgern zugleich hervorgerufen hat. Der adlige Bartholomäus Khevenhüller aus Kärnten schrieb, der Ritterschag von Vivianos Sohn habe Verdruss bei Pilgern von Adel erzeugt, da er nur ein Kaufmannssohn sei, aber es regiert der Geiz zu sehr in der Welt dass viel ehrliche Orden in Verachtung khumen. 89 Der bürgerliche Pilger aus Strassburg Jakob Wormbser entrüstete sich ebenso über vnsers Kaufmanns Son / […] welcher gemacht daß sich viel nit wo e llen zu Ritter lassen schlagen / dieweil man gesehen hat / daß sich ein jeder Kra e mer leßt schlagen. 90 Eine Ermahnung von Papst Urban- VIII. aus dem Jahr 1642, nur Adelige zu Grabesrittern zu schlagen, kann als Indiz dafür verstanden werden, dass die Kustodie weiterhin nicht allzu wählerisch bei der Vergabe der Ritterwürde ge- Fadrique Enrique de Rivera, marqués de Tarifa, hice a Jerusalén. Cf. Jean-Pierre de Gennes, Les Chevaliers du Saint-Sepulchre de Jerusalem, Volume 1 (Origines et histoire générale de l’Ordre, 1995) S.-447-449. Der lateinische Text mit deutscher Übersetzung ist in der Reisebeschreibung von Albrecht Graf von Löwenstein 1561 enthalten. Vgl. Albrecht Graf zu Löwenstein, Pilgerfahrt gen Jerusalem, Alkayr In Egypten unnd auff den Berg Synai durch mich Albrechten Graven zu Löwenstein und Herrn zu Scharpffeneck, hg. von Sigmund Feyerabend, Reyßbuch deß heyligen Lands (Frankfurt a. M. 1584) S.-194-195. 87 Lithgow, Adventures (wie Anm. 38) S.-153-154. Vielleicht war ihm schon die eidestattliche Verpflichtung zuviel, die heilige Kirche zu verteidigen. 88 Sandys, Relation (wie Anm. 59) S.-124. 89 Bartholomäus Khevenhüllers Reisebericht wurde nur in einer Zusammenfassung zum Druck gebracht. Vgl. Bernhard Czerwenka, Die Khevenhüller. Geschichte des Geschlechts mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhunderts nach archivalischen Quellen (1867) S.-185-215, hier S.-205. 90 Wormbser, Eigentliche Beschreibung (wie Anm. 35) S.-220v. 298 Mordechay Lewy wesen war 91 , stellte diese doch eine nicht unbeträchtliche Einnahmequelle für die krisengeschüttelte Kasse der Kustodie dar. Die Höhe der Gebühr pro Rittervergabe belief sich 1620 auf 30 venezianische Zecchini, 1688 auf 100 französische Ecu d’Or und 1746 auf 100 Zecchini. 92 Die Verdreifachung des „Eintrittspreises“ innerhalb von 126 Jahren, um die Würde eines Grabesritters zu erlangen, und zeitweilig im Jahr 1688 sogar fast um das Sechsfache, ist nicht einfach als Maximierung der Einnahmequellen der Kustodie zu erklären. Der steigende Geldbedarf der Kustodie angesichts der ständigen finanziellen Auflagen, die der Jerusalemer Stadtkommandant nach Gutdünken festsetzte und das räuberische Verhalten der umliegenden Beduinenclans sollte nicht außer Acht gelassen werden. Dennoch war mit dieser enormen Preissteigerung auch die Absicht verbunden, eine natürliche Auslese derjenigen zu errreichen, die eine Ritterwürde anstrebten. Das Auswahlkriterium verlagerte sich zu jener Zeit allmählich von der adeligen Herkunft auf die finanzielle Leistungsfähgkeit, bzw. waren beide Eigenschaften erwünscht. Konfessionelle Zugehörigkeit war nicht mehr ausschlaggebend. Die Zeremonie der Verleihung der Ritterwürde in der Grabeskirche konnte manchem protestantischen Pilger problematisch erscheinen. Im Text des zu leistenden Rittereides steht nämlich als erste Verpflichtung die tägliche Teilnahme an einer Messe. 93 Als dritte Verpflichtung soll der Ritter die heilige Kirche und deren treue Diener (d. h. den gesamten Klerikerstand einschließlich des Papstes) gegen ihre Feinde und Verfolger verteidigen. 94 Diese Verpflichtungen sind Bestandteil der formellen Weih und Form wie man sie pfleget die Ritter des heyligen Grabs unseres Herren Christi zu machen, die seit 1519 in einer unveränderten Textversion überliefert wird. Hinzu kommt, dass aus dem ebenso mehrfach überlieferten Text der Ritterurkunde, die der Guardian jedem Ritter ausstellte, folgende Vorbedingungen erwähnt werden, die Protestanten schwer akzeptieren konnten. So konnte der Kandidat erst nach vorgangener Beicht und 91 De Gennes, Les Chevaliers (wie Anm. 86) S.-115 und S.-381-382. Die päpstliche Ermahnung ist nicht im Original erhalten. 92 De Gennes, Les Chevaliers (wie Anm. 86) S.-413-415. Da beide Münzen nach ihrem Goldgehalt umgerechnet werden können, ergibt sich bei konstantem Goldgehalt ein Durchschnittsverhältnis von 1 Ecu (6.12 gr) zu 1,75 Zecchino (3.49 gr). Vgl. Marteau, Early 18th century currency conventer, in: http: / / www.pierre-marteau.com/ currency/ converter/ fra-ita.html (Stand 13.05.2018). 93 Albrecht Graf zu Löwenstein (wie Anm. 86) S.- 195: Erstlich sol ein Ritter des heiligsten Grabs alle tag wann er gelegenheit hat / Meß hören. 94 Albrecht Graf zu Löwenstein (wie Anm. 86) S.-195: Zum dritten sol er verbunden seyn / Die heilige Kirche Gottes vnd dero trewe Diener von jhren Feinden vnd Verfolgern zu besch u e tzen vnd nach m o e glichkeit vnderstehen zu erretten. Konfessionelle Konfrontation 299 empfangener Communion zum Grabesritter geweiht werden. 95 Ferner musste er ein wahrhaffte[s] bekenntnis des Christlichen Namens vorzeigen. 96 Diese formellen Bedingungen stehen eigentlich im Gegensatz zu dem, was unter Lutheranern als Messe unter beiderlei Gestalt (sub utraque) gilt im Vergleich zur katholischen Messe, die unter einerlei Gestalt (sub una) vollzogen wird. Es gibt kaum einen theologischen Streitpunkt, bei dem Luther mit der katholischen einerseits sowie mit der zwinglianischen Auffassung andererseits so scharf ins Gericht ging. 97 Man brauchte als Lutheraner kein Theologe zu sein, um seine Auffassung in die Praxis umzusetzen und damit die katholische Art des Abendmahls unter einerlei Gestalt meiden zu wollen. Nach Lucian Hölscher zeichnete sich die bürgerliche Gemeinde in der Frühen Neuzeit als regelrechte „Abendmahlsgemeinde“ aus, durch die sich der Gläubige disziplinieren ließ. 98 Wie verhielten sich nun Mitglieder von solchen lutherischen Abendmahlsgemeinden, die offensichtlich einer eindeutigen konfessionellen Praxis verpflichtet waren, wenn sie als Pilger in Jerusalem die Bedingungen hörten, die man erfüllen musste, um die Ritterwürde zu erlangen? Blieben sie eindeutig in ihrer Ablehnung oder verhielten sie sich mehrdeutig? Wir können ihr Verhalten dank der glücklichen Fügung, dass vier Parallelberichte 99 von derselben Pilgerfahrt im Spätsommer 1561 überliefert sind, näher betrachten. Es sind die Berichte von drei Protestanten: Albrecht Graf von Löwenstein, Bartholomäus Khevenhüller und Jakob Wormbser. Der vierte Bericht stammt von dem Katholiken David Furtenbach. 100 Sie reisten mit einer der größten nachreformatorischen Pilgergruppen, die aus Venedig mit dem Schiffsreeder Viviano auslief. 83 Pilger hat Albrecht Graf von Löwenstein am Anfang seines Reiseberichtes namentlich auf- 95 Albrecht Graf zu Löwenstein (wie Anm. 86) S.-210v. 96 Albrecht Graf zu Löwenstein (wie Anm. 86) S.- 210v; lat. S.- 210: ostendens veram Christiani nominis proffessionem. 97 Jin Ho Kwon, Christus pro nobis. Eine Untersuchung zu Luthers Passions- und Osterpredigten bis zum Jahre 1530 (2008) S.- 120-123. Vgl. die bibliograpischen Hinweise bei Reichert, Protestanten (wie Anm. 11) S.-51, Anm. 50. 98 Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland (2005) S.-79-80. 99 Der klassische Beitrag über Parallelberichte handelt von Pilgerreisen nach Jerusalem, die 1480 und 1494 stattgefunden haben. Vgl. Arnold Esch, Gemeinsames Erleben - individueller Bericht. Vier Parallelberichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, in: Ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart (1994) S.-189-216. 100 Folker Reichert hat diese vier Parallelberichte bezüglich des Ritterschlages bei protestantischen Pilgern verwertet, aber ohne das Verhältnis zwischen konfessioneller Eindeutigkeit und Ambiguität zu berücksichtigen. Vgl. Reichert, Protestanten (wie Anm. 11) S.-48-52. Der fünfte Reisebericht von Adam von Törring stand mir nicht zur Verfügung. 300 Mordechay Lewy gelistet. 101 Die Deutschen unter den Reisenden unterteilten sich laut Löwenstein in drei regionale Reisegruppen: Die erste aus Südwestdeutschland, vor allem aus Schwaben; die zweite aus Österreich und Böhmen und die dritte aus Hessen und dem Rheingau. Hinzu kam eine niederländische Reisegruppe, einige Pilger mit ihren Frauen, und schließlich etliche Kleriker, von denen mehrere schon in Candia (Kreta) oder in Zypern ausstiegen, darunter auch eine schwangere italienische Nonne. Unter den vier Parallelberichten gibt uns Jakob Wormser einen wichtigen Hinweis, wer von den namentlich bekannten Pilgern Protestant war. Der unmittelbare Anlass war die Bildung eines Ausschusses, um sich zu beraten, wie man mit der Aufforderung des Guardians umgehen sollte, beichten und kommunizieren zu müssen. 102 Folgende zwölf Protestanten waren laut Wormbser im Ausschuss: Christoff von Bappenheim / des Reichs Marschalck. 103 Christoff von Loubenberg. Adam von Tho e ringen zum Stein Christoff Veit von Reineck. Eberhart von Bellersheim. Jacob Wormbser der a e ltere . 101 Albrecht Graf zu Löwenstein (wie Anm. 86) S.- 189-189v. Der Reisebericht von David Furtenbach gibt deren Anzahl mit 410 an. Vgl. U. Ulmer, Das Tagebuch des David von Furtenbach aus Feldkirch über seine hl. Land-Fahrt, in: Alemania. Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens 7 (1933) S.-39-53, hier S.-43. Diese Zahl scheint viel zu hoch gegriffen, wahrscheinlich geht sie auf einen Kopierfehler zurück. Der Bericht von Jakob Wormbser zählt 25 deutsche und 15 niederländische Pilger und einige aus anderen Nationen, also etwas mehr als 40 Pilger, vgl. Wormbser, Eigentliche Beschreibung (wie Anm. 35) S.-215. Zum Vergleich registriert Navis Peregrinorum (wie Anm. 28) 32 Pilger (S.-3-4). 102 Wormbser, Eigentliche Beschreibung (wie Anm. 35) S.-218v: Auff solches sind vnnd haben wir vnsere etliche Bilgrim vns zusammen verfu e gt vnd berahtschlaget / als nemlich dieser zweyen Puncten halben / Als Beichten / vnnd das Sacrament vnter einerley gestalt zu empfahen / were vns gar zuwider / vnd nicht nach Christlicher eynsatzung [d. h. die Lutherische Terminologie für den Einsatz des Sakraments des Leibes und Blutes Christi] / wiewol so viel das Beichten belanget / were vns nicht so gar beschwerlich gewest / Aber den Leib vnd das Blut Christi zu empfahen anderer gestalt / denn Christus selbst eyngesetzt vnd befohlen hat / seye vns oder keinem Christen / so die erkenntnis hat / zu thun. 103 Christoph von Pappenheim (1546-1599) ist Calvinist und daher ein entschiedener Gegner der Einsetzung des Abendmahls in einerlei Gestalt. Infolge seiner hier bezeugten Jerusalemfahrt sollte die Interpretation von Heimo Reinitzer bezüglich der calvinistischen Botschaft in dem Pappenheimer Epitaphbild gegen die Wallfahrt nach Jerusalem überdacht werden. Vgl. Heimo Reinitzer, Ausgrenzende Ökumene. Katholisches Jerusalem und evangelische Rechtfertigungslehre auf dem Pappenheimer Epitaphbild, in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. von Bruno Reudenbach (Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg 28, 2008) S.-167- 190. Konfessionelle Konfrontation 301 Bernhart vnd Marx Friedrich von Thüngen / Gevettern. Meinhart von Scho e nberg . Johann Brendel von Homburg. Wolff Huber [Diener von Adam von Thöringen]. Hieronymus Th u e nger [Diener von Bernhart von Thüngen]. Drei Details fallen dabei auf: a. Im Ausschuss sind verschiedene Gesellschaftsschichten vertreten, Adelige neben Bürgern zusammen mit deren Dienern. Vielleicht ist dies Ausdruck dessen, was Hölscher als „Abendmahlsgemeinde“ bezeichnet, in der alle gleich vor Gott und Jesus gestellt sind. b. Es fehlen die Namen von drei Adeligen, die ebenfalls unter die Protestanten zu rechnen sind: Albrecht Graf von Löwenstein, Bartholomäus Khevenhüller und sein Vetter Franz Khevenhüller. Ihre Konfession lässt sich aufgrund ihrer Reiseberichte erschließen. c. Der vierte Protestant ist Heinrich Herman, der bei Graf Löwenstein und Wormbser Schutzsper und bei Furtenbach Sulzberg mit Nachnamen heißt. Von allen vier Reisenden wurde er in den Parallelberichten Milchling genannt. Seine Mitgliedschaft im Ausschuss ist nicht gesichert. Wir können anhand der Aussagen und der zeitlichen Abfolge des Vorgangs bei den Parallelberichten herausfinden, wer unter den Protestanten eine eindeutige und wer eine mehrdeutige Haltung eingenommen hat. Es gab nämlich zwei Phasen der Verhandlung mit dem Guardian und drei Gelegenheiten für diese Gruppe, sich zu Grabesrittern schlagen zu lassen. Hinzu kommt, dass protestantische Pilger, die nicht am Ausschuss teilnahmen, als zögernde Beobachter mehrdeutig abgewartet haben, welches Resultat der Ausschuss für sie erzielen konnte. Diese mehrfachen Verhaltensoptionen boten eine Plattform für eine mehrdeutig bzw. eindeutig ausgeübte Kultpraxis (siehe Tabelle 1), an der die zeitliche Abfolge und die Beteiligung an der Messe und an der Verleihung der Ritterwürde abgelesen werden kann. Alle Ausschussmitglieder lehnten als lutherische Abendmahlsgemeinde die katholische Kommunion ab, wobei sie die Beichte, laut Wormbser, als verhandelbar betrachteten. Alle wollten jedoch die Grabeskapelle besuchen. Über das Verhandlungsresultat wurde Stillschweigen vereinbart, damit kein Aufruhr unter den Mönchen aufkommt. Anders verhielt es sich in der Frage der Ritterwürde. Hier spielte der Zusammenhalt als Abendmahlsgemeinde eine geringere Rolle. Standesbewusstsein, Familientradition und Ehre haben die Haltung mitgeprägt und der Gruppe mehrere Optionen eröffnet. Von den zwölf oben genannten Ausschussmitgliedern sind nur vier zum Ritter geschlagen worden und allen Berichten zufolge auch Milchling, den Wormbser nicht als Ausschussmitglied 302 Mordechay Lewy erwähnte. Vielleicht war er der schlaue Unterhändler mit dem Guardian, den Wormbser als „Gelehrten“ erwähnt. Zwei weitere adelige Protestanten hatten abgewartet und sich später entschlossen, die Ritterwürde anzunehmen. Alle sieben Ritter wurden von Furtenbach namentlich erwähnt. Der achte Protestant, der junge Franz Khevenhüller, hat die Verhandlungen erst gar nicht abgewartet und sich schon bei erster Gelegenheit zum Grabesritter schlagen lassen. Wir wissen nicht genau, ob die standesbewusste Haltung, nicht mit „Krämern“ zusammen die Ritterwürde erlangen zu wollen, bei den anderen Protestanten ausschlaggebend war. Bei dem Reichsmarschall Christoph von Pappenheim mag dies zusätzlich zu seinem calvinistischen Bekenntnis eine Rolle gespielt haben, das ihm eine eher eindeutig ablehnende Haltung vorschrieb. Auffällig ist, dass Wormbser uns nicht den problematischen Inhalt des Rittereides verrät. Seine Bezugnahme, die Messe zu hören und Heyligen zu leben, bedarf einer näheren Erklärung. Im Schwur des Ritters des Heiligen Grabes wird nämlich nicht nur seine Zugehörigkeit zum katholischen Bekenntnis vorausgesetzt. Der Ritter verbürgt sich mit seinem Eid dafür, den Ungläubigen Widerstand zu leisten. Wormbser verschweigt diese Inhalte. Wahrscheinlich hat der Guardian sich überreden lassen, die der Gruppe nicht genehmen Artikel im Eid nicht laut vorzulesen. Ändern konnte er den vom Papst abgesegneten Text aber nicht. Es soll auch hier nicht außer Acht gelassen werden, dass die Verleihung der Ritterwürde eine bedeutende Einnahmequelle für die Kustodie war. Die Spannungen mit den Katholiken in Jerusalem haben sich offenbar bis zu seiner Rückkehr verflüchtigt, denn zurück in Straßburg stiftete Wormbser ein Straußenei aus dem Heiligen Land in einer Fassung mit einer persönlichen Widmung an die Äbtissin Amalia von Oberkirch (1527-1568), die damals dem Benediktinerinnenklosters Saint Jean Saverne (Zabern/ Elsass) vorstand. 104 Es ist ein Kloster, das durchgehend katholisch blieb und sogar zur Zeit der Gegenreformation reüssierte. 105 Geschlechter aus Straßburg pflegten für dieses Kloster zu stiften, und Jacob Wormbser wollte ihnen nicht nachstehen. 106 Wormbsers lutherisches Bekenntnis hat an der standesgemäßen Tradition und am Drang zur gesellschaftlichen Anerkennung durch Geschenke an ein ka- 104 Die Widmungsinschrift zitiert bei Folker Reichert, Albrecht von Löwenstein, miles sancti sepulchri, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 75 (2016) S.- 97-112, hier S.-107 (Anm. 45). 105 Friedhelm Jürgensmeier/ Regina Elisabeth Schwendtfeger, Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und Katholischer Reform 1500-1700, Bd. 1 (2005) S.-51. 106 Anna Rapp Buri, Klosterfleiß im Dienste der Gegenreformation: Die Bildteppiche von St. Johann bei Zabern in Elsaß, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 137 (N. F. 98, 1989) S.-290-326, hier S.-291. Konfessionelle Konfrontation 303 tholisches Nonnenkloster nichts ändern können. Dieses mehrdeutige Verhalten begegnet uns des Öfteren unter protestantischen Pilgern. Fazit Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts prägte das Bild des konfessionellen Zeitalters, demzufolge die Reformation Luthers und die Gegenreformation bis zum Westfälischen Frieden 1648 die Frömmigkeitskultur bestimmten. Angehörige, die sich zu protestantischen und katholischen Konfessionen bekannten, pflegten demnach spannungsgeladene Beziehungen miteinander. Dieses von einem Konfrontationskurs geprägte Bild wurde in den letzten Jahrzehnten aufgeweicht. Die Frömmigkeitskultur nach der Reformation hat sich bei Protestanten nicht abrupt von der mittelalterlichen Frömmigkeit losgelöst. Um es mit den Worten Lucian Hölschers zu sagen: „Die ältere protestantische Frömmigkeitskultur war der katholischen weit ähnlicher als der neueren protestantischen Frömmigkeitskultur seit der Aufklärung, und sie löste sich auch erst sehr allmählich aus deren Formen.“ 107 Die religiöse Mehrdeutigkeit ist also erst im 18. Jahrhundert der klar unterscheidbaren Alternative von protestantischen und katholischen Konfessionskulturen und -identitäten gewichen. 108 Es war folglich auch Mehrdeutigkeit und nicht nur konfessionelle Konfrontation, die gleichzeitig die postreformatorischen Pilgerfahrten nach Jerusalem kennzeichneten. Die vorgelegte Studie bestätigt, dass neben der Konfrontation auch ein großes Maß an Mehrdeutigkeit im religiösen Verhalten in den ersten zwei Jahrhunderten nach der Reformation zwischen den Konfessionen vorherrschte. 107 Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland (2005) S.- 24. Ähnliche Bewertung bei Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (2018) S.-658-661. 108 Lucian Hölscher, Das Interesse am Religionsfrieden übertreibt Homogenität, in: FAZ (28.04.2018). 304 Mordechay Lewy Parallelberichte der Ausschussmitglieder Verlauf Barthel Khevenhüller Löwenstein Wormbser Furtenbach Ausschussaktion am zweiten Tag nach Ankunft. Zunächst Klärung ob an Beichte und Kommunion teilgenommen werden sollte. Beteiligte sich nicht im Ausschuss. Beteiligte sich nicht im Ausschuss. Gehörte dem Ausschuss an und berichtete 109 , wie man den Guardian mit 5 Zecchini überzeugen konnte, keine Kommunion vorzunehmen, aber um Aufsehen zu vermeiden dennoch der Messe beiwohnen sollte. Über den Rittereid wurde offenbar noch nicht verhandelt (S. 219). 109 Wormbser, Eigentliche Beschreibung (wie Anm. 35) S.- 218v-219: Die obgemeldte Personen haben vnter jnen ein Außschusß gemacht / vnnd einem Gelehrten befehl geben / ob er k o e ndte deß Gardians begern abstellen / wo es m u e glich were / de n _ eh wir solches eyngehen wollten / eh wolten wir das H. Grab nit sehen / vnd we n _ wir noch so nah dabey weren / Es ward aber solchs dem Gardian mit gelegenheit vnd zum f u e gli chsten angezeigt / vn gaben demselben / der es anzeigt / etliche st u e ck Golds in die Hand / dasselbe Gold solte er allgemach sehen lassen / wenn er mit dem Gardian redet / denn wir wol wusten / daß sein Hertz sein w u e rde / denn solche Leut dem Gelt geferd seyn. Also g i e ng der Posß an / vnnd ward mit dem Guardian gehandelt auff diese meynung / so viel die Beicht antreffe / were vns nicht viel daran gelegen / Aber den andern Artickel betreffend / nemlich / das Sacrament / were uns nicht zu thun / denn wir vns versehen hetten lassen wie wir von Hauß auß weren gezogen / Deßhalben b a e then wir jhn, er solte vns dessen erlassen / denn so vnser jeglicher wider heim k a e me / so köndten wir solches weder gegen Gott noch gegen den Menschen verantworten / Vnd wie der Guardian solche meynung geh o e rt hatte / vnd das Goldt auch dorneben sahe / wol gedachte solches jhme zust a e ndig seyn würde / hat er vns solches begeren g u e tlich nachgelassen / doch solten wir bey vns dasselbige in der still behalten / vnd nicht viel wesens darauß machen / vnd auch in die Kirch in die Meß gehen / auff daß ander Leut kein (rgernuß ab uns nemmen vnd m o e chten bekommen / Vnd nam also solches Goldt an / denn es waren f u e nff Zeckin / vund es jm wol zu g u e nnen war / denn sie warlich arm sind / Vnd nit viel vbrigs haben / dieweil sie so gar hinder dem T u e rcken ligen. Konfessionelle Konfrontation 305 Verlauf Barthel Khevenhüller Löwenstein Wormbser Furtenbach Aktion vor dem dritten Besuch in der Grabeskirche Deutsche Pilger zeigten sich interessiert Ritter zu werden, wollten sich aber nicht beim Eid verpflichten täglich zur Messe zu gehen. Nachdem sie es dem Guardian gemeldet hatten, hat er im Rittereid diesen Artikel erlassen (S. 206). Wusste nichts vom Resultat der Aktion. Berichtete, 110 dass die Protestanten zu Rittern geschlagen werden wollten, aber gebeten haben, sich lediglich nicht zur täglichen Messe zu verpflichten. Der Guardian hat ihre Bitte berücksichtigt, da er in der Verleihung der Ritterwürde eine Einnahmequelle sah (S. 221). 