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Wort – Satz – Sprache

2023
978-3-8233-9441-9
Gunter Narr Verlag 
Kristian Berg
10.24053/9783823394419

Wir alle nutzen Sprache, kompetent und ganz selbstverständlich. Aber was das genau heißt und was für komplexe Strukturen und Systeme dahinterstecken, ist den meisten Laien unklar, denn wir können auf dieses Wissen nicht direkt zugreifen. Hier setzt dieser Band an. Ausgehend von authentischen Sprachdaten stellt er den Leserinnen und Lesern interessante und faszinierende Aspekte aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor. Jedes Kapitel widmet sich allgemeinverständlich und auf Basis aktueller linguistischer Forschung einem anderen sprachlichen Aspekt: ausgestorbene und aussterbende Wörter, Sprachwandelprozesse, sprachliche Zweifelsfälle, Trends bei der Vornamengebung und vieles mehr. Mit Phänomenen, die erstaunen und überraschen, führt der Band Studieninteressierte und Studierende an die Linguistik heran und macht neugierig auf einen ebenso spannenden wie vielseitigen Untersuchungsgegenstand: die deutsche Sprache.

Wir alle nutzen Sprache, kompetent und ganz selbstverständlich. Aber was das genau heißt, und welche komplexen Strukturen und Systeme dahinterstecken, ist den meisten Laien unklar, denn wir können auf dieses Wissen nicht direkt zugreifen. Hier setzt dieser Band an. Ausgehend von authentischen Sprachdaten stellt er den Leser: innen interessante und faszinierende Aspekte aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor. Jedes Kapitel widmet sich allgemeinverständlich und auf Basis aktueller linguistischer Forschung einem anderen sprachlichen Aspekt: ausgestorbene und aussterbende Wörter, Sprachwandelprozesse, sprachliche Zweifelsfälle, Trends bei der Vornamengebung und vieles mehr. Mit Phänomenen, die erstaunen und überraschen, führt der Band Studieninteressierte und Studierende an die Linguistik heran und macht neugierig auf einen ebenso spannenden wie vielseitigen Untersuchungsgegenstand: die deutsche Sprache. ISBN 978-3-8233-8441-0 Berg Wort - Satz - Sprache Wort Satz Sprache Eine Hinführung zur Sprachwissenschaft Kristian Berg Prof. Dr. Kristian Berg ist Inhaber des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik an der Universität Bonn. BUCHTIPP Matthias Granzow-Emden Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten bachelor-wissen 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019, 328 Seiten €[D] 21,99 ISBN 978-3-8233-8134-1 eISBN 978-3-8233-9134-0 Diese neuartige Einführung in die deutsche Grammatik verbindet schulgrammatisches Wissen und neuere Grammatikmodelle in anschaulicher und verständlicher Weise miteinander. Lehramtsstudierende können sich damit die Kenntnisse und Kompetenzen aneignen, die sie für ihr Studium und ihren künftigen Beruf brauchen, erfahrene Lehrkräfte erhalten wichtige Impulse für neue Wege im Deutschunterricht. Mit den funktional orientierten Erklärungen zum Feldermodell und den zahlreichen systematisch gestalteten Tabellen im Bereich der Verben, Nomen/ Nominalgruppen, Präpositionen und Pronomen bekommt die Schulgrammatik eine tragfähige Grundlage. Die Tabellen eignen sich darüber hinaus für DaF-/ DaZ-Kurse sowie für die autodidaktische Aneignung des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache. Die neue Auflage wurde gründlich überarbeitet und erweitert. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Kristian Berg Wort - Satz - Sprache Eine Hinführung zur Sprachwissenschaft DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394419 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Verlag und Autor haben sich bemüht, alle Rechteinhaber von Abbildungen, die nicht unter das wissenschaftliche Zitatrecht fallen, zu ermitteln. Berechtigte Hinweise auf übersehene Rechtsansprüche erbitten wir an den Verlag. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8441-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9441-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0365-7 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 1 9 2 31 3 43 4 59 5 73 6 93 7 103 8 115 9 127 10 141 11 153 12 165 13 175 185 187 191 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen ausloten: Neue Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können . . . . . . . . . Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax . . . . . . . . . . . . . . . Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien . . . . . . . . . . . . . Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcen, Blogs und Podcasts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für Emmy, Carl, Ava & Jacob Vorwort Dieses Buch soll Lust auf Sprachwissenschaft machen, Werbung für eine faszinierende Disziplin, die sich mit etwas beschäftigt, das für uns alle zentral ist: die Sprache. Auf dem Gebiet der Sprache sind alle Experten und können mitreden. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, können Sie, das ist der Unterschied, fundiert an Debatten über die Sprachverwendung teilnehmen, weil sie die Grundpositionen und Zugriffsweisen derjenigen Wissenschaft kennen, die sich schon seit hunderten Jahren systematisch mit Sprache beschäftigt. Wer soll dieses Buch lesen? Grundsätzlich alle, die sich für Sprache interessieren; alle, die sich schon immer gefragt haben, ob das Deutsche vor die Hunde geht (kurze Antwort: nein), ob es Samstag heißt oder Sonnabend, oder was so toll an Kafka sein soll. Vorkenntnisse sind nicht notwendig; alle Fachbegriffe und Werkzeuge werden an Ort und Stelle entwickelt. Dieses Buch richtet sich außerdem an alle, die sich für Sprache interessieren sollten - damit sind Studierende der Germanistik, Anglistik, Romanistik und anderer Philologien gemeint, die ihr Studienfach aus Interesse für die Beschäftigung mit der Literatur gewählt haben. Das Medium der Literatur ist die Sprache, insofern sollte es eigentlich nicht überraschen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Medium ein Teil des Deals ist. Das ist aber leider genau, was häufig passiert, und die Studierenden kehren vom ersten Zusammentreffen mit der Linguistik halbwegs traumatisiert zurück. Das muss nicht sein. Dieses Buch soll auf die Linguistik vorbe‐ reiten, zur Linguistik hinführen, Interesse wecken - und im Idealfall aus angehenden Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern auch ambitionierte Lin‐ guistinnen und Linguisten machen. Die Auswahl der Themen ist eklektisch. Jedes Kapitel behandelt ein Thema, das ich selbst faszinierend finde. Es gibt aber Dutzende andere Bereiche, die ich hier vernachlässigen muss, die aber mindestens ebenso interessant sind wie die hier vorge‐ stellten, z. B.: Wie wird Sprache im Gehirn verarbeitet? Wie funktioniert automatische Autorschaftserkennung? Was macht die Intonation, und in welchem Verhältnis steht sie zur Grammatik? Wie lernen Kinder Wörter, wie lernen sie syntaktische Strukturen? Die Linguistik besteht aus vielen unterschiedlichen Teildisziplinen. Phonetik und Phonologie kümmern sich um die Lautstruktur der gesprochenen Sprache und ihre Funktion; die Graphematik ist ihr Pendant für die geschriebene Sprache. Die Morpho‐ logie untersucht den internen Aufbau von Wörtern, die Syntax den Aufbau von Sätzen. Semantik und Pragmatik beschäftigen sich mit der Bedeutung von Wörtern und Äußerungen. Die Psycholinguistik untersucht, welche Prozesse bei uns ablaufen, wenn wir Sprache nutzen; die Sprachgeschichte beschäftigt sich mit, nun, der Geschichte der Sprache. Anders als in den einschlägigen Einführungsbüchern werden hier aber nicht die einzelnen Ebenen durchschritten. Schließlich handelt es sich um eine Hinführung zur Sprachwissenschaft, da können wir uns den Luxus leisten, uns interessante Aspekte wie Rosinen herauszupicken und die Disziplingrenzen zu ignorieren. Dennoch kommen alle Disziplinen zu ihrem Recht, und am Ende des Buches haben Sie nebenbei Grundkenntnisse in Phonologie, Morphologie, Syntax etc. erworben. „Nebenbei“ deswegen, weil die Vermittlung dieser Grundkenntnisse nur Mittel zum Zweck ist, um die vorgestellten Phänomene besser beschreiben zu können. Und unabhängig davon, ob überhaupt irgendwelche Werkzeuge oder Kompetenzen hängenbleiben - meine Hoffnung ist, dass Sie am Ende verstehen, warum die Linguistik eine spannende Wissenschaft ist, und dass Sie mehr wissen wollen. Welchen Weg Sie durch dieses Buch wählen, ob Sie es von vorne bis hinten lesen oder kreuz und quer, bleibt Ihnen überlassen. Wenn ein Kapitel zum Verständnis eines anderen Kapitels notwendig oder hilfreich ist, wird das jeweils vermerkt. An dieser Stelle darf ich auch noch einigen Personen danken, die mir bei diesem Buch geholfen haben. Tillmann Bub vom Narr Verlag hat das Projekt sehr geduldig begleitet; Nanna Fuhrhop, Cedrek Neitzert, Jonas Romstadt, Jan Seifert, Niklas Schreiber, Theresa Strombach und Claudia Wich-Reif haben Teile des Buches freundlicherweise kritisch gelesen und kommentiert. Bonn, im Januar 2023 Kristian Berg 8 Vorwort Wort‐ schätze 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Warum brauchen wir neue Wörter, obwohl es schon so viele gibt? Wie wird der Bedarf gedeckt? Was macht ein Wort erfolgreich? Man könnte den Eindruck haben, dass wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wenn wir sprechen lernen, ist die Sprache schon lange fertig. Wörterbücher und Grammatiken sind gedruckt. Die Sprachgemeinschaft, in die wir geboren werden, hat alles bereits ausgehandelt. Wir haben kaum Mitspracherecht und müssen uns fügen, wenn wir so kommunizieren möchten, dass wir verstanden werden wollen. Natürlich können wir statt Hund auch „Brims“ sagen; niemand kann uns das verbieten. Wenn wir allerdings verstanden werden wollen, müssen wir die üblichen Formen nutzen, und die üblichen Formen sind alt - oft sehr, sehr alt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die meisten Wörter stehen zwar fest; das Deutsche erweitert seinen Wortschatz dennoch. Um solche neuen Wörter geht es in diesem Kapitel: Warum brauchen wir sie überhaupt, und woher bekommen wir sie? Welche neuen Wörter setzen sich durch, welche nicht? Durchschnittliche erwachsene Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen kennen wahrscheinlich zwischen 25.000 und 250.000 Wörter. Das ist der sogenannte passive Wortschatz, also Wörter, die im Gehirn gespeichert sind und die verstanden werden. Passiver, aktiver und kollektiver Wortschatz Der Umfang des passiven Wortschatzes variiert aus zwei Gründen so stark. Erstens hängt er entscheidend davon ab, was und wieviel die Personen lesen, was sie beruflich machen usw. Und zweitens ist die Sprachwissenschaft uneins; unterschiedliche Methoden kommen zu sehr unterschiedlichen Inventaren. Was heißt es denn überhaupt, ein Wort zu kennen? Reicht es, ein Wort einmal gehört zu haben? Zweimal? Dreimal? Muss man in der Lage sein, die Bedeutung anzugeben? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, ist der Wortschatz größer oder kleiner. Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass das mentale Lexikon (also das „Wörterbuch“ in unserem Kopf) keine scharfen Grenzen hat. Wir wissen z. B., dass schon sehr wenige Begegnungen mit einem neuen Wort ausreichen, um eine Spur im Gehirn zu hinterlassen (streng genommen muss schon die erste Begegnung einen Effekt haben; ansonsten wäre die zweite Begegnung die erste, hätte auch keinen Effekt, man bräuchte die dritte etc. - so wäre Lernen unmöglich, vgl. z.-B. Goldberg 2019: 13 f.). Der passive Wortschatz ist der Wortschatz einer Person. Wir können aber auch den Wortschatz einer ganzen Sprachgemeinschaft untersuchen; dieser Wortschatz wird der kollektive Wortschatz genannt. Es ist der Wortschatz Motivation für neue Wörter von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, von Jugendlichen; der Wortschatz der Quantenmechanik und der Kraftfahrzeugmechatronik, der Forstwirtschaft und der Epidemiologie. Kurz: Der kollektive Wortschatz ist die Summe aller einzelnen Wortschätze, die wir in einer Sprache identifizieren können. Das heißt aber auch, dass es niemanden gibt, der alle Wörter des kollektiven Wortschatzes kennt und verwendet. Er ist um ein Vielfaches größer als die passiven Wortschätze einzelner Sprecherinnen und Sprecher. Der kollektive Wortschatz des Deutschen umfasst wahrscheinlich einige Millionen Wörter (vgl. z. B. Ulrich 2011: 33). Der aktive Wortschatz hingegen ist deutlich kleiner und lässt sich viel genauer bestimmen als der passive oder der kollektive Wortschatz. Goethe z. B. hat im Laufe seines langen Lebens in all seinen Schriften etwa 90.000 verschiedene Wörter genutzt (ob er mehr und vor allem andere Wörter gesprochen hat, ist eine interessante Frage - das werden wir aber wohl nie erfahren). Obwohl wir also als Sprachgemeinschaft über Millionen von Wörtern verfügen, stößt unser Vokabular oft an seine Grenzen und muss erweitert werden. Der naheliegendste Grund ist, dass wir etwas Neues benennen möchten. Das kann eine konkrete technische Erfindung sein (wie Mikrochip) oder ein neues abstraktes Konzept, mit dem wir unsere Welt besser beschreiben können (wie Coronakrise oder Gentrifizierung) - oder etwas ganz anderes (z. B. ein neuer Tanzstil wie twerken). In diesen Fällen brauchen wir neue Wörter, weil sich die Welt weiterentwickelt und wir das Bedürfnis haben, alles sprach‐ lich zu bezeichnen und zu gliedern. Anders liegen die Dinge, wenn es schon etablierte Wörter für Konzepte, Sachen oder Personen gibt, wir sie aber als diskrimierend empfinden. Stattdessen nutzen wir unbelastete neue Wörter wie Haushaltshilfe (statt Putzfrau) oder Migrant (statt Ausländer) und versuchen so, die Benannten sozial aufzuwerten. Noch häufiger als diese Fälle sind solche, bei denen es um Informationsverdichtung in Texten geht: Es ist deutlich knapper und sparsamer, wenn man von einer Gewinn‐ beteiligungsstrategie schreibt statt von einer Strategie, um Mitarbeiter an Gewinnen zu beteiligen: (1) Er gab aber an, American Airlines wolle einen Anteil von 30 Millionen Dollar (rund 27 Mio Euro) im Rahmen der Gewinnbeteiligungsstrategie an die Mitarbeiter weitergeben. (ZEIT online, https: / / www.zeit.de/ news/ 2020-01/ 07/ boeing-einigt-sic h-mit-american-airlines-auf-schadenersatz) Diese Informationsverdichtung ist charakteristisch für die geschriebene Sprache, vor allem für Fachtexte. Auf die Spitze getrieben wird sie in extrem langen Wörtern wie dem (zu notorischer Bekanntheit gelangtem) Rinderkennzeichnungs- und Rindfleische‐ tikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, einem der längsten tatsächlich verwendeten Wörter des Deutschen (63 Buchstaben). Hier wird gleichzeitig der Nachteil der Verdichtung deutlich: Je länger die Wörter, desto schwieriger sind sie zu verarbeiten. 10 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Neologis‐ mus Wort‐ schöpfung Verwandt mit dem Bedürfnis nach Verdichtung ist das Bedürfnis nach Flexibilität: Manchmal passt ein Adjektiv syntaktisch einfach besser und eleganter in den Textzu‐ sammenhang als das entsprechende Substantiv, manchmal braucht man eher ein Verb als ein Adjektiv - und dann können wir neue Wörter „erschaffen“, die aber eigentlich nicht wirklich neu sind, wie z.-B. das Wort Suhrkamphaftigkeit im folgenden Beleg: (2) So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z.-B. an der aufgeblasen betulichen Suhrkamphaftigkeit einzelner Beiträge […] ( Jungle World 1999/ 30, ht tps: / / jungle.world/ artikel/ 1999/ 30/ die-versuhrkampung-des-pop) Hier wird ein Buch über Popkultur besprochen, das im Suhrkamp-Verlag erscheint, und der Autor bemängelt, dass der Stil der Beiträge zu sehr dem anderer Suhrkamp-Veröf‐ fentlichungen ähnele, dass er zu suhrkamphaft sei. Dieses Adjektiv ist bereits 1977 belegt; es scheint also etwas an Suhrkamp-Texten zu sein, das charakteristisch ist und das bezeichnet werden will. Nun hätte der Verfasser einfach dieses Adjektiv verwenden können, z. B. auf folgende Weise: „So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z. B. daran, dass die einzelnen Beiträge aufgeblasen-betulich-suhrkamphaft sind“. Mit der Substantivierung Suhrkamphaftigkeit ist der Verfasser aber besser in der Lage, die übrigen Adjektive anzubinden - und außerdem braucht er nicht die etwas umständliche Korrelatskonstruktion daran, dass. Neue Wörter können also auch den syntaktischen Bedürfnissen entgegenkommen, sie schmieren die syntaktische Maschine. Wir haben also aus ganz unterschiedlichen Gründen einen ständigen Bedarf an neuen Wörtern. Nisten sich neue Wörter in unserem Lexikon ein, werden sie auch als Neologismen bezeichnet - zumindest, so lange Sprecherinnen und Sprecher sie für neu halten, solange sie also einen Neuwortgeruch verströmen. Zum Begriff: Neologismus Der Begriff Neologismus war selbst mal einer, nämlich eine Übertragung des französischen Neologismus’ néologisme, der wiederum eine Lehnwortbildung aus gr. néos + logos ist, was (wenig überraschend) ‚neues Wort‘ bedeutet. Der Begriff Neologimus war bis ins 20. Jahrhundert negativ besetzt. Es wurde benutzt, um vermeintlich überflüssige Wörter zu bezeichnen, die die schöne deutsche Sprache verwässern. Wie wird der Bedarf gedeckt, wie kommen wir an neue Wörter? Das kann prinzipiell auf drei Wegen geschehen, durch Wortschöpfung, Entlehnung oder durch Wortbildung. Mit Wortschöpfung ist gemeint, dass ein Wort nicht einfach aus vorhandenen Tei‐ len neu zusammengesetzt wird, sondern dass es komplett neu erfunden wird. Diese Art, den Wortschatz zu erweitern, ist heute extrem selten und vor allem auf Marken‐ namen beschränkt (z. B. Obi, Lanxess, Novartis). Die Markennamen werden dabei tat‐ sächlich am Reißbrett ‚entworfen‘, und mit erfolgreicher Wortschöpfung kann man 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 11 Entleh‐ nung Flexion reich werden. Die Namenskandidaten werden ausgiebig an der Zielgruppe getestet. Sie müssen angenehm klingen und gegebenenfalls an positiv besetzte Wörter erinnern. Gleichzeitig sollte geprüft werden, ob der Name in anderen Sprachen bereits als Wort existiert. Sonst läuft man Gefahr, dass die positiven Aspekte und die Neuheit des Na‐ mens überlagert werden, wie beispielsweise beim Audi A3 e-tron: Im Französischen gibt es ein sehr ähnliches Wort (étron) mit einer sehr negativen Bedeutung (‚Kothau‐ fen‘). Wortschöpfungen muss man im heutigen Deutsch mit der Lupe suchen, so selten sind sie. Aber gehen nicht alle Wörter ultimativ auf Wortschöpfungen zurück, wenn wir nur weit genug in die Vergangenheit schauen? Irgendjemand muss sie schließlich irgendwann zum ersten Mal geäußert haben, und zwar ohne Vorbild. Das mag sein - aber leider wissen wir so gut wie nichts über die Ur-Ursprünge unserer Wörter. Diese Zeit liegt sehr weit vor der Erfindung der Schrift, und damit in einem undurchdringli‐ chen Nebel, und das wird wahrscheinlich so bleiben. Wir können aber viele Wörter sehr weit zurückverfolgen, einige bis etwa 3000 v. Chr. (→ Kap. 9). Und in dem Zeitraum, der dokumentiert ist, sehen wir, dass Wörter ständig ihre Gestalt ändern, und dass neue Wörter durch Kombination existierender Teile und Übernahme aus anderen Sprachen entstehen. Manchmal werden neue Wörter auch an bestehende Wörter angelehnt (so wurde z. B. das bestehende Wort Dreiling im 16. Jahrhundert durch das neuere Wort Drilling verdrängt, weil Zwilling als Vorbild so häufig war). Eine Erfindung von Wörtern ganz ohne Vorbild, eine ‚Urschöpfung‘ also, bleibt dabei stets die Ausnahme. Deutlich häufiger ist der Fall, dass neue Wörter aus einer fremden Sprache entlehnt werden: Abb. 1: Tweet mit Lehnwort tweeten Das Verb tweeten (wörtlich: ‚zwitschern‘) stammt aus dem Englischen. Allerdings ist getweetet so aufgebaut wie andere deutsche Partizipien auch, wenn ihr Stamm auf -t oder -d endet (wie bei gehortet, gesendet; als Stamm bezeichnen wir das Verb abzüglich der Infinitivendung, also hort- und send-; dazu unten mehr). In der Sprachwissenschaft sagt man, das Verb tweeten wird flektiert wie deutsche Verben. Es verhält sich gerade nicht wie Partizipien im Englischen, sonst hieße es hier Hab seit 24 Stunden nichts mehr tweeted. Der Verbstamm tweetist eine Übernahme aus dem Englischen, aber er wird 12 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Wortform direkt und ohne Zwischenstufen an die Erfordernisse der deutschen Grammatik an‐ gepasst. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, der so natürlich und selbstverständlich abläuft, dass er uns gar nicht auffällt. Damit ist das Verb tweeten ein Wort des Deut‐ schen, auch wenn es seinen Ursprung in einer anderen Sprache hat (nicht immer ist die Übernahme so problemlos, → Kap. 3 zu Zweifelsfällen wie gefaket/ gefaked/ ge‐ fakt). Immer wieder gibt es alarmistische Zwischenrufe, die Anglizismen als Bedrohung für die deutsche Sprache darstellen, wie zum Beispiel vom „Verein Deutsche Sprache“: Die deutsche Sprache wird seit Jahren von einer Unzahl unnötiger und unschöner englischer Ausdrücke überflutet. […]. Wir wollen der Anglisierung der deutschen Sprache entgegentre‐ ten und die Menschen in Deutschland an den Wert und die Schönheit ihrer Muttersprache erinnern. Wir wollen unsere Sprache bewahren und weiter entwickeln. Die Fähigkeit, neue Wörter zu erfinden, um neue Dinge zu bezeichnen, darf nicht verloren gehen. (https: / / vds-e v.de/ denglisch-und-anglizismen/ denglisch/ ag-denglisch/ ) Und es gibt tatsächlich Beispiele, bei denen die Dichte von Entlehnungen etwas sehr Affektiertes hat, wie z. B. das berüchtigte Interview, das die Modeschöpferin Jil Sander 1996 der FAZ gegeben hat: Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. (Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 838, 22.3.1996) Aber wie groß ist der Einfluss wirklich, abseits von solch anekdotischen Einzelfällen? Dazu wissen wir mittlerweile relativ viel. So hat sich der Anteil von Anglizismen an allen Wörtern in Zeitungstexten zwischen Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts ungefähr verzehnfacht, von 0,04 % auf 0,5  % (diese und die weiteren Zahlen stammen aus der Untersuchung von E I S E NB E R G 2013). Geht man von einer Seitenlänge von 500 Wörtern aus, musste man Anfang des Jahrhunderts fünf Seiten lesen, bis man auf einen Anglizismus stieß; Ende des Jahrhunderts liest man auf jeder Seite im Schnitt zwei Anglizismen. (Das sind natürlich nur die Durchschnittswerte; in realen Texten sind Anglizismen viel ungleichmäßiger verteilt. Sie sind an bestimmten Stellen gehäuft, dazwischen liegen längere Textstrecken ohne sie). Wir müssen an dieser Stelle allerdings etwas differenzieren. Wenn es oben um Wör‐ ter ging, müsste es eigentlich genauer Wortformen heißen. Wortformen heißen Wör‐ ter, wenn sie ganz konkret im Textzusammenhang auftreten (z. B. jobbst, gejobbt, jobb‐ ten). Wenn wir von Wörtern reden, meinen wir zum Teil aber auch abstraktere Einheiten, in denen diese Wortformen zusammengefasst werden. Die Wortformen jobbst, gejobbt und jobbten unterscheiden sich zwar, aber sie haben doch etwas ge‐ meinsam - sie sind Formen von jobben, und diese Art Wort wird Lexem genannt. Das 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 13 Stamm Morphem Lexem J O B B E N umfasst alle Formen, die in konkreten Texten auftauchen, und die Be‐ deutung (‚vorübergehend arbeiten, um kurzfristig Geld zu verdienen‘). Lexeme werden in Kapitälchen geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um Wortformen handelt. Und wo wir gerade dabei sind, können wir noch ein paar andere Begriffe einführen: Wortformen bestehen aus Stämmen und (optional) aus Präfixen und Suffi‐ xen. Der Stamm ist der zentrale bedeutungstragende Teil des Wortes; er kann einfach sein (wie in Baum) oder komplex, also aus kleineren Teilen zusammengesetzt (z. B. aus zwei Stämmen wie in Baum·haus - der Hochpunkt zeigt hier und im Folgenden, wo die Teile zusammengefügt sind). Präfixe und Suffixe können den Stamm modifizieren, das Präfix vor dem Stamm, das Suffix danach. In seltenen Fällen treten beide zusam‐ men auf wie in (dein ständiges) Ge·tweet·e; wir sprechen in dem Fall vom Zirkumfix Ge…e. Wenn wir alle drei zusammenfassen wollen, Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe, können wir neutral von Affixen sprechen. Affixe sind Einheiten, die nicht alleine auftreten wie ge-, ent- und ver-, -en, -heit oder -bar (wie in ge·schwor·en, ent·hält, ver·stehen, Frei·heit, trink·bar). Sie brauchen einen Stamm, an den sie sich anheften können. Präfixe, Suffixe, Zirkumfixe und einfache Stämme werden als Morpheme bezeichnet; das sind die kleinsten sprachlichen Einheiten, die eine Bedeutung (oder eine Funktion) tragen. In einer Wortform wie unschön beispielsweise ist schön ein solcher Stamm und undas Präfix. Bei jobbst ist jobbder Stamm und -st ein Suffix. Der Stamm jobbist gebunden, das bedeutet, er kommt nicht frei vor (daher der Bindestrich am Ende). Das ist relevant für fast alle verbalen Wortformen, die uns in Texten oder Gesprächen begegnen: Sie bestehen neben dem Stamm noch aus mindestens einem Suffix. Für Adjektive und Substantive ist die Unterscheidung weniger wichtig. Der Anteil der anglizistischen Wortformen an allen Wortformen liegt also am Ende des letzten Jahrhunderts bei 0,5 %. Der Anteil der anglizistischen Lexeme ist höher: Er stieg von 0,35 % am Anfang des Jahrhunderts auf 3,5 % gegen Ende des Jahrhunderts. Wenn wir also Pressetexte nehmen und eine Lexemliste daraus erstellen (das Vokabular dieser Texte), dann ist mittlerweile jede 28. Vokabel ein Anglizismus. Das ist auf den ersten Blick ein recht hoher Anteil. Sind also die Sorgen berechtigt? Nicht wirklich, denn den größten Anteil an diesen Anglizismen haben Komposita (das sind Verbindungen von zwei oder mehr Wortstämmen, s. unten), und unter ihnen sind gerade am Ende des Jahrhunderts besonders viele hybride, also Verbindungen zwischen einem Anglizismus und einem nativen Wort wie etwa Anwaltsteam oder Baseballkappe. Sie machen insgesamt fast drei Viertel aller Anglizismen aus. Die anglizistischen Bestandteile im Wortschatz sind also gut integriert: Sie kombinieren wie native (das heißt nicht-fremde) Bestandteile. Fremd bleibt zum Teil die Aussprache, wie z. B. der erste Laut in jobben oder der Vokal in Fake; bei den Substantiven auch die Flexion (der Plural von Star ist Stars und nicht wie beim gleichgeschriebenen Vogelnamen Stare), am häufigsten aber die Schreibung - vor allem die Vokalschreibung wie in Fake, Code, Team, Coach, Clown. Das alles stellt das Deutsche und seine Sprecherinnen und Sprecher aber nicht vor größere Probleme - auch, weil die vielen entlehnten Wörter 14 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Entlehnungsmoden Wortbildung nicht ihre eigene Grammatik mitbringen, sondern sich ins System des Deutschen einfügen. Und wenn wir etwas zurücktreten und das ganze Bild betrachten, dann folgen die aktuellen Entlehnungen aus dem Englischen demselben Muster wie die früheren Ent‐ lehnungsmoden aus dem Lateinischen und Französischen: Sie alle beschreiben eine „Wellenbewegung“, die langsam beginnt, dann Fahrt aufnimmt, ab einem bestimmten Punkt aber abflacht. Abbildung 2 zeigt die Anzahl neuer Wörter im kollektiven Wort‐ schatz nach ihrer Herkunft (Latein, Französisch, Englisch) über die Zeit. Die Daten‐ quelle ist ein umfangreiches Herkunftswörterbuch. Abb. 2: Entlehnungswellen nach Körner (2004: 47) aus dem Lateinischen, Französischen und Engli‐ schen. Auf der vertikalen Achse ist die Zahl der Wörter in einem Herkunftswörterbuch angegeben, auf der horizontalen die Zeit. Im Jahr 2000 stammen also ungefähr 1500 Wörter im Herkunftswörterbuch aus dem Französischen. Die erste Welle ist die aus dem Lateinischen. Sie erreicht ihre größte Geschwindigkeit (also die stärkste Steigung) gegen 1500. Die Welle aus dem Französischen ist nicht ganz so groß; der Höhepunkt ist ungefähr 1650 erreicht, dann flacht sie ab. Und das ist auch für das Englische zu erwarten, auch wenn die Welle sich momentan noch aufbaut. Jede Mode überlebt sich irgendwann selbst, auch sprachliche Moden. Es gibt auch deswegen wenig Grund zur Beunruhigung, weil die Zahl der entlehnten Wörter zu jedem Zeitpunkt wesentlich geringer ist als die Zahl der Wörter, die mit Material neu zusammengesetzt wurden, das im Deutschen bereits vorhanden ist. Diese Methode der Erweiterung des Wortschatzes nennt man Wortbildung. Wortbildung funktioniert im Deutschen und in vielen anderen Sprachen größtenteils wie das Zu‐ sammensetzen von Legosteinen: Wir haben ein Inventar an kleinsten Einheiten, und diese Einheiten können wir kombinieren. Nicht alle Teile lassen sich verbinden. Haben wir aber mal zwei Teile verbunden, können wir das neu entstandene Teil wieder mit 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 15 kleinsten Teilen kombinieren und so weiter. Aus Fuß und Ball entsteht Fußball; das kann wiederum mit -er kombiniert werden zu Fußballer, daraus können wir mit -isch das Adjektiv fußballerisch machen. Dass es viel mehr Wörter gibt, die im Deutschen aufgrund von Wortbildung entstanden sind, lässt sich empirisch zeigen. Untersucht man alle neuen Wörter in Zeitungstexten, so handelt es sich zu 88 % um Produkte von Wortbildung (vor allem Komposita); zu etwa 12 % sind es Eigennamen. Fremdwörter machen weniger als 1 % der neuen Wörter aus. Der „Motor“ der Wortbildung im Deutschen ist weiterhin intakt, er bringt ständig Unmengen neuer Wörter hervor. Weil es so viele wortgebildete Wörter gibt, brauchen wir ein System, um etwas Ordnung zu schaffen. Als erste, grobe Gliederung können wir Wortbildungen danach unterscheiden, was miteinander kombiniert wird. Sind es zwei Stämme wie Tweet und Feuer, dann sprechen wir von Komposition: Abb. 3: Tweet mit dem neuen Kompositum Tweetfeuer Es kann sich aber auch um ein Wort (tweet) handeln und ein Element, das so nicht frei vorkommt, sondern nur in Kombination mit anderen Teilen (-bar); solche Wortbildungen werden Derivationen (auch Ableitungen) genannt: Abb. 4: Tweet mit der neuen Derivation tweetbar Manchmal wird auch gar nichts kombiniert - stattdessen ändert sich lediglich die Wortart. Dieser Prozess wird Konversion genannt. Aus der Verbform leaken beispiels‐ weise kann das Substantiv das Leaken gemacht werden. Abb. 5: Tweet mit der neuen Konversion Leaken 16 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Partikel‐ verbbil‐ dung Kurzwort Kofferwort Der Großteil der neuen Wörter, die aufgrund von Wortbildung entstehen, gehört zu einer der drei Gruppen - Komposition, Derivation oder Konversion. Um sie geht es im Folgenden. Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Wege, um neue Wörter zu bilden. Sie sollen hier nur kurz erwähnt werden. So gibt es zum Beispiel eine eigene Art, neue Verben zu bilden, nämlich die Parti‐ kelverbbildung. Hier wird ein Verb (wie tweeten) mit einer Verbpartikeln kombiniert (wie weg-). Abb. 6: Tweet mit der neuen Partikelverbbildung wegtweeten Partikelverb oder Kompositum? Solche Wortbildungen sehen auf den ersten Blick aus wie Komposita - schließlich werden zwei Stämme kombiniert, weg und tweet(en). Die Partikelverbbildung ist aber deutlich eingeschränkter. Es kommt nur eine relativ kleine Zahl an Partikeln vor (z. B. wegtweeten, raustweeten, rübertweeten, volltweeten etc.), die in anderen Kontexten meist Präpositionen und Adverbien sind. Außerdem sind die Bildungen trennbar: Wir tweeten unsere Busagressionen weg. Deswegen wird die Partikelverbbildung meist als eigenständige Wortbildungsart angesehen. Häufig handelt es sich aber bei den randständigeren Verfahren überhaupt nicht um die Verkettung von existierenden Einheiten: Es tauchen teilweise neue Wörter auf, bei denen die Teile nicht wie in den anderen Fällen einfach verbunden sind. Das sind zum Beispiel sogenannte Kurzwörter wie Uni oder LKW, bei denen das meiste der Lang‐ formen gekürzt wird (Universität, Lastkraftwagen). Oder die oft sehr kreativen und expressiven Kofferwörter, von denen die Coronakrise einen ganzen Schwung beför‐ dert hat: Corontäne (Corona-Quarantäne), Covidiot (abwertend für Personen, die die Corona-Pandemie leugnen), Coronials (die Generation derjenigen, die während der Lockdowns gezeugt wurden) und viele weitere mehr. Hier ist unklar, wo die Grenze zwischen den Bestandteilen verläuft - sie überlappen. Bei Covidiot z. B. ist das id sowohl das Ende des ersten Teils (Covid) als auch der Beginn des zweiten Teils (Idiot). Ebenfalls nicht rein verkettend funktionieren die vielen neuen Wörter, die per Analogie gebildet wurden, also nach dem Vorbild bestehender Wörter. Ein Beispiel für solche Wörter ist Flockdown (‚starker Schneefall im Lockdown‘), das dem Substantiv Lockdown nachempfunden ist. Und das Muster _o(c)kdown lässt sich erweitern: 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 17 Komposi‐ tion Abb. 7: Tweet mit verschiedenen neuen analogischen _o(c)kdown-Bildungen Die Rückbildung ist wie die Partikelverbbildung nur für Verben relevant, aber komplexer. Es gibt eine Reihe von Verben, die aussehen, als wären zwei Stämme verkettet worden: bausparen, notlanden, staubsaugen. Dabei handelt es sich eigentlich um Ausnahmen, und noch dazu um historische Zufälle: Aus einem Verb wie sparen wird das Substantiv Sparer. Dieses Substantiv wird mit dem Stamm Bau zum Kompositum Bausparer. Wenn sich dieses Substantiv etabliert hat, kann es zum ‚Rückbau‘ des Suffixes kommen. Dabei wird eine Basis für die -er-Ableitung von Bausparer (und nicht nur von Sparer! ) gesucht. Aus welchem Wort macht -er das Wort Bausparer? Das kann nur bausparen sein. Historisch lässt sich tatsächlich zeigen, dass die Komposita zuerst verbreitet waren und erst dann die rückgebildeten Wörter auftauchen. Partikelverbbildung, Kurzwortbildung, Kofferwörter, Analogiebildungen und Rück‐ bildungen sind vergleichsweise seltene Wortbildungsverfahren - der Normalfall sind Komposition, Derivation und Konversion. Die Komposition ist die mit Abstand beliebteste Methode, um neue Wörter des Deutschen zu bilden. Die große Mehrheit der neuen Wörter, die per Wortbildung im Deutschen entstehen, sind Komposita. Meist werden zwei Substantive miteinander verbunden. Die Anordnung (oder die Struktur) ist dabei nicht beliebig: Eine Milchkuh ist ein Rind, Kuhmilch aber eine Flüssigkeit. Der rechte Bestandteil von Komposita entscheidet. Er gibt einerseits die Grundbedeutung vor, die vom linken Bestandteil spezifiziert wird (‚eine Kuh, die Milch gibt‘ vs. ‚Milch, die von einer Kuh stammt‘). Andererseits legt er auch die grammatischen Kategorien fest (Eselsmilch ist wie Milch ein feminines Substantiv). Komposition ist das freieste Muster, das uns zur Verfügung steht. Wir können jedes Substantiv mit jedem anderen Substantiv zu einem Wort verbinden. Paket und Sprung ergibt Paketsprung, Job und Fessel ergibt Jobfessel, und Baum und Gesicht ergibt Baumgesicht. Diese Wörter stehen in keinem Wörterbuch, und auf den ersten Blick wirken sie etwas seltsam. Es fällt ohne den nötigen Kontext unter Umständen schwer, sie als wohlgeformt zu akzeptieren. Es handelt sich aber um mögliche Wörter des Deutschen, und mit ein wenig Kontext fallen sie kaum auf: 18 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Bedeutung von Komposita (3) a. Arbeitssucht. Wenn das Smartphone zur Jobfessel wird. - b. Bei der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) firmiert die Arsch‐ bombe unter dem Namen Paketsprung und ist als solcher sogar prüfungsrele‐ vant. - c. Zwei Holzscheiben und ein langer Ast, fertig ist das Baumgesicht! In Steglitzer Straßen finden sich neuerdings, wie in vielen anderen Teilen Berlins auch, Baumstümpfe, denen Unbekannte ein Gesicht gegeben haben. Eine Jobfessel ist etwas, das an den Job fesselt, wie das berufliche Smartphone; ein Paketsprung ist die nüchtern-amtsdeutsche Bezeichnung für die ordinäre Arschbombe; und ein Baumgesicht sind mit Mund, Nase und Augen verzierte Baumstümpfe (diese Belege stammen übrigens aus dem Projekt ‚Wortwarte‘ von Lothar Lemnitzer, der Neubildungen sammelt und vorstellt unter www.wortwarte.de). Es ist also mit etwas Kontext möglich, praktisch jedes Kompositum plausibel zu machen. Wissen wir damit, was Komposita bedeuten? Bei den meisten konkret vorkommenden Komposita ist das der Fall. Ein Apfelbaum ist ein Baum, an dem Äpfel wachsen, ein Birnbaum einer, an dem Birnen wachsen. Oder wachsen können, oder mal gewachsen sind - diese Feinheiten stören uns gerade nicht, auch wenn sie ein Vorgeschmack sind. Wenn wir also das abstrakte Muster X-Baum betrachten, das ja nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus allen Komposita darstellt - können wir dann sagen, dass die Bedeutung immer umschrieben werden kann als ‚ein Baum, an dem X wachsen können‘? Bei einigen Komposita funktioniert das: Ein Pflaumenbaum ist ein Baum, an dem Pflaumen wachsen, ein Nussbaum einer mit Nüssen, ein Obstbaum einer mit Obst usw. Aber selbst diese kleine Menge von Bildungen enthält eine Reihe von Komposita, die so nicht aufgebaut sind: Ein Gummibaum ist kein Baum, an dem Gummi wächst, sondern dessen Saft zu Gummi verarbeitet werden kann; ein Nadelbaum ist ein Baum, der Nadeln trägt; ein Zierbaum ist ein Baum, der zum Zweck der Zierde aufgestellt wird; ein Weihnachtsbaum ist ein Baum, der zu Weihnachten geschmückt wird; ein Kletterbaum ist ein Baum, der sich zum Klettern eignet. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner für all diese Fälle? Ein X-Baum ist am ehesten ‚ein Baum, der etwas mit X zu tun hat‘. Und dann gibt es eine ganze Reihe nur metaphorischer, nicht tatsächlicher Bäume wie den Duftbaum, den Stammbaum, den Syntaxbaum, den Schlagbaum und - den Purzelbaum. Was hat der mit einem Baum zu tun? Man vermutet, dass sich der Baum hier auf das „Wiederaufbäumen“ nach dem Überschlag bezieht. Wenn es schon bei einer so kleinen Gruppe wie den X-Bäumen nicht klappt, ist klar: Eine Bedeutungsformel für alle Komposita zu finden ist aussichtslos. Das Einzige, was man relativ sicher sagen kann, wenn man ein Kompositum der Form XY vor sich hat, ist: ‚ein Y, das etwas mit X zu tun hat‘. Das ist schon eine ganze Menge: Wir wissen bei einem (relativ) neuen Wort wie Coronakontrolleur, a) dass es sich um einen realen oder metaphorischen Kontrolleur handelt, der b) etwas mit Corona zu tun hat. Der Kontext und unser Weltwissen lassen uns vermuten, dass es jemand ist, der die Befolgung 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 19 Schrei‐ bung von Komposita der Hygieneverordnungen im Rahmen der Coronapandemie kontrolliert. Ohne dieses Weltwissen ist die Interpretation ungleich viel wackeliger; das wird es für Leser in 20, 50, 100 Jahren noch schwierig machen, aktuelle Texte von heute zu lesen. Die meisten Texte sind in der einen oder anderen Form zeitgebunden; wenn sich der Wortschatz aber aufgrund einer Krise so massiv erweitert wie in den Jahren 2020 und 2021, betrifft das mehr Wörter als in ruhigeren Zeiten. Wenn neue Komposita gebildet werden, dann geschieht das häufig mit einem Bindestrich zwischen den Bestandteilen, wie z. B. beim neuen Kompositum Frohna‐ tur-Dialekt: (4) Der Wein geht um, und die Belgier erzählen im rheinischen Frohnatur-Dialekt bunte Geschichte aus der Eifel. (https: / / www.zeit.de/ news/ 2020-03/ 24/ mit-dem-pferd-dur ch-die-pyrenaeen) Der Bindestrich kann also Bestandteile von Komposita verbinden, und er macht das besonders dann, wenn sie sich in irgendeiner Form anders verhalten als unauffällige Wörter wie Baum, frisch oder lieben. So wird er praktisch immer verwendet, wenn einer der Bestandteile eine Zahl (12-jährig, 15-Tonner) oder ein Buchstabenkurzwort ist (wie LKW, SPD oder ZDF). Und auch fremde Bestandteile werden meist mit Bindestrich abgetrennt, wenn die Wörter zum ersten Mal gebildet werden (Tracking-Methode, Pizza-Roboter). Je nachdem, wie fremd ein Wort ist, wie lange es das Kompositum schon gibt und wie häufig es verwendet wird, geht die Bindestrichschreibung zurück. Das lässt sich gut an der Schreibung von Jogginganzug zeigen (hier anhand von Daten aus dem Deutschen Referenzkorpus): Abb. 8: Anteil der Schreibung „Jogging-Anzug“ (mit Bindestrich) an allen Schreibungen des Wortes (Bindestrich- und Zusammenschreibung). Datenquelle: Deutsches Referenzkorpus. Der Anteil der Bindestrichschreibung (Jogging-Anzug) an allen Schreibungen des Wortes nimmt seit den 1980er Jahren kontinuierlich ab und liegt mittlerweile bei unter 20 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Fugenelement 5 %. Die Zusammenschreibung hat sich durchgesetzt. Damit spiegelt die schriftliche Form wider, dass der erste Teil immer weniger als Fremdwort wahrgenommen wird. Und das ist entscheidend: Es geht vor allem darum, als wie fremd ein Wort empfunden wird - und nicht, ob es ursprünglich aus einer anderen Sprache stammt. Das Deutsche ist voll von auswärtigen Wörtern, die sich im Laufe der Zeit so integriert haben, dass sie nicht weiter auffallen: Fenster, Straße und Prinz stammen aus dem Lateinischen; Dame, Mode und Soße aus dem Französischen; Dschungel, Keks und Schal aus dem Englischen. Die Schreibung mit Bindestrich wird beim Jogginganzug also immer seltener, die Zusammenschreibung immer natürlicher. Benutzt heute noch jemand die Bindestrich‐ schreibung, dann weist er sich als älteren Schreiber aus - darüber können auch Emojis und Hashtags nicht hinwegtäuschen wie bei diesem Tweet von Carsten Maschmeyer: Abb. 9: Tweet mit Kompositum Jogginganzug mit Bindestrichschreibung Mit dem Bindestrich können also Bestandteile von Komposita verbunden werden, wenn sie in irgendeiner Form besonders sind (Zahlen, Akronyme, Fremdwörter). Er wirkt damit wie Fugenkitt. Im Normalfall macht genau das allerdings nicht der Bin‐ destrich, sondern das sogenannte Fugenelement: Es heißt eben Taschenlampe und nicht *Taschelampe; Tasche und Lampe werden mit n zusammengeklebt (der Stern vor Taschelampe zeigt an, dass das Wort ungrammatisch ist). Dabei sieht Taschen aus wie die Pluralform von Tasche, aber das täuscht. Man sieht das z. B. an Wörtern wie Son‐ 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 21 Autokom‐ positum nenhut oder Gänsebraten. Hier macht es keinen Sinn, von Pluralformen auszugehen, weil es in unserem Sonnensystem nur eine Sonne gibt, und ein Gänsebraten üblicher‐ weise nur aus einer Gans besteht (ursprünglich handelt es sich oft um alte Genitivfor‐ men, also etwa der Sonnen Schein, die dann im Laufe der Zeit zu einem Wort ver‐ schmolzen sind). Und bei Liebeskummer wird endgültig klar, dass das s an der Grenze nur die Bestandteile verbindet: Es heißt die Liebe und mit der Liebe und für die Liebe und wegen der Liebe - die Form Liebes kommt als Wortform des Lexems Liebe nicht vor. Bei einigen Komposita erscheint also n als Fugenelement, bei anderen s; bei manchen auch e (bad(en) + e + Hose → Badehose), und die meisten haben gar kein Fugenelement. Aber was sind die Regeln? Auch wenn Muttersprachler des Deutschen bei alten und neuen Wörtern intuitiv wissen, welche Fugenelemente passen und welche nicht (Abstandsregel ist OK, Abstandregel deutlich weniger), sind diese Regeln erstaunlich schwer zu beschreiben. Relativ verlässlich können wir sagen: • Wenn der erste Teil mit einem sog. Derivationssuffix wie -ung (wie Verriegelung), -heit (wie Freiheit) oder -schaft (Freundschaft) endet, dann erscheint -sals Fugen‐ element (Verriegelungsbolzen, Freiheitsliebe, Freundschaftsarmband) … • … aber das gilt nicht für alle Derivationssuffixe. Bei -in bspw. (wie in Kanzlerin) tritt regelmäßig -enals Fugenelement auf (Kanzlerinnengatte). • Drei Optionen sind produktiv, das heißt, sie treten in neugebildeten Wörtern auf: Nullfuge, -s-, -(e)n. Die anderen Fugen wie -er (wie in Kinderwagen) sind historische Überbleibsel. • Was lässt sich sonst noch sagen? Alles weitere sind lediglich Tendenzen. Ein Fugenelement ist bspw. wahrscheinlicher, wenn das Erstelement komplex ist, also selbst aus mehreren Teilen besteht. Das sieht man gut an Paaren vom Typ Werk+⌀+zeug - Handwerk+s+zeug oder Kauf+⌀+preis - Verkauf+s+preis. Auch wenn es notorische Zweifelsfälle gibt wie Hauptseminararbeit/ Hauptseminarsar‐ beit oder Schiffreise/ Schiffsreise, und selbst, wenn es hunderte solcher Zweifelsfälle gibt, wie Damaris N ÜB LIN G (2012) vermutet - angesichts der beinahe unbeschränkten Möglichkeiten der Komposition im Deutschen sind sie verschwindend selten. Wir sind fast immer sicher, welche Fuge zu verwenden ist. Schwanken tun wir mitunter, ob -sgesetzt wird oder nicht. Die Regeln, die sich hier entwickeln, hängen von der rhythmi‐ schen Struktur ab: Handelt es sich beim ersten Bestandteil um ein einsilbiges Wort oder ein zweisilbiges Wort mit der Struktur „betont-unbetont“ (das sind die allermeisten), wird kein Fugenelement gesetzt. Handelt es sich um eine andere rhythmische Struktur wie bei Curriculum(s)entwicklung oder Präteritum(s)form, wird zunehmend ein Fugen-s gesetzt. Die Komposition selbst kennt - im Gegensatz zu den Fugenelementen - kaum Gren‐ zen; fast alles ist möglich, sogar die Wiederholung eines Bestandteils (wie in Abb. 10): Ein Salat-Salat ist ein tatsächlicher, prototypischer Salat, im Gegensatz zum Nudel- oder Kartoffelsalat. Solche Komposita werden auch Autokomposita genannt. 22 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Derivation Abb. 10: Tweet mit dem Autokompositum Salat-Salat Bei der zweiten großen Quelle für neue Wörter im Deutschen, der Derivation, verhält es sich fast umgekehrt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von verschiedenen Wortbildungsmustern, die alle mehr oder weniger enge Grenzen haben. Anders als bei der Komposition werden bei der Derivation nicht Wortstämme miteinander kom‐ biniert, sondern Wortstämme und Affixe. Häufig ändert sich dabei die Wortart: Aus dem Adjektiv sicher wird mit dem Suffix -heit das Substantiv Sicherheit, das den ‚Zu‐ stand des Sicher-Seins‘ bezeichnet; mit dem Präfix verdas Verb versichern, das so viel bedeutet wie ‚etwas sicher machen‘. Auf diese Weise kann das vorhandene Vokabular extrem flexibel erweitert werden und zur Grundlage neuer Wörter werden - die ih‐ rerseits wiederum als Basis für Ableitungen dienen können. Das Verb versichern kann z. B. weiter mit -ung abgeleitet werden zum Substantiv Versicherung. Es gibt im Deutschen ungefähr 160 Derivationsaffixe, native (wie -heit, -lich oder -nis) und fremde (wie -ieren, -ität oder -ion). Als Basis für die Ableitungen stehen ungefähr 7.000 einfache Stämme zur Verfügung - und unzählige weitere, die schon einmal abgeleitet sind. Das klingt erstmal nach praktisch unbegrenzten Möglichkeiten, Wörter abzuleiten, also nach einem sehr flexiblen System. Das ist aber aus mindestens zwei Gründen nicht so: Zum einen hat jedes Muster mehr oder weniger enge Beschränkungen. So kombiniert bspw. -ung vor allem mit Verbstämmen, aber nur selten mit Substantiven und gar nicht mit Adjektiven (*Bau‐ mung und *Schönung sind nicht möglich). Und es kann auch nicht jeder beliebige Verbstamm sein, der als Basis für -ung-Ableitungen dient: Wenn das Verb ansonsten ein Dativobjekt nimmt wie (jemandem) gefallen, helfen oder danken, dann ist eine -ung-Ableitung normalerweise nicht möglich (*Gefallung, *Helfung und *Dankung). Verben mit Akkusativobjekt zeigen keine solche systematische Beschränkung: (etwas) abbuchen, verlagern, verpacken werden ganz regelmäßig unauffällig zu Abbuchung, Verlagerung und Verpackung. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Einige Akkusativverben wie (etwas) verraten, wecken, trinken lassen sich nicht ableiten (*Verratung, *Weckung, *Trinkung). Bei *Verratung kann man noch sagen, dass die kürzere Alternative Verrat die Bildung blockiert (warum ein zweites Wort bilden, das dasselbe bedeutet? ). Das ist aber der Sonderfall; bei Weckung und Trinkung gibt es solche Alternativen nicht. Man kommt nicht umhin, festzustellen: Die Derivationsmorphologie ist extrem löchrig. Kaum ein Muster ist ohne Ausnahmen, und die meisten haben sehr viele. Aber genau das macht die Derivationsmorphologie im Speziellen und die Wortbildung im Allgemeinen so 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 23 Produktivi‐ tät spannend. Sie ist ein „faszinierendes morphologisches Puzzle“, wie Ludwig E ICHIN G E R (2000: 5) feststellt. Die vielen Lücken im System sind der eine Grund, warum die Möglichkeiten der Derivation nicht unbegrenzt sind. Der andere ist: Mit vielen der 160 Derivationsmuster lassen sich heute keine neuen Wörter mehr bilden. Wir haben Wörter im Wortschatz, die vor langer Zeit mit diesen Bauplänen gebildet wurden, und die wir verstehen kön‐ nen und die wir verwenden - aber den Bauplan selbst benutzen wir nicht mehr zur Bildung neuer Wörter. Die Fähigkeit eines Musters, neue Wörter hervorzubringen, wird als seine Produktivität bezeichnet. Produktivität kann man sich am besten als graduelle Eigenschaft vorstellen. Wenn ein Muster für extrem viele neue Wörter ver‐ antwortlich ist wie z. B. die Komposition im Deutschen, dann ist es hochproduktiv; wenn es viele neue Wörter hervorbringt wie die -er-Ableitung (wie in Warmduscher oder TikToker), dann ist es produktiv; bei wenigen neuen Wörtern würden wir das Muster als gering produktiv bezeichnen, und wenn gar keine neuen Wörter mehr damit gebildet werden, als unproduktiv. In diese letztere Kategorie der toten Muster fallen heute wohl -sam und -nis. Es gibt zwar eine Reihe von Adjektiven, die auf -sam enden (achtsam, arbeitsam, sparsam, wachsam) - aber es ist nicht möglich, ein neues -sam-Adjektiv zu bilden (*googlesam, *tweetsam, *schlafsam). Und auch wenn es eine ganze Reihe von Substantiven auf -nis gibt (z. B. Ereignis, Erkenntnis, Ergebnis, Erlebnis, Besäufnis), sind neue -nis-Wörter heute dennoch praktisch ausgeschlossen. Beides zusammen - viele Lücken und viele unproduktive Muster - führt dazu, dass neue Wörter im heutigen Deutsch nur eingeschränkt abgeleitet werden können. Möglich ist das natürlich trotzdem - die Derivation ist nur eben nicht so vielfältig, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Welche Muster sind heute noch funktionstüchtig? Neue Substantive werden vor allem aus Verben abgeleitet, und zwar mit -er, -in oder -ung. Mit -er können Perso‐ nenbezeichnungen aus Verben oder Verbgruppen gebildet werden (z. B. bloggen → Blogger, Debatten setzen → Debattensetzer). Solche Personenbezeichnungen auf -er sind gleichzeitig die Hauptquelle für -in-Ableitungen: -in macht aus einem maskulinen Substantiv ein feminines (Blogger → Bloggerin), das man auf weibliche Referentinnen beziehen kann. Der Bedarf an neuen Wörtern ist durch den Wunsch nach geschlech‐ tersensibler Sprache im Moment relativ hoch (→ Kap. 11). Das Muster -heit/ -keit leitet vor allem Adjektive ab (kartierbar → Kartierbarkeit) und macht daraus abstrakte Substantive, die Eigenschaften bezeichnen. Abstrakte Substantive bilden auch -ung, allerdings von Verben; sie bezeichnen den Vorgang der Verbhandlung (gentrifizieren → Gentrifizierung). Daneben gibt es noch eine Reihe von Präfixen, mit denen ebenfalls neue Substan‐ tive abgeleitet werden können. Sie alle nehmen Substantive als Basis: Mit Exwer‐ den ganz überwiegend Personenbezeichnungen aus Personenbezeichnungen gebildet (AfD-Wähler → Ex-AfD-Wähler), während Super- und Hauptnicht so beschränkt sind. 24 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Produktive Derivati‐ onsaffixe Sie drücken eine intensivierte Bewertung bzw. Einordnung des Basissubstantivs aus (Knolle → Super-Knolle; Krankheitslast → Haupt-Krankheitslast). Neue Adjektive werden vor allem aus Substantiven erzeugt, und hier stehen gleich mehrere Mittel zur Verfügung. Die Muster -haft und -mäßig leiten Eigenschaften aus Substantiven ab: Wenn jemand als Bud-Spencer-haft oder Bud-Spencer-mäßig beschrieben wird, dann erinnert etwas an der Person an Bud Spencer. Diese vergleichende Funktion (X ist wie Y) kann auch das Muster -ig übernehmen, allerdings leitet es vor allem sog. Gat‐ tungsnamen (Proll → prollig) und Stoffnamen ab (Butter → butterig). Personennamen kommen als Basis nur selten vor. Für mich funktioniert so etwas wie ? Bud-Spencerig nicht besonders gut, aber Ihnen mag das anders gehen (das hochgestellte Fragezeichen zeigt, dass das Wort zweifelhaft ist; damit wird häufig eine Zwischenstufe zwischen unauffällig/ akzeptabel und ungrammatisch/ inakzeptabel ausgedrückt). Das Muster -bar macht Adjektive aus Verben, und zwar solche, die die Möglichkeit der Verbhandlung bezeichnen: spielbar bedeutet ‚kann gespielt werden‘; trinkbar bedeutet ‚kann getrunken werden‘; sagbar heißt ‚kann gesagt werden‘. Wenn wir vom konkreten Verb absehen, ist die Bedeutung des Musters also ‚kann ge-X-t/ n werden‘, und das funktioniert mit den meisten Verben, die einen Nominativ und einen Akkusativ als Ergänzung nehmen. Die Muster -los und unbezeichnen beide das Fehlen einer Eigenschaft. Während -los Substantive ableitet (die das bezeichnen, was fehlt, z. B. trophäenlos), bildet das Präfix un- Adjektive aus Adjektiven - sie werden nur ins Gegenteil verkehrt (wie z. B. ungebleacht). Und superschließlich macht etwas ähnliches wie das gleichnamige Substantivpräfix; es intensiviert das Basisadjektiv, im Guten wie im Schlechten (z. B. superbelebend, superungemütlich). Bei den Verben gibt es nur sehr wenige produktive Muster (aber es gibt ja neben der Derivation noch die Partikelverbbildung, mit der die Klasse der Verben erweitert werden kann). Das Muster vernimmt Verben oder Substantive und macht daraus neue Verben (Flügel [der AfD] → verflügeln). Die Bedeutung ist nicht eindeutig; verkann unter anderem bedeuten, dass etwas zu etwas gemacht wird (wenn eine Partei verflügelt wird, bekommt sie Flügel), oder dass ein Zustand endet (wenn jemand den ganzen Abend vertwittert hat, ist der Abend vorbei). Das einzige Muster, das etwas frisches Blut in die Klasse der Verben bringt, indem es unter anderem Substantive importiert, ist -ieren (mit seinen Nebenformen -isieren und -ifizieren). Es bedeutet ganz grob, dass etwas mit etwas versehen wird (wenn eine Branche computerisiert wird, wird sie mit Computern ausgestattet). Das Gegenstück zu -ieren ist das Präfixmuster ent-. Es ist wie die Adjektivmuster un- und -los ein negatives Muster. Zu den meisten -ieren-Bildungen sind entsprechende ent-Bildungen möglich, die das Geschaffene wieder zurückbauen: entcomputerisieren, entgentrifizieren, entveganisieren. Das sind die wichtigsten Muster der Derivation im heutigen Deutsch. Es gibt noch einige weitere, aber sie sind nicht so produktiv, bringen also nicht so viele neue Wörter hervor. Man kann die produktiven Möglichkeiten der Derivation für die drei großen Wortarten Substantiv, Verb und Adjektiv im Deutschen so darstellen wie in Abb. 11. 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 25 Konversion Abb. 11: Produktive Möglichkeiten der Derivation im heutigen Deutsch Die Wirklichkeit ist natürlich etwas komplexer - -ieren z. B. leitet auch Basen ab, die sich nicht so leicht einer Wortart zuordnen lassen wie in gentrifizieren (wenn wir -ifizieren als Variante annehmen, was ist dann gentr? Ein Substantiv? ). Die Darstellung zeigt die hauptsächlichen Wege, auf denen neue Wörter im Deutschen heute per Derivation gebildet werden können - nicht die einzigen, aber die am meisten befahrenen Straßen. Bleibt noch die Konversion, also das Recyclen von Stämmen oder Wortformen in einer anderen als der gewohnten Wortart. Aus dem Verb befehlen zum Beispiel lassen sich gleich zwei Substantive machen - einmal aus dem Verbstamm befehlder Befehl, einmal aus dem Infinitiv befehlen die Vorgangsnominalisierung das Befehlen. Produktiv, d. h. auch mit neuen Wörtern genutzt wird nur die Konversion (das Konvertieren! ) des Infinitivs. Aus jedem Infinitiv lässt sich ohne Mühe ein Substantiv machen. In der Ge‐ genrichtung funktioniert das längst nicht so gut. Sonst wären vielleicht *clouden (für das Hochladen lokaler Daten) und *cupcaken gute Wörter. Substantive lassen sich auch aus jedem Adjektiv machen, und auch hier nicht aus dem Stamm, sondern der flektierten Form: das Stylische, das Woke, das Nice (die letzten beiden jeweils zweisilbig artikuliert). Produktiv ist außerdem die Konversion von Verben zu Adjektiven, und zwar über die Partizipien. Ein Verb wie bloggen bildet regelmäßig das Partizip-I (bloggend) und II (gebloggt), und diese Formen können dann verwendet werden wie Adjektive (der bloggende Rainer, das gebloggte Erlebnis). Diese ehemaligen Verben können dann noch weiter wandern und zu Substantiven werden: das Gebloggte. Hier ist - wie häufig im Deutschen - beim Substantiv Endstation, weiter geht es nicht. Schematisch sehen die Möglichkeiten so aus wie in Abb. 12. 26 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Ad-hoc- Bildung Lexikalisie‐ rung Abb. 12: Produktive Möglichkeiten der Konversion im heutigen Deutsch Wir haben also allein mit der Komposition, der Derivation und der Konversion weitreichende Möglichkeiten, um neue Wörter zu bilden, und wir können damit sehr flexibel sowohl auf grammatische Anforderungen reagieren (ich brauche an dieser Stelle kein Verb, sondern ein Substantiv) als auch auf einen außersprachlichen Bedarf an neuen Wörtern (wie soll ich die Beschränkungen im Rahmen der Coronapandemie nennen? Coronabeschränkungen! ). Und für die meisten dieser Neubildungen gilt: Ihre erste Nennung ist gleichzeitig die letzte. Sie werden ‚an Ort und Stelle‘ gebildet, und danach nicht wieder. Der Großteil der Neubildungen sind sprachliche Eintags-, nein, Einmalfliegen. Wie eben das letzte Wort des letzten Satzes. Sie werden auch als Ad-hoc-Bildungen oder Okkasiona‐ lismen bezeichnet. Einige Wörter aber sind erfolgreicher und halten sich eine gewisse Zeit. Sie werden für diese Zeit Teil des kollektiven Lexikons einer Sprache (wir sprechen dann von Lexikalisierung). Viele dieser Wörter legen sich mit der Zeit seltsame Eigenschaften zu, die es schwer machen, ihre Bedeutung aus der Bedeutung ihrer Bestandteile zu erraten (Was hat z. B. die Hochzeit mit hoch zu tun? Darum geht es in Kapitel 9). Und wenn ihre Zeit abgelaufen ist, fallen diese Wörter aus dem Gebrauch heraus. Sie werden immer seltener geäußert, und irgendwann gar nicht mehr. Man weiß eben nie, wo die Reise hingeht: Wenn wir irgendwann nicht mehr die Maus als Eingabegerät nutzen, was passiert dann mit anklicken? Die Tage des Bildschirmschoners scheinen gezählt, und er reiht sich wahrscheinlich ein in die Liste von Wörtern, die obsolete Dinge, Ideen oder Berufe bezeichnen wie bspw. den CD-Brenner, den Ablasshandel oder den Stellmacher. Auf der anderen Seite werden auch heute noch Filme gedreht, obwohl dafür niemand mehr im eigentlichen Wortsinn 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 27 Konkur‐ renz etwas ‚drehen‘ muss (anders als die frühen Kameraleute) und obwohl oft direkt digital aufgezeichnet wird und nicht auf dünn beschichtete (Film-)Streifen. Ein Blick in das Neologismenwörterbuch der 1990er Jahre (H E R B E R G , K INN E & S T E F F E N S 2004) zeigt, wie zeitgebunden viele Wörter sind, die einst jung und erfolgreich waren. Als Neologismen gelten neue Wörter ja nur, wenn sie anfangen, sich zu verbreiten, also erfolgreich zu sein. Hier sind alle Einträge mit dem Anfangsbuchstaben A: (5) abgezockt, abhängen, Abschübling, abspacen, Adresse (i.S.v. Mailadresse), Alarmis‐ mus, Alarmist, alarmistisch, Alles-Inklusive-Reise, all-inclusive, All-Inclusive-Reise, Allzeithoch, Allzeittief, Anchor, Anchorman, Anchorwoman, Ankerwährung, ankli‐ cken, anklopfen, anmailen, Antimatschtomate, Antipersonenmine, atmende Fabrik, Aquajogging, Arbeitszeitkonto, Armutsfalle, Arschkarte, bis der Arzt kommt, Ärz‐ tehopping, Assessmentcenter, at/ @, Atomkoffer, Audiobook, aufbrezeln, auschillen, Autoteilen Einige Wörter sind besser gealtert als andere. Abschübling, abspacen, Antimatschto‐ mate, Anchorman und -woman muten heute teilweise unfreiwillig komisch an, viele andere sind obskur. Nur wenige Wörter sind heute noch verbreitet, z. B. Alarmismus und alarmistisch, anklicken und Arbeitszeitkonto. Und manchmal passiert etwas mit Seltenheitswert: Es taucht ein neues Wort zum ersten Mal auf, das sich verbreitet und lexikalisiert wird, das sich also zu Klassikern wie Mensch, Wort, informieren oder tadellos gesellt. Zwei solch erfolgreicher Wörter wurden Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhun‐ derts mit dem Muster -nis gebildet: Ereignis und Ergebnis. Bis dahin gab es diese Wörter nicht. Stattdessen war bspw. die Rede von Begebenheiten und Resultaten. Schon kurz nach ihrem ersten schriftlichen Auftreten verbreiteten sie sich sehr schnell. Fünfzig Jahre, nachdem die Wörter zum ersten Mal auftauchen, sind Ereignis und Ergebnis schon in zwei Drittel aller gedruckten Texte zu finden. Resultat hat die Konkurrenz überlebt, auch wenn das Wort deutlich seltener ver‐ wendet wird als zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Begebenheit hingegen hat das Auf‐ kommmen von Ereignis schlechter verkraftet. Es wird in Wörterbüchern als „gehoben“ beschrieben - das ist oft die Vorstufe zu „antiquiert“ oder „altertümlich“. Würden Sie das Wort verwenden? Wahrscheinlich höchstens, um aufzufallen. Wir sehen hier ein sehr interessantes Phänomen am Werk: Es kann über längere Zeit nicht zwei Wörter geben, die dasselbe bezeichnen. Wenn Wörter konkurrieren, dann scheinen ähnliche Gesetze zu gelten wie bei konkurrierenden Spezies in der Biologie. Über kurz oder lang stirbt eines der beiden Wörter aus - oder es sucht sich eine Nische. Das kann eine andere Bedeutung sein, ein anderer Verwendungskontext, oder eine bestimmte Textsorte. Im Moment konkurrieren z. B. Film und Video, Arbeit und Job, laufen und joggen miteinander. Das heißt auch: Für Wörter, denen es heute gutgeht, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, ob sie auch in 100 Jahren noch verwendet werden. Vielleicht werden sie von anderen Ausdrücken verdrängt? Es scheint paradox: Das System ist ständig in 28 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter Bewegung, und wir sind empfänglich für die Veränderungen in der Häufigkeit von Wörtern. Gleichzeitig glauben wir als Laien an die Stabilität des Systems, die es zu bewahren gilt gegen Veränderung, vor allem durch äußere Einflüsse. Das liegt daran, dass wir uns das Wissen über Frequenzveränderungen nicht explizit machen können; es bleibt implizit, wir haben erstaunlicherweise keinen Zugriff darauf. Dass Wörter verschwinden oder sich im kollektiven Lexikon einrichten sind nur die zwei Extreme: Wörter werden zu unterschiedlichen Zeiten (und von unterschiedlichen Sprecherinnen und Sprechern) unterschiedlich häufig gebraucht. Das ist nicht weiter überraschend und hängt unter anderem davon ab, wie intensiv bestimmte Themen gerade diskutiert werden. Wenn die Gesellschaft z. B. - wie in den 1980er Jahren - ökologische Themen aushandelt, dann wundert es nicht, dass Waldsterben ein prominentes Wort der Zeit ist. Unser kollektives Lexikon besteht also aus vielen, vielen Schichten, in denen sich Wörter abgelagert haben. Ständig tauchen neue Wörter auf. Viele werden importiert, noch mehr werden mit den Regeln, die das Deutsche bereithält, aus vorhandenem Material gebildet. Die meisten Wörter sind flüchtig, aber einige wenige von ihnen gehen tatsächlich ins kollektive Lexikon ein. Umgekehrt können auch etablierte Wörter aussterben. Alles ist im Fluss, auch wenn es für uns nicht so aussieht. Zur Vertiefung • Eine kurze, aber nach wie vor hervorragende Einführung in die Wortbildung ist die von Johannes E R B E N (2006). • Für Informationen zu einzelnen Wortbildungsmustern (Substantiv-Substan‐ tiv-Komposita, Kurzwortbildung, -ling-Derivation etc.) ist F L E I S CH E R & B A R Z (2012) immer meine erste Anlaufstelle. Hier sind alle wichtigen Erkenntnisse der For‐ schung zusammengetragen. • Der Sammelband der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2013) enthält gleich zwei sehr interessante Beiträge, die im Kontext dieses Kapitels relevant sind. Wolfgang K L E IN (2013) beschäftigt sich mit der Struktur des deutschen Wortschatzes und seiner Veränderungen im 20. Jahrhundert. Peter E I S E N B E R G (2013) erhebt den Anteil der Anglizismen im Deutschen und untersucht ihre Struktur. • Fugenelemente sind wesentlich komplexer, als das hier dargestellt wurde; einen umfassenden Überblick bietet Nanna F UH R HO P (1998). Damaris N ÜB LIN G & Renata S CZ E ZA P NIAK (2011) blicken aus sprachgeschichtlicher Perspektive auf das Phänomen. • Die Idee der Konkurrenz in der Wortbildung, insbesondere der Gedanke der Nischenbildung und Verdrängung, wird in Mark L IND S AY & Mark A R O NO F F (2013) sehr lesbar entwickelt. 1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter 29 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Wie haben sich die Vornamen in Deutschland in den letzten 70 Jahren verändert? Warum werden Babys heute nicht mehr Angelika und Wolfgang genannt, son‐ dern Hannah und Ben? Wie kann man diese Veränderung am besten beschreiben? Vornamen sind aus vielen Gründen interessant. Sie sind oft stark zeitgebunden, beinahe Modeerscheinungen: Sag mir, wie Du heißt, und ich sag Dir, wie alt Du wahrscheinlich bist. Sie sind außerdem schichtgebunden. Innovationen in der Vornamengebung wie Doppelvornamen (Lisa-Marie) beginnen oft in der Oberschicht und setzen sich dann über die Mittelschicht und ins Prekariat fort. Es gäbe hier noch eine Fülle weiterer interessanter Beobachtungen - z. B. dass die Vornamen individueller werden. Es gibt heute viel mehr verschiedene Namen als vor 100 Jahren, und die Top Ten der beliebtesten Namen deckt heute einen deutlich kleineren Teil ab. Oder dass wir in sozialen Netzwerken häufiger mit Menschen befreundet sind, deren Vorname mit demselben Buchstaben beginnt wie unser eigener. Wir konzentrieren uns hier aber auf einen anderen interessanten Aspekt des Wandels, und der hat etwas mit der lautlichen Struktur der Namen zu tun. Dafür vergleichen wir die zehn häufigsten Vornamen der 1950er Jahre mit denen der 2010er Jahre (Tab. 1). Die Liste stammt von der Seite beliebte-vornamen.de. Es gibt in Deutschland kein zentrales Geburtenregister, mit dem man die Vornamensgebung systematisch untersuchen könnte (zur Rechtfertigung dieser Quelle, die auf den ersten Blick zweifelhaft scheinen mag, auf den zweiten aber wahrscheinlich die beste Option ist, s. Nübling 2009: 78 f.). Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die Namen vergleichen? Vielleicht, dass die Namen der 2010er Jahre kürzer sind. Unter den 20 häufigsten sind 12, die aus nur drei oder vier Buchstaben bestehen. Von solchen Namen gibt es in der 1950er Liste nur zwei (Uwe und Paul). Aber vielleicht haben Sie auch das Gefühl, dass da noch etwas anderes passiert ist, etwas, das den Klang der Namen angeht, aber das Sie nicht richtig greifen können. Man könnte vielleicht sagen, die Namen sind weicher geworden, besonders die Mädchennamen. Vergleichen Sie zum Beispiel Brigitte mit Emilia; sagen Sie beide Namen ein paar mal laut vor sich hin. Vielleicht finden Sie, dass Brigitte härter klingt als Emilia? Phonologie Vokale 1950er 2010er Angelika Michael Mia Ben Monika Peter Emma Leon Sabine Hans Hannah Paul Petra Klaus Sophia Jonas Karin Wolfgang Emilia Finn Gabriele Thomas Anna Lukas Birgit Jürgen Lea Louis Brigitte Andreas Lina Luca Renate Bernd Lena Noah Susanne Uwe Marie Elias Tab. 1: Die zehn häufigsten männlichen und weiblichen Vornamen der 1950er und 2010er Jahre. Quelle: beliebte-vornamen.de „Härter“ und „weicher“ sind natürlich sehr subjektiv. Glücklicherweise gibt es eine sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Lautgestalt der Sprache beschäftigt, nämlich die Phonologie, und die diese subjektiven Eindrücke auf empirische Füße stellen kann. Wir werden im Folgenden einige phonologische Fachbegriffe und Unter‐ scheidungen kennenlernen - gerade so viele, wie Sie brauchen, um die Unterschiede zwischen den Vornamen präzise beschreiben zu können. Dazu muss ich etwas ausholen - keine Angst, wir sind gleich wieder bei den Vornamen, auch wenn es zwischenzeitlich vielleicht so aussieht, als seien wir weit vom Weg abgekommen. Wenn in der Sprachwissenschaft Laute beschrieben werden, dann meist so, dass die Aussprache dieser Laute bestimmt wird (und nicht, wie sie klingen). Was machen die Lippen? Wo ist die Zungenspitze? Strömt die Luft kontinuierlich oder plötzlich? Diese Sichtweise auf Sprache wird Artikulatorische Phonetik genannt. Wir können zunächst Vokale und Konsonanten unterscheiden. Vokale werden ge‐ bildet, indem die Luft aus den Lungen gepresst wird; sie strömt durch den Hals, wo sie die Stimmlippen zum Schwingen bringt. So entsteht der „Rohschall“, den wir klanglich verändern, indem wir unseren Mund weiter oder weniger weit öffnen und die Position der Zunge verändern. Ist der Mund geöffnet und die Zunge liegt im Unterkiefer, wird ein „Aaah“ erzeugt. Es ist also kein Zufall, dass Sie „Aaah“ sagen sollen, wenn man Ihnen in den Mundraum schauen will - das ist der Vokal mit der größten Öffnung. Beim „Iiih“ hingegen ist der Mund weiter geschlossen, und die Zunge macht vorne einen Buckel; beim „Uuuh“ macht sie ihn weiter hinten. Das ist übrigens keine Meta‐ pher: Wir können mithilfe von bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanzto‐ 32 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Notation von Lauten mographie Menschen in den Mund schauen, während sie sprechen, und zwar von der Seite. In Abbildung 13 sehen Sie einen Querschnitt durch den Kopf entlang der Nase. Abb. 13: MRT-Aufnahmen der Zungenlage bei den Vokalen [a] (links), [i] (mitte) und [u] (rechts). Quelle: https: / / www.phon.ucl.ac.uk/ courses/ spsci/ iss/ week5.php. Man kann deutlich die Nase, die Lippen und das Kinn erkennen, im rechten Teil außerdem die obere Halswirbelsäule - und die Zunge, die ein viel größerer und beweglicherer Muskel ist, als wir uns das normalerweise vorstellen. Im ersten Bild links wird ein [a] gesprochen. Notation von Sprachlauten Sprachlaute werden zwischen eckige Klammern gesetzt und Phone genannt. Viele Symbole für Phone entsprechen ihrem Lautwert in unserem Schriftsystem: [t] ist der erste Laut in toll, [p] der erste in Park etc. Daneben gibt es aber auch Sonderzeichen wie das [ʃ] am Anfang von schön. Diese Symbole (und ihre Zuordnung zu den Lauten) heißen IPA-Symbole. IPA steht für Internationales Phonetisches Alphabet. Die vollständige Tabelle mit allen Zeichen (also auch solchen, die für das Deutsche nicht gebraucht werden) kann man unter https: / / www.internationalphoneticassoc iation.org/ content/ full-ipa-chart herunterladen. Beim [a] ist der Mund weit geöffnet, die Zunge ist relativ weit unten, sodass der Mundraum ziemlich frei ist - insbesondere im Vergleich zu den anderen beiden Vokalen. In der Mitte wird ein [i] wie in Miete gesprochen. Die Zunge ist aufgerichtet und berührt fast - aber nur fast! - den vorderen Gaumen. Die Luft, die aus den Lungen durch den Hals nach oben strömt, kann nur durch eine sehr schmale Passage aus dem Mund entweichen. Im Bild rechts wird ein [u] wie in gut gesprochen, und auch hier ist die Passage sehr eng, allerdings weiter hinten im Mundraum. Welche Vokale wir sprechen, hängt also (unter anderem) von der Lage der Zunge im Mundraum ab. Ein weiterer Faktor ist Lippenrundung, schön zu sehen beim Vergleich [i] / [u]: Beim [i] (Abb. 13 in der Mitte) sind die Lippen unauffällig; beim [u] (Abb. rechts) sind sie nach vorn gestülpt; diese Haltung wird Rundung genannt. Gemeinsam haben alle Vokale, dass der Luftstrom ohne großartige Behinderung den Mund verlässt 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 33 Frikative und auf dem Weg nach draußen kein Geräusch (ein Ploppen oder Zischen) entsteht. Das geschieht auch beim [i] nicht, obwohl der Mundraum fast ganz geschlossen ist. Mit derselben Zungenhaltung ist ein Geräusch aber sehr wohl möglich: Sprechen Sie ein langes [i] wie in Miete, lassen Sie die Zunge an Ort und Stelle, und pusten Sie nun Luft aus den Lungen aus dem Mund heraus. Was hören Sie? Den letzten Laut in ich, der mit [ç] transkribiert wird. Die beiden Laute sind also sehr ähnlich, was die Stellung der Zunge bei der Artikulation angeht; aber nur beim Konsonanten [ç] wird ein Geräusch erzeugt (ein Zischen). Vokale sind Laute ohne Behinderung des Luftstroms, Konsonanten sind Laute mit Behinderung. Diese Behinderung kann eine Verengung sein wie beim [ç] in ich. Wenn viel Luft durch eine Engstelle gepresst wird, verwirbelt sie am Ende der Verengung, und die Verwirbelung hören wir als Rauschen oder Zischen. Solche Laute werden Frikative genannt. Sie bilden im Deutschen die umfangreichste Lautklasse. Zu den Frikativen gehören neben [ç] neun Laute. Bei allen entsteht ein Reibe- oder Zischge‐ räusch; sie unterscheiden sich aber durch den Ort der Engebildung. Ganz vorne im Mund, nämlich zwischen Unterlippe und Zähnen, werden [f] (der erste Laute in Fass) und [v] (der erste Laut in Wasser) gebildet. Wenn sie am selben Ort gebildet werden, warum sind sie dann nicht identisch? Weil bei [v] zusätzlich Stimmton zu hören ist. Die Stimmbänder schwingen; wir können auf [v] eine Melodie summen, auf [f] nicht. Das hat auch ganz konkrete physiologische Konsequenzen: Sie können die Schwin‐ gungen der Stimmbänder mit ihren Fingerspitzen als Vibrationen am Kehlkopf fühlen. Legen Sie dazu einfach Ihre Finger vorne auf Ihren Hals und sagen Sie z. B. Wasser mit langgezogenem [v]. Wenn Sie alles richtig gemacht haben, sollten Sie ein Kribbeln spüren. Die Gegenprobe ist Fass mit langem [f]: Hier tut sich nichts. Auch [s] (der letzte Laut in Glas) und [z] (der erste Laut in Sonne) werden am selben Ort gebildet (hinter dem oberen Zahndamm), und auch sie unterscheiden sich nur in der Stimmhaftigkeit. [z] ist stimmhaft, [s] ist stimmlos und kommt als erster Laut von Wörtern gar nicht vor, außer in süddeutschen Dialekten oder Fremdwörtern wie Spin. Man sieht an diesen wenigen Beispielen schon, dass Laute mit Buchstaben transkri‐ biert werden, die wir auch sonst verwenden, und dass die Lautwerte oft übereinstim‐ men (s. oben). Fass wird mit [f] transkribiert, Vase mit [v]. Leider lässt sich daraus keine Regel ableiten. Nicht immer, wenn wir ein Wort mit v schreiben, sprechen wir ein [v] (in Vogel, Vater, voll z. B. hören wir ein [f]). Und nicht jedes s, das wir schreiben, lesen wir als [s] (am Wortanfang ist es fast immer [z]). Der Laut [z] schließlich hat wenig mit dem Buchstaben z zu tun - wenn Sie genau hinhören, stellen Sie fest, dass der Buchstabe eher wie [͜t͜s] klingt. Außerdem gibt es Zeichen, die gar nicht zu unserem Alphabet gehören, wie beispiels‐ weise die Frikative [ʃ] (der erste Laut in schön) und [ʒ] (kommt nur in Fremdwörtern vor, z. B. als der letzte Konsonant in Garage). Auch diese beiden Laute unterscheiden sich nur in ihrer Stimmhaftigkeit; sie werden etwas weiter hinten im Mund gebildet als [s] und [z]. 34 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Plosive Obstruen‐ ten Sonoran‐ ten Approxi‐ manten Wird die Enge noch weiter hinten gebildet, hören wir ein stimmloses [x] wie im letzten Laut von Bach. Der letzte Frikativ, der im Mundraum gebildet wird, ist das stimmhafte [ʁ] (der zweite Laut in Krach), das zwischen Zunge und Gaumenzäpfchen gebildet wird. Nicht mehr im Mundraum, sondern im Kehlkopf wird das stimmlose [h] (der erste Laut in Haus) artikuliert. Eine ganz andere Art, Konsonanten zu bilden, ist der totale Verschluss des Luftstroms und die plötzliche Öffnung. Beim [p] (dem ersten Laut in Pass) beispielsweise schließen sich die Lippen, es wird Luft in den Mundraum geführt, der Luftdruck erhöht sich - und auf einmal wird der Verschluss gelöst (die Lippen werden geöffnet) und die Luft entweicht mit einem kleinen Knall aus dem Mund. Diese Mini-Explosion gibt der Laut‐ klasse ihren Namen: [p] ist ein Plosiv. Und wie bei den Frikativen gibt es auch hier ein stimmhaftes Gegenstück, also einen Plosiv, bei dem mit der Lösung der Stimmton ein‐ setzt: [b], der erste Laut in Ball. Neben diesem Paar gibt es im Deutschen die Plosivpaare [t] (der erste Laut in toll) und [d] (der erste Laut in doch) sowie [k] (der erste Laut in Kamm) und [g] (der erste Laut in Gans). Die Symbole, mit den die Laute transkribiert werden, sind unproblematisch, weil sie meist auch mit demselben Buchstaben verschriftet werden. Beim letzten Plosiv ist das anders. Das [ʔ] wird im Hals gebildet; die Stimmlippen sind verschlossen und werden plötzlich geöffnet. Es ist der erste Laut in Eis, der Knacklaut vor dem ersten Vokal, den man hören kann, wenn man sich anstrengt. Es gibt im Deutschen keinen Buchstaben dafür, und er tritt sehr regelmäßig am Wortanfang auf, wenn das Wort ansonsten mit einem Vokal beginnen würde. Solche Wörter gibt es im Deutschen nicht, anders als beispielsweise im Italienischen, und es ist ein Grund dafür, warum das Deutsche von Sprecherinnen und Sprechern anderer Sprachen als ‚hart‘ empfunden wird. Im deutschen Satz Anne aß ein Ei hört man vier Knacklaute; in der englischen Übersetzung Anne ate an egg nur einen ganz am Anfang. Der Glottisverschlusslaut hat in letzter Zeit eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil er von einigen Sprecherinnen und Sprechern als gesprochenes Pendant zum Gendersternchen benutzt wird. Bäcker*innen als inklusive Bezeichnung für alle Personen, die das Bäckerhandwerk ausüben, wird dann als [bɛkɐʔɪnən] realisiert. Frikative und Plosive machen den Großteil der Konsonanten im Deutschen aus. Sie werden oft unter dem Namen Obstruenten (von lat. obstruere, ‚behindern‘) zusam‐ mengefasst: Dem Luftstrom wird ein Hindernis in den Weg gestellt. Alle anderen Laute, die übrigen Konsonanten und die Vokale, werden auch Sono‐ ranten genannt (von lat. sonare, ‚klingen‘). Welche Konsonanten sind das? Zunächst die sogenannten Nasale [n] (der erste Laut in Nase), [m] (der erste Laut in Mitte) und [ŋ] (der letzte Laut in Ding - wir schreiben ihn mit zwei Buchstaben, n und g, aber wir hören nur einen Laut). Nasale heißen sie deswegen, weil die Luft aus der Nase aus‐ strömt. Es fehlen jetzt noch [l] (der erste Laut in laut) und [j] (der erste Laut in ja). Sie werden Approximanten genannt (von lat. approximare, ‚(sich) nähern‘). Approximanten sind Konsonanten, die sich den Vokalen nähern, ihnen ähnlich sind (die Luft kann relativ 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 35 Sonorität ungehindert aus dem Mund ausströmen). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Be‐ zeichnungen wie Gleitlaut (für [j]) oder Liquid, Lateral (für [l]). Das war jetzt eine relativ ausführliche Beschreibung der Lautklassen im Deutschen. Fassen wir mal zusammen und ordnen alles; das ist etwas, das Sprachwissenschaftler‐ innen und Sprachwissenschaftler gerne machen (die meisten Zeichen für Vokale sind Ihnen wahrscheinlich unbekannt, lassen Sie sich dadurch nicht stören): Lautklassen Laute Vokale Sonoranten a e ɛ ø œ i ɪ y ʏ o ɔ u ʊ ə ɐ Approximanten l j Nasale m n ŋ Frikative Obstruenten f v s z ʃ ʒ ç x h ʁ Plosive p b t d k g ʔ Tab. 2: Laute des Deutschen, geordnet nach der Art der Artikulation und ihrer Sonorität Das Tolle an dieser Klassifikation ist, dass die Klassen nicht einfach beliebig nebenei‐ nanderstehen und ansonsten nichts miteinander zu tun haben - sie lassen sich nämlich ordnen, und das ist in der Tabelle schon geschehen. Vokale sind die Laute mit der größten Sonorität. Plosive die mit der geringsten, und die übrigen Klassen verteilen sich dazwischen. Mit Sonorität ist die Schallfülle gemeint, die sich unter anderem in der empfundenen Lautstärke ausdrückt. Das Konzept der Sonorität erlaubt es, den Sil‐ benbau im Deutschen zu beschreiben. Silben sind nämlich nicht einfach zufällige Sammlungen von Lauten, sondern vorhersagbar strukturiert. Vom Rand zum Kern nimmt ihre Sonorität zu, vom Kern zum Rand wieder ab. Im Kern stehen die sonorsten Laute, die Vokale; ganz am Rand die am wenigsten sonoren, die Plosive. Wir können ein einsilbiges Wort wie blank also als Sonoritätsbogen begreifen: Die Sonorität ist an den Rändern ([b] und [k]) sehr niedrig und steigt Richtung Kern ([a]) an (Abb. 14). Abb. 14: Sonoritätsbogen für das Wort blank 36 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Sonoritäts‐ hierarchie Allgemei‐ nes Silben‐ baugesetz Konsonan‐ tencluster Damit lässt sich erfassen, dass bestimmte Silben, die im Deutschen nicht vorkommen (wie z. B. [lkitl]), keine guten Silben im Deutschen sind: Der Aufbau verstößt mehrfach gegen die Sonoritätsordnung (Sonoritätshierarchie in der Linguistik). Es ist ansons‐ ten gar nicht so einfach, zu begründen, warum bestimmte Wörter, die es nicht gibt, existieren könnten (z. B. krosch), andere aber nicht. Im Detail: Die Rolle von [ʁ], [s] und [ʃ] Mindestens zwei zusätzliche Annahmen müssen wir noch machen: 1. Das [ʁ] (der erste Laut in Raum) verhält sich wie ein Liquid und nicht wie ein Frikativ. Als Frikativ würden wir es im Endrand der Silbe nach Nasalen erwarten (*Kenr), und nicht davor (Kern). 2. [s] und [ʃ] sind ‚Joker‘ und können im Deutschen den sonoritätsgeleiteten Aufbau sprengen. Wir haben im Anfangsrand beispielsweise [ʃ] vor den Plosiven [t] und [p] (wie in Spiel und Stiel), im Endrand [s] nach [t] und [ʃ] nach [p] (wie in Herz und hübsch). Aber das ist Stoff für Fortgeschrittene. Mit den Sonoritätswerten und den Bestandteilen der Silbe (Anfangsrand, Kern, End‐ rand) können viele weitere Phänomene beschrieben werden: Minimale Wörter müssen im Deutschen aus einer Silbe mit Anfangsrand und Kern bestehen (da, wo, ja, See); im Anfangsrand deutscher Wörter können keine zwei Sonoranten erscheinen (*Mla), im Endrand schon (Alm). Und vor allem: Die Sonoritätshierarchie und das Silbenbaugesetz gelten prinzipiell für alle Sprachen der Welt. In vielen Sprachen gibt es einzelne Aus‐ nahmen (im Englischen beispielsweise [s] wie in sky, ein Frikativ vor einem Plosiv). Aber sie bleiben eben genau das: Ausnahmen. Daher wird das Silbenbaugesetz auch als das Allgemeine Silbenbaugesetz bezeichnet. Wir kehren hier aber zurück zu den Vornamen. Wir haben einen ganz schönen Gewalt‐ marsch durch die Phonetik und Phonologie hinter uns, aber mit all den phonetischen Kategorien, die wir auf dem Weg eingesammelt haben, lassen sich die Unterschiede zwischen Angelika und Hannah sehr präzise beschreiben. Und wenn wir das nicht nur für jeweils einen Namen machen, sondern für alle in der Liste oben, dann können wir belastbare Aussagen über die Entwicklung der Vornamengebung machen. Statt den Einzelfall zu beschreiben, versuchen wir also, auf einer größeren Datengrundlage Muster herauszuar‐ beiten. Das fasst die Arbeitsweise von Linguistinnen und Linguisten gut zusammen. Dazu bauen wir die Tabelle oben etwas um, sodass wir für jeden Namen vier Felder haben, in denen wir Beobachtungen festhalten können. Im ersten Feld notieren wir die Anzahl der Obstruenten im Namen, also der Plosive und Frikative. Diese beiden Laut‐ klassen sind die am wenigsten sonoren, sie klingen am härtesten. Wir behandeln [ʁ] als Frikativ, auch wenn der Laut sich zum Teil wie ein Liquid verhält (s. Kasten S. 38). Angelika würde als [aŋgelika] transkribiert werden und enthält zwei Obstruenten, nämlich [g] und [k]. Im zweiten Feld wird festgehalten, ob im Namen Konsonan‐ tencluster vorkommen - also zwei Konsonanten, die direkt aufeinander folgen (und zwar unabhängig davon, ob sie in derselben Silbe auftreten wie [kl] bei Klaus oder in zwei aufeinanderfolgenden Silben wie in Bir-git). Im dritten Feld wird die Silbenzahl 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 37 des Namens vermerkt, und im vierten Feld schließlich, ob der Name mit einem Kon‐ sonanten oder einem Vokal endet (im Gesprochenen, nicht in der geschriebenen Form! ). Das ist gleichzeitig eine gute Übung, um die Klassifikation der Laute zu üben - und um sich von der geschriebenen Form der Namen zu emanzipieren. Das wird am Beispiel von Peter deutlich: Die gesprochene Form endet nicht mit einem Frikativ ([ʁ]), sondern mit einem Vokal, der fast ein [a] ist und der als [ɐ] transkribiert wird. Die Lautform enthält also zwei Obstruenten ([p] und [t]), keinen Cluster, und besteht aus zwei Silben. Und Achtung, vergessen Sie den glottalen Verschlusslaut [ʔ] nicht - einen Obstruenten. Er erscheint immer dann, wenn ein Wort ansonsten vokalisch anlauten würde. 1950er # Obstr. Cluster? # Silben fin. Vokal? 2010er # Obstr. Cluster? # Silben fin. Vokal? Angelika - - - - Mia - - - - Monika - - - - Emma - - - - Sabine - - - - Hannah - - - - Petra - - - - Sophia - - - - Karin - - - - Emilia - - - - Gabriele - - - - Anna - - - - Birgit - - - - Lea - - - - Brigitte - - - - Lina - - - - Renate - - - - Lena - - - - Susanne - - - - Marie - - - - Michael - - - - Ben - - - - Peter - - - - Leon - - - - Hans - - - - Paul - - - - Klaus - - - - Jonas - - - - Wolfgang - - - - Finn - - - - Thomas - - - - Lukas - - - - Jürgen - - - - Louis - - - - Andreas - - - - Luca - - - - Bernd - - - - Noah - - - - Uwe - - - - Elias - - - - Tab. 3: Leere Tabelle zur eigenen Klassifikation der Vornamen der 1950er und der 2010er Jahre 38 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Für die Namen in der Tabelle oben erhält man folgende Werte in den einzelnen Kategorien. Bei unsicheren Kandidaten ist jeweils eine Spanne angegeben: 1950er # Obstr. Cluster? # Silben fin. Vokal? 2010er # Obstr. Cluster? # Silben fin. Vokal? Angelika 3 + 4 + Mia 0 + 2 + Monika 1 - 3 + Emma 1 - 2 + Sabine 2 - 3 + Hannah 0 - 2 + Petra 3 + 2 + Sophia 2 - 3 + Karin 2 - 2 - Emilia 1 - 4 + Gabriele 3 + 4 + Anna 1 - 2 + Birgit 3-4 + 2 - Lea 0 - 2 + Brigitte 4 + 3 + Lina 0 - 2 + Renate 2 - 3 + Lena 0 - 2 + Susanne 2 - 3 + Marie 1 - 2 + Michael 1 - 3 - Ben 1 - 1 - Peter 2 - 2 - Leon 0 - 2 - Hans 2 + 1 - Paul 1 - 1 - Klaus 2 + 1 - Jonas 2 - 2 - Wolfgang 3 + 2 - Finn 1 - 1 - Thomas 2 - 2 - Lukas 2 - 2 - Jürgen 1-2 + 2 - Louis 1 - 2 - Andreas 4 + 3 - Luca 1 - 2 + Bernd 2-3 + 1 - Noah 0 - 2 + Uwe 1 - 2 + Elias 2 - 3 - Tab. 4: Die häufigsten Namen der 1950er und der 2010er Jahre, klassifiziert nach verschiedenen Kategorien: Anzahl der Obstruenten („#Obstr.“), Vorhandensein von Konsonantenclustern („Cluster? “), Anzahl der Silben („#Silben“) und Vorhandensein eines finalen Vokals („fin. Vokal? “) 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 39 Zusam‐ menfas‐ sung Man sieht hier schon auf den ersten Blick sehr viel: Mehr Obstruenten, mehr Cluster und mehr Silben in den 1950er Jahren im Vergleich zu heute. Das können wir etwas präziser formulieren. Dazu fassen wir die Spalten in jeweils einer Zahl zusammen, und zwar wie folgt: • In wie vielen Namen kommen Obstruenten vor? In den 1950er Jahren in jedem der 20 beliebtesten Namen, in den 2010er Jahren in 13 von 20 Fällen (65 %). Es lohnt sich, hier zwischen männlichen und weiblichen Vornamen zu unterscheiden: Nur fünf der zehn beliebtesten Mädchennamen enthalten in den 2010er Jahren einen Obstruenten (50 %), aber acht der zehn Jungennamen (80 %). • Wie viele Obstruenten kommen im Schnitt in den Namen vor? Dazu addieren wir für jeden Zeitraum die Anzahl der Obstruenten (wenn ein Bereich angegeben ist, nehmen wir die niedrigere Zahl). In den 1950er Jahren sind es insgesamt 45 Obstruenten in 20 Namen, also 2,25 Obstruenten pro Name. In den 2010er Jahren sind es 18 Obstruenten in 20 Namen, also 0,9 Obstruenten pro Name. • Auch hier können wir noch einmal zwischen männlichen und weiblichen Vorna‐ men unterscheiden. In den 1950er Jahren kommen in den zehn Mädchennamen 24 Obstruenten vor (2,4 pro Name), in den zehn Jungennamen sind es 19 Obstruenten (1,9 pro Name). In den 2010er Jahren dreht sich das Verhältnis um, hier kommen vier Obstruenten in den zehn Mädchennamen vor (0,4 pro Name), aber zehn in den zehn Jungennamen (1 pro Name). • In wie vielen Namen treten Konsonantencluster auf ? In den 1950er Jahren in etwa der Hälfte (in elf der 20 beliebtesten Namen), in den 2010er Jahren in keinem einzigen Namen. Das Verhältnis zwischen Jungen- und Mädchennamen ist in den 1950er Jahre ziemlich ausgeglichen: Cluster kommen in fünf der zehn Mädchennamen und sechs der zehn Jungennamen vor. • Wie lang sind die Namen (in Silben)? In den 1950er Jahren sind es durchschnittlich 2,4 Silben pro Name, wobei Mädchennamen deutlich länger ausfallen als Jungen‐ namen (2,9 Silben gegenüber 1,9 Silben). In den 2010er Jahren sind die Namen etwas kürzer (durchschnittlich 2,1 Silben), und der Rückgang betrifft vor allem die Mädchennamen (die im Schnitt 2,4 Silben lang sind); bei den Jungennamen ist keine große Veränderung festzustellen (sie sind 1,8 Silben lang). • Wie häufig enden Namen mit Konsonanten? In 20 % der Fälle bei den Mädchen‐ namen in den 1950er Jahren, aber in 90 % der Jungennamen. In den 2010er Jahren gibt es keinen Mädchennamen, der mit einem Konsonanten endet; bei den Jungennamen sind es 80 %. Wir können die Ergebnisse noch einmal übersichtlicher zusammenfassen: 40 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 1950er 2010er Mädchen Jungen Mädchen Jungen Namen ohne Obstruenten 0 % 0 % 70 % 20 % Durchschn. Anzahl Obstruenten 2,4 1,9 0,4 1 Namen mit Konsonantenclustern 50 % 60 % 0 % 0 % Endet mit Konsonanten 20 % 90 % 0 % 80 % Durchschnittliche Länge in Silben 2,9 1,9 2,4 1,8 Tab. 5: Kennzahlen der 10 beliebtesten Vornamen der 1950er und der 2010er Jahre: Anzahl der Namen ohne Obstruenten; durchschnittliche Anzahl der Obstruenten pro Name; Anzahl der Namen mit Konsonantenclustern; Anzahl der Namen mit finalem Konsonanten; durchschnittliche Länge der Namen in Silben Hier interagieren also zwei Einflussfaktoren: Das Geschlecht und die Zeit. Mit der Zeit werden die Vornamen sonorer, also weicher: Die Anzahl der Obstruenten pro Name geht zurück, der Anteil der Namen, die ganz ohne Obstruenten auskommen, steigt. Konsonantencluster verschwinden vollständig; der Anteil finaler Konsonanten sinkt. Außerdem werden die Namen kürzer. Diese Entwicklungen sind bei Jungen- und Mädchennamen gleichermaßen zu beobachten - allerdings auf unterschiedlichem Niveau: Mädchennamen sind in den 2010er Jahren deutlich sonorer als Jungennamen. Die Mainzer Sprachwissenschaftlerin Damaris Nübling vermutet allerdings, dass sich die Jungennamen langsam, aber sicher annähern und spricht deswegen von einer „Androgynisierung“ der Vornamenbildung. Wenn diese These stimmt, sollten wir in Zukunft mehr beliebte sonore Jungennamen in den einschlägigen Listen sehen - also mehr Noahs und Leons und Mios, weniger Theos, Pauls und Ottos. Aber warum ist das so? Ich fürchte, dass wir diese Frage hier nicht beantworten können. Warum trugen Jugendliche in 1990er Jahren Schlaghosen, in den Nuller Jahren Baggypants? Weil es Mode war; weil bestimmte Vorbilder Einfluss hatten. Ähnlich ist es hier auch, nur dass wir allgemeinere Trends sehen, die längerfristig wirken. Wird sich diese Entwicklung irgendwann umkehren? Sie kann jedenfalls nicht viel weiter gehen, weil viele Namen schon maximal sonor sind. Es bleibt also spannend: Wenn Sie eine neue Liste mit beliebten Namen sehen, können Sie sie analysieren und vielleicht neue Trends erkennen. Das ist im Kern das Vorgehen bei sprachwissenschaftlichen Studien: Man bemerkt etwas (Namen werden irgendwie „weicher“), besorgt geeignete Daten, macht die Frage handhabbar (wieviele Obstruenten gibt es pro Name? ) und befragt die Daten systematisch. Man könnte die Datenbasis noch ausweiten auf andere Jahrzehnte; 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen 41 man könnte statt der 20 häufigsten Namen alle Namen miteinbeziehen; man könnte die Ergebnisse noch statistisch auswerten. Aber all das passiert am besten auf der Grundlage einer ersten Untersuchung, die notwendigerweise begrenzt ist. Irgendwo muss man anfangen. Zur Vertiefung • Einen Überblick über die Durchsetzung von Vornamen und Namensmoden im Allgemeinen gibt U T E CH (2011). • Der überraschende Effekt, den der erste Buchstabe des eigenen Namens auf die Freundeswahl in Sozialen Netzwerken hat, wird in K O OTI et al. (2014) diskutiert. • Schauen Sie sich die interessante Untersuchung von N ÜB LIN G (2009) an, Sie sollten jetzt in der Lage sein, das meiste zu verstehen! • Es gibt einige sehr zugängliche Einführungen in die Phonologie, z. B. F UH R HO P & P E T E R S (2013). Das Buch behandelt sowohl die Phonologie als auch die Graphema‐ tik. 42 2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen Zweifels‐ fälle 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Haben Sie den Beitrag geliked, geliket oder gelikt? Haben Sie geschwört oder geschworen, gebackt oder gebacken? Heißt es Samstag oder Sonnabend? Und wie lassen sich solche sprachlichen Zweifelsfälle am besten beschreiben und klären? Wir sind alle Experten, was die Sprache angeht. Wir haben sie als Kleinkinder gelernt, meist mühelos, und können jetzt ebenso mühelos mit ihr umgehen, sie in Sekunden‐ bruchteilen verstehen und genauso schnell reagieren. Zugegeben, wir können auf dieses Wissen nicht bewusst zugreifen (sonst wären wir alle Linguisten, oder vielleicht niemand mehr) - aber wir können es nutzen. Aber genauso, wie die meisten von uns sehr gut laufen können, und trotzdem manchmal stolpern, so stolpern wir auch manchmal sprachlich, trotz unserer ausge‐ wiesenen Kompetenz. Heißt es der Joghurt, die Joghurt oder das Joghurt? Oder Jogurt ohne h? Und wenn es mehrere sind, heißen sie dann Joghurts oder Joghurte? Um solche Fälle geht es im Folgenden (oder im folgenden? ). In all diesen Fällen zweifeln wir, was die richtige Form ist. Wenn wir damit nicht allein sind, und das sind wir meistens nicht, dann handelt es sich um einen sprachlichen Zweifelsfall in der Sprachgemeinschaft. Zweifelsfälle sind relativ selten, wenn wir sie mit der großen Menge an Nicht-Zweifelsfällen vergleichen. In den allermeisten Fällen stolpern wir sprachlich eben nicht, sondern kommunizieren vollkommen geschmeidig. Aber wenn wir dann zweifeln, dann fällt es auf, und wir werden aus unseren gewohnten Bahnen geworfen und denken über die Sprache nach. Um es gleich vorwegzuschicken: Das Zweifeln bedeutet nicht, dass Zweifelnde Probleme mit der Sprache haben, eher im Gegenteil: Nur, wer ein gewisses Maß an Sprachgefühl hat, kann überhaupt zweifeln. Wenn wir zweifeln, dann können wir uns zwischen zwei Varianten nicht entscheiden (das steckt etymologisch im Wort zweifeln, das mit dem Zahlwort zwei verwandt ist). In praktisch allen Fällen ist es so, dass beide Varianten ihre Berechtigung und ihren Sinn haben. Eine Variante wird vielleicht von den Amtlichen Regeln als orthographisch richtig ausgezeichnet, oder der Duden empfiehlt nur diese Flexionsform. Aber das heißt ja nicht, dass die andere Variante grundfalsch sein muss, sie hat meistens trotzdem ihre Berechtigung. Ein Beispiel: Vielleicht fragen Sie sich auch häufiger mal, ob der Abend in Verbindung mit heute groß oder klein geschrieben wird. Heute Abend oder heute abend? Ein Blick in die Amtlichen Regeln zeigt, dass nur die Großschreibung richtig ist. Aber beide Varianten sind sinnvoll und in gewisser Weise richtig. Die Unsicherheit, die sich bei Schreibenden zeigt, spiegelt nur eine grammatische Unsicherheit wider. Dazu müssen wir etwas ausholen. Im Deutschen werden Substan‐ Schrei‐ bung von Partizipien tive groß geschrieben. Die Regel ist sehr schön einfach - viel schwieriger ist es, exakt zu bestimmen, was denn nun ein Substantiv ist. Diese Klasse von Wörtern franst an den Rändern aus (wie viele andere Klassen auch), und wir finden dort Einheiten, die sich teilweise wie Substantive verhalten, teilweise nicht. Abend in heute a/ Abend ist so ein Fall. Es ist normalerweise ein Substantiv und macht alles, was ein Substantiv sonst so können muss: Es kann z. B. einen Artikel nehmen (der Abend) oder mit einem Adjektiv modifiziert werden (der warme Abend). Im konkreten Kontext (nach heute) geht das aber nicht: Weder *der heute a/ Abend noch *heute der a/ Abend klingen richtig, und auch bei *schöner heute a/ Abend oder *heute schöner a/ Abend ist es nicht besser. Abend ist also eigentlich ein Substantiv, das spricht für Großschreibung, verhält sich hier aber nicht so, das spricht für Kleinschreibung. Es liegt also ein Fall vor, in dem die Grammatik selbst nicht eindeutig ist, und genau das zeigt sich dann in der Schreibung bzw. in unserer Unsicherheit. Zu Zweifelsfällen haben Menschen oft starke Meinungen. Wenn z. B. englische Ver‐ ben wie like oder fake ins Deutsche kommen - wie lautet dann ihr Partizip Präteritum? In der gesprochenen Sprache ist das eindeutig ([gəlaɪkt], [gəfɛɪkt]) - aber im Geschrie‐ benen? Es gibt mindestens die folgenden Formen: (1) a. gelikt, gefakt - b. geliket, gefaket - c. geliked, gefaked Das führt bei einigen Sprechern zum Reflex, eine (und nur eine! ) Variante als richtig auszuzeichnen; in diesem Fall (1a.). Das geschieht zum Beispiel im Tweet in Abb. 15. Abb. 15: Tweet mit starker Meinung zur Schreibung von Partizipien von Verben aus dem Englischen 44 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Regelung der Ortho‐ graphie Das wird recht apodiktisch dargestellt: gelikt ist richtig, alles andere ist falsch. Das ist insofern interessant, als diese Formen in den Amtlichen Regeln gar nicht vorkommen. Die Amtlichen Regeln werden vom Rat für deutsche Rechtschreibung herausgegeben, einer zwischenstaatlichen Organisation mit Mitgliedern aus deutschsprachigen Staa‐ ten. Das Gremium wurde explizit ins Leben gerufen, um die Regelung der Orthographie wieder in staatliche Hände zu legen. Bis 1996 hatte der Duden diese Aufgabe übertragen bekommen. Wer richtig schreiben wollte, der musste in den Duden schauen - und richtig schreiben, das mussten und müssen Schüler, Lehrer und andere Personen im öffentlichen Dienst, und praktisch alle anderen wollten es, auch wenn sie es nicht mussten. Die jeweils neuste Duden-Auflage war bis mindestens 1996 eine Lizenz zum Gelddrucken. Wenn sich also heute jemand darauf beruft, dass etwas richtig sei, „weil es so im Duden steht“, dann sollte man aus zwei Gründen skeptisch sein. Erstens: Wenn es nicht um offiziellen Sprachgebrauch geht (also den schulischen oder behördlichen), kann Ihnen niemand verbieten, sich sprachlich so zu äußern, wie Sie das möchten. Andere halten das für falsch? Ja und? Andere halten ständig Sachen für falsch. Und dass die Rechtschreibung offiziell geregelt ist, ist historisch gesehen noch gar nicht so lange her; das ist nämlich erst seit 1901 so. Zweitens: Wer es genau wissen möchte, sieht in der aktuellen Version der Amtlichen Regeln nach (abrufbar unter www.rechtschreibrat.com). Wenn dort nichts zu finden ist, dann ist der Duden eigenmächtig vorgeprescht, und es handelt sich nicht um eine offizielle Regelung. Der Fall ist viel interessanter, als die Einteilung in ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ uns glauben macht. Auf den ersten Blick spricht ja einiges für die starke Meinung, die gegenüber der -t-Partizip-Form vertreten wird. Das ist die Form, die Partizipien schwacher Verben sonst auch annehmen, z. B. gesagt, gespielt, gerannt, geträumt - das gilt erst einmal genau so für die Partizipien von Verben, die aus anderen Sprachen wie dem Englischen kommen (z. B. gecrasht, gescannt, gejoggt, gebloggt). Das Partizip wird in diesen Fällen so gebildet: Wir nehmen den Verbstamm (nicht den Infinitiv! ) und hängen vorne ein gedran (wenn dieser Stamm auf der ersten Silbe betont ist) und hinten ein -t. (2) jogg- > ge-jogg-t Was ist an den Fällen oben in Abb. 14 anders? Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Infinitive nicht voneinander: (3) a. joggen, scannen, crashen - b. liken, faken, managen Die Wörter in (3b) haben gemein, dass das e im Infinitivsuffix eine Funktion im Stamm übernimmt. Das sehen wir, wenn wir uns die englischen Entsprechungen ansehen: 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 45 ‚Stummes‘ e im Engli‐ schen (4) a. (to) jog, scan, crash - b. (to) like, fake, manage Die Gruppe, die uns Schwierigkeiten bereitet, endet auf e. Dieses sog. ‚stumme‘ e sagt uns entweder, dass der Vokal, der vorher kommt, eigentlich aus zwei Vokalen besteht, die ineinander übergehen wie in like und fake (phonetisch [lɑɪk] und [fɛɪk] - solche Vokale werden Diphthonge genannt). Das macht das e im Englischen regelmäßig; es unterscheidet Formen wie win/ wine, cap/ cape oder rob/ robe. Oder es sagt uns, dass das g in manage nicht wie ein normales g ausgesprochen wird (wie z. B. das g in dog), sondern als Affrikate, also als Kombination aus Plosiv und Frikativ. Als englische Fremdwörter noch stärker ans deutsche Schriftsystem angepasst wurden, wurde dieser Laut übrigens mit dsch verschriftet wie in Dschungel (engl. jungle). In beiden Fällen erfüllt das e eine Funktion und ist nicht einfach Teil des deutschen Infinitivsuffixes. Wenn wir es kappen und entsorgen, bekommen wir Schwierigkeiten mit der etablierten Laut-Buchstaben-Beziehung: (5) gelikt, gefakt, gemanagt Mit gemanagt können wir uns vielleicht noch arrangieren, aber gelikt und gefakt sehen so aus, als seien ihre Vokale einfach und kurz. Mit dem e ist der Hinweis auf den Diphthongcharakter der Vokale verschwunden. Diese Lösung ist also nicht besonders gut; das erklärt, warum Schreiberinnen und Schreiber nach alternative Lösungen suchen. Die beiden anderen Schreibungen bewahren das e und unterscheiden sich darin, ob sie das Partizip mit -t oder -d bilden. Sie haben ihre eigenen Probleme: Formen wie geliket oder gefaket suggerieren, dass sie dreisilbig sind. Normalerweise entspricht jeder Schreibsilbe im Deutschen eine Sprechsilbe. Dieses Problem wird bei den -d-Formen etwas umgangen. geliked und gefaked enthalten die englischen Partizipien liked und faked; hier sind wir eher bereit, Besonderheiten in der Laut-Buchstaben-Zuordnung hinzunehmen. Aber - und natürlich gibt es hier ein aber, alles andere wäre ja zu schön - auch gefaked und geliked sind problematisch. Sie sind es nicht, so lange die Partizipien als Teil von Verbformen vorkommen (Sie hat das geliked, Er wird das gefaked haben) oder als Ergänzung der Verben sein, werden und bleiben (Das ist gefaked). Aber sobald das Partizip wie ein Adjektiv verwendet wird, muss es flektiert werden. Und da klafft dann wieder eine Lücke zwischen Schrift und Lautung. Wenn wir der gelikede Beitrag schreiben, ist zu erwarten, dass das Partizip mit [də] endet; die meisten realisieren es aber wohl eher mit [tə] am Ende. Alle drei Schreibungen haben also ihre eigenen Schwierigkeiten, keine ist optimal. Als Linguistinnen und Linguisten können wir untersuchen, wie sie verteilt sind: Wer 46 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Verteilung der Formen Zeit als Einfluss‐ faktor nutzt welche Form, und wovon hängt das ab? Versuchen wir das am Beispiel von liken mal etwas aufzudröseln. In professionell redigierten Texten (also in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Magazinen etc.) ist geliked die häufigste Form; die vom Duden vorgeschriebene (und im Tweet oben diktierte) Schreibung gelikt hat immerhin noch drei Viertel der Treffer von geliked. In unredigierten Online-Texten (hier: Tweets) ist der Abstand deutlich größer. Auch hier liegt geliked vorn, aber gelikt kommt auf weniger als ein Fünftel der Treffer. - gelikt geliket geliked DeReKo 41 % (480) 7 % (89) 52 % (616) Twitter 12 % (19.245) 25 % (38.216) 63 % (101.895) Tab. 6: Anteile der Schreibungen gelikt, geliket und geliked an allen Vorkommen des Partizips von liken in Print-Texten im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) und in deutschsprachigen Tweets bis Februar 2020. Die Textart (redigiert/ unredigiert) hat also einen Einfluss, aber wirklich eindeutig sind die Daten nicht. Das liegt auch daran, dass die Gesamtzahlen in der Tabelle oben einen weiteren Faktor verdecken - nämlich die Zeit. Das wird in Abb. 16 sichtbar, in der dieser Faktor berücksichtigt wird. Abb. 16: Anteile der Schreibungen gelikt, geliket und geliked an allen Vorkommen des Partizips von liken im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) und in deutschsprachigen Tweets über die Zeit Was passiert hier? In redigierten Texten zeichnet sich ab, dass die Duden-Variante sich langsam durchsetzt; im Jahr 2020 wird sie bereits in über der Hälfte aller Fälle verwendet. Auf Twitter sieht das Bild ganz anders aus. Hier gewinnt die geliked-Vari‐ ante mit jedem Jahr seit 2016 mehr an Einfluss. Im Jahr 2020 kommt sie in mehr als zwei Drittel aller Fälle vor. Hier ist die Duden-Variante die seltenste. Wir sehen hier, wie die „richtige“ Form in Echtzeit ausgehandelt wird. Jede Verwen‐ dung einer Form ist gleichzeitig eine Stimme für diese Form. Außerdem ist klar, dass es nicht eine Norm gibt, sondern unterschiedliche Normen für die beiden Textarten. 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 47 Starke und schwache Verben Das heißt: Es gibt eine Norm für Texte in sozialen Medien, und hier ist geliked der Normalfall. Die vom Duden vorgeschlagene Schreibung ist die Ausnahme. Man könnte daher auch umgekehrt fragen: Macht man einen Fehler, wenn man auf Twitter gelikt statt geliked schreibt? Aber auch diese Frage geht eigentlich am Gegenstand vorbei: Die Rechtschreibregeln gelten verbindlich für schulische und behördliche Kontexte. Professionell redigierte (meist gedruckte) Texte orientieren sich ebenfalls an diesen Regeln. Texte in den sozialen Medien tun das auch, aber zu einem geringeren Grad. Es ist ein freierer Raum, zumindest so lange, bis Print-geschulte Duden-Fans eindringen und allen vorschreiben möchten, wie sie schreiben sollen. Das Faszinierende ist: Das geht auch ohne sie, und zwar allein durch den Gebrauch; so hat es immer schon funktioniert (s. Kap 4). Am Zweifelsfall geliked/ gelikt/ geliket ist gut zu sehen, wie zwei Faktoren interagie‐ ren: Einerseits wird der Fall langsam über die Zeit geklärt. Andererseits dürfen wir die Textarten nicht in einen Topf werfen; auch sie sind ein Faktor. Also: Mit der Zeit kristallisiert sich in beiden Textarten eine Variante heraus, die dominant ist. In redigierten Texten ist das die Duden-Empfehlung gelikt - es ist allerdings fragwürdig, wie groß der Einfluss des Dudens dabei ist. Schließlich enthält erst die 27. Auflage von 2017 einen Eintrag zu liken. Und zu diesem Zeitpunkt war gelikt schon die häufigste Variante im DeReKo. Der Faktor Zeit ist häufig an Zweifelsfällen beteiligt. Das gilt in Fällen wie dem Partizip von liken, wo eine Form ausgehandelt wird; es gilt aber noch mehr, wenn eine alte durch eine neue Form ersetzt wird. Diese Entwicklung ist gerade im Gange bei der einfachen Vergangenheit von schwören. Für ältere Sprecherinnen und Sprecher ist Er schwor, dass er es nicht war unauffällig; unter jüngeren findet man schon die Form schwörte. Abb. 17: Tweet mit der Präteritumsform schwörte Diese beiden Formen - schwor und schwörte - sind nicht zufällig. Das Verb schwören sitzt zwischen zwei Stühlen, der Gruppe der starken Verben und der Gruppe der schwachen Verben. Die Gruppe der schwachen Verben ist um ein Vielfaches größer als die der starken Verben; schwache Verben sind der Normalfall im Deutschen. Schwa‐ che Flexion bedeutet, dass die einfache Vergangenheit des Verbs (das Präteritum) mit -tgebildet wird: ich spiele - ich spiel·t·e, du spielst - du spiel·t·est, wir spielen - wir 48 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Sprach‐ wandel Frequenz als Faktor spiel·t·en usw. Der Verbstamm spiel bleibt immer derselbe, die Information „Vergan‐ genheit“ wird über das -tkodiert. Und das Partizip Perfekt hat bei schwachen Verben die Form ge-…-t: ge·spiel·t, ge·sag·t, ge·twitter·t. Bei der starken Flexion ist das anders. Hier ändert sich der Vokal im Stamm im Prä‐ teritum: ich rufe - ich rief, du rufst - du riefst, wir rufen - wir riefen etc. Der Stammvokal signalisiert hier also „Vergangenheit“, bzw. etwas genauer: der Unterschied zwischen dem Stammvokal in Formen wie ich fahre - ich fuhr macht das. Das Partizip Perfekt wird mit ge-…-en gebildet: ge·ruf·en, ge·fahr·en, ge·les·en. Teilweise ändert sich auch noch der Stammvokal (schwimmen - geschwommen, singen - gesungen). So kann unser Zweifelsfall motiviert werden: Das Verb kann sich nicht entscheiden, ob es lieber stark oder schwach flektiert werden möchte. Bei der schwachen Flexion ist der Verbstamm immer schwör-, und alles wird mit Affixen erledigt (5a.). Bei der starken Flexion ändert sich der Stammvokal, und das Partizip wird mit ge…en gebildet (5b.): (5) a. schwör·en, ich schwör·e, ich schwör·t·e, ich habe ge·schwör·t - b. schwör·en, ich schwör·e, ich schwor, ich habe ge·schwor·en Unser Zweifelsfall betrifft das Präteritum, aber die Einordnung lässt vermuten, dass es auch im Partizip Perfekt eine schwache Variante gibt - und das ist tatsächlich so (Abb.-18). Warum kann sich schwören nicht entscheiden? Bei fast allen anderen Verben geht das doch auch! Das liegt daran, dass viele Verben noch im Germanischen, also dem sprachgeschichtlichen Vorgänger des Deutschen, stark flektiert wurden, unter ande‐ rem eben auch schwören. Mit der Zeit sind aber immer mehr Verben zur schwachen Flexion gewechselt - mit der Konsequenz, dass heute die große Mehrzahl aller Verben schwach flektiert wird. Das gilt insbesondere für alle Verben, die neu importiert werden (z. B. twittern - twitterte - getwittert, zoomen - zoomte - gezoomt). Das zeigt, dass die -t-Form der Vergangenheit ganz regelmäßig angewendet werden kann. Man muss das Verb selbst nicht kennen, nur die Regel: Präteritumsform = Verbstamm + t + Personal‐ endung. Bei den starken Verben ist das anders. Es gibt zwar Tendenzen, welcher Vokal durch welchen ausgetauscht wird (das sind die sog. Ablautreihen); aber es gibt eine ganze Reihe Ausnahmen. Die Verben meiden und schneiden z. B. haben im Präsens‐ stamm denselben Vokal, im Präteritum aber nicht (mied vs. schnitt). Für jedes Verb - bzw. jede Kleingruppe von Verben - muss man lernen, wie der Vokal sich verhält. Die schwache Flexion ist also wesentlich einfacher und lernerfreundlicher. Heute sind we‐ niger als 200 starke Verben übrig, und auf ihnen lastet ständig ein ganz schöner Druck. Der Druck ist so groß, dass viele schon an der einen oder anderen Stelle schwach flektieren (oft neben der starken Flexion). Einige Verben wechseln trotzdem nicht die Flexionsklasse und sind bemerkens‐ wert stabil, wie z. B. sehen - sah - gesehen; die schwach flektierte Reihe sehen - *sehte - *habe geseht klingt vollkommen falsch. Warum ist das so? Weil viele der 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 49 Abb. 18: Tweet mit der Partizipialform geschwört verbliebenen starken Verben sehr häufig vorkommen. Von den 20 häufigsten Voll‐ verben (also keine Hilfsverben wie haben oder Modalverben wie müssen) flektie‐ ren 15 stark (z. B. geben, kommen, gehen, sehen, stehen). Wir treffen ständig auf diese Verben, in allen möglichen Formen und Kontexten, und dieses ständige Ausge‐ setztsein stabilisiert die stark flektierten Formen. Ging, sah und fand sind so häu‐ fig, dass sich die schwach flektierten Alternativen gehte, sehte und findete nicht einmal im Ansatz durchsetzen können. Das ist anders bei seltenen Verben, die stark flektiert werden. Von ihnen hören und lesen wir, wenn wir die Sprache lernen, einfach nicht genügend Input. Formen wie drosch, molk oder wob sind mit den Tätigkeiten, die sie bezeichnen, seltener geworden. Als Kinder und Jugendliche hören wir sie selten bis nie - das hängt mit einem weiteren Wandelphänomen zusammen, dem Präteritumsschwund. 50 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln backte vs. buk Präteritumsschwund Mit der Kategorie „Präteritum“ beschreibt man Verbhandlungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. So weit, so gut - aber es gibt eine weitere Zeitform im Deutschen, die sich ebenfalls auf die Vergangenheit bezieht, nämlich das Perfekt. Es gibt zwar subtile Unterschiede zwischen den beiden, aber im Großen und Ganzen können sie dasselbe. Welche Form nutzen Sie, wenn Sie Ihren Bekannten von einer Begegnung mit einem alten Freund berichten? „Ich traf gestern Mirco“? Das klingt in einem ungezwungenen Freundesgespräch doch arg gestelzt. Viel unauffälliger ist „Ich habe gestern Mirco getroffen“. Man kann das verallgemeinern: In der informellen gesprochenen Sprache hat das Perfekt das Präteritum verdrängt. Das ist keine neue Entwicklung, sondern eine, die schon vor über 500 Jahren in bairischen und österreichischen Dialekten begonnen hat und sich langsam nach Norden ausgebreitet hat. Was das mit dem Präteritum in der geschriebenen Sprache macht, ist vollkommen offen. Im Moment geht es dem Präteritum in Erzähltexten immer noch sehr gut; es ist lebendig und zeigt kaum Anzeichen einer Schwäche. Der Präteritumsschwund führt dazu, dass wir im gesprochenen Deutsch nur noch wenige Präteritumsformen verwenden; das hat wiederum zur Folge, dass bestimmte starke Verben zumindest im Mündlichen kaum noch gelernt werden können. Bei schwören steht die Entwicklung noch ganz am Anfang: Wir sehen, dass die schwachen Formen schwörte und geschwört vorkommen, dass schwörte aber noch die Ausnahme ist. Die starke Form ist mehr als zehnmal so häufig. Noch deutlicher ist das Übergewicht der starken Form bei der Verwendung mit dem Reflexivpronomen sich, also z. B. Er schwor sich, niemals aufzugeben. Hier ist die starke Form etwa 25-mal so häufig wie die schwache. Vielleicht sagen Sie jetzt: „Naja, das ist ja alles noch Zukunftsmusik und ziemlich unsicher“. Das mag für den Fall schwörte/ schwor stimmen. Aber gleichzeitig sind andere Verben schon weiter fortgeschritten: Das schwach flektierte backte ist in geschriebenen Texten mittlerweile häufiger als das stark flektierte buk. Und wir sehen natürlich all die ehemaligen Zweifelsfälle nicht, die sich mittlerweile geklärt haben. Das Präteritum von bellen z. B. lautete bis ins 19. Jahrhundert boll. Jean Paul schreibt bspw. in seinen „Flegeljahren“ von 1804 (Abb. 19): Abb. 19: Beleg für die starke Flexionsform boll in Jean Pauls „Flegeljahren“; Quelle: https: / / www.deuts chestextarchiv.de/ book/ show/ paul_flegeljahre01_1804 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 51 siedete vs. sott Raum als Faktor Oder wussten Sie, dass das Präteritum von sieden einmal sott hieß und das Partizip Perfekt gesotten? Das letztere ist uns nur noch in der Verbindung hartgesotten erhalten geblieben. In diesen und vergleichbaren Fällen ist die Entscheidung längst für die schwache Flexion gefallen. Sprachliche Zweifelsfälle wie geliked/ gelikt/ geliket oder schwörte/ schwor werden geklärt durch die Sprachgemeinschaft, die durch ihren Gebrauch abstimmt. Am Ende gewinnt eine Form - auch wenn sich der Prozess lange hinziehen kann. Damit ist die Zeit ein entscheidender Faktor, wenn man verstehen möchte, wer warum welche Form verwendet. Das ist auch der Grund, warum sich Sprachwandelphänomene erst in der Retrospektive beschreiben lassen. In den sprachlichen Daten kann sich diese Zeitgebundenheit auf zwei Arten nie‐ derschlagen: zum einen, wenn wir Texte betrachten, die zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten verfasst wurden, oder, besser noch: ein und denselben Text wie das Vaterunser, einmal von Martin Luther aus dem 16.-Jahrhundert, einmal von heute: Vnser vater yn dem hymel. Deyn name sey heylig. Deyn reych kome. Deyn wille geschehe auff erde wie ynn dem hymel. (Martin Luther, 1522) Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. (Arbeitsgemeinschaft liturgische Texte, 1968) Wir können hier eine ganze Reihe von Veränderungen beobachten, die dem Text im Laufe der Zeit passiert sind, besonders auf der Ebene der Wortschreibung. Das ist ein ziemlich direkter Effekt der Zeit (so eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche passiert in Kapitel 5). Zum anderen hat die Zeit aber auch noch etwas subtilere Auswirkungen - nämlich, wenn wir Texte oder Äußerungen älterer und jüngerer Menschen miteinander verglei‐ chen, die zum selben Zeitpunkt erhoben wurden. Im Sprachgebrauch der älteren ist oft ein älterer Sprachstand konserviert. Es gibt neben der Zeit noch andere Einflussfaktoren, die manchmal eine Rolle spie‐ len, wenn ein Zweifelsfall geklärt werden soll. Stellvertretend schauen wir uns den Raum als Einflussgröße an: Es ist teilweise wichtig zu wissen, woher Sprecherinnen und Sprecher kommen. Personen aus Region A nutzen mehrheitlich die eine Form, Personen aus Region B die andere. Heißt es Samstag oder Sonnabend? Sollte man eher die Wagen schreiben oder die Wägen? Das hängt davon ab, wo die Personen wohnen, bzw. wo sie aufgewachsen sind. 52 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Wie lassen sich diese Zweifelsfälle klären? Wir könnten durch Deutschland reisen und Sprecherinnen und Sprecher befragen, was sie sagen. Zum Glück gibt es mittler‐ weile einen reichhaltigen Datenfundus, den wir müheloser nutzen können. Er ist zwar verstreut und zum Teil schon etwas älter, aber für einen ersten Eindruck sind die Daten sehr nützlich. Abb. 20: Regionale Verteilung der Formen Samstag und Sonnabend in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Quelle: E I C H H O F F (1977, Karte 41) 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 53 Samstag vs. Sonn‐ abend Da ist zunächst der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (E ICHHO F F 1977 ff.). Für dieses Projekt wurden zwischen 1971 und 1987 an über 400 Orten vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz Personen mit einem Fragebogen befragt, z. B.: „Wie sagt man an Ihrem Ort gewöhnlich für den Tag vor Sonntag? “ Die Ergebnisse sind als Karten dargestellt. Für jeden Ortspunkt ist vermerkt, ob die Teilnehmenden z. B. „Samstag“ oder „Sonnabend“ angekreuzt haben, oder beides (wenn es zwei „Gewährspersonen“ im Ort gab). Das ist eine sehr übersichtliche Art der Visualisierung. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Raum hier für die Variation verantwortlich ist. In den nördlichen Bundesländern Niedersachsen (mit Bremen und Hamburg) und Schleswig-Holstein sowie in den heutigen östlichen Bundesländern ist Sonnabend klar die dominante Form, in allen anderen Bundesländern und in Österreich und der Schweiz gibt Samstag den Ton an. In den Übergangsbereichen gibt es ein wenig Unschärfe und Durcheinander, aber das ändert nichts an der grundsätzlich klaren Verteilung, die vom Raum gesteuert ist. Wir können andersherum sogar vermuten, dass Zweifelsfälle ganz besonders in den Grenzgebieten zwischen zwei Formen vorkommen, also in Teilen Niedersachsens, Nordrhein-Westfalens und Hessens. So übersichtlich die Daten aus dem Atlas auch sind, so wenig können wir daraus schließen, dass wir diese saubere Zweiteilung auch heute noch finden: Der Norden und Osten sagt Sonnabend, der Rest sagt Samstag. Wenn wir uns den Gebrauch der beiden Wörter auf Twitter anschauen, dann wird zunächst klar, dass es sich hier nicht (vielleicht: nicht mehr! ) um zwei gleichberechtigte Formen handelt, die sich nur räumlich unterscheiden. Samstag ist im Jahr 2020 etwa 40-mal häufiger als Sonnabend. Samstag hat den Kampf also fast gewonnen; Sonnabend hat kaum noch eine Chance. Und die räumliche Verteilung ist längst nicht mehr so eindeutig, wie sie es einmal war. Tweets sind zum Teil geo-getaggt, das bedeutet, dass in den Metadaten Angaben über die Koordinaten gespeichert sind, an denen der Tweet abgesetzt wurde. Die können wir nutzen, um jedes Samstag und Sonnabend zu verorten. Auch wenn diese Angaben mit etwas Vorsicht zu genießen sind, bieten sie uns ein ungefähres Fenster auf die räumliche Verteilung der beiden Varianten, wie Abb. 21 zeigt. Man sieht noch die Reste der alten Zweiteilung. Je weiter wir südlich und westlich kommen, desto weniger Sonnabende und mehr Samstage gibt es. Aber selbst in den Sonnabend-Hochburgen im Nordosten wird Samstag schon mehr als doppelt so häufig verwendet wie Sonnabend. Und was ist im Saarland los? Hat es in den letzten Jahrzehnten die Seiten gewechselt? Das ist unwahrscheinlich - es handelt sich wohl um ein Artefakt in den Daten, eine Häufung von Sonnabend-Nennungen, die nur durch die Erhebungsmethode entsteht (und die in linguistischen Datenerhebungen gar nicht so selten ist). Es ist nur ein Bruchteil aller Tweets mit Koordinaten versehen, sodass schon eine kleine Anzahl von Nutzern die Verteilung beeinflussen kann - Nutzer, die vielleicht ursprünglich aus dem Nordwesten stammen und ihre Wortwahl behalten haben. In den meisten anderen Bundesländern ist das kein großes Problem, weil hier genügend Tweets mit Ortsangabe vorliegen, so dass solche Einzelfälle nicht 54 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Atlas der Alltags‐ sprache Abb. 21: Verwendungshäufigkeit von Sonnabend in deutschsprachigen Tweets, als Anteil an allen Nennungen von Samstag und Sonnabend ins Gewicht fallen. Beim Saarland ist das anders. Dieses Artefakt erinnert uns daran, dass wir keiner Datensammlung blind trauen sollten. Wenn wir nun etwas genauer hinsehen, ist es gar nicht so einfach, die beiden Erhebungen zu vergleichen. Einerseits wissen wir, dass die Umgangssprache gerade in Norddeutschland vor einigen Jahrzehnten noch dialektnäher war, als sie es heute ist. Und andererseits: Inwiefern auf Twitter in ‚Umgangssprache‘ geschrieben wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. In jedem Fall ist keine klare räumliche Trennung zu erkennen; es spricht einiges dafür, dass das vor 50 Jahren anders war. Auch deswegen sind die Karten so interessant. Wir dürfen sie nur nicht ohne weiteres auf die heutigen Zustände übertragen und erwarten, dass sich nichts geändert hat. Die Arbeit am Atlas der deutschen Umgangssprachen wurde 1987 eingestellt - es gibt aber ein digitales Fortsetzungsprojekt, das wir auch zur Klärung von Zweifelsfällen anzapfen können, den Atlas der Alltagssprache (www.atlas-alltagssprache.de). Die Idee ist, dass in periodischen Abständen Fragebögen online gestellt werden, die von Spre‐ cherinnen und Sprechern des Deutschen ausgefüllt werden. Dort sind dann einerseits 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 55 Wagen vs. Wägen Fragen zum sprachbiographischen Hintergrund zu beantworten (Wo sind Sie geboren? Wo aufgewachsen? Wo wohnen Sie jetzt? ) - und andererseits eine ganze Reihe von linguistischen Fragen, z. B.: Wie heißt der sichere Platz beim Kinderspiel Fangen? Wie nennt man das Kerngehäuse des Apfels? Oder: Wie lautet die Mehrzahl von Wagen? Die Antworten werden ausgewertet und dann in Kartenform präsentiert: Abb. 22: Regionale Verteilung der Pluralvarianten Wagen und Wägen; Quelle: Atlas der deutschen Alltagssprache (https: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-3/ f02a-b/ ) Man sieht auch hier sehr gut, wie ortsgebunden die Form Wägen ist - sie kommt vor allem in der Schweiz und Baden-Württemberg vor. Im Rest von Deutschland ist sie relativ selten, und zwar um so seltener, je nördlicher man kommt. Schauen Sie sich auch die anderen Karten mal an, sie sind zum Teil sehr interessant (z. B. wieviele Bezeichnungen es für den sicheren Platz beim Fangenspielen gibt; wie der Neujahrswunsch in der Sylvesternacht lautet; oder was die jeweilige Bezeichnung für ein „rundes, flaches, süßes Gericht aus einem Teig aus Mehl, Milch und Eiern“ ist - Pfannkuchen? Eierkuchen? Palatschinken? ). Wir können die grundsätzliche Verteilung von Zweifelsfällen natürlich auch in großen Textsammlungen nachschauen - auch hier wird schnell klar, dass Samstag und Wagen die dominierenden Formen sind und Sonnabend und Wägen randständig. 56 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln Aber um die Fälle wirklich zu verstehen, brauchen wir Daten, mit denen die Raumge‐ bundenheit abgebildet werden kann. Aufbereitete linguistische Daten gibt es mittlerweile überall - ob als Sprachkarten oder als Korpora. Mit einigen wenigen Klicks lassen sich die meisten Zweifelsfälle klären. Das ist so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wertschätzen können, wie toll das eigentlich ist. Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler vergangener Generationen hätten für die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, wahrscheinlich so einiges getan. Heute haben Sie alle Möglichkeiten unter Ihren Fingerspitzen - alles, was Sie benötigen, ist eine interessante Frage und ein wenig Technikaffinität, dann können Sie loslegen und sich am linguistischen Diskurs beteiligen. Und Zweifelsfälle sind dafür immer ein guter Startpunkt. Zur Vertiefung • Eine kurze und kurzweilige Einführung zu Zweifelsfällen ist K L E IN (2003), ein Artikel in der Online-Zeitschrift ‚Linguistik Online‘. Hier werden Zweifelsfälle definiert und kategorisiert; es wird außerdem gezeigt, wie die einzelnen Varianten motiviert werden können und wie sich Zweifelsfälle klären lassen. • Deutlich länger und trotzdem kurzweilig ist das Buch zum Aufsatz, K L E IN (2018). Hier wird auch die Geschichte der Zweifelsfälle im Deutschen skizziert, sowie die Geschichte der Standardisierung, die untrennbar damit verbunden ist. • Antje D AMM E L (2014) gibt einen schönen Überblick über Wandel in der Verbflexion, auch unter der Frage, ob es sich um Sprachverfall handelt. • Die Ressourcen, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, um Zweifelsfälle zu klären, sind alle einen Besuch wert: ▷ Im Atlas der Alltagssprache (AdA) werden Zweifelsfälle ganz unterschiedli‐ cher Ebenen räumlich aufgeschlüsselt; die Basis sind Online-Befragungen (www.atlas-alltagssprache.de). ▷ Auch der Vorgänger des AdA, der Wortatlas der deutschen Umgangsspra‐ chen (E ICHHO F F 1977 ff.), ist interessant und in der elektronischen Version ggf. über den Online-Zugang Ihrer Bibliothek erreichbar (https: / / www.degr uyter.com/ serial/ wdus-b/ html? lang=de). 3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln 57 Schrift: die größte Erfindung? 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Die Schrift ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Menschheit - aber wir sehen sie oft nur als Mittel, um gesprochene Sprache festzuhalten. Dabei verän‐ dert das Lesen- und Schreibenlernen buchstäblich unser Gehirn, und die Schrift hat auch sonst bemerkenswerte Eigenschaften, z. B. die der Selbstorganisation. Ohne Anleitung oder Anweisung von außen bilden sich bestimmte Formen im jahrhundertelangen Gebrauch heraus. Geschriebene Sprache ist überall. Sie durchdringt und bestimmt unseren Alltag, wir sind ständig umgeben von ihr. Lesen und Schreiben ist in vielen Berufen zentral; auf dem Weg nach Hause ist praktisch alles in unserer Umwelt ausgeschildert und be‐ zeichnet; und wenn wir dann zuhause ein Buch oder eine Zeitschrift lesen oder in sozialen Netzwerken unterwegs sind, ist Schrift auch dort der Schlüssel. Unser Leben ist ohne Schrift nicht vorzustellen, unsere Gesellschaft ebenfalls nicht. Die Erfindung (oder Entdeckung) der Schrift ist deshalb eine der einschneidendsten in unserer Ge‐ schichte, vielleicht sogar die größte Erfindung, wie der französische Neurowissen‐ schaftler Stanislas D E HAE N E (2009) vermutet. Wir können alles, was wir sprachlich aus‐ drücken können, festhalten, konservieren, und dann für andere Menschen zugänglich machen - Menschen, die durch Raum oder Zeit von uns getrennt sind. Die gesprochene Sprache ist (wenn wir mal von Aufnahme- und Wiedergabetechnik absehen) darauf angewiesen, dass sich die Sprechenden und Hörenden zur selben Zeit ungefähr am selben Ort aufhalten, sonst ist Kommunikation nicht möglich. Bei der Schrift ist das anders. Wir können hunderte Jahre alte Bücher aus anderen Teilen der Erde lesen. Erst durch dieses Auslagern des Gedächtnisses ist so etwas wie Wissenschaft erst vorstellbar - oder überhaupt unsere komplexe Gesellschaft. Die Schrift hat also eine Wirkung auf uns, die kaum überschätzt werden kann. Und trotzdem würden viele Menschen sagen, dass die Schrift in ihrer grundsätzlichsten Form eine Art Rekorder für gesprochene Sprache ist. Die gesprochene Sprache gibt es schließlich viel länger als die geschriebene Sprache, und auch die meisten von uns konnten lange sprechen, bevor sie schreiben gelernt haben. Deswegen liegt es nahe, der Schrift eine Abbildfunktion zuzuschreiben: Sie dient in erste Linie dazu, die gesprochene Sprache festzuhalten. Auch wenn das eine naheliegende Sicht ist - die Schrift verfügt über ein ganz erstaunliches Eigenleben, und darum geht es in diesem Kapitel. Sie ist viel mehr als nur ein Abbild der gesprochenen Sprache. Zum einen hat sie Auswirkungen auf die gesprochene Sprache; das haben Abbilder ja normalerweise nicht. Und zweitens scheint sich die Schrift an unser Gehirn angepasst zu haben. Spatien Beginnen wir mit dem letzten Punkt. Stanislas Dehaene untersucht, was in unseren Köpfen passiert, wenn wir lesen. Er machte dabei eine erstaunliche Beobachtung: Alle Menschen nutzen beim Lesen dieselben Hirnareale, es laufen dieselben Prozesse in Bruchteilen von Sekunden ab. Es ist egal, aus welchem Kulturkreis die Menschen stammen und welches Schriftsystem sie kennen - in allen Fällen macht das Gehirn dasselbe. Wir kennen so etwas, z. B. beim Sehen - auch das läuft bei allen Menschen in denselben Arealen ab und ist hochautomatisiert. Aber die Sinneswahrnehmung Sehen hat sich in einem evolutionären Prozess entwickelt (lange, bevor es Menschen gab). Niemand weiß das ganz genau, aber man geht heute von einer Zeitspanne von 500.000 Jahren aus, in denen sich aus sehr einfachen Augen (wie bei einigen Insekten) unser sehr komplexes Auge mit Linse, Netzhaut etc. entwickelt hat. Die Schrift ist - wenn wir ganz großzügig schätzen - 10.000 Jahre alt. Das sind ungefähr 400 Generationen; viel zu wenig Zeit also für eine so komplexe Fähigkeit wie das Lesen, um sich durch Versuch, Irrtum und Bestenauslese herauszubilden. Deswegen, so Dehaene, muss es genau andersherum passiert sein: Unsere Gehirne hatten Bereiche, die für die Objekterkennung spezialisiert waren, und diese Areale wurden für die Schrift recycelt. Die geschriebene Sprache hat unser Gehirn gekapert. So erklärt sich, dass praktisch alle Menschen weltweit beim Lesen dieselben Hirnareale nutzen. Die Schrift selbst hat sich im Laufe der Zeit den Bedürfnissen unseres Gehirns angepasst und sich so verändert, dass wir sehr schnell lesen können. Ein Beispiel für eine solche Veränderung sind die Zwischenräume zwischen Wörtern (Spatien). Die sind für uns so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht wahrnehmen (sie enthalten ja auch nichts, sind leerer Raum). Aber bis ins Frühmittelalter sahen die meisten Texte so aus wie diese Grabinschrift des Abtes Ramwold von der letzten Jahr‐ tausendwende (Abb. 23): Abb. 23: Beispiel für Schrift ohne Wortzwischenräume: Grabinschrift des Abtes Ramwold, 1000 n. Chr.; Quelle: https: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ images/ 6/ 69/ Artikel_45812_bilder_value_3_insch riften3.jpg 60 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift scriptio continua Phonologi‐ scher Weg Direkter Zugriff Es handelt sich hier um die sogenannte scriptio continua, eine verbundene Schrift. Heute gibt es nur noch wenige Schriften, die so funktionieren; die Thailändische Schrift ist ein Beispiel. Die einzelnen Wörter in Abb. 23 sind nicht voneinander getrennt und gehen ineinander über. Sie lassen sich nicht so ohne weiteres identifizieren. Das liegt vielleicht auch an mangelnden Lateinkenntnissen (mir geht das so), deswegen bauen wir ein analoges deutsches Beispiel: (1) WERKANNDASBEZAHLENWERHADASBESTELLTWERHATSOVIELGELD Das Vorlesen dieses Textes ist schwierig und geht langsam, ist aber möglich - man tastet sich mühsam voran, bis man in dem Lautstrom, den man gerade vorliest, ein Wort erkennt, und macht dann weiter. Leises Lesen ist auch möglich - es ist aber im Prinzip nicht viel schneller als das langsame laute Vorlesen. Es ist Lesen mit angezogener Handbremse. Ob laut oder leise gelesen wird, macht auf den ersten Blick keinen großen Unter‐ schied. Aber das täuscht gewaltig. Es geht nicht nur darum, ob wir unsere Stimme an- oder abschalten, sondern darum, wie wir das Gelesene verarbeiten. Um das zu erklären, müssen wir etwas ausholen. Es gibt zwei Wege, auf denen wir von den Schriftzeichen zum Inhalt gelangen können, also zu dem, was mit den Schriftzeichen ausgedrückt, kodiert wird. Der eine Weg führt über die Phonologie, und diesen Weg nimmt man vor allem, wenn man laut liest. Wir kennen die Buchstaben einer Sprache, und wir kennen die Regeln, nach denen sie in Laute übersetzt werden (z. B. Lies den Buchstaben x als [ks]), und so machen wir uns an die Arbeit, übersetzen und verknüpfen. Kinder, die lesen lernen, fangen so an: Sie lesen Buchstabe für Buchstabe, lautieren und verknüpfen dabei. Und wenn sie ein Wort gelesen haben, suchen sie in ihrem Kopf nach einer Lautform, die so oder so ähnlich klingt, und greifen so auf die Bedeutung des Wortes zu. Geübte Leserinnen und Leser machen das normalerweise nicht mehr so; sie nehmen den zweiten Weg. Die Ausnahme sind unbekannte Wörter, vor allem Eigennamen. Der zweite Weg führt von der Schriftform direkt zum Inhalt. Wenn wir geübt im Lesen sind, dann können wir die Schriftform eines Wortes selbst nutzen, um das Wort in unserem mentalen Lexikon zu finden und abzurufen. Das Ganze ist ein hochkom‐ plexer Vorgang, der in Bruchteilen von Sekunden abläuft, und der erstaunlich stabil ist. Unser Gehirn muss, um Buchstaben zu erkennen, entscheiden, welche Teile der Form wichtig sind und welche nicht. Der Unterschied zwischen den Buchstaben F und E beispielsweise ist nicht besonders groß - ganz besonders, wenn man die Unterschiede zwischen allen möglichen Fs in anderen Schriftarten berücksichtigt, die mindestens ebenso groß sind: (2) F, F, F , F, F , F 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 61 Worterkennung ist fehlertolerant Wir erfassen die konkrete Form der Buchstaben mit unseren Augen, aber unser Gehirn entsorgt den Großteil dieser Information wieder und konzentriert sich auf das Wesentliche, nämlich den Wert des Buchstabens. Anstatt der konkreten Striche und ihrer Anordnung, ihrer Dicke und Farbe etc., also all dem, was wir direkt mit unseren Augen wahrnehmen, wird im Gehirn vor allem das weitergereicht, was für die Worterkennung wichtig ist, nämlich welche abstrakten Buchstaben an welcher Stelle stehen. Mit dieser Folge von Buchstaben wird jetzt direkt der richtige Eintrag in unserem mentalen Lexikon gesucht, das heißt: ohne, dass wir uns um die Lautstruktur des Wortes kümmern. K-O-M-P-O-T-T - aha, es geht also um eingekochtes Obst. Zwei Aspekte sind dabei besonders faszinierend. Zum einen können wir mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf das richtige Wort zugreifen. Von dem Moment, in dem unsere Augen das Wort erfassen, bis zu dem Moment, in dem sein Inhalt aktiviert wird, vergehen weniger als 200 Millisekunden (also 2 Zehntelsekunden). Das ist erstaunlich, weil wir ein Wort wie Kompott ja nicht nur ein einer Liste von zehn Wörtern suchen, sondern unter zehnja, zum Teil hundertausenden Wörtern, von denen einige unserem Wort recht ähnlich sehen (komplett, Komplott, Komponist). Zum anderen sind beim Lesen mehrere Sicherheitsnetze gespannt, die uns auffan‐ gen, wenn wir zu fallen drohen. Manchmal lesen wir einen Buchstaben falsch; zum Beispiel, weil der Text unleserlich ist, oder weil es eigentlich zu dunkel ist, um zu lesen - oder weil er von einem Fle ⚫ k verdeckt wird. Wie gut diese Netze sind, sieht man, wenn man Tetxe leist, bie denne dei Rieehnfloge dre Bcuhsatebn vretuashct sit. Ist das nicht erstaunlich? Die Worterkennung ist offenbar äußerst robust. Das liegt wahr‐ scheinlich daran, dass die Einträge im mentalen Lexikon nicht einfach Folgen von Buchstaben sind (also wie in einem normalen Lexikon), sondern gegliedert sind in Silben und sog. Bigramme - Verbindungen aus zwei Buchstaben. Das Wort Kompott wäre beispielsweise repräsentiert als Menge von Bigrammen K-O, O-M, M-P usw., aber auch als K-M, O-P, also als Paare von nicht-benachbarten Buchstaben. Der Vorteil liegt auf der Hand: Wenn Sie in einer Datenbank auf einem Computer eine Datei suchen, und Sie verschreiben sich, finden Sie - nichts. Unser Gehirn kommt trotz Hürden zur richtigen Lösung, weil es fehlertolerant ist. Zur Vertiefung: Grenzen der Toleranz Diese Toleranz hat übrigens Grenzen: zu weit dürfen die Buchstaben nicht von ihrer ursprünglichen Position abweichen, sonst wird der Text nicht mehr lesbar. Ennw amn Eettx eilst, bei deenn dei Abbchenstu in den Enörtw aeedfginstu eedgnort dins, dirw es chgeiirsw (da steht: Wenn man Texte liest, bei denen die Buchstaben in den Wörtern aufsteigend geordnet sind, wird es schwierig). Wenn wir also Texte auch mit vertauschten Buchstaben lesen können - ist es denn überhaup wichtik ob wir ales ortograffisch korekt schreiben? Auch solche Texte lassen sich ja verstehen. Das stimmt, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Auch 62 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Bewusst‐ seinsver‐ ändernde Wirkung wenn wir fehlerhafte Texte durchaus verstehen können, kosten sie uns mehr Zeit und mentale Ressourcen. Rechtschreibung ist ein Service für diejenigen, die unsere Texte lesen (genau wie Interpunktion, → Kap. 8). Dass wir einen Text trotz Fehlern und vertauschter Buchstaben verstehen können, ist erstaunlich; genauso erstaunlich ist aber die hohe Geschwindigkeit, mit der gute Leserinnen und Leser durch fehlerfreie Texte rasen können (400 Wörter pro Minute sind nicht ungewöhnlich - das sind mehr als sechs Wörter in der Sekunde). Wenn wir leise lesen, greifen wir also direkt auf die Bedeutung zu. Die Lautstruktur wird immer auch mitaktiviert, das ist sehr interessant - aber wir müssen ein Wort nicht erst aussprechen, um zu erkennen, um was für ein Wort es sich handelt. Das sind also die zwei Wege von der Schrift zur Bedeutung: über den Umweg der Lautform und direkt. Zurück zu den Wortzwischenräumen. Bis ins Frühmittelalter wurden Texte ver‐ mutlich vor allem laut gelesen, also vorgelesen. Aber schon vorher geriet etwas in Bewegung, und das Lesen wandelte sich langsam von Grund auf. Der Hauptzeuge für diesen Wandel ist der Heilige Augustinus. Er berichtet in seinen Confessiones (um 400 n. Chr.) einigermaßen verblüfft über seinen Lehrer Ambrosius: „Wenn er aber las, dann glitten seine Augen über die Seiten, sein Herz suchte nach dem Verständnis, Stimme und Zunge aber ruhten.“ Leises Lesen scheint die Ausnahme gewesen zu sein, Vorlesen die Regel. Gleichzeitig mit der aufkommenden Mode des leisen Lesens wandelte sich auch die Schrift, sie passte sich den Erfordernissen an, die Leserinnen und Leser (bzw. ihre Gehirne) an sie stellten. Denn zum sinnentnehmenden Lesen ist es wichtig, dass die einzelnen Lexikoneinträge schnell identifiziert werden können. Dazu wurde eine winzige Kleinigkeit in Texten verändert: Wörter wurden durch Leerzeichen getrennt. Durch diese Anpassung konnte das Lesen gewissermaßen auf Überschallge‐ schwindigkeit beschleunigt werden: Die Schrift wurde von der gesprochenen Sprache entkoppelt. Dabei wurden Ressourcen frei; die Lesenden mussten nicht mehr sich selbst zuhören, um Wortgrenzen zu erkennen. So wurde es wahrscheinlich einfacher, Texte zu verstehen, sie zu durchdringen und in das bestehende Wissen über die Welt zu integrieren. Dieser kleine Eingriff in die Art zu schreiben war so wirkmächtig, dass wir heute oft glauben, dass wir in Wörtern sprechen, die durch kurze Pausen voneinander getrennt sind (was sie in den allermeisten Fällen nicht sind). Das ist etwas, das Wilhelm K ÖLL E R (1988: 166) die „bewusstseinsverändernde Wirkung“ der Schrift genannt hat. Weil wir lesen und schreiben können, halten wir die Strukturprinzipien der Schrift für solche der Sprache an sich. Dafür gibt es noch eine Reihe weiterer Beispiele, besonders schön aber sieht man die Wirkung der Schrift an der Illusion, dass wir in Lauten sprechen, die schön säuberlich voneinander abgetrennt artikuliert werden. So ist es ja in der Schrift, zumindest in ihrer gedruckten Variante: Die einzelnen Buchstaben sind isoliert, sie berühren einander normalerweise nicht. In unserer Vorstellung (die auch in linguistischen Einführungskursen noch nicht erschüttert wird) 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 63 Phonologi‐ sche Be‐ wusstheit Phönizi‐ sches Alphabet gilt das auch für die gesprochene Sprache. So besteht das gesprochene Wort Mut aus den drei Lauten [m], [u] und [t]. Wir artikulieren zuerst das [m], dann das [u] und dann das [t]. Die Wirklichkeit ist viel unordentlicher: Einerseits ist es sehr schwierig, zu sagen, wo ein Laut aufhört und der andere beginnt. Unser Sprechapparat rastet nicht einfach für einen Laut ein, bleibt unbeweglich, um sich dann blitzschnell zu verändern, damit der nächste Laut gesprochen werden kann - nein, unsere Sprechwerkzeuge sind ständig in Bewegung, statt Grenzen finden wir fast überall sanfte Übergänge. Und andererseits wird ein und derselbe Laut ganz unterschiedlich realisiert, je nachdem, in welcher Umgebung er erscheint. Ein r am Wortanfang (wie in Rose) hört sich anders an als eines nach einem Vokal (wie in Torte). Wie schwierig es ist, ein Wort in Laute zu zerlegen, sieht man an Kindern, die lesen und schreiben lernen. Diese Fähigkeit, die „phonologische Bewusstheit“ genannt wird, ist eine zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Leseerwerb - nur leider ist sie gleichzeitig auch das Ergebnis des Lesenlernens. Je mehr Kinder mit der Schrift vertraut sind, je mehr sie anfangen und versuchen zu lesen, desto besser werden sie darin, Wörter in Laute zu zerlegen („Ball besteht aus drei Lauten, b, a und l! “) und Laute in Wörtern zu erkennen („Ball und Bett fangen beide mit b an! “). Phonologische Bewusst‐ heit und Schreib- und Lesekompetenz scheinen sich paradoxerweise gegenseitig zu bedingen. Wenn wir dann einmal erfolgreich Lesen und Schreiben gelernt haben, können wir uns an den Zustand davor nicht mehr erinnern. Stattdessen nehmen wir alles durch die Brille der Schrift wahr. Aber so gut eine Erstklässlerin auch hinhört, ein [ʀ] am Ende von Bäcker wird sie nicht hören, genausowenig wie ein [e] am Ende von Blume. Das denken nur Erwachsene, deren Wahrnehmung vom Schreiben und Lesen getrübt ist. So wird der Erwerbsprozess auf den Kopf gestellt: Am Ende von Blume ein [e] zu hören, ist eine Folge des erfolgreichen Schreibenlernens, nicht eine Voraussetzung. Gesprochene Sprache zerfällt also nicht automatisch in Laute, das denken nur diejenigen von uns, denen die Schrift in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dazu passt eine interessante Überlegung, die Helmut L ÜDTK E (1969) schon vor über 50 Jahren angestellt hat: Alle Alphabetschriften, die wir kennen, sind miteinander verwandt. Keine Alphabetschrift wurde unabhängig ein zweites Mal entdeckt bzw. erfunden. Das ist bemerkenswert, weil vergleichbare Kulturtechniken wie etwa das Dezimalsys‐ tem zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten entwickelt worden sind. Die Alphabetschrift nicht; das nimmt Lüdtke als Argument dafür, dass die Segmentierung des Lautstroms in einzelne Elemente, die ja das Kernprinzip der Alphabetschrift ist, gar nicht so natürlich ist, wie wir meinen. Wenn es uns leichtfallen würde, wären Menschen unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, die Laute, die sie hören, zu verschriften. Das ist aber nicht passiert. Und auch die eine „Erfindung“ der Alphabetschrift, die es in der Menschheitsge‐ schichte gab, ist eher ein Stolpern und zufälliges, glückliches Entdecken. Die Phönizier entwickelten um 1000 v. Chr. aus älteren Zeichensystemen das erste Konsonantenal‐ phabet. Es hatte 22 Zeichen, die auf einer Zeile geschrieben wurden und nicht in un‐ 64 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Griechi‐ sches Alphabet terschiedlichen Richtungen wie in älteren Schriftsystemen. Die entscheidende Inno‐ vation war aber, dass die einzelnen Zeichen nicht mehr für ganze Begriffe standen, sondern für konsonantische Laute. Die Sprachen, die mit dem phönizischen Alphabet verschriftet wurde, waren semi‐ tische Sprachen wie Kanaanitisch oder Aramäisch, und das war wohl kein Zufall; es war vielmehr sehr hilfreich bei der Entdeckung des Prinzips, dass Schriftzeichen einzelne Sprachlaute repräsentieren. Semitische Sprachen haben eine interessante Eigenschaft: Ihre Morphologie ist nicht verkettend wie im Deutschen und seinen Verwandten. Wenn wir im Deutschen einen Plural bilden oder Wörter ableiten, verketten wir zwei Bauteile: Aus dem Stamm Brot wird Brot·e, aus dem Stamm schön wird Schön·heit. Die semitische Morphologie ist nicht-verkettend. Die Stämme sind keine Wörter, die frei vorkommen, sondern konsonantische Skelette wie z. B. k-t-b im Arabischen oder Hebräischen, sog. Wurzeln. Die Bedeutung dieser Wurzel ist ‚schreiben‘, und diese Bedeutung wird modifiziert, indem Vokalmuster mit der Wurzel interagieren, in sie hineingreifen. Aus dem Skelett k-t-b wird so z. B. im Arabischen kataba (‚er schrieb‘), kātib (‚Schreiber‘) oder kitāb (‚Buch‘), neben vielen anderen möglichen Formen. Warum ist das relevant für die Schrift? Weil sich die Wurzeln allein mit Konsonanten verschriften lassen. Man verzichtet auf die Möglichkeit, zwischen Buch, schreiben und Schreiber zu differenzieren, aber der Kontext engt die Möglichkeiten drastisch ein (auch wenn der Kontext nicht alle Mehrdeutigkeiten beseitigt; deswegen verschriften moderne semitische Schriftsysteme wie das Hebräische auch Vokale, entweder durch Diakritika wie Punkte oder durch eigene Zeichen). Und vor allem mussten die Phönizier gar nicht zwangsläufig den Lautstrom in Segmente teilen. Vielleicht waren es in ihrer Vorstellung vielmehr Silben, für die ihre Schriftzeichen standen. Silben sind in unserer Wahrnehmung deutlich prominenter als Laute - Kinder können beispielsweise früher Silben klatschen als Laute identifizieren oder austauschen. Der Buchstabe k kann sowohl für kain kataba (‚er schrieb‘) und kātib (‚Schreiber‘) als auch für ki in kitāb (‚Buch‘) stehen, gewissermaßen als abstrakte Silbe. Es braucht dann nur jemanden, der diese Schreibungen als alphabetisch reinterpretiert. Das ist gewissermaßen eine (schriftliche) Einladung zur Entdeckung des alphabetischen Prinzips. Als die Griechen ein paar hundert Jahre später das phönizische Alphabet benutzen wollten, um Griechisch zu verschriften, standen sie vor einem Problem: Griechisch ist wie Deutsch eine Sprache mit verkettender Morphologie, und in solchen Sprachen ist es viel schwieriger, ohne Vokalbuchstaben auszukommen. Vrschn S s nml, S wrdn ncht vl lsn knnn (Versuchen Sie es einmal, Sie werden nicht viel lesen können). Um das Griechische zu verschriften, brauchte es also Vokalbuchstaben. Gleichzeitig gab es ei‐ nige phönizische Konsonanten im Griechischen nicht - was lag also näher, als die Zeichen zu kapern und umzuwidmen. So wurde z. B. der phönizische Buchstabe Ayin (O) nicht für den Laut benötigt, für den er in semitischen Sprachen steht, nämlich einen stimmhaften Reibelaut, der in der Kehle gebildet wird. Stattdessen nutzen die Griechen ihn (nun unter dem griechischen Namen Omikron), um das [o] zu verschriften. 