1. Gelegenheit zum Ritterwerden beim 2. Besuch der Grabeskirche am 3.9. Franz Khevenhüller, als einziger Protestant. Alle anderen sind katholisch: Sigmund Rumpf, Reinprecht v. Gleinitz, Prezewekh v. Wizkhova [! ] 2 Niederländer, Sohn des Reeders Viviano (S. 205). Franz Khevenhüller, Sohn des Reeders Viviano, Psemeck v. Witzkova [! ], Sigmund Rumpf, Remprecht v. Gleynitz Und zwei namentlich genannte Niederländer (S.-194). Berichtet nur den Ritterschlag des Sohnes des Schiffsreeders Viviano mit weiteren nicht genannten Pilgern (S. 220v). 110 Wormbser, Eigentliche Beschreibung (wie Anm. 35) S.-221: Vnd begerten vnser etliche zu Ritter geschlagen werden / vnd zeigten dem Gardian an / wir weren wol zufrieden / daß wir wolten Ritter des heyligen Grabs Christi werden / Aber doch were vns der Eyd / dieweil er etwas beschwerlichs innhielt / in etwas zu wider vnd vnannemlich / Nemlich / die Meß zu h o e ren / vnd Heyligen zu leben / Aber der andern Puncten halben were kein mangel. Vnd so der Herr Gardian vns solcher Artickel wolt erlassen / so weren wir wol zu frieden / Darauff hat uns der Gardian solches gutwillig nachgelassen / Vnd demnach dieselbig Nacht vor tage hat er vns in dem Grab Christi zu Ritter geschlagen. 306 Mordechay Lewy Verlauf Barthel Khevenhüller Löwenstein Wormbser Furtenbach 2. Gelegenheit zum Ritterwerden beim 3. Besuch am 4.9 Protestantische Pilger die Ritter wurden: Mülching, Adam v. Törring, [Bernhart] der v. Tüngen, Christoph Vort [Veit] (S. 206). Adam v. Thüngen [Thöring] ein Beyer, Jacob Wormbser, Bernhard v. Thüngen, Hans Christoph Veit v. Renneck, Heinrich Herman Schutzspergen (Milchling), Willecken v. Entens Frießländer (S. 194v). Zu Rittern wurden geschlagen: Adam v. Thüngen (sonst Thöringen) von Stein, Jacob Wurmbser, Heinrich Herman Schutzspergen (Milchling), Christoff Veit v. Reineck, Willecken v. Eyters (S. 221). Berichtet über 9 Ritter, die der Guardian am 6.9. zum Ritter geschlagen hatte: Albrecht v. Löwenstein, Bartholomäus Khevenhüller, Heinrich Herman von Sulzberg (Milchling), Adam v. Thüngen [Thöringen], Bernhard v. Thüngen, Christoph Veit v. Rieneck, Jacob Wurmser, und 2 nicht genannte Niederländer (S. 47). 3. Gelegenheit Ritter zu werden. Die Nacht von 4. zum 5.9. Nachdem Löwenstein merkte, dass der Artikel des Eides über die Messe wegfiel, wollte auch er Ritter werden und überredete Bartholomäus Khevenhüller mit ihm Grabesritter zu werden (S. 206). Diesen tag / als man Mesß sang / ließ ich Albrecht Graff zu L o e uwenstein / etc. vnd Bartholome Keuenh u e ller / vns beyde / als die letzten mit einander zu Ritter schlagen. (S.-194v). Nicht berichtet. Konfessionelle Konfrontation 307 Anhang 1: Der Anteil der Protestanten in der Navis Peregrinorum - 1601-1695 Jahr Protestanten davon Engländer davon Holländer davon Deutschsprachige davon Franzosen Sonstige Pilger insg. %Protestanten 1601 1 1 47 2.1% 1602 1 1 35 2.8% 1603 1 1 51 1.9% 1604 1 1 68 1.4% 1605 7 2 1 2 2 87 8.0% 1606 5 2 2 30 16.6% 1607 3 1 2 111 51 6.0% 1608 3 3 51 5.8% 1609 9 4 3 2 45 20.0% 1610 3 1 2 65 4.6% 1611 3 2 1 60 5.0% 1612 1 1 112 86 1.1% 1613 0 1 113 60 0 1614 0 21 0 111 Albertus Martinus catholicus Arlegensis absque conf. et com. Bei diesem mehrdeutigen Eintrag ist unklar, warum ein als Katholik bezeichneter Gast ohne Beichte und Kommunion wegging. 112 Vitruvius Bragadenus Venetus. Ein Spross aus dem bekannten venezianischen Geschlecht Bragadino. Im Namenseintrag steht, dass er 8 Tage nach seiner Ankunft Jesus und dem Glauben abtrünnig wurde (renegavit Jesum Christum et fidem). 113 Der Franzose Petrus Salico ist als ereticus angekommen und hat sich in Jerusalem zum Katholizismus bekehrt. Die Chronik von Verniero bezieht sich auf diese Bekehrung und schreibt im erbaulichen Stil: Pietro Salico hat sich gemäß seiner verwerflichen, verabscheuungswürdigen und diabolischen Sekte wie ein wilder Löwe an seine offensichtlich falschen Behauptungen festhaltend den Brüdern widersetzt. Schließlich wurde er von den effektiven Argumenten und fundierten Doktrin der Mönche überzeugt. Von der göttlichen Gnade erleuchtet verwandelte er sich zum sanften Lamm (Übersetzung des Autors aus dem Italienischen). Vgl. Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 1, S.-287. 308 Mordechay Lewy Jahr Protestanten davon Engländer davon Holländer davon Deutschsprachige davon Franzosen Sonstige Pilger insg. %Protestanten 1615 0 1 114 38 0 1616 2 1 1 33 6.0% 1617 4 2 2 115 27 4.8% 1618 7 1 5 1 53 13.2% 1619 10 4 2 3 1 69 14.4% 1620 3 2 1 32 9.3% 1621 1 1 45 2.2% 1622 3 1 2 116 40 7.5% 1623 4 4 31 12.9% 1624 3 1 2 30 10.0% 1625 1 1 28 3.5% 1626 7 1 117 5 1 20 35.0% 1627 3 118 2 1 7 42.8% 1628 0 18 0 1629 0 2 119 19 0 114 Der Böhme Wolfgang Wilhelm Lanninger aus Albernreuten hat sich in Jerusalem von dem lutheranischen Bekenntnis losgelöst (hic respuit sectam Luteri Saxonis). Er wird als Pilger erwähnt bei Röhricht, Pilgerreisen (wie Anm. 23) S.-290-291. 115 Zwei deutsche Pilger haben sich in Jerusalem zum Katholizismus bekehren lassen (reconciliatus hic). Der eine heißt im Pilgerverzeichnis Daniel Daum de Borack Saxo. peregrino heretico da Sassonia. Der zweite wird von Verniero Wenceslav Staroghdin Dinskijn luterano genannt. Vgl. Verniero, Croniche (wie Anm. 27) Bd. 1, S.-315. Beide sind nicht bei Röhricht, Pilgerreisen (wie Anm. 23) erwähnt. 116 Joannes Baurannitz Polonus und Mauritius Petzwitz Danicscanus werden als Ambo discesserunt impenitentes, heretici perversi et indurati beschrieben. 117 Henricus Henrici Groennigensis ex Olandia erat sectae Calviniste. Reconciliatus fuit hic. 118 Zwei deutsche Lutheraner, Blasius Steinhart Alemanus und Jacobus Antonius de Nior und Vehlenstre (? ), haben sich durch die Mönche zur Konversion bewegen lassen. Ein Franzose namens Carolus de Pons Gallus ist in Jerusalem wieder zum Katholizismus bekehrt worden. 119 Ein Franzose aus Lothringen, Claudius Audubri de Barleduc in Lorena, und ein Italiener aus Mailand, Ambrosius de Ambrosini quoniam Oratii Mediolanensis, beide geborene Katholiken, die früher zum Islam übergetreten waren, haben sich in Jerusalem wieder bekehren lassen. Konfessionelle Konfrontation 309 Jahr Protestanten davon Engländer davon Holländer davon Deutschsprachige davon Franzosen Sonstige Pilger insg. %Protestanten 1630 3 2 1 1 120 40 7.5% 1631 1 1 43 2.3% 1632 1 1 18 5.5% 1633 1 1 22 4.5% 1634 1 1 20 5.0% 1635 0 49 0 1636 0 16 0 1637 0 1 18 0 1638 0 11 0 1639 2 2 20 10.0% 1640 2 1 1 121 25 8.0% 1641 3 3 32 9.3% 1642 4 3 1 (1 122 ) 36 11.1% 1643 0 27 0 1644 0 26 0 1645 4 4 26 15.3% 1646 0 7 0 1647 0 14 0 1648 0 17 0 1649 0 15 0 1650 6 123 5 1 24 25.0% 1651 2 1 1 20 10.0% 120 Franciscus Fiorisi Civ[es] Leocatae (Leucate an der Mittelmeerküste bei Perpignan), der früher zum Islam übergetreten ist und sich in Jerusalem wieder zum Katholizismus bekehren ließ. 121 Der Engländer Philippus Lecquelen a Morles Britannus hat sich zum Katholizismus bekehren lassen (reconciliatus). 122 Der Römer Joannes filii Hieronymi, der 40 Jahre als Muslim unter dem Namen Agi Dabris Hakim Sultan lebte, wurde bekehrt und sein Sohn getauft. 123 Erstmals wird 1650 ein Nicht-Katholik als a catholica fide alienus vermerkt. Alle anderen Bezeichnungen sind nicht mehr gebräuchlich. 310 Mordechay Lewy Jahr Protestanten davon Engländer davon Holländer davon Deutschsprachige davon Franzosen Sonstige Pilger insg. %Protestanten 1652 3 2 1 14 21.4% 1653 2 2 22 9.1% 1654 8 5 2 1 22 36.3% 1655 0 24 0 1656 5 5 34 14.7% 1657 4 1 3 37 10.8% 1658 5 1 4 18 27.7% 1659 5 5 16 31.2% 1660 13 10 3 37 35.1% 1661 3 1 2 27 11.1% 1662 0 22 0 1663 23 23 46 50.0% 1664 2 2 12 16.6% 1665 4 1 3 41 9.7% 1666 10 5 1 3 1 39 25.6% 1667 0 35 0 1668 18 15 3 52 34.6% 1669 31 21 7 3 66 46.9% 1670 0 11 0 1671 3 2 1 12 25.0% 1672 7 5 1 1 25 28.0% 1673 11 11 35 31.4% 1674 4 3 1 81 4.9% 1675 6 3 1 2 28 21.4% 1676 6 5 1 25 24.0% 1677 3 1 1 1 21 14.2% 1678 9 9 18 50.0% 1679 3 3 40 7.5% Konfessionelle Konfrontation 311 Jahr Protestanten davon Engländer davon Holländer davon Deutschsprachige davon Franzosen Sonstige Pilger insg. %Protestanten 1680 12 9 3 34 35.3% 1681 5 3 1 1 33 15.1% 1682 7 4 3 18 38.8% 1683 27 20 6 1 62 43.5% 1684 13 9 4 29 44.8% 1685 8 7 1 23 34.7% 1686 8 6 2 36 22.2% 1687 8 8 21 38.1% 1688 6 3 2 1 37 16.2% 1689 4 4 21 19.0% 1690 2 2 18 11.1% 1691 3 3 13 23.0% 1692 1 1 15 6.6% 1693 0 2 0 1694 0 5 0 1695 0 3 0 Total 412 251 75 51 15 20 7129 5.47% Anhang 2: Die gedruckten protestantischen Pilgerberichte 1546 bis 1700 Reisejahr 1546 Wolf Holzwirth (Halle) (1522-1579). 124 1553 Daniel Ecklin (Aarau) (1532-1564): Daniel Ecklin, Reise zum Heiligen Grab. Nach der Druckausgabe Basel von Samuel Apiarius 1575 hg. und erläutert von Max Schiendorfer (2014). 124 Vgl. Anm. 23. 312 Mordechay Lewy 1556 Wolfgang Müntzer von Babenberg (Nürnberg, 1524-1577), Reyßbeschreibung des gestrengen und vesten Herrn Wolffgang Müntzers von Babenberg, Ritters etc. (Nürnberg 1624). Digitalisat Permalink: http: / / mdz-nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12bsb10200068-3 (Stand 10.9.2019). 1561 Jacob Wormbser (Straßburg, gest. 1593): Jacob Wormbser, Eigentliche Beschreibung der Außreysung und Heimfahrt deß edlen und vesten Jacob Wormbsers, hg. von Sigmund Feyerabend, Reyßbuch deß heyligen Lands, Frankfurt a. M. 1584, S. 213r-235r. Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0007/ bsb00074490/ images/ (Stand 10.9.2019). 1561 Albrecht Graf von Löwenstein (Württemberg, 1536-1587), katholisch erzogen, zum lutherischen Bekenntnis vor 1561 gewendet und gegen Ende seines Lebens zum Katholizismus zurückgekehrt: Albrecht Graf zu Löwenstein, Pilgerfahrt gen Jerusalem, Alkayr In Egypten unnd auff den Berg Synai durch mich Albrechten Graven zu Löwenstein und Herrn zu Scharpffeneck, hg. von Sigmund Feyerabend, Reyßbuch deß heyligen Lands, Frankfurt a. M. 1584, S.-189-212v Digitalisat: http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0007/ bsb00074490 / images/ (Stand 10.9.2019). 1561 Bartholomäus Khevenhüller (Kärnten, 1536-1613): Bernhard Czerwenka, Die Khevenhüller. Geschichte des Geschlechts mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhunderts nach archivalischen Quellen (1867) S. 185-215. Digitalisat: https: / / play.google.com/ books/ reader? id=npNAAAAAcAAJ &hl=de&pg=GBS.PR3 (Stand. 21.8.2019). 1565 Christoph Fürer von Haimendorf (Nürnberg, 1541-1610): Christoph Fürer von Haimendorf, Christophori Füreri ab Haimendorf, Equitis Aurati … Itinerarium Aegypti, Arabiae, Palaestinae, Syriae, Aliarumque Regionum Orientalium: Addita est Oratio funebris & carmina exsequialia Piis Manibus Summi Viri Scripta, cum Auctario aliorum eiusdem honori nuncupatorum, (Norimbergae 1621). 125 1565 Johann Helffrich, Leipziger Bürger: Kurtzer vnd War=||haffter Bericht / Von der Reiß aus || Venedig nach Hierusalem / Von dannen || in Aegypten / auff den Berg Sinai, || Vnnd folgends widerumb gen || Venedig […], Leipzig 1578 (VD16 H 1647). 125 Dies ist ein posthumer Nachdruck der ursprünglichen Version aus dem Jahr 1570. Die deutsche Übersetzung vom Jahr 1646 enthält Änderungen, die auch eine nuanciertere protestantische Gesinnung widerspiegeln. Diesen Aspekt müsste eine vergleichende Textstudie klären, was in der vorliegenden Studie nicht möglich war. Konfessionelle Konfrontation 313 1575 Dr. Leonhard Rauwolf (Augsburg, 1535-1596): Leonharti Rauwolfen, der Artzney Doctorn, und bestelten Medici z u o Augspurg. Aigentliche beschreibung der Raiß, so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer fürnemlich Syriam, Iudaeam, Arabiam, Mesopotamiam, Babyloniam, Assyriam, Armeniam [et]c. nicht ohne geringe mühe und grosse gefahr selbs volbracht: neben vermeldung vil anderer seltzamer vnd denckwürdiger sachen, die alle er auff solcher erkundiget, gesehen und observiert hat (Laugingen 1582). 1579 Hans Jakob Breuning von Buchenbach (Schwaben, 1552-1616): Hans Jakob Breuning von Buchenbach, Orientalische Reyß Deß Edlen unnd Vesten Hanß Jacob Breüning von und zu Buochenbach, Strassburg 1612. 1581 Salomon Schweigger (Haigerloch, 1551-1622), Prediger in der kaiserlichen Gesandtschaft in Istanbul: Neue Reysbeschreibung eines Gefangenen Christen / Wie derselbe neben anderer Gefährligkeit zum sibendem Mal verkaufft worden / welche sich Anno 1604. angefangen / und 1611. ihr end genommen / Darinnen außführlich zu finden / die Stätt / Länder vnd Königreich / sampt deroselben Völcker / Sitten und Gebräuch / so viel er in werender Reys gesehen und erfahren. Insbesonderheit von der … Walfahrt von Alcairo nach Mecha / … Item von der Statt Jerusalem / … von der Statt Constantinopel … In IIII. vnterschiedlichen Büchern begriffen / Auffs fleisigst eigner Person beschreiben vnd außgestanden Durch Johann Wilden … Mit einer Vorrede Herrn Salomon Schweiggers … Gedruckt und verlegt zu Nürnberg / durch Ludwig Lochnern / Im Jahr Christ 1623. 1586 Karl von Nützel und Sunderbühl (Nürnberg, 1557-1614): Anton Ernstberger, Die Reise des Nürnberger Patriziers Karl Nützel von Sündersbühl ins Heilige Land 1586, in: Archiv für Kulturgeschichte 46 (1964) S.-28-96. 1588 Samuel Kiechel (Ulm, 1563-1619): Die Reisen des Samuel Kiechel, aus drei Handschriften herausgegeben von Konrad Dietrich Hassler (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart), 1866. 1596 Fynes Morrison (Engländer, 1566-1630): Fynes Moryson, Itinerary, Containing his twelve yeeres travell. Bd. 1 (London 1617) S. 217-241. 1601 John Sanderson (Engländer, 1560-1627? ): The Travels of John Sanderson in the Levant 1584-1602, in: Purchas his Pilgrimes, Contayning a history of the world, in sea voyages, & lande-travells, by Englishmen and others … Some left written by Mr. Hakluyt at his death, more since added, his also perused, & perfected. All examined, abreviated, illustrates w[i]th notes, enlarged w[i]th discourses, adorned w[i]th pictures, and expressed in mapps. In fower parts, each containing five bookes. [Compiled] by Samuel Purchas, Band 2, London 1625, S. 1629-1639. 1601 William Biddulph (Engländer), Prediger im Kontor der englischen Levant Company in Aleppo: William Biddulph / Theophilus Lavender, The travels of certaine Englishmen into Africa, Asia, Troy, Bythinia, Thracia, and to the Blacke Sea And into Syria, Cilicia, Pisidia, Mesopotamia, Damascus, Canaan, Galile, Samaria, Iudea, Palestina, Ierusalem, Iericho, and to the Red Sea: and to sundry other places. Begunne in the yeare of iubile 1600. and by some of them finished in this yeere 1608. The others not yet returned. Very profitable to the help of travellers, and no lesse delightfull to all persons who take pleasure to heare of the manners, governement, religion, and customes of forraine and heathen countries. London 1609. 1601 Henry Timberlake (Engländer, 1570-1625), Schiffskapitän: in: Purchas his Pilgrimes in five bookes, hg. von Samvel Purchas [s. o.], Teil 2, London 1625, S. 1640-1642. 1608 Johan Wild (Nürnberg, 1583-nach 1619): Neue Reysbeschreibung eines Gefangenen Christen / Wie derselbe neben anderer Gefährligkeit zum sibendem Mal verkaufft worden / welche sich Anno 1604. angefangen / und 1611. ihr end genommen / Darinnen außführlich zu finden / die Stätt / Länder vnd Königreich / sampt deroselben Völcker / Sitten und Gebräuch / so viel er in werender Reys gesehen und erfahren. Insbesonderheit von der … Walfahrt von Alcairo nach Mecha / Item von der Statt Jerusalem / von der Statt Constantinopel … In IIII. vnterschiedlichen Büchern begriffen / Auffs fleisigst eigner Person beschreiben vnd außgestanden Durch Johann Wilden Mit einer Vorrede Herrn Salomon Schweiggers Gedruckt und verlegt zu Nürnberg / durch Ludwig Lochnern / Im Jahr Christ 1623. 1611 George Sandys (Engländer, 1577-1644): George Sandys, A Relation of a Journey, London 1621. 1612 William Lithgow (Schotte, 1582-1645), Presbyterianer: William Lithgow, The rare Adventures and painful Peregrinations of William Lithgow, 1632 (ND 1974). 1612-3 Hans Jakob Amman(Schweizer, 1586-1658): Hans Jacob Ammann, Reiss in das Gelobte Land Hrn. Hans Jacob Ammans sel., genant der Thalwyler Schärer, Zürich [1677]-1678. 126 1614 Hieronymus Scheidt (Erfurt, 1594-1651): Hieronymus Scheidt, Kurtze und Warhafftige Beschreibung der Reise von Erffurdt aus Thüringen nach dem gewesenen gelobten Lande und der heiligen Stadt Jerusalem, Erfurt 1617. 126 Ammann kam als Wundarzt in Begleitung des kaiserlichen Gesandten nach Istanbul und machte anschließend die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Er galt später als heterodox und neigte zu einem mystischen Spiritualismus, der ihn im reformierten Zürich mehrmals zum Verhör vor die Obrigkeit brachte. 314 Mordechay Lewy 1615 Arnd Gebhard von Stammer (Sachse), kaiserlicher Obrist, erhängt von Schweden in Wismar 1637 (? ): Arnd Gebhard von Stammer, Morgenländische Reise-Beschreibung, Jena 1671. 1623 Heinrich von Rantzau d. J. (Schleswig, 1599-1674): Heinrich Rantzau, Reise-Buch Auff Jerusalem / Cairo in Aegypten und Constantinopell, Kopenhagen 166). 1636-7 Georg Christoph Neitschütz (Sachse): Georg Christoph Neitschütz, Siebenjährige und gefährliche Welt-Beschauung durch die vornehmsten Drey Theil der Welt Europa, Asia und Africa […], Leipzig 1673. 1649 Jürgen Andersen (Schleswig, 1620-1679): Orientalische Reise-Beschreibung: Jürgen Andersen aus Schleßwig / Der Anno Christi 1644 außgezogen / und 1650 wieder kommen. Und Volquard Iversen aus Hollstein / […]: Sind beyde respective durch Ost-Indien / Sina, Tartarien / Persien / Türckeyen / Arabien und Palestinam gezogen, hg. von Adam Olearium, Hamburg 1696. 1675 Otto Friedrich von der Gröben (Marienwerder / Ostpreußen): Otto Friedrich von der Gröben, Orientalische Reisebeschreibung des Brandenburgischen Adelichen Pilgers Otto Friedrich von der Gröben, Marienwerder 1694. 1682 Cornelius de Bruyn (Holländer, 1652-1712): Cornelius de Bruyn, A Voyage to the Levant. Or Travels in the Principal Parts of Asia Minor, etc., London 1702. 1684 Heinrich Myrike (Wesel). Calvinistischer Prediger der holländischen Gesandtschaft in Istanbul: Hendrik Myrike, Herrn Heinrich Myrike gewesenen Predigers zu Constantinopel, Reyse nach Jerusalem und dem Land Canaan, Itzstein 1720. 1693 Henry Maundrell (Engländer, 1655-1701), Prediger im Kontor der englischen Levant Company in Aleppo: Henry Maundrell, A journey from Aleppo to Jerusalem at Easter, A.D. 1697, Oxford 1703. 1699-1700 Heinrich Wilhelm Ludolf (Erfurt, 1655-1712), Forscher und Diplomat: Joachim Tetzner, Briefe H. W. Ludolfs aus Kleinasien und Ägypten am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Der Islam 33 (1958) S. 326-336. Konfessionelle Konfrontation 315 Wallfahrt und Geographie 317 Wallfahrt und Geographie Zur Raumgeschichte des posttridentinischen Pilgerwesens Rainald Becker Die Wallfahrt gehört zu den herausragenden Praktiken der katholischen Konfessionskultur. 1 Auf keinem anderen Sektor der Frömmigkeitsgeschichte tritt der Unterschied des Katholischen gegenüber dem Protestantischen markanter hervor als in der Frage nach Sinn und Berechtigung der Pilgerschaft. Martin Luther hatte die mit dem Pilgern traditionell verbundene Auffassung einer heilswirksamen Sühnetat verworfen: Vielmehr zeige sich hier der falsche[.] wahn und unvorstand gotlicher gebot. Daher seien alle Umzüge ausztzurotten, Orte, Bilder und Objekte zu poden [zu] verstore[n]. 2 Gegen die religio carnalis, also 1 Die Forschung zum frühneuzeitlichen Wallfahrtswesen zeichnet sich durch anhaltend hohe Produktivität aus - nicht nur in der deutschen, sondern auch in der italienischen und französischen Rezeption. Der bibliographische Überblick muss sich daher auf ein Mindestmaß beschränken. Allgemeine Zusammenhänge sind zu finden bei: Dieter J. Weiss, Katholische Reform und Gegenreformation. Ein Überblick (2005) S.- 177- f.; thematische Synthesen: Michael Fischer, Wallfahrt, in: Enzyklopädie der Neuzeit 14 (2011) Sp.- 586-591; Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter 2 (2006) S.-794-845 (Kap. 4.3: Religiöses Freizeitvergnügen: Die Wallfahrt); Wallfahrten in der europäischen Kultur-/ Pilgrimage in European Culture, hg. von Daniel Doležal/ Hartmut Kühne (Europäische Wallfahrtsstudien 1, 2006); Rendre ses vœux. Les identités pèlerines dans l’Europe moderne (XVIe-XVIIIe siècle), hg. von Philippe Boutry/ Pierre-Antoine Fabre/ Dominique Julia (Civilisations et Sociétés 100, 2000); zum Heiligen Römischen Reich: Wallfahrt und Reformation - Pout’ a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit, hg. von Jan Hrdina/ Hartmut Kühne/ Thomas T. Müller (Europäische Wallfahrtsstudien 3, 2007); Christophe Duhamelle, Le pèlerinage dans le Saint-Empire au XVIIIe siècle. Pratiques dévotionelles et identités collectives, Francia - Frühe Neuzeit/ Temps Moderne 33 (2006) S.-69-96; für einzelne Regionen: Rudolf Leeb, Der Streit um den wahren Glauben - Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: Österreichische Geschichte [13]: Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, hg. von Dems. u. a. (2003) S.- 145-279, hier S.- 276-278; Walter Pötzl, Volksfrömmigkeit, in: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte 2: Von der Glaubensspaltung bis zur Säkularisation, hg. von Walter Brandmüller (1993) S.-871-961. 2 Zitiert nach Hartmut Kühne, Wallfahrt/ Wallfahrtswesen, V. Kirchengeschichtlich, in: TRE 35 (2003) S.-423-430, hier S.-428; ferner Ders., Zwischen Bankrott und Zerstörung - vom Ende der Wallfahrten in protestantischen Territorien, in: Hrdina u.a., Wallfahrt und 318 Rainald Becker einer sich in rituellen Handlungen und körperlichen Anstrengungen vollziehenden Glaubenspraxis, betonte er die ausschließliche Heilsvermittlung durch Jesus Christus, wie sie sich in den Sakramenten von Taufe und Abendmahl, aber auch im Hören auf das Wort Gottes in der Predigt vergegenwärtige. Das Pilgern sei Ausdruck bloßer Werkgerechtigkeit, die den einfeltigen christen verführe und dem Herrn entfremde. 3 Das Gegenmodell dazu bot die Katholische Reform. Das Konzil von Trient (1545-1563) bestätigte die Lehre von der Heilswirklichkeit der Bilder. Damit rehabilitierte das Konzil eine Grundvoraussetzung des Pilgerns, nämlich das Argument, wonach sich im Bild oder Objekt (etwa in Reliquien) die transzendente Realität widerspiegele. Folglich könne der Gläubige durch Bildverehrung an dieser Realität teilnehmen. 4 Trient rettete nicht nur die Tradition, sondern baute sie noch weiter aus. Die Wallfahrt wurde im kanonischen Sinn formalisiert. Das sakramentale Moment rückte stärker in den Mittelpunkt, die Bittgänge standen nun unter der Anleitung eines Geistlichen. Mit begleitender Messe und Beichte bewegten sie sich ganz im liturgischen Rahmen - im Gegensatz zur mittelalterlichen Praxis, die oft nur Segnungszeremonien gekannt hatte. Von der Pastoral massiv propagiert, gewann die Wallfahrt den Charakter einer persönlichen demonstratio catholica, in der Kleriker wie Laien ihr Bekenntnis öffentlich zum Ausdruck brachten. 5 Die tridentinische Wallfahrtskonjunktur erfasste alle gesellschaftlichen Schichten und zeichnete sich durch eine ständeübergreifende Dynamik aus. Als Reformation (wie Anm. 1) S.-201-220; zum theologischen Hintergrund: Graham Tomlin, Protestants and Pilgrimage, in: Explorations in a Christian Theology of Pilgrimage, hg. von Craig G. Bartholomew/ Fred Hughes (2004) S.- 110-125, hier besonders S.- 111-116; aus wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive: Christoph Nebgen, Konfessionelle Differenzerfahrungen. Reiseberichte vom Rhein (1648-1815) (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 40, 2014) S.-97-102. - Siehe jetzt auch Volker Honemann, Martin Luther, das Wallfahren und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Kult, Kunst, und Pilgerverkehr, in: Jakobus in Franken, hg. von Robert Plötz/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 22, 2018) S.-201-222. 3 Zitiert nach Kühne, Wallfahrt/ Wallfahrtswesen (wie Anm. 2) S.-428. 4 Vgl. Philipp Zitzlsperger, Trient und die Kraft der Bilder. Überlegungen zur virtus der Gnadenbilder, in: Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563‒2013), hg. von Peter Walter und Günther Wassilowsky (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 163, 2016) S.-335-372, hier besonders S.-337-347, 360-367. 5 Vgl. Walter Hartinger, Religion und Brauch (1992) S.-99-108; Wolfgang Brückner, Frommes Franken. Kult und Kirchenvolk in der Diözese Würzburg seit dem Mittelalter (2008) S.- 53-111 (Kap. Konfessionsfrömmigkeit zwischen Trienter Konzil und Säkularisation); ferner Jörg Bölling, Zwischen Liturgie und Volksfrömmigkeit. Wallfahrten im Spätmittelalter, in: Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität, hg. von Stefan Böntert (Studien zur Pastoralliturgie 32, 2011) S.-35-63, hier S.-41-44. Wallfahrt und Geographie 319 Element einer frommen Geselligkeit entfaltete sie hohe Anziehungskraft: Adlige Standespersonen wurden von dem individuell verpflichtenden Gedanken der peregrinatio ebenso erfasst wie adlige, bürgerliche oder bäuerliche Gruppen. 6 Verschiedene Faktoren verhalfen den volatilen Vorgängen zu fester institutioneller Struktur, so zum einen die Bruderschaften. Sie waren meist nach Beruf, Herkunft oder Geschlecht gegliedert. Sie sicherten die Wallfahrt infrastrukturell ab, beispielsweise unterstützten sie die Pilger in finanzieller und materieller Weise, etwa durch deren Unterbringung in Hospizen; sie organisierten die Prozessionen im liturgischen Jahreslauf oder kamen über Stiftungen für den Unterhalt von Klerus und Kirchengebäuden auf. 7 Mit dem Beitrag der Orden ist ein weiterer Strukturfaktor benannt. Alte und neue Gemeinschaften entdeckten die Wallfahrt als Chance für die breitenwirksame Katechese. Nach der Existenzkrise des Reformationszeitalters wies die Spezialisierung auf die Pilgerbetreuung den Orden eine neue Legitimation zu. Die von jeher in der Breitenseelsorge tätigen Franziskaner und Dominikaner führten das Feld an. Bei dem im 16.-Jahrhundert entstandenen Kapuzinerorden bestimmte die Pilgerpastoral sogar das Gründungscharisma. 8 Daneben traten die Jesuiten in Erscheinung, zusammen mit den traditionellen Prälatenorden, den Benediktinern, Zisterziensern, Prämonstratensern und Augustiner-Chorherren. Bemerkenswert ist die ausgeprägte Bereitschaft zu ambitionierten Bauprojekten. So setzte sich seit der zweiten Hälfte des 17.- Jahrhunderts der Bau von Wallfahrtskirchen als Kernaufgabe monastischer Investitionspolitik durch. 6 Vgl. Hersche, Muße und Verschwendung 2 (wie Anm. 1) S.-812-814. 7 Vgl. Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.- 73- f.; für regionale Aspekte: Thomas Winkelbauer, Bruderschaft und Wallfahrt im 17. und 18.- Jahrhundert. Niederösterreichische, böhmische und mährische Beispiele für die enge Verbindung zweier Einrichtungen der katholischen Konfessionalisierung, in: Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit in Zentraleuropa, hg. von Elisabeth Lobenwein/ Martin Scheutz/ Alfred Stefan Weiss (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 70, 2018) S.- 117-134; Rebekka von Mallinckrodt, Struktur und kollektiver Eigensinn. Kölner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 209, 2005); Rupert Klieber, Bruderschaften und Liebesbünde nach Trient. Ihr Totendienst, Zuspruch und Stellenwert im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben am Beispiel Salzburg 1600-1950 (Schriftenreihe des Erzbischof-Rohracher-Studienfonds 4, 1999); speziell mit Blick auf die Pflege der „nachtridentinischen Bekenntnisfrömmigkeit“, wie sie sich beispielsweise in der Teilnahme an wallfahrtsähnlichen Prozessionen äußerte: Dieter J. Weiss, Die Corporis- Christi-Erzbruderschaft bei St. Peter. Ein Beitrag zur altbayerischen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte (Aus dem Pfarrarchiv von St. Peter in München 3, 1990) S.-10. 8 Vgl. Matthias Ilg, Die Kapuziner, in: Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500-1700 3, hg. von Friedhelm Jürgensmeier/ Regina E. Schwerdtfeger (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 67, 2007) S.-215-237. 320 Rainald Becker Der Barockkatholizismus brachte gerade diesem Sektor höchstes Interesse entgegen und leistete dabei für die Architekturgeschichte Außerordentliches. 9 Man braucht nur an die besonders bekannten Beispiele zu denken: die Wallfahrtsbasilika von Vierzehnheiligen als Gründung der Zisterzienserabtei Langheim, die Wieskirche, deren Bau von der Prämonstratenserabtei Steingaden gefördert wurde, oder Maria Steinhausen, die Hauswallfahrt der schwäbischen Reichsabtei Schussenried. In allen drei Fällen konnten die Bauherren auf künstlerische Hochprominenz zurückgreifen: in Vierzehnheiligen auf Johann Balthasar Neumann, im Fall der Wies und in Steinhausen auf die Gebrüder Johann Baptist und Dominikus Zimmermann. 10 Territorialität als Merkmal der Wallfahrt Nachdrücklich beeinflusste die tridentinische Reform des Wallfahrtswesens die Sakraltopographie. Neue konfessionelle und politische Determinanten verschoben das geographische Koordinatengefüge, innerhalb dessen sich das Wallfahrtsgeschehen abspielte. 11 Die Veränderung der raumgeschichtlichen Dimension gewann vor allem in zwei Bereichen Virulenz: Erstens wurde sie in der Dezentralisierung der zuvor auf Großzentren wie Rom oder Santiago de Compostela ausgerichteten Wallfahrtslandschaft sichtbar. Der Aufstieg der Nahauf Kosten der Fernwallfahrt entsprach diesem Trend. Die zweite signifikante Entwicklung zeigt sich in der Sakralisierung des Territoriums. Das Pilgern entwickelte einen politischen Zeichencharakter; es wurde zum Träger einer spezifisch katholischen Raumidentität, mit allen Konsequenzen, die das für den Zuschnitt des staatlichen Territoriums haben konnte. Das Aufkommen von Grenzwallfahrten - als Zeugnis für katholische Überzeugungen im Weichbild protestantischer oder muslimischer Herrschaften - verweist auf diesen Um- 9 Vgl. Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.-79-f.; ferner Himmel auf Erden oder Teufelsbauwurm? Wirtschaftliche und soziale Bedingungen des süddeutschen Klosterbarock, hg. von Markwart Herzog/ Rolf Kiessling/ Bernd Roeck (Irseer Schriften N. F. 1, 2002). 10 Zu den genannten Bauwerken im Einzelnen: Peter Ruderich, Die Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt zu Vierzehnheiligen. Eine Baumonographie (Bamberger Schriften zur Kunst- und Kulturgeschichte 1, 2000); Dörte Wetzler, Die Wieskirche als inszenierende Rahmung des Gegeißelten Heilands (2018); Wolfgang Urban, Barockkirche Steinhausen. Bedeutungsfülle von Architektur und Kunst (Kleine Kunstführer, 2015). 11 Entscheidende Impulse für die topographische Forschung kommen vor allem aus der französischen und italienischen Forschung: Topographie du sacré. L’emprise relgieuse sur l’espace, hg. von Alain Dierkens/ Anne Morelli (Problèmes d’histoire des religions 18, 2008); Lieux sacrés, lieux de culte, sanctuaires: approches terminologiques, méthodologiques, historiques et monographiques, hg. von André Vauchez (Collection de l’Ecole française de Rome 273, 2000); La sacra terra. Chiesa e territorio, hg. von Franco Demarchi/ Salvatore Abbruzzese (Saggi percorsi & oltre, 1995). Wallfahrt und Geographie 321 stand. Der ins Politische gesteigerte Bekenntnisanspruch äußerte sich aber auch in dem Brauch, ganze Staaten dem Patronat der Muttergottes zu widmen. In der begrifflichen Gleichordnung von weltlichem Staat und katholischem Habitus - etwa unter den Schlagworten der pietas Austriaca oder pietas Bavarica - fanden diese symbolpolitischen Konstellationen ihren Ausdruck. Diese beiden Punkte verdienen besondere Aufmerksamkeit; sie sollen daher im Folgenden auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse näher betrachtet werden. Neben den deutschen sind vor allem die mittel- und südeuropäischen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, auch deswegen, weil sich hier die tridentinischen Neuprägungen der sakralen Topographie besonders paradigmatisch abzeichnen. Wie bereits angedeutet, lag die bedeutsamste Veränderung gegenüber dem Mittelalter im Niedergang der Fernwallfahrt. 12 Klassische Fernziele wie Jerusalem oder Santiago de Compostela verschwanden zwar nicht völlig aus dem Feld der Pilger, erlitten jedoch massive Einbußen. Gleiches gilt für die Züge im europäischen Binnenraum, etwa die Kölner Heiltumsfahrt zu den Heiligen Drei Königen, deren Teilnehmerkreis sich auf ein regionales Publikum aus der engeren rheinischen Nachbarschaft verengte. 13 Eine Ausnahme blieb jedoch die Romfahrt, die in Verbindung mit der Wallfahrt zur Casa Santa im mittelitalienischen Loreto ihre traditionelle Bedeutung auch während der Frühen Neuzeit bewahren konnte. Neben genuin religiösen Ursachen - Rom als Stadt der Apostelgräber - spielten hier infrastrukturelle Zusammenhänge eine maßgebliche Rolle: Die metropolitane Funktion der Ewigen Stadt als Sitz von Papsttum, Kurie und Bildungseinrichtungen regte die religiöse Mobilität an. Die Romfahrer verknüpften meist geistliches Exerzitium mit weltlicher Absicht, also politischen, geschäftlichen oder gelehrten Interessen. 14 Die Wallfahrt ad limina Apostolorum konnte ebenso elegant wie umstandslos in das Itinerar einer Kavalierstour ad fontes integriert werden, wie zahllose Fürstenreisen in das frühneuzeitliche Italien belegen. 15 12 Vgl. am Schweizer Beispiel: Daniel Sidler, Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560-1790) (Historische Studien 75, 2017) S.-102-106. 13 Vgl. Yuki Ikari, Wallfahrtswesen in Köln vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 46, 2009). 14 Vgl. Romei e Giubilei. Il pellegrinaggio medievale a San Pietro (350-1350), hg. von Mario D’Onofrio (1999); Antje Stannek, Les pèlerins allemands à Rome et à Lorette à la fin du XVIIe et au XVIIIe siècle, in: Pèlerins et pèlerinages dans l’Europe moderne, hg. von Philippe Boutry/ Dominique Julia (Collection de L’Ecole française de Rome 262, 2000) S.- 327-354; für ein regionales Beispiel: Martina Haggenmüller, Als Pilger nach Rom. Studien zur Romwallfahrt aus der Diözese Augsburg von den Anfängen bis 1900 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 18, 1993). 15 Allgemein für das Beispiel der Wittelsbacher: Sabine Kolck, Bayerische und pfalz-neuburgische Prinzen auf Reisen. Kavalierstouren weltlicher und geistlicher katholischer 322 Rainald Becker Gleichwohl entwickelte sich die Nahwallfahrt zu einem Markenzeichen des posttridentinischen Zeitalters. 16 Sie war nicht nur finanziell und logistisch leichter zu bewerkstelligen; ausschlaggebend dafür waren auch die bereits erwähnten konfessionellen und politischen Faktoren. Diese betrafen keineswegs nur das Pilgern allein, sondern wirkten sich auch auf andere Formen des Unterwegsseins aus: die peregrinatio academica oder den wirtschaftlichen Verkehr. Der Zerfall der westeuropäischen Glaubenseinheit infolge der Reformation und die konfessionsstaatliche Aufgliederung des Raums kanalisierten die Pilgerströme auf zweifelsfrei katholisches Gebiet, so wie sich auch angehende Akademiker zunehmend auf die Universitäten ihrer eigenen konfessionellen Couleur konzentrierten 17 , oder Handwerkergesellen ihre Wanderschaft auf konfessionell vertrautem Boden zubrachten. 18 Man kann von einer Territorialisierung oder Prinzen vom Ende des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Vergleich, Diss. Univ. Münster (2009) S.- 220-246; ferner: Gerhard Immler, Die Wittelsbacher und Italien vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Vom Kriegszug zur Kavalierstour, in: Prinzen auf Reisen. Die Italienreise vor Kurprinz Karl Albrecht 1715/ 16 im politisch-kulturellen Kontext, hg. von Andrea Zedler/ Jörg Zedler (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 86 = Spreti- Studien 6, 2017) S.-61-75; Prinzenrollen 1715/ 16. Wittelsbacher in Rom und Regensburg, hg. von Andrea Zedler/ Jörg Zedler (2016); für das habsburgische Beispiel: Elisabeth Garms-Cornides, Fromme Kavaliersreisen? Adelige aus den habsburgischen Erblanden als Rompilger in den Heiligen Jahren 1650 bis 1750, in: Adel und Religion in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie, hg. von Katrin Keller/ Petr Mat’a/ Martin Scheutz (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 68, 2017) 183- 210; zu einzelnen Persönlichkeiten: Britta Kägler, Die Romreise der Prinzen Philipp Moritz und Clemens August von Bayern (1716-1719). Aus den Tagebüchern von Urban Heckenstaller und Maximilian von Schurff, in: Bayerische Römer - römische Bayern. Lebensgeschichten aus Vor- und Frühmoderne, hg. von Rainald Becker/ Dieter J. Weiss (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 2, 2016) S.- 275-320; Alois Schmid, Peregrinatio principis. Die „italienische Raiß“ des Erbprinzen Maximilian-I. 1593, in: Von Bayern nach Italien, hg. von Dems. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 38, 2010) S.-51-72. 16 Vgl. Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.-71-73, 75-f. 17 Vgl. Rainald Becker, Peregrinatio academica. Bayerische Studenten in Italien im Zeitalter des Humanismus, in: Schmid, Von Bayern nach Italien (wie Anm. 15) S.- 73-97; Matthias Asche, Peregrinatio academica in Europa im Konfessionellen Zeitalter. Bestandsaufnahme eines unübersichtlichen Forschungsfeldes und der Versuch einer Interpretation unter migrationsgeschichtlichen Aspekten, Jahrbuch für europäische Geschichte 6 (2005) S.-4-33; allgemein: Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, hg. von Henning P. Jürgens/ Thomas Weller (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 81, 2010). 18 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution (1997) S.- 93-97; ferner Ricarda Matheus, Konversionen in Rom in der Frühen Neuzeit. Das Ospizio dei Convertendi 1673-1750 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 126, 2012) S.-302-306. Wallfahrt und Geographie 323 Regionalisierung des Pilgerverhaltens sprechen, das zudem kriegerisch bedingten Mobilitätshemmungen unterworfen war: Die französischen Religionskriege schnitten den Weg der Deutschen über Frankreich nach Compostela ab. Pilgerstationen auf dem französischen Jakobsweg, etwa Chartres, verloren den regelmäßigen Zuzug aus ihrem deutschen Hinterland. 19 Der Dreißigjährige Krieg ließ alte Pilgerstraßen veröden. Umgekehrt konnte die Wallfahrt durch fremdkonfessionelles Gelände zu einem staatsgefährdenden Akt werden. Als paradigmatischer Fall ist hier der Prozessionsstreit in der schwäbischen Reichsstadt Wörth (Donauwörth) zu erwähnen. Die Tatsache, dass im Jahr 1609 der mehrheitlich protestantische Magistrat der katholischen Minderheit den traditionellen Zug mit einer Kreuzreliquie vom benachbarten Benediktinerkloster Heilig-Kreuz durch die Stadt verwehrte, führte zu einer schweren Krise mit tiefgehenden Folgen. Denn die Auseinandersetzung kostete der Stadt die Reichsfreiheit, weil sich der benachbarte bayerische Landesherr zum Protektor von katholischem Brauch und Bekenntnis in Donauwörth aufschwang. Dabei konnte er die langerstrebte Angliederung der Stadt an Bayern erreichen. Die Episode um die Wörther Kreuzwallfahrt gehört in die unmittelbare Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges. 20 Der explizit konfessionelle Bekenntnischarakter prägte nahezu alle katholischen Wallfahrtslandschaften der europäischen Frühmoderne. Dennoch lassen sich im Einzelnen feine Unterschiede erkennen. Mit der Grenzwallfahrt ist ein besonders charakteristischer Typus zu erkennen. In vielen Fällen gab die religiöse oder konfessionelle Grenzerfahrung den Anstoß für die Wiederbelebung bereits mittelalterlicher Wallfahrtsorte oder die Gründung von neuen Gnadenstätten. 21 Dass dies im konfessionell heterogenen Reich häufig vorkam, ist naheliegend. 22 Beispiele sind hier rasch aufgezählt: Scherpenhoevel im habsburgisch-katholischen Teil der Niederlande, an der Grenze zu den calvinisti- 19 Vgl. Dominique Julia, Le Voyage aux saints. Les pèlerinages dans l’Occident moderne, Xve-XVIIIe siècle (Hautes Etudes, 2016) S.- 171-175; zum Hintergrund: Jean-Marie Constant, Le temps des guerres civiles (1562-1661), in: Histoire de Chartres et du pays Chartrain, hg. von André Chédeville (Pays et villes de France, 1983) S.-195-213. 20 Vgl. Maximilian Lanzinner, Donauwörth. Der bayerische Griff nach der Reichsstadt 1607/ 1608, in: Schauplätze der Geschichte in Bayern, hg. von Alois Schmid/ Katharina Weigand (2003) S.-216-230, hier S.-229; umfassend zu Kloster und Wallfahrt: Heilig Kreuz in Donauwörth, hg. von Werner Schiedermair (1987). 21 Vgl. dazu in systematischer Analyse: Santuari di confine: una tipologia? , hg. von Andrea Tilatti ( 2 2008). 22 Vgl. Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.-85-f.; Ders., Le pèlerinage et les frontières confessionelles dans le Saint-Empire au XVIIIe siècle, in: Dierkens/ Morelli, Topographie du sacré (wie Anm. 11) S.-127-139, hier besonders S.-131-134. 324 Rainald Becker schen Generalstaaten situiert 23 , Telgte im Oberstift des Fürstbistums Münster, in unmittelbarer Nähe zum lutherischen Lippe gelegen 24 , oder der paradigmatische Fall des Eichsfelds, der mitteldeutschen katholischen Enklave, die von den protestantischen Territorien Kursachsen, Kurhannover, Kurbrandenburg und Hessen-Kassel umgeben war. 25 Eine süddeutsche Ausprägung der Grenzwallfahrt zeigt sich im Augsburger Umland. Hier legten sich die Marienorte, die 1602 von den Fuggern gestiftete Kobelkirche bei Westheim mit der frühesten Nachbildung der Casa Santa von Loreto im deutschen Sprachraum 26 , die Wallfahrtskirche Herrgottsruh im bayerischen Friedberg 27 , die Kapellen von Haunstetten und Hochzoll (Maria Alber) 28 , wie ein sakraltopographischer Verteidigungsring um die mehrheitlich protestantische Reichsstadt. Hervorzuheben ist außerdem die Tatsache, dass sich das Phänomen im Osten und Süden Europas wiederholte, so etwa bei der Wallfahrt zur Maria Consolatrix im kroatischen Trsat. Der Gnadenort bei Rijeka spielte für die Genese der Loreto-Wallfahrt eine herausragende Rolle. Der Legende nach bildete er eine Zwischenetappe bei der Translation der Casa Santa durch Engel aus dem Heiligen Land nach Loreto. In der Frühen Neuzeit knüpfte sich an den Ort eine 23 Vgl. Luc Duerloo, Scherpenheuvel-Montaigu. Un sanctuaire pour une politique emblématique, Dix-septième siècle 204 (2008) S.- 423-439; ferner Dieter P.J. Wynands, Das Rheinland als Wallfahrtslandschaft, in: Jakobuskult im Rheinland, hg. von Robert Plötz/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 13, 2004) S.-15-32, hier S.-21. 24 Vgl. zur Kartographie der Telgter Marienwallfahrt: Marcel Albert, Das Einzugsgebiet der Telgter Marienwallfahrt im 18. Jahrhundert, in: 1700 Jahre Christentum in Nordrhein- Westfalen. Ein Atlas zur Kirchengeschichte, hg. von Erwin Gatz † und dems. (2013) S.-74-f. (Nr. 26); ferner Rudolf Suntrup, Frömmigkeit im Dienste der Gegenreformation. Die Begründungen der Telgter Wallfahrt durch Christoph Bernhard von Galen, in: Frömmigkeit - Theologie - Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, hg. von Gudrun Litz/ Heidrun Munzert/ Roland Liebenberg (Studies in the History of Christian Traditions 124, 2005) S.-577-590. 25 Vgl. Christophe Duhamelle, Die Wallfahrt im rekatholisierten Eichsfeld: Wiederbelebung, neue Akzente, konfessionelle Abgrenzung, in: Hrdina u.a., Wallfahrt und Reformation (wie Anm. 1) S.-265-279, hier S.-274-278. 26 Vgl. Yves-Marie Bercé, Lorette aux XVIe et XVIIe siècles. Histoire du plus grand pèlerinage des Temps modernes (Centre Roland Mousnier 48, 2011) S.-265. 27 Vgl. Dieter J. Weiss, Konfessionsgrenze? Friedberg im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform, in: Friedberg. Grenzstadt am Lech, hg. von Alice Arnold-Becker (2014) S.-52-65, besonders S.