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 65 Silben‐ schrift logogra‐ phisches Schriftsys‐ tem Auf diese Weise entstand unser modernes Alphabet, und im Rückspiegel sieht alles so einfach aus: Ist ja logisch, dass jemand irgendwann auf die Idee kommen musste, Sprachlaute zu verschriften. Wenn wir uns die Geschichte des Alphabets aber genauer ansehen, dann stellen wir fest, dass es an vielen Stellen ziemliche Zufälle waren, und dass sehr spezielle linguistische und historische Konstellationen den vielen Entdeckern und Weiterentwicklern der Schrift kräftig unter die Arme gegriffen haben. Neben den Alphabetschriften gibt es noch andere Arten, Sprache zu verschriften. Silbenschriften zum Beispiel: Hier hat jede Silbe ein eigenes Schriftzeichen. Das Ja‐ panische besteht eigentlich aus mehreren unterschiedlichen Teil-Schriften, und eine davon (Kana) ist eine Silbenschrift. Die gesprochene Silbe [na] wird beispielsweise mit dem Zeichen ナ verschriftet, die Silbe [ke] mit dem Zeichen ケ . Das funktioniert, weil der Großteil der Silben im gesprochenen Japanisch aus einem Konsonanten und einem Vokal (also der Struktur CV) besteht, und weil das Japanische nur über rund 110 ver‐ schiedene Sprechsilben verfügt. Zum Vergleich: Im Deutschen sind es mehrere tausend unterschiedliche Sprechsilben. Eine Silbenschrift für das Deutsche wäre wesentlich schwieriger zu lernen. Im Chinesischen werden weder Laute noch Silben verschriftet, sondern Wörter (ge‐ nauer: Lexeme). Es wird daher als logographisches Schriftsystem bezeichnet (von gr. lógos, ‚Wort, Sinn‘). Hier ist also nicht die Lautseite der Sprache die zentrale Be‐ zugsebene, sondern die Inhaltsseite. Jedes Lexem hat ein eigenes, z.T. sehr komplexes Schriftzeichen. Das Zeichen für ‚Zucker‘ sieht beispielsweise so aus: 糖 . Ein Grund für diese Komplexität ist, dass es sehr viele Schriftzeichen gibt; man geht von deutlich über 6.000 Zeichen aus. All diese Zeichen müssen sich hinreichend voneinander unterschei‐ den. Mit einfachen Formen wie I, O, T, X etc. kommt man da nicht besonders weit. Erst eine gewisse Komplexität sorgt dafür, dass der Raum der Möglichkeiten groß genug ist. Ein anderer Grund für die Komplexität ist, dass viele Zeichen aus anderen zusam‐ mengesetzt sind. Das Zeichen für ‚Zucker‘ ( 糖 ) beispielsweise enthält auf der linken Seite das semantischen ‚Radikal‘ 米 ‚Reis‘; das ist eine Art Klassenzeichen, das einen vagen Hinweis auf die Bedeutung von ‚Zucker‘ gibt. Das Zeichen auf der rechten Seite, 唐 ‚Tang (Eigenname)‘, gibt einen Hinweis auf die Aussprache. Auf diese Weise sind die Schriftzeichen nicht vollständig zufällig, sondern intern oft strukturiert - ohne jedoch auch nur annähernd vorhersagbar zu sein. Egal ob Alphabetschrift, Silbenschrift oder logographisches System - als die Schrift‐ sprache erst einmal da war und genutzt wurde, war sie nicht mehr wegzudenken. Sie ist eine technologische Entdeckung, deren Auswirkungen gar nicht hoch genug geschätzt werden können. Erst mit der Schrift war es möglich, das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft auszulagern. Man war plötzlich nicht mehr darauf angewiesen, alles im Kopf zu behalten, alle Sagen, Geschichten, Rechnungen, Gesänge, Gedichte, Mythen, Familien- und Stammesgeschichte/ n, handwerkliche und technische Routinen usw. Was vor der Entdeckung der Schrift von den Sprecherinnen und Sprechern vergessen wurde, war unwiederbringlich verloren; jetzt kann es festgehalten und bei Bedarf wieder genutzt werden. 66 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Schrift verändert das Gehirn Und das ist nicht alles: Die Schrift änderte wahrscheinlich auch das Denken der Menschen. Die gesprochene Sprache der wenigen Kulturen, die noch nicht mit Schrift in Kontakt sind, ist meist additiv: Erst habe ich das gemacht, dann das, und dann das; dann ist das passiert, und dann das. Solche additiven Verknüpfungen sind leicht zu planen und zu äußern, und sie sind auch leicht zu verstehen. Die geschriebene Sprache funktioniert oft anders, sie ist hierarchisch, verschachtelt: Die einzelnen Teile stehen nicht nebeneinander, sondern hängen voneinander ab. Dabei kann es schnell zu sehr komplexen Einbettungen kommen: (3) Ich glaube nicht, dass er das Buch gelesen hat, das ich ihm gestern ausgeliehen habe, weil er noch etwas zu lesen brauchte. Der dass-Satz hängt vom Verb glauben ab; der Relativsatz (das ich ihm gestern …) hängt von Buch ab; der weil-Satz hängt vom Relativsatz ab. Der Satz ist wie eine Treppe - es geht drei Stufen nach unten. Weil die geschrieben Sprache besser planbar ist (manchmal feilen Autorinnen und Autoren lange an ein und demselben Satz), sind komplexere Abhängigkeiten als in der gesprochenen Sprache die Regel. Es wird nun oft angenommen, dass durch diese Erweiterung der Möglichkeiten ganz neue Denkräume aufgeschlossen wurden; dass wir also erst nach der Entdeckung der Schrift und der ganz spezifischen Sprache, die sich im Geschriebenen entwickelt hat, in der Lage waren, besonders komplexe Gedanken zu denken oder besonders komplexe Theoriegebäude zu errichten. Und auch auf der individuellen Ebene macht die Schrift etwas mit uns, und zwar mit unserem Gehirn. Der Bereich in unserem Gehirn, der bei praktisch allen Menschen aktiv ist, wenn sie lesen, liegt etwas oberhalb und hinter unserem linken Ohr. Bei Menschen, die nicht lesen können - Kinder im Vorschulalter oder ältere Analphabeten - spielt diese Region eine Rolle bei der Gesichts- und Objekterkennung. Nach dem Lesenlernen wird dafür eine Region auf der anderen Hirnhälfte genutzt. Das deutet - wie oben bereits erwähnt - darauf hin, dass für das Lesen Strukturen im Hirn recycelt werden, die sich ursprünglich für die Objekterkennung evolutionär entwickelt haben. Das würde gleichzeitig erklären, warum Kinder zu Beginn des Lesenlernens oft Schwie‐ rigkeiten mit der Unterscheidung zwischen den Buchstaben b und d sowie p und q haben: Gedrehte oder gespiegelte Objekte sind immer noch dieselben, die sie vorher waren - ich kann eine Tasse drehen und wenden, wie ich will, es bleibt eine Tasse. Nur bei Buchstaben ist das anders, das muss gelernt werden, und das Gehirn ist hier etwas widerspenstig. Zu den erstaunlichsten Veränderungen aber gehört, dass auch die gesprochene Sprache anders verarbeitet wird, sobald man lesen kann. Sprachlaute, die wir hören, werden - auch wenn keine Schrift weit und breit zu sehen ist! - anders verarbeitet als bei Menschen, die nicht lesen können. In der entsprechenden Hirnregion kann eine doppelt so hohe Aktivität nachgewiesen werden. Stanislas D EHAE N E und Kollegen (2010) gehen davon aus, dass beim Lesenlernen das mentale Lexikon angereichert und 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 67 Selbstor‐ ganisation neu strukturiert wird. Dazu passt die Beobachtung zur phonologischen Bewusstheit, die oben schon angesprochen wurde: Kindern im Vorschulalter fällt es schwer, einzelne Laute eines Wortes zu identifizieren oder zu manipulieren. Nach dem erfolgreichen Schriftspracherwerb ist das kein Problem mehr - hier hat sich also offenbar etwas an der mentalen Repräsentation (oder ihrer Zugänglichkeit) geändert. Die Schrift ist also viel mehr als nur die Repräsentation der gesprochenen Sprache; sie beeinflusst unser Denken und sogar unsere Hirnstrukturen. Und sie führt eine Art Eigenleben, so sieht es zumindest aus: Sie organisiert sich selbst. An einem Beispiel wird deutlich, was damit gemeint ist. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es mehr als eine Schreibweise für das Suffix -nis (wie in Verhältnis, Gefängnis, Erkenntnis) - und zwar mindestens sieben verschiedene, -nis, -niß, -niss, -nus, -nuß, -nüs und -nüß. Die meisten dieser Varianten kamen im 17. Jahrhundert nebeneinander vor, wie Abb. 24 zeigt. Abb. 24: Entwicklung der Schreibvarianten -nis, -niß, -niss, -nus, -nuß, -nüs und -nüß als Anteil an allen Schreibungen des Suffixes; Quelle: Deutsches Textarchiv In den 60 Jahren zwischen 1680 und 1740 wurde ein Großteil dieser Varianten abgebaut, bis praktisch nur noch die heute verwendete Form übrig war, -nis, und die ß-Variante -niß. Die Verlierer waren die Varianten mit anderen Vokalen. Die u-Variante war ur‐ sprünglich in Südwestdeutschland stark vertreten, die ü-Variante in Mitteldeutschland und Schlesien. Die i-Variante hatte den Vorteil, dass sie damals schon in allen Regionen verwendet wurde. Wie kam es nun zu diesem Abbau von verschiedenen Schreibweisen, zu dieser Einigung auf zwei Formen? Gab es eine Rechtschreibreform, hat jemand die Schreibung per Dekret verordnet? Nichts dergleichen - die einheitlichere Schreibung entstand von selbst, ganz ohne Anleitung oder Anweisung von oben. Das Schriftsystem hat sich selbst organisiert. Wie ist das möglich? Die Schrift ist ja kein Organismus, sie hat kein Bewusstsein, keine Ziele. Das stimmt; es gab nur einzelne Schreiber und Schreiberinnen, Drucker 68 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Die un‐ sichtbare Hand Trampel pfade und Schriftsetzer. Aber diese Personen agierten in einem komplexen Netzwerk, sie lasen, was andere schrieben, und sie wollten ihre Texte möglichst lesbar gestalten und nicht zu weit von anderen Texten abweichen. Das sind alles nachvollziehbare Motive. Nur die wenigsten hatten wohl den Plan, mit ihren Schreibungen die Orthographie des Deutschen zu ändern. In der Summe passiert aber genau das. Das Schriftsystem scheint wie von unsicht‐ barer Hand gesteuert. „Die unsichtbare Hand“ ist eine gängige Metapher, zunächst in den Wirtschaftswissenschaften, mittlerweile aber auch in der Sprachgeschichte (s. K E LL E R 1994). Eine Menge von ähnlichen, kleinteiligen Einzelentscheidungen sieht auf einer größeren Ebene, von weiter weg aus wie geplant. Das ist aber nicht der Fall. Eine Analogie von Rudi K E LL E R (1994) verdeutlicht den Punkt. Es verhält sich mit der Sprache ähnlich wie mit Trampelpfaden. Sie entstehen, weil alle sehr kleinteilige (und egoistische) Motive haben. Sie wollen ihren Weg etwas abkürzen. Niemand nimmt täglich eine Abkürzung mit dem Plan, dort jetzt einen Trampfelpfad anzulegen. Abb. 25: Trampelpfade entstehen, weil viele Menschen ihren Weg abkürzen, nicht weil sie einen Trampelpfad anlegen wollen; Quelle: Jan Dirk van der Burg: Pietersbergweg, Amsterdam - Terreinwinst: 3 meter (https: / / www.jandirk.com/ olifantenpaadjes.html) © 2022. 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 69 Gesteu‐ erte Verän‐ derung In der Summe führen aber die vielen einzelnen Handlungen dazu, dass etwas Kollek‐ tives entsteht, das niemand geplant hat - es entsteht Struktur: ein Trampfelpfad, oder eine einheitliche Schreibung. Die Formen, die jeweils als normal galten (z. B. -niß im 18. Jahrhundert) sind die, die sich durchgesetzt haben gegen die anderen Formen. Abgestimmt wurde im Gebrauch, mit der Druckerpresse und dem Federkiel: Jede Nutzung von -niß war eine Stimme dafür (und gegen -nuß, nüß etc.) - und umgekehrt wurde die Verwendung von -niß immer wahrscheinlicher, je öfter sie vorkam. Der Druck, -niß zu verwenden, wurde mit der Zeit immer größer, weil ein immer größerer Teil der anderen es ebenfalls verwendete. Wer nicht altmodisch wirken wollte, machte mit. Das Schriftsystem ist also zumindest zum Teil tatsächlich „gewachsen“ - mit An‐ führungszeichen, weil es kein Organismus ist, sondern ein Artefakt, also von Menschen hervorgebracht (nur eben ungeplant). Wir schreiben, wie wir schreiben, weil sich das System im Gebrauch von Generationen von Schreibenden vor uns herausgebildet hat. Es ist ihr versteinerter Gebrauch. Daraus folgt auch, dass man gute Gründe haben sollte, in ein solches gewachsenes System einzugreifen. Es ist nicht zufällig so, wie es ist, sondern genügt funktionalen Anforderungen. Die Wörter und Sätze sollten besonders gut lesbar sein. Wir sehen eine solche Reduktion der Variation übrigens in vielen Systemen, an die Ansprüche wie Funktionalität anliegen, und die nichts mit der Schrift oder der Sprache zu tun haben. Der Evolutionsbiologe Stephen J. G O ULD (1985: 215 ff.) etwa zeigt in einem lesenswer‐ ten Aufsatz, dass solche Prozesse - zuerst Formenreichtum, dann Variantenabbau - in biologischen Systemen vorkommen, aber auch im Flugzeugbau oder im Profi-Baseball. Wir sehen in Abbildung 24 aber noch etwas anderes, nämlich dass das System auch „von außen“ geändert werden kann. Zwischen 1870 und 1900 hat unsere heutige Form -nis die bis 1870 dominante Form -niß verdrängt - und zwar, weil die neue Form explizit erwünscht war und auf der 1. Orthographischen Konferenz 1876 als richtig ausge‐ zeichnet wurde. Bismarck und die Schulorthographien Die Geschichte ist etwas komplizierter (und interessanter! ), weil Bismarck die neue Rechtschreibung verbot. Die vorgeschlagenen Schreibungen setzten sich aber trotzdem größtenteils durch, weil viele Länder sie in ihre Schulorthographien aufnahmen und so längerfristig ebenfalls den Gebrauch änderten. Einen schönen Überblick zu dieser Geschichte liefert Schlaefer (1981). Das System kann also auch von außen beeinflusst werden - das wurde ja auch bei der Rechtschreibreform 1996 deutlich. Es ist trotzdem zu großen Teilen halbwegs natürlich gewachsen. Wir können ja auch in andere natürliche Systeme willkürlich eingreifen und sie verändern - man denke z. B. an die zahlreichen Ökosysteme, die der Mensch verändert hat. 70 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift Die offizielle Orthographie bremst im heutigen Deutsch übrigens die Variation ziemlich aus. Für die allermeisten Wortformen ist eine als richtig festgelegt (sehr selten auch zwei, wie bei Potential/ Potenzial), die jeweils anderen sind Fehler. Fehler passieren, sind aber sozial stigmatisiert (wer viele Rechtschreibfehler macht, wird von anderen als nicht intelligent wahrgenommen, ein Schluss, der genauso unberechtigt wie verbreitet ist). Das bedeutet aber nicht, dass es zwangsläufig keine Weiterentwicklungen oder Veränderungen mehr gibt, dass die Entwicklung des deutschen Schriftsystems also abgeschlossen ist. Sie läuft nur langsamer ab. Anzeichen für Veränderungen sehen wir momentan z. B. beim sogenannten Vorfeldkomma (→-Kap. 8). Die Schrift ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Menschheit. Und wie andere wichtige Entdeckungen - das Rad, das Feuer, die Dampfmaschine - hat auch die Schrift uns verändert; das menschliche Zusammenleben, aber auch uns ganz persönlich, indem das Gehirn umstrukturiert wird, wenn wir lernen, die Schrift zu benutzen. Und gleichzeitig ändert sich die Schrift, stetig, und passt sich unseren Bedürfnissen an. Dieses wechselseitige Verhältnis allein ist Grund genug, die Schrift linguistisch zu untersuchen. Zur Vertiefung • Eines der interessantesten und inspirierendsten Bücher zur Schrift, zur Schriftge‐ schichte, zum Lesen, und was dabei in unseren Köpfen passiert, ist das von Stanislas D EHAE N E (2009). Wenn Sie das Buch auf Französisch oder Englisch lesen können, tun Sie das; die deutsche Übersetzung ist aus linguistischer Sicht nicht gut. • Ein anderes sehr interessantes und empfehlenswertes Buch ist „Language at the Speed of Sight“ von Mark S E ID E N B E R G (2017), in dem es ebenfalls um die neuronalen Grundlagen des Lesens geht, aber auch um Störungen des Schriftspracherwerbs. • Der Aufsatz von Helmut L ÜDTK E (1969) ist zwar schon etwas älter, aber immer noch ein sehr empfehlenswerter Text. • Die Ausbreitung der neuen „Technologie“ der Wortzwischenräume wird in S AE N G E R (1997) minutiös nachgezeichnet. Wenn Sie mal ein paar Wochen Zeit übrig haben, lesen Sie sein umfangreiches Buch! 4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift 71 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Wir sehen die Sprache oft als etwas Statisches, dabei ist sie sehr dynamisch. Wie dynamisch, das sehen wir am besten, wenn wir langsam in die Vergangenheit reisen. Unser Ziel ist 1624, und wir halten alle 100 Jahre an, steigen aus und sehen uns einen kurzen Textausschnitt an. Sprache wandelt sich, das können wir oft beobachten. Jugendliche (oder jung geblie‐ bene Erwachsene) nutzen manchmal Schreibungen, Wörter oder Konstruktionen, die wir als fremd oder neu empfinden (je jünger Sie als Leserin oder Leser sind, desto weniger kennen Sie die Erfahrung - in dem Fall warten Sie einfach ein paar Jahrzehnte). Im Tweet in Abb. 26 sind eine ganze Reihe solcher Innovationen verdichtet. Abb. 26: Tweet mit mehreren linguistischen Innovationen Das Adjektiv geil wird hier ghyle geschrieben. Außerdem hat der Verfasser das Partizip corrupted aus dem Englischen importiert. Der Tweet besteht aus zwei grammatischen Sätzen: Geil, hab mein Myspace-Profil wiedergefunden und Es ist komplett corrupted aber geil. Trotzdem enthält der Tweet kein einziges Satzzeichen; das ist für Tweets nichts Ungewöhnliches (anders als z. B. für Artikel in der Süddeutschen Zeitung). Uns fallen also häufiger mal neue Wörter, neue Schreibungen alter Wörter oder ein neuer Umgang mit orthographischen Regeln allgemein auf. Andersherum stolpern wir beim Lesen in alten Texten immer wieder über Wörter (oder Konstruktionen), die uns nicht mehr bekannt sind, so wie im Text in Abbildung 27 von 1718 (aus dem Buch „Einleitung zur Staats-Klugheit“ von Julius Bernhard von Rohr). Einige Wörter sind heute nicht mehr geläufig, bzw. sie werden nicht mehr im damaligen Sinn verwendet. Mit der Exploration ist eine Befragung gemeint, genauer: Die Undercover-Operation, die auf den Seiten vor diesem Ausschnitt geschildert wurde, in der Landesherren inkognito die Stimmung der Bevölkerung ermitteln. Cautelen ist die Mehrzahl von Cautel (oder Kautel), mit Betonung auf der zweiten Silbe; damit ist die Absicherung oder Vorkehrung gemeint. Das Wort stammt aus dem Lateinischen (von Sprach‐ wandel vs. Sprachver‐ fall cautēla ‚Vorsicht, Sicherstellung‘). Und præjudiciren schließlich (mit der Ligatur, also der Buchstabenverbindung, æ) bedeutet eine Entscheidung vorwegnehmen. Obacht ist ist noch im Gebrauch, allerdings nicht mehr in der verwendeten Konstruktion (etwas in Obacht nehmen). Was steht nun genau im Ausschnitt? Dass solche Inkognito-Befra‐ gungen nützlich sind; dass die Landesherren aber Vorkehrungen der Klugheit treffen müssen (dass sie also auf der Hut sein müssen), damit sie nicht in irgendeiner Form eine Entscheidung vorwegnehmen. Abb. 27: Auszug aus dem Buch „Einleitung zur Staats-Klugheit“ von Julius Bernhard von Rohr von 1718; Quelle: https: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ rohr_julii_1718 In beiden Fällen - neue Wörter, die wir noch nicht gut kennen, und alte Wörter, die wir nicht mehr gut kennen - wirkt der Sprachwandel. Aber ist das nicht eher Sprach‐ verfall? All die neuen unnötigen Anglizismen (→ Kap. 1), und gleichzeitig kennt nie‐ mand mehr alte Wörter wie Kautel und præjudiciren. So oder so ähnlich lautet die Klage - und sie ist seit hunderten Jahren ein Dauerzustand. Sprachverfall ist ein sehr aufgeladener und problematischer Begriff. Der Linguist Rudi K E LL E R (1999) weist darauf hin, dass alle sich ständig über Sprachverfall beschwe‐ ren, aber niemand sagen würde, Italienisch oder Französisch sei verfallenes Latein. Es gibt kein Beispiel für eine verfallene Sprache. Dafür gibt es einen guten Grund: Sprache entwickelt und wandelt sich, sie ist ein hochkomplexes System, in dem eine Änderung an einer Stelle unvorhersehbare Effekte an anderer Stelle haben kann. Deswegen ist der neutrale Begriff Sprachwandel angemessener. Was das bedeutet, was sich alles so wandelt im Laufe der Zeit - darum geht es in diesem Kapitel. In den Beispielen oben sind es vor allem Wörter, die neu hinzukommen oder nicht mehr benutzt werden. Aber Sprachwandel betrifft alle Ebenen der Sprache - die Schreibung und Aussprache; die Form von Wörtern; die Form von Sätzen; die Bedeutung von Ausdrücken. Man könnte an dieser Stelle verschiedene Wandelphänomene vorstellen und disku‐ tieren. Aber am anschaulichsten ist es doch, wenn wir uns echte Texte anschauen und mit eigenen Augen sehen, was sich verändert hat, was seitdem mit der Sprache passiert ist. Was würden wir auch heute noch so schreiben und sagen? Was nicht? Um 74 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Kafkas Prozess solche Fragen zu beantworten, machen wir eine Zeitreise bis ins 17. Jahrhundert und schauen uns alle 100 Jahre einen Text an. Die Reise endet im Frühneuhochdeutschen, dem sprachgeschichtlichen Vorgänger unseres modernen Deutsch. Zeitliche Einteilung der deutschen Sprache Man unterscheidet in der Geschichte des Deutschen sehr grob vier Phasen: • Das Althochdeutsche wird vom Beginn der schriftlichen Überlieferung (ca. 750 n. Chr.) bis ungefähr 1050 angesetzt. Es ist die älteste Sprachstufe des Deutschen. Das heißt aber nicht, dass das Deutsche einfach plötzlich da war - es gibt nur kaum ältere Quellen. • Um 1050 treten so viele sprachliche Veränderungen auf, dass man nun vom Mittelhochdeutschen spricht. Dieser Begriff deckt die Zeit bis etwa 1350 ab. • Das Deutsch zwischen 1350 und 1650 wird als Frühneuhochdeutsch be‐ zeichnet; in diese Phase fällt z. B. der Beginn des Lautwandelprozesses, der mittelhochdeusch Hus zum heutigen Haus gemacht hat. • Das Neuhochdeutsche schließlich deckt die Zeit seit 1650 ab - die Zeit, in der sich das Standarddeutsche, wie wir es heute verwenden, herausgebildet hat. • Mittlerweile gibt es so viele Veränderungen gegenüber dem Neuhochdeut‐ schen des 17. und 18.-Jahrhunderts, dass z.T. eine neue Phase angesetzt wird, die Gegenwartssprache genannt wird. Den Anfang macht die erste Seite von „Der Prozess“ von Franz Kafka, geschrieben 1914-15, in der Fassung der Erstausgabe 1925. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie den Text gründlich lesen? Abb. 28: Auszug aus dem Buch „Der Prozess“ von Franz Kafka von 1925; Quelle: https: / / www.deutsch estextarchiv.de/ book/ show/ kafka_prozess_1925 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 75 Eichen‐ dorffs Tau‐ genichts Antiqua vs. Fraktur Der Auszug ist relativ unauffällig. Die Konjunktion dass wird anders geschrieben (daß), als wir es heute tun. Syntaktisch ist der Text nicht trivial (es gibt Einschübe und Verschachtelungen), aber er ist gut zu verstehen. Abgesehen von der daß-Schreibung könnte er auch jüngeren Datums sein; man sieht ihm sein Alter nicht an. Das gilt natürlich nicht für alle Texte aus dem 20.-Jahrhundert, aber für viele. Gehen wir weiter zurück, und zwar ins Jahr 1826, zur Erstausgabe von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Das ist schon optisch etwas ganz Anderes - aber das ist ja nicht überraschend, dieser Text ist schließlich doppelt so alt wie der von Kafka. Was für Unterschiede können Sie identifizieren? Oder andersherum: Woher wissen Sie, dass der Text alt ist? Was für Hinweise gibt es auf der Ebene der Schreibung, auf der Ebene der Wortwahl, auf der Ebene der Grammatik? Abb. 29: Auszug aus „Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild“ von Joseph von Eichen‐ dorff von 1826; Quelle: https: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ eichendorff_taugenichts_1826 Die drucktechnischen (typografischen) Unterschiede sind leicht auszumachen: Die Schriftart ist eine andere. Die Schrift, in der dieses Buch gesetzt ist, das Sie gerade lesen, und der Text von Kafka, nennt sich Antiqua. Charakteristisch sind die vielen runden Formen, die nicht mehr an Federstriche erinnern. Das ist beim Text von Eichendorff ganz anders; er ist in Fraktur gesetzt. Die Antiqua hat die Fraktur seit dem 18. Jahr‐ 76 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Dativ-e Starke Maskulina hundert ganz langsam abgelöst. Zuerst waren es nur wenige Texte, die in Antiqua gesetzt wurden; zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es schon ein beachtlicher Teil. Den Todesstoß versetzten der Fraktur ausgerechnet die Nationalsozialisten: Mit einem Rundbrief wurde 1941 verfügt, dass die offizielle Kommunikation in Antiqua zu ge‐ schehen habe, weil der Fraktur ein jüdischer Ursprung unterstellt wurde. Das ist inso‐ fern ironisch, als dass aktueller Text in Fraktur - etwa auf Aufklebern oder Postern - sofort Assoziationen zu Rechtsextremen weckt. Die Schriftart ist der auffälligste Unterschied (besonders das ‚lange‘ s, also ſ, und die Umlaute, die eigentlich hochgestellte e sind). Aber auch die Rechtschreibung ist noch ein Stück weiter vom 21. Jahrhundert entfernt als in Kafkas Text. Neben dem ß, das wir oben schon genannt haben (braußte) sind es vor allem Th-Schreibungen (Thürschwelle, thun, Thüre) und die Schreibung Brodt (statt Brot). Beides - die typographischen und die orthographischen Unterschiede - sind einfach zu ermitteln. Aber der ganze Text klingt älter, antiquiert, gestelzt. Woran liegt das? Das liegt zum Teil an der Wortwahl. Emsig und Taugenichts werden auch heute noch verwendet, aber sie sind selten geworden, und sie klingen alt. Der Ausdruck Schlafmütze existiert noch, aber praktisch nur noch in der übertragenen Bedeutung als langsame, begriffsstutzige Person. Im Textausschnitt ist aber der Gegenstand selbst gemeint, die Mütze, die man während der Nacht aufsetzte, weil die Schlafzimmer nicht beheizt waren. Dieser Gegenstand ist ausgestorben, und mit ihm die Bezeichnung (wenn sie dennoch in Texten vorkommt, dann so wie hier, weil man über historische Begebenheiten schreibt). Bei recht (in recht lustig oder mir war so recht wohl) ist das ähnlich. Das Wort existiert noch (das ist mir recht), aber kaum mehr mit der Bedeutung ‚sehr‘ oder ‚ziemlich‘. Auf der Ebene der Orthographie und der Lexik (also der verwendeten Wörter) ändert sich die Sprache mitunter relativ schnell. Es ist also nicht überraschend, dass wir hier schnell Abweichungen zum heutigen Deutsch finden. Auf der Ebene der Wortformen spielt sich der Wandel in längeren Dimensionen ab. Vielleicht sind Ihnen die Formen vom Dache, in dem warmen Sonnenscheine und auf dem Kopfe aufgefallen. Wir würden heute vom Dach schreiben statt vom Dache. Der Unterschied ist also minimal, und er bezieht sich nicht auf das Lexem an sich, sondern auf die Flexionsform. Im Textaus‐ schnitt enden die drei Substantive auf -e. In allen drei Fällen steht das Substantiv im Dativ, weil das jeweils so von den Präpositionen gefordert wird. Man sieht das am -m in dem (auf dem Kopf). Diese Form (wie auch das -em in auf seinem Kopfe oder mit altem Weine) ist immer eine Dativform (aber umgekehrt trägt nicht jeder Dativ ein -em, z. B. im Femininum: auf der Schulter). Das Dativ-e war eine der letzten Kasusmarkierungen, die im 19. Jahrhundert bei den Substantiven noch übrig war. Heute wird von den vier Kasus Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv nur noch der Genitiv im Singular und der Dativ im Plural markiert, die drei anderen Kasusformen fallen jeweils zusammen. Das sieht man gut an Brief als Musterbeispiel für Flexion. Es gehört zu den sog. starken Maskulina, und in dieser 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 77 Klasse wird maximal flektiert. Wenn Sie ein beliebiges anderes Substantiv nehmen, zeigt es wahrscheinlich weniger Kasusflexion, aber garantiert nicht mehr: Abb. 30: Kasusflexion beim Substantiv Brief im Singular und Plural im heutigen Deutsch Kasus ermitteln Wenn man sich etwas auskennt, kann man Kasus zum Teil an der Form selbst eindeutig erkennen - wie oben bei den -m-Formen in der Nominalgruppe. Für alle anderen Fälle lohnt es sich, Kontexte zu bauen, Lückentexte gewissermaßen, von denen man weiß, dass in der Lücke ein Substantiv oder eine Nominalgruppe in einem bestimmten Kasus erscheinen muss. Für den Nominativ ist so ein Lückentext Das ist _____ (z. B. Das ist der Matrose). Beim Akkusativ bietet sich eine Präposition wie für an, die eindeutig einen Akkusativ fordert: für ______ (z. B. für den Matrosen). Beim Dativ brauchen wir eine eindeutige Dativ-Präposition wie mit: mit ____ (z. B. mit dem Matrosen). Der Genitiv klingt am natürlichsten, wenn er sich als Attribut auf ein Substantiv bezieht, also z. B. das Bild _______ (z. B. das Bild des Matrosen). Bis ins 19. Jahrhundert wurde (zumindest bei einsilbigen maskulinen oder neutralen Substantiven) auch der Dativ oft am Substantiv gekennzeichnet. Wir finden heute noch Reste dieses Dativs im Singular in erstarrten Formen wie nach Hause oder das Pfeifen im Walde. Wenn wir etwa 1000 Jahre weiter zurückgehen, und zwar ins Althochdeutsche, dann finden wir an den Substantiven noch deutlich mehr Kasusmarkierungen, vor allem im Plural (wie am Beispiel von der Bote, Abb. 31). Abb. 31: Kasusflexion beim Substantiv Bote im Singular und Plural im Althochdeutschen 78 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Paradigma Genitivattribut Vergleicht man nun die Flexionsformen (die Paradigmen, heißt es in der Linguistik) im Althochdeutschen und im modernen Deutsch, dann ist der Unterschied ziemlich groß. Ist das nicht Sprachverfall, wenn Differenzierungen verloren gehen? Nein, es ist Sprachwandel - es geht nichts verloren, was noch gebraucht wird. Der Verlust der Kasusflexion beim Substantiv wird von den Artikeln und Begleitern aufgefangen; man könnte (etwas vereinfacht) auch sagen, die Kasusflexion wird vom Substantiv an seine Begleiter ausgelagert. Dass wir im Text oben noch das Dativ-e bei Substantiven haben, heute aber nicht, ist kein Zufall, sondern Teil einer sehr langen Umbauarbeit innerhalb der deutschen Nominalgruppe. Wir haben jetzt typographische, orthographische, lexikalische und flexionsmorpho‐ logische Unterschiede gefunden. Es gibt aber auch (mindestens) eine Stelle, an der sich die Syntax von einem heutigen Text unterscheidet: meines Vaters Mühle würde heute wohl niemand mehr schreiben oder sagen, stattdessen muss umgestellt werden zu die Mühle meines Vaters. Das gilt für alle Genitivattribute, mit einer Ausnahme: Eigennamen sind heute pränominal unauffälliger (Peters Mühle ist besser als die Mühle Peters). Die Nominalgruppe meines Vaters steht im Genitiv (erkennbar am -s des Substantivs) und beschreibt die Mühle näher: Aus der Menge aller Mühlen in der Welt, real und vorgestellt, ist diejenige gemeint, die zum Vater des Erzählers gehört. Solche Funktio‐ nen werden als Attribut bezeichnet, hier genauer als Genitivattribut. Auch bezogen auf das Genitivattribut wurde die Nominalgruppe umgebaut, und auch hier handelt es sich um einen langen Prozess. Ursprünglich konnten Genitivattribute nur pränominal auftreten (also der Typ meines Vaters Mühle). Bis ins 15. Jahrhundert ist diese Abfolge die Regel; seitdem wurden immer mehr Genitivattribute postnominal realisiert. Zum Zeitpunkt, zu dem der Text oben gedruckt wurde, sind pränominal praktisch nur noch solche Genitivattribute möglich, die sich auf Personen beziehen: seines Pastors Kuh, des Lehrers Stock, meines Vaters Mühle. Auch diese Art Genitive sind in der Zwischenzeit immer häufiger postnominal realisiert worden, sodass im heutigen Deutsch nur noch Eigennamen bleiben (Avas Freude, Carls Leid). Es gibt noch einige weitere Merkmale, die den Text alt erscheinen lassen, z. B. die häufige Verwendung von so in unterschiedlichen Kontexten: so recht wohl, so ist’s gut, so will ich reisen. In den letzten beiden Beispielen hat so die Bedeutung von dann: ‚Wenn ich ein Taugenichts bin, dann ist’s gut, dann will ich reisen‘. Aber auch unabhängig von der Verwendung ist so sehr zeitgebunden. Es kommt in älteren Texten häufiger vor als in jüngeren Texten. Das sieht man, wenn man ein großes Korpus danach untersucht, wie hoch der Anteil von so an allen Wörtern ist, die im Korpus im jeweiligen Jahr vorhanden sind. Für die riesengroße Buchsammlung Google Books geht das sehr komfortabel über die Seite https: / / books.google.com/ ngrams; man bekommt dann sehr schnell eine Grafik wie in Abb. 32. Das bedeutet die Kurve: Zum Höhepunkt 1750 waren 0,8 % aller Wörter in Texten aus diesem Jahr so (oder andersherum: Jedes 125. Wort in Texten aus diesem Jahr war so); heute sind es weniger als 0,2 % (oder jedes 500. Wort). 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 79 Einfache Korpusabfragen mit dem Google NGram Viewer Google digitalisiert seit 2004 Bücher im Projekt Google Books (https: / / books.goo gle.de). Linguistisch interessant ist, dass es eine Schnittstelle gibt, über die diese Textsammlung durchsucht werden kann; sie nennt sich Google NGram Viewer und ist über https: / / books.google.com/ ngrams erreichbar. NGrams (oder deutsch n-Gramme) sind Suchwörter oder Verbindungen von Suchwörtern: ich bin ist ein Bigramm, ich bin ein ist ein Trigramm usw., und das abstrakte Muster wird eben ‚n-Gramm‘ genannt. Wenn Sie die Seite öffnen, ist Englisch als Sprache, in der gesucht wird, voreingestellt. Wenn Sie in deutschen Texten suchen möchten, wählen Sie im Menü unter ‚Choose corpus‘ am besten ‚German (2009)‘ aus (die Sammlung ‚German (2019)‘ enthält zwar aktuellere Daten, aber auch einige zusätzliche Probleme). Jetzt können Sie loslegen, entweder mit einzelnen Suchbe‐ griffen wie so, oder mit unterschiedlichen Anfragen, die Sie gleichzeitig stellen können (mit Komma getrennt) und die dann gemeinsam dargestellt werden. Das ist linguistisch und kulturhistorisch zum Teil sehr interessant. Probieren Sie doch mal die Abfragen Mann, Frau oder Radio, Fernsehen, Internet oder Angst, Hoffnung und überlegen Sie, was sich aus den Graphen schließen lässt. Für einen ersten Eindruck eignet sich das Korpus unbedingt, gerade, weil es so niedrigschwellig ist und man innerhalb von Sekunden Ergebnisse hat, und weil diese Ergebnisse auf einer riesigen Datenbasis beruhen. Es ist aber mindestens in zweierlei Hinsicht beschränkt. Zum einen sind Platzhalter-Suchen nur begrenzt möglich; ich kann also nicht alle Wörter suchen, die mit -ismus enden. Zum anderen sind die Texte automatisch digitalisiert worden, es gibt keine menschliche Korrektur (nachvollziehbar bei Millionen von Texten). Das bedeutet aber, dass insbesondere ältere Texte immer wieder Fehler enthalten, die durch die automatische Texter‐ kennung entstehen. Das gilt besonders für Frakturtexte. Kurzum: NGrams ist ein tolles Spielzeug, aber für belastbare linguistische Aussagen sollten Sie zumindest zusätzlich andere Korpora befragen. 1.000% - 0.900% - 0.800% - 0.700% - 0.600% - 0.500% - 0.400% - 0.300% - 0.200% - 0.100% - 0.000% 1700 1750 1800 1850 1900 1950 2000 Abb. 32: Anteil der Wortform so an allen Wortformen in allen Büchern, die im selben Jahr erschienen sind; Quelle: Google NGram Viewer 80 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Brockes Vergnügen Wir reisen weiter zurück in der Zeit, und zwar ins Jahr 1727. Der Text, den wir uns anschauen, ist die erste Seite des Vorwortes von „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Barthold Heinrich Brockes, einem zu seiner Zeit berühmten Schriftsteller der frühen Aufklärung (Abb. 33). Das Buch ist eine Sammlung von naturlyrischen Gedichten. Wo weicht der Beginn des Vorwortes noch weiter ab als der Eichendorff-Text? Nehmen Sie sich Zeit! Abb. 33: Auszug aus „Jrdisches Vergnügen in Gott“ von Barthold Heinrich Brockes von 1727; Quelle: h ttps: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ brockes_vergnuegen02_1727 Wenn es Ihnen wie mir geht, haben Sie Probleme, zu verstehen, worum es hier gehen soll. Wir schieben das Problem nach hinten und kümmern uns erst einmal um die Ebenen, die wir auch ohne großes Textverständnis beurteilen können, nämlich die typographische, die lexikalische, die morphologische und die lexikalische. Wir sind nun schon ein gutes Stück entfernt vom heutigen Deutsch. Verständigen könnten wir uns, wenn wir tatsächlich (und nicht nur in Texten) durch die Zeit reisen könnten, aber es würden uns auch in der gesprochenen Sprache Unterschiede auffallen. Typographisch ist der Text auf den ersten Blick unregelmäßiger, unruhiger. Man sieht gut, welche Fortschritte die Drucktechnik seit dem 18. Jahrhundert gemacht hat. Auch 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 81 Überschrift Nomina Sacra die Form des Kommas ist anders: Es ist länger als heutige Kommas, und es reicht kaum unter die Grundlinie. Das ist ein Trend, der sich im nächsten Text fortsetzen wird; außerdem ist das Komma mit einem Leerraum von seinem linken Nachbarn getrennt. Graphematisch ist auch der Punkt nach der Überschrift ungewohnt. Er war bis ins 20. Jahrhundert die Regel, wurde dann aber immer seltener. Man kann an diesem Fall schön zeigen, dass die offiziellen Regeln dem Gebrauch immer hinterherhinken. Es ist nicht so, dass sich jemand beim Duden überlegt hat, dass Überschriften nicht mehr mit Punkten beendet werden und die Schreiberinnen und Schreiber sich daran gehalten haben. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Überschriften mussten laut Duden mit Punkt abgegrenzt werden, aber es haben sich immer weniger Schreibende daran gehalten, so dass der Duden die Regel mehrfach anpassen musste. Das ist die normative Kraft des Faktischen. Bei den Wortschreibungen sind einige Wörter großgeschrieben, die wir heute klein schreiben würden, nämlich die Pronomen, die sich auf Gott beziehen (Seinem, Seiner, Er). Beim Wort Gott selbst sind die ersten beiden Buchstaben großgeschrieben (GOtt). Das war im 17. Jahrhundert eine ganz unauffällige Schreibung, nicht nur für Gott und Pronomen, wenn sie sich auf ihn beziehen, sondern für eine ganze Reihe von „Nomina Sacra“, also ‚heiligen‘ Substantiven. Mit der Großschreibung der ersten beiden Buch‐ staben konnte bspw. HErr als Synonym zu GOtt unterschieden werden vom profanen weltlichen Herr. Außerdem werden einige Wörter anders geschrieben als heute, vor allem solche mit h. Ahrt schreibt man heute ohne, gleichwol und wol hingegen mit h. Die h-Schreibung musste sich also erst einspielen, und sie ist ja bis heute zum Teil willkürlich und zufällig. Stahl schreibt man mit h, Qual ohne; Stuhl wird mit h, Spur ohne geschrieben. Wer schreiben lernt, muss solche Wörter auswendig lernen. Es gibt einige Regularitäten (das h kommt zum Beispiel vor allem vor l, m, n und r vor), aber es bleiben immer noch ein paar unerklärbare Reste. Außer den h-Schreibungen fällt die Vokalschreibung bei Hülfe und seyn auf. Hilfe ist ein interessanter Fall: Die Formen Hilfe und Hülfe werden drei Jahrhunderte lang nebeneinander verwendet, wobei Hülfe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts klar die häufigere Form ist (dabei hat wohl auch Luther geholfen, der diese Form in seiner Bibelübersetzung verwendet hat). Bei seyn finden wir die ey-Schreibung, die wir aus dem Englischen kennen und die dort ganz regelmäßig am Ende von Wörtern und nach unterschielichen Vokalbuchstaben vorkommt (z. B. in say, key, buy). Das war bis ins 18. Jahrhundert auch im Deutschen der Regelfall. Im Wortinnern schrieb man ei, am Wortrand ey, und darüber hinaus noch innerhalb einiger Wörter wie eben seyn (wohl um es vom Possessivpronomen sein zu unterscheiden). Die y-Schreibungen werden ab der 2. Hälfte des 18.-Jahrhunderts langsam durch die heutigen i-Schreibungen ersetzt. Das sieht man schön an der Schreibung der Präposition bei/ bey in Google Books in Abb. 34 (via Google NGram Viewer). 82 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Natürlicher graphema‐ tischer Wandel Abb. 34: Anteil der Wortformen bei und bey an allen Wortformen in allen Büchern, die im selben Jahr erschienen sind; Quelle: Google NGram Viewer In dieser Abbildung kann man graphematischen Wandel beobachten. Wir sind es ge‐ wöhnt, dass sich die Schreibung ändert, weil jemand sie ändert - der Rat für Recht‐ schreibung, oder der Duden, oder sonst jemand. Solche Änderungen werden meist extrem schnell umgesetzt; innerhalb von ein paar Jahren stellt sich der Schreibgebrauch um, die neue Variante ersetzt die alte. In der Abbildung sieht man demgegenüber einen natürlichen graphematischen Wandel. Die Schreibung ändert sich, ohne dass das ir‐ gendjemand steuert. Das bedeutet auch: eine lange Zeit Uneinheitlichkeit und Unord‐ nung. Die neue Form bei ist um 1800 herum genauso häufig wie die alte Form bey, aber es gibt sie zu dem Zeitpunkt schon mindestens 80 Jahre länger. Beide Formen kommen über 100 Jahre nebeneinander vor. Der Wandel ist langsam. Zu Beginn des Wandels wird die neue Form bei von Leuten genutzt, die wir heute ‚Early Adopter‘ nennen würden (die ersten Technikaffinen mit einer Smartwatch, einem selbstfahrenden Auto usw.). In der Folge verbreitet sich die neue Form wie eine Modeerscheinung, bis schließlich fast alle sie benutzen - bis auf diejenigen, die beinahe reaktionär auf dem Bestehenden beharren. Bevor unser Schriftsystem eine offizielle Orthographie hatte (also vor 1901) liefen die meisten graphematischen Wandelprozesse wohl so oder so ähnlich ab. Morphologisch sind zwei Wörter auffällig, geoffenbaret und erkennet. Bei geoffen‐ baret ist es die Bildung des Partizips Perfekt, die vom heutigen Gebrauch abweicht. Wir würden stattdessen schreiben, dass er sich offenbart hat. Der ge-Teil des Partizips erscheint nur, wenn die erste Silbe des Stamms betont ist (sie hat geárbeitet, geántwortet, geínstagrammt, aber er hat offenbárt, betréut, recýcelt). Auch diese Regularität hat sich erst langsam herausgebildet. Das Wort geoffenbaret ist noch aus einem zweiten Grund interessant: Wir würden heute das Flexionssuffix nicht als eigene Silbe realisieren, also als -et, sondern als ein‐ faches -t (erkennet ist derselbe Fall). Wie schon bei der Partizipbildung gilt für das verbale Flexionssystem, dass es im Laufe der Zeit umgebaut wurde. Viele Suffixe waren einmal silbisch, d. h. sie wurden mit einem Vokal geschrieben. Im Althochdeutschen 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 83 Vokalab‐ schwä‐ chung Syntakti‐ sche Schwierig‐ keiten lauteten die Singularformen im Präsens von nehmen z. B. ih nimu, dū nimis (oder nimist), er/ siu/ iz nimit. Im Mittelhochdeutschen sind diese Vokale alle zu e geworden, das nicht wie das e in Schnee gesprochen wurde, sondern als ‚Murmelvokal‘ (linguis‐ tisch: Schwa) wie das e in Rose. Die Vokale wurden also abgeschwächt. Die Formen lauten im Mittelhochdeutschen: ich nime, du nimest, er/ siu/ ez nimet. Und die Schwä‐ chung geht weiter, wenn wir uns die Formen im Neuhochdeutschen ansehen: ich nehme, du nimmst, er nimmt. Zwei der drei Suffixe enthalten gar keinen Vokal, und der in der ersten Person wird oft weggelassen (Ich nehm das mit ist im Gesprochenen nicht ungewöhnlich). Diese Vokalabschwächung betrifft auch die Substantive, und sie ist ein sehr langfristiger Trend, der das Deutsche grundlegend verändert hat. Zurück zum Text. Wir hatten uns zu Beginn etwas vor dem Textverständnis gedrückt - das erledigen wir jetzt. Der Textausschnitt besteht aus zwei längeren Sätzen. Der erste der beiden ist relativ einfach strukturiert. Der semantische Kern ist die Aussage, dass Gott sich durch die Wunder der Natur (die große Vielfalt der Schöpfung) den Menschen offenbart hat. Diese Aussage wird modifiziert, nämlich einmal konzessiv (der Schreiber hält die Aussage für wichtiger als eine andere, die er ebenfalls für wahr hält): Gott ist unbegreiflich. Außerdem wird die Kernaussage noch einmal näher spezifiziert: Diese Offenbarung liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern geschieht laufend. Wir können den Aufbau des Satzes ganz grob so schematisieren wie in Abb. 35. Abb. 35: Schematischer Aufbau des ersten Satzes im Ausschnitt aus dem Textausschnitt von Brockes Warum ist diese eigentlich einfache Textstruktur nicht ganz so einfach zu verstehen? Unter anderem, weil wir heute die konzessive Relation eher mit einer Konjunktion wie obwohl anbinden würden: Obwohl Gott unbegreiflich ist, hat er sich durch die Wunder der Natur offenbart. Der zweite Satz ist etwas komplexer. Die Kernaussage ist, dass die Vernunft Gottes Rolle erkennen kann. Diese Aussage wird modifiziert, indem ein Mittel zur Erkenntnis verraten wird, nämlich Gottes Wort (also die Bibel). Das wird wiederum ausgeführt: Dort steht, dass Gott nicht nur als Verantwortlicher für die Schöpfung erkannt werden möchte, nein - hier kommt eine letzte Modifikation, und zwar der Kontrast -, er würde gerne dafür bewundert werden. Schematisch und etwas vereinfacht sieht die Textstruktur des zweiten Satzes also so aus wie in Abb. 36. 84 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Syntakti‐ sche Kom‐ plexität Abb. 36: Schematischer Aufbau des zweiten Satzes im Ausschnitt aus dem Textausschnitt von Brockes Warum hat es gerade der zweite Satz so in sich? Das liegt einerseits daran, dass uns das Thema fern ist. Die meisten Menschen sind nicht mehr besonders firm in theologischen Angelegenheiten. Es liegt außerdem daran, dass der Satz syntaktisch sehr komplex ist. „Das göttliche Wort hilft ihr dermaßen dabei“ ist ein Satz (statt dermaßen würden wir heute dergestalt schreiben), und in diesen Satz eingebettet ist wiederum ein Satz: „dass es vielmehr noch hinzu thut“. Auch in diesem Satz ist wieder ein Satz eingebettet: „wie Gott nicht allein aus dieser Art seiner Offenbarung ausdrücklich von den Menschen erkannt sein wolle“ usw. Wir haben hier also einen mehrfach verschachtelten Satz, wie eine Matroschka: Abb. 37: Schematischer Aufbau des zweiten Satzes im Ausschnitt aus dem Textausschnitt von Brockes: Verschachtelung Solche Mehrfachverschachtelungen sind auch heute nicht selten, aber sie machen das Verständnis nicht leichter. Am Ende muss ja jeder Teilsatz verstanden werden und in den Gesamtsatz integriert werden. Wenn dann noch das Thema für heutige Leserinnen und Leser etwas abseitig ist und andere Stolpersteine herumliegen (dermaßen wird heute anders verwendet), dann bindet all das mentale Ressourcen, und wir müssen den Text dreimal lesen. Damit versetzen wir uns - ganz nebenbei - in die Lage leseschwacher Schülerinnen und Schüler, die Probleme mit aktuellen Texten haben. Kein gutes Gefühl. Ist diese Komplexität ein Kennzeichen älterer Texte? Sind ältere Texte syntaktisch komplexer? Natürlich gibt es auch syntaktisch einfachere Texte aus dem 18. Jahr‐ hundert, insofern kann es hier nur um Durchschnittswerte gehen. Aber für solche Durchschnittswerte ist es durchaus möglich, dass gedruckte Texte im Laufe der Zeit syntaktisch einfacher wurden. Leserfreundlichkeit und Lesbarkeit sind Erwägungen, die lange Zeit nicht diskutiert wurden, die aber heute entscheidend sind, wo alle um unsere sehr begrenzte Aufmerksamkeit buhlen. Egal wie wichtig das ist, was Sie zu sagen haben - wenn Sie es so schreiben wie Brockes, wird es niemand lesen. 