-57-62; zur Friedberger Wallfahrtslandschaft insgesamt: Robert Böck, Volksfrömmigkeit und Wallfahrtswesen im Gebiet des heutigen Landkreises Friedberg (Schwaben) 1: Von den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1969/ 70) S.-22-79. 28 Vgl. Lucia Longo, L’immagine venerata: l’arte religiosa nei santuari bavaresi, in: Demarchi/ Abbruzzese, Sacra terra (wie Anm. 11) S.-220-264, hier S.-243-f. Wallfahrt und Geographie 325 umfangreiche Wallfahrt an. Er galt als Vorposten (antemurale) der katholischen Christenheit gegen das Osmanische Reich. 29 Ein weiteres interessantes Beispiel bieten die Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von neun Wallfahrtsorten in den oberitalienischen Voralpen. Dazu zählen Ossuccio am Comer See, Ghiffa am Lago Maggiore, Varese, Oropa bei Biella, Varallo und Orta westlich von Verbánia. 30 Die Heiligen Berge gingen in der Regel auf mittelalterliche Ursprünge zurück. Ihre Blütezeit erlebten sie jedoch während des 16. und 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der kirchlichen Erneuerungsinitiativen der Mailänder Erzbischöfe Carlo und Federico Borromeo, die sie gewissermaßen als Bastionen einer spirituellen Grenzmauer gegen den eidgenössischen Protestantismus im Norden auffassten. 31 Die auf dem Muster eines Kreuzwegs aufbauenden Großanlagen bilden sicherlich den Höhepunkt dessen, was im barockkatholischen Europa unter Wallfahrtsarchitektur denkbar war. Sie zeichnen sich sowohl durch spektakuläre landschaftliche Lage als auch durch ein Höchstmaß an künstlerischer Inszenierung aus. Sie sind von den Idealkonzeptionen des 29 Vgl. Luc Orešković, Mesurer le rayonnement d’un centre de pèlerinage: l’exemple de Notre-Dame de Trsat en Croatie Habsbourgeoise (1650-1750), Revue Mabillon. Revue internationale d’Histoire et de Littérature Religieuse/ International Review for Ecclesiastical History and Literature N.S.-20 (2009) S.-229-250, hier besonders S.-235-239. 30 Umfassende Informationen hält das online-Portal des Dokumentationszentrums zu den Sacri Monti in Ponzano Monferrato bereit (Centro di Documentazione dei Sacri Monti, Calvari e Complessi devozionali europei: www.sacrimonti.net, Stand 14.12.2018); außerdem als kartographisch-enzyklopädische Bestandsaufnahme: Atlante dei Sacri Monti prealpini, hg. von Luigi Zanzi/ Paolo Zanzi (2002); bibliographische Repertorien: I Sacri Monti. Bibliografia italiana, hg. von Pier Giorgio Longo/ Danilo Zardin (Bibliografia dei sacri monti, calvari e complessi devozionali 2, 2010); Harald Quietzsch, La Passione nel paessagio/ Passion in der Landschaft. Bibliografia tedesca/ Deutschsprachige Bibliographie, hg. von Johannes Andresen/ Amilcare Barbero/ Guido Gentile (Bibliografia dei Sacri Monti, calvari e complessi devozionali, 2007); Gesamtdarstellungen: Danilo Zardin, I Sacri Monti e la cultura religiosa e artistica dell’Italia moderna, in: I Sacri Monti nella cultura religiosa e artistica del Nord Italia, hg. von Dorino Tuniz (2005) S.- 43-70, 278-f.; Santuari alpini. Oropa e l’Assunta di Varallo, hg. von Vittorio Natale (2010); Franco Cardini, I Sacri Monti nella storia religiosa e culturale dei secc. XV e XVI, in: I Sacri Monti. Itinerari ascetici cristiani/ The Sacri Monti. Ascetic Christian Itineraries, hg. von Dorino Tuniz (Archivio italiano per la storia della pietà 28, 2015) S.-13-23. 31 Vgl. dazu ausführlich mit umfassenden Quellen- und Literaturnachweisen: Pier Giorgio Longo, I Sacri Monti tra „disciplinamento“ e „difesa“ controriformista, in: Tilatti, Santuari di confine (wie Anm. 21) S.- 65-132, hier besonders S.- 67- f.; ferner: Paolo Cozzo, La geografia celeste dei duchi di Savoia. Religione, devozioni e sacralità in uno Stato di età moderna (secoli XVI-XVII) (Annali dell’Istituto storico italo-germanico di Trento. Monografie 43, 2006) S.-128-147; Giancarlo Andenna, Santuari e difesa dei confini politici e religiosi. Il caso lombardo tra Medioevo e prima Età Moderna: Caravaggio e Tirano, in: I santuari cristiani d’Italia. Bilancio del censimento e proposte interpretative, hg. von André Vauchez (Collection de l’Ecole française de Rome 387, 2007) S.-269-297, hier besonders S.-272-f. 326 Rainald Becker barocken Palast- und Städtebaus bestimmt. Man kann von Utopien der Landschaftsgestaltung sprechen. Sie nutzten dafür vielfältige theatralische Effekte. Besonders bemerkenswert sind die krippenartigen Figurenszenarien aus Holz, Stuck und Terrakotta. Die lebensecht nachgebildeten Dioramen erzählen vorzugsweise die Leidensgeschichte Jesu Christi oder die Vita einzelner Heiliger (beispielsweise des Franz von Assisi) nach. Die geradezu multimedial anmutenden Kultlandschaften sollen den Betrachter in die biblische terra sancta zurückversetzen. Durch eigene Bewegung und Nachempfindung soll der Pilger in die heilsgeschichtliche Wirklichkeit eintauchen und die imitatio Christi individuell nachvollziehen können (Abbildung 1). 32 Abbildung 1: Der Sacro Monte von Oropa (Piemont, um 1682), Kupferstich von Joan Blaeu 32 Vgl. Bram de Klerck, Chapter 9: Jerusalem in Renaissance Italy. The Holy Sepulchre on the Sacro Monte of Varallo, in: The Imagined and Real Jerusalem in Art and Architecture, hg. von Jeroen Goudeau/ Mariëtte Verhoeven/ Wouter Weijers (Radboud Studies in Humanities 2, 2014) S.- 215-236; insbesondere für Varallo: Kathryn Blair Moore, The Architecture of the Christian Holy Land. Reception from Late Antiquity through the Renaissance (2017) S.-257-262, 269-f. Wallfahrt und Geographie 327 Doch brachte die Entwicklung nicht nur lokalspezifische Landschaftskonfigurationen hervor. Das Modell der durch Performanz und Architektur, aber auch durch Medialität, gelehrten Diskurs und politische Theorie konstituierten terra sacra konnte auf ganze Staaten übertragen werden. Der katholische Konfessionsstaat inszenierte sich selbst als Abbild der terra sacra. 33 Zusammen mit der Dynastie wurde er als Ganzes der zwischen Himmel und Erde vermittelnden Muttergottes oder dem fürbittenden Landesheiligen bzw. Nationalpatron übergeben. 34 Nicht zuletzt verdichtete sich diese Oblation in zu „Nationalheiligtümern“ ausgestalteten Wallfahrtsorten. Als fortan unverzichtbares topographisches Element katholischer Staatlichkeit übernahmen sie eine identitätsstiftende Funktion für die ideelle Verfassung des Gemeinwesens. 35 Sie wurden zu Schauplätzen offiziöser Frömmigkeitskundgebungen, an der die Obrigkeit zu verschiedenen Anlässen öffentlich teilnahm. Fürstengeburten, existentielle Krisensituationen wie Hungersnöte und Kriege vermittelten solche Gelegenheiten. 36 Der Brauch, durch Sektion entnommene Körperteile von verstorbenen 33 Vgl. zur gelehrten und medialen Aufbereitung des terra sacra-Begriffs für Bayern: Alois Schmid, Terra sacra - terra sancta. Territorium und Kirche in der oberdeutschen Historiographie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession, hg. von Thomas Wallnig u. a. (2012) S.- 21-42; Ders., Die „Bavaria sancta et pia“ des P.-Matthäus Rader SJ, in: Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle, hg. von Chantal Grell/ Werner Paravicini/ Jürgen Voss (Pariser Historische Studien 47, 1998) S.-499-521; außerdem: Matthias Mayerhofer, Kupferstiche im Dienst der politischen Propaganda. Die „Bavaria Sancta et Pia“ des Pater Matthäus Rader SJ (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte 25, 2011) S.-9-28 (Kap. I: Die Bavaria Sancta im historischen Kontext) S.-29-76 (Kap. II: Der Entstehungsprozess der Bavaria Sancta). 34 Vgl. im Kontext der Marienverehrung: Damien Tricoire, Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen (Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 1, 2013) S.-17-21, 71-81, 158-168, 170-179 [frz. Ausgabe: La Vierge et le roi. Politique princière et imaginaire catholique dans l’Europe du XVIIe siècle. Préface de Denis Crouzet (Centre Roland Mousnier 75, 2017)]; für die Landespatrone: Nationalheilige Europas. Katalog zur Ausstellung der Oberösterreichischen Landesmuseen im Schlossmuseum Linz vom 29.- November 2009 bis 5.- April 2010 und im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien vom 20.-Oktober 2010 bis 13.-Februar 2011, hg. von Peter Assmann (Kataloge der Oberösterreichischen Landesmuseen N.S.- 100); Wenzel. Protagonist der böhmischen Erinnerungskultur, hg. von Stefan Samerski (2018). 35 Vgl. exemplarisch für die Wallfahrtsheiligtümer des Hauses Piemont-Savoyen (Oropa, Vicoforte): Paolo Cozzo, Santuari del Principe. I santuari subalpini d’età moderna nel progetto politico sabaudo, in: Per una storia die santuari cristiani d’Italia. Approcci regionali, hg. von Giorgio Cracco (Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento. Quaderni 58, 2002) S.-91-114. 36 Eine nach wie vor gültige Synthese für den bayerisch-österreichischen Raum: Ludwig Hüttl, Marianische Wallfahrten im süddeutsch-österreichischen Raum. Analysen von der Reformationsbis zur Aufklärungsepoche (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte 6, 1985). 328 Rainald Becker Fürsten, etwa das Herz, an Gnadenorten zu bestatten, ist ein weiterer Beleg für den staatstragenden Anspruch der frühneuzeitlichen Wallfahrt. 37 Für das Habsburgerreich drängt sich die bereits erwähnte pietas Austriaca auf. 38 Der von der Dynastie nachdrücklich geförderte Kult stellte eine spirituell wie politisch wirksame Integrationsprogrammatik bereit, mit der das kulturell und ethnisch so divergente Gefüge der Erblande in Einklang gebracht werden konnte. In der Wallfahrt zur Magna Mater Austriae (Alma Mater Gentium Slavorum, Magna Domina Hungarorum) im steiermärkischen Mariazell fand der Herrschaftskult der Habsburger seinen zentralen Referenzpol. 39 Gleichwohl trug das Modell partikularstaatlichen Besonderheiten Rechnung. Den ungarischen und böhmischen Facetten ließ man bereitwillig Raum, nationale Devotionspraktiken um die heiligen Gründerkönige Stephan und Wenzel integrierte man in das gesamtösterreichische Konzept. Die pietas Austriaca stützte sich auf ein geradezu föderal organisiertes System von regionalen Wallfahrtslandschaften. Sie wirkte gleichermaßen zentralisierend (auf die gemeinsame Dynastie) wie dezentralisierend (auf die autochthonen Traditionen vor Ort). 40 Die ebenfalls stark marianisch geprägte pietas Bavarica der bayerischen Wittelsbacher fand unter der Leitfigur der Muttergottes als Schutzpatronin Bayerns 37 Vgl. Armin Dietz, Ewige Herzen. Kleine Kulturgeschichte der Herzbestattungen (1998), hier S.-89-103 (Habsburger) S.-117-122 (Wettiner) S.-123-148 (Wittelsbacher); Walter Michel, Herzbestattungen und Herzkult des 17. Jahrhunderts, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 23 (1971) S.- 121-139, hier besonders S.- 121- f.; außerdem: Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, hg. von Mark Hengerer (2005); Julian Blunk, Das Taktieren mit den Toten. Die französischen Königsgrabmäler in der Frühen Neuzeit (Studien zur Kunst 22, 2011) S.-231-234. 38 Vgl. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock (Österreich- Archiv, 2 1982); ferner Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.-85. 39 Vgl. Robert Born, Mariazell, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, hg. von Joachim Bahlcke/ Stefan Rohdewald/ Thomas Wünsch (2013) S.- 52-66; Wallfahrten der Völker des Donauraums nach Mariazell, hg. von Othmar Pickl (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 47, 2004). 40 Vgl. für Ungarn: Ungarn in Mariazell - Mariazell in Ungarn. Geschichte und Erinnerung. Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Budapest im Museum Kiscell, 28.-Mai-- 12.-September 2004, hg. von Péter Farbaky/ Szabolcs Serfőző (2004); Mariazell und Ungarn. 650 Jahre religiöse Gemeinsamkeit, hg. von Walter Brunner (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 30, 2003); für Böhmen: Marie-Elizabeth Ducreux, Der heilige Wenzel als Begründer der Pietas Austriaca. Die Symbolik der Wallfahrt nach Stará Boleslav (Alt Bunzlau) im 17.- Jahrhundert, in: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Lehmann/ Anne-Charlott Trepp (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152, 1999) S.- 597- 636; zusammenfassend: Dies., Emperors, Kingdoms, Territories. Multiple Versions of the Pietas Austriaca, Catholic Historical Review 97 (2011) S.-276-304. Wallfahrt und Geographie 329 (Patrona Bavariae) ihren Bezugspunkt in Altötting. 41 Vor allem Kurfürst Maximilian war diesem Pilgerort besonders zugetan: Er suchte ihn in den militärischen Existenzkrisen Bayerns während des Dreißigjährigen Krieges auf und verfügte für sich persönlich die Herzbestattung in Altötting. 42 Wie eng sich nationales und religiöses Bewusstsein verbünden konnten, lässt nicht zuletzt das polnische Beispiel der Wallfahrt zur Schwarzen Madonna auf dem Jasna Góra in Tschenstochau deutlich werden. 43 Damit ist die marianische Neuvermessung der posttridentinischen Wallfahrtslandschaft angeschnitten. Bei den soeben genannten Fällen handelt es sich fast ausschließlich um Marienorte. Zwar kam es nur selten vor, dass ältere Herren- und Heiligenwallfahrten systematisch zu Marienwallfahrten umgewidmet wurden. Dennoch stand der gegenreformatorische Neuansatz des Pilgerwesens häufig unter mariologischem Vorzeichen, wobei ältere Kultformen mit neuen marianischen Komponenten verschmolzen. Diese Kombinationsstrategie wurde etwa für den Heiligen Berg von Andechs bestimmend. Hier wurde ein ursprünglich eucharistisches Heiltum - basierend auf dem spätmittelalterlichen Fund von drei konsekrierten Hostien mit Blutmalen - zum marianischen Sanktuarium erweitert. Das spätgotische Gnadenbild - eine Traubenmadonna mit dem Jesusknaben - konnte dabei in den bereits bestehenden Deutungskontext eingebunden werden. Den zeitgeschichtlichen Anlass boten die Schwedeneinfälle in Bayern während 41 Allgemein: Alois Schmid, Vom Westfälischen Frieden bis zum Reichsdeputationshauptschluss: Altbayern, in: Brandmüller, Handbuch (wie Anm. 1) S.-293-356, hier besonders zur pietas Bavarica S.-304-316; ferner folgende Spezialuntersuchungen: Gerhard P. Woeckel, Pietas Bavarica. Wallfahrt, Prozession und Ex voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobrunn, Altötting und der Landeshauptstadt München von der Gegenreformation bis zur Säkularisation und der „Renovatio Ecclesiae“ (1992); Joachim Schmiedl, Dynastische Marienfrömmigkeit. Die Wittelsbacher in der Frühen Neuzeit, in: Maria als Patronin Europas. Geschichtliche Besinnung und Vorschläge für die Zukunft, hg. von Manfred Hauke (Mariologische Studien 20, 2009) S.-119-138; Helga Czerny, Die Wittelsbacher und der Wallfahrtsort Altötting. Tradition und Traditionsbildung im bayerischen Herrscherhaus (2018). 42 Vgl. Czerny, Wittelsbacher (wie Anm. 41) S.-156-215; Dietz, Ewige Herzen (wie Anm. 37) S.-128; ferner Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573-1651 (1998) S.-1106, außerdem zur stark auf Altötting ausgerichteten Pietas Maximilianea S.-289, 292-f.; Woeckel, Pietas Bavarica (wie Anm. 41) S.-46-66. 43 Vgl. Agnieszka Gąsior, Tschenstochau, in: Bahlcke u.a., Religiöse Erinnerungsorte (wie Anm. 39) S.-136-148; Aleksandra Witkowska, The Cult of the Jasna Góra Sanctuary in the Form of Pilgrimages till the Middle of the 17th Century, Acta Poloniae historica 61 (1990) S.-63-90. 330 Rainald Becker des Dreißigjährigen Krieges. Dabei war die Muttergottesstatue als Garantin für Schutz und Frieden stark in das Bewusstsein der Bevölkerung getreten. 44 Plausibilität als Vorbedingung für das Pilgern Die posttridentinische Kirche erreichte mit der Reaktivierung des Wallfahrtswesens eine veritable Massenmobilisierung von Menschen und Ideen. Tatsächlich kann man deren Wirkungsgrad in konkrete Zahlen fassen. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts nahmen mehr als 100.000 Pilger pro Jahr an der Loreto-Wallfahrt teil, obwohl infolge der Aufklärung bereits eine extrem wallfahrtskritische Stimmung unter dem Klerus Platz gewonnen hatte. 45 Bei der 1735 erfolgten Translation des Gnadenbilds in die neu errichtete Wallfahrtskirche Maria Steinhausen waren mindestens 20.000 Gläubige anwesend. 46 Dabei ist zu bedenken, dass die Wallfahrtseuphorie wirtschaftsgeschichtliche Auswirkungen zeitigte. Als Teil eines touristischen Geschehens erzeugte sie ökonomische Raumeffekte; diese äußerten sich etwa im Anwachsen von Pilgerhotellerie und Transportgewerbe. Die aufwendigen Sakralbauten, die im Zusammenhang mit dem Wallfahrtsaufschwung entstanden, brachten zahlreiche Bau- und Kunsthandwerker in Lohn und Brot. Zugleich erforderten sie beträchtlichen Kapitaleinsatz, der nur über die Stiftungen und Spenden der Gläubigen aufzubringen war. 47 Wie lässt sich also die Erfolgsgeschichte der frühneuzeitlichen Wallfahrt erklären? Die jüngere Forschung präsentiert vor allem herrschaftstheoretische Überlegungen. Stark verallgemeinernd lassen sich zwei unterschiedliche (indes 44 Vgl. Toni Aigner, Das Andechser Heiltum. Religion und Politik im Haus Wittelsbach (Edition Andechs 6, 2013), hier vor allem S.-180-186, 191-197. 45 Vgl. Dominique Julia, Pour une géographie européenne du pèlerinage à l’époque moderne et contemporaine, in: Boutry/ Julia, Pèlerins (wie Anm. 14) S.- 3-126, hier S.- 46- 48; ferner Carlo Pongetti, Libri di viaggio e viaggiatori. Considerazioni geografiche sull’organizzazione territoriale lauretana, in: Pellegrini verso Loreto, hg. von Floriano Grimaldi/ Katy Sordi (Studi e testi N.S.-21, 2003) S.-361-387, hier S.-375. 46 Vgl. Christine Riedl-Valder, Johann Baptist und Dominikus Zimmermann. Virtuose Raumschöpfer des Rokoko (kleine bayerische biografien, 2017) S.-104; weitere Daten zur Pilgerfrequenz für verschiedene deutsche Wallfahrtsorte im 18. Jahrhundert bei Duhamelle, Saint-Empire (wie Anm. 1) S.-69-f. 47 Vgl. für die westeuropäische und transatlantische Dimension: L’Economie des dévotions. Commerce, croyances et objets de piété à l’époque moderne, hg. von Albrecht Burkardt (Histoire, 2016); für Beispiele aus Österreich und Süddeutschland: Elisabeth Lobenwein, Wallfahrt - Wunder - Wirtschaft. Die Wallfahrt nach Maria Luggau (Kärnten) in der Frühen Neuzeit (2013); Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten, hg. von Klaus Herbers/ Peter Rückert ( Jakobus-Studien 18, 2009). Wallfahrt und Geographie 331 eng miteinander verschränkte) Erklärungsansätze erkennen: Das erste Modell geht von einem durchgängigen Prozess der Sozialdisziplinierung aus. In dessen Folge sei die Wallfahrt - wie andere Frömmigkeitspraktiken auch - von den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten als Instrument subtiler Massensteuerung entdeckt worden. Der Brauch habe somit den Charakter einer absolutistischen Herrschaftstechnik angenommen; er sei daher als ebenso wirkungsvolle wie kennzeichnende Konstituente des State Building im Bereich katholisch-fürstenstaatlicher Machtausübung anzusprechen. Eine klassische Ausformulierung hat diese These in Werner Freitags Beobachtungen zur Wallfahrt von Telgte gefunden. 48 Die zweite Theorie sieht die Wallfahrt ebenfalls in das Kommunikationsgefüge um Macht und Ordnung hineingestellt. Freilich stehen bei der insbesondere von Rebekka Habermas 49 vertretenen Position die Vorzeichen in umgekehrter Ausrichtung: In der Wallfahrt finde nicht so sehr der obrigkeitliche Machtwille seinen Ausdruck; vielmehr bringe sich hier der Oppositionsgeist der Beherrschten zur Geltung. Mit ihrem Beharren auf magischen Praktiken und devianten Weltbildern (Stichwort „Aberglauben“) hätten sich die Untertanen einen ideellen Frei- und Verfügungsraum geschaffen. Das Volk habe damit das rationalistische Deutungs- und Orientierungskalkül der kirchlichen und politischen Eliten lange Zeit erfolgreich unterlaufen - zumindest bis zu den Wallfahrtsverboten der Aufklärung, die dementsprechend als endgültige Durchsetzung des zweckrationalistisch basierten Obrigkeitsstaats zu interpretieren wären. Um es auf den Punkt zu bringen: Die demonstratio catholica sei in Wirklichkeit eine demonstratio populi gewesen. Gewiss dürften diese Erklärungsversuche für einen Teil der Wirklichkeit zutreffen. Dass der Wallfahrt eine mobilisierende Rolle für gesellschaftliche Formierungsprozesse zukam, ob nun von oben gesteuert oder von unten lanciert, ist kaum von der Hand zu weisen. Die soeben beschriebenen Befunde zur frühneuzeitlichen „Staatsfrömmigkeit“ (pietas Austriaca, pietas Bavarica) liefern anschauliche Belege für diese Forschungsauffassung. 50 Auf das Ganze gesehen müssen diese Deutungsmuster jedoch unbefriedigend bleiben - nicht nur, weil sie das komplex zwischen religiösen, sozialen und materiellen Impulsen 48 Vgl. Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 29, 1991). 49 Vgl. Rebekka Habermas, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit (Historische Studien 5, 1991). 50 Vgl. dazu zuletzt auch Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie ( 4 2017) S.-575-583. 332 Rainald Becker changierende Pilgerphänomen deterministisch auf einen bloßen Herrschaftsmechanismus reduzieren, sondern auch, weil sie das individuelle Movens der Gläubigen übersehen. Vor allem fehlt der Bezug zu deren intellektueller Perspektive. Dabei ist doch klar, dass der Aufschwung der Wallfahrt - zumal nach der vernichtenden Kritik der Reformatoren - ohne kohärente philosophische und theologische Begründungen kaum auskommen konnte. Es wäre wohl zu kurz gegriffen, wenn man sich die Pilger von Loreto, Vierzehnheiligen oder Varese wahlweise als willfährige Marionetten oder aufmuckende Revolutionäre unter permanent disziplinierenden Autoritäten vorstellen wollte. Dass sich jemand auf den beschwerlichen Weg machte, konnte auch nicht nur Ausfluss reiner Sensationsgier oder lediglich der Sucht nach Magischem geschuldet sein. Aus der Perspektive des in frommer Absicht aufbrechenden Pilgers musste sich die Hoffnung auf persönliche Gottesbegegnung, dem Kernziel seiner Reise, mit rationalen Erwägungen verbinden lassen. Der Impetus musste an Plausibilität geknüpft sein. Ob und inwieweit ein Pilger des 17. oder 18.- Jahrhunderts tatsächlich Transzendenzerfahrungen machte, solche Sinnschichten lassen sich mit den methodischen Möglichkeiten deskriptiver Empirie - den Beschränkungen, denen historisches Arbeiten notwendigerweise unterliegt - nicht erfassen. Wohl aber liefert die Kategorie der Plausibilität einen Ansatz, aus dem sich neue Fragen ableiten lassen: Mit welchen Argumenten wurde das Wallfahren propagiert? Wie erfolgreich konnten solche Überzeugungsstrategien sein? Im Mittelpunkt steht somit das Problem des religiösen Wissens; es geht um die epistemischen Bedingungen, unter denen die Wallfahrt als legitime und rational begründbare Glaubenspraxis vom Einzelnen wie von Gruppen angenommen werden konnte. Tatsächlich gab es solche Plausibilisierungsversuche. Sie begründeten den Wert des religiösen Unterwegsseins nicht nur mit dem Hinweis auf Offenbarung und Tradition, dem biblischen Exemplum oder asketischen Frömmigkeitsideal. Vielmehr verteidigte man die Wallfahrt mit gelehrten Argumenten, wobei der historisch-geographischen Kategorie besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Das Räsonnement begab sich auf die Ebene der intersubjektiven Überprüfbarkeit; man versuchte dem Erwartungshorizont einer zunehmend auf empirische Beglaubigung pochenden Wissensgesellschaft entgegenzukommen. 51 Für die posttridentinische Wallfahrtsgeschichte ist der Rekurs auf wissenschaftliche Autorisierung maßgeblich. Es ging nicht um ein starres Repetieren des Herkommens, sondern um dessen produktive Bewahrung bei gleichzeitiger 51 Vgl. Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, hg. von Richard van Dülmen/ Sina Rauschenbach (2004); Helmut Zedelmaier, Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung (Historische Wissensforschung 3, 2015). Wallfahrt und Geographie 333 Anwendung zeitgemäßer Methodologien. Die Barockfrömmigkeit betrieb gewissermaßen die Theoretisierung des Wallfahrens. Mit ihrem Zug zur Theorie übertraf sie alle älteren Bestrebungen, der Pilgerschaft eine intellektuelle Ordnung zu geben - sei es durch lehramtliche Aussagen, katechetische Auslegungen oder handbuchartige Kompendien in Gestalt von Pilgerführern und Mirakelbüchern, wie es sie bereits im Mittelalter gegeben hatte, etwa nach dem stilbildenden Muster der Romführer („Mirabilia Urbis Romae“). 52 Jesuitengeographie im Dienst der Wallfahrt In Süddeutschland taten sich zwei Jesuiten als Protagonisten dieser verwissenschaftlichten Wallfahrtskonzeption hervor: Wilhelm von Gumppenberg (1609- 1675) und Heinrich Scherer (1628-1704). 53 Ihr Interesse galt in erster Linie der Geographie der marianischen Gnadenstätten. Die Beobachtungen der beiden Ordensgelehrten gingen weit über den engeren europäischen Horizont hinaus; Gumppenberg und Scherer dehnten ihre Betrachtungen systematisch auf den asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Raum aus. Die Missionseuphorie der tridentinischen Kirche, das universale Kommunikationsnetzwerk der global tätigen Orden (insbesondere der Jesuiten), nicht zuletzt die naturkundliche Hochkonjunktur des 17.-Jahrhunderts mit ihren Schwerpunkten auf Sprachen, Mathematik und Kartographie, alle diese Faktoren wirkten sich günstig auf publizistische Großprojekte im Sinn der „Mariano-topographies“ (Annick Delfosse) aus. 54 52 Vgl. Nine Robijntje Miedema, Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Die „Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae“ (deutsch/ niederländisch). Edition und Kommentar (Frühe Neuzeit 72, 2003); für die literarischen Ausprägungen der Gattung in Bayern: Eva Brugger, Gedruckte Gnade. Die Dynamisierung der Wallfahrt in Bayern (1650-1800) (2017); ferner Hermann Bach, Mirakelbücher bayerischer Wallfahrtsorte. Untersuchung ihrer literarischen Form und ihrer Stellung innerhalb der Literatur der Zeit (1963); für das umfassend erforschte Frankreich: Bruno Maës, Les livrets de pèlerinage. Imprimerie et culture dans la France moderne. Préface de Philippe Martin (Histoire, 2016); Ders., Imprimerie, Renaissance et modernité: l’apparition des livrets de pèlerinage aux XVe et XVIe siècles, in: La Renaissance en Europe dans sa diversité 2: Les savoirs, les savoir-faire et leurs transmissions, hg. von Patrizia Gasparini (XVIe-XVIIe siècles en Europe 21, 2015) S.-45-62; Ders., Les livrets de pèlerinage de la réforme catholique: héritiers du concile de Trente ou médiateurs d’une civilisation nouvelle? , in: Annales de l’Est 63 (2013: Numéro spécial: Héritages) S.-213-227. 53 Vgl. zur paradigmatischen Rolle der beiden Jesuiten für die frühneuzeitliche Theoriebildung um den „espace sacré“: Dominique Julia, Sanctuaires et lieux sacrés à l’époque moderne, in: Vauchez, Lieux sacrés (wie Anm. 11) S.-241-295, hier besonders S.-252. 54 Vgl. Annick Delfosse, La „Protectrice du Païs-Bas“: stratégies politiques et figures de la Vierge dans les Pays-Bas espagnols (Eglise, Liturgie et Société dans l’Europe moderne 2, 2009) S.- 38-43; außerdem: Marie mondialisée. L’Atlas Marianus de Wilhelm Gumppenberg et les topographies sacrées de l’epoque moderne, hg. von Olivier Christin/ Fabrice Flückiger/ Naïma Ghermani (2014); Naïma Ghermani, Zwischen Wunder und 334 Rainald Becker Intellektuell waren die Jesuitenautoren bestens auf ihre Aufgabe vorbereitet: Der aus einem altbayerischen Adelsgeschlecht stammende Gumppenberg konnte eine wissenschaftlich-pastorale Doppelkarriere als Prediger und Pönitentiar in Regensburg, im schweizerischen Fribourg, im vorderösterreichischen Freiburg, zudem in München und Rom sowie als Professor an den verschiedenen Kollegien und Universitäten der Oberdeutschen Ordensprovinz vorweisen. Er lehrte in Augsburg, Landsberg am Lech, Ingolstadt und Trient. 55 Scherer nahm seinen akademischen Werdegang ebenfalls über das engmaschige Ausbildungssystem der Societas Jesu: Zunächst Student in Dillingen, dann Prinzenerzieher am Hof von Mantua, unterrichtete er zuletzt an den Kollegien von Dillingen und München. 56 Gumppenberg strebte eine enzyklopädische Erfassung aller um 1650 ermittelbaren Marienheiligtümer an. Sein zweibändiger „Atlas Marianus“ erschien 1657 in Ingolstadt und München, und zwar zuerst in lateinischer Sprache (Abbildung 2). 57 Weitere Auflagen folgten in raschen Intervallen. Noch 1657 wurde eine editio secunda und tertia der lateinischen Fassung auf den Markt gebracht, außerdem eine deutschsprachige Version, die auf einer Übersetzung durch den Altöttinger Jesuiten Maximilian von Wartenberg beruhte. 58 1659, 1672 und 1673 erlebte das Werk neue, zum Teil umfangreich ergänzte Auflagen. 59 Vernunft. Der „Atlas Marianus“ des Jesuiten Wilhelm von Gumppenberg, Zeitschrift für Historische Forschung 40 (2013) S.-227-255. 55 Vgl. zur Biographie: Siegfried Hofmann, Gumppenberg, Wilhelm von, SJ, in: Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München 1: Ingolstadt-Landshut 1472- 1826, hg. von Laetitia Boehm u. a. (Ludovico Maximilianea: Forschungen 18, 1998) S.-161-f. 56 Vgl. zur Biographie: Rainald Becker, Überseewissen in Süddeutschland. Gelehrte Publizistik und visuelle Praxis im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert, hg. von Marian Füssel/ Philip Knäble/ Nina Elsemann (2017) S.-243-276, hier S.-263-f.; Ders., Rußland in der süddeutschen Gelehrtenkultur des Humanismus und Barock, in: Bayern und Rußland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen, hg. von Alois Schmid (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 42, 2012) S.- 259-287, hier S.- 276- f. (jeweils mit weiterer Literatur). 57 Wilhelm von Gumppenberg, ATLAS || MARIANVS || SIVE || DE IMAGINIBVS || DEI- PARAE || PER || ORBEM CHRISTIANVM || MIRACVLOSIS […], 2 Bde. (1657) (zur Ingolstädter Ausgabe bei Georg Hänlin: VD17 12: 11875X, 12: 118357Z, zur Münchner Ausgabe bei Johann Jäcklin und Lukas Straub: VD17 12: 118399R, 12: 118403S, www.vd17.de, Stand 18.12.2018). 58 Wilhelm von Gumppenberg/ Maximilian von Wartenberg (Übers.), MARIANISCHER || ATLAS || Das ist || wunderthätige Mariabilder || So in || Aller Christlichen Welt || mit || WunderZaichen berhüembt […], 2 Bde. (1657). - Die deutsche Fassung ist mit einer französischen Übersetzung ediert worden: Nicolas Balzamo/ Olivier Christin/ Fabrice Flückiger (Bearb.), L’Atlas Marianus de Wilhelm Gumppenberg. Edition et traduction (2015). 59 Vgl. Laurent Auberson u. a., L’Atlas Marianus - l’édition critique, in: Balzamo/ Christin/ Flückiger, Atlas Marianus (wie Anm. 58) S.-31-39, hier S.-32-34; ferner Annick Del- Wallfahrt und Geographie 335 Abbildung 2: Wilhelm von Gumppenberg, Atlas Marianvs (wie Anm. 57), Titelblatt Abbildung 3: Heinrich Scherer, Atlas Marianus (wie Anm. 62), Titelblatt Gumppenberg gab einen Standard vor, der für die Gelehrsamkeit künftiger Generationen maßgeblich werden sollte - nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch im europäischen Kontext. Unter dem Vorzeichen der katholischen Reform wurde der Ingolstädter „Atlas Marianus“ zum Motor eines wissenschaftlichen Transfers mit Ausstrahlung insbesondere in den süd- und mitteleuropäischen Raum hinein. Die Topographie des bayerischen Jesuiten traf einen Nerv der Zeit. Sie fand Nachfolger in Italien, Spanien, Polen, Böhmen und Mähren, vor allem aber in Ungarn. So wählte sich der ungarische Magnat und Palatin Paul Esterhazy (1635-1713) Gumppenberg zum Vorbild. Der gleichermaßen musikalisch wie literarisch interessierte Aristokrat ließ während der 1690er Jahre auf Anregung der Jesuiten von Tyrnau (Nagyszombat/ Trnava) in der heutigen Slowakei eine Reihe von mariologischen Traktaten drucken. Aus dem Textcorpus ragt die ungarische Übertragung des „Atlas Marianus“ („Az egesz vilagon“) von 1690 heraus. 60 Konzeptionell orientiert sie sich weitgehend am Ingolstädter Muster; inhaltlich ist sie jedoch um Hinweise auf die ungarische Marientopofosse, L’Atlas Marianus, une entreprise collective, in: Christin u.a., Marie mondialisée (wie Anm. 54) S.-133-144. 60 Pál/ Paul Esterházy/ Esoras (de Galántha), AZ EGESZ || VILAGON LEVÖ || CSVDALATOS BOLDOG- || SAGOS || SZÜZ || KEPEINEK RÖVI- || DEDEN […] (1690). - Vgl. dazu Gábor 336 Rainald Becker graphie erweitert. Ebenfalls der Ingolstädter Anregung verdankten sich die „Litaniae ad Beatam Virginem Mariam per totius mundi miraculosas imagines“. 61 Die Liste berücksichtigt vor allem die ungarischen Marienstätten, daneben aber auch ihre italienischen, kroatischen, böhmischen, österreichischen und deutschen Pendants. Das Werk war vor allem als Reminiszenz an die christliche Vergangenheit Ungarns vor der Türkenbesetzung gedacht. Esterhazy zielte zudem auf die Wiederbelebung der Marienfrömmigkeit ab; seine gelehrten Unternehmen verfolgten identitätsstiftende Zwecke, indem sie die ungarische regio Mariana im Zusammenhang mit der Türkenbefreiung von 1686 als Basis für eine katholische „Internationale“ im (habsburgisch-wittelsbachisch dominierten) Mitteleuropa propagierten. Unmittelbar an Gumppenberg knüpfte auch Heinrich Scherer an. Er überarbeitete dessen Kompilation und ließ sie 1702 in erheblich modifizierter Fassung drucken. Scherer veröffentlichte den „Atlas Marianus“ als eigenen Band im „Atlas Novus“, einer aus insgesamt sieben Teilen bestehenden Universalgeographie (Abbildung 3). 62 Bei Scherer gewinnt die marianische Topographie eine globale Ausrichtung. Sein Entwurf ist als Objektivation eines universalkatholischen Weltbilds zu sehen. Die Beschreibung von Naturformationen, Siedlungstopographien, politischen und kirchlichen Infrastrukturen, etwa von Bistümern und Wallfahrtsorten, dient ganz der heilsgeschichtlichen Beweisführung. Mit Hilfe der Geographie soll sich die Richtigkeit des katholischen Bekenntnisses erweisen lassen. Von Bedeutung ist ferner die Tatsache, dass der Fokus gegenüber Gumppenberg noch deutlicher in das außereuropäische Milieu verschoben ist, nach Asien, Afrika und Amerika. 63 Beachtlich ist auch der Aufwand an graphischer Veranschaulichung: Hatte sich bereits Gumppenberg darum bemüht, von jedem Gnadenbild eine möglichst exakte, häufig auf persönlichem Augenschein beruhende Darstellung zu liefern, so Tüskés/ Eva Knapp, Germania Hungaria illustrata. Deutsch-ungarische Literaturverbindungen in der frühen Neuzeit (Studium litterarum 15, 2008) S.-103-110, 120-143. 61 Pál/ Paul Esterházy/ Esoras (de Galántha), LITANIÆ. || AD || BEATAM VIRGINEM || MA- RIAM, || PER || TOTIUS MUNDI || MIRACULOSAS IMAGIN- || NES DIVISÆ, AC PER REGNA, || ET PROVINCIAS, || AC LOCA || DISTINCTÆ […] (1697) (VD17 23: 726077D, www.vd17.de, Stand 18.12.2018). - Vgl. dazu Tüskés/ Knapp, Literaturverbindungen (wie Anm. 60) S.-144. 62 Heinrich Scherer, ATLAS || MARIANUS || SIVE || PRÆCIPVÆ TOTIUS || ORBIS HA- BITATI || IMAGINES || ET STATUÆ || MAGNÆ || DEI MATRIS […] PROPOSITÆ […] (Atlas Novus [3], 1702). - Vgl. dazu Rainald Becker, Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts (Transatlantische Historische Studien 47, 2012) S.-87-100; Ders., Überseewissen (wie Anm. 56) S.-262-264. 63 Vgl. zur kartographischen Praxis bei Scherer: Becker, Nordamerika (wie Anm. 62) S.-103- 112; Ders., Überseewissen (wie Anm. 56) S.-264-268. Wallfahrt und Geographie 337 verlegte sich Scherer noch stärker auf die bildliche Raumerfassung. Er begnügte sich nicht nur mit der Wiedergabe einzelner Gnadenbilder; vielmehr ging es auch darum, deren Standorte in großformatige kartographische Visualisierungen zu bringen. Dabei sind alle Teile der damals bekannten Welt berücksichtigt. Die Wallfahrtsgeographie präsentiert als eine weltweite „topographie sacrée“. 64 Insgesamt gesehen, können die beiden Atlanten als Exponenten einer „spirituellen Geographie“ bezeichnet werden. Sie illustrieren den bemerkenswerten Versuch, unter Anwendung von mathematischen, physikalischen und historischen Parametern die biblische Offenbarung zu erschließen. Das Ziel dieser Bemühungen bestand nicht in der Dekonstruktion der Offenbarungsurkunde, sondern - im Gegenteil - in deren Bekräftigung anhand wissenschaftlicher Evidenzkriterien, die kritischer Vernunftargumentation standhalten sollten. Die spirituelle Geographie sollte von der Richtigkeit des Glaubens und seiner dogmatischen Sätze überzeugen können; sie sollte den Gläubigen in seinem möglichen Selbstzweifel ernst nehmen und ihm einen Weg in die objektiv einsehbare Glaubenswahrheit eröffnen. Insofern stellte sich das geographische Räsonnement in den Dienst der Theologie. Im konfessionellen Zeitalter bot es sich zudem als Arsenal für die Apologetik an. Die Geographie lieh dem katholischen Standpunkt ein wirkungsvolles intellektuelles Instrumentarium, das in zentralen kontroverstheologischen Fragen - so bei dem umstrittenen Thema der Wallfahrt - zum Einsatz kommen konnte. Der apologetische Zugang deckte aber noch eine andere Entwicklung ab. Im katholischen Sektor verhalf die Geographie naturwissenschaftlichen Denkstilen auf breiter Front zum Durchbruch. Sie legitimierte das Arbeiten mit entsprechenden Methoden und Theorien. Hier zeigt sich die größere Dimension einer „Contre-Réforme savante“ oder auch einer „Contre-Réforme mathématique“, wie sie im jesuitischen Milieu von dem Universalgelehrten Athanasius Kircher, Gumppenbergs und Scherers berühmtem Zeitgenossen, vertreten wurde. 65 Bei Gumppenberg werden solche wissenschaftlichen Praktiken bereits auf der Textebene sichtbar. Sowohl die Art der Informationsgewinnung als auch 64 So Duhamelle, Sainte-Empire (wie Anm. 1) S.-78; 65 Vgl. allgemein: Marcus Hellyer, Catholic Physics. Jesuit Natural Philosophy in Early Modern Germany (2005); Antonella Romano, La contre-réforme mathématique. Constitution et diffusion d’une culture mathématique jésuite à la Renaissance (1540-1640) (Bibliothèque des Ecoles Françaises d’Athènes et de Rome 306, 1999); mit Fokus auf den Verbindungen zu Athanasius Kircher (1602-1680): Fabien Simon, „Ad majorem Mariae gloriam“. Wilhelm Gumppenberg et Athanase Kircher, deux jésuites au service d’une Contre-Réforme mariale et savante, in: Christin u.a., Marie mondialisée (wie Anm. 54) S.-145-162; ferner Bernd Wiese, Geschichte der Geographie in der Frühen Neuzeit. Werke aus Bibliotheken von Jesuitenkollegien und Universitäten im Alten Reich (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 56, 2018). 338 Rainald Becker die inhaltliche Präsentationsweise belegen die peritia des „Atlas Marianus“ und seines Urhebers. 66 Seinen Stoff bezog Gumppenberg nämlich aus einer geradezu generalstabsmäßig organisierten Kampagne zur Quellensammlung. Dabei kam ihm das weiträumige Kommunikationssystem der Jesuiten zustatten. Die Vorrede des „Atlas Marianus“ erläutert das Vorgehen ausführlich. Demnach hatte Gumppenberg 1650 in Trient während eines Treffens der auf Romfahrt zur Generalsynode befindlichen nordalpinen Provinzoberen den Plan vorgetragen, daß ein tauglicher darzu verordnet werde / welcher auß allen L a e ndern / durch Hülff der Obern m o e chte innen werden / was f u e r wunderth a e tige MARIÆ-Bilder verhanden. 67 Wie beabsichtigt, fiel der Auftrag an Gumppenberg selber. 1652 begann der Gelehrte mit einer systematischen Befragung, wie sie für staatliche, diplomatische und kirchliche Konsultations- und Kommunikationsprozesse in der Frühen Neuzeit kaum charakteristischer sein könnte. 68 Nach einheitlichen Vorgaben forderte er von seinen Korrespondenzpartnern Daten zur geographischen Situierung des jeweiligen Heiligtums, zu dessen Patrozinium, zu Herkunft und Material des betreffenden Gnadenbilds an. Aufgrund des starken Echos konnte Gumppenberg bereits 1655 mit der „Idea Atlantis Mariani“ ein erstes Ergebnis vorlegen. 69 Der Oktavband von rund 150 Seiten stellt eine tabellarische Auswertung aller ermittelten Informationen dar; er liefert ein Gliederungsschema, das zur Grundlage für den mit Kupferstichen illustrierten Atlas wurde. Dessen erste Auflage von 1657 behandelt rund 50 Wallfahrten, wobei der marianische „Ur-Ort“ Loreto als Ausgangspunkt für die Bestandsaufnahme gewählt ist. In loser Sortierung werden die Heiligtümer der einzelnen Nationen beschrieben. Der geographische Hauptakzent liegt dabei auf Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Zudem kommen Sizilien, Böhmen, Polen und Litauen vor. 70 66 Vgl. Julia, Sanctuaires (wie Anm. 53) S.- 262- f.; Ralph Dekoninck, Une science expérimentale des images mariales. La peritia de l’Atlas Marianus de Wilhelm Gumppenberg, Revue de l’histoire des Religions 232/ 2 (2015: Les images miraculeuses de la Vierge au premier âge moderne entre dévotion locale et culte universel/ Miraculous Images of the Virgin in the Early Modern Period, from Local Devotion to Universal Worship) S.- 135- 154. 67 Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlas (wie Anm. 58) Bl. A iiii r. 68 Vgl. paradigmatisch: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, hg. von Arndt Brendecke/ Markus Friedrich/ Susanne Friedrich (Pluralisierung & Autorität 16, 2008); Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540-1773 (2011). 69 Wilhelm von Gumppenberg, IDEA || ATLANTIS || MARIANI […] (1655). - Vgl. dazu: Hofmann, Gumppenberg (wie Anm. 55) S.-161-f. 70 Vgl. Nicolas Balzamo/ Olivier Christin, Introduction, in: Balzamo/ Christin/ Flückiger, Atlas Marianus (wie Anm. 58) S.-9-29, hier S.-27-f. Wallfahrt und Geographie 339 Abbildung 4: Wallfahrtskirche Maria Beinberg bei Gachenbach, Wandfresko auf der linken Seite des Kirchenschiffs zum Thema „Maria erscheint dem Gefangenen“ (Ignaz Baldauff, 1767) 340 Rainald Becker Die thematische Palette des „Atlas Marianus“ ist breit ausgefächert. Lexikoneinträgen vergleichbar bieten sich die einzelnen Kapitel als Kurzmonographien dar. Sie folgen einer chronologischen Anordnung, bei der die Vorgeschichte des Marienwallfahrtsorts - einschließlich seiner paganen Vorläufer - besondere Aufmerksamkeit findet. Markant zeigt sich dieser Ansatz etwa am Eintrag zur Madonna von Altötting. 71 Gumppenberg geht mit archäologischer Präzision auf das Gebäude der Gnadenkapelle ein. Deren auffällige Form - ein siebeneckiges Polygon - bringt er mit einem älteren Kultbau der Germanen in Verbindung, unter Verweis auf historische Funde, die diese Annahme als plausibel erscheinen lassen. 72 Der Artikel behandelt ferner die kultbegründende Marienerscheinung. Über das Ursprungsmirakel hinausgehend berichtet er aber auch von den „Wunderzeichen“, die den Heilscharakter für spätere Epochen der Geschichte bezeugen können. Im Altöttinger Fall hebt Gumppenberg den Umstand hervor, dass der bayerische Gnadenort die Ungarneinfälle des 10. Jahrhunderts unbeschadet überstanden habe. Darin sei ein Indiz für das anhaltende Heilshandeln der Gottesmutter in situ zu erkennen. 73 Zugleich zeichnet sich eine Präferenz für quellenkritisches Argumentieren ab, etwa durch vergleichendes Zitieren aus älteren und jüngeren Autoritäten. Dieses Vorgehen lässt Gumppenberg den Schluss ziehen, dass unmüglich zu sagen sei, in welchem Jahr aigentlich die Oetingische Andacht ihren Anfang genommen, weil im mutmaßlichen Entstehungszeitraum der Wallfahrt von dem Jahr Christi 520 biß auff 612 nichts gewises mag auff Papyr gebracht worden und daher die Datierungsversuche der Geschichtschreiber nit vbereinß kommen können. 