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 85 Opitz’ Gedichte Virgel u vs. v Die nächste Station unserer Zeitreise bringt uns ins Jahr 1624 und zu einem Text von Martin Opitz, einem Barockdichter und -theoretiker. Es ist der Anfang des Vorwortes seines Buchs „Teutsche Pöemata und: Aristarchvs Wieder die verachtung Teutscher Sprach“ (Abb. 38). Mittlerweile sind wir im Frühneuhochdeutschen angekommen, dem sprachgeschichtlichen Vorgänger unseres heutigen Deutsch; diese Phase wird von etwa 1350 bis 1650 angesetzt. Aber es ist nichts grundsätzlich anders als im letzten Text (außer dem Namen der Zeitstufe). Er unterscheidet sich noch mehr als der letzte Text vom heutigen Deutsch, wir haben noch mehr Mühe, ihn zu verstehen - aber wir ver‐ stehen ihn, zumindest größtenteils. Was fällt Ihnen auf ? Abb. 38: Auszug aus „Teutsche Pöemata und: Aristarchvs / Wieder die verachtung Teutscher Sprach“ von Martin Opitz von 1624; Quelle: https: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ opitz_poemata_16 24 Die offensichtlichsten Unterschiede sind graphematischer oder typographischer Natur, z. B. die vielen Schrägstriche. Sie nennen sich Virgeln und sind die Vorgänger des Kommas. Jetzt wird auch klar, warum im letzten Text oben die Kommas so lang waren: Es waren halbe Virgeln. Ungewohnt sind auch die sog. Tilden über einigen e (habẽ, darnebẽ, eigenẽ) - sie sind Abkürzungen und ersetzen das finale n. Die Setzer konnten so Platz sparen und waren etwas flexibler. Schließlich musste Zeile für Zeile, Buchstabe für Buchstabe in Bleilettern gesetzt werden, und das Ideal waren (wie in modernen Texten auch) gleich lange Zeilen. Man kann aber nicht jedes Wort an jeder Stelle tren‐ nen, und irgendwann fällt es auf, wenn zu viele Leerzeichen eingefügt werden. Mit der Tilde konnte der Setzer bei Bedarf ein Zeichen einsparen, weil die Zeile schon zu voll war. Wenn das nicht nötig war, wurde das n ganz normal ausgeschrieben, wie z. B. bei Teutschen in Z. 4. Wenn Sie genau hinschauen, dann werden Sie außerdem feststellen, dass es zwei Formen des Buchstabens u gibt, eine runde wie in Kunst (Z. 4) und eine spitze wie in under (links darunter in Z. 5). Das liegt daran, dass im zweiten Fall ein v gesetzt 86 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Positions‐ varianten wurde. Die Buchstaben u und v wurden nicht nach ihren Lautwerten unterschieden, sondern nach der Position im Wort, es waren zwei Formen eines Buchstabens. Am Wortanfang erschien immer v, ganz gleich, ob das gesprochene Wort mit einem Vokal oder einem Konsonanten beginnt: under und verwundern wurden mit dem gleichen Anfangsbuchstaben geschrieben (vnder vs. verwundern, Z. 3). Im Wortinnern trat überwiegend u auf (manchmal aber auch v wie in Aristarchvs im Buchtitel). Das klingt vielleicht erstmal etwas abenteuerlich, aber erstens war das jeweilige Wort trotzdem klar bezeichnet: Aus dem jeweiligen Kontext ging eindeutig hervor, welcher Laut mit den Buchstaben gemeint war. Es gibt keine zwei Wörter im Deutschen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass im einen ein u steht, wo im anderen ein v steht. Und zweitens machen wir etwas ähnliches auch heute noch, nämlich mit der Buchstabenverbindung ch. Die steht in bestimmten Kontexten für einen Frikativ, der ganz hinten im Rachen gebildet wird (wie in ach), und in anderen für einen Frikativ, der weiter vorne gebildet wird und ganz anders klingt (wie in ich). Die Buchstaben u und v waren also Positionsvarianten voneinander, und das ging so bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts, als sich die Dinge sehr schnell änderten. In einem kurzen Zeitraum von knapp 30 Jahren wurde das Schriftsystem verändert, und die beiden Buchstaben wurden so verwendet, wie wir es auch heute tun, nämlich als Stellvertreter bestimmter Laute (also als phonographische Zeichen, Schriftzeichen, die sich auf Phoneme beziehen). Man kann das gut am Wechsel von der alten Schrei‐ bung vnd zur neuen Schreibung und sehen (s. Abb. 39). Abb. 39: Anteil der Wortformen und und vnd an allen Wortformen in allen Büchern, die im selben Jahr erschienen sind; Quelle: Google NGram Viewer Die Geschwindigkeit dieses Wandels ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es keine Instanz gab, die bestimmte Schreibungen vorgeschrieben oder zum Fehler erklärt hat. Eine mögliche Erklärung ist, dass der Wechsel von der Positionvariante zur phonographischen Schreibung ein ziemlich hohes disruptives Potential besaß: Sobald man die Neuerung einmal verstanden hatte, war es schwer, sie wieder zu vergessen, um alte Texte zu lesen. Gleichzeitig wirkten alte Texte mit vnd und vnder jetzt genau 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 87 Groß- und Klein‐ schreibung Stamm‐ konstanzschreibung so, nämlich alt. Das könnte ein Argument für die schnelle Umstellung auf die neue Schreibung gewesen sein. Auch in anderen europäischen Schriftsystemen wie dem Englischen passierte diese Umstellung - ungefähr 20 Jahre früher, aber ähnlich schnell. Die europäischen Zusammenhänge bei diesem graphematischen Wandel sind bis heute nicht richtig verstanden. Wo hat die Entwicklung begonnen? Wie hat sie sich verbreitet? Andere Positionsvarianten: I und J Eine ähnliche Konstellation gab es übrigens bei den Buchstaben I und J, die lange ebenfalls als Varianten eines Buchstabens betrachtet wurden, mit J als Wortanfangsvariante (vgl. ihrer in der vorletzten Zeile mit eigenen direkt daneben - im ersten Fall ist ein j gesetzt, im zweiten ein i). Ein weiterer Unterschied zur heutigen Schreibung ist die Kleinschreibung von Fleiß und Eifer. An allen anderen Stellen ist die Groß- und Kleinschreibung so, wie wir auch heute schreiben. Das ist nicht überraschend: Die Groß- und Kleinschreibung hat sich - wie viele andere Schreibungen auch - langsam im Gebrauch herausentwickelt. Zu Anfang wurden nur Eigennamen und sakrale Begriffe großgeschrieben (Gott, Herr, Jesus, Er), in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dann auch Personenbezeichnun‐ gen (Bäcker, Franzose), noch später dann Konkreta (Substantive, die sich auf konkret wahrnehmbare Objekte in der Welt beziehen wie Stuhl, Wald oder Suppe). Als letzte Gruppe kommen abstrake Substantive hinzu, sie werden erst am Ende des 17. Jahr‐ hunderts regelmäßig großgeschrieben. Für einige Abstrakta im Text gilt das schon (Kunst, Geschicklichkeit), für andere noch nicht (fleiß und eifer). Genau hier ist der Schwankungsfall im Schriftsystem, hier muss sich der Gebrauch erst noch einspielen. Interessant ist außerdem die Schreibung gegenwertiger (Z. 1). Wir schreiben heute gegenwärtiger, und machen damit den Bezug zum Substantiv Gegenwart deutlich. Oder etwas anders formuliert: Die Schreibung gegenwärtiger zeigt deutlicher, dass in gegen‐ wärtiger die Gegenwart steckt. Solche Schreibungen gibt es im Deutschen heute zuhauf: Wir schreiben Hund und nicht Hunt, obwohl wir das Wort mit einem stimmlosen Plosiv beenden, wenn wir es sprechen, damit Hund auch in Hunde gleich aussieht. Der Wort‐ stamm (Gegenwart, Hund) wird also gleich geschrieben; das läuft in der Linguistik auch unter dem Begriff der Stammkonstanz. Und - große Überraschung - auch die Stamm‐ konstanz hat sich im Laufe der Jahrhunderte langsam herausgebildet. Die Umlaut‐ schreibung zur Markierung von Stammkonstanz war einer der letzten Bausteine. Noch später wird nur noch die Schreibung der Modalverben wie können angepasst (konnte, und nicht mehr, wie bis dahin, konte). Neben diesen graphematischen Unterschieden gibt es einige lexikalische Besonder‐ heiten, Wörter, die wir so heute nicht mehr verwenden: jetzund statt jetzt, Voreltern statt Vorfahren, erstlich statt zuerst oder zunächst und wann statt wenn (das erste Wort des Textes). Andere Wörter haben ihre Form geändert; statt von Teutschen schreiben wir heute von Deutschen, statt uff schreiben wir auf. Das taten allerdings auch die 88 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche Genitivobjekt meisten Zeitgenossen schon, es handelt sich hier um eine Schreibung, die wohl vom Dialekt des Schreibers geprägt war (Dialekte waren damals keine Freizeitsprachen, wie das heute in vielen Regionen Deutschlands der Fall ist; sie wurden als Muttersprache erworben, und das ganze sprachliche Denken und Handeln spielte sich in ihnen ab. Die Standardsprache bildete sich gerade erst heraus, →-Kap.-11). Syntaktisch ist auch dieser Text nicht ganz einfach. Der erste Satz erstreckt sich bis zur drittletzten Zeile. Heute würde Opitz es vielleicht eher so ausdrücken: ‚Wenn ich mir die Gelegenheiten für die freien Künste heute vor Augen führe, muss ich mich wundern, dass bislang niemand gefunden wurde, der sich der Poesie in unserer Muttersprache ernsthaft angenommen hat - und dass, obwohl wir Deutschen in Sachen Kunst und Geschicklichkeit sonst immer die ersten sind.‘ Das Verständnis wird erschwert durch eine ganz Batterie an Einfügungen und Ergänzungen, die den Aufbau des Satzes immer wieder unterbrechen. Außerdem ist der pränominale Genitiv, den wir oben schon kennengelernt haben, für uns schwierig zu verarbeiten: Wenn ich mir gegenwärtiger Zeit Gelegenheit, was die freien Künste belangt, vor Augen stelle … Der Kern ist hier die Gelegenheit, der pränominale Genitiv ist gegenwärtiger Zeit, der diese Gelegenheit näher beschreibt. Auch der was-Satz nach Gelegenheit beschreibt sie näher. Es geht also um die Gelegenheit der gegenwärtigen Zeit, was die freien Künste betrifft. Befremdlich wirkt vielleicht auch, dass finite Hilfsverben in Nebensätzen einfach weggelassen werden (z. B. dass […] bis jetzt niemand gefunden, der …). All das führt dazu, dass uns auch dieser Text mehr Konzentration abfordert, als es viele zeitgenössische Texte täten (aber nicht alle - haben Sie mal versucht, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen Ihres Mobilfunkanbieters zu lesen? ). Im zweiten Satz gibt es vor allem eine interessante Stelle, die ich gerne etwas näher anschauen würde. Es heißt dort (etwas vereinfacht): Die Italiener haben die Lateinische Sprache wieder auf die Beine gebracht und doch ihrer eigenen nicht vergessen. Heute würden wir schreiben: ihre eigene nicht vergessen. Was soll diese komische Form dort? Ihrer eigenen ist ein Genitiv; wenn wir die Konstituente durch ein Maskulinum er‐ setzen, würde dort stehen: „Sie haben ihres eigenen nicht vergessen.“ Im Frühneu‐ hochdeutschen hat also vergessen ein Genitivobjekt regiert. Im Laufe der Zeit wurde dieser Genitiv durch ein Akkusativobjekt ersetzt. Und das geschah nicht nur mit ver‐ gessen - eine ganze Reihe von Verben nahm noch im Frühneuhochdeutschen zum Teil Genitivobjekte, z. B. beginnen oder erwähnen („Wie ward der Königin erwähnt? “, heißt es in Schillers Don Carlos zum Beispiel). Wenn wir noch weiter zurückgehen, finden wir noch mehr Genitivverben. Sie alle haben sich verändert, meist zu Verben, die Ak‐ kusativobjekte nehmen, manche aber auch zu Verben, die Präpositionalgruppen regie‐ ren („Hier […] wartete ich deiner unter Palmen“ schrieb Lessing - auf dich würden wir heute schreiben). Genitivobjekte sind die Verlierer der deutschen Sprachgeschichte. Es sind nur noch einige wenige Verben übriggeblieben, absolute Ausnahmen unter den tausenden Verben, die das Deutsche kennt. Man bezichtigt jemanden des Mordes, man überführt jemanden des Mordes, man klagt jemanden des Mordes an (es ist kein Zufall, dass sich diese alte Klasse der Genitivverben ausgerechnet in der Rechtssprache hält - 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 89 Kasushie‐ rarchie einer Fachsprache, die sich durch ein großes Traditionsbewusstsein und Beharrungs‐ vermögen auszeichnet). Und an vielen heutigen Genitivverben nagt der Sprachwandel: Statt Wir Gedenken der Toten (Genitiv) liest man häufig auch Wir gedenken den Toten (Dativ). Das stößt manchen Sprachpflegern übel auf (z. B. im Tweet in Abb. 40). Abb. 40: Tweet mit starker Meinung zu gedenken mit Dativ Gedenken ist heute mit einem Genitivobjekt immer noch häufiger als mit einem Dativobjekt; das gilt für redigierte Texte noch mehr als für Texte in sozialen Medien. Aber auch hier finden sich schon die neuen Dativformen, z. B. in der Überschrift zu einem BILD-Online-Video von 2016, s. Abb. 41. Abb. 41: gedenken mit Dativ in einer Überschrift bei BILD Online Und noch wichtiger: Wenn sich hier der Kasus ändert, dann passiert das nicht zufällig. Es steht in einer langen Traditionslinie: Seit dem Frühneuhochdeutschen werden Genitivv‐ erben umgebaut. Diese Perspektive verlieren Sprachschützerinnen und Sprachschützer oft aus den Augen - und aus diesem Gesichtspunkt macht es überhaupt keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Wir haben es hier mit einem jahrhundertealten Trend zu tun, an dem schon Millionen von Sprecherinnen und Sprechern teilgenommen haben. Genausogut könnte man versuchen, sich allein gegen eine Flutwelle zu stellen. Es ist aussichtslos, und die Sprache wird keine Rücksicht nehmen. Dieser Fall ist auch deswegen interessant, weil er etwas über das Verhältnis der Kasus zueinander aussagt. Es ist kein Zufall, dass der Genitiv der sprachgeschichtliche Ver‐ lierer ist, und nicht zum Beispiel der Akkusativ. Die vier Kasus, die im Deutschen üb‐ riggeblieben sind (im sprachgeschichtlichen Vorgänger des Deutschen, dem Germani‐ schen, gab es auch noch den Instrumental und den Vokativ), stehen nicht einfach gleichberechtigt nebeneinander - sie sind hierarchisch geordnet. Der wichtigste Kasus ist der Nominativ. Er ist der häufigste Kasus (praktisch jedes Verb nimmt ein Argument 90 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche im Nominativ, nämlich das Subjekt), und er wird als erster Kasus von Kindern gelernt. Der Akkusativ ist ebenfalls häufig, allerdings nicht so häufig wie der Nominativ; Kinder erwerben ihn, nachdem sie den Nominativ erworben haben. Und so geht es weiter über den Dativ bis zum Genitiv, der ganz unten in der Hierarchie steht. Im Sprachwandel ist er als erster dran, wenn es um den Abbau des Kasussystems geht. Genau das ist im Englischen, Niederländischen und Niederdeutschen passiert. Im Deutschen müssen wir uns über den Genitiv aber keine Sorgen machen. Abgebaut wird nur der Genitiv als Objektskasus (also Wir gedenken der Opfer). In dieser Verwendung ist er aber schon lange marginal. Sein Hauptrevier im heutigen Deutsch ist das Vorkommen als Attribut (z. B. das Andenken der Opfer), und hier ist er absolut stabil. Er wird nicht systematisch durch von-Konstruktionen ersetzt, wie das manchmal befürchtet wird (das Buch von dem Mann statt das Buch des Mannes). Der Dativ ist also noch lange nicht dem Genitiv sein Tod, es ist wie immer etwas komplexer. Wir sind in diesem Kapitel schrittweise knapp 400 Jahre zurückgereist, ins Frühneu‐ hochdeutsche. Bei jedem Schritt wurde der Abstand zum heutigen Deutsch größer, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Graphematik, Morphologie, Lexik und Syntax. Allein an diesen wenigen Texten lassen sich einige der großen Entwicklungslinien im Deutschen nachzeichnen. Alle Textausschnitte, die hier gezeigt wurden, stammen übrigens aus dem Deutschen Textarchiv (deutschestextarchiv.de). Das ist eine Sammlung von einigen tausend historischen Texten mit insgesamt über 300 Millionen laufenden Wörtern. Der älteste Text ist von 1472. Alle Texte sind sehr sorgfältig abgeschrieben und mit linguistischen Informationen wie der Wortart, der heutigen Schreibung etc. angereichert worden; gleichzeitig sind aber auch die Scans der historischen Texte zugänglich. Für praktisch alle historischen Fragestellungen, die das Frühneuhochdeutsche oder Neuhochdeut‐ sche betreffen, ist das eine erstklassige Datengrundlage (und abgesehen davon macht es Spaß, in den alten Büchern zu stöbern). Zur Vertiefung • Eine immer noch empfehlenswerte Einführung in praktisch alle sprachlichen As‐ pekte des Frühneuhochdeuschen ist H A R TWE G & W E G E R A ( 2 2005), schön aufgezogen an zahlreichen Beispielen und mit vielen Aufgaben zum Selbststudium. • Ursula B R E D E L (2005) untersucht, wie sich der Gebrauch des Punktes im Laufe der letzten 500 Jahre verändert hat und zeigt, dass die linguistischen Beschreibungen (z.-B. im Duden) diesem Gebrauch immer hinterherhinkten. • Die Geschichte der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen zeichnet Hartmut G ÜNTH E R (2006) in einem Aufsatz kurzweilig nach und verbindet diese Darstellung mit Überlegungen zur Vermittlung. • Eine sehr zugängliche Darstellung der Kasushierarchie gibt Peter E I S E NB E R G ( 5 2020: 71ff). 5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche 91 Mondegreens 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können Verhörer sind allgegenwärtig, und musikalische oder lyrische Verhörer sind außerdem oft lustig. Noch wichtiger aber: Sie lassen ein Einblick in die Mecha‐ nismen der Sprachverarbeitung zu. „Kurt der Engel erwacht“ - kommt Ihnen das vage bekannt vor? Der Text stammt aus der dritten Strophe von „Leise rieselt der Schnee“, dort heißt es wörtlich: „Bald ist heilige Nacht / Kurt der Engel erwacht“. Zumindest, wenn es nach einer Leserin von Axel Hackes Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung geht, die das aus ihrer Kindheit berichtet. Und aus Kindersicht ergibt der Text ja durchaus Sinn, man kann sich gut einen kleinen, verschlafenen Engel vorstellen, der kurz vor Weihnachten aufgewacht ist. Kurt ist heute vielleicht ein ungewöhnlicher Name, aber Engel sind ja auch ungewöhnliche Gestalten. In Wirklichkeit ist an der Stelle natürlich vom „Chor der Engel“ die Rede. Die Leserin hat sich also verhört. Das klingt sehr profan, und in gewisser Weise ist es das auch: Wir verhören uns ständig, manchmal verstehen wir etwas falsch, merken es und müssen nachfragen; manchmal verstehen wir etwas falsch und merken es erst Jahre später, und manchmal merken wir es nie. Aber wenn wir die Perspektive etwas wechseln, dann sind Verhörer etwas sehr Spannendes: Sie bieten einen Einblick in die Verarbeitung gesprochener Sprache im Gehirn. Verhörer treten nämlich an bestimmten Stellen häufiger auf, an anderen so gut wie nie - und aus dieser Verteilung können wir Rückschlüsse darüber ziehen, nach welchen Prinzipien unser Gehirn mit Sprache umgeht (und nebenbei sind viele Verhörer lustig). Musikalische Verhörer wie Kurt der Engel haben sogar einen eigenen Namen: Sie heißen Mondegreens. Sylvia W R I GHT (1954) hat den Namen geprägt - er geht zurück auf einen musikalischen Verhörer. Im schottischen Volkslied „The Bonnie Earl o’ Mo‐ ray“ heißt es eigentlich: „They hae slain the Earl o’ Moray / And laid him on the green“ (‚Sie haben den Earl von Moray erschlagen / Und ihn aufs Gras gelegt‘). Sylvia Wright dachte als Kind stattdessen, es habe zwei Tote gegeben, nämlich den Earl und eine gewisse Lady Mondegreen „They hae slain the Earl o’ Moray / And Lady Mondegreen“ (dass diese Person weder davor noch danach im Lied erwähnt wurde, hat sie nicht weiter gestört - sie vertritt sogar die These, dass das Lied mit der mysteriösen Toten besser sei als das Original). Das Verhören kann grundsätzlich eine ganze Reihe von Ursachen haben: auf der Seite der Hörenden etwa schlechtes Gehör oder mangelnde Konzentration; auf der Seite der Singenden/ Sprechenden z. B. undeutliche Aussprache. Oft trifft das aber alles nicht Soramimi zu. Stattdessen sind die Formen (die eigentliche und die verhörte) praktisch identisch. Die Lautform ist doppeldeutig (ambig), sie hat mehr als eine Bedeutung. Die beiden Formen laid him on the green und Lady Mondegreen sind in verbundener Rede bzw. im Gesang kaum zu unterscheiden. Seit Sylvia Wright haben musikalische Verhörer also einen Namen, Mondegreens. Und weil es so viele nette gibt, hier noch ein paar Beispiele: Original Mondegreen Dann stell’ ich den Teller raus / Nik’laus legt gewiss was drauf Dann stell’ ich den Teller raus / Nik’laus legt den Wiswas drauf Wir fahr’n auf Feuerrädern / Richtung Zu‐ kunft durch die Nacht Wir fahr’n auf euern Rädern / Richtung Zu‐ kunft durch die Nacht Santa Maria / Den Schritt zu wagen Santa Maria / Den Schnitzelwagen Tab. 7: Drei musikalische Mondegreens und ihr jeweiliges Original; Quelle: H A C K E & S O W A (2004) Sprachgrenzen interessieren Verhörer nicht, im Gegenteil, sie scheinen sie sogar zu begünstigen. Es gibt unzählige Fälle, in denen Menschen deutsche Wörter oder Sätze in englischsprachigen Liedern zu hören meinen. Eines der bekanntesten ist vielleicht Chris Normans „Midnight Lady“. Norman singt Oh, my feelings grow, aber für viele deutschsprachige Hörerinnen und Hörer klingt es wie Oma fiel ins Klo. Solche sprach‐ übergreifenden Mondegreens haben einen eigenen Namen, Soramimi (aus dem Japa‐ nischen), und sie sind mindestens ebenso häufig wie Mondegreens. Eng verwandt sind übrigens Verhörer in Gedichten, die - wenig überraschend - ‚lyrische Verhörer‘ genannt werden. So hören manche Menschen im „Erlkönig“ folgendes: (1) Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind / Er hält in den Armen das sechzehnte Kind … obwohl dort eigentlich vom ächzenden Kind die Rede ist. In all diesen Fällen sind die Verhörer nicht zufällig - statt dem ächzenden Kind hören Menschen nicht einfach irgendwas, etwa das zwölfte Kind. Man kann nun solche Verhörer sammeln und nachsehen, was wie verhört wurde. Im „Erlkönig“-Beispiel z. B. haben die beiden Variante, die tatsächliche (ächzende) und die verhörte (sechzehnte), dieselbe Anzahl Silben (drei), dieselbe Betonungsstruktur (betont - unbetont - unbetont) und ungefähr dieselben Vokale in den Silben ([ɛ - ə - ə]). Die Formen unterscheiden sich - zumindest in sorgfältiger Aussprache - vor allem im Anlaut. Die Form ächzende beginnt mit einem stimmlosen glottalen Verschlusslaut ([ʔ]), die Form sechzehnte hingegen mit einem stimmhaften Frikativ ([z]). Isoliert unterscheiden die beiden sich an der Stelle eindeutig - im Kontext ist das viel schwieriger zu beurteilen, weil der glottale Verschlusslaut 94 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können Betonte und unbetonte Vokale von ächzende nach dem letzten Laut von das ([s]) ausfallen kann ([dasɛçtsəndə]) - man kann das [s] etwas länger artikulieren. Vergleicht man nun systematisch Original und Verhörer, kann man feststellen, dass sich die meisten Paare nur minimal unterscheiden. Am stabilsten ist das Betonungs‐ muster, das in fast 90 % der Fälle gleichbleibt. Ebenfalls stabil ist der betonte Vokal im Wort (meist gibt es nur einen davon). Bei drei Vierteln aller Verhörer ändert sich hier nichts. Das passt ganz gut dazu, was wir ansonsten über die Vokalqualität wissen: Betonte Vokale sind „Inseln der Verlässlichkeit“ im Meer der Äußerung, wie P I S O NI (1981) das schön poetisch ausdrückt, sie dauern länger als unbetonte und werden meist mit mehr Muskelspannung im Mund artikuliert. Die Unterschiede zwischen unbeton‐ ten Silben können demgegenüber - besonders in verbundener Rede - verwischen. Hö‐ ren Sie einen Unterschied zwischen den unbetonten Vokalen in Opa und Oper? Oder zwischen denen in Freundin und Freunden, wenn Sie die Wörter im Satzkontext äußern? Vielleicht ja, aber der Unterschied ist deutlich kleiner als der zwischen den betonten Vokalen in innen und enden, und deswegen auch anfälliger für Störungen wie das Ver‐ hören. Entsprechend sind unbetonte Vokale auch nur in knapp jedem zweiten Verhörer dieselben wie im Original. Unser Gehirn scheint relativ liberal zu sein, was unbetonte Vokale angeht: Wenn dieser Vokal im Kontext nicht funktioniert (obwohl wir ziemlich sicher sein können, dass er artikuliert wurde), dann probiert es einen anderen. Der Hahn ist tot wird manchmal verhört als Der Hannes tot; der Unterschied liegt vor allem in den unbetonten Vokalen, die eh schon relativ ähnlich sind. Noch anfälliger sind nur Konsonanten im Wortinnern oder am Wortende. So wird z. B. Stürmisch die Nacht / Und die See geht hoch manchmal verhört als … Und die Säge tobt. Der Frikativ [x] von hoch wird ersetzt durch die Plosive [pt] in tobt. Konsonanten am Wortanfang sind wesentlich stabiler; diese Position scheint wichtig für die Worterkennung zu sein. Aber warum kommt es überhaupt zu Verhörern? Es ist ja eigentlich seltsam: Weil jemand undeutlich artikuliert, oder schnell, oder weil er oder sie weit weg ist, oder weil andere Geräusche stören, bekommen wir nicht genug Informationen. Das bekommen wir aber oft gar nicht mit: Wenn wir uns verhören, denken wir ja gerade, dass alles in Ordnung ist. Unser Gehirn bügelt Probleme selbst aus und gaukelt uns vor, dass alles in Ordnung ist. Wenn wir dann näher darüber nachdenken, was wir gerade gehört haben, wird uns oft klar, dass es sehr unwahrscheinlich ist. Aber beim Hören selbst merken wir nicht, dass wir uns verhören. Warum ist das so? Das hängt damit zusammen, wie unser Gehirn gesprochene Sprache verarbeitet, und das funktioniert ungefähr so: Jemand sagt etwas, und die Schallwellen dringen an unser Trommelfell. Die Schwingungen werden im Ohr übersetzt in elektrische Impulse, die ans Gehirn geschickt werden. Dort kommt Information darüber an, welcher Frequenzbereich wie lange wie laut ist. 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können 95 Frequenzbereiche Die Frequenz gibt an, wie schnell oder langsam eine Schallquelle schwingt. Am einfachsten ist das bei Klängen, also regelmäßigen Schwingungen (eine Gitarrenseite, ein Flötenton etc.); schwieriger wird es bei Geräuschen. Das ein‐ gestrichene a am Klavier hat eine Grundfrequenz von ca. 440 Hertz (das sind 440 Schwingungen pro Sekunde), das nächsthöhere a die doppelte Frequenz von 880 Hertz. Je höher die Frequenz, desto höher hören wir die Töne. Junge Erwachsene hören in einem Bereich von etwa 20 bis 20.000 Hertz, darüber und darunter nicht (deswegen können Sie die Hundepfeife nicht hören, Ihr Hund aber schon). Auch Geräusche wie ein Knall oder ein Zischen können mathematisch in regelmäßige Schwingungen zerlegt werden. Wir können dann angeben, welche Frequenzbereiche besonders dominant sind. Entferntes Donnergrollen bewegt sich z. B. vor allem in einem Bereich um 100 Hz; die höchste Note auf einem Klavier hat eine Grundfrequenz von über 4000 Hz. Wir hören am besten zwischen 2000 und 5000 Hertz; hier spielen sich viele für das Sprachverstehen wichtige Dinge ab. Unser Gehirn errechnet aus den Informationen über die Frequenzen, Lautstärken und Dauern nun weitere Informationen: Welche Laute wurden jeweils artikuliert? Welche Laute gehören zusammen zu einer Silbe? Welche Silben sind betont? Und, wenn all das erledigt ist: Welche Wörter wurden artikuliert? Schematisch ist das in Abb. 42 dargestellt. Abb. 42: Schematischer Signalweg vom Sprachsignal (als Spektrogramm, unten) über die Laute und Silben zu den Wörtern (oben) 96 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können Bottomup-Verarbeitung Top-down- Verarbei‐ tung Die Informationen aus dem Sprachschall werden also Stück für Stück wieder zusam‐ mengesetzt, unser Gehirn rekonstruiert die Laute, Silben und Wörter wieder. Der In‐ formationsfluss ist hier signalgesteuert (auch bottom-up in der Kognitionswissen‐ schaft) - und das mag uns auf den ersten Blick überhaupt wie die einzige Möglichkeit vorkommen. Wie denn sonst? Wenn wir etwas verstehen wollen, müssen wir zuhören, anders geht es nicht. Das stimmt, aber es ist nicht das ganze Bild. Unser Gehirn leistet viel mehr, und das ist gut so. Zu jedem Zeitpunkt der Signalverarbeitung hat es eine Menge Hypothesen, was als nächstes kommt. Das geht so weit, dass es uns - wie oben schon angesprochen - nicht mal mitteilt, dass wir etwas nicht gehört haben, sondern uns glauben lässt, alles wäre in Ordnung. Dieser Effekt trägt den etwas sperrigen Namen „Phonemrestaurationseffekt“. Wenn wir ein Wort wie schmierig nehmen, den zweiten Laut (das [m]) herausschneiden und stattdessen einen Huster einsetzen, dann hören die Versuchspersonen so etwas wie sch-Hust! -ierig. Im geeigneten Kontext (z. B. Die Fensterscheibe ist sch-Hust! -ierig) nehmen sie den Huster wahr, aber sie nehmen nicht wahr, dass das Sprachsignal unterbrochen war und dass ein Laut fehlte. Das ist ja schon mal erstaunlich genug. Aber es wird noch besser: Wenn man dasselbe Material (sch-Hust! -ierig) in einen anderen Kontext einsetzt (z. B. Mathematik ist mir zu sch-Hust! -ierig), dann hören die Versuchspersonen einen anderen Laut „unter“ dem Huster! Wie kann das sein? Das funktioniert, weil unser Gehirn zum Zeitpunkt der Störung schon eine Hypo‐ these hat, was jetzt für ein Wort kommt. Schmierig passt wie ein Puzzleteil in den Fenster-Satz, schwierig in den Mathematik-Satz. Und weil alles so glatt aufgeht, ent‐ schiedet das Gehirn, dass die Versuchsperson wegen dieser kleinen Störung nicht be‐ helligt werden muss. Der Informationsfluss ist hier hypothesengesteuert (oder top-down). Er dient als Sicherheitsnetz, falls es zu Problemen in der Kommunikation kommt; außerdem beschleunigt er die Sprachverarbeitung. Wenn wir die Menge der möglichen nächsten Wörter einschränken können, bevor sie geäußert werden, können wir auch schneller auf sie zugreifen. Auf beiden Wegen, bottom-up und top-down, kann es zu Störungen kommen, die für Mondegreens verantwortlich sind (oder Verhörer allgemein). Bottom-up kann das z. B. bei der Silbifizierung passieren. Damit ist die Zuordnung der Lautsegmente zu den einzelnen Silben gemeint. Das geschieht z. B. im folgenden Fall, der in der Literatur belegt ist: „Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen und gab seiner Einbildungskraft al‐ lemal einen außerordentlichen Schwung, weil er es für irgendeinen orientalischen Ausdruck hielt, den er nicht verstand und eben deswegen einen so erhabnen Sinn, als er nur wollte, hineinlegen konnte […] [Hüll, o schöne Sonne] sang der Präfektus nach seiner thüringischen Mundart […]“ (Moritz, Anton Reiser) Hier wird Hüll, o als Hylo verhört. Die beiden Formen unterscheiden sich in der Silbenstruktur: Bei Hylo ist das l im Anfangsrand der zweiten Silbe, bei Hüll, o 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können 97 Onsetma‐ ximierung im Endrand der ersten; der Anfangsrand der zweiten Silbe ist mit dem glottalen Verschlusslaut besetzt. Abb. 43 stellt das schematisch dar. Abb. 43: Zuordnung der Laute zu Silben im Original (Hüll, o, links) und im Verhörer (Hylo, rechts) Wie kommt es zu diesem Unterschied? Dazu muss man wissen, wie normalerweise Laute zu Silben gruppiert werden. Wo verläuft die Silbengrenze in den (gesprochenen) Wörtern Biene, Fabrik und Bande? Zu welcher Silbe werden die Konsonanten zwischen den beiden Vokalen zugeordnet - zur ersten oder zur zweiten? Das ist einfach: Bie-ne, Fa-brik und Ban-de lauten wahrscheinlich Ihre Antworten. Und was ist das das Prinzip dahinter? Die Konsonanten zwischen den Vokalen landen grundsätzlich im Anfangs‐ rand der zweiten Silbe, nicht im Endrand der ersten (Bie-ne, Fa-brik). Das muss noch etwas eingeschränkt werden: Der Anfangsrand der zweiten Silbe wird so lange aufge‐ füllt, bis es dem Allgemeinen Silbenbaugesetz widerspricht (s. S. 40). Das ist bei Bande der Fall: Das d kommt in den Anfangsrand, aber das n muss im Endrand bleiben, weil nd kein wohlgeformter Anfangsrand ist - die Sonorität nimmt Richtung Kern ab (n ist sonorer als d) - und nicht, wie vom Allgemeinen Silbenbaugesetz gefordert, zu. Dieses Prinzip ist universell gültig und als Prinzip der Onsetmaximierung bekannt; (kleinere) Unterschiede zwischen den Sprachen ergeben sich daraus, dass die Sonori‐ tätshierarchie sich zwischen ihnen zum Teil unterscheidet. Um zu verstehen, wie es zum Hylo-Verhörer kommt, fehlt jetzt noch ein Baustein: Es galt noch bis ins 20. Jahrhundert als unschön, den glottalen Verschlusslaut beim Singen zu artikulieren. Ohne diesen glottalen Verschlusslaut aber hält nichts mehr das l im Endrand der ersten Silbe: Das mächtige Prinzip der Onsetmaximierung schiebt es in den Anfangsrand der zweiten Silbe. Hinzu kommt, dass beide Silben im Lied gleich lang gesungen werden (eine Viertel‐ note); das macht es für die Hörenden zusätzlich schwer, Informationen zur Art des Vokals (gespannt/ ungespannt) herauszuziehen. 98 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können rhythmi‐ sche Seg‐ mentie‐ rung Abb. 44: Partitur der Gesangsmelodie von Hüll, o schöne Sonne Dieser Verhörer lässt sich also durch Prinzipien der Sprachverarbeitung erklären, die signalgesteuert ablaufen. Das Sprachsignal wird in unseren Köpfen automatisch zu Silben zusammengefasst - und wenn die Hochkultur meint, es sei eine gute Idee, glottale Verschlusslaute beim Singen einfach wegzulassen, sind die Konsequenzen systematische Verhörer. Eine andere Gruppe von Verhörern ergibt sich daraus, wie in der Abfolge von Silben nach Wörtern gesucht wird. Die stehen ja nicht einfach da, sondern müssen erst einmal ermittelt werden. Unsere Gehirne sind sehr gut darin, und es fällt uns nicht weiter auf, aber das ist eine Aufgabe, die sehr komplex ist. Das liegt unter anderem daran, dass zwei Variablen unbekannt sind: Welches Wort erkannt werden muss und wo es beginnt. Und um den Beginn der Wörter geht es jetzt. Hier kann unser Gehirn eine Abkürzung nehmen und darauf vertrauen, dass die betonten Silben wahrscheinlich auch Wortan‐ fänge sind. Statistisch sind sie das zumindest in fast 90 % der Fälle. Damit können wir erstmal arbeiten. Umgekehrt heißt das auch, dass unbetonte Silben wahrscheinlich keine Wortanfänge sind. Man könnte diese Heuristik das Prinzip der rhythmischen Segmentierung nennen. Mit diesem Prinzip können Verhörer wie der folgende erklärt werden. Im Lied „Nun ruhen alle Wälder“ von Paul Gerhardt heißt es: Will Satan mich verschlingen / so laß die Englein singen: / dies Kind soll unverletzet sein. Statt unverletzet verhört hier jemand unser letztes. Mit dem Prinzip der rhythmischen Segmentierung wird klar, was hier passiert: weil die Silbe letz in unverletzet betont ist, nimmt das Gehirn an, dass es sich um den Beginn eines Wortes handelt. Die größte Deckungsgleichheit besteht dann bei unser letztes - auch wenn noch zwei Laute angepasst werden müssen (f zu z und t zu s). Etwas ähnliches passiert auch bei einem Verhörer im Lied „Weißt Du, wieviel Sternlein stehen“. Dort heißt es eigentlich „Gott der Herr hat / sie gezählet“. Stattdessen wurde hier verhört, Gott der Herr habe sieben Zähne. Auch hier werden die betonten Silben als mögliche Startpunkte von Wörtern angesehen (schematisch in Abb. 45). 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können 99 Abb. 45: Schematischer Weg des Verhörens bei sie gezählet/ sieben Zähne Auch hier entstehen Verhörer also dadurch, dass bestimmte Prinzipien oder Heuristi‐ ken die Spracherkennung aus dem Signal heraus leiten - und das kann schiefgehen. Es gibt aber auch Verhörer, die dadurch entstehen, dass unser Gehirn Hypothesen über das Gehörte anstellt und dabei übers Ziel hinausschießt. Das sieht man am Beispiel eines Verhörers im Lied „Stille Nacht“. Eigentlich geht der Text so: Stille Nacht, heilige Nacht / Gottes Sohn, o wie lacht / Lieb’ aus deinem göttlichen Mund. Haben Sie sich eigentlich mal gefragt, was das bedeuten soll und wie das alles zusammenpasst? Intendiert ist es wohl so: Lieb ist kein Adjektiv, sondern das Substantiv Liebe (daher Großschreibung und Apostroph, um die e-Tilgung anzuzeigen), und diese Liebe ist das Subjekt des Satzes. Etwas umgestellt wird das klarer: ‚Oh, wie die Liebe aus deinem göttlichen Mund lacht, Gottes Sohn‘. Das ist eine ungewöhnliche grammatische Struktur, ganz und gar nicht leser- oder hörerfreundlich. Es liegt nahe, Gottes Sohn erst einmal als Subjekt zu interpretieren, das lacht. Wie? Lieb aus deinem göttlichen Mund. Aber was tun mit dem o, wie? Ein verbreiteter Verhörer ist, es als Eigennamen zu interpretieren, der als sogenannte Apposition an Gottes Sohn angebunden ist: Gottes Sohn Owi lacht. Das ist kein Zufall, es hat Methode: Wann immer wir syntaktisch mit dem Gehörten nichts anfangen können, probiert unser Gehirn eine andere grammatische Struktur. Besser irgendeine Struktur als gar keine (also das Eingeständnis des Nichtverstehens inklusive Benachrichtigung des Bewusstseins). Und Eigennamen sind in dieser Hinsicht ideal: Die meisten kennen wir nicht, wir sind bereit, fast alles zu akzeptieren - sie sind so etwas wie syntaktische Joker, die fast immer gehen. Deswegen gibt es so viele Verhörer, in denen Eigennamen gehört werden, die eigentlich nicht da sind: Statt Das Affenbaby voll Genuss / hält in der Hand die Kokosnuss wird gehört Das Affenbaby Folgenuss. Statt Dass es treu mich leite / an der lieben Hand wird gehört Dass es Treumich leite - wer auch immer das sein mag. Beide Beispiele enthalten grammatisch fragwürdige Strukturen, die dem Reim oder dem Metrum geschuldet sind (voll Genuss im ersten Beispiel und mich im zweiten würden normalerweise an anderen Stellen realisiert); hier ist also ein Nichtverstehen wahrscheinlicher als bei unauffälligen Strukturen. Und es ist sicher kein Zufall, dass Eigennamen auch im namensgebenden Verhörer mit Lady Mondegreen eine Rolle spielen. Solche Verhörer sind ein Beispiel dafür, dass die Sprachverarbeitung auch hypothe‐ sengesteuert funktioniert; die Hypothese ist hier, dass eine bestimmte grammatische 100 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können Induzierte Verhörer Struktur vorliegen muss, und das Gehörte wird so weit angepasst, bis es funktioniert. Ein anderes Beispiel für diesen Aspekt ist etwas, das man „induzierte Verhörer“ nen‐ nen könnte. Wenn wir gleichzeitig mit der Musik oder dem Gedicht den vermeintlichen Text präsentiert bekommen, dann gibt es einen sehr starken Effekt, diesen Text dann auch tatsächlich zu hören. Sie können das selbst überprüfen: Hören Sie sich einmal das Titellied der Sesamstraße an, z. B. auf YouTube, Spotify o. ä. Plattformen. Es geht nur um die vierte Zeile: Was hören Sie da? Der, die, das / Wer, wie, was / Wieso, weshalb, warum / ? ? ? Jetzt hören Sie sich das ganze noch einmal an, aber mit einem Unterschied: Ich erzähle Ihnen, dass dort eine subversive links-alternative Botschaft untergebracht ist. Es heißt dort nämlich Der, die, das / Wer, wie, was / Wieso, weshalb, warum / Verdis Pappkarton. Hören Sie sich das Lied noch einmal an und lesen Sie dabei den Text. Und? (Übrigens funktioniert das auch mit der dritten Zeile, die vielleicht eigentlich lautet: Der, die das/ Wer, wie, was / Die Sowes hallt herum - überprüfen Sie es! ) Dieser Effekt ist deswegen so erstaunlich, weil er z. T. sehr ausgeprägt ist und wir ihn nicht ausschalten können. Wir wissen recht gut, dass es an der Stelle heißt Wer nicht fragt, bleibt dumm, aber das hilft alles nichts. Wenn wir währenddessen Verdis Pappkarton lesen, hören wir auch Verdis Pappkarton, ganz deutlich. Das zeigt noch einmal eindrucksvoll, dass die Sprachverarbeitung nicht allein signalgesteuert ist. Unser Gehirn hat einen heißen Tipp bekommen, was zu hören ist, und ignoriert die vielen Hinweise, die es auf den tatsächlichen Text hat - und wir werden nicht mal informiert! Man kann also mit Verhörern die Sollbruchstellen identifizieren, an denen das Hörverstehen manchmal scheitert. Das Scheitern kann problemlos in Kauf genommen werden, weil der Nutzen deutlich überwiegt: Die Prinzipien, die das Verstehen behin‐ dert haben, sind - egal ob signal- oder hypothesengesteuert - normalerweise dafür verantwortlich, dass unser Hörverstehen so rapide und problemlos funktioniert. Zur Vertiefung • Die Verhörersammlung von H AC K E & S OWA (2004 ff.) ist sehr unterhaltsam und eine gute Quelle für Ideen für Untersuchungen zu Mondegreens. • Eine Untersuchung, die auf der Basis der Daten von H AC K E & S OWA (2004 ff.) durchgeführt wurde, ist R ONN E B E R G E R -S IB O LD (2010). Sie stellt Original und Mond‐ egreen gegenüber und analysiert, was schiefgegangen ist; auf ihre Ergebnisse stützt sich der Text auf S.-109. • Eine faszinierende und gleichzeitig sehr lesbare Einführung ins Hörverstehen (allerdings in englischer Sprache) ist C UTL E R (2012). 6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können 101 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Es gibt unendlich viele Sachverhalte, reale und vorgestellte, die wir sprachlich ausdrücken können. Unser Vokabular ist aber begrenzt. Wie passt das zusam‐ men? Die Syntax stellt Regeln zur Verknüpfung bereit, und mit denen können wir aus endlich vielen Wörter unendlich viele Sätze bilden. Aber wie funktioniert das genau? Wie können wir die syntaktische Struktur eines einfachen Satzes beschreiben, und wie gelangt man von dort zu seiner Bedeutung? Eine der faszinierendsten Paradoxien der Sprache ist die folgende: Die Anzahl der Wörter einer Sprache ist relativ fest; das Vokabular wird nur relativ langsam erweitert (→ Kap. 1). Es besteht aus ein paar zehntausend Wörtern, einfachen und komplexen. Mit diesem sehr begrenzten Inventar aber können wir alles ausdrücken, was wir möchten. Wir können über Dinge schreiben, die jetzt gerade passieren (Ich lese ein Buch), die passiert sind oder passieren werden; über Dinge, die es gibt, die es gab, und über solche, die es nie gab und nie geben wird (Das Einhorn wird sich geärgert haben). Bonus: Wir können Stellung zum Wahrheitsgehalt solcher Aussagen machen (Die Bild-Zeitung behauptet, der Finanzminister werde zurücktreten) und sie außerdem auf beliebige Art miteinander verknüpfen (Wenn ich Bücher lesen würde, dann sicherlich nicht dieses hier) und ihre Teile gewichten und kontrastieren (BÜCHER lese ich nicht, nur TWEETS). Die Summe aller Sachverhalte, über die wir uns äußern können, ist tatsächlich unendlich groß. Aber wie passt das zusammen? Wie lässt sich mit einem beschränkten Inventar alles sagen? Die Antwort ist: durch eine bestimmte Struktur. Je nachdem, wie wir die einzelnen Wörter anordnen, bedeutet die Menge dieser Wörter mal das eine, mal etwas anderes. Eine Sprache zu kennen bedeutet nicht nur, die Wörter zu kennen, sondern auch die Muster, in die sie eingebettet sind (viele Linguisten würden sagen: die Regeln, mit denen sie verknüpft sind). Das wird an einem einfachen Beispiel deutlich (Abb. 46 und Abb. 47). Abb. 46: Tweet mit Beispielsatz Frankreich besiegt Deutschland Reihen‐ folge und Bedeutung Struktur syntakti‐ sche Tests Abb. 47: Tweet mit Beispielsatz Deutschland besiegt Frankreich In beiden Fällen werden dieselben Wörter verwendet, nämlich die Menge {Deutschland, Frankreich, besiegt}; die geschweiften Klammern zeigen, dass es sich um eine Menge im mathematischen/ mengentheoretischen Sinn handelt. Die Reihenfolge unterscheidet sich in den beiden Tweets allerdings, und das führt dazu, dass die Bedeutung sich um‐ dreht. In vielen anderen Fällen funktioniert das allerdings nicht. Auch die Wörter des Tweets in Abb. 48 lassen sich umstellen: Abb. 48: Tweet mit Beispielsatz Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat Neben Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat funktioniert auch Den besten Kartoffelsalat macht meine Oma. Aber die Bedeutung kehrt sich hier nicht um, sondern ist dieselbe (etwas genauer: Der Sachverhalt, den die Sätze beschreiben, ist derselbe, er wird nur unterschiedlich fokussiert). Warum führt die Änderung der Reihenfolge im einen Fall zu einer Bedeutungsänderung, im anderen nicht? Weil es nicht nur um die Reihenfolge geht, sondern um etwas abstrakteres, nämlich die Struktur. Damit ist gemeint, dass Wörter nicht nur einfach aufeinander folgen, sondern jeweils enger oder lockerer zusammengehören. Meine und Oma etwa sind eng verbunden, Oma und macht hingegen weniger eng. Die Struktur eines Satzes müssen wir mühsam freilegen; sie ist abstrakt und bleibt Auge und Ohr verborgen. Wenn wir lesen oder zuhören, erkennt unser Gehirn solche Strukturen automatisiert in Sekun‐ denbruchteilen. Zu dumm, dass wir diese Kompetenz nicht anzapfen können, nicht mal bei uns selbst. Was bei der syntaktischen Verarbeitung passiert, bleibt bei der syntak‐ tischen Verarbeitung. Aber wenn sich die Struktur von Sätzen nur teilweise offenbart (z. B. durch die Rei‐ henfolge), wie können wir sie ermitteln? Dazu gibt es eine ganze Reihe von syntak‐ tischen Tests und Proben. Eine solche Probe ist die Verschiebeprobe. Mit ihr wird geprüft, ob zwei oder mehr Wörter enger zusammengehören, ob sie eine sog. Konsti‐ tuente bilden: Was gemeinsam verschoben werden kann, ist eine Konstituente (und kann in [eckige Klammern] gesetzt werden). Wenn wir das im Satz oben mit den besten Kartoffelsalat probieren, funktioniert das ([Den besten Kartoffelsalat] macht meine Oma). Bei den beiden Wörtern Oma macht geht das nicht - *[Oma macht] meine den besten Kartoffelsalat ist ungrammatisch. Sie bilden zusammen keine Konstituente. 104 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Struktur‐ baum Syntaktische Funktion Wenn den besten Kartoffelsalat eine Konstituente ist, dann auch gleichzeitig meine Oma (schließlich werden auch diese beiden Wörter gemeinsam verschoben). Damit ergibt sich als (vorläufige) Struktur für den Satz: Abb. 49: Tweet mit Beispielsatz Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat und Struktur Darauf deutet auch ein anderer Test hin, die sog. Pronominalisierungsprobe: Was gemeinsam durch ein Pronomen wie er, sie, es, ihr, ihm oder ihn ersetzt werden kann, ist eine Konstituente (Meine Oma ist durch sie ersetzbar, den besten Kartoffelsalat durch ihn - Sie macht ihn). Neben diesen Tests gibt es noch eine Reihe weiterer, die Hinweise auf die Struktur geben. Das Faszinierende ist: Ein Satz ist mehr als die Summe seiner Wörter. Mit den rich‐ tigen Mitteln können wir die lineare Abfolge der Wörter um eine zusätzliche Dimen‐ sion anreichern. Diese zweite Dimension können wir visualisieren. Das geht prinzipiell mit der Klammernotation, aber wesentlich übersichtlicher ist es, wenn wir die zweite Dimension ganz wörtlich nehmen und für die Sätze zweidimensionale Struktur‐ bäume zeichnen. Das sieht dann zum Beispiel so aus: Abb. 50: Syntaktische Struktur des Satzes Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat In diesem Strukturbaum finden sich die Informationen aus der Klammernotation wie‐ der: Meine Oma und den besten Kartoffelsalat sind Konstituenten, sodass der Satz aus drei Konstituenten besteht, nämlich den beiden und dem Verb macht (die Abkürzung „NGr“ steht für Nominalgruppe). Zur Beschreibung der Struktur fehlt jetzt noch ein Puzzleteil. Die Konstituenten stehen nicht einfach zufällig nebeneinander, sondern sie sind aufeinander bezogen. Sie erfüllen bestimmte syntaktische Funktionen. Meine Oma etwa fungiert als Subjekt zum Verb; den besten Kartoffelsalat ist das Objekt. Hier fühlen Sie sich vielleicht unangenehm an Ihren Grammatikunterricht in der Schule erinnert, wo ja genau diese Zuschreibung eingeübt wird. Was allerdings in 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 105 Verbvalenz der Schule oft nicht thematisiert wird, ist, wozu das alles gut sein soll. Dabei ist das relativ einfach: Syntaktische Funktionen wie Subjekt, Objekt, adverbiale Angabe, Attribut usw. sind entscheidend, wenn wir den Zusammenhang zwischen Grammatik und Bedeutung verstehen wollen. Sie sind das Bindeglied zwischen der Struktur in Abb. 50 und der Satzbedeutung. Warum? Weil es für die Satzbedeutung z. B. wichtig ist, welche Rolle eine Konstituente spielt. Wir haben das oben gesehen: In England gewinnt gegen Deutschland ist England das grammatische Subjekt, und grammatische Subjekte werden meist als Handelnde des Verbs interpretiert. Das Subjekt von besiegen ist die Person oder Gruppe, die das Gewinnen durch ihre Handlung bewusst herbeiführt, und das Subjekt von machen ist die Person oder Gruppe, die das Machen kontrolliert. Diese Rolle, die die Personen oder Gruppen spielen, wird ‚Agens‘ genannt (→-Kap.