74 Das Bemühen um empirisch nachvollziehbare Authentizität zeigt sich nicht zuletzt an den Illustrationen. Jeder Ortsartikel enthält eine Darstellung des jeweiligen Gnadenbilds. Damit waren nicht nur frömmigkeitsfördernde Wirkungen beabsichtigt, auch wenn die Bilder durchaus zur persönlichen Andacht anregen sollten. Primär lassen sie dokumentarische Intentionen erkennen. Das wird daran deutlich, dass die Illustrationen umfassend kommentiert werden, vor allem im Hinblick auf die materiellen Qualitäten des betreffenden Kultobjekts: Handelt es sich um Malerei oder Skulptur? Bestehen die Skulpturen aus Holz, Stein oder Glas? - Das Artefakt und seine physischen Eigenschaften bestimmen den Diskurs, der sich als Problematisierung der „Echtheit“ erweist. Die Argumentation reagierte somit auf den Vorwurf mangelnder Au- 71 Vgl. Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlas (wie Anm. 58) S.- 168-174 (XXI. Wundertha e tiges Maria Bild Zu Alten Oeting im Bayerland). 72 Vgl. Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlas (wie Anm. 58) S.-168-f. 73 Vgl. Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlas (wie Anm. 58) S.-171-f. 74 Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlas (wie Anm. 58) S.-170-f. Wallfahrt und Geographie 341 thentizität, wie er von den Reformatoren häufig als Haupteinwand gegen den Reliquien- und Bilderkult der Katholiken (und Orthodoxen) herausgestellt wurde. 75 Welche Ausstrahlung Gumppenberg auf die katholische Frömmigkeitspraxis noch des 18. Jahrhunderts hatte, lässt das Beispiel von Maria Beinberg, einer kleinen, im Spätmittelalter entstandenen Marienwallfahrt bei Gachenbach auf halbem Weg zwischen Augsburg und Ingolstadt, erkennen. 76 In der Kirche befindet sich ein barockes Wandfresko (1767) mit der bildlichen Schilderung des Beinberger Marienwunders (Abbildung 4). Die Darstellung wird durch eine Schriftbanderole ergänzt, die nicht nur eine Kurzfassung der Mirakelerzählung enthält, sondern auch einen Zitathinweis, nämlich auf die Edition der Beinberger Mirakelgeschichte bei Gumppenberg, gibt. 77 Der seltene Fall einer „gemalten Fußnote“ bestätigt also die Bedeutung wissenschaftlicher Beweisverfahren für das Selbstverständnis der frühneuzeitlichen Wallfahrt - sogar bei dieser bescheidenen Pilgerstätte im nordwestlichen Oberbayern. Selbst hier sollte sich der fromme Wallfahrer auf die Sicherheit gelehrter Normativität verlassen dürfen. Bei Bedarf konnte er das im Fresko Gesehene noch einmal im Buch nachlesen. Im Vergleich zu Gumppenberg erweiterte Scherer den medialen Erfahrungshorizont der Wallfahrtsrezeption noch einmal. Im Mittelpunkt steht die kartographische Bestandsaufnahme der marianischen Topographie. Der erzählerische Anteil - bei Gumppenberg aus katechetisch-didaktischen Gründen noch stark ausgeprägt - tritt fast vollständig zugunsten der Visualisierung zurück. Bei Scherer beschränkt sich der (lateinische) Text auf eine 75 Das Bewusstsein für die bildertheologischen Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Orthodoxen war bei Gumppenberg sehr ausgeprägt, vgl. Becker, Rußland (wie Anm. 56) S.- 259- f.; außerdem zur Bildreflexion bei Gumppenberg: Ralph Dekoninck, Propagatio Imaginum. The Translated Images of Our Lady of Foy, in: The Nomadic Object. The Challenge of World for Early Modern Religious Art, hg. von Christine Göttler und Mia M. Mochizaki (2018) S.-241-267. 76 Vgl. Stephan Rauscher, Die Wallfahrt Maria Beinberg im Spiegel eines Mirakelbuches des 18.- Jahrhunderts (2008); Gertrud Langhammer, Wallfahrtskirche Maria Beinberg (2016). 77 Das Wandfresko auf der linken Seite des Kirchenschiffs verweist auf die Fundstelle der Beinberger Mirakelerzählung im Marianischen Atlas die 1107.te Geschicht; zur wissenschaftlichen Vorlage: Gumppenberg/ Wartenberg, Marianischer Atlaß (wie Anm. 58) S.-241-f. (Nr.-1107. Vnser lieben Frauen Bild. Von dem Beynberg In dem Ober-Teutschland); außerdem: Rauscher, Maria Beinberg (wie Anm. 76) S.- 17, 22; Brigitte Sauerländer, Maria Beinberg, in: Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland, hg. von Hermann Bauer/ Frank Büttner/ Bernhard Rupprecht 10: Freistaat Bayern, Regierungsbezirk Oberbayern, Landkreis Neuburg-Schrobenhausen, bearb. von Brigitte Volk-Knüttel und Brigitte Sauerländer (2005) S.-130-141, hier S.-140. 342 Rainald Becker Katalogisierung der zeitgenössischen Marienheiligtümer. Die Ebenen von Kontinent, Staat und Stadt geben ein striktes Raster vor, in das die lexikalischen Ortseinträge eingebettet sind (Abbildung 5). Die einzelne Textpassage beschränkt sich auf ein Minimum an Sachaussage. Neben dem Patrozinium lassen sich Scherers Version vor allem Hinweise auf Material und Form des Marienbilds entnehmen, außerdem historische Indizien und bibliographische Nachweise. Der Dillinger Jesuit verwertete in beachtlichem Umfang in- und ausländische Traktatliteratur zur Mariologie; er verarbeitete aber auch Werke zur Kosmographie, Universalgeographie und Landeskunde, zudem Reiseberichte und Missionskorrespondenz aus nahezu allen Leitsprachen der frühneuzeitlichen Kolonialliteratur (lateinisch, französisch, spanisch, italienisch, englisch). 78 Die nüchtern deduzierenden Aufstellungen verstehen sich ganz offensichtlich nicht als Anleitung zur Kontemplation. Vielmehr sollen sie ihrem (akademisch bereits avancierten) Publikum eine Vorstellung von der universalen Ubiquität des Phänomens geben. Es geht weniger um den einzelnen Marienwallfahrtsort selbst, sondern um dessen massenhaftes Vorhandensein in allen Weltregionen. Wie die Heiligtümer in ihrer Fülle die Strukturen durchdringen und so etwas wie eine marianische Weltzivilisation begründen, auf diese Botschaft kommt es an, und zwar aus dezidiert wissenschaftlicher Perspektive, unter Ausnutzung aller Möglichkeiten, die das kartographische Szenario an Veranschaulichung zur Verfügung stellen kann. Das Karten-Corpus umfasst rund 100 Darstellungen. Die Vielschichtigkeit der darin evozierten Perspektiven ist überraschend, ihre theologische, historische, aber auch naturkundliche Tiefendimension beeindruckend. Sowohl in ästhetischer als auch in programmatischer Hinsicht würde das Tableau eingehende Analysen verdienen, die an dieser Stelle jedoch nicht zu leisten sind. Daher sei zum Abschluss die Portolankarte in Scherers „Atlas Marianus“ als aussagefähiges Beispiel kurz vorgestellt (Abbildung 6). 78 Vgl. Becker, Überseewissen (wie Anm. 56) S.-264. Wallfahrt und Geographie 343 Abbildung 5: Heinrich Scherer, Atlas Marianus (wie Anm. 62), S. 11: „Americae“ Abbildung 6: Heinrich Scherer, Atlas Marianus (wie Anm. 62), Portolankarte 344 Rainald Becker Wallfahrt und Geographie 345 Die Karte ist an prominenter Stelle platziert, im vorderen Teil des Bandes unmittelbar hinter der Titelei, der an den Kölner Erzbischof Joseph Clemens von Bayern gerichteten Dedikationsepistel und dem Nihil obstat des Provinzials der oberdeutschen Jesuitenprovinz. Die doppelseitige Darstellung im repräsentativen Folio-Format zeigt die vier damals bekannten Kontinente Europa, Asien, Afrika und Amerika, wobei die drei erstgenannten Erdteile die linke Seite einnehmen, für die Neue Welt hingegen die komplette rechte Seite reserviert ist. Die Kontinente treten als vollständig umgrenzte Landmassen hervor; lediglich Amerika läuft nach Norden ins Leere aus. Auch der fünfte Kontinent Australien ist nur im Umriss angedeutet, während Kalifornien als Insel vorgestellt wird. Die Karte kennt die Völkernamen der bedeutendsten Länder und Staaten (Angli, Galli, Germani, Poloni usw.), Wasserverläufe und Gebirgszüge sind verzeichnet. Die Szenerie bildet den zeitgenössischen Wissensstand im Gleichschritt mit der in dieser Hinsicht tonangebenden französischen und englischen Kartographie ab, auch wenn die Geländeproportionen der Kontinente zueinander und im Verhältnis zur Wasserfläche der Weltmeere verzerrt sind. Was die Karte in besonderer Weise auszeichnet, ist ihr religionsgeographischer Zugang. Unter Rückgriff auf das Parergon, ein im Barock besonders beliebtes Interpretationsmittel, vermittelt sie eine allegorische Visualisierung des räumlichen Gefüges. Scherer konnte auf diesem Gebiet Expertise beanspruchen, hatte er sich doch als Protagonist der konfessionellen Universalkartographie hervorgetan, so etwa mit Karten über die Religionszugehörigkeit der Weltvölker und Kontinente. 79 Im „Atlas Marianus“ machte sich der Jesuit die Erdteilallegorie zunutze, um im Sinn seines Proemiums die Rolle Mariens als patrona Mundi geographisch zu veranschaulichen. 80 Im figuralen Beiwerk der Karte sind vier Allegorien zu erkennen: in den Ecken der linken Seite EVROPA und AFRICA, in den gegenüber liegenden Ecken auf der rechten Seite ASIA und AMERICA. Über allem schwebt am oberen Bildrand die Gottesmutter. Das allegorische Programm folgt der zeittypischen Ikonographie: Die Erdteile treten als weibliche Personifikation hervor. Sie bewegen sich, von Schleppenträgern begleitet, auf die im Himmel thronende Gottesmutter zu. 81 Bemerkenswert ist jedoch der Umstand, wie stark die herrschaftliche Qualität der Personifikationen betont wird. Sie sind Königinnen der Kontinente; als irdische Regentinnen erweisen sie 79 Vgl. Marion Romberg, Die Welt im Dienst des Glaubens. Erdteilallegorien in Dorfkirchen aus dem Gebiet des Fürstbistums Augsburg im 18. Jahrhundert (2017) S.-24-43. 80 Vgl. Scherer, Atlas Marianus (wie Anm. 62) S.- 2: Hier ist die Rede von einer Exhibitio Geographica Locorum. || In quibus || MAGNA DEI MATER || In toto terrarum Orbe || A || Christianis piè colitur. 81 Vgl. Sabine Poeschel, Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16. bis 18. Jahrhunderts (Beiträge zur Kunstwissenschaft 3, 1985). 346 Rainald Becker Wallfahrt und Geographie 347 der Himmelskönigin (regina coeli) ihre Reverenz; in Orantenhaltung erkennen sie ihre Herrschaft an. Der mariologische Bildtypus ist dabei ganz eindeutig spezifiziert. Die Karte wählt nämlich für die Mariendarstellung das Bild der Mondsichelmadonna, die in Offenbarung 12,1 als apokalyptisches Weib mit dem Mond unter den Füssen und einem Kranz von zwölf Sternen um das Haupt beschrieben wird. Zusätzlich hält die Muttergottes ein Szepter in der Hand, was die ihr zugedachte universalherrschaftliche Rolle unterstreicht. Der hermeneutische Effekt wird durch textuelle Komponenten noch verstärkt. Denn den einzelnen Erdteilallegorien sind Schriftbänder zugeordnet, deren Verse in Zusammensetzung den Text des Marienantiphons Sub Tuum Præsidium ergeben. 82 Das Schriftband, das hinter der Muttergottes schwebt, antwortet darauf mit der Sentenz beatam me dicent omnes generationes, einem Zitat aus dem Magnificat. 83 Der mariologische Duktus spiegelt sich im kartographischen Aufriss der Erdteile wider. Zwar erlaubt die Kartengröße keine punktuelle Markierung einzelner Wallfahrtsorte; dafür ist der Maßstab des Portolans zu groß. Gleichwohl werden Auszeichnungen verwendet. So kennzeichnen Sternsymbole herausragende marianische Wallfahrtslandschaften in den einzelnen Weltregionen, so besonders in Europa (vor allem in Italien, Frankreich und Deutschland), in Asien und Afrika, vor allem in Lateinamerika (insbesondere in Neufrankreich, Neuspanien und Brasilien). Dabei fungiert die Kartusche am unteren Bildrand als lesersteuernde Legende, indem sie den Bezug zwischen dem kartographischen Symbol und dem berühmten Sternenattribut Mariens herstellt. Sie zitiert nämlich einen einschlägigen Ausschnitt aus der zweiten Homilie des Bernhard von Clairvaux über die Jungfrau Maria (In laudibus Virginis Matris, auch: Super Missus est). Bernhard spricht hier die Muttergottes als Teil des Gestirns (sidus) und als Stern (stella) an. Sicherlich darf man bei Scherer von einem Zusammenhang mit der Pilger- und Frömmigkeitspraxis des Barockkatholizismus ausgehen. Dass aber die raffinierten kartographischen Inszenierungen des Gelehrten einen so unmittelbaren Eingang in die populäre Wallfahrtskultur wie bei Gumppenbergs „gemalter Fußnote“ in Maria Beinberg gefunden hätten, dafür lässt sich bislang kein Beleg finden. Wohl aber kann man sich Scherers marianische Weltgeographie kaum ohne die enge Anbindung an die Baukultur des süddeutschen Barocks vorstellen. Um 1700 triumphierte hier - in Freskenzyklen, auf Altarbildern und in 82 Die Inschrift für Europa lautet: Sub Tuum Præsidium confugimus SANCTA DEI GENITRIX, für Asien: Nostra deprecationes ne despicias in necessitatibus nostris, für Afrika: Sed à periculis cunctis libera nos semper, VIRGO GLORIOSA & BENEDICTA, für Amerika: Domina nostra, Mediatrix nostra, Advocata nostra. 83 Nach Lukas 1,48: Quia respexit humilitatem ancillae suae || ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes. Skulpturen - das Bewusstsein für die universale Kirche, gerade unter mariologischem Vorzeichen. Und Scherer dürfte dabei für manche künstlerische Anregung gut gewesen sein, nicht zuletzt in der reichen Barockarchitektur seiner Heimat im katholischen Schwaben. 84 Fazit Die vorangehenden Erörterungen sollten die Aufmerksamkeit auf ein bislang vernachlässigtes Phänomen der Forschung, nämlich den offenkundigen Zusammenhang von tridentinischer Wallfahrtserneuerung und barocker Wissensgesellschaft lenken. Mithin ist das Wiederaufblühen dieser spezifischen Form von katholischer praxis pietatis keinem untergründigen Fortwirken abergläubischer Tendenzen oder nur dem disziplinierenden Einwirken von außen (und oben) zuzuschreiben, sondern als Ergebnis erfolgreicher Rationalisierungsbemühungen im eigenen Feld zu sehen. Ohne die Zuarbeit gelehrter Apparate im kirchlichen Bildungswesen, ohne den wissenschaftlichen Beitrag insbesondere der Orden hätte sich die von den Reformatoren so gründlich diskreditierte Praxis kaum erholen, mehr noch: zu einem „stilistischen“ Markenzeichen des Barockkatholizismus entwickeln können. Es war eine rationale Plausibilitätsverheißung, die den Sinn für das fromme Unterwegssein reaktivierte, die dem Wallfahrtswesen insgesamt zu einem bis dato ungekannten Aufschwung verhalf - mit prägenden Folgen für das Bild von Kulturlandschaften, die sich bis heute gerade wegen ihres dichten Bestands an einschlägiger Sakralinfrastruktur als katholische Räume identifizieren lassen. Überhaupt kommt der Kategorie des Raumes eine entscheidende Bedeutung zu. Dass die Wallfahrt während der Frühen Neuzeit einen Territorialisierungsprozess durchlief, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Ihre Funktion für die Genese von Raumdenken und Staatsbegriffen ist hinlänglich erforscht; auch hier konnte sie an einigen neueren Befunden bestätigt werden. Was freilich stärker beachtet werden muss, ist der Horizont der Zeitgenossen, das Selbstverständnis der Epoche. Der Rückgewinn der Wallfahrt als legitime Frömmigkeitsform war vor allem das Resultat eines intensiven „raumwissenschaftlichen“ Diskurses unter Zeitgenossen. Insbesondere geographische Beobachtungen und karto- 84 Vgl. allgemein Romberg, Welt (wie Anm. 79) S.-423-460. Für Dillingen, den langjährigen akademischen Wirkungsort von Scherer, ist im 18. Jahrhundert sogar eine besondere Verdichtung von Erdteilallegorien im mariologischen Verwendungszusammenhang zu beobachten (so etwa in der auch Wallfahrten dienenden Studienkirche der dortigen Jesuitenuniversität): Becker, Überseewissen (wie Anm. 56) S.-246-248; Christine Schneider, Kirche und Kolleg der Jesuiten in Dillingen an der Donau. Studien zu den spätbarocken Bildprogrammen. „Ut in nomine Iesu omne genu flectatur“ ( Jesuitica 19, 2014) S.-92-151, 368-372. 348 Rainald Becker Wallfahrt und Geographie 349 graphische Verfahrensweisen lieferten neue Begründungen für das Pilgern. Sie ergänzten wirkungsvoll das überlieferte (theologische) Argumentationsarsenal um neue (naturwissenschaftliche) Komponenten. Im elaborierten System der spirituellen Geographie verdichteten sich diese Deutungsstrategien. Sie prägten mit den marianischen Atlanten eine eigene literarische Gattung aus. Diese Art von Publizistik trat geradezu einen geographischen Gottesbeweis an, und zwar unter systematischem Rekurs auf die globalen Erfahrungen in der frühneuzeitlichen Weltkirche: Wenn sich doch chinesische Mandarine, amerikanische Indianer, Spanier, Italiener und Franzosen, aber auch Moskowiter und Orientalen der Fürbitte der Gottesmutter zuwandten, sie ihr zuliebe weltweit die Mühen des Pilgerns auf sich nahmen, wer mochte dann noch ernsthaft am gottgewollten Charakter der Wallfahrt Zweifel hegen? Resúmenes 351 Resúmenes Hartmut Kühne y Martin Sladeczek: Príncipes y nobles en Wilsnack - así como una oración nuevamente encontrada de Konrad de Weinsberg a la Santa Sangre En la investigación predominaba la imagen de la peregrinación a Wilsnack como un fenómeno propio de las clases bajas: el santuario habría sido visitado ante todo por la „gente sencilla“. De ello serían una buena prueba los concursos espontáneos de masas de las así llamadas carreras de Wilsnack. Pero en contra de esta imagen están las numerosas visitas de príncipes y nobles - procedentes ante todo, pero no exclusivamente, del norte y centro de Alemania - a este centro de pereginación. El ensayo añade nuevos documentos a los ya conocidos sobre las frecuentes visitas de reyes daneses así como de miembros de las dinastías Hohenzoller y Wettin y de los condes del Harz. Además se recapitula la reciente investigación sobre el papel de los miembros de la casa de Luxemburgo como promotores de la peregrinación en la época moderna. También Konrad IX de Weinsberg - en su condición de tesorero real a título hereditario, estrecho colaborador del emperador Segismundo - visitó varias veces Wilsnack. La evaluación de las cuentas correspondientes por él dejadas y la de sus fundaciones, pero sobre todo una oración de su puño y letra, recientemente encontrada, permiten una visión más exacta de su devoción a la Santa Sangre. Jan van Herwaarden: Wilsnack en los Países Bajos En el medievo tardío Wilsnack era un centro de peregrinación tan popular que era conocido como el „Santiago del norte de Europa“. Por ello no tiene nada de extraño que Wilsnack sea mencionado reiteradas veces en el marco de una práctica tan característica de la jurisprudencia del medievo tardío como lo era la imposición de una peregrinación como pena. Wilsnack aparece también con frecuencia en relación con la curiosa costumbre de apostar a las peregrinaciones. Un ejemplo ilustrativo de la popularidad de Wilsnack es el relato del famoso cardenal Nicolás de Cusa sobre su viaje por los Países Bajos en 1451. Como lo atestigua la documentación de las sentencias judiciales de Amberes, la imposición como castigo de peregrinaciones a Wilsnack era una práctica frecuente. A partir de finales del siglo XV las peregrinaciones fueron desapareciendo poco a poco de la administración de justicia holandesa. Un proceso que, por así decir, quedó finalizado el 22 de mayo de 1522, día en el que fue destruido el Relicario de Wilsnack. Enno Bünz y Hartmut Kühne: La dinastía Wettin y el santuario de Wilsnack. Sobre la praxis pietatis de los príncipes en los siglos XV y XVI El peregrinaje al santuario de la Santa Sangre de Wilsnack atrajo también a los miembros de la dinastía Wettin, que en la Edad Media tardía era una de las familias nobles más poderosas de Alemania Central. Ocho miembros de la dinastía visitaron entre 1421 y 1504 el santuario situado en la región de Prignitz, tan sólo a unas pocas jornadas al norte del territorio de los Wettin. La fiesta del Corpus Christi decretada por el papa Urbano IV en el 1264 se introdujo en las diócesis de la Alemania Central sólo a partir del siglo XIV. En la diócesis de Meissen, que formaba el núcleo principal del territorio de los Wettin, se fundaron hasta la Reforma al menos 69 beneficios de altares bajo el patrocinio del Corpus Christi. Sin embargo, tan sólo surgió un santuario eucarístico de peregrinación en el vecino obispado de Naumburgo (el santo Corpus junto a Altenburgo a partir del año 1434), por lo demás con el apoyo del seňor territorial. Los miembros de la casa Wettin practicaban el culto del Corpus, y consiguieron en el año 1459 un privilegio pontificio para el Sacramento del altar en el obispado de Meissen. Consta que peregrinaron a Wilsnack los siguientes Wettin: la margravesa Catalina de Sajonia (1421), el obispo de Wurzburgo Segismundo de Sajonia (1440), Margarita de Sajonia (1456), el duque Guillermo III (1482), el príncipe elector Ernesto de Sajonia y sus hijos (1484), entre ellos Federico el Sabio, quien siendo príncipe elector peregrinó de nuevo a Wilsnack (1490), y también consta la peregrinación de su hermano Juan de Sajonia (1504). Sobre todo, las cuentas de la corte y de la administración territorial dan interesante información sobre las peregrinaciones de los príncipes, que en parte iban acompañados de numeroso séquito, por lo cual los gastos eran elevados. De la devota relación con Wilsnack da testimonio una ventana de la iglesia, que probablemente fue donada por el príncipe elector Federico II (muerto el 1468) para el coro del santurio y de la que todavía se conservan representaciones de los blasones. Las fuentes documentan fecha, rutas y gastos, pero apenas permiten hacerse una idea de los motivos personales y de las prácticas piadosas de los príncipes. De todas formas, las peregrinaciones de los Wettin demuestran que la Santa Sangre de Wilsnack atraía a fieles de todas las capas sociales, incluida la alta nobleza. 352 Resúmenes Resúmenes 353 Jan Hrdina: Wilsnack y las peregrinaciones a santuarios eucarísticos en Europa Central, 1370-1415 La rápida transformación de una insignificante aldea del norte de Brandenburgo en un centro europeo de peregrinación tan sólo en el transcurso de unos 20 años es un suceso que requiere explicación. Este ensayo pretende situar el „fenómeno“ Wilsnack en su contexto cultural e histórico-religioso. Para ello recurre, por un lado, al tratado de Caroline Walker Bynum, Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond (2007) y a las actas del congreso Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter („La peregrinación a Wilsnack. Un centro de peregrinación y comunicación en el norte y centro de Europa en el medievo tardío“; 2006). Diversos estudios historiográficos de carácter local demuestran la insostenibilidad de la tesis de Bynum, según la cual Wilsnack habría sido solamente un exponente más de la veneración de la Santa Sangre, que según esta interpretación ya estaría en vigor en el norte de Alemania desde mucho antes y que con Wilsnack habría alcanzado su punto culminante. Una mirada de conjunto sobre los lugares de culto de la Santa Sangre que existían alrededor del 1400 muestra que no había ninguna diferencia significativa entre norte y sur. Por tanto la veneración de la Santa Sangre no es ningún específico del norte de Alemania. Más bien se perfilan tres regiones cultuales: en Flandes y en los Países Bajos, en la Alemania Central (Westfalia, actual Sajonia-Anhalt, Thuringia) así como en el espacio bávaro-austríaco. Un fuerte desarrollo de los centros de peregrinación y milagros eucarísticos tiene lugar en la Europa Central (entre el Rin y los Cárpatos) durante el gran Cisma de Occidente, una era marcada por la concesión de indulgencias por parte del papa Bonifacio IX (1389-1404) y por la exportación del Año Santo Romano a los países centroeuropeos (1392-1397). Toni Aigner: El hallazgo de las hostias sangrantes de Wilsnack y del santuario de Andechs En el año 1383 se encontraron en la iglesia quemada de la pequeña e insignificante aldea de Wilsnack, en el extremo noroeste de la marca de Brandenburgo, que entonces pertenecía al reino de Bohemia, tres hostias intactas, con claras gotas de sangre. En muy breve tiempo empezó a acudir a aquel lugar un sinnúmero de peregrinos de Bohemia, Alemania y de otras regiones más lejanas para experimentar el milagro. Wilsnack se convirtió -con su más importante obra de arte, el relicario de la Sangre Milagrosa- en el centro de peregrinación del norte de Europa. De ello da todavía hoy un claro testimonio el enorme templo, levantado en un tiempo sorprendentemente breve con los donativos de los fieles. Sólo 354 Resúmenes cinco años más tarde, o sea en el 1388, a unos mil kilómetros de distancia tuvo lugar otro descubrimiento milagroso: en las cercanías de Munich, en la capilla del palacio de los condes de Andechs, una dinastía extinguida unos 150 años antes, se encontró un valioso tesoro que entre otras cosas contenía la Cruz de la Victoria de Carlomagno, la cruz pectoral y el vestido de novia de santa Isabel, que estaba emparentada con el conde de Andechs, ramas de la corona de espinas de Cristo de la Sainte Chapelle de Paris, donde había residido por algún tiempo una hija de los condes de Andechs. Pero lo más valioso eran las hostias, que habrían sangrado en una misa del papa Gregorio Magno. Las peregrinaciones a estos dos santuarios fueron promovidas por los respectivos señores territoriales, quienes se sirvieron de los tesoros de las reliquias para hacer ostentación de su dominio así como para manifestar sus pretensiones de poder y la imagen que tenían de sí mismos. En el caso de Wilsnack fueron los primeros los reyes de Bohemia y después los margraves de Brandenburgo (los Hohenzoller), y en el de Andechs los duques de Baviera (los Wittelsbach), quienes fundaron allí un monasterio benedictino. La fiesta de las Tres Hostias es todavía hoy la principal fiesta anual del monasterio. La peregrinación a Wilsnack se extinguió ya a comienzos de la separación de las confesiones religiosas en el 1522, cuando un sacerdote protestante quemó las tres hostias. El fenómeno Wilsnack fue, como en el caso de otros santuarios de la Sagrada Sangre, expresión de una religiosidad que esperaba de la veneración del Cristo presente en la hostia consagrada una ayuda especial tanto en las necesidades cotidianas como también en las grandes catástrofes de la vida. Hartmut Kühne: Wilsnack - Roma - Jerusalén: La peregrinación del príncipe elector de Brandenburgo, Federico II, a Jerusalén y la confirmación de la peregrinación a Wilsnack 1453 Federico II (reg. 1445-1464), el segundo margrave de Brandenburgo de la casa de los Hohenzoller, es reconocido desde hace tiempo como promotor especial del santuario de Wilsnack. A su decidida intervención ante la curia romana se debe el que una decisión del papa Nicolás V del año 1453 blindase la peregrinación a este santuario, que en la mitad del siglo XV era objeto de duras críticas y condenas por parte de obispos y teólogos. Los motivos de este especial engagement del margrave fueron interpretados de maneras muy distintas. Un papel muy importante lo ha jugado sin duda la situación histórica, es decir los inicios de la pretensión de los príncipes seculares a intervenir en asuntos del régimen eclesiástico. Este artículo intenta situar la intervención del margrave en el contexto histórico. Al mismo tiempo se ofrece una descripción de la piedad personal del soberano así como del transcurso de la polémica en torno a la peregrinación a Resúmenes 355 Wilsnack. De especial importancia en todo este proceso fue el hecho de que la intervención del príncipe a favor de Wilsnack haya tenido lugar en el marco de su peregrinación a Jerusalén y de su visita a Roma. Carina Brumme: Intrigas, robo y atentado - la penosa peregrinación a Santiago de la „Condesa de Anhalt“ El artículo expone la historia penosa y llena de aventuras de una „Condesa de Anhalt“, que en el camino de retorno de Santiago de Compostela no sólo pierde a su marido sino que también ella misma es víctima de un robo y está a punto de perder la vida en un atentado, al que sobrevive sólo gracias a la ayuda del apóstol Santiago. El texto se conserva únicamente en una edición (Estrasburgo, Martin Flach el Joven, 1522), y consta de dos partes: la descripción un tanto legendaria de las penalidades de la joven mujer fue dotada (probablemente más tarde) de un marco con carácter de crónica, que sitúa a la protagonista en un trasfondo familiar e histórico aparentemente real. En esta parte posterior son nombrados tanto los lugares como las personas que la protagonista visita o que la apoyan. El artículo intenta identificar estos indicios concretos y relacionarlos con una dama noble de la dinastía de Anhalt. Además sigue el rastro de la historia de los distintos poseedores del único ejemplar conocido (Berlín, SB, hoy Cracovia, cf. nota 5). Klaus Herbers: El viaje a Santiago de Johannes Limberg 1690 - ¿un ejemplo de la decadencia de las peregrinaciones a Compostela después de la Reforma? El artículo dirige la mirada sobre la descripción que Johannes Limberg de Roden hizo del viaje que él había realizado por la Península Ibérica a finales del siglo XVII. Su currículum es sumamente interesante porque Limberg cambió varias veces de confesión religiosa. El ensayo presenta el viaje de Limberg y ante todo pone el punto de mira en la visión que éste tenía de Santiago y en sus observaciones sobre el así llamado milagro de las gallinas. Precisamente en estos pasajes se pone de manifiesto que una fe acrítica e ingenua en los milagros y la influencia de la ilustración pueden darse en situaciones muy distintas de las que hoy día normalmente se supondría. El artículo cita ampliamente el texto del autor y ofrece además algunas ilustraciones. Mordechai Lewy: Confrontación confesional y ambigüedad entre peregrinos protestantes y monjes católicos en la Jerusalén del siglo XVII El contacto inmediato de los peregrinos protestantes a Jerusalén con sus cuidadores, los monjes franciscanos, durante su estancia en dicha ciudad se presta muy bien para una revisión de algunas de las tesis acuñadas durante siglos por la historiografía de la post-reforma sobre las relaciones entre católicos y protestantes. Primero, ¿coincide la tesis de una confrontación interconfesional durante los dos primeros siglos después de la Reforma con los datos que suministran los relatos de viajes de peregrinos protestantes a Jerusalén? ¿Confirman los documentos franciscanos -bien sean las crónicas de la custodia bien sea el libro de huéspedes del albergue de peregrinos, Navis peregrinorum- un tal curso de confrontación? Segundo, ¿eran las antiguas formas de religiosidad y piedad protestantes mucho más similares a las católicas que a la moderna praxis religiosa protestante surgida a partir de la ilustración en el siglo XVII? Tercero, ¿no estarían las relaciones interconfesionales durante los dos primeros siglos después de la Reforma más bien influidas por actitudes ambivalentes, de forma que haya que suponer que su rasgo característico era un cierto pragmatismo religioso? Cuarto, ¿tuvo lugar un descenso dramático de las peregrinaciones a Jerusalén a causa de la Reforma luterana? Ni las fuentes protestantes ni las franciscanas confirman esa idea de una clara confrontación. Los peregrinos protestantes practicaban una cierta ambigüedad confesional, que daba lugar a comportamientos ambivalentes, como p. ej. una actitud evasiva, mentiras piadosas, simulación e incluso indiferencia. Sólo en la práctica del culto se mantenían firmes y persistían en recibir la comunión bajo las dos especies y rechazaban normalmente la comunión católica bajo una sola especie. En cambio, la concesión de la dignidad de caballero del Santo Sepulcro era una ceremonia en la que tenía cabida un comportamiento mucho más pragmático tanto de los peregrinos como de los monjes. Esta ceremonia era, a pesar de su coloración religiosa, un evento social que conllevaba un no insignificante donativo económico. Los monjes franciscanos estaban mucho más comprometidos con las obligaciones de su religión en el marco de su orden y del deber de obediencia a la iglesia. Para ellos prácticamente nunca se planteó la cuestión de una ambigüedad confesional. Ello no obstante, dan muestras de un gran pragmagtismo, cuando se trataba de aumentar sus ingresos. Su precaria situación económica les obligaba 356 Resúmenes Resúmenes 357 a una actitud pragmática de cara a los peregrinos protestantes. La peregrinación era una importante fuente de ingresos para asegurar una continuada presencia de los franciscanos en Jerusalén. El fuerte retroceso de las peregrinaciones no se debió a la reforma de Martín Lutero. En los tres decenios después de 1517 el número de peregrinos disminuyó dramáticamente porque el nuevo dominio otomano en Jerusalén y el estallido de la lucha entre Carlos I (V de Alemania) y Suleimán el Magnífico provocaron un período de inseguridad. Los franciscanos de Jerusalén fueron considerados por lo otomanos como una quinta columna y tuvieron que abandonar su convento en el Monte Sión. A través del análisis de las fuentes se pudo constatar para el período entre 1546 y 1700 aproximadamente unos 30 relatos de viajes de autores protestantes. El análisis de los peregrinos registrados en el libro de huéspedes Navis peregrinorum permitió la identificación de 412 peregrinos protestantes de entre un total de 7129 peregrinos en el mismo período. De los peregrinos protestantes 251 provenían de las Islas Británicas, 75 de los Países Bajos y 51 de regiones de lengua alemana. Reinald Becker: Peregrinación y geografía. Sobre la historia espacial del peregrinaje post-tridendino Las peregrinaciones son una de las características típicas de la cultura confesional católica en la época moderna. La revitalización de las prácticas religiosas medievales mostró diferentes rasgos característicos en lo tocante a la historia social, a la eclesiástica y a la del arte. Especialmente llamativo es el desarrollo histórico-espacial del fenómeno de la peregrinación. Territorialización y globalización determinaron la tendencia. Regiones y estados singulares así como continentes enteros fueron delineados como paisajes virtuales de salvación. Para ello, la iglesia post-tridentina hizo uso de los instrumentos de geografía y cartografía, o sea de unos métodos científicos modernos, para ganar nuevos argumentos a favor del valor teológico de la peregrinación, en reacción ante la crítica de los reformadores. Los jesuitas del sur de Alemania, Wilhelm de Gumppemberg (Ingolstadt) y Heinrich Scherer (Dillingen) representan de forma ejemplar este planteamiento. Sus obras registran los lugares de todos los santuarios marianos conocidos en el siglo XVII - sobre base topográfica y a escala global. Los dos jesuitas se ocupan ante todo programáticamente de los centros de devoción mariana en América y en Asia. De este modo, el discurso „científico-espacial“ en torno a la peregrinación permite una visión representativa de las estrategias empleadas para demostrar la plausibilidad de la religiosidad moderna. Abbildungsverzeichnis 359 Abbildungsverzeichnis S. 23: Göttingen, Stadtarchiv, Urkunden Nr. 1043. S. 32: Neuenstein, Hohenlohe-Zentralarchiv, GA 15, P 40, S. 41. S. 39: Wilsnack, St. Nikolaus. Corpus Vitrearum (CVMA) Deutschland Potsdam/ Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Fotos und Montage: Holger Kupfer. (Siehe demnächst CVMA, Digitales Bildarchiv unter Standortsuche Bad Wilsnack.) S. 43: Etzlaub, Romweg-Karte 1500, Ausschnitt. Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt, OS C-1. S. 44: Verkehrswege-Karte von Erhard Etzlaub 1501 (Ausschnitt). https: / / commons. wikimedia.org/ wiki/ Category: Romwegkarte_(Erhard_Etzlaub)? uselang=de#/ media/ File: Rompilgerkarte_von_Erhard_Etzlaub_1501.jpg (Stand 28.11.2019). S. 62: Schiedam, Gemeentearchief, Oude rechterlijke archieven 35: Sententieboek (ca. 1490). S. 74: aus: [Leipzig: Wolfgang Stöckel, um 1498], Bl. 1r. Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, URL: http: / / resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000B0EB00000000 (Stand 9.12.2019). S. 77: aus: Albrecht Dürer 1471-1971 [Katalog der Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 21. Mai bis 1. August 1971] (3. Aufl. 1971) S.-291. S. 90: Wilsnack, St. Nikolaus. Corpus Vitrearum (CVMA) Deutschland Potsdam/ Berlin- Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Foto : Renate Roloff (CC BY-NC 4.0). https: / / corpusvitrearum.de/ id/ F5737 (Stand 10.11.2019). S. 110 f., 113: die drei Karten nach Die Bistümer des Heiligen Römischen Reichs um 1500, in: Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, hg. von Erwin Gatz unter Mitwirkung von Clemens Brodkorb und Helmut Flachenecker (2003), festgebundene Beilage nach S. 872 bearbeitet von Jan Hrdina. S. 126: Wilsnack, St. Nikolaus. Foto © Maria Deiters, Berlin. S. 130: Pilgerzeichen Wilsnack. Foto © Jörg Ansorge, Horst/ Greifswald. S. 130: Andechser Pilgerzeichen. Quelle: online-Auktions-Katalog Münzenhandlung G. Hirsch Nachfolger, München, Auktion 310, Mai 2015. https: / / www.numisbids.com/ n. php? p=lot&sid=1069&lot=1021 (Stand 20.10.2019). S. 137: Wilsnack, St. Nikolaus. Corpus Vitrearum (CVMA) Deutschland Potsdam/ Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Foto : Renate Roloff/ Holger Kupfer (CC BY-NC 4.0). https: / / corpusvitrearum.de/ id/ F5738 (Stand 10.11.2019). S. 140: Kloster Himmelkron, Skulptur aus dem Kreuzgang. Foto: PeterBraun74 (CC-BY- SA-3.0). https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 9/ 90/ Himmel_037.JPG (Stand 20.10.2019). S. 150 f.: aus: Konrad Grünenberg, Beschreibung der Reise von Konstanz nach Jerusalem, ca. 1487, fol. 28v und fol. 29r. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter pap. 32. https: / / digital.blb-karlsruhe.de/ blbhs/ content/ pageview/ 3853563; https: / / digital.blb-karlsruhe.de/ blbhs/ content/ pageview/ 3853564 (Stand 8.10.2019). S. 153: aus: dass., fol. 50v. https: / / digital.blb-karlsruhe.de/ blbhs/ content/ pageview/ 3853607 (Stand 8.10.2019). S. 157: Wilsnack, Inneres, Foto © Maria Deiters, Berlin. S. 190: aus dem Druck der „Gräfin von Anhalt“, Innendeckel. Kraków/ Krakau, Biblioteka Jagiellońska. https: / / jbc.bj.uj.edu.pl/ publication/ 240606 (Stand 2.10.2019). S. 227-249: Faksimile der „Gräfin von Anhalt“. Kraków/ Krakau, Biblioteka Jagiellońska.https: / / jbc.bj.uj.edu.pl/ publication/ 240606 (Stand 2.10.2019). S. 261: aus: Denckwürdige Reisebeschreibung Durch Teutschland / Italien / Spanien / Portugall / Engeland / Franckreich und Schweitz / [et]c. : Darinnen nicht allein die vornehmsten Städte / sondern auch die merckwürckdigsten Schätze und Raritaeten … / mit fleißiger Sorgfalt Persöhnlich in gedachten Ländern auffgezeichnet und auff vielfältiges Begehren in öffentlichen Druck gegeben durch Johann Limberg / von Roden, Leipzig 1690. Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Digitalisat der Bibliothek. http: / / digital.bibliothek.uni-halle.de/ hd/ content/ pageview/ 628942 und http: / / digital.bibliothek.uni-halle.de/ hd/ content/ pageview/ 62894 (Stand 24.10.2019). S. 270 f.: „Jersualem“ (sic! ) des P. C. van Aelst aus: Mordechay Lewy, An unknown view of Mt. Zion monastery by the Flemish old master Pieter Coecke van Aelst (1502-1550) as evidence to his pilgrimage to Jerusalem, in: Liber annuus 55 (2005) S. 315-326. S. 277: Holtzwirth-Handschrift "Reyse Wolffen Holtzwirdts nach Jherusalem sambt allem, waß sich zugetragenn“), Schlossmuseum Sondershausen, Sign. HS 2, pag 19r; © Schlossmuseum Sondershausen Foto: Helmut Röttig, Sondershausen. S. 281: Tätowierung, aus: Johannes Lundius, Die alten jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten […], posthum hg. von Heinrich Muhlius (Hamburg 1704) S.-732. S. 286 f.: aus: Cesta z Prahy do Benátek a odtud potom po moři až do Palestyny, to jest so krajiny nĕkdy Židovské, zemĕ Svaté, do mĕsta Jeruzaléma k Božimu hrobu, kteraužto cestu s pomoci Pána Boha všemohúciho štastnĕ vykonal Voldřich Prefát z Vlkanova léta Páně 1546 […], hg. von Karel Hrdina (Prag 1947), nach S.-172. S. 326: Kupferstich aus: MONS OROPÆVS DEIPARÆ VIRGINI SACER, in: THE- ATRVM || STATVVM || REGIÆ CELSITUDINIS || SABAVDIÆ DVCIS, / PEDEMON- TII PRINCIPIS […] 2 (1682) Karte 49, vor S. 128. Bayerische Staatsbibliothek, 2 Mapp. 33-2. S. 335: Titelblatt aus: Wilhelm von Gumppenberg, ATLAS || MARIANVS || Sive || de imaginibvs || DEIPARAE || per || orbem Christianvm || MIRACVLOSIS […] 1 (1657). Passau, Staatliche Bibliothek, S nv/ Ne (b) 17-1(3). S. 335: Titelblatt aus: Heinrich Scherer, ATLAS || MARIANUS || SIVE || PRÆCIPVÆ TOTIUS || ORBIS HABITATI || IMAGINES || ET STATUÆ || MAGNÆ || DEI MATRIS 360 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 361 […] PROPOSITÆ […] (Atlas Novus [3], 1702). Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4 Gs 2062#(Beibd. 1. S. 339: Maria Beinberg, aus: Stephan Rauscher, Die Wallfahrt Maria Beinberg im Spiegel eines Mirakelbuches des 18. Jahrhunderts (2008) S. 22, Abb. 12. S. 343: aus: Heinrich Scherer, ATLAS || MARIANUS || SIVE || PRÆCIPVÆ TOTIUS || ORBIS HABITATI || IMAGINES || ET STATUÆ || MAGNÆ || DEI MATRIS […] PROPOSITÆ […] (Atlas Novus [3], 1702) S. 11: Americae. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4 Gs 2062#(Beibd. 1. S. 344 f.: aus: dass., vor S. 1. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4 Gs 2062#(Beibd. 1. Weitere Abbildungsvorlagen, Tabellen und Karten, soweit sie nicht näher bezeichnet sind, stammen von den Autoren. Register der Orts- und Personennamen 363 Register der Orts- und Personennamen Das Register verzeichnet alle Orts- und Personennamen aus den Beiträgen nebst Anmerkungen. Die Personen werden in der Regel unter ihrem Nachnamen, Herrscher und Geistliche unter ihren Vornamen genannt. Nicht identifizierte Personen aus Quellentexten erscheinen kursiv. Aus Gründen der Einheitlichkeit werden die Landesherren, insbesondere der Mark Brandenburg und Sachsens, unter ihrem jeweils höchsten Titel als Kurfürst geführt, auch wenn sie im Text selber als Markgraf erscheinen. In Anführungszeichen stehen die fiktiven Gestalten aus der „Gräfin von Anhalt“. Abkürzungen: Bf. Bischof Br. Bruder d. der/ die d.