-13). Wir können auch diese Information im Strukturbaum abbilden, nämlich mit Pfeilen. Wenn meine Oma das Subjekt des Verbs ist, dann geht ein Pfeil von dieser Konstituente zum Verb. Vollständig annotiert sieht der Satz dann so aus wie in Abb. 51 (mit attr für Attribute, obj für Objekte und präd für das Prädikat des Satzes). Abb. 51: Syntaktische Struktur des Satzes Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat inklusive syntaktischer Funktionen Subjekte und Objekte sind Ergänzungen zum Verb. Damit ist das Verb Dreh- und An‐ gelpunkt des Satzes, und wir können die Struktur des Satzes zum Teil schon über das Verb beschreiben: machen beispielsweise nimmt ein Subjekt und ein Objekt; schlafen nur ein Subjekt; geben ein Subjekt und zwei Objekte. In gewisser Weise sind Subjekte und Objekte im Satz, weil das Verb sie einlädt; und sie kommen in der Form, die das Verb fordert. Das Verb machen z. B. fordert ein Akkusativobjekt (den Kartoffelsalat), das Verb helfen hingegen ein Dativobjekt (Ich helfe dem Mann). Im Verb eingeschrieben sind also die Zahl, Funktion und die Form der Ergänzungen. Wir nennen das die Verbvalenz. Diese Abhängigkeit der Satzglieder vom Verb ist gleichzeitig der Grund dafür, dem Verb eine besondere Funktion für den Satz zuzuschreiben: Es ist das Prädikat des Satzes, gewissermaßen der Kernbestandteil. Und Attribute beschreiben Substantive genauer. Im Beispiel oben geht es nicht um irgendeinen beliebigen Kartoffelsalat, sondern um den, der der beste ist. Als Attribute 106 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Form vs. Funktion können Adjektive auftreten, aber z. B. auch Nominalgruppen (der Kartoffelsalat meiner Oma) oder Relativsätze (der Kartoffelsalat, der sehr gut ist). Es lohnt sich, an dieser Stelle auf einen wichtigen Unterschied hinzuweisen, nämlich den zwischen Form und Funktion. Syntaktische Einheiten haben eine bestimmte Form, und zwar an und für sich. Meine Oma ist immer eine Nominalgruppe (oder Nominal‐ phrase, das bedeutet dasselbe), egal, in welchem Kontext sie verwendet wird. Aber nur in Sätzen wie Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat ist diese Konstituente auch das Subjekt. Dieselbe Konstituente kann in anderen Kontexten als Objekt auftreten (z. B. Ich rufe meine Oma an) oder von einer Präposition abhängen (z. B. das Geschenk für meine Oma). Wortarten und Merkmale sind relativ fest eingebaut und unveränder‐ bar, ihre Funktion aber ist variabel. Das ist wie mit LEGO © -Steinen. Wir können einen Stein wie klassifizieren: Er ist rot, drei Einheiten lang und an einer Seite schräg. Das entspricht den Wortarten bei sprachlichen Einheiten. So sehr der Stein sich auch anstrengt - daran kann er nichts ändern. Seine Funktion aber ist veränderbar: Er kann in einem Haus Teil eines Daches sein - oder in einem Rennauto (Abb. 52) oder Flugzeug die obere Abdeckung des Motorraums (Abb. 53), oder der Unterbau einer Raumfahrt-Konsole (Abb. 54). Abb. 52: Roter Dreier-Stein in seiner Funktion als Abdeckung des Motorraums eines Rennautos (© LEGO Gruppe) 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 107 Abb. 53: Roter Dreier-Stein in seiner Funktion als Abdeckung des Motorraums eines Flugzeugs Abb. 54: Roter Dreier-Stein in seiner Funktion als Unterbau einer Konsole Ein und dasselbe Teil kann in unterschiedlichen Bausätzen unterschiedliche Aufgaben übernehmen - ganz ähnlich ist es auch mit sprachlichen Einheiten. Ihre Form und ihre Funktion sind bis zu einem gewissen Grad unabhängig. Und wie bei LEGO-Steinen sind den Aufgaben und Funktionen prinzipiell keine Grenzen gesetzt: Unser Stein kann mit etwas Fantasie auch als Rutsche dienen, mit etwas mehr Fantasie als Backofen, und mit noch mehr Fantasie als Sektglas. Kinder sind oft gut darin, die konkrete Form zu ignorieren und ihre Fantasie spielen zu lassen. Und ganz ähnlich können auch sprachliche Einheiten mit etwas Fantasie verschiedene Funktionen übernehmen: So 108 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Verben regieren Ergänzungen morpholo‐ gische Markie‐ rung kann z. B. ein Substantiv wie Lego als Verb verwendet werden (Er legot schon den ganzen Tag), oder als Zahlwort (Wie spät ist es? - Viertel vor Lego). Solche Konversionen sind auffällig und expressiv, aber sie kommen vor. Wir haben oben die Struktur mit der Umstell- und Ersetzungsprobe motiviert. Es gibt aber noch weitere Hinweise. Neben der Reihenfolge sind auch die Formen der Wörter ganz offen sichtbar; etwas versteckter ist, dass diese Formen oft aufeinander abgestimmt und bezogen sind. Oben wurde gesagt, dass ein Verb wie helfen eine Er‐ gänzung im Dativ fordert (Er hilft seinem Bruder). Was heißt das konkret? Das Objekt seinem Bruder ist flektiert, wir sehen das am Suffix -em bei seinem. Dieses Suffix zeigt, dass seinem Bruder das Objekt von helfen ist (und nicht das Subjekt). Die konkrete Gestalt der Wortform hängt also von einer anderen Einheit im Satz ab. Man sagt, dass das Verb die Form seiner Ergänzungen regiert, und das trifft es auch ganz gut - das Verb ist der Chef und bestimmt, wer in welcher Form mit in den Satz darf. Wir können diese Abhängigkeit sichtbar machen, indem wir das Verb austauschen, z. B. gegen unterstützt: *Er unterstützt seinem Bruder. Dieser Austausch führt dazu, dass das Objekt seine Form ändern muss (Er unterstützt seinen Bruder) - es hängt also tatsächlich vom konkreten Verb ab. Diese sogenannte morphologische Markierung, die sich vor al‐ lem in der Form der Suffixe niederschlägt, ist ein wichtiges Indiz, wenn es um die Entdeckung der Struktur geht. Die morphologische Markierung ist im Deutschen übrigens relativ reichhaltig, wenn man sie mit anderen westeuropäischen Sprachen vergleicht. Nominalgruppen kommen im Deutschen in einem von vier Kasus vor, das ist deutlich mehr als im Englischen, Niederländischen oder Französischen (und deutlich weniger als in vielen osteuropäischen Sprachen wie dem Polnischen mit fünf, dem Estnischen mit 14 oder dem Ungarischen mit 18 Kasus! ). Was nützt ein reichhaltiges Kasussystem? Nun, wir können im Deutschen die Konstituenten relativ frei im Satz verschieben. Sprachen, in denen das Kasussystem abgebaut wurde, haben häufig eine deutlich festere Wortstellung (→ Kap. 10). So sind im heutigen Englisch von den vier Kasus, die es im Altenglischen noch gab, nur noch zwei übriggeblieben, und die auch nur bei den Personalpronomen (I vs. me, she vs. her etc.). Nominalgruppen wie the dog flektieren nicht mehr nach Kasus. Und gleichzeitig ist die Wortstellung ziemlich strikt: Vor dem finiten Verb steht das Subjekt (1a), nicht das Objekt (1b). Satz (1b) ist nicht per se ungrammatisch, wohl aber in der Lesart, dass der Hund die Hausaufgaben gefressen hat. Wenn wir ausdrücken möchten, dass die Hausaufgaben den Hund gefressen haben, ist das zwar unwahrscheinlich, aber (1b) wäre ein wohlgeformter Satz, der diesen Sachverhalt bezeichnet. Nebenbei bemerkt: Das Objekt kann auch im Englischen durchaus vor dem Subjekt realisiert werden, allerdings nur mit einigem Aufwand. Wir müssen die Konstituente in eine Konstituente einbetten, die It was ____ lautet, und an die ein Relativsatz angeschlossen ist (1c). 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 109 Reihen‐ folge und Bedeutung (1) a. The dog ate my homework. - b. *My homework ate the dog. - c. It was my homework that the dog ate. Im Deutschen ist das anders: (2) a. Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen. - b. Meine Hausaufgaben hat der Hund gefressen. Egal, in welcher Reihenfolge die Konstituenten auftreten, sie bedeuten dasselbe - das haben wir oben beim Kartoffelsalat-Satz gesehen und nicht richtig erklären können. Jetzt geht das, und wir können außerdem erklären, warum bei Frankreich besiegt Deutschland / Deutschland besiegt Frankreich eine Umstellung eine Bedeutungsände‐ rung bewirkt. Ländernamen wie Frankreich und Deutschland tragen nur im Genitiv ein Flexionssuffix (der Niedergang Deutschlands) und unterscheiden sich ansonsten in den Kasus nicht. Der Akkusativ sieht so aus wie der Nominativ. Deswegen lassen sie sich tauschen, ohne dass der Satz ungrammatisch wird, und die Bedeutung des Satzes ändert sich. Das funktioniert auch mit vielen anderen Substantiven und Nominalgruppen wie die Frau und das Kind (Das Kind gewinnt gegen die Frau / Die Frau gewinnt gegen das Kind), nur nicht mit maskulinen Substantiven. Der Matrose gewinnt gegen den Mann ist in Ordnung, aber wenn wir die beiden Nominalgruppen tauschen, ist der Satz *Den Mann gewinnt gegen der Matrose ungrammatisch. Wenn wir hier Bedeutungsänderung möchten, müssen wir die Form der Konstituenten ändern. Das Austauschen von einzelnen Einheiten, um zu prüfen, ob sie mit anderen Einheiten in Verbindung stehen, ist ein wertvolles Werkzeug. Wir können so z. B. zeigen, dass die Beziehungen und Verflechtungen in der Nominalgruppe besonders dicht sind. Sehen wir uns dazu eine typische Nominalgruppe mit Artikel, Adjektiv und Substantiv an: (3) das schöne Bild Diese Nominalgruppe könnte so als Subjekt eines Satzes verwendet werden (Das schöne Bild hängt im Wohnzimmer). Wenn wir nun aus dem einen Bild mehrere Bilder machen, dann ändern sich automatisch auch Artikel und Adjektiv (die schönen Bilder). Etwas ähnliches passiert, wenn der Kontext nicht einen Nominativ, sondern z. B. einen Genitiv fordert (der Preis des schönen Bildes) - auch hier ändern alle Einheiten ihre Form gemeinsam. Die einzelnen Teile der Nominalgruppe in (3) sind also aufeinander abgestimmt. Sie stehen nicht einfach nur nacheinander, sind also durch ihre Reihenfolge ausgezeichnet, 110 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Struktur und Be‐ deutung sondern miteinander über vielfältige Beziehungen verwoben. Diese engere Verbunden‐ heit der Teile solcher Nominalgruppen spiegelt sich unter anderem darin wider, dass sie nur gemeinsam verschoben oder ersetzt werden können. Das geht so weit, dass Flexionssuffixe notfalls wandern können. In einer voll ausgebauten Nominalgruppe wie dieser gute Wein ist die Kasusinformation (Nominativ) vor allem am Demonstrativpronomen dieser ausgedrückt. Fehlt so ein Pronomen oder Artikel in der Nominalgruppe, dann springt das Suffix -er auf das Adjektiv, wie in guter Wein. Die Form des Adjektivs (gute vs. guter) hängt nicht nur vom Kasus, Numerus und Genus der Nominalgruppe ab, sondern auch davon, ob überhaupt ein Artikelwort oder Pronomen die Nominalgruppe einleitet. Die Struktur entzieht sich also teilweise neugierigen Blicken, ist aber durch Tests ermittelbar. Syntaktiker gehen einen Satz oft so an, als ob sie eine unbekannte Maschine vor sich hätten: Sie wissen, was die Maschine macht (sie kennen die Bedeutung des Satzes), aber sie wollen verstehen, wie sie das macht. Deswegen wird der Satz zerlegt, zerdehnt, verdreht - alles, um zu prüfen, wie die Teile zusammenhängen. So kann die Struktur vorsichtig freigelegt werden. Wir haben jetzt einer Kette von Wörtern eine Struktur gegeben, und in dieser Struk‐ tur auch die Funktionen bestimmt, die die einzelnen Teile haben. Die Funktionen, die Wörter und Wortgruppen im Satz übernehmen, sind nun gemeinsam mit dem Verb entscheidend, wenn wir erklären möchten, wie der Satz zu seiner Bedeutung kommt. Hier ist noch einmal die Struktur, die wir dem Satz zugewiesen haben: Abb. 55: Syntaktische Struktur des Satzes Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat inklusive syntaktischer Funktionen (Wiederholung von Abb. 51) Das Verb ist in unserer Darstellung das Zentrum des Satzes; hier kommen die wichtigsten Funktionen zusammen. Daher ist die Verbbedeutung für die Satzbedeutung ebenfalls zentral. Was ist die Bedeutung von machen? Im Valenzwörterbuch (online unter https: / / grammis.ids-mannheim.de/ verbs/ view/ 400774/ 1) ist als Bedeutung unter anderem angegeben: „jemand/ etwas lässt etwas durch Handlungen entstehen; herstel‐ len, anfertigen“. In dieser Umschreibung sind zwei Leerstellen, jemand/ etwas und etwas, deren konkrete Füllung sich von Satz zu Satz unterscheiden kann (Verben wie machen werden daher auch ‚zweistellige‘ oder ‚zweiwertige‘ Verben genannt): 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 111 (4) a. Ich mache Abendbrot. - b. Wir machen Fotos vom Ausflug. - c. Die Kinder machen Marmelade. Gemeinsam haben Ich, Wir und Die Kinder, dass sie jeweils das grammatische Subjekt ihres Satzes sind (das im Nominativ erscheint). Grammatische Subjekte wiederum führen in den meisten Fällen - wie oben schon angesprochen - die Verbhandlung aus und lassen das etwas entstehen (Abendbrot, Fotos vom Ausflug und Marmelade). Sie können also die erste Leerstelle in der Umschreibung füllen. Die jeweiligen Objekte füllen die zweite Leerstelle. In unserem Beispiel ist meine Oma das Subjekt, also die Macherin, und den besten Kartoffelsalat ist das Objekt, als das Gemachte. Damit ist die Verbvalenz gesättigt, es gibt keine offenen Stellen mehr, und es gibt auch keine anderen Konstituenten mehr im Satz, die noch angebunden werden müssten. Alles passt. Nun haben wir erklärt, dass Meine Oma etwas herstellt, nämlich den besten Kartof‐ felsalat. Aber wie kommen wir zur Bedeutung dieser beiden Konstituenten? Dazu braucht es nicht mehr ganz viel, wenn wir annehmen, dass Wörter eine Bedeutung haben. Die Bedeutung von Oma wäre so etwas wie ‚Großmutter‘ (mit allem, was typischerweise noch so dazu gehört, aber das ignorieren wir jetzt). Die Bedeutung von meine ist abstrakter: Aus der Menge aller Personen oder Dinge, auf die das Wort sich bezieht, wird etwas als zum Sprechenden/ Schreibenden gehörend gekennzeichnet. Kartoffelsalat bezeichnet ‚Salat, dessen Hauptbestandteil Kartoffeln sind‘; der Artikel den zeigt, dass es um einen bestimmten Kartoffelsalat geht und nicht um Kartoffelsalat allgemein; und besten schließlich beschreibt als Attribut Kartoffelsalat näher; es geht nicht um einen irgendwie vorerwähnten Kartoffelsalat (das wäre der Fall bei Meine Oma macht den Kartoffelsalat), sondern um einen speziellen, singulären - nämlich den ‚am meisten guten‘. Wir haben also die Bedeutung der einzelnen Wörter verrechnet, und zwar zu größeren Einheiten, den Konstituenten; diese Konstituenten lassen sich wiederum über die syntaktischen Funktionen mit der Verbbedeutung und den Leerstellen (der Verbvalenz) verrechnen. So ergibt sich die Satzbedeutung aus der Bedeutung der Wörter und der syntaktischen Struktur. Das ist im Kern, was die Syntax ausmacht: Wir versuchen herauszufinden, welche Funktionen welche sprachlichen Einheiten haben und wie die komplexe Bedeutung von Wortgruppen und Sätzen zustandekommt. Unser Modell braucht also ein Lexikon, in dem die Wortbedeutung festgehalten ist, inklusive der Valenz wie bei machen; und es braucht Regeln, nach denen Wörter zu größeren Einheiten verknüpft werden und nach denen die Bedeutung kompositionell verrechnet wird. Damit kommen wir in unserem einfachen Beispiel ziemlich weit. In anderen Fällen ist das anders: In Sätzen wie (5) ist eine Verrechnung der Wörter weniger gut möglich; es scheint, als seien viel mehr Eigenschaften fixiert und nicht änderbar (vgl. 6): 112 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax Komposi‐ tion vs. Konstruk‐ tion (5) a. Er hat gut reden. - b. Sie hat gut lachen. (6) a. ? Gut reden hat sie. - b. *Sie hat schlecht reden. - c. *Sie hat gut sehen. Eine Änderung der Wortstellung wie in (6a) wirkt etwas seltsam; eine Änderung des Adjektivs ungrammatisch (6b), genau wie die Ersetzung des Verbs durch bestimmte andere (6c). Eine angemessenere Beschreibung solcher Sätze nimmt diese Starrheit und Fixiertheit ernst und beschreibt die Sätze als Konstruktionen, die Leerstellen haben - ganz ähnlich, wie wir das oben mit dem Verb machen getan haben, nur hier eben auf der Ebene von Sätzen statt von Wörtern. Es ist noch ungeklärt, wie groß der Anteil kompositioneller Beschreibungen in der Grammatik ist und wie groß der Anteil konstruktioneller, wenn man eine Sprache wie das Deutsche erfassen möchte. Fälle wie (5) wurden lange ignoriert oder als Randphä‐ nomene abgetan, aber sie sind wohl deutlich häufiger als ursprünglich angenommen. Unbestritten ist aber, dass die Syntax der kreative Motor der Sprache ist - mit ihr können wir trotz begrenztem Inventar alles ausdrücken. Sie können das selbst ausprobieren. Auf den Wikipedia-Seiten gibt es in der linken Navigation relativ weit oben die Funktion „Zufälliger Artikel“. Klicken Sie dreimal hintereinander darauf und notieren Sie sich jeweils den Titel der Seite (es werden vor allem Personen- und Ortsnamen sein). Wenn kein Personenname darunter ist, klicken Sie so lange weiter, bis Sie einen haben. Dann bilden Sie einen Satz mit diesen drei Wörtern und/ oder Wortgruppen. Denken Sie sich ein Verb aus, das passt, und ergänzen Sie gegebenenfalls Präpositionen und Flexionssuffixe. Mein Satz lautet: Günter Simon verkauft Campanareliefs in Cainsdorf. Der Satz ist einigermaßen profan, vielleicht ist das bei Ihrem Satz ähnlich, vielleicht ist er glamouröser - ziemlich sicher aber hat den Satz so noch niemals jemand in der langen Geschichte des Deutschen geäußert. Googlen Sie ihn zur Sicherheit. Er wird in keiner zugänglichen Quelle belegt sein. Ich würde sogar noch weiter gehen: Hunderte Millionen von Sprecherinnen und Sprechern, von denen viele geschrieben und fast alle gesprochen haben, sind dennoch nicht auf diesen Satz gekommen. Das hier ist die Premiere. Das zeigt, wie gigantisch das Reich der Möglichkeiten ist, das die Syntax aufschließt. Wir nutzen nur einen winzigen Teil. 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 113 Zur Vertiefung • Eine hervorragende Einführung in die Syntax (und zwar in ein oberflächennahes, kompositionelles Modell) bietet Peter E I S E N B E R G ( 5 2020) in den ersten drei Kapiteln seiner Grammatik des Deutschen (auch der Rest ist empfehlenswert, ist aber keine Einführung mehr). • Eine gut lesbare Vorstellung syntaktischer Tests, zusammen mit ihren Vorzügen und Nachteilen, kann man in Kapitel 1.3 in Stefan M ÜLL E R S (2010) Buch „Gramma‐ tiktheorie“ nachlesen. 114 7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Kommas sind Lesehilfen. Sie steuern die Erwartungen der Lesenden, wie es im Text weitergeht, sie schließen bestimmte Wege und öffnen dafür andere. Für die Schreibenden sind sie allerdings oft schwierig. Dabei lassen sich alle Kommas auf drei Grundtypen zurückführen. Alle Kommas? Nein, ein neues Komma, das sich ausbreitet, passt nicht so recht ins System … Kommas haben einen schlechten Ruf. Dabei können die kleinen Zeichen gar nichts dafür, sie bekommen das ab, was bei ihrer Vermittlung in der Schule alles schiefläuft. Die Regeln sind kompliziert, ständig macht man Fehler, und so richtig zu verstehen ist das alles nicht. Wenn man Glück hat, setzt man Kommas nach Gefühl und fährt damit gut. Wenn man Pech hat, verstößt man ständig gegen Regeln. Aber so schlimm und kompliziert, wie es scheint, ist es gar nicht. In diesem Kapitel sollen drei Dinge gezeigt werden. Erstens: Kommas sind wichtig für Leserinnen und Leser. Zweitens: Wir können die Kommaregeln auf drei einfache Grundregeln redu‐ zieren. Und drittens: Wir können beobachten, wie sich ein neues Komma ausbreitet. Kommas können nerven, das stimmt - aber sie sind gar nicht für uns Schreibende gemacht, sondern für die Lesenden. Es gibt einige bekannte und sehr plakative Beispiele dafür (Abb. 56): Abb. 56: Tweet des Dudenverlags mit einem Argument für Satzzeichen Disambi‐ guierendes Komma In einem solchen Fall unterscheidet das Komma (oder seine Abwesenheit) tatsächlich zwei Lesarten. So etwas kommt auch in freier Wildbahn vor, ist aber extrem selten. Ein schönes Beispiel ist ein Beitrag in der BILD-Zeitung, in dem die Boxerin Christina Hammer von ihren gemeinsamen Jugenderlebnissen mit Fußballer Shkodran Mustafi erzählt (Abb. 57). Abb. 57: Ein Komma zu viel macht aus einem Fußballer einen Gewohnheitstrinker; Quelle: BILD Online (https: / / www.bild.de/ sport/ mehr-sport/ christina-hammer/ boxerin-em-star-shkodran-mustafi-46485638 .bild.html) Der letzte Satz hat ohne das Komma eine andere (wahrscheinlich die intendierte) Lesart als mit dem Komma: Er war immer voll auf Fußball fokussiert, nicht voll und auf Fußball fokussiert. Hier gibt es zwei Lesarten, und sie unterscheiden sich nur durch das Komma. Das Komma disambiguiert. Das ist aber wie gesagt die Ausnahme. In den allermeisten Fällen gibt es nur eine Lesart, egal, ob mit oder ohne Komma (z.-B. Abb. 58). Abb. 58: Tweet mit einem Komma, der auch ohne dieses Komma dasselbe bedeutet Auch ohne Komma vor dass ergibt sich keine andere Lesart: Bei der Pille habt ihr uns erzählt dass das Thromboserisiko verkraftbar ist. Das Komma sichert hier also nicht unmittelbar das Verständnis. Aber was macht es dann? Das Komma macht eigentlich drei verschiedene Sachen, und hier sind wir eigentlich schon beim zweiten Punkt, einer sehr vereinfachten Version der Kommaregeln. Ich 116 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Nebenord‐ nungs‐ komma Heraus‐ stellungs‐ komma komme weiter unten auf den ersten Punkt zurück (wie hilft das Komma beim Lesen? ), aber es hilft, wenn wir erstmal das System verstanden haben. Das erste Komma sagt: Nebenordnung! Es ersetzt z. B. und. Wir können schreiben Äpfel und Bananen und Birnen - oder wir tauschen das erste und durch ein Komma aus und schreiben Äpfel, Bananen und Birnen. Das Komma signalisiert, dass Äpfel auf einer Stufe mit Bananen und Birnen zu verarbeiten ist; es handelt sich um gleichberechtige Einheiten, die einander nebengeordnet sind (die Einheiten sind koordiniert, sagen Linguisten). Das ist ein Bereich, den die allermeisten intuitiv und sicher beherrschen; außerdem ist dieses Komma nicht besonders häufig, zumindest im Verhältnis zu allen anderen Kommas - nur ungefähr etwa jedes zehnte Komma ist ein Nebenordnungs‐ komma. Es gibt auch nur wenige Probleme und Zweifelsfälle. Eine Gruppe von Zweifelsfällen entsteht, weil und und das Nebenordnungskomma sich gegenseitig ausschließen. Beides zusammen geht nicht: *Äpfel, und Birnen. Bei anderen nebenordnenden Wörtern (linguistisch ‚Konjunktionen‘) ist das aber anders. So wird die Konjunktion aber üblicherweise kommatiert (nicht schön, aber schlau). Muss man nun auswendig lernen, welche Konjunktionen mit Komma vorkommen und welche ohne? Nein, denn es gibt einen einfachen Test: Alle Konjunktionen, die beliebig oft wiederholbar sind, sind ‚echt koordinierend‘ und treten ohne Komma auf (z. B. oder: Äpfel oder Bananen oder Birnen → Äpfel oder Bananen); alle Konjunktionen, die nur einmal vorkommen können, brauchen ein Komma (z. B. aber: *süß aber teuer aber ungesund → süß, aber teuer). Die entsprechende Kommaregel lautet also: Wenn zwei Einheiten nebengeordnet werden und sie nicht mit einer echt-koordinierenden Konjunktion verbunden sind, wird ein Komma gesetzt. Damit sind auch andere Fälle abgedeckt, z. B. solche, bei denen nicht einzelne Wörter, sondern größere Einheiten nebengeordnet sind: (1) Er betrat sein Büro, setzte sich auf den Sessel und wartete. Hier wird jeweils das Verb mit seinen Objekten koordiniert (wenn es denn welche hat - wartete kommt allein vor). Nebengeordnet sind hier also ziemlich unterschiedlich große Einheiten: (2) a. betrat sein Büro - b. setzte sich auf den Sessel - c. wartete Das zweite Komma sagt: Herausstellung! Das sind Teile von Sätzen, die in der einen oder anderen Art zusätzliche Information sind und vom eigentlichen Satz abgesetzt werden. Solche Herausstellungen können am linken Satzrand auftreten (Großmutter, warum hast du so große Augen? ), am rechten Rand (Sie hat wirklich große Augen, meine Großmutter), oder irgendwo in der Mitte (Sie hat, das ist wirklich wahr, unglaublich 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 117 Satzgren‐ zenkomma große Augen). In allen Fällen gibt es einen Satz (z. B. Sie hat unglaublich große Augen), der durch zusätzliches Material (z. B. das ist wirklich wahr) ergänzt wird. Hier muss nicht zwangsläufig ein Komma stehen; andere Zeichen - z. B. Gedankenstriche - funktionieren auch. Auch das Herausstellungskomma ist nicht besonders häufig (schätzungsweise jedes sechste Komma ist ein Herausstellungskomma), und auch hier gibt es keine großen Probleme. Gerade eingeschobene Herausstellungen wie Sie hat, das ist wirklich wahr, unglaublich große Augen sind intonatorisch wenig integriert. Was heißt ‚intonatorisch wenig integriert‘? Mit dem Begriff Intonation bezeichnet man in der Linguistik unter anderem die Satzmelodie. Es ist, als wenn der Satz das ist wirklich wahr eine Art Fremdkörper im Satz Sie hat unglaublich große Augen ist. Er wird tiefer realisiert als die Teile davor und danach. Schreibende scheinen das Bedürfnis zu haben, diese Unangepasstheit auch grafisch zu markieren. Die entsprechende Regel des zweiten Kommas lautet: Herausstellungen können durch Kommas markiert werden. Ob etwas eine Herausstellung ist, lässt sich gramma‐ tisch feststellen (eine Einheit ist grammatisch nicht in den Rest des Satzes integriert, z. B., weil dieser Rest des Satzes auch ohne die betreffende Einheit schon „fertig“ ist). Manchmal können Einheiten als Herausstellung oder Teil des Satzes interpretiert werden; das hängt von der Intention der Schreibenden ab. (3) a. Ich habe dir mit ganz viel Liebe ein Brot geschmiert. - b. Ich habe dir, mit ganz viel Liebe, ein Brot geschmiert. - c. Ich habe dir - mit ganz viel Liebe - ein Brot geschmiert. - d. Ich habe dir (mit ganz viel Liebe) ein Brot geschmiert. In (3a) ist die Konstituente mit ganz viel Liebe syntaktisch integriert; sie modifiziert als adverbiale Angabe das Verb. Dieselbe Konstituente ist in (3b-d) nicht integriert, und die Nicht-Integriertheit kann in der Schrift mit unterschiedlichen Mitteln ausgedrückt werden (Kommas, Gedankenstriche, Klammern). In der gesprochenen Sprache können die Herausstellungen in (3b-d) mit einer speziellen Intonation markiert werden. Das dritte Komma schließlich sagt: Satzgrenze! Es ist mit Abstand das häufigste Komma, verantwortlich für etwa drei Viertel aller gesetzten Kommas. Der Standardfall ist, dass zwei Sätze voneinander abgegrenzt werden, meist ein Haupt- und ein Neben‐ satz: Er kommt zu spät, weil er verschlafen hat oder Er fordert, dass die Schule erst um neun Uhr beginnt. Das Komma markiert hier die Grenze zwischen Sätzen. Was macht einen Satz zum Satz? Meist wird angenommen, dass das Verb auf das Subjekt des Satzes abgestimmt sein muss (dass es ‚finit‘ oder ‚gebeugt‘ ist). Das ist im ersten Beispiel der Fall (er … hat verschlafen), im zweiten auch (die Schule … beginnt). Diese Standardfälle bereiten insgesamt kaum Probleme. Etwas kniffliger wird es, wenn ein Satz eingeschoben ist und ein Substantiv näher bestimmt: Dann wird aus Der Mitarbeiter hatte verschlafen der komplexere Satz Der Mitarbeiter, der zu spät kam, hatte verschlafen. Der eingeschobene Satz hat zwei Grenzen, eine linke und eine rechte, und 118 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Infinitiv‐ gruppe Anbin‐ dungspro‐ bleme beide werden mit Kommas markiert. Auch hier ist das Verb des eingeschobenen Satzes finit (der … kam). Chronische Probleme - und zwar seit Jahrzehnten! - machen Sätze, die im engeren Sinn gar keine Sätze sind, sondern sogenannte Infinitivgruppen oder ‚erweiterte In‐ finitive‘ wie den Müll rauszubringen im Satz Sie hatte wieder vergessen, den Müll raus‐ zubringen. Das Verb rausbringen erscheint hier als zu-Infinitiv, es ist nicht finit - es hat kein Subjekt. Wenn wir den eingebetteten Satz umformen, können wir ein Subjekt einbauen, und dann ändert sich auch die Verbform (Sie hatte wieder vergessen, dass sie den Müll rausbringt). Die Verbform rauszubringen ist also nicht finit, es gibt folglich gar keinen eingebetteten Satz - warum wird dann überhaupt ein Komma gesetzt? Weil das Verb eine Art Zombie ist und noch einige Eigenschaften finiter Verben besitzt. Die wichtigste: Es bindet Ergänzungen an sich. Im obigen Satz ist den Müll eine Ergänzung von rausbringen; es spezifiziert, was genau rausgebracht wird. Diese Ergänzung (die in der Valenz von rausbringen angelegt ist - jemand bringt etwas raus) wird von rausbrin‐ gen auch in der zu-Infinitiv-Variante gefordert (anders als das Subjekt). Wir haben hier einen interessanten Fall: Nach den aufgestellten Regeln verhalten sich Infinitivgruppen nur halbwegs wie Sätze, der Fall ist schlichtweg nicht eindeutig. Und diese Nicht-Eindeutigkeit spiegelt sich in der Unsicherheit der Schreiberinnen und Schreiber und der größeren Variation wider. Wir finden sowohl kommatierte also auch nicht-kommatierte Infinitivgruppen. Das ist ein Muster, das uns noch mehrfach begegnen wird: Die Schrift zeichnet eine grammatische Kategorie aus (die Kategorien Satzanfang, Substantiv, Wort etc.) - die grammatische Kategorie selbst franst aber an ihren Rändern aus und wir sind in einigen Fällen unsicher - diese grammatische Uneindeutigkeit führt zur Variation auf der Ebene der Schrift. Wir haben oben zwei Beispiele von Minimalpaaren gesehen, also Sätze, deren Be‐ deutung sich nur durch die Anwesenheit oder Abwesenheit des Kommas unterscheidet. Beides sind ‚freak accidents‘: Es muss einiges zusammenkommen, damit zwei Lesarten entstehen. Das ist sehr unwahrscheinlich, und solche Fälle sind entsprechend extrem selten. Es gibt aber einen Bereich, in dem es systematisch zu Minimalpaaren kommt - und das sind Infinitivgruppen. Wie gesagt: Verben, die als zu-Infinitive auftreten, verhalten sich wie Zombies - sie sind nicht lebendig, aber auch nicht tot; sie nehmen nicht alle Ergänzungen, die sie normalerweise nehmen, aber auch nicht gar keine. Interessant wird es nun, wenn sol‐ che Infinitivgruppen selbst als Ergänzung eines Verbs auftreten. Das Verb erlauben z. B. fordert einen zu-Infinitiv: Er erlaubt mir, ins Büro zu kommen. Die Pronomen er und mir gehören zu erlauben, genau wie die Infinitivgruppe; ins Büro gehört zu zu kom‐ men. So weit, so klar. Aber sobald wir eine adverbiale Angabe wie nicht in den Satz werfen, müssen wir uns entscheiden: Gehört es zu erlauben (Er erlaubt mir nicht, ins Büro zu kommen)? Oder zu kommen (Er erlaubt mir, nicht ins Büro zu kommen)? Im ersten Fall wird das Erlauben verneint (es wird also etwas verboten), im zweiten Fall wird erlaubt, etwas nicht zu tun. Das ist ein Unterschied. 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 119 lokale Mehrdeu‐ tigkeit Ohne das Komma wäre der Satz mehrdeutig. Es zeigt jeweils an, wo die Grenze verläuft und welche Einheit wo angebunden werden muss. Das ist eine große Leistung für ein so kleines Zeichen, und zwar eine Leistung im Dienste der Lesenden: Das Komma markiert, wo der Einflussbereich eines Verbs endet und der eines anderen beginnt. Diese Information ist entscheidend für die syntaktische Verarbeitung. Ironischerweise ist genau dieses Komma nach den aktuellen Regeln zur Rechtschrei‐ bung nicht erforderlich. Infinitivgruppen, die als Ergänzungen an ein Verb angebunden sind, können mit Kommas abgegrenzt werden, müssen das aber nicht. Zur Erinnerung: Es handelt sich hier um einen der wenigen Fälle, in denen es systematisch zu Mehrdeutigkeiten kommen kann. Die Mehrdeutigkeit bezieht sich hier auf den gesamten Satz: Wir lesen den Satz bis zum Ende, und ohne Komma wissen wir nicht, welche von zwei Lesarten intendiert ist. Die Mehrdeutigkeit ist also global. Viel häufiger ist ein anderer Fall, nämlich die lokale Mehrdeutigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie lesen die ersten paar Wörter des folgenden Satzes: (4) Die Polizei musste anrücken, weil die Gäste die Bewohner … Wie geht der Satz weiter? Wahrscheinlich mit einem Verb: weil die Gäste die Bewohner drangsalierten/ bedrängten/ beleidigten etc. Das ist hier aber nicht der Fall: (5) Die Polizei musste anrücken, weil die Gäste die Bewohner und die Hausverwaltung gemeinsam lautstark grölten. In diesem Satz werden die Gäste, die Bewohner und die Hausverwaltung nebengeordnet. Gemeinsam fungieren sie als Subjekt des Nebensatzes. Der ganze Satz ist eindeutig - er ist nur schwer zu lesen, weil das Komma nach die Gäste fehlt. Das Komma löst hier also keine globale Mehrdeutigkeit - wohl aber eine lokale, denn mit dem Komma an der richtigen Stelle können Sie die Struktur des Satzes schon beim ersten Lesen richtig erfassen: (6) Die Polizei musste anrücken, weil die Gäste, die Bewohner und die Hausverwaltung gemeinsam lautstark grölten. Das Komma hindert Sie daran, mit dem normalen Strukturaufbau fortzufahren, wenn Sie die Gäste gelesen haben. Der normale Strukturaufbau wäre, die Gäste als Subjekt zu analysieren und die Bewohner als Objekt; man erwartet dann ein Verb, das passen könnte, z. B. drangsalierten. Diese Möglichkeit verhindert das Komma. Wie es genau weitergeht, wissen wir nicht, nur, dass die Bewohner nicht das Objekt sein kann. Der Strukturaufbau muss erstmal pausieren, bis wir mehr wissen. Das Fragment weil die Gäste, die Bewohner kann auf verschiedene Art weitergehen - zum Beispiel als Relativsatz: 120 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Vorfeld‐ komma (7) Die Polizei musste anrücken, weil die(jenigen) Gäste, die Bewohner eingeladen hatten, randalierten. Spätestens beim und in (6) ist aber Koordination sehr wahrscheinlich. Wenn wir lesen, wissen wir das mit Sicherheit aber erst am Ende des Satzes. Bis dahin bilden wir eine Arbeitshypothese: Wir nehmen an, dass der Satz auf eine bestimmte Art weitergeht. Diese Einschätzung baut darauf auf, wie häufig verschiedene grammatische Strukturen sind, welche grammatischen Strukturen welche Verben bevorzugen und vieles mehr. Eine sehr komplexe Abschätzung, die in Bruchteilen von Sekunden getroffen wird, unbewusst, und meistens richtig. Und wenn nicht? Dann müssen wir beim Lesen kurz zurückspringen und es noch einmal anders versuchen. Das kostet etwas Zeit und Konzentration. Deswegen sollten wir als Schreibende vermeiden, solche Holzwegsätze zu verwenden - also Sätze, bei denen viele Leserinnen und Leser sich für die falsche Struktur entscheiden. Das macht einen guten Text aus: Dass er leicht lesbar ist, auch wenn der Inhalt komplex ist; dass der Aufbau der Sätze nicht noch zusätzlich Steine in den Weg legt; dass zumindest grammatisch das passiert, was unser Leseapparat erwartet. Diese Leistung des Kommas sollte nicht unterschätzt werden. Es hilft beim Struk‐ turaufbau, und zwar systematisch. Leserinnen und Leser sparen Zeit - sie müssen nicht zum Anfang des Nebensatzes zurückspringen und es noch einmal probieren. So ein Zurückspringen kostet außerdem Nerven. Wenn man das ein paarmal im Text machen musste, hat man keine große Lust mehr, weiterzulesen. Und schließlich spart der flüssige und mühelose Strukturaufbau auch mentale Ressourcen. Wir können uns ganz auf den Inhalt des Textes konzentrieren, ihn mit unserem Weltwissen abgleichen, uns kritisch mit ihm auseinandersetzen - kurz, wir verstehen den Text besser. Es ist also durchaus auch im Sinne der Schreibenden, Kommas an den richtigen Stellen zu setzen. Man weiß mittlerweile recht gut, wo kompetente Schreiberinnen und Schreiber Kommas setzen und wo nicht. Eine Erkenntnis aus Untersuchungen ist: Es gibt viel mehr Kommas, die fehlen, als solche, die überflüssig sind; auf jedes überflüssige Komma kommen rund drei fehlende. Im Zweifel wird also eher kein Komma gesetzt. Es gibt allerdings ein überflüssiges Komma, das zumindest teilweise so systematisch gesetzt wird, dass es einen eigenen Namen hat: Das Vorfeldkomma. Es geht dabei um Fälle wie den in Abb. 59 (aus der FAZ vom 23.6.2005): Abb. 59: Beleg für ein Vorfeldkomma aus der FAZ vom 23.6.2005 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 121 Vorfeld Vorfeld-‐ Virgel Im ersten Satz ist das Vorfeld des Satzes mit einem Komma abgetrennt. Als Vorfeld bezeichnet man den Bereich vor dem finiten Verb in Aussagesätzen, im Beispiel oben also den Bereich vor jagt. Nicht alle Vorfelder werden gleich häufig kommatiert. Es gibt einige Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Erstens: Längere Vorfelder wer‐ den häufiger kommatiert als kurze. Zweitens: Adverbiale Angaben werden häufiger kommatiert als bspw. Subjekte oder Objekte. Drittens: Vorfelder, die mit einer Präpo‐ sition eingeleitet werden (wie statt) werden häufiger kommatiert als andere Vorfelder. Und die Chance auf Kommatierung erhöht sich noch weiter, wenn die Präposition nicht rein lokal ist (wie auf, in, bei, über) oder temporal (vor, nach, während), sondern wenn sie textverknüpfend ist (indem sie z. B. einen Gegensatz aufmacht wie statt oder trotz). All diese Faktoren kommen zusammen in den folgenden Belegen aus einer großen Sammlung von Internettexten: (8) a. Im Gegensatz zum oft anonymen Massenbetrieb an vielen staatlichen Schulen, bieten private Schulen ein individuelles Umfeld. - b. Neben der unbewußten Bedeutung des Geldes als Mittel jeglicher Wunscher‐ füllung, ist Geld auch Maßstab und Dokumentation der Arbeitsleistung. Insgesamt liegt die Wahrscheinlichkeit, in solchen Fällen ein Komma zu finden, bei unter 5 %; Vorfeldkommas sind also noch selten. Es gibt allerdings zwei Gründe dafür, warum es in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen könnte. Zum einen tritt das Vorfeldkomma teilweise auch in professionell redigierten Texten auf (wie zum Beispiel in der FAZ, s. oben). Das zeigt, dass es nicht nur eine Folge mangelnder Kompetenz ist. Zum anderen wird es mit der Zeit häufiger. Man kann das z. B. in alten Abiturarbeiten zeigen. Abbildung 60 zeigt den Anteil an kommatierten Vorfeldern, wenn wir uns auf solche Vorfelder beschränken, die aus mindestens fünf Wörtern bestehen und die mit einer Präposition beginnen. Es handelt sich um Abiturarbeiten aus einem Gymnasium in Norddeutschland. Im letzten untersuchten Jahrgang liegt der Anteil an Vorfeldkommas schon bei knapp 11 %, und man kann einen langsamen Anstieg seit den 1950er Jahren beobachten. In den ersten drei Jahrgängen ist der Anteil ebenfalls hoch - was ist da los? Diese Jahr‐ gänge enthalten viele Arbeiten von ehemaligen jugendlichen Wehrmachtssoldaten, die ihr Abitur nachgeholt haben und die seit der Mittelstufe jahrelang keine Schule besucht haben. Hier zeigt sich einerseits der Einfluss des Unterrichts; andererseits aber auch, dass das Ende des Vorfelds eine Art Sollbruchstelle ist, eine Stelle, an der halbwegs intuitiv Kommas gesetzt werden. Und tatsächlich kommt das immer wieder vor - es lassen sich sogar Vorfeld-Virgeln im Frühneuhochdeutschen nachweisen, z. B. in der Lutherbibel von 1545 (Dort steht: „VNd von der sechsten stunde an/ ward ein Finsternis vber das gantze Land bis zu der neunden stunde.“), vgl. Abb. 61. 122 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Abb. 60: Anteil der Vorfeldkommas an allen Sätzen mit Präpositionalgruppen im Vorfeld, die aus mindestens fünf Wörtern bestehen. Quelle: Berg & Romstadt (2021). Abb. 61: Vorfeld-Virgel aus der Lutherbibel von 1545; Quelle: https: / / digital.wlb-stuttgart.de/ index.php ? id=6&; tx_dlf%5Bid%5D=2482&tx_dlf%5Bpage%5D=1245 Die Virgel war ein Vorgänger des Kommas (→ Kap. 5). Die ersten Kommas tauchen schon Ende des 15. Jahrhunderts auf, das Zeichen kann sich aber erst im 18. Jahrhundert durchsetzen. Vorfelder wurden also schon abgetrennt, bevor es in vielen Texten überhaupt Kommas gab! Insgesamt ist der Anteil an Vorfeldkommas immer noch überschaubar, auch wenn er in Abiturarbeiten höher liegt als in großen Textsammlungen aus dem Internet. Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die zeigt, dass es sich hier tatsächlich um eine Art Schwelbrand handeln könnte, der sich weitgehend unbemerkt schon weiter verbreitet hat. Wenn wir die Abiturarbeiten daraufhin untersuchen, in wie vielen Arbeiten eines Jahrgangs mindestens ein Vorfeldkomma vorkommt, dann sind wir sehr schnell bei hohen Anteilen (Abb. 62). 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 123 Einord‐ nung des Vorfeld‐ kommas Abb. 62: Anteil der Abiturarbeiten eines Jahrgangs im Korpus GraphVar, die mindestens ein Vorfeld‐ komma enthalten. Quelle: Berg & Romstadt (2021). Fast jede zweite Arbeit enthält im letzten untersuchten Jahrgang (2018) mindestens ein Vorfeldkomma. Diese Kommas werden also nicht von einer kleinen Gruppe von Schreibenden gesetzt, die das System nicht verstanden haben, sondern von fast der Hälfte der Schreiberinnen und Schreiber - allerdings nicht konsequent, sonst wäre der Anteil der kommatierten Vorfelder insgesamt höher. Was bedeutet das alles? Wir haben Schwierigkeiten, dieses Komma einer der drei Kommaregeln zuzuordnen, die oben vorgestellt wurden. Es ist sicherlich kein Neben‐ ordnungskomma. Es könnte aber als Herausstellungskomma empfunden werden (an einer Stelle, an der man normalerweise nichts herausstellen kann) - oder als Satzgren‐ zenkomma (ohne ein Verb in Sichtweite). Das Vorfeld verhält sich schließlich oft wie ein Satz: Das, was in den Beispielen oben (8) als Präpositionalgruppe ausgedrückt ist, können wir oft in einen Nebensatz umformulieren: (9) a. Im Gegensatz zum oft anonymen Massenbetrieb an vielen staatlichen Schulen, bieten private Schulen ein individuelles Umfeld. - b. Während es in vielen staatlichen Schulen oft einen anonymen Massenbetrieb gibt, bieten private Schulen ein individuelles Umfeld. Wenn wir allerdings so argumentieren, weichen wir den Satzbegriff auf; kommatiert würden dann nicht mehr syntaktische Sätze oder satzähnliche Einheiten (wie Infini‐ tivgruppen), sondern Einheiten der Inhaltsebene wie der Aussageinhalt o. ä. 124 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma Sprach‐ wandel beim Komma Die Linguistik hat also Schwierigkeiten, das Phänomen zu fassen: Das Vorfeldkomma passt nicht ins System, aber es wird bereits von einigen Schreiberinnen und Schreibern systematisch gesetzt. Das ist aber nichts gegen die Schwierigkeiten, zu entscheiden, wie damit umzugehen ist. Sollte man es bekämpfen, indem man es in den Schulen explizit thematisiert, z. B. durch gezielte Unterrichtseinheiten und Übungen? Oder sollte man den Gebrauch erst einmal weiter beobachten? Hier wiederholt sich ein alter Konflikt in der Sprachwissenschaft zwischen der reinen Beschreibung der Sprache (einem deskriptiven Ansatz) und dem Eingriff in die Sprache (einem vorschreibenden oder präskriptiven Ansatz). Was kann passieren, wenn wir nicht eingreifen, sondern einfach nur beobachten? Nehmen wir an, das Vorfeldkomma breitet sich weiter aus, bis es die meisten Menschen mehrheitlich setzen. Damit wäre es zum Normalfall geworden, und die Rechtschreib‐ regeln müssten nachziehen. Der Sprachwissenschaftler Rudi K E LL E R (1999: 5) hat dazu einen schönen Aphorismus geprägt: „Die systematischen Fehler von heute sind […] die neuen Regeln von morgen“. Das gilt für alle Arten von Sprachwandel, aber ganz be‐ sonders für die Rechtschreibung, wo viel weniger Variation toleriert wird. Wir möchten eine Schreibung, die richtig ist, und können nicht gut mit Wahlfreiheit umgehen. Das sieht man auch daran, dass selbst in den Bereichen, die bei der Überarbeitung der Rechtschreibung freigegeben wurden, der Duden eine Empfehlung ausspricht. Poten‐ tial und Potenzial sind seit der Überarbeitung der Rechtschreibung 1996 beide richtig, der Duden empfiehlt aber die Schreibung Potenzial. Neben dem Vorfeldkomma zeigen Untersuchungen des Schreibgebrauchs auch: Je mehr syntaktische Analyse für die Kommasetzung nötig ist, desto häufiger fehlen Kommas. Viele Schreiberinnen und Schreiber scheinen sich an Signalwörtern wie dass, weil oder obwohl zu orientieren. Und bei diesen Wörtern funktioniert das ja auch ganz gut: Vor dass, weil, obwohl und anderen Konjunktionen wird ein Komma gesetzt, dazu muss ich nicht die syntaktische Struktur des Satzes kennen (Ich vermute, dass sie etwas später kommt). Der Anteil richtiger Kommas ist in diesem Bereich entsprechend recht hoch. Er liegt in aktuellen Abiturarbeiten bei über 90 %. Das ändert sich allerdings schon, wenn die Abfolge umgedreht wird und der dass-Satz im Vorfeld steht: Dass sie etwas später kommt, vermute ich. Hier liegt der Anteil richtiger Kommas deutlich niedriger. Dasselbe gilt auch für Nebensätze, die eingeschoben sind und deren rechter Rand erkannt werden muss. Das können Relativsätze sein wie in (10a) oder Infinitivgruppen wie in (10b): (10) a. Die Teilnehmer, die keine Zeit haben, vereinbaren einen anderen Termin. - b. Der Versuch, den Film zu zeigen, musste scheitern. - c. Sie machte das Licht aus, um den Film zu zeigen. 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 125 Um das zweite Komma richtig zu setzen, müssen die Schreibenden die syntaktische Struktur verstanden haben. Wo hört der eingebettete Satz auf, wo läuft der umgebende Satz weiter? Hier sind Fehler relativ häufig. Rechte Grenzen von Relativsätzen werden noch in etwa drei Viertel aller Fälle richtig gesetzt; rechte und linke Grenzen von Infinitivgruppen wie in (10b) nur in jedem zweiten Fall. Für Infinitivgruppen wie die in (10c) gilt das nicht; sie sind durch die Konjunktion um besser markiert, entsprechend werden sie in etwa drei Viertel aller Fälle richtig kommatiert (die Zahlen sind mit etwas Vorsicht zu behandeln, weil es sich um Daten von nur einer Schule handelt; sie geben aber einen deutlichen Hinweis darauf, dass verschiedene syntaktische Konstruktionen unterschiedlich zuverlässig kommatiert werden). Komma ist also nicht gleich Komma; einige werden oft weggelassen, andere nur selten. Wenn Schreibende sich an Signalwörtern orientieren, funktioniert das in einigen Fällen gut, in anderen weniger. Es wird deutlich, wie man mit dem Problem umgehen müsste: Mit einem Grammatikunterricht, der viel enger mit dem Rechtschreibunter‐ richt verzahnt ist, als es jetzt oft der Fall ist. Der Grammatikunterricht ist häufig langweilig und reiner Selbstzweck - die Schülerinnen und Schüler lernen, Subjekte zu identifizieren, weil sie Subjekte identifizieren müssen. Abgesehen davon, dass eine solche Methode, wie alle anderen im Grammatikunterricht auch, immer an ganz konkrete größere Fragen angebunden werden sollte (z. B.: Wie schaffen wir es, Gedanken sprachlich so zu verpacken, dass sie von unserem Gegenüber wieder entpackt und verstanden werden können? ), gäbe es eine direkte Anbindung und Anwendung der syntaktischen Analyse. Wenn man verstanden hat, wo Sätze anfangen und enden - vor allem Sätze, die in anderen Sätzen verschachtelt liegen - dann macht man viel weniger Kommafehler, und das wiederum hilft den Leserinnen und Lesern. Zur Vertiefung • Die aktuellen Amtlichen Regeln zur Rechtschreibung (und damit auch zur Kom‐ masetzung) sind unter https: / / www.rechtschreibrat.com/ regeln-und-woerterverz eichnis/ zu finden. Das ist der offizielle Ort, an dem die Regeln vorgehalten werden. • Dieselben Regeln sind in E I S E NB E R G (2017: 100) noch einmal deutlich besser strukturiert und klarer formuliert. • In B E R G & R OM S TADT (2021) wird das Komma in Abiturarbeiten untersucht, darauf stützen sich die Angaben in diesem Kapitel. • L INDAU E R & S UTT E R (2007) zeigen, wie man die Kommasetzung mit grammatischem Fokus vermitteln könnte. • Das Vorfeld ist Teil des sog. „Topologischen Feldermodells“ des Deutschen; dieses Modell wird sehr zugänglich in W ÖLL S T E IN (2010) vorgestellt. 126 8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Was passiert, wenn das Ding oder Konzept, das ein Wort bezeichnet, ausstirbt? Dann stirbt auch dieses Wort langsam aus. Andere alte Wörter sind erfolgreicher, sie sind seit Jahrhunderten in aller Munde. Aber wie alt sind unsere alten Wörter eigentlich? Und wie können wir mit dem Problem umgehen, dass die ältesten Schriftzeugnisse des Deutschen nur etwa 1300 Jahre alt sind? Neue Wörter, die nach produktiven Mustern gebildet wurden, sind transparent: Wir können sie durchschauen und beim ersten Lesen oder Hören verstehen (auch wenn wir manchmal etwas Kontext benötigen). Aber unser Wortschatz besteht nicht nur aus neuen Wörtern, nicht einmal überwiegend. Er besteht fast ausschließlich aus fertigen, bereits bestehenden, alten Wörtern; aus Wörtern, die auch unsere Eltern und Großeltern und deren Eltern und Großeltern benutzt haben. Solche alten Wörter sind nicht einfach alt - sie haben in vielen Fällen eine sehr wechselvolle Geschichte hinter sich, bis sie von uns verwendet werden. Um solche Geschichten geht es in diesem Kapitel. Einige dieser Geschichten enden nicht gut: Viele Wörter, die früher verwendet wurden, sind mittlerweile ausgestorben oder siechen dahin, und ihr Ende ist absehbar. Wenn wir uns alte Wörter in unserem Wortschatz anschauen, dann sehen wir nur die mehr oder weniger erfolgreichen alten Wörter, solche, die wir heute noch verwenden. All die vielen tausend alten Wörter, die wir heute nicht mehr nutzen, sehen wir nicht. Oder wissen Sie, was ein Böttcher ist? Oder was accompagnieren bedeutet? Oder Muhme? Oder Droschke? Das sind vier von vielen, vielen Wörtern, die heute praktisch nicht mehr verwendet werden. • Böttcher ist eine Berufsbezeichnung für Menschen, die hölzerne Fässer und andere Gefäße herstellen. Weil kaum noch Holzfässer verwendet werden, fehlt der Bedarf für dieses Wort, und es wird nur noch sehr selten verwendet. • accompagnieren bedeutet ‚begleiten‘; es ist eine direkte Übersetzung des französischen Verbs accompagner mit dem deutschen Suffix -ier- (und dem Infinitivsuffix -en). • Muhme war bis ins 18. Jahrhundert eine Bezeichnung für weibliche Verwandte (ursprünglich nur die für Schwester der Mutter, später erweiterte sich die Bedeu‐ tung); dann wurde das Wort langsam durch die spezifischeren Begriffe Tante, Cousine und Nichte verdrängt. • Droschke ist eine Bezeichnung für ein leichtes, offenes Gefährt, das meist von Pferden gezogen wurde. Als die ersten Fahrzeuge motorisiert wurden, sprach man eine Weile von Kraftdroschken; trotzdem ist der Begriff Droschke untergegangen, als Kutschen immer seltener und unwichtiger für die Beförderung wurden. Historizis‐ men Eine Probe‐ bohrung: Adelung Heute werden diese Wörter kaum noch verwendet; deshalb sind sie vielen Spreche‐ rinnen und Sprechern unbekannt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Für Muhme und accompagnieren gibt es Alternativen, die bevorzugt wurden und werden - nämlich Tante/ Cousine/ Nichte bzw. begleiten. Das, was wir bezeichnen wollen, ist nach wie vor da, wir nutzen nur andere Wörter dafür. Droschken und Böttcher hingegen sind so gut wie ausgestorben. Es gibt keinen Bedarf mehr für diese Begriffe. Dasselbe Schicksal droht auch Videokassetten, Telefonzellen, CD-ROMs und vielen anderen Dingen und Tätigkeiten: Sie werden irgendwann aussterben, und die Wörter, die sie bezeichnen, mit ihnen. Viele Wörter werden so schnell nicht vollständig aussterben; sie sind eher Halbtote. Solange wir uns bspw. über das 19. Jahrhundert unterhalten und die Literatur der Zeit lesen wollen, werden wir kaum ohne die Wörter Droschke und Gaslaterne auskommen, und eine Geschichte des 20. Jahrhunderts braucht die Wörter Sowjetunion und Jugo‐ slawien, auch wenn die Staaten, die damit bezeichnet wurden, heute längst nicht mehr existieren. Solche Wörter, mit denen wir historische Gegenstände, Zustände, Länder etc. benennen, werden Historizismen genannt. Sie sind uns - zumindest in histori‐ schen Kontexten - zugänglich. Es gibt aber auch Wörter, die mehr oder weniger vollständig ausgestorben sind. Der Friedhof der ausgestorbenen Wörter ist groß - wie groß, das hängt davon ab, wie man zählt: Ist jede Gelegenheitsbildung, die danach nie wieder geäußert wird, ein totes Wort? Oder beschränkt man sich beim Zählen auf Wörter, die einmal etabliert waren? Aber was heißt das? An solch schwierigen Fragen liegt es, dass niemand so ganz genau sagen kann, wie viele Wörter das Deutsche schon verloren hat. Aber wir können eine kleine Probebohrung machen. Eines der ersten systematisch erarbeiteten Wörterbücher des Deutschen ist das „Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ von Johann Christoph Adelung, das in seiner zweiten Auflage zwischen 1793 und 1801 erschienen ist - ein in der Germanistik berühmtes Wörterbuch. Es enthält über 50.000 Einträge. Hier sind die ersten 50 (in Adelungs Schreibung): 128 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Prüfstein: Deutsches Referenz‐ korpus A Aalkasten Aalstreif Aasgeyer Abändern Ä Aalkirsche Aalwehr Aaskäfer Abänderlich Aa Aalmutter Aar Aaskopf Abänderung Aal Aallege Aaron Aaspocke Abängsten Aalbeere Aalpuppe Aarweihe Aasseite Abarbeiten Aaleidechse Aalquappe Aas Aaß Abarbeitung Aalen Aalquast Aasblatter Ab Abärgern Aalfang Aalraupe Aasen Abaasen Abärnten Aalgabel Aalreuse Aasfliege Sich Abächzen Abart Aalhälter Aalstecher Aasfressend Abackern Abarten Tab. 8: Die ersten 50 Einträge in Adelungs „Grammatisch-Kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ von 1793 Wenn man nun die Schreibung anpasst - also statt Aasgeyer die heutige Form Aasgeier und statt Thür die morderne Form Tür - wie viele von Adelungs Wörtern sind dann heute noch im Gebrauch? Daran lässt sich ablesen, wieviele Wörter das Deutsche in den letzten 200 Jahren ungefähr verloren hat. Als Prüfstein kann man das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) verwenden, das mit 50 Milliarden laufenden Wörtern das größte wissenschaftliche Textkorpus des Deutschen ist. Wenn eins von Adelungs Wörtern nicht unter diesen 50 Milliarden Wörtern ist, dann stehen die Chancen ganz gut, dass es tatsächlich nicht mehr verwendet wird. Sicher ist das nicht, aber wahrscheinlich. Es stellt sich heraus: Ungefähr ein Drittel von Adelungs Wörtern ist heute nicht mehr im Gebrauch - z. B. die folgenden. (1) a. Göpelhund, Göpelkette, Göpelkunst, Göpelseil, Göpelspille, Göpelsteg - b. Hoffutteramt, Hofprälat, Hofweib, Kammergemach, Hütten-Faktor, achtschil‐ dig - c. wohlachtbar, wohlbehangen, wohledelgeboren, wohlehrwürdig, wohlerfah‐ ren, wohlgeartet, wohlgebaut, wohlhergebracht - d. abbreviieren, alludieren, herbergieren, schändieren und succedieren Ein Teil dieser Wörter bezeichnet Objekte, Ideen oder Tätigkeiten, die untergegangen sind - das haben wir oben schon gesehen. Mit dem Bezeichneten wird auch das Wort selbst überflüssig und stirbt aus. Das ist zum Beispiel der Fall bei den Wörtern in (1a.). All diese Wörter in Adelungs Sammlung sind Komposita, deren Erstbestandteil sich auf einen Göpel bezieht - also eine Drehvorrichtung, vor die man Tiere spannen konnte, 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 129 mit deren Muskelkraft wiederum Arbeitsmaschinen angetrieben werden konnten (Abb.-63). Abb. 63: Darstellung eines Pferdegöpels; Quelle: Wikipedia (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Göpel#/ med ia/ Datei: Goepelmuehle-F3.jpg) Mit dem Aufkommen von Dampfmaschinen und Elektrizität starben die Göpel aus, und mit ihnen das Wort und alle Komposita, die man brauchte, um damit verbundene Teile und Tätigkeiten zu bezeichnen. Was ausstirbt, muss aber nicht zwangsläufig ein Gegenstand oder Ding sein. Auch gesellschaftlicher Wandel führt zum Verlust von Wörtern. So haben die Beispiele in (1b.) alle in der ein oder anderen Form mit dem Feudalismus oder dem Adel zu tun: Ein Hütten-Faktor z. B. bezeichnete jemanden in einer Schmelzhütte, der dem Landesherrn unterstellt war und der über das gewonnene Erz Buch führte; als achtschildig wurden solche Adelige bezeichnet, die den Adelsstand ihrer acht Urgroßeltern belegen konn‐ ten. 130 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Transpa‐ rente Wort‐ bildungen Und zum Teil stirbt etwas noch Abstrakteres aus, nämlich ein sprachliches Muster. Das ist in (1c.) so, beim Präfix wohl-, mit dem das abgeleitete Adjektiv als positiv bewertet wird. Die Bildungen in (1c.) sind heute nicht mehr verbreitet, sie wirken wie aus der Zeit gefallen (was sie ja auch sind). Wir verwenden zwar noch einige Bildungen wie wohlgemerkt oder wohlgesonnen, aber die treten meist in denselben Kontexten auf (wohlgesonnen z. B. immer mit einer Dativergänzung und einer Form von sein wie in Er ist mir wohlgesonnen). Etwas anders liegen die Verhältnisse beim Suffix -ier(en). Im heutigen Deutsch tauchen immer noch neue Verben mit diesem Suffix auf, z. B. coronisieren, insektifizieren oder pommadieren, außerdem gibt es einige hundert etablierte -ieren-Wörter. Die Bildungen in (1d.) werden aber nicht mehr verwendet - zum Teil, weil es starke Konkurrenten gibt (abkürzen statt abbreviieren), zum Teil, weil Ableitungen von nativen (also heimischen) Wörtern heute nicht mehr üblich sind: schändieren klingt schlicht falsch. Wie ein undichter Eimer leckt der Wortschatz des Deutschen also etwas: Ungefähr ein Drittel geht im Laufe zweier Jahrhunderte verloren. Das ist natürlich nur eine sehr grobe Schätzung - die genaue Zahl hängt ja auch davon ab, wie umfangreich Adelungs Wörterbuch ist und wie verbreitet die einzelnen Einträge zur damaligen Zeit waren. Dass das Deutsche mit der Zeit Wörter verliert, ist kein Grund zur Sorge: Im selben Zeitraum sind deutlich mehr Wörter hinzugekommen als verschwunden sind. Das ist überhaupt ein Kennzeichen des Deutschen, seit es sich als Schriftsprache neben dem Lateinischen etablieren konnte: Der kollektive Wortschatz (→ Kap. 1) wächst und wächst (vgl. K L E IN 2013). Viele der ausgestorbenen Wörter können wir heute noch gut verstehen, weil ihre Bedeutung transparent (also im Wortsinn ‚zu durchschauen‘) ist. Wir haben z. B. kein Problem mit Zitterung im folgenden Ausschnitt eines Buches von 1669 (das Buch gibt jeweils an, wie bestimmte Ereignisse in Abhängigkeit der astronomischen Konstella‐ tion zu deuten sind: Wenn die Katzen beispielsweise bei Mond im Widder wehklagen, heißt das, jemand im selben Haus wird krank und schwach werden). Abb. 64: Beispiel für heute ungebräuchliche Wörter in einem Buch von 1669; Quelle: https: / / www.deu tschestextarchiv.de/ book/ view/ zebel_erklaerung_1669/ ? p=5&; hl=So 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 131 Modische -ung-Ablei‐ tungen Im Text ist von Furcht, Verzagung, Zitterung und Erschrecknis die Rede. Wir würden statt Zitterung eher vom Zittern sprechen, also den Infinitiv zittern substantivieren - vor 350 Jahren war die -ung-Ableitung angesagter und üblicher. Bei Neubildungen ist es heute genau umgekehrt: Das Entfreunden ist viel häufiger und unauffälliger als die Entfreundung. Aber gerade weil die -ung-Ableitung damals so angesagt war, sind viele mit ihr gebildete Wörter bis heute durchsichtig, wir können sie gut verstehen (auch wenn wir sie so nicht mehr nutzen würden). Zeitung: Eine undurchsichtige -ung-Ableitung Das gilt nicht für alle Wörter: Die böse Zeitung in der ersten Zeile ist ebenfalls eine -ung-Ableitung, aber damit ist nicht das Druckerzeugnis gemeint, sondern eine schlechte Nachricht oder Kunde. Man weiß nicht so ganz genau, wie das Wort ins Deutsche gekommen ist, aber wahrscheinlich war das Mittelniederdeutsche hier Vorbild: Es gibt dort ein Verb tīden ‚sich wohin begeben, zu etw. eilen‘, vgl. https: / / www.dwds.de/ wb/ Zeitung. Oder furchtbarlich: Auch bei diesem Wort haben wir heute keine Probleme, zu verstehen, was im folgenden Ausschnitt aus einem Buch von 1811 gemeint ist. Abb. 65: Beispiel für heute ungebräuchliche Wörter in einem Buch von 1811; Quelle: https: / / www.deu tschestextarchiv.de/ book/ view/ fouque_undine_1811? p=73 Wir würden heute nicht mehr furchtbarlich, sondern furchtbar verwenden, aber -lich war ein furchtbar angesagtes Wortbildungsmuster vor 200 Jahren - so angesagt, dass auch Adjektive damit abgeleitet wurden (z. B. grausamlich, angsthaftiglich). Entscheidend ist, dass wir sowohl mit furchtbarlich als auch mit Zitterung ganz gut zurechtkommen, wir können ihre Bedeutung intuitiv erfassen, auch wenn die Wörter selbst schon lange nicht mehr vorkommen. 132 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Intranspa‐ rente Wort‐ bildungen Alter von Wörtern Umgekehrt gibt es einige alte und immer noch verwendete Wörter, die sich im Laufe der Zeit verändert haben und die heute nicht mehr vollständig transparent sind. Wir merken das erst, wenn wir darauf hingewiesen werden. Vergessen ist so ein Fall: Sieht aus wie ein ganz normales Verb mit ver-Präfix wie verbauen, versalzen oder verachten - aber was bedeutet eigentlich gessen? Das lässt sich nur sprachgeschichtlich klären. Vergessen ist tatsächlich eine Ableitung des Verbs geʒʒan, das bis ins Althochdeutsche belegt ist und das ‚erlangen‘ bedeutet (im Englischen (to) get hat das Wort überlebt). Mit dem Präfix verwird die Basis verneint, etwas kann also nicht mehr erlangt oder gehalten werden. (Es ist schon etwas ironisch, dass wir als Sprachgemeinschaft aus‐ gerechnet die Herkunft dieses Wortes vergessen haben.) Oder Hochzeit: Es bedeutet ursprünglich ‚hohes, großes (kirchliches) Fest, Feiertag‘ (https: / / www.dwds.de/ wb/ Hochzeit#1); eine der Bedeutungen von Zeit war auch ‚Gedenktag, Festtag‘. Später bezeichnete das Wort dann nur noch die Vermählung, nicht mehr andere Feste. Als Sprecherinnen und Sprecher sind wir durchaus bereit, ein Auge (oder beide) zuzukneifen und zu akzeptieren, dass die Hochzeit eine hohe (im Sinne von feierliche) Zeit ist. Das ist gewissermaßen die Kehrseite der Medaille: Wir versuchen ständig, komplexe Wörter zu analysieren und ihren Teilen eine Bedeutung zuzuweisen. Beim Wind in Windhund denken wir sofort an die Luftbewegung, dabei hat der Bestandteil ursprünglich etwas mit der Volksgruppe der Wenden zu tun. Die Kichererbse geht auf das Lateinische Wort für Erbse, cicer, zurück, hat also nichts mit Kichern zu tun. Als Kicher nicht mehr verstanden wurde, nutzten Sprecherinnen und Sprecher das heimische Wort Erbse, um die Bedeutung zu verdeutlichen. Und anberaumen enthält eigentlich das mittelhochdeutsche rām ‚Ziel‘, das im Laufe der Zeit zu Raum umgedeutet wurde. Wir haben uns bis hier hin alte Wörter angeschaut und ihr Schicksal nachgezeichnet. Einige sterben aus, andere überleben und verändern sich. Wir können aber auch die Perspektive wechseln und uns auf die Wörter konzentrieren, die wir heute verwenden: Wie alt sind sie? Wie lange werden sie schon im Deutschen verwendet? Wann und wie haben sie sich verändert? Einige Wörter, die wir heute verwenden, sind schon lange im Deutschen, andere sind relativ neu. Corona-Pandemie ist zum Beispiel neuer als orientieren, das wiederum neuer ist als Fenster usw. Bei Corona-Pandemie und orientieren können wir jeweils sagen, aus welchem Jahr der erste schriftliche Beleg kommt. Das Wort kann zu dem Zeitpunkt schon eine ganze Zeit in Gebrauch gewesen sein, entweder mündlich oder schriftlich (nur eben in Texten, die nicht Teil unserer Korpora sind). Aber ganz grob stimmt die zeitliche Einordnung wahrscheinlich. Auf diese Weise können wir sehen, wann ein Wort zum ersten Mal im Deutschen aufgetaucht ist. Corona-Pandemie ist ein neues Kompositum aus dem Jahr 2020; orientieren ist eine Ableitung, die zuerst in der Mitte des 18. Jahrhunderts belegt ist (das Wort bedeutete ursprünglich ‚nach dem Orient, also der Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs, ausrichten‘); Fenster schließlich stammt ursprünglich aus dem 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 133 komparative Methode Lateinischen und wird seit ungefähr 1000 Jahren im Deutschen verwendet (zum Prozess der Entlehnung →-Kap.-1). So können wir zurückgehen und theoretisch für jedes Wort, das wir heute verwen‐ den, sein Alter angeben. Spielen wir das einmal durch mit einem sehr alten Wort, dem Zahlwort drei. Bis zurück ins 18. Jahrhundert hat das Wort die Form, die wir auch heute noch verwenden; dann ändert sie sich zu drey. Weiter zurück, im 13. Jahrhundert, lautet sie meist dri; noch weiter zurück, im achten Jahrhundert, wird die Zahl thri geschrieben. Leider stammen aus dieser Zeit auch die ältesten überlieferten Schriftdokumente, die wir für das Deutsche haben. Wenn wir wissen möchten, was davor geschah, kommen wir mit dieser Methode nicht weiter. Wir stehen vor einer ziemlich undurchdringlichen Nebelwand. Aber glücklicherweise gibt es einen anderen, indirekten Weg. Sprachen existieren nicht einfach nebeneinander her und vor sich hin. Sie hängen zusammen und haben teilweise einen gemeinsamen Ursprung. Das ist eine so grundlegende wie revolutionäre Einsicht, die wir den Sprachwissenschaftlern des 18. und 19. Jahrhunderts verdanken. Es ist kein Zufall, dass viele Wörter im Deutschen, Niederdeutschen, Niederländischen, Englischen, Schwedischen, Dänischen und anderen nordwesteuropäischen Sprachen sehr ähnlich sind - z. B. die folgenden vier: Deutsch Vater tief Fuß drei Niederdeutsch vader deep faut dree Englisch father deep foot three Niederländisch vader diep voet drie Schwedisch fader djup fot tre Dänisch fader dyb fod tre Tab. 9: Die Wörter Vater, tief, Fuß und drei im Deutschen, Niederdeutschen, Englischen, Niederländi‐ schen, Schwedischen und Dänischen Durch eine sorgfältige Analyse großer Mengen an Wörtern in unterschiedlichen Spra‐ chen (der sogenannten komparativen Methode) lassen sich sehr spezifische Zusam‐ menhänge herausarbeiten: Wenn wir im Deutschen ein [f] sprechen wie in tief, dann tritt in anderen Sprachen oft ein [p] auf (so auch bei [pf] in Pfeffer vs. engl. pepper, Pfund vs. ndl. pond u.v.m.). Und wenn wir im Deutschen nach einem Vokal [s] sprechen wie in Fuß, tritt im Englischen, Niederländischen usw. an derselben Stelle ein [t] oder [d] auf (z. B. in essen vs. engl. eat oder weiß vs. engl. white). Das Deutsche unterscheidet sich also von diesen anderen Sprachen, und zwar auf eine systematische Art und Weise. Die entscheidende methodische Neuerung seit dem 18. Jahrhundert war nun, diese Zusammenhänge historisch zu verstehen: Die Wörter sind deshalb so ähnlich, weil sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Wenn Wörter wie Fuß, essen und weiß in allen anderen germanischen Sprachen ein [t] oder [d] enthalten und nur im Deutschen 134 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Stamm‐ baum ein [s], dann ist es wahrscheinlich, dass diese Wörter auch in der gemeinsamen Ursprungssprache ein [t] oder [d] enthalten haben und sich die Wörter nur im Deutschen in eine andere Richtung entwickelt haben. Mit der richtigen Analyse (die sehr viel komplexer ist als dieses vergleichsweise einfache Beispiel) können wir die Form dieser Ursprungssprache rekonstruieren - auch wenn diese Ursprungssprache selbst überhaupt nicht belegt ist, weil es kein einziges Schriftdokument gibt, auf das wir uns stützen könnten. Der gemeinsame Vorfahre des Deutschen, Englischen, Niederländischen, Nieder‐ deutschen, Dänischen, Schwedischen und anderer Sprachen ist das Germanische. Wir können die Verwandtschaft wie bei uns Menschen mit einem Stammbaum verdeut‐ lichen: Abb. 66: Stammbaum einiger germanischen Sprachen Das Germanische hat sich in drei unterschiedlichen Zweigen (oder Familien) weiter‐ entwickelt: Das Ostgermanische (mit dem Gotischen, dem Burgundischen und dem Vandalischen) ist heute ausgestorben. Das Nordgermanische hat sich weiter differen‐ ziert zu den skandinavischen Sprachen (außer den genannten auch noch Isländisch und Faröisch) und zu den westgermanischen Sprachen, zu denen Deutsch und Englisch gehören. Ressourcen zur Etymologie Wie kommt man an Informationen zur Etymologie, also zur Geschichte von Wörtern? Es gibt eine Reihe von Herkunftswörterbüchern (Etymologischen Wörterbüchern) des Deutschen. Die beiden wichtigsten sind das von Friedrich Kluge - das erschien zuerst 1883 - und das von Wolfgang P F E I F E R et al. (1993). Das Letzteres ist online verfügbar, und zwar im Rahmen des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache, DWDS (https: / / www.dwds.de/ d/ wb-etymwb). Probieren Sie es aus, Sie werden immer wieder über interessante Wortbiographien stolpern, wie z. B. bei den Wörtern Brille, Kopf oder verwesen. Auch für anderen Sprachen gibt es sehr gute Online-Ressourcen zur Etymologie, z. B. zum Englischen neben dem Oxford English Dictionary (oed.com) das frei zugängliche Online Etymology Dictionary (www.etymonline.com); zum Nieder‐ 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 135 ländischen das Etymologisch woordenboek van het Nederlands (https: / / etymolo gie.nl). Wir haben nur sehr wenige germanischen Schriftzeugnisse - aber wir können trotzdem für viele Wörter herausarbeiten, wie ihre Formen im Germanischen höchstwahrschein‐ lich lauteten. Für das Wort Vater wird der Stamm *fader angesetzt (der Stern markiert die Form hier nicht als ungrammatisch, sondern als nicht belegt). Tief geht zurück auf Germanisch *deupa-. Im Deutschen ist der letzte Laut der Frikativ [f], in allen anderen Sprachen ein Plosiv. Das Deutsche hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Aber Moment, was ist mit pur, engl. pure? Müsste das nicht eigentlich pfur heißen, wenn die Theorie stimmt? Ja - aber wir können unsere Theorie retten: pur kam erst im 14. Jahrhundert ins Deutsche, als Entlehnung des gleichbedeutenden lat. pūrus. Und zu diesem Zeitpunkt war der Lautwandel von [p] zu [pf]/ [f], der uns Pfeffer statt Pepper beschert hat, längst abgeschlosssen. Für Fuß wird der Stamm *fot- angenommen. Im Deutschen und Niederländischen hat sich der Vokal im Laufe der Zeit zu einem langen [u] entwickelt, im Englischen zu einem kurzen [ʊ]. Und alle [t]-Laute nach Vokalen sind im Deutschen zu [s] geworden - in den anderen Sprachen ist der ursprünglichere [t]-Laut erhalten geblieben. Die Zahl drei hieß im Germanischen wahrscheinlich *þri. Das erste Symbol (also þ) heißt Thorn, es wird ausgesprochen wie der erste Laut in engl. three - nur dort hat er überlebt, in allen anderen germanischen Sprachen wird heute ein [d] oder [t] artikuliert. Ist das Germanische auf dem Weg in die Vergangenheit die Endstation? Oder können wir noch weiter zurückschauen? Das ist durchaus möglich, denn auch das Germanische ist eine Sprachfamilie mit Cousins und Cousinen (und deren Nachfahren). Man kann z. B. die rekonstruierten germanischen Formen mit lateinischen, altgriechischen und altindischen Formen vergleichen (die alle belegt sind, deswegen sind nur die germanischen Formen besternt): - Vater Fuß drei Germanisch *fader *fot- *þri Latein pater pēs (Gen. pedis) trēs Altgriechisch patḗr pū́s (Gen. podós) tré͞is Tab. 10: Die Wörter Vater, Fuß und drei im (rekonstruierten) Germanischen, im Lateinischen und im Altgriechischen Diese Gemeinsamkeiten zwischen doch sehr unterschiedlichen Sprachen und Sprach‐ familien sind kein Zufall; sie erstrecken sich auf wesentlich mehr Wörter als hier an‐ gegeben. Manchmal muss man etwas genauer hinsehen und flektierte Formen mitein‐ beziehen (wie beim Fuß), dann wird der Zusammenhang noch deutlicher. Die 136 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter Proto-Indo‐ europäisch gemeinsamer Ursprung Übereinstimmungen sind faszinierend, denn sie bedeuten: Alle germanischen Sprachen sind auch mit dem Lateinischen und dem Griechischen verwandt, und nicht nur das, auch mit den heute noch fremderen indischen Sprachen wie Hindi und Bengali. Aus diesem Grund nennt man die ganze große Sprachfamilie die der indo-europäischen Sprachen, und auch das Proto-Indoeuropäische (also die indoeuropäische Urspra‐ che) lässt sich rekonstruieren. Vater lautete wahrscheinlich *pətḗr (und bedeutete nicht nur ‚Vater‘ sondern ‚Oberhaupt der Großfamilie‘). Fuß geht wohl auf ie. *pē̌dzurück, drei auf ie. *trei̯es. Und was ist mit tief? Für dieses Wort fehlen im Lateinischen und Griechischen die Entsprechungen (es gibt Adjektive, die tief bedeuten, aber sie sind wahrscheinlich nicht mit dem Germanischen verwandt, z. B. lat. altus) - aber man kann auch hier auf eine ie. Form schließen, nämlich *dheub-, und zwar über die litauischen und altslawischen Formen. Diese Form ist allerdings weniger gesichert. Überhaupt können wir alle For‐ men nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angeben. Es sind kaum germanische und noch weniger indoeuropäische Wörter belegt. Je weiter wir zurückgehen, desto wackeliger werden viele Hypothesen. Für viele Wörter funktioniert diese Methode der Rekonstruktion durch Sprachver‐ gleich trotzdem, und zwar mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. Das ist überhaupt das Erstaunliche: mit welcher Sicherheit wir germanische oder proto-indoeuropäische Formen angeben können. Man nimmt an, dass das Proto-Indoeuropäische bis etwa 3500 v. Chr. gesprochen wurde (für die Zeit danach wird angenommen, dass sich die Ursprache in den verschiedenen Familien unterschiedlich weiterentwickelt hat). Auf der Grundlage des Wortschatzes wurde immer wieder versucht, die ‚Urheimat‘ der Sprachgemeinschaft in einer bemerkenswerten Detektivarbeit zu ermitteln: So sind bspw. Wörter für Bär, Eber, Aal, Buche usw. im proto-indoeuropäischen vorhanden. Auf welche Region passt dieses Tier- und Pflanzenprofil? Zum Beispiel auf die Steppe im Süden Russlands - ein Kandidat für die Urheimat. Man muss sich das noch einmal klarmachen: Alle germanischen, romanischen, sla‐ wischen, indischen und iranischen Sprachen haben einen gemeinsamen Ursprung. Als Sprachfamilie - gemessen an Sprecherinnen und Sprechern - ist die indoeuropäische Familie heute die größte. Und das zeigt doch sehr schön eine Tatsache, von der wir wissen, dass sie wahr sein muss, die wir aber gerne ausblenden: dass wir alle verwandt sind, nicht nur biologisch, sondern auch sprachlich. Kaum ewas zeigt das schöner als dieser Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen von Minna Sundberg (Abb. 67). 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 137 Abb. 67: Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen; die Größe der Bereiche spiegelt die Größe der Sprachgemeinschaften wider; Quelle: Minna Sundberg, https: / / www.sssscomic.com/ comic.php? page= 196 Der Wortschatz des Deutschen (und aller anderen Sprachen) ist geschichtet: Einige Wörter sind uralt, einige sehr neu, einige nicht mehr ganz frisch, andere mittelalt. Wörter, die im Laufe der Zeit neu dazukommen und genutzt werden, ergänzen den Wortschatz - sie können sich ablagern wie Sedimentschichten. Das passiert auch heute noch, nur kann man erst rückblickend sagen, welches neue Wort wirklich erfolgreich geworden ist und sich abgelagert hat. Und - anders als die Metapher suggeriert - können alte Wörter auch verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Zur Vertiefung • Eine ältere, aber sehr lesenswerte Einführung in die Etymologie ist die von Elmar S E E B O LD (1981). • Harald W I E S E ( 2 2010) stellt etwas knapper, aber kurzweilig und niedrigschwellig die Indogermanistik vor. 138 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter • Wenn Sie es ganz genau wissen möchten, schauen Sie sich die Einführung von Matthias F R ITZ & Michael M E I E R -B RÜG G E R ( 10 2020) an. • Dass der Wortschatz des Deutschen auch im 20. Jahrhundert gewachsen ist, zeigt Wolfgang K L E IN (2013) sehr anschaulich. 9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter 139 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Die Sprachen der Welt unterscheiden sich zum Teil drastisch voneinander, das wissen alle, die mal versucht haben, eine Fremdsprache wie Chinesisch, Maya oder Swahili zu lernen. Und dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die viele (und zum Teil alle) Sprachen teilen, und die Rückschlüsse auf universelle Prinzipien der menschlichen Sprachverarbeitung zulassen. Einige Laute bereiten Menschen, die Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache lernen, mehr Probleme als andere Laute. Knifflig sind für viele die Vokale [y] (wie in grün) und [ø] (wie in schön). Warum ist das so? Weil diese beiden Vokale in den meisten Sprachen der Welt nicht vorkommen. Sie sind eine Seltenheit, und Laute, die es in der Erstsprache nicht gibt, müssen mühsam erworben werden. Personen, deren Muttersprache Deutsch ist, fällt es zum Beispiel schwer, die Nasalvokale im Französischen auszusprechen (wie in enfant) oder das englische th (wie in they) - um nur zwei der bekanntesten Beispiele zu nennen. Wenn ein Laut nicht in unserem Inventar vorhanden ist, probieren wir erstmal, mit unseren Bordmitteln in die Nähe zu kommen: Wir artikulieren einen Laut, der möglichst ähnlich ist. Das französische Wort balcon etwa endet mit einem nasalisierten Vokal, den man mit [ɔ̃] transkribiert. Er klingt ein wenig wie das [ɔ] in deutsch Gott - nur länger und eben nasal. Der Laut kommt im Deutschen nicht vor; stattdessen hört man häufig die Aussprache mit einem Nasal am Ende, den wir eigentlich mit ng schreiben würden: [balkɔŋ]. Das Merkmal +nasal wird mit einem eigenen Segment realisiert, das man im französischen Original nicht hört. Dieses Recyclen von Lauten, die schon vorhanden sind, führt teilweise zu sehr komischen Geschichten, wenn es in der zu lernenden Sprache beide Laute gibt - den aus der eigenen und den schwierigen fremden -, und wenn es einen Unterschied macht, welcher verwendet wird, so wie im Tweet von Margarete Stokowski (Abb. 68). Vokalviereck Minimal‐ paar Abb. 68: Tweet mit Verständigungsproblemen Im Polnischen gibt es das lange gespannte [i] wie in deutsch Spiel - aber nicht das [y]. Überhaupt kommt das Polnische mit deutlich weniger Vokalen aus als das Deutsche. Abb. 69 zeigt die Vokalvierecke der beiden Sprachen (Polnisch links, Deutsch rechts). Ein Vokalviereck ist eine schematische Darstellung des Mundraums mit der Öffnung nach links. Die IPA-Symbole sind jeweils dort angeordnet, wo die Zunge ihren höchsten Punkt hat. Beim [i] ist also der höchste Punkt der Zunge vorne oben; beim [u] hinten oben usw. Vergleichen Sie das mit den MRT-Scans der drei Vokale in Kapitel 2, Abb. 13. Abb. 69: Vokalviereck für das Polnische (links) und für das Deutsche (rechts) In den meisten Fällen geht es gut, wenn man die deutschen [y]s als [i]s realisiert - bis man eben an ein Minimalpaar gerät, also ein Wortpaar, das sich nur durch [y]/ [i] voneinander unterscheidet und ansonsten gleich aufgebaut ist wie Spülmaschine/ Spiel‐ maschine. Da kommt man mit dieser Strategie nicht weiter. Das Problem beim Erwerb von [y] ist, dass es sehr viel Ähnlichkeit mit [i] hat. Es wird ungefähr mit derselben Zungenstellung gebildet, und mit gleicher Länge. Der entscheidende Unterschied ist, dass [y] mit Lippenrundung artikuliert wird. Die Lippen sehen (paradoxerweise) wie ein o aus, wenn wir ein [y] sprechen. Das [i] hingegen ist 142 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Sprachvergleich ungerundet, die Lippen machen das, was sie z. B. beim [e] und beim [a] auch machen, nämlich nichts weiter Auffälliges. In englischen Büchern zum Deutschlernen wird das [y] meist als [u] wiedergegeben - fünf wird dann informell als fewnf (phonetisch [fu: nf]) transkribiert. John F. Kennedys Lautschrift Alternativ ist auch die Realisierung mit [i] möglich; so z. B. auch in der ursprüng‐ lich auf Deutsch geplanten Berliner Rede John F. Kennedys 1963. Kennedy sprach kein Deutsch, deswegen war das Manuskript in einer Art phonologischen Umschrift abgefasst und enthält z. B. die Zeile „fear oy-RO-pah oont dee GANTSA VELT“ (‚für Europa und die ganze Welt‘). Die Präposition für klingt hier also wie das Zahlwort vier. Fremdsprachen lagen Kennedy aber offenbar so wenig, dass man aus Angst vor einer Blamage das Deutsche auf zwei Sätze beschränkte, „Lasst sie nach Berlin kommen“ und das ungleich berühmtere „Ich bin ein Berliner“. Die beiden Vokale ([y] und [u]) sind wesentlich weiter voneinander entfernt, was die Zungenlage angeht (s. Vokalviereck oben), aber die Lippenrundung ist konstant. Das ist eine etwas riskantere Strategie als die der polnischen Sprecherinnen und Sprecher, denn es gibt mehr Minimalpaare mit [y]/ [u] als solche mit [y]/ [i] im Deutschen. Welche Sprache ist nun der Sonderfall - das Deutsche mit seinen gerundeten vorderen Vokalen (neben [y] auch noch [ø]), oder das Polnische und Englische ohne diese Vokale? Oder ist die Frage falsch gestellt und lässt sich gar nicht beantworten? Nein, sie lässt sich durchaus beantworten, und zwar sehr bequem mit ein paar Klicks. Es gibt seit 2008 eine reichhaltige Ressource für den Sprachvergleich, die noch dazu frei zugänglich ist: den World Atlas of Language Structures Online (www.wals.info), das elektronische Pendant zum gedruckten Atlas. Hier sind Informationen zu über 2500 Sprachen zu finden, auf ganz unterschiedlichen Ebenen wie der Wortstellung, der Fle‐ xionsmorphologie, oder eben des Lautinventars. Es gibt einen Artikel zu vorderen ge‐ rundeten Vokalen (https: / / wals.info/ feature/ 11A#2/ 22.6/ 152.8), und mit einem Klick darauf landet man bei einer Weltkarte und einer Liste von 562 Sprachen, die danach klassifiziert wurden, ob sie über vordere gerundete Vokale verfügen (wie das Deutsche, das sind die weißen Punkte) oder nicht (wie das Polnische und Englische, das sind die schwarzen Punkte; die hell- und dunkelgrauen Punkte stehen für Sprachen, in denen nur bestimmte gerundete Vokale belegt sind). 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien 143 Implikation Abb. 70: Weltkarte mit 562 Sprachen, die danach klassifiziert sind, ob sie vordere gerundete Vokale enthalten (weiß) oder nicht (schwarz), oder nur zum Teil (hell- und dunkelgrau); Quelle: The World Atlas of Language Structures Online (https: / / wals.info/ chapter/ 11) In den indigenen Sprachen Afrikas, Australiens und der Amerikas muss man vordere gerundete Vokale suchen wie die Nadel im Heuhaufen. In Europa und Asien ist ihre Dichte höher, insgesamt sind sie aber auch dort deutlich in der Minderheit. In Europa sind es neben dem Deutschen das Französische ([y] bspw. in rue), das Baskische, das Norwegische, Finnische und Ungarische; im Albanischen gibt es nur den hohen gerundeten Vokal [y], nicht den mittleren ([ø]). Vordere gerundete Vokale sind also in gewisser Weise unnatürlich: In den allermeis‐ ten Sprachen der Welt kommen sie nicht vor (93 % der untersuchten Sprachen im Atlas). Und die wenigen Sprachen, die [y] und [ø] verwenden, kennen immer auch die ungerundeten Versionen [i] und [e]. Dieses Ungleichgewicht spricht sehr stark dafür, dass vordere gerundete Vokale tatsächlich etwas besonderes sind. Das ist eine wichtige Beobachtung, die man als Implikation formulieren kann, also als Satz mit der Struktur ‚Wenn A, dann B‘: (1) Wenn eine Sprache über vordere gerundete Vokale verfügt, dann verfügt sie auch über vordere ungerundete. Solche Implikationen sind ein wichtiges Beschreibungsmittel in der Typologie (der Wissenschaft vom Sprachvergleich). Sie wurden berühmt durch die kurzen (und immer noch sehr lesbaren! ) Arbeiten von Joseph Greenberg, der sich besonders für die Bereiche der Morphologie und Syntax interessiert hat. Universelle Eigenschaften aller (oder der meisten) Sprachen sind für die Sprachwis‐ senschaft deswegen interessant, weil die Unterschiede zwischen den einzelnen Spra‐ chen so gewaltig scheinen: Es werden heute noch zwischen 6.000 und 8.000 Sprachen 144 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Kasus vs. Wortstel‐ lung auf der Welt gesprochen (Tendenz: stark abnehmend), und Variation ist allgegenwärtig. Das fängt bei den Lautinventaren an und hört bei den syntaktischen Mustern auf. Auch deswegen freuen sich Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler ganz besonders, wenn sie ein neues potentielles Universal entdecken. Es gibt neben der oben angeführten Implikation über die vorderen gerundeten Vokale noch viele weitere Beispiele für Implikationen (die folgenden stammen alle aus der Datenbank ‚Universals Archive‘ des Linguisten Frans Plank (https: / / typo.uni-kon stanz.de/ rara/ universals-archive): (2) Wenn eine Sprache die Kategorie Genus hat, dann hat sie auch die Kategorie Numerus. (3) Wenn eine Sprache stimmhafte wortfinale Obstruenten hat, dann hat sie auch stimmlose wortfinale Obstruenten. (4) Wenn die Wortstellung in einer Sprache relativ frei ist, dann verfügt diese Sprache auch über Kasusflexion, oft auch über Numerus und Genusflexion. Solche Implikationen können uns etwas über mögliche Zusammenhänge zwischen Kategorien verraten. Entweder über Hierarchien: Numerus scheint die grundlegendere Kategorie gegenüber Genus zu sein, weil sie auch ohne Genus vorkommt, aber nicht andersherum; etwas Analoges gilt für stimmlose wortfinale Obstruenten wie [s], [t] oder [p], die (wie im Deutschen) auch vorkommen, ohne dass es am Wortende die stimmhaften Gegenstücke [z], [d] und [b] gibt. Oder sie legen Abhängigkeiten offen, die zwischen Kategorien bestehen: Kasusfle‐ xion und Wortstellung hängen zusammen. Das wurde schon lange vermutet, aber erst mit einem systematischen Vergleich kann man diese Vermutung empirisch untermau‐ ern. Es scheint so zu sein, dass Kasusmarkierung und Wortstellung dieselben Informa‐ tionen kodieren können, nämlich Informationen über grammatische Funktion wie Subjekt oder Objekt (das wurde schon in → Kap. 7 gezeigt). Im Deutschen übernimmt das vor allem der Kasus. Die Konstituente den berühmten Schriftsteller in (5) ist hier deutlich als Akkusativ markiert und kommt nur als Objekt infrage, nicht als Subjekt. Daran ändert auch eine Umstellung nichts: Beide Sätze beschreiben denselben Sach‐ verhalt. (5) a. Peter besucht den berühmten Schriftsteller. - b. Den berühmten Schriftsteller besucht Peter. (6) a. Peter visits the famous author. - b. The famous author visits Peter. 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien 145 Zipf’sches Gesetz Funktionsvs. Inhalts‐ wörter Im Englischen sind die Kasus weitgehend abgebaut. Die grammatische Funktion des Subjekts ist an die Stellung vor dem finiten Verb (visits) gebunden. Daher ändert sich bei einer Umstellung die Bedeutung. Das war einmal anders: Das Altenglische hatte ein Vierkasussystem, das unserem heutigen sehr ähnelt; bis zum Ende der mittelenglischen Sprachperiode (am Ende des 15. Jahrhunderts) waren sie praktisch abgebaut. Gleichzeitig hatte das Altenglisch eine deutlich freiere Wortstellung. Aber als die Kasus verlorengingen, wurde die Markie‐ rung von Subjekten und Objekten anders kodiert, nämlich über die Wortstellung, die damit strikter wurde. Es gibt aber natürlich auch Gemeinsamkeiten, die nicht als Implikation, sondern als einfache Aussage über alle Sprachen gemacht werden können. So hat laut Greenberg das System der Pronomen in allen Sprachen mindestens drei Personen und zwei Numeri. Für das Deutsche stimmt das: Wir haben je drei Personen (die wir ziemlich unkreativ 1., 2. und 3. Person nennen) in beiden Numeri, im Singular und im Plural. Wir ist bspw. die 1.Person Plural, du die 2.Person Singular. Das Deutsche geht über dieses Mindestmaß aber noch hinaus, weil in der 3.Person zusätzlich nach Genus (maskulin, feminin, neutral) differenziert wird (er, sie, es). Es scheint so, als ob jede Sprache mindestens diese Unterscheidungen braucht, damit ihre Sprecherinnen und Sprecher sinnvoll über die Welt reden können. Einige solcher Aussagen und Implikationen sind absolut, das heißt, es gibt keine bekannten Ausnahmen; andere sind relativ (man sagt teilweise auch stochastisch) - aber die Ausnahmen sind so selten, dass sie genau das sind, nämlich Ausnahmen von der Regel. Besonders faszinierend sind Universale, die sich mit der Informationsverarbeitung erklären lassen (bzw. die uns Hinweise auf die Informationsverarbeitung geben). Viele der sprachübergreifenden Gemeinsamkeiten auf diesem Gebiet hat der US-amerikani‐ sche Linguist George Kingsley Zipf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckt. Seine berühmteste Beobachtung - die auch als das ‚Zipf ’sche Gesetz‘ bekannt ist - betrifft die Häufigkeit von Wörtern. Schauen wir uns dazu die 50 häufigsten Wörter in Karl Marx’ „Das Kapital“ an. (Was denken Sie, was die zehn häufigsten Wortformen sind? Überlegen Sie einen Moment, lesen Sie weiter - und überlegen Sie dann ggfs., warum Sie daneben lagen). Sie sind in absteigender Häufigkeit angeordnet (Tab. 11). Die allermeisten sehr häufigen Wörter sind sogenannte Funktionswörter - und eben nicht Inhaltswörter wie Proletariat oder Bourgeoisie. Funktionswörter überneh‐ men grammatische Funktionen: Mit er bezieht man sich auf vorerwähnte maskuline Substantive (Sie hatte einen Kuchen gebacken; er schmeckte wunderbar). Mit in kann das räumliche Verhältnis „innerhalb“ signalisiert werden (Der Kuchen ist in der Schachtel). der signalisiert, dass ein Substantiv definit ist und damit z. B. im Diskurs als bekannt vorausgesetzt wird (Ich wollte mehr von dem Kuchen). Inhaltswörter, also Wörter mit einer Bedeutung im engeren Sinne, sind in der Liste kaum zu finden. Es gibt z. B. nur sieben substantivische Wortformen in der Liste (Kapital, Arbeit, Kapitals, Werth, Waare, Geld, Theil). 146 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Rang Wort Frequenz Rang Wort Frequenz 1 der 32190 26 im 3658 2 die 25274 27 durch 3528 3 in 17111 28 wie 3453 4 und 16503 29 wird 3305 5 des 12412 30 er 3286 6 von 10896 31 aber 3244 7 den 8721 32 Arbeit 3219 8 ist 8415 33 eine 3106 9 das 7698 34 also 2999 10 als 7293 35 aus 2712 11 zu 6564 36 Kapitals 2651 12 auf 5267 37 Werth 2573 13 es 5161 38 werden 2277 14 dem 5133 39 dieser 2251 15 sich 5122 40 selbst 2242 16 Kapital 4884 41 diese 2209 17 sie 4837 42 auch 2146 18 nicht 4788 43 an 2098 19 dass 4448 44 bei 2097 20 oder 4374 45 Waare 2001 21 nur 4232 46 sind 1957 22 für 4215 47 Geld 1942 23 ein 3964 48 the 1941 24 so 3930 49 Theil 1915 25 mit 3813 50 nach 1876 Tab. 11: Die 50 häufigsten Wörter in Karl Marx‘ Das Kapital, absteigend sortiert, mit Angabe der Frequenz Unter den häufigsten Wörtern sind also viele Funktionwörter und wenige Inhaltswör‐ ter. Dafür gibt es nur eine relativ geringe Anzahl verschiedener Funktionswörter. Diese Wortarten sind quasi geschlossene Gesellschaften, es kommt nur alle Jubeljahre 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien 147 jemand dazu. Dem steht eine riesige Zahl verschiedener Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien gegenüber. Diese Wortarten sind offen, sie können jederzeit erweitert werden. Das ist ein universales Kennzeichen der Verteilung von Wörtern: Sie ist ungerecht. Es gibt wenige Wörter, die sehr häufig sind, und viele, die sehr, sehr selten sind. In längeren Texten kommt etwa die Hälfte der Wörter nur einmal vor. Das ist schon relativ lange bekannt. Zipf hat aber eine seltsame Regelmäßigkeit beobachtet: Wenn wir alle Wörter in einem Text (oder besser: in einer Textsammlung) der Frequenz nach absteigend ordnen, dann sind der Rang und die Häufigkeit ungefähr proportional. Man kann die Frequenz aus dem Rang vorhersagen: Wenn wir den Rang verdoppeln, sollte sich die Frequenz halbieren. Stimmt das? Wir probieren das aus und starten bei Rang 20: Rang Wort Frequenz 20 oder 4374 40 selbst 2242 80 mehr 1160 160 ihrem 514 320 Gesetz 266 640 Analyse 143 Tab. 12: Das zwanzig-, vierzig-, achtzighäufigste Wort usw. in Marx’ „Das Kapital“, mit Angabe der Frequenz des betreffenden Wortes Für diese Wörter stimmt Zipfs Modell ziemlich gut mit der Wirklichkeit überein: Mit jeder Zeile verdoppelt sich der Rang, und die Frequenz halbiert sich ungefähr. Die Häufigkeit der Wörter in einer Textsammlung nimmt also rapide mit dem Rang auf der Liste ab: Rang 640 kommt nur noch ein 32stel so häufig vor (1/ 2 * 1/ 2 * 1/ 2 * 1/ 2 * 1/ 2) wie Rang 20. Das müsste ja nicht so sein: Man könnte sich ja vorstellen, dass die Häufigkeit mit jedem Rang um einen konstanten Faktor abnimmt. Das geht nicht immer so gut auf wie hier, sondern manchmal nur ungefähr, und einige Vorhersagen liegen ziemlich daneben. Gerade die zwanzig häufigsten Wörter sind seltener, als sie sein sollten, und das gilt auch für die sehr seltenen Wörter. Das liegt aber auch daran, dass wir hier relativ wenig Text analysieren. Je mehr Text, desto besser wird die Vorhersage. Das ist überhaupt das Faszinierendste an Zipfs Gesetz: Es gilt nicht nur für Marx’ Kapital, es gilt für jeden Text, und die Vorhersage wird besser, je länger die Texte sind oder je mehr Texte wir gemeinsam betrachten. Egal, wovon die Texte handeln, von der Ausbeutung des Proletariats, von Corona-Verschwörungen, vom Dreißigjährigen Krieg; egal, wer die Texte geschrieben hat; egal, wann sie geschrieben wurden; Zipfs 148 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Gesetz gilt für sie alle. Und je mehr Texte wir in Korpora sammeln, desto genauer stimmt es. Und das nicht nur für das Deutsche, sondern für alle Sprachen, die wir kennen. Die Häufigkeitsverteilung von Wörtern in Texten ist ein sehr grundlegendes Merk‐ mal. Es ist bislang keine Sprache bekannt, in der Wörter anders als (ungefähr) Zipf ’sch verteilt sind. Es handelt sich also um eine universale Regelmäßigkeit. Aber ist es eine rein sprachliche Regelmäßigkeit? Nein, denn überraschenderweise gibt es Zipf ’sche Verteilungen auch in ganz anderen Bereichen, z. B. bei der Verteilung der Einwohner auf deutsche Städte. In Tabelle 13 verdoppelt sich mit jeder Zeile der Rang, und die Einwohnerzahl halbiert sich ungefähr. Es gibt größere und kleinere Abweichungen, aber im Großen und Ganzen stimmt die Vorhersage von Zipf (vgl. Just & Stephan 2009). Rang Stadt Einwohner 1 Berlin 3664088 2 Hamburg 1852478 4 Köln 1083498 8 Leipzig 597493 16 Bochum 364454 32 Magdeburg 235775 64 Wolfsburg 123840 128 Fulda 67980 Tab. 13: Deutsche Städte mit Rang und Einwohnerzahl; Quelle: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_der _Groß-_und_Mittelstädte_in_Deutschland Das müsste ja auch hier nicht so sein: Es ist ja vorstellbar, dass wir zehn sehr große Städte in Deutschland hätten, die etwa gleich groß sind, dann 50 kleinere Großstädte, die ebenfalls ungefähr gleich groß sind usw. Stattdessen sehen wir, dass die Einwohnerzahl mit steigendem Rang schnell sinkt. Und wie bei Wörtern in Texten ist das erstaunlich: Was wir hier sehen, sind ja die kumulierten Lebensentscheidungen von Millionen von Menschen, die aus einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Motive handeln - und dennoch ergeben diese Einzelhandlungen in der Summe eine Zipf ’sche Verteilung. Bei Wörtern in Texten ist das ähnlich: Wer schreibt, hat meist ein Ziel, und um dieses Ziel zu erreichen, werden bestimmte Wörter in bestimmten Sätzen verwendet. Welche Wörter das sind, hängt ganz entscheidend vom Ziel ab, das verfolgt wird. In der Summe aber ergeben diese Wörter - egal, ob es sich vor allem um ein wirtschaftswissenschaftliches Vokabular handelt oder um eine Sammlung von Kochrezepten - dieselbe Verteilung, nämlich eine Zipf ’sche. 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien 149 Häufigkeit vs. Wort‐ länge Zipf ’schen Verteilung: Andere Anwendungen Es gibt noch eine Reihe weiterer Bereiche, die überraschenderweise der Zipf ’schen Verteilung folgen - z. B. wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie viele Aufsätze schreiben (L O TKA 1926); wie der Preis von Aktien verteilt ist (K AIZO J I & M I YAN O 2016); wie die Firmengröße verteilt ist (A XT E LL 2001) u.w.m. Beim Arbeiten mit Wortlisten, die nach ihrer Häufigkeit sortiert sind, machte Zipf eine weitere Beobachtung. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit, mit der ein Wort verwendet wird, und seiner Länge. Je häufiger ein Wort ist, desto kürzer ist es wahrscheinlich. Das „wahrscheinlich“ im letzten Satz ist wichtig. Ansonsten bräuchte man nicht lange, um es zu widerlegen. Im Deutschen sind der und die die häufigsten Wörter; Ei ist wesentlich seltener, aber kürzer. Wenn wir den Zusammen‐ hang aber als statistisches Universal erfassen, können wir sagen: Länge und Frequenz korrellieren miteinander, und zwar negativ. In, an, auf, für, der, die, das sind der Nor‐ malfall, Ei, As und Öl sind die Ausnahme. Solche Ausnahmen gibt es, der Zusammen‐ hang zwischen Länge und Frequenz ist nicht perfekt - aber er ist sehr stark, weil die Ausnahmen selten sind. Aber warum gibt es diesen Zusammenhang überhaupt, und zwar in allen bislang untersuchten Sprachen? Zipf selbst vermutete, dass eine solche Verteilung entsteht, wenn zwei widerstreitende Prinzipien interagieren. Wer spricht (oder schreibt), hat auf der einen Seite das Bedürfnis, möglichst explizit und genau zu sein, um verstanden zu werden. Wenn das schon alles wäre, dann wären alle Wörter ziemlich lang, denn je länger ein Wort, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es mit anderen Wörtern verwechselt wird (weil es auf der Party gerade sehr laut ist oder weil jemand einen Text unkonzentriert liest). Rein statistisch haben kurze Wörter mehr orthographische oder phonologische „Nachbarn“: Das sind Wörter, zu denen man gelangt, wenn man nur ein Element austauscht, die also sehr ähnlich aussehen und/ oder klingen und deshalb leicht zu verwechseln sind. Das Wort hart z. B. hat elf orthographische Nachbarn (Bart, Dart, Kart, Part, Wart, zart; hört; habt, halt, hast, haut - wenn wir auch die Kleinschreibung ändern dürfen, noch fünf mehr, Hort, Haft, Harm, Harn und Harz), das Wort Industrie hingegen keinen einzigen. Das Bedürfnis, verstanden zu werden, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Daneben haben wir auch das Bedürfnis, effizient und sparsam zu kommunizieren. Aus dieser Perspektive sind kurze Wörter optimal: Je kürzer die Wörter, desto einfacher sind sie zu produzieren, und desto mehr Inhalt können wir mit demselben Aufwand übermitteln. Beide Bedürfnisse bestehen, und sie sind in Konflikt miteinander: Eine Sprache, die nur aus kurzen Wörtern besteht, würde zu vielen Missverständnissen führen; eine Sprache, die nur aus langen Wörtern besteht, wäre zu ineffizient. So kann erklärt werden, warum es sowohl sehr kurze als auch sehr lange Wortformen gibt (gerade im Deutschen). Und wenn man schon kurze Wortformen hat, dann ist es sehr effizient, diese für die besonders häufigen Elemente zu verwenden - wenn die kurzen Wörter 150 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Informati‐ onsdichte vs. Sprech‐ rate Menzerath- Altmann- Gesetz stattdessen selten wären, wäre die Sprache insgesamt immer noch sehr ineffizient, weil immer noch fast alle Wörter lang wären. Ein weiterer Effekt: Vorhersagbarkeit im Kontext Die Sprache ist noch etwas eleganter: Leicht vorhersagbare Wörter sind noch kürzer, als ihre Frequenz vermuten lässt, wie P IANTADO S I et al. (2011) zeigen. ‚Leicht vorhersagbar‘ bedeutet, dass wir mithilfe der Wörter, die vorher geäußert oder geschrieben wurden, mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auf das richtige Wort tippen können. Wenn uns ein Wort so gut wie nie überrascht, ist es kürzer, als seine Frequenz vermuten ließe. Ein anderes faszinierendes stochastisches Universal beschreibt den Zusammenhang zwischen der Informationsdichte und der Sprechrate. Es gibt Sprachen, in denen die Sprecherinnen und Sprecher häufig sehr schnell reden, wie z. B. im Japanischen oder Spanischen. Aber genau in diesen Sprachen ist die Informationsdichte relativ ge‐ ring, während sie in Sprachen, die häufig langsamer gesprochen werden (wie z. B. das Vietnamesische), umgekehrt höher ist. Pro Silbe wird mehr Information übermittelt. Das führt dazu, dass die Informationsrate bei allen bislang untersuchten Sprachen sehr ähnlich ist. Und nicht nur Sprechrate und Informationsdichte hängen zusammen, sondern auch kleinere und größere linguistische Einheiten. Je länger ein Wort ist, desto kürzer sind die Silben, aus denen das Wort besteht. In einsilbigen deutschen Wörtern hat die Silbe z. B. oft einen komplexen Endrand wie in Hand oder Kraft. In Viersilbern sind die ein‐ zelnen Silben im Schnitt deutlich kürzer: Fa.mi.li.e, mo.to.ri.siert. Dieser Zusammen‐ hang betrifft nicht nur Silben; auch Morpheme (also bedeutungstragende Einheiten unterhalb der Wortebene, → Kap. 1) sind kürzer, je länger das Wort ist. Dasselbe gilt auch für die einzelnen Laute, aus denen das Wort zusammengesetzt ist: Je länger das Wort, desto kürzer wird (im Schnitt) jeder seiner Laute artikuliert. Das [o] Rose ist länger als das [o] in Dosenöffner. Der Zusammenhang hört hier nicht auf; er gilt auch für größere Einheiten. Je komplexer Sätze sind (gemessen an der Zahl der Teilsätze, die sie enthalten), desto kürzer (in Wörtern) sind ihre Teilsätze. Beobachtungen auf der Wortebene hatte zuerst der Psychologe Paul Menzerath in den 1920er Jahren gemacht. Der Linguist Hans Altmann wendete die Idee auf größere Einheiten an und formali‐ sierte sie. Deswegen wird der Zusammenhang auch Menzerath-Altmann-Gesetz genannt (ohne ein Gesetz im strikten Sinn zu sein). Auch wenn es also auf den ersten Blick so aussieht, als ob die verschiedenen Sprachen der Welt kaum etwas gemeinsam hätten - das täuscht. Es sind nur eben abstraktere Ebenen, auf denen sie sich gleich verhalten; die Gemeinsamkeiten sind gut verborgen. Um so erstaunlicher und faszinierender sind all die typologischen und quantitativen Universalien, die bislang aufgedeckt wurden. 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien 151 Zur Vertiefung • Es gibt eine Reihe sehr guter Einführungen in die Sprachtypologie - nur sind sie fast alle auf Englisch. Empfehlenswert ist hier z.-B. M O R AV C S IK (2013). • Eine der wenigen deutschen Überblicksdarstellungen ist die des Typologen Chris‐ tian Lehmann. Es handelt sich um einen Hypertext auf seiner Internetseite (ht tps: / / www.christianlehmann.eu/ ling/ typ/ index.html), der die Möglichkeiten der Vernetzung ausnutzt und auch ansonsten immer einen Besuch wert ist (wie übri‐ gens die präzisen und trotzdem zugänglichen Darstellungen anderer linguistischer Bereiche auf seiner Seite auch! ). • Der schmale Band „Language Universals“ von Joseph Greenberg von 1956 ist neu aufgelegt worden (als G R E E N B E R G 2010), und es lohnt sich, einmal reinzulesen. Auch das neue Vorwort von Martin Haspelmath (einem der z.Zt. führenden Typologen und Projektleiter des World Atlas of Linguistic Structures) ist lesenswert. 152 10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien Markiertheitstheorie 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch Gendersensible Formen wie Lehrer*innen werden gerade kontrovers diskutiert. Was kann die Linguistik zu dieser Diskussion beitragen? Und inwiefern sind solche Schreibungen ein Eingriff in die natürlich gewachsene Sprache? Das Gendersternchen hat eine bemerkenswerte Sprengkraft - umso mehr, wenn man bedenkt, wie klein es ist. Die Debatte über das Gendern wird zum Teil hochemotional geführt, vor allem von denjenigen, die es ablehnen. Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann liest z.-B. laut Eigenauskunft keine Texte mit Gendersternchen: „Ich liebe die deutsche Sprache und finde diese Gendereien zum Kotzen. Nie würde ich so ein Sternchen verwenden, auch lese ich keine Texte, die mich mit diesem Unsinn belästigen“ (NZZ vom 28.3.2021) Solche Äußerungen sind keine Ausnahme; die Debatte um geschlechtergerechtere Sprache ist ziemlich verfahren. Das liegt auch daran, dass Argumente ganz unter‐ schiedlicher Ebenen vermischt werden, unter anderem ästhetische, linguistische und moralische Argumente. In diesem Kapitel soll es vor allem um die linguistischen Argumente für und gegen das Gendern gehen, und von da aus in einem kurzen Ausflug in die Sprachgeschichte weiter zur Frage, wer eigentlich festlegt, was richtiges und falsches, was gutes und schlechtes Deutsch ist. Linguistisch geht es vor allem um die Frage, was das sogenannte generische Maskulinum kann - oder nicht kann. Die Lehrmeinung in der Linguistik war lange Zeit wie folgt: Mit einem maskulinen Substantiv wie Lehrer bezieht man sich normalerweise auf männliche Personen. Unter bestimmten Bedingungen können damit aber auch weibliche Personen gemeint sein, z. B. wenn man sich auf die Klasse der Lehrpersonen an sich bezieht (Ein Lehrer ist wichtiger als zwei Bücher) oder im Plural (Die Lehrer streiken heute). Erklärt wurde das oft im Rahmen der Markiertheitstheorie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet wurde und in der es um unterschiedliche Merkmal‐ haftigkeit sprachlicher Ausdrücke geht. Die Theorie besagt unter anderem, dass zwei gegensätzliche Ausdrücke nicht einfach gleichberechtigt nebeneinanderstehen: Einer der Ausdrücke kann mehr als der andere. Das ist so bei den Begriffen Tag und Nacht im Deutschen. Auf den ersten Blick ein einfaches Gegensatzpaar; doch wenn man ge‐ nauer hinsieht, merkt man, dass Tag sich auch auf das 24-Stunden-Intervall beziehen kann (Ich habe drei Tage gewartet). Es gibt also zwei Bedeutungen von Tag: Tag im engeren Sinne ist der Zeitraum von Sonnenaufbis Sonnenuntergang. Tag im weiteren Empirische Studien Sinne ist Tag im engeren Sinne plus Nacht. Der Ausdruck Nacht kann nicht so referie‐ ren. Er ist spezifischer und wird im Rahmen der Theorie als „markiert“ bezeichnet. Ganz ähnlich funktioniert das auch mit grammatischen Kategorien. Wir lernen in der Schule, dass das Präsens die Gegenwart bezeichnet, das Futur die Zukunft und das Präteritum die Vergangenheit. Aber so einfach ist das nicht. Das Präsens ist nicht einfach eine Kategorie neben anderen, sie ist die unmarkierte Kategorie. Das Präsens wird meist verwendet, um eine Gleichzeitigkeit zur Sprechzeit zu signalisieren, aber es kann mehr - es kann auch zukünftige Ereignisse bezeichnen (Morgen komme ich dich besuchen) und vergangene (1815 kehrt Napoleon noch einmal kurz an die Macht zurück). Diese Flexibilität haben die anderen Tempora nicht, sie sind markiert. Die Markiertheitstheorie kann solche sprachlichen Asymmetrien in vielen Sprachen erfassen. Und prinzipiell ist es beim generischen Maskulinum auch so - der Plural Lehrer kann geschlechtsneutral verwendet werden. Es gibt da nur ein klitzekleines Problem: Häufig werden Maskulina nicht geschlechtsneutral gelesen - sondern ge‐ schlechtsspezifisch. Viele Leserinnen und Leser denken zuerst an männliche Lehr‐ kräfte, wenn sie lesen Die Lehrer demonstrieren heute. Das ist mittlerweile in zahlreichen Studien gut belegt. Solche Studien können z. B. so ablaufen: Die Versuchspersonen bekommen auf einem Bildschirm zwei Sätze präsentiert und sollen möglichst schnell beurteilen, ob der zweite Satz eine mögliche Fortsetzung des ersten ist (so z. B. in der Untersuchung von G Y GAX et al. 2008, die hier im Folgenden als Beispiel dient). Für jede Möglichkeit gibt es eine Taste, und es wird neben der Entscheidung (ja/ nein) auch die Reaktionszeit gemessen. Die Sätze sehen zum Beispiel so aus: (1) Die Physikstudenten liefen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Männer keine Jacke. Diese Abfolge von Sätzen (ein generisches Maskulinum im Plural im ersten Satz, ein Maskulinum, das sich darauf bezieht im zweiten) fanden 69 % der Versuchspersonen in Ordnung. Ein Teil der Sätze wurde nun aber so verändert, dass sich der zweite Satz auf Frauen als eine Teilmenge der Personen aus dem ersten Satz bezog: (2) Die Physikstudenten liefen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Frauen keine Jacke. Wenn Lesende die Physikstudenten tatsächlich als geschlechtsneutrale Bezeichnung lesen, dann sollte man erwarten, dass ein solcher zweiter Satz keine Schwierigkeiten macht, und dass der Anteil der positiven Antworten gleich groß ist. Das ist aber nicht der Fall: Nur 40 % der Versuchspersonen fanden die Abfolge in (2) in Ordnung. Jetzt könnte man einwenden, dass Physikstudenten in der Tat überwiegend männlich sind (es gab 2020 dreimal so viele Physikstudenten wie -studentinnen). Aber die Verhältnisse ändern sich auch nicht, wenn man neutralere Begriffe wie Zuschauer abfragt, und selbst 154 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch Sprachvergleich Verständ‐ lichkeit dann nicht, wenn stereotyp weiblich besetzte Begriffe verwendet werden (Kosmetiker, Tänzer). In allen Fällen werden Fortsetzungen mit maskulinen Substantiven deutlich besser bewertet. Die Untersuchung ist deswegen besonders interessant, weil nicht nur deutschspra‐ chige Versuchspersonen getestet wurden, sondern auch französisch- und englischspra‐ chige. Im Französischen zeigt sich das gleiche Bild wie im Deutschen - nicht weiter überraschend, schließlich werden auch dort Wörter einem grammatischen Geschlecht zugeordnet. Im Englischen aber sieht die Sache ganz anders aus: Hier haben Substantive kein Genus, und man sieht nur den Effekt der Stereotypen. Männliche Fortsetzungen werden bei stereotyp männlichen Bezeichnungen bevorzugt, weibliche bei sterotyp weiblichen, und bei neutralen Bezeichnungen wie neighbor ist das Verhältnis ausgegli‐ chen. Unterschiede sieht man auch in den Reaktionszeiten: Deutsche und französische Versuchspersonen drücken schneller auf die Ja-Taste, wenn ein generisches Maskuli‐ num mit einem Maskulinum im zweiten Satz fortgesetzt wird (also Typ 1 oben), als wenn im zweiten Satz ein Femininum steht (Typ 2) - und zwar unabhängig davon, ob die Bezeichnungen sterotyp männlich oder weiblich sind, oder ob sie neutral sind. Das ist interessant, weil nur die Reaktionszeiten derjenigen Versuchspersonen analysiert wurden, die die zweiten Sätze in Ordnung fanden. Selbst wenn Satzfolgen mit femininem Bezug (2) für die Versuchsperson möglich sind, dauert die Antwort länger als bei Sätzen mit maskulinem Bezug (1). Außerdem sind diese Daten viel unmittelbarer als Ja-/ Nein-Entscheidungen, die ja das Ergebnis einigen Nachdenkens sein können. Dieses Untersuchungdesign ist nur eins von vielen, die alle in dieselbe Richtung zeigen: Das generische Maskulinum funktioniert nicht so, wie unmarkierte Kategorien ansonsten beschrieben werden können. Das ist kein eingebildetes oder irrelevantes Problem. Es liegt zentral an den Mög‐ lichkeiten, die im Maskulinum angelegt sind: Man kann sich damit auf männliche Referenten beziehen, aber auch geschlechtsübergreifend. Das lädt zu subtilen Missver‐ ständnissen ein. Jemand schreibt über die Minister der neuen Bundesregierung und meint damit alle Personen, die jetzt ein Ministeramt haben. Jemand anders aber liest den Text und bezieht das Prädikat nur auf die männlichen Minister. Das bedeutet: Wir gendern nicht nur mit dem Genderstern oder der Beidnennung - sondern auch mit dem generischen Maskulinum, nur eben in die entgegengesetzte Richtung. Solche Missverständnisse werden noch problematischer, weil durch sie gesellschaft‐ liche Stereotype und Rollenbilder weiter gefestigt werden: Minister sind männlich, genau wie Ärzte und Professoren. Das ist die gesellschaftlich-moralische Dimension, auf die schon oft hingewiesen wurde. Etwas vernachlässigt wurde dabei allerdings ein anderer wichtiger Aspekt, nämlich der der Verständlichkeit. Generische Maskulina laden zum Missverstehen ein. Ich meine Männer und Frauen, wenn ich von demonstrierenden Lehrern schreibe - aber so wird es oft nicht gelesen. Man kann es nicht stark genug betonen: Wenn Sie möchten, dass man Sie so versteht, wie Sie möchten, dann schreiben Sie möglichst explizit! 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch 155 Ge‐ schlechtsneutrale Formen Das kann durch die Beidnennung Lehrer und Lehrerinnen erreicht werden. Der Nachteil: Die Doppelform ist etwas sperrig, und ihre Häufung wirkt unelegant (die Verständlichkeit beeinträchtigen Doppelformen allerdings nicht, wie F R I E D R ICH & H E I S E 2019 zeigen). Außerdem beziehen sich die Doppelformen auf männliche und weibliche Personen, und nicht auf andere Geschlechtsidentitäten. Dafür gibt es andere Mittel wie den Genderstern oder den Gendergap, der als Unterstrich realisiert wird (z. B. Spieler*in oder Spieler_in). Die Verständlichkeit von Texten stören solche Mittel zumindest dann nicht, wenn sie innerhalb von Wortformen auftreten (wie im Beispiel gerade). Das ändert sich, wenn damit Wortformen verbunden werden (wie in der*die Spieler*in) - hier leidet tatsächlich das Textverstehen, das zeigen F R I E D R ICH et al. (2021). Es gibt bei diesen Zeichen allerdings eine große Unbekannte - wir wissen gar nicht genau, ob sie so funktionieren, wie sie intendiert sind. Wenn ich Lehrer*innen schreibe und damit Menschen mit allen Geschlechtsidentitäten meine - wird das dann auch so gelesen? Und von wem, und von wem nicht? Dazu gibt es bislang noch keine aussagekräftigen Studien. Eine andere Möglichkeit schließlich ist es, Formen zu verwenden, die tatsächlich geschlechtsneutral sind. Das gilt zum Beispiel für Partizipien. Statt von Studenten kann man von Studierenden schreiben, statt von Zuschauern von Zuschauenden. Kritisiert wird hier oft, dass das Wort Student jemanden bezeichnet, der an einer Hochschule eingeschrieben ist, das Wort Studierender aber „eigentlich“ für solche Personen reser‐ viert sein sollte, die tatsächlich gerade studieren, also in Seminaren oder über ihren Büchern sitzen. Einmal abgesehen davon, dass es sehr schwierig ist, dieses „eigentlich“ im letzten Satz zu erklären, sehen wir hier Sprachwandel in Aktion, und zwar gleich zweimal. Zum einen ist das Wort Studierender schon seit langem lexikalisiert und wei‐ testgehend synonym mit Student. Zum anderen ist das Wort Student selbst ein Lehnwort aus dem Lateinischen, nämlich - festhalten - von einem Partizip (lat. studēns, ‚studie‐ rend‘), das substantiviert wurde (wörtlich: ‚Lernender, sich Bemühender‘). Wer also fordert, man müsse sich darauf zurückbesinnen, was das Wort Studierender „eigentlich“ bedeutet, der müsste das konsequenterweise für das Wort Student auch tun. Etymolo‐ gisch bedeuten beide dasselbe. In vielen Fällen funktioniert es, ein generisches Maskulinum durch Partizipien zu ersetzen. Manchmal aber sind die Maskulina so lexikalisiert, dass das Partizip keine Alternative ist. Bäcker und Bäckerinnen als Backende zu bezeichnen, ist etwas gewöhnungsbedürftig, weil das Partizip backend hier eine deutlichere zeitliche Kom‐ ponente hat (die Handlung wird gerade durchgeführt), die das Substantiv Bäcker nicht hat; Bäcker ist, wer eine entsprechende Ausbildung absolviert hat. Hier gibt es viele uneindeutige Fälle: Gibt es einen Unterschied zwischen Musikern und Musizierenden? In den meisten Kontexten wahrscheinlich nicht, in einigen schon - das lässt sich nicht kategorisch entscheiden. In solchen Fällen bietet die Syntax Umbaumöglichkeiten - es handelt sich dann nur um größere Eingriffe in den Text. Statt von Autofahrern kann man z. B. auch von Personen, die Auto fahren schreiben - das macht den Text natürlich 156 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch Lesbarkeit länger und komplexer. Das ist aber nicht zwangsläufig der Fall, wie die Überarbeitung der Straßenverkehrsordnung von 2013 zeigt (hier am Beispiel von §-23(3)): (3) Alte Fassung: Radfahrer und Führer von Krafträdern dürfen sich nicht an Fahrzeuge anhängen. (4) Überarbeitung: Wer ein Fahrrad oder ein Kraftrad fährt, darf sich nicht an Fahrzeuge anhängen. Weil Radfahrer und Führer von Krafträdern als Subjekt des Satzes fungiert, und weil sie hier generisch gemeint sind, sich also auf eine Klasse von Personen beziehen, kann die Konstituente durch einen sog. freien Relativsatz ersetzt werden, in der das Substantiv Fahrer (bzw. Führer) zum Verb fahren ‚zurückgebaut‘ wird. Auf diese Weise wird das ganze Problem elegant umschifft. Wenn es um einen konkreten Radfahrer geht (wenn die Verwendung also spezifisch ist), funktioniert diese Methode nicht: Der Radfahrer hängt sich an das Fahrzeug - *Wer Rad fährt, hängte sich an das Fahrzeug. Gesetzestexte sind ja eine eigene Textsorte, die sich nicht unbedingt durch Zugänglichkeit und Lesbarkeit auszeichnet - aber die Überarbeitung ist an dieser Stelle nicht komplizierter oder schwerer verständlich als die ursprüngliche Fassung. Das Beispiel zeigt einen Aspekt, der in der Diskussion nur selten auftaucht: Nicht alle Mittel, um Sprache gendersensibel zu machen, sind immer gleich geeignet. Variation ist wahrscheinlich der Schlüssel, schon allein deswegen, weil nicht alle generisch intendierten Maskulina gleich nichtgenerisch gelesen werden. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, über deren Zusammenspiel wir bislang nur wenig wissen. Nur ein Beispiel: Es ist wahrscheinlich wichtiger, maskuline Substantive anzupassen (5a), als Komposita, in denen der Erstbestandteil ein Maskulinum ist (5b). (5) a. Die Lehrer machen morgen einen Ausflug. - b. Das Lehrerkollegium macht morgen einen Ausflug. Daneben spielen aber auch der Numerus (Singular oder Plural), die syntaktische Funktion (Subjekt, Objekt oder Prädikatsnomen), die Spezifizität (generisch oder spezifisch) und auch die Textsorte (Roman, Stellenausschreibung, Zeitungsmeldung etc.) eine Rolle. Uns fehlen noch viele, viele Daten, aber vielleicht kann man ganz grob sagen: Je zugänglicher ein Maskulinum ist, je zentraler es morphologisch und syntaktisch ist, und je wichtiger es gerade im Diskurs ist, desto notwendiger ist es, sich über eine gendersensible Alternative Gedanken zu machen. Das alles natürlich nur, wenn wir nicht missverstanden werden wollen. Die einfachen Lösungen wie „Für gendersensible Sprache versehen Sie alle Masku‐ lina mit *in“ werden der Komplexität von Texten nicht gerecht. Es ist möglich, einen guten Ausgleich zwischen gendersensibler Sprache und lesbaren Texten zu finden - das ist aber Arbeit, beinahe eine Art Übersetzung. Je nachdem, welches Maskulinum 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch 157 Organis‐ musmeta‐ pher in welchem Text in welcher Position steht, ist die Notwendigkeit, es zu ersetzen, unterschiedlich groß, und die Möglichkeiten der konkreten Ersetzung unterscheiden sich ebenfalls. Also - alles nicht so einfach, genau wie die Diskussion um gendersensible Sprache auch. Vieles ist so verfahren, dass es sich gar nicht lohnt, die Debatte noch einmal nachzuzeichnen. Ich möchte hier stattdessen einen Aspekt herausgreifen. Gegen gendersensible Sprache wird häufig argumentiert, dass es ein künstlicher Eingriff in die natürlich gewachsene Sprache sei. Abb. 71: Tweet mit einem Zitat von Dieter Hallervorden zur Unnatürlichkeit von Eingriffen in die Sprache Die Sprache ist in einem solchen Argument ein Organismus. Dafür spricht einiges - schließlich können wir die Sprache als den geronnenen Gebrauch von Generationen von Sprecherinnen und Sprechern vor uns verstehen (→ Kap. 4 zur Schreibung). Es lohnt sich aber trotzdem, das Bild etwas näher anzusehen. Es ist ja etwas paradox: Wenn die Sprache ein Organismus ist, welche Rolle haben dann diejenigen, die sie sprechen? Am Ende sind sie es, die die Zukunft der Sprache gestalten, indem sie sich so oder anders verhalten, und jede Veränderung geht von ihnen aus. Das Bild vom Organismus ist hilfreich, weil es bestimmte „emergente“ Eigenschaften einfängt - also Eigenschaften, die sich erst auf der Ebene der kollektiven, historischen Sprache ergeben, nicht aber auf derjenigen der Sprechenden. Trotzdem ‚ist‘ die Sprache kein Organismus. Handelt es sich bei der Zunahme geschlechtersensibler Schreibungen um Sprach‐ wandel? Ja, denn die Sprache vieler ändert sich, aber das ist ja trivial. Der interessante 158 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch „Natürli‐ ches“ Standard‐ deutsch? Doppelte Vernei‐ nung Tun als Hilfsverb Unterschied ist, dass die meisten Sprachwandelprozesse für die Sprecherinnen und Sprecher mehr oder weniger unbewusst abgelaufen sind: Sie haben sich nicht bewusst für oder gegen eine Variante entschieden, sondern so gesprochen, wie es sich richtig anfühlt. In der Summe all dieser einzelnen Entscheidungen hat sich die Sprache dann geändert - aber niemand hatte den Impuls, die Sprache zu ändern, eben nur, sich so auszudrücken, wie es sich richtig anfühlt. Das ist in Kapitel 4 oben mit dem „Prinzip der Unsichtbaren Hand“ beschrieben worden. So funktioniert der Trend zu gendersensibler Sprache ja gerade nicht; es ist keine Entscheidung, die unbewusst getroffen wird. Es ist also etwas am Vorwurf der Künstlichkeit dran. Allerdings wurden gerade geschriebene Texte schon immer bewusst geplant, umgebaut, geändert - diese Konstituente an den Anfang, diese ans Ende -, um sie lesbarer und zugänglicher zu machen. Spontan war die Schrift nur selten. Das Argument gegen gendersensible Sprache, um das es hier geht, beruht außerdem auf der Vorannahme, dass das Deutsche ganz „natürlich gewachsen“ ist. Aber diese Vorannahme liegt ziemlich daneben, zumindest für das, was wir heute als geschriebe‐ nes Standarddeutsch bezeichnen, also z. B. das Deutsch, das wir in überregionalen Tageszeitungen finden können (Eisenberg 2007). Das geschriebene Standarddeutsch ist zum Teil ‚von selbst‘ im Gebrauch entstanden; es wurde aber zum Teil auch bewusst geformt, beeinflusst und gesteuert. Viele Strukturen, die wir heute nutzen, sind das Ergebnis dieser Beeinflussung. Wer hatte solch einen Einfluss auf das Deutsche? Es waren meist Grammatiker (Linguisten also) und die zahlreichen Vereine und Gesellschaften, die seit dem 17. Jhd. gegründet wurden und die es sich zur Aufgabe machten, das Deutsche zu „pflegen“. An drei Beispielen wird deutlich, worum es geht (es gäbe noch viele weitere). Da wäre zuerst die doppelte Verneinung: (6) a. Er hat kein Geld nicht mehr. - b. Sie hat niemanden nicht gesehen. Solche Sätze fallen im heutigen Standarddeutsch auf; sie klingen falsch, dabei können wir ihre Bedeutung unmittelbar erfassen. Wer sie äußert, wird oft als ungebildet eingestuft. Dass das so ist, verdanken wir den Sprachpflegern des 18. Jahrhunderts, die solche Sätze mit zwei Negationselementen (die Negationspartikel nicht und das Indefinitpronomen kein bzw. niemanden) stigmatisiert haben. Sie orientierten sich dafür am großen sprachlichen Vorbild, der lateinischen Grammatik. Dort ist eine doppelte Verneinung, wie in der klassischen Logik auch, eine Bejahung; die zweite Verneinung hebt die erste auf. Die doppelten Verneinungen, die sich noch im 18. und 19. Jahrhundert in den deutschen Dialekten fanden (und die auch heute noch in vielen Sprachen üblich sind) wurden aus dem Standarddeutschen getilgt. Oder nehmen wir das eigentlich unschuldige tun, das auch im Deutschen ein Allrounder wie sein englischer Cousin do hätte werden können: 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch 159 Genitivat‐ tribut (7) a. Er meint, dass er das schaffen tut. - b. Der Lehrer tat ihn oft aufrufen. Auch diese Belege wirken schlecht, und vielleicht haben Sie sogar einen Merksatz dazu im Kopf. „Tuten tut ein Auto“ wurde und wird z. B. Kindern gesagt, die tun so benutzen wie in den Sätzen in (7). Die tun-Konstruktion war bis ins 18. Jahrhundert in gedruckten überregionalen Texten zu finden; sie wurde wie die doppelte Verneinung zunehmend stigmatisiert und immer seltener verwendet. Der schreckhafte Reflex, den viele Eltern und Lehrkräfte auch 300 Jahre später noch haben, wenn jemand Sätze wie (7) verwendet, zeigt, wie wirkungsvoll die Stigmatisierung war. Aber die Sprachpfleger haben nicht nur missliebige Konstruktionen beseitigt, sie haben andere auch bewahrt. Ein solcher Fall (und das letzte Beispiel in der Reihe) ist der Genitiv in Nominalgruppen. (8) a. das Buch meines Bruders - b. das Buch von meinem Bruder Die Bedeutung der beiden Konstituenten ist dieselbe: Die Nominalgruppe bezeichnet ein bestimmtes Buch, und dieses Buch gehört dem Bruder (das ist zumindest die naheliegende Lesart; vorstellbar ist auch, dass der Bruder das Buch geschrieben hat). Die Form unterscheidet sich aber: In (8a) ist sie als Genitiv realisiert (meines Bruders), in (8b) als von-Präpositionalgruppe (von meinem Bruder). Der Normalfall im geschriebenen Deutsch ist der Genitiv (8a); von-Präpositional‐ gruppen sind im Gesprochenen verbreitet, im Geschriebenen aber selten. In eng verwandten Sprachen wie dem Englischen und in den deutschen Dialekten ist das anders. Es gab dort in früheren Sprachstufen ebenfalls einen Genitivkasus - der ist aber im Laufe der Zeit abgebaut worden. Genitiv im Englischen? Im Englischen ist nur noch das possessive ’s übriggeblieben wie in my brother’s book - das sieht auf den ersten Blick aus wie ein Genitiv, verhält sich aber nicht so, wie Kasus sich sonst verhalten. Wenn die Konstituente länger wird, wechselt das ’s die Position und lehnt sich immer an die letzte Einheit vor dem Bezugssubstantiv an: my brother from Berlin’s book, nicht *my brother’s from Berlin book. Es spricht einiges dafür, dass die Standardisierung des Deutschen (also die Schaffung einer einheitlichen, überregionalen Schriftsprache) genau zur richtigen Zeit einsetzte, um den Genitiv zu retten (diesen Zusammenhang hat Alan S C OTT 2014 vorgeschlagen). Das Mittel war dasselbe wie in den anderen beiden Fällen, nämlich die Stigmatisie‐ rung der unbeliebten Variante. Im Englischen war die Entwicklung zum Beginn der 160 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch Standard‐ deutsch als Schrift‐ sprache Standardisierung schon weiter, daher war der Genitiv verloren; die Dialekte sind nicht standardisiert worden, auch hier wurde der Genitiv abgebaut. Dieser Abbau des Genitivs scheint also relativ üblich zu sein (→ Kap. 5), aber durch bewusste Arbeit an der entstehenden Standardsprache ist es gelungen, den Kasus zu erhalten. Heute ist er im Geschriebenen sehr stabil, und auch im Gesprochenen ist der Genitiv deutlich häufiger als von-Präpositionalgruppen. Aber warum konnten solche Eingriffe überhaupt erfolgreich sein? Das hat wahr‐ scheinlich deswegen so gut funktioniert, weil Standarddeutsch lange Zeit eine Sprache war, die in erster Linie geschrieben und nur selten gesprochen wurde. Aus den Ver‐ schriftungen der einzelnen deutschen Dialekte entwickelte sich in einem komplizierten Ausgleichsprozess über mehrere Jahrhunderte eine überregionale Schriftsprache. Als Muttersprache gelernt wurden aber die Dialekte. Kompetenzen im Standarddeutschen wurden lange Zeit frühestens in der Schule erworben. Je nachdem, wie stark sich der Dialekt der Kinder vom Standarddeutschen unterschied, musste Standarddeutsch tat‐ sächlich als eine Art Zweitsprache gelernt werden; das war z. B. für viele Norddeutsche der Fall. Das Niederdeutsche, das sie sprachen, war zwar mit dem Hochdeutschen verwandt, aber deutlich weiter davon entfernt als es bei süddeutschen Dialekten der Fall war. Bis weit ins 18. Jahrhundert wurde in Deutschland praktisch nur der jeweilige Dia‐ lekt gesprochen, auch von der Oberschicht in den Städten. Erst ab dem 19. Jahrhundert wurde die Standardsprache zur gesprochenen Sprache, die auch im Alltag verwendet wurde. Und erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist Standarddeutsch für viele Kinder in Deutschland die Muttersprache - entweder zusätzlich zum Dialekt oder anstatt des Dialekts. Das Standarddeutsche war, so kann man vermuten, als rein geschriebene Sprache besonders empfänglich für bewusste Eingriffe. Umgekehrt haben diese Eingriffe die Sprache erst zu dem gemacht, was sie heute ist. Und auch heute noch gibt es sprachpflegerische Programme: Denken Sie nur an weil mit Verbzweitsatz (Ich habe verschlafen, weil mein Wecker hat nicht geklingelt) oder an wegen mit Nominalgruppe im Dativ (wegen dem schlechten Wetter). Das geschriebene Standarddeutsch ist also nicht nur „natürlich“ gewachsen, sondern in seiner Geschichte immer wieder ganz bewusst geändert worden. Insofern hinkt der Vergleich oben (Abb. 70). Ein bewusster Eingriff in die Sprache ist kein Sonder‐ fall im Deutschen. Der Versuch, geschlechtersensible Schreibungen durchzusetzen, unterscheidet sich aber dennoch in zwei Punkten von sprachpflegerisch motivierten Eingriffen. Sie ist erstens eine sprachliche Innovation und zielt gerade auf Veränderung ab, auf ein Aufbrechen des Status quo. Der Sprachpflege geht es heute in den meisten Fällen um das Gegenteil, um die Bewahrung des Status quo. Sprachwandel ist der Sprachpflege suspekt. Das Hauptargument, weil nicht mit Verzweitsatz zu benutzen, ist, den ‚Verfall‘ des Deutschen abzuwenden. 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch 161 Norminstanz Normverstöße Und zweitens sind die Motive für geschlechtersensible Sprache anders. Sie betreffen die Moral (es ist ungerecht, wenn bestimmte Gruppen sprachlich unsichtbar bleiben, es zementiert gesellschaftliche Ungerechtigkeit) und die Eindeutigkeit (wenn ich generische Maskulina verwende, kann ich nicht sicher sein, dass ich so verstande werde, wie ich das möchte). Aber wer entscheidet denn eigentlich, ob gegendert wird oder nicht? Wer sagt, was richtig und was falsch ist, gibt es eine Norminstanz? Wir leben zum Glück in einem freien Land und können uns sprachlich so verhalten, wie wir möchten. Die Grenzen sind die Verständlichkeit und der gegenseitige Respekt, aber die sind überschreitbar, wie man jeden Tag beobachten kann. Es gibt die Rechtschreibregeln - die gelten aber nur für Schulen und Behörden (der Rat für Rechtschreibung hat sich 2021 dafür entschieden, den Schreibgebrauch erst einmal weiter zu beobachten, bevor für gendersensible Formen wie LehrerInnen oder Lehrer*innen die Regeln verändert werden). Und es gibt zahlreiche Sprachratgeber, die auch alle eine Meinung haben. Zum Teil beschreiben sie den heutigen Gebrauch, sie halten also fest, was die Mehrheit macht. Zum Teil beschreiben sie einen älteren oder idealisierten Sprachstand (wie oben bei wegen & Co. gesehen). Entscheidend ist aber der aktuelle Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft. Wenn man sich sprachlich unauffällig verhalten möchte, dann verhält man sich so wie die Mehrheit. Genauso, wie es für bestimmte Situationen allein durch das Verhalten der Menschen, also ohne festgeschriebene Regeln, bestimmte Bekleidungskonventionen gibt - im Büro tragen die Menschen andere Klamotten als im Schwimmbad oder beim Kostümball, und das sollten Sie nicht durcheinanderbringen! -, so gibt es für unterschiedliche Kommunikationsformen und Textsorten unterschiedli‐ che sprachliche Konventionen. Man kann diese Konventionen „Norm“ nennen, und man kann noch einmal unterscheiden, was der Ort dieser Norm ist: Interne Normen sind von den Sprachteilnehmern internalisiert und werden meist ganz unbewusst angewendet; externe Normen sind in Regelwerken und Ratgebern festgehalten. Sprachliche Innovationen verstoßen am Anfang gegen die externen Normen. Viele Leute machen an denselben Stellen Fehler (nichts anderes ist ja ein Normverstoß). Solche Fehler passieren nicht immer aus Versehen, sondern zum Teil auch absichtlich, z. B., um sich besonders extravagant auszudrücken, um zu provozieren, oder eben, um geschlechtersensibler zu schreiben. Je mehr Leute diese Fehler machen, desto weniger fehlerhaft sind die Normverstöße aber - der Gebrauch bewegt die Norm, und am Ende verstoßen diejenigen gegen die (neuen) Normen, die noch die alte Form verwenden. Das kann durchaus auch bei geschlechtersensibler Sprache passieren. Je nach Textsorte wird unterschiedlich häufig gegendert, in studentischen Hausarbeiten in geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern z. B. häufiger als in Texten der über‐ regionalen Tagespresse, und dort häufiger als in Romanen. Wenn der Trend sich fortsetzt, dann ist geschlechtersensible Sprache irgendwann die Norm, und die alleinige Verwendung generischer Maskulina wird als bewusster Akt des Nicht-Respektierens wahrgenommen. 162 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch Aber ob es tatsächlich so kommt, und ob konkrete Mittel sich durchsetzen - Genderstern? Unterstrich? Beidnennung? -, das lässt sich nicht vorhersagen. Schließlich sind es immer noch Millionen von einzelnen Entscheidungen von Individuen, die das System in der Summe unberechenbar machen. Zur Vertiefung • Eine unaufgeregte und ausgewogene Einführung in die Genderlinguistik ist Kotthoff, Nübling & Schmidt (2018). Dort findet sich auch ein instruktiver Überblick über einige der Faktoren, die eine maskuline Lesart befördern (92 ff.). • Die Stellungnahme des Rats für Rechtschreibung, den Schreibgebrauch erst weiter zu beobachten, bevor eine der Varianten in die Norm aufgenommen wird, findet sich hier: https: / / www.rechtschreibrat.com/ geschlechtergerechte-schreibung-em pfehlungen-vom-26-03-2021/ • Aus moralischer Perspektive argumentiert Anatol Stefanowitsch (2018) in einem schmalen Bändchen sehr lesenswert gegen sexistischen und rassistischen Sprach‐ gebrauch. 11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch 163 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze Wenn sich die Bedeutung einer Äußerung aus der Bedeutung der Wörter und den Regeln der Verknüpfung ergibt, wie kann es dann sein, dass wir zum Teil gar nicht sagen, was wir meinen? Und, noch erstaunlicher. Wie können solche Äußerungen dann trotzdem verstanden werden? Manchmal sagen wir Sachen, die wir gar nicht so meinen, und wir werden trotzdem ver‐ standen; manchmal verstehen wir viel mehr, als wörtlich gesagt wird. Auf irgendeinem Kanal wird noch mehr Inhalt transportiert, der über die Bedeutung im engeren Sinn hinausgeht. Um diese Ebene geht es in diesem Kapitel. Wie funktioniert beispielsweise der Tweet in Abb. 72, der sich auf einen ‚Tatort‘ von 2018 bezieht? Abb. 72: Tweet mit einem nicht-wörtlich gemeinten Satz In Kapitel 7 wurde gezeigt, wie die Informationen, die übermittelt werden sollen, vom Sender sprachlich verpackt werden, und wie sie vom Empfänger wieder entpackt werden. So kann die Bedeutung eines Satzes aus der Bedeutung der Wörter und Wortgruppen und den Regeln der Verknüpfung rekonstruiert werden. Aber hier sagt die Verfasserin ja augenscheinlich das Gegenteil dessen, was sie meint. Männer, die nur Ansprüche stellen, sind eben gerade nichts Neues für sie, sondern ein alter Hut. Und trotzdem wird sie verstanden. Wie kann das sein? Das funktioniert, weil die Ebene der Wort- und Satzsemantik (also der Bedeutung im engeren Sinn) eben nur ein Teil der Bedeutung von Äußerungen ist. Die Bedeutung im weiteren Sinne ist viel reichhaltiger. Um Äußerungen in konkreten Kommunikati‐ onskontexten verstehen zu können, gehört mehr, als nur die wörtliche Bedeutung zu kennen (auch wenn das sicherlich ein großer Teil dieser Aufgabe ist). Aber damit das funktionieren kann, muss es ein System geben, das alle kennen und an das sich alle halten. Ansonsten wüssten wir nicht, wie wir mit einer Äußerung wie in Abb. 72 umgehen sollen. Es scheint eine ganze Reihe ungeschriebener Regeln zu Wahrheits‐ regel Probleme mit Ironie‐ erkennung geben, die alle respektieren, die an Unterhaltungen teilnehmen (ob gesprochen oder in sozialen Netzwerken geschrieben). Diese Regeln können wir vorsichtig freilegen. Eine solche Regel - wir könnten sie die Wahrheitsregel nennen - lautet: (1) Dein Gesprächsbeitrag sollte wahr sein! Wir verlassen uns also erst einmal darauf, dass das, was wir hören und lesen, nach bestem Wissen und Gewissen geäußert wird. Entscheidend ist also nicht so sehr die absolute Wahrheit, sondern ob Sprecherinnen und Sprecher ihre Äußerungen für wahr halten. Wenn das anders wäre - wenn wir also bei jeder Äußerung misstrauisch wären und eine Lüge wittern würden -, wären Unterhaltungen kaum möglich. In bestimmten Kontexten kann das aber durchaus der Normalfall sein, z. B. wenn Sie einen Verdächtigen verhören. Aber solche Kommunikationssituationen sind eben nicht der Normalfall. So weit, so gut - aber die Äußerung Das ist ja was ganz Neues verstößt ja genau gegen diese Regel. Das ist kein großes Problem, weil die Regel, wie andere Regeln auch (z. B. die Verkehrsregeln), verletzbar sind. Wenn man sich nicht daran halten muss, warum brauchen wir die Regeln dann überhaupt? Aus zwei Gründen, die zwei Seiten derselben Medaille sind: Weil es für uns als Zuhörende wichtig ist, Verletzungen erkennen und als solche interpretieren zu können; und weil es für die Sprechenden wichtig ist, genau mit diesen Erwartungen spielen zu können. Weil sich die Mehrzahl der Sprecherinnen und Sprecher die meiste Zeit an die Regeln halten, wird unterstellt, dass eine Verletzung einen besonderen Grund haben muss. Die Person in Abb. 72 lügt also nicht einfach, sie ist nicht unkooperativ, sondern sie möchte mit der Verletzung etwas signalisieren: Das hier ist ironisch gemeint! Indem sie etwas behauptet, was sie nicht meint, zeigt sie zwar ihre Überzeugungen, distanziert sich aber gleichzeitig etwas davon. Sie hätte ja auch ganz unironisch schreiben können: Männer, die nur Ansprüche stellen. Das ist nichts Neues. Oder: Das ist doch ein alter Hut. Aber ohne das ironische Augenzwinkern entfällt auch die Distanz und das Spielerische. Der Inhalt bekommt mehr Gewicht, mehr vielleicht, als die Schreiberin möchte. Am Ende geht es eben nur um einen Kommentar zu einem Fernsehkrimi, nicht um einen Essay zur Sterbehilfe. Wie wird die Verletzung der Regel erkannt? Einerseits dadurch, dass es ganz offensichtlich widersinnig ist, zu behaupten, dass Männer mit Ansprüchen etwas ganz Neues sind. Das passt nicht zu unserem Weltwissen. Andererseits kann auch der Satz Das ist ja was ganz Neues selbst als Signal dienen - er wird häufig ironisch gebraucht, vielleicht sogar häufiger, als er wörtlich verwendet wird (das wäre mal eine interessante Untersuchung). Wenn Sie jetzt sagen: Naja, so ganz eindeutig ist das ja nicht, dann haben sie vollkommen recht. Das Erkennen von Ironie ist eine wackelige Angelegenheit. Man muss verstehen, dass die Äußerung so nicht gemeint sein kann. Und manchmal ist das nicht einfach zu erkennen, oder nur für diejenigen, die die Sprecherin oder den Sprecher gut kennen: Das kann sie so nicht gemeint haben, sie engagiert sich für Flüchtlinge! Er 166 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze ist dreimal geimpft, das muss Ironie sein! Und Ironie geht ja auch oft auf spektakuläre Weise schief. Ganz besonders im Internet, wo von allen, die sich äußern, immer das Schlimmste angenommen wird. So auch im Fall der Journalistin Nicole Diekmann, die Neujahr 2019 kurz twitterte: Abb. 73: Ursprungstweet von Nicole Diekmann Auf die Nachfrage, wer für sie ein Nazi sei, antwortete sie: Abb. 74: Ironischer Antworttweet von Nicole Diekmann auf die Bitte, „Nazi“ zu definieren Das wiederum ist von vielen wörtlich interpretiert worden, also als Gesprächsbeitrag, der die Regel (1) befolgt: Für Nicole Diekmann sind all diejenigen Nazis, die nicht die Grünen wählen. Es folgte ein Shitstorm inklusive Morddrohungen. Ein paar der harmloseren Antworten auf Diekmanns Tweet sahen z. B. so aus: 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze 167 Ironiemarker Konversationsmaximen Abb. 75: Drei Tweets als Reaktion auf den Tweet von Nicole Diekmann Warum wurde der Tweet nicht als ironisch erkannt? Blenden wir für einen Moment die Möglichkeit aus, dass Diekmanns Tweet bewusst missverstanden werden sollte, und nehmen wir an, dass er tatsächlich ganz unschuldig wörtlich interpretiert wurde. Dann liegt das daran, dass Hinweise auf die ironische Verwendung fehlten. Bestimmte Emojis (z. B. ���� ) können diese Funktion erfüllen, aber auch Klammerpaare wie <irony> und </ irony off> - sie sind nur nicht besonders subtil. Der ganze Punkt am Stilmittel der Ironie ist ja, dass auf den ersten Blick die Wahrheitsregel gebrochen wird, und dass mit dieser Information der Gesprächsbeitrag dann neu bewertet werden muss; man muss das Gesagte neu berechnen. Wenn das schon direkt signalisiert wird, ist es dann noch überhaupt noch Ironie? Hinweise auf Ironie Diese Frage gilt nicht nur für Kommunikation in sozialen Netzwerken, sondern auch für die gesprochene Sprache. Auch hier wird Ironie z. T. von Hinweisen begleitet, die mehr oder weniger subtil sein können (eine bestimmte Intonation und eine bestimmte Mimik und Gestik wie bspw. Augenrollen oder Zwinkern). Das Ideal des ‚trockenen‘ Humors, des ‚Deadpan‘-Vortrags (pan ist ein Slangwort für ‚Gesicht‘, also ‚totes Gesicht‘) ist das Gegenteil: Ironie wird hier vollkommen neutral und ohne Hinweise vorgetragen; sie muss sich aus dem Kontext ergeben. Neben der Ironie verletzen auch Metaphern die Wahrheitsregel. Wenn Goethe in seinem Gedicht ‚An den Mond‘ beispielsweise vom Labyrinth der Brust schreibt, ist das wörtlich falsch: Die Brust hat und ist kein Labyrinth. Erst als Metapher macht dieser Verstoß gegen die Wahrheitsregel Sinn. Es gibt also die Wahrheitsregel, und es gibt die grundlegende Annahme, dass Men‐ schen, mit denen wir uns unterhalten, kooperativ sind (das Kooperationsprinzip). Da‐ neben gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Regeln. Sie wurden seit 1967 vom engli‐ schen Philosophen Paul Grice herausgearbeitet. Er setzt die folgenden vier „Konversationsmaximen“ an: • Maximen der Quantität: ▷ Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig! ▷ Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig! • Maxime der Qualität: ▷ Versuche, die Wahrheit zu sagen! 168 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze Maximen der Qualität Maximen der Quantität • Maxime der Relation ▷ Sei relevant! • Maxime der Art und Weise ▷ Drücke dich klar aus! Sie sehen, dass unsere Wahrheitsregel bei Grice die „Maxime der Qualität“ heißt. Und sie ist eigentlich eine „Supermaxime“, die noch weiter spezifiziert werden kann: (2) a. Sage nichts, was du für falsch hältst! - b. Sage nichts, für das dir Belege fehlen! Es geht also, wie oben schon erwähnt, nicht um die „Wahrheit“, sondern einerseits um das subjektive Wahrheitsempfinden; es geht außerdem darum, dass wir von unseren Kommunikationspartnern erwarten, dass ihre Aussagen Substanz haben, dass sie belastbar sind - und nicht nur bloße Behauptungen und Vermutungen (wie alle Maximen sind auch diese „Submaximen“ natürlich verletzbar). Für das bewusste Verletzen (oder das scheinbare Verletzen, s. unten), um eine Bedeutung zu transportieren, die nicht wörtlich geäußert wurde, führt Grice eine neue Bezeichnung ein: Die wörtliche Bedeutung und die ungeschriebenen Regeln (sowie das Wissen um die ungeschriebenen Regeln) implikatieren die nicht wörtliche Bedeutung; was hier passiert, ist eine Implikation. Was hat es mit den anderen Maximen auf sich? Die Maximen der Quantität sind praktisch selbsterklärend. Wir erwarten von anderen (und andere erwarten von uns), dass Gesprächsbeiträge weder zu wenig informativ sind noch zu informativ. Beide Antworten im folgenden Beispiel sind unwahrscheinliche Äußerungen, weil sie jeweils eine der Quantitätsmaximen verletzen (es sei denn, man möchte sich bewusst nicht an die Maximen halten): (3) - A: „Wie war deine Weltreise? “ - a. B: „Gut.“ - b. B: „Die Weltreise war hervorragend. Habe ich letztes Jahr schon gebucht, als ich das Geld von Tante Mia geerbt habe, die ist ja mit 97 an einer Lebensmittelvergif … nein, das war Tante Anne, Tante Mia hatte Blutvergiftung. Wir sind in Hamburg an Bord der MS Otto Sverdrup gegangen. Das Schiff ist nach diesem norwegischen Polarforscher benannt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erfolgreiche Polarexpedition leitete, ein total interessanter Typ mit einem sehr eigenwilligen Bart, musst du dir mal angucken. Außer uns waren 918 andere Gäste an Bord: Herr und Frau Lohmeyer, Herr Ortez, Frau Köhler, …“ Interessant ist, dass die Antworten in (3) faktisch nicht falsch sein müssen, aber dass wir eine solche Verletzung der beiden Submaximen als sehr unhöflich empfinden (unhöflich kurz und unhöflich lang). 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze 169 Beispiel: Spukhaus Ein authentisches Beispiel für eine Verletzung der Quantitätsmaxime aufgrund von zu viel Information ist das folgende Schild einer US-amerikanischen Immobilienfirma (Abb 76). Es zeigt an, dass hier ein Haus zum Verkauf steht, und dass es in diesem Haus nicht spukt. Abb. 76: Tweet mit einem Schild, das ein nicht-bespuktes Haus anzeigt; Quelle: https: / / twitter.com/ m bloomstein/ status/ 1374709572636655619 Dieser Verstoß gegen die Quantitätsmaxime hinterläßt ein ungutes Gefühl. Wenn wir unterstellen, dass die Immobilienfirma kooperativ kommunizieren möchte (und das kann man unterstellen, schließlich hat sie ein Interesse daran, das Haus zu verkaufen), dann können wir vermuten, dass es einen Grund für die scheinbar überflüssige Information gibt, dass die Quantitätsmaxime also nur vermeintlich verletzt wird. Was könnte der Grund sein? Das ist unklar - vielleicht weiß die ganze Nachbarschaft, dass es in diesem Haus spukt, oder im Haus spukt es für alle Besucher gut sichtbar? Egal, wie der Grund lautet, wir vermuten, dass es einen gibt; nur für Menschen, die 170 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze Beispiel: Witze davon ausgehen, dass es im Haus spukt, ist der Zusatz nicht überflüssig. Weil wir also vermuten, dass hier kooperativ kommuniziert wird, implikatiert der Zusatz, dass es für bestimmte Menschen bekanntes Wissen sein muss, dass es im Haus spukt. Vielleicht liegt hier aber auch eine Art ironische Verwendung vor: Der Makler weiß, dass es im Haus nicht spukt, er weiß aber auch um die Implikatur, die durch den Zusatz „NOT HAUNTED“ entsteht, und nutzt sie als Blickfang und zur Generierung von Aufmerksamkeit (und das war ja z.T. auch erfolgreich, das Schild ist schließlich in diesem Buch abgedruckt). Auf ähnliche Weise funktionieren im Deutschen auch Sätze wie Kommen sie ruhig näher, ich beiße nicht! Auch hier handelt es sich ja nur um einen scheinbaren Hinderungsgrund. Mit Verletzungen der Quantitätsmaxime spielen auch zwei Typen von Witzen. Auf der einen Seite solche, bei denen die Antwort nicht falsch ist, aber zu wenig Informationen enthält: (4) a. A: Wissen sie, wie spät es ist? B: Ja. - b. A: Können sie mir den Weg zum Rathaus zeigen? B: Ja. - c. A: Guten Tag, ich bin Norbert Meyer. Und sie? B: Ich nicht. Bei den Fragen