Ä. der Ältere d.J. der Jüngere Dr. Doktor Erzbf. Erzbischof Gf./ -gf. Graf Hl. Heilige/ Heiliger Hz./ Hz.in Herzog/ Herzogin Kard. Kardinal Kurf. Kurfürst Kg./ Kg.in König/ Königin Ks./ Ks.in Kaiser/ Kaiserin Kl. Kloster Mag. Magister OESA Ordo Eremitarum Sancti Augustini, Augustiner-Eremiten OFM Ordo Fratrum Minorum, Franziskaner OP Ordo Praedicatorum, Dominikaner SJ Societas Jesu, Jesuiten St. Sankt/ Saint v. von Aachen 44 , 48 , 54 , 82 , 138 , 208 Aachen, Marienmünster 108 Aarau 276 Aarschot 44 Abano 148 Abusifer 292 Adam von Bremen 45 Adam v. Thöringen zum Stein 300 Afrika 336 , 346 , 347 Agi Dabris Hakim Sultan 309 Agnes, Hz.in v. Braunschweig-Göttingen 22 Agnes, Kg.in. v. Frankreich 119 Agnes, Markgf.in v. Baden 23 Aichler, David, Abt 133 Akrotiri, Nikolauskloster 152 Albrecht d. Beherzte, Hz. v. Sachsen 92 , 144 Albrecht v. Brandenburg, Erzbf. v. Mainz 14 , 132 , 210 , 218 Albrecht v. Löwenstein, Gf. 299 , 301 Albrecht II., Kg. 26 f., 30 Albrecht III. Achilles, Kurf. v. Brandenburg 92 , 138 , 146 Albrecht III., Hz. v. Bayern 127 ff. Albrecht IV. v. Anhalt-Köthen 149 , 152 „Albrecht von Schwarzburg“ 193 f., 211, 214 Aleppo 293 Alkmaar 37 Altbayern 126 Altenburg 73 , 80 , 93 Altendresden 83 Altötting 120 , 329 , 340 Altruppin 118 Amalia von Oberkirch, Äbtissin 302 Ambrosius de Ambrosini quoniam Oratii Mediolanensis 308 Amerika 336 , 346 Amersfoort 35 , 38 Andechs 17 , 120 , 124 f., 129 ff., 133 f., 329 Andechser Berg 119 ff., 125 f., 128, 133 Andersen, Jürgen 293 Anna, Hz.in v. Pommern-Stettin 22 Anna v. Anhalt-Zerbst 212 f. Anna v. Oldenburg 212 -2 16, 2 18 ff., 223, 225 „Anna von Anhalt“ . Siehe-„Gräfin von Anhalt“ Ansbach 13 , 85 Antwerpen 35 , 47 , 49 , 52 f., 56 f., 59 f. Arnold v. Treskow, Propst 179 Asien 336 , 346 f. Aub 34 Augsburg 126 , 291 , 324 , 334 , 341 Aurelius Augustinus 283 Australien 346 Avignon 56 Bad Wilsnack . Siehe-Wilsnack Balthasar v. Schlieffen 179 Bamberg 160 Barbara v. Liegnitz, Hz.in v. Sachsen 72 , 155 , 176 Barby, Johannes 180 Basel 29 , 56 , 127 , 148 , 156 , 159 , 174 , 177 f., 1 80 f. , 198, 21 7 Báta 112 Bautzen 68 Bayern 66 , 114 , 133 , 323 , 328 f. Beelitz 71 , 105 Beeskow 25 Beheim, Michel 31 Belgien 44 Benzing, Josef 192 Bergen (Nordholland) 37 Bergen (Norwegen) 50 Berg Zion 270 , 272 , 290 Berlin 127 , 146 f ., 154, 162 f., 18 9 364 Register der Orts- und Personennamen Register der Orts- und Personennamen 365 Bern 198 ff. , 204, 207, 217 f. Bernburg, Herzogliche Bibliothek 167 Bernhard von Clairvaux 347 Bernhart v. Thüngen 301 Bernstadt 68 Berthold III. v. Andechs 120 Bethlehem 145 Bethlehem, Katharinenkloster 294 Biddulph, William 291 Blasius Steinhart Alemanus 308 Blomberg 44 Bogislaus X. v. Pommern 289 Böhmen 24 , 27 , 103 , 109 , 114 f., 126 f., 131, 300, 335, 338 Bologna 13 , 110 Bolsena 106 , 117 Bonifatius-IX., Papst 28 , 114 , 121 , 123 , 132 Bordeaux, St. Michel 56 Borromeo, Carlo, Ebf. v. Mailand 325 Borromeo, Federico, Ebf. v. Mailand 325 Brabant 60 Brandenburg 95 Brandenburg, Bistum 67 , 71 Brandenburg, Dom 72 , 143 Brandenburg, Marienkirche 140 Brandenburg, Mark 22 , 24 f., 39, 71, 104 f., 108 f., 115 , 127 , 132 , 138 , 140 , 146 Brandenburg, Stadt 89 Brant, Sebastian 253 Brasilien 347 Braunschweig 43 f., 67 Braunschweig, St. Aegidien 99 Brehna 90 Bremen 45 Brielle 60 Bruck an der Mur, Kl. 260 Brügge 40 , 44 , 55 , 99 Brüssel 52 , 56 , 60 Bruyn, Cornelius de 285 Buchenbach, Hans Jakob Breuning von 274 , 294 f. Buckow 71 Budissin . Siehe-Bautzen Burg 87 , 95 , 174 , 181 Burgund 27 Cäcilie v. Braunschweig-Wolfenbüttel 23 Calbe 87 , 94 , 177 Calbux, Johannes, Pfarrer 117 Calixtus III., Papst 78 Candia 300 Carolus de Pons Gallus 308 Caspar v. Waldow 152 Celle 23 , 43 , 45 Chartres 56 , 323 Christian I., Kg. v. Dänemark 21 , 213 f. Christianus de Hiddestorf OFM 168 , 173 f., 180 Christoff Veit v. Reineck 300 Christoff v. Loubenberg 300 Chrudim 112 Cismar 99 Claudius Audubri de Barleduc in Lorena 308 Claus, Hofnarr 88 Clemens V., Papst 68 Clemens VIII., Papst 282 Clough, Cecil H. 224 Coburg 65 Colditz a.d. Mulde 84 Cölln 146 f., 164 Conrad de Monte Polliciano 175 Conradus OP, Mag. 175 , 180 Cuntz von Maltitz 95 Cuyckius, Henricus, Bf. v. Roermund 284 Dachauer, Jakob 119 Damaskus 290 Daniel Daum de Borack Saxo 308 Dannenberg 28 f. Danzig 30 Delitzsch 87 , 94 Den Bosch 60 Den Briel 54 Dendermonde 44 , 49 Dessau 167 Deutschland 119 , 258 f., 267, 273, 338, 347 Deutschordensland 30 Deventer 38 f., 43 Diderich II., Bf. v. Havelberg 118 Diepholz 45 Diest 44 Dietrich II. v. Wettin 65 Dijon 56 , 224 Dillingen 334 Dithmarschen 16 Doberan 105 Donauwörth 323 Dordrecht 35 Döring OFM, Matthias 80 , 159 , 171 , 174 , 180 Drente 45 Dresden 65 , 69 , 82 , 163 Dresden, Kreuzkirche 69 Dubrovnik 149 Dürer, Albrecht 76 Eberhard, Propst 175 Eberhart v. Bellersheim 300 Ebersberg, Kl. OSB 120 , 122 , 125 Ebersdorf 84 Eckhart, Johan Georg von 275 Ecklin (Egli), Daniel 276 , 290 Efefelde 175 Egeln 177 Eichsfeld 324 Eilenburg a. d. Mulde 88 , 95 Einbeck 20 Einsiedeln 198 , 217 Einsiedeln, Unsere Liebe Frau 51 , 54 , 59 Eisenach 260 Elbe 181 Elbing 112 f. Elende b. Nordhausen 81 Elisabeth, Hl. 119 , 130 Elisabeth v. Bayern-Landshut 138 Elisabeth v. Künsberg, Äbtissin 141 Elisabeth v. Luxemburg 26 Elisabeth v. Pommern, Ks.in 24 , 108 , 132 Ellefeld, Joachim 62 , 80 , 132 Elsass 208 Engelhard VIII. v. Weinsberg 26 Engelhus, Dietrich 180 England 274 , 279 Enno, Gf. v. Ostfriesland 212 Episcopia 152 Erasmus von Rotterdam 46 Erfurt 67 , 155 , 173 , 180 , 185 , 260 Erfurt, Universität 80 Ernst, Erzbf. v. Magdeburg 81 , 87 , 92 Ernst, Hz. v. Bayern 125 , 127 f. Ernst, Kurf. v. Sachsen 73 , 81 , 87 , 92 , 163 Erzgebirge 146 Esterhazy, Paul 335 f. Eudel, Paul 225 Eugen IV., Papst 29 , 128 , 159 f. Europa 346 f. Eusebius 255 Famagusta 154 , 282 Ferrara 29 Fischbeck 185 Flach d. Ä., Martin 223 Flach d. J., Martin 187 f., 220, 223, 252 Flandern 41 , 44 , 53 f., 111 Florenz 29 Francesco da Serino 273 f., 277, 285 Franciscus Fiorisi Civ[es] Leocatae 309 Francke, August Herrmann 294 Frank van Borsselen 40 366 Register der Orts- und Personennamen Franken 65 Frankreich 214 , 218 , 259 , 267 , 296 , 338 , 347 Franz von Assisi 326 Franz I., Kg. v. Frankreich 282 Frederik van Heilo 45 Freiburg i.Ü. 196 , 198 , 200 ff., 207 ff., 216 ff., 334 Freiburg (Vorderösterreich) 334 Fribourg . Siehe-Freiburg i.Ü. Friedberg, Herrgottsruh 324 Friedrich d. Fromme v. Braunschweig- Lüneburg 23 Friedrich d. Jüngere, d. Fette, v. Brandenburg 138 Friedrich, Hz. v. Bayern 119 Friedrich I., Kurf. v. Sachsen 72 , 139 Friedrich I., Markgf. v. Brandenburg 138 , 146 Friedrich II., d. Sanftmütige, Kurf. v. Sachsen 73 , 78 , 80 f., 86, 93 Friedrich II., Kurf. v. Brandenburg 16 , 92 , 128 , 132 , 135 f., 138 f., 142, 145-148, 152, 158 f., 163, 165, 182 Friedrich III., Ks. 92 , 163 Friedrich-III. v. Beichlingen, Erzbf. v. Magdeburg 135 , 158 , 161 , 169 ff., 173 Friedrich III. v. Österreich, Kg. 30 Friedrich III., d. Weise, Kurf. v. Sachsen 14 , 76 , 81 , 87 ff., 209 Friedrich IV., d. Streitbare, Kurf. v. Sachsen 81 , 83 f. Friesland 45 Fugger 324 Furtenbach, David 299 , 301 f. Gachenbach, Maria Beinberg 341 , 347 Gardelegen 43 Gardschütz 73 Gebhard V. v. Mansfeld 149 Geldern 36 Gent 44 , 52 , 56 , 62 Georg I. v. Anhalt-Zerbst 212 Georg v. Schlieben 152 Georg v. Waldenfels 152 Gerber, Jacob 183 Gerhard, Hz. v. Jülich und Berg 22 Gerhard der Mutige, Gf. v. Oldenburg 214 Gerhard VII. v. Holstein 23 Gerlach, Hinrich 184 Gernrode, St. Cyriakus 167 Geseke 44 Ghiffa 325 Gifhorn 43 Glogau 67 Golgotha 294 Goslar, St. Simon und Juda 48 Gotha, Augustinerkloster 67 Gottfried v. Heimbach, Komtur 154 Gottfried v. Hohenlohe 152 Gottsbüren 67 , 106 f. Gouda 47 , 58 , 61 Graesse, Johann Georg Theodor 191 „Gräfin von Anhalt“ 193 , 197-200, 203, 207, 209-212, 214, 216, 220-224 Gran, Heinrich 254 Gregor d. Große, Papst 119 , 127 Grimma 84 f. Grimmenthal 81 Gröben, Otto Friedrich von der 274 , 285 Groningen 38 , 45 Gudermann, Mag. Johannes 185 Gumppenberg, Wilhelm v., SJ 333- 338, 340 f., 347 Gunterrode, Hans 87 Günther v. Schwarzburg, Erzbf. v. Magdeburg 72 , 156 , 158 , 174 , 176 , 179 Register der Orts- und Personennamen 367 Gunzinger, Christoph 259 Güstrow 106 f. Haarlem 37 , 45 ff. Habsburg 267 Haga, Cornelius 273 Halberstadt 161 Halberstadt, Erzbistum 67 Halle 184 , 275 Hamburg 181 Hameln 44 Hannover 43 Hanseraum 103 Hans v. Bredow 152 Hans v. Hutten 210 , 218 Hans zum Rosen OFM 149 Harant von Polschitz und Weseritz, Christoph 280 , 282 , 291 Harlunger Berg 140 Hartlieb, Johannes 254 f. Hasselt 38 , 44 , 49 Hassow (Hassa) v. Bredow 152 Haunstetten 324 Hausberge 113 Havelberg 48 , 80 , 87 , 156 , 158 , 179 Havelberg, Bistum 117 , 132 , 136 Heck, Cristoff 94 Hedwig, Kg.in v. Polen 25 , 108 Hedwig v. Polen 139 Hedwig v. Polen, Kurf.in v. Brandenburg 132 Heidelberg 199 , 201 , 207 , 209 f., 218 Heilbronn 26 Heiligengrabe 102 , 105 Heiligenleichnam 72 , 80 , 93 Heiliges Land 12 , 89 , 105 , 136 , 144 , 147 , 162 , 164 f., 324 Heilig-Kreuz b. Donauwörth OSB 323 Heinrich, Burggf. v. Meißen 212 Heinrich de Roven 180 Heinrich d. Löwe 99 Heinrich v. Braunschweig-Lüneburg, Hz. 83 Heinrich v. d. Pfalz 199 , 210 Heinrich v. Eilenburg 65 Heinrich v. Geismar, Mag. 173 , 180 Heinrich I. v. Schwerin 100 Heinrich IV., Ks. 65 Helpman bei Groningen 38 Henricus Henrici Groennigensis ex Olandia 308 Henriette Maria, Kg.in v. England 274 Heraklion 149 Hermann II., Landgf. v. Hessen 22 Hermann Künig von Vach 208 Hermanus, Propst 175 Hessen 300 Hessen-Kassel 324 Heyse, Karl Wilhelm Ludwig 190 , 193 Hildesheim 44 Hillentrup 113 Hiltermann, Heinrich, Dr. iur. utr. 175 Himmelkron, Kl. 141 Hochzoll, Maria Alber 324 Hogenstein, Jodocus, Generalprokurator 162 f. Hohenzollern 138 , 146 Holland 35 ff., 39, 43, 52 ff., 60, 273 Holzwirth, Wolf 275 f. Hoogstraten, NN. van 58 Horn 44 Hornhausen b. Halberstadt 13 Huber, Wolff 301 Hupfuff d. J., Matthias 252 , 254 f. Hus, Jan 24 , 97 f., 109, 127 Hussiten 146 Ibrahim Pascha, Großwesir 271 Indien 9 368 Register der Orts- und Personennamen Ingolstadt 334 , 341 Innozenz III., Papst 117 Isabella v. Bourbon, Kg.in v. Spanien 296 Istanbul 271 , 273 , 292 Italien 144 , 259 f., 335, 338, 347 Jacobus Antonius de Nior und Vehlenstre 308 Jacobus de Voragine 122 Jaffa 144 , 148 f., 154 Jakoba v. Bayern, Gf.in 40 Jakobus, Hl. 194 ff., 200, 202, 204, 221 ff. Jan van der List 40 Jasna Góra 329 Jerichow 183 Jerusalem 12 f., 16, 78, 143-146, 149, 152, 164 f., 269 f., 272- 275, 278, 281 f., 285, 289- 295, 299, 302 f., 321 Jerusalem, Al-Aksa Moschee 293 Jerusalem, Grabeskapelle 288 , 301 Jerusalem, Grabeskirche 288 , 293 , 298 Jessen 176 Joachim v. Sintzendorff 273 Joachim I. Nestor, Kurf. v. Brandenburg 132 Joachim II. Hector, Kurf. v. Brandenburg 132 Joannes Baurannitz Polonus 308 Joannes filii Hieronymi 309 Jobst v. Mähren, Markgf. 132 Johann Brendel v. Homburg 301 Johann Cicero, Kurf. v. Brandenburg 85 Johann d. Beständige, Kurf. v. Sachsen 81 , 89 Johann de Lisura 174 Johann de Turrecremata 174 Johann Polomar 174 Johann v. Anhalt 210 Johann v. Brandenburg 138 , 143 , 146 Johann v. Görlitz, Hz. 25 , 108 , 131 „Johann von Anhalt“ 193 , 199 , 211 , 213 Johann II., Hz. v. Bayern 120 Johann II., Kg. v. Zypern 154 Johann II. v. Brunn, Bf. v. Würzburg 28 Johann-V. v. Oldenburg u. Detmold, Gf. 212 ff. Johannes von Gubbio OP 121 f. Johannes v. Salhausen, Bf. v. Meißen 70 Joseph Clemens von Bayern, Ebf. v. Köln 346 Jost, Markgf. v. Mähren 108 Juan de Carvajal, Kard. 162 Julianus, Kard. St. Angeli 174 , 177 Jülich 44 Jülich-Berg, Herzogtum 90 , 92 Jüterbog 176 Kalifornien 346 Kampen 38 Kannemann OFM, Johannes 159 , 173 f., 180 Kapistran OFM, Johannes 161 Karl d. Gr., Ks. 119 , 121 Karl d. Kühne 49 Karl I., Kg. v. England 274 Karl IV., Ks. 24 f., 108, 121, 131 Karl V., Ks. 199 , 209 f., 271 Karlowitz, Türknecht 87 Karpaten 98 , 115 Kaschau 112 Katharina v. Braunschweig-Lüneburg 81 , 83 f. Katharina v. Görz, Hz.in v. Bayern 120 Katharina v. Sachsen 139 Ketzel, Georg 149 , 154 Register der Orts- und Personennamen 369 Ketzin/ Havel 72 Khevenhüller, Bartholomäus 257 ff., 297, 299, 301 Khevenhüller, Franz 301 f. Kiechel, Samuel 292 , 294 f. Kircher, Athanasius SJ 337 Kiritz, Mag. Johannes 180 Kistler, Bartholomäus 252 -2 55 Klettgau, Grafschaft 192 Kloss, Georg Franz Burkhard 189 , 191 , 193 , 224 Knobloch b. Brandenburg 71 , 102 Knobloch, Johann 252 ff. Köln 44 , 48 , 54 , 60 , 199 , 207 , 260 , 321 Kone OP, Johannes 80 , 93 , 175 Konrad v. Erlichshausen 30 Konrad v. Lintorff, Bf. v. Havelberg 156 , 158 , 161 , 179 Konrad v. Soltau, Bf. v. Verden 155 , 180 Konrad II. v. Weinsberg, Erzbf. v. Mainz 26 Konrad IX. v. Weinsberg 26-31, 33 f. Konstantinopel 13 , 149 , 154 Konstanz 163 , 173 Korfu 144 , 149 Köslin 56 Krafft, Hans Ulrich 275 Krakau 25 , 110 , 189 Kreta 144 , 300 Kurbrandenburg 324 Kurhannover 324 Kursachsen 324 Kuttenberg 112 Kyrill, Patriarch v. Konstantinopel 273 Ladislaus Postumus 26 Landsberg am Lech 334 Langheim, OCist. 320 La Sainte Baume 56 Lassota von Steblau, Erich 259 Lateinamerika 347 Lausitz 146 Leibniz, Gottfried Wilhelm 275 Leiden 57 , 61 Leimmen, Cornelius van 290 Leipzig 66 , 73 , 82 , 87 , 162 , 175 , 180 Leipzig, Universität 80 Leitzkau 180 Lichtenau, Schloss 17 Limberg, Johannes 12 , 259 f., 262, 264-268 Lincoln 56 Lippe 324 Litauen 338 Lithgow, William 280 , 296 Litomyšl 112 Livland 103 Livorno 273 Lochner, Dr. Hans 147 Lod 152 Lodovico de Varthema 9 , 253 , 255 Lombardei 325 London 56 , 60 Loon, Grafschaft 49 Loredan, Antonio 148 Loreto 321 , 324 , 330 , 332 , 338 Löwen 44 , 52 , 55 , 60 Loy Jordaens 41 Lübeck 14 , 23 f., 30, 56, 127, 185, 199, 207, 214 Lüben 117 Lucca 58 Lüchow 23 Ludolf, Heinrich Wilhelm 274 , 276 , 285 , 294 Ludwig d. Bayer, Ks. 120 f. Ludwig v. Erlichshausen, Hochmeister 162 Ludwig I. v. Leuchtenburg 149 Ludwig V., d. Friedfertige v. d. Pfalz, Kurf. 199 , 210 370 Register der Orts- und Personennamen Lüneburg 28 , 31 Luther, Martin 10 , 14 , 133 , 269 , 299 , 303 , 317 Lüttich 68 Luxemburger 24 f. Luzern 56 Maastricht 44 , 49 , 208 Magdalena v. Braunschweig-Lüneburg 23 Magdeburg 25 , 28 , 30 , 42 , 47 f., 72, 88, 95, 114 f., 155 f., 158, 160 f., 168 f., 173-176, 178, 180, 183 ff. Magdeburg, Erzbistum 67 , 72 , 87 , 146 Magdeburg, Möllnhof 177 Magnus v. Anhalt 210 Mähren 335 Mainz 30 , 199 , 218 Mainz, Erzbistum 67 Mantua 334 Marburg 120 , 163 , 260 Marcel Jansz. de Rijck 51 Margarete v. Anhalt 213 Margaretha, Kurfürstin v. Brandenburg 85 Margaretha v. Österreich 81 , 86 , 93 Margaretha v. Schwarzburg 211 Margarethe v. Sachsen 73 Maria Steinhausen 320 , 330 Maria v. Luxemburg 108 Mariazell 328 Marienburg 30 Marienfließ 99 Marino Sanuto d.J. 269 Markus [Marx] Friedrich von Thüngen 301 Marseille 275 , 289 Marseille, St. Louis 56 Martin-V., Papst 28 , 292 Master Burell 275 Mathilde v. Andechs 120 Maundrell, Henry 285 Mauritius Petzwitz Danicscanus 308 Maximilian I., Ks. 210 Maximilian I., Kurf. v. Bayern 131 , 329 Maximilian II., Ks. 273 Mecheln 44 , 53 , 59 Mecklenburg 104 f. Medina 293 Meersen 35 Meier OFM, Ludger 167 Meinhard VI. v. Görz 120 Meinhart v. Schönberg 301 Meißen 65 , 70 , 79 , 142 Meißen, Bf. von 48 Meißen, Bistum 66-72 Meißen, Dom 69 , 78 Meißen, Mark 90 Meißen, Markgrafschaft 65 f., 82 Mekka 293 Melanchthon, Philipp 191 Meppen 45 Merseburg, Bf. von 48 Merseburg, Bistum 67 , 71 Meschede, Gottschalk 185 Methoni 149 Milchling . Siehe-Schutzperg Minden 43 Molitoris, Ulrich 175 Moritz v. Nassau (Oranien) 284 Muhammad al Adschami 270 München 119 , 121-128, 131, 334 München, Burgkapelle 120 München, Frauenkirche 120 München, Heilig-Geist-Kirche 123 München, Heilig-Geist-Spital 123 München, St. Jakob 123 München, St. Lorenz 120 München, St. Peter 123 München, Unsere Liebe Frau 123 Register der Orts- und Personennamen 371 Münster 324 Müntzer von Babenberg, Wolfgang 275 Münzer, Hieronymus 267 Myrike, Heinrich 285 Naumburg, Bistum 67 , 73 Nennhausen 71 Neuenstadt a. Kocher 30 Neufrankreich 347 Neumann, Johann Balthasar 320 Neumeister, Vincenz 162 Neuspanien 347 Niederlande 27 , 35 , 37 , 43 , 46 , 48 , 51 , 62 , 98 , 111 , 338 Niederlausitz 65 Niedersachsen 66 Nienburg (Weser) 45 Nijkerk 36 Nikolaus de Libra 180 Nikolaus (Nickel) Pfuhl 152 Nikolaus von Cusa . Siehe-Nikolaus von Kues, Kard. Nikolaus von Kues, Kard. 37 , 45-48, 58, 79 f., 128 f., 132 f., 135, 160 ff., 168, 174 Nikolaus V., Papst 46 , 48 , 73 , 160 f., 163 f. NN, Geistlicher v. Schönhausen 183 Nürnberg 158 , 258 Oberbayern 341 Oebisfelde 43 Oldenburg, Haus 215 Orense 262 Orléans 56 Oropa b. Biella 325 Orta 325 Örtel, Sebald 258 Osnabrück 43 Ossuccio 325 Österreich 27 , 123 , 300 Osterwiek 185 Ostfriesland, Grafschaft 212 Ostmark 65 Ottheinrich, Pfalzgf. 289 Otto v. Rohr, Bf. 132 Otto v. Schlieben 152 Otto II., Bf. v. Bamberg 119 Otto II., Hz. v. Braunschweig-Göttingen 22 Otto III. v. Henneberg-Römhild 149 Paderborn 44 Padua 148 Palästina 143 ff., 147, 269, 280 Panzer, Georg Wolfgang 193 Pappenheim, Christoph v. 300 , 302 Paris 56 , 208 Paris, Sainte Chapelle 119 Pasewalk 143 Pelagius 283 Perleberg 30 Petrus Klytzke, Propst v. Brandenburg 173 , 179 , 181 ff. Petrus von Ach 97 Philipp d. Schöne v. Habsburg 222 f. Philipp II., Kg. v. Spanien 257 , 267 Philipp-IV., Kg. v. Spanien 264 Philippus Lecquelen a Morles Britannus 309 Piemont 325 Pius II., Papst 78 Pius V., Papst 284 Plaue 87 , 94 Polen 103 , 335 , 338 Pont Saint Esprit 214 Pontevedra 262 Poppo vom Stein 152 Posen 112 Prado, Don Antonio 265 Prag 24 f., 56, 97, 109, 115, 127, 155, 175, 177 Prag, Erzbistum 68 Prefat von Wilkenau, Ulrich 275 Prenzlau 143 Preußen 27 372 Register der Orts- und Personennamen Prignitz 24 , 79 , 82 , 104 Pyrenäen 194 Quakenbrück 45 Quast, Henning (Heyn) 152 Ramla 152 , 275 Rathenow 87 , 94 Rauwolf, Leonhard 291 Regensburg 56 , 120 , 334 Rehes, Johannes 185 Reutlingen 210 Rhein 194 , 199 , 206 ff. Rheingau 300 Rheinland 67 Rhodos 144 , 154 Riga 30 , 100 , 112 Rijeka 324 Rochlitz 86 Rom 16 , 42 , 45 , 48 , 51 , 73 , 82 , 114 , 123 , 128 f., 132, 136, 148, 159 f., 162 ff., 175, 273, 320 f., 334 Rostock 42 , 138 , 155 Rot, Hans 148 Rot, Peter 147 ff., 152, 154, 163 Rotterdam 38 , 62 Rudolf III., Hz. v. Sachsen-Wittenberg 72 , 156 Rulle 106 Rumeland, Mag. Petrus 174 f., 180 Ruppin 181 Sachow, Nikolaus, Bf. v. Lübeck 185 Sachsen 65 , 90 , 142 , 174 Sachsen, Herzogtum 65 Sachsen, Kurfürstentum 65 Sachsen-Anhalt 65 Sachsen-Lauenburg 28 Saida . Siehe-Sidon Saint Esprit 214 Saint Jean Saverne 302 Saint Josse-sur-Mer 50 Salzburg 160 Salzwedel 43 , 185 Samuel, Erhard 149 Sandau a. d. Elbe 87 , 94 Sanderson, John 290 f., 293 Sandys, George 290 , 297 Santiago de Compostela 9 f., 12, 17, 41, 51, 55, 82, 187, 194, 196, 199 f., 202, 204, 206 ff., 214, 222 f., 257 f., 261 f., 265, 267 f., 320 f., 323 Santo Domingo de la Calzada 202 Scherer, Heinrich SJ 333 f., 336 f., 341 f., 346 ff. Scherpenhoevel 323 Scheurl, Christoph 11 f. Schiedam 54 , 61 Schlägl, Stift 17 Schlesien 27 Schmidt, Charles 192 Schönbrunner, Heinrich 259 Schott, Martin 254 Schottland 296 Schrautenbach, Balthasar 163 Schussenried OPraem 320 Schützenfeld, Dr. Friedrich 174 , 180 , 184 Schutzperg (gen. Milchling), Heinrich Herman 301 , 306 Schwaben 126 , 300 , 348 Schwarzburg, Grafen v. 192 Schwarzenberg, Grafschaft 192 Schweden 207 , 212 f. „Schwedien“ 192 f., 211 f. Schweigger, Salomon 273 , 295 Schweiz 207 f., 210, 214, 217 Schwerin 100 Schwerin, Dom 28 Seeland 43 Seusenius, Martinus 282 Seydlitz, Melchior 285 ’s-Gravenzande 53 Sidon 290 Sigismund, Bf. v. Würzburg 81 , 85 Register der Orts- und Personennamen 373 Sigismund, Ks. 25-28, 30, 34, 163 Sigismund v. Luxemburg 108 Sint Truiden 44 Sizilien 338 Slowakei 335 Sluis 40 f. Soest 44 Solothurn 198 , 207 , 209 ff., 217 Solte 185 Sophia, Kg.in v. Böhmen 127 Sotheby, Samuel 191 Sotheby & Son 189 Spanien 257 f., 260, 262, 271, 296, 335, 338 Sparre, Nikolaus 152 St. Antoine-en-Viennois 196 , 202 , 207 f. St. Antoine-l’Abbaye 196 St. Ewald im Elsass 56 St.-Gilles-en-Provence 56 St. Joost aan de Zee 51 St. Lucas (Toscana) 58 St. Mariental (Oberlausitz) 68 St. Oswald b. Haslach 17 St. Saturninus von Toulouse 214 Stargard 20 Steenwech, Jacob 50 Steinbeck, Mag. Petrus 173 Steingaden OPraem 134 , 320 Stendal 43 f., 175 Stephan, Kg. v. Ungarn 328 Stephan III., Hz. v. Bayern 119 , 123 Stephan III. Praun 10 , 13 , 267 Sternberg 42 , 71 , 102 Stettin 25 Steynbeck, Petrus 180 Stiphout 35 Storbeck, Mag. Henning 175 , 177 Straßburg 56 , 178 , 190 , 198 , 200 , 207 ff., 217, 302 Stubbe, Ratghe 281 Süleyman I., Sultan 270 f., 282, 292 Sulingen 45 Sulzberg . Siehe-Schutzperg 301 Sulz, Grafen v. 192 Swantibor I., Hz. v. Pommern-Stettin 22 , 25 Tangermünde 28 , 42 , 44 , 88 , 131 , 138 Telgte 324 , 331 Thann im Elsaß 20 , 22 Thann, St. Theobald 56 , 59 Thomas von Aquin 47 , 284 Thünger, Hieronymus 301 Thüringen 65 , 90 Thüringen, Landgrafschaft 65 Tienen 44 , 60 Timberlake, Henry 275 , 280 , 283 , 289 Tirol 120 , 126 , 134 Tocke, Heinrich 16 , 72 , 127 , 154 ff., 158, 160, 167 ff., 173, 175, 184 Tonemann, Nikolaus, Pfarrer 72 , 176 f. Tongeren 44 Torgau 65 , 87 f. Toulouse 194 , 202 , 207 f. , 214 Toulouse, Saint Sernin 194 Tours 56 , 59 , 208 Trient 318 , 334 , 338 Trier 60 Trier, St. Matthias 51 Tripoli 275 Trsat 324 Tschenstochau 329 Tunis 271 f. Tyrnau (Nagyszombat/ Trnava) SJ 335 Uckermark 143 Uelzen 45 Ulrich, Br. 175 Ulrich v. Hutten 218 Ulrich v. Württemberg, Hz. 198 , 210 , 218 374 Register der Orts- und Personennamen Ungarn 26 , 110 , 335 f. Ungnad v. Sonnegk, David 273 Unna 44 Urban IV., Papst 68 , 117 Urban VI., Papst 114 Urban VIII., Papst 297 Ursele 44 Varallo 325 Varese 325 , 332 Vauvert 56 Vendôme 56 Venedig 27 , 144 , 147 ff., 163, 269, 271, 289, 292, 296, 299 Verbánia 325 Verniero, Pietro 285 , 288 , 292 f., 296 Vezelay 204 Vienne 68 Vierzehnheiligen 320 , 332 Vilvoorde 44 Vinsterel, Hieronymus 26 Vitruvius Bragadenus Venetus 307 Viviano, Reeder 297 , 299 Vogelgesang b. Elsnig 88 Wachau, Antonius 82 Waldeck 260 Waldeck, Grafen zu 262 Waldemar-VI. v. Anhalt-Köthen 212 Waldenser 146 Walldürn 101 , 106 Waltmann, Eberhard 161 Warmensteinach b. Bayreuth 13 Wartenberg SJ, Maximilian v. 334 Wartenburg b. Wittenberg 72 , 176 Wartenburg/ Kemberg 155 Weihenzell 13 Weimar 65 , 86 Weinsberg 27 , 31 , 34 Welfen 66 Weller, Emil 192 Wenceslav Staroghdin Dinskijn 308 Wenkstern, Dietrich 118 Wenzel, Kg. v. Böhmen 25 , 108 , 127 , 131 , 328 Werben 28 , 43 f., 89 Werder, Nikolaus 174 Werl 44 Westfalen 119 Westheim, Kobelkirche 324 Wettin 65 f. Wettiner 16 , 146 Wien 260 , 272 Wieskirche 320 Wild, Johann 293 Wilhelm I. v. Braunschweig-Wolfenbüttel 23 Wilhelm I., d. Ehrgeizige, Hz. v. Österreich 17 , 25 , 108 Wilhelm III., d. Tapfere, Hz. v. Sachsen 81 , 85 Wilhelm III., Hz. v. Bayern 29 , 125 Wilhelm IV., Hz. v. Bayern 127 Wilsnack 9 , 14 , 16 f., 20-26, 28, 30 f., 34 ff., 40-51, 53-62, 66 f., 78-90, 92 f., 97, 102, 107 ff., 117 f., 120, 126 f., 130 ff., 135 f., 138 f., 154 ff., 158 ff., 162, 164, 167, 169- 173, 175, 177, 179-186 Wismar 42 , 175 Witte, Nikolaus 183 Wittelsbacher 66 Wittenberg 11 , 65 , 67 , 72 , 86 , 88 , 155 , 176 , 275 Wittenberge 45 Wittstock 118 , 183 Woldemar-IV. v. Anhalt 211 Wolfgang v. Anhalt 210 Wolfgang v. Anhalt-Zerbst 209 , 211 f. Wolfsburg 43 Wolmirstedt 28 Wormbser, Jacob 280 , 296 f., 299- 302 Register der Orts- und Personennamen 375 Worms 14 , 199 , 201 , 206 f., 209- 212, 214, 218 f. Wörth . Siehe-Donauwörth Wulvergem b. Ypern 54 Würzburg, Bistum 67 Zachariae OSA, Mag. Johannes 180 Zadar 148 f. Zbyněk Zajíc von Hasenburg, Erzbf. v. Prag 24 Zbynko v. Hasenburg, Ebf. v. Prag 127 Zeeland 35 Zehdenick 71 , 105 Zeitz 275 Zerbst 176 Ziegenberg 86 Ziesar 183 Zimmermann, Dominikus 320 Zimmermann, Johann Baptist 320 Zink, Burkard 123 Zolter OESA, Mag. Heinrich 155 , 175 , 181 , 183 Zug 259 Zürich 209 Zwickau 72 f., 82, 176 Zypern 144 , 149 , 152 , 154 376 Register der Orts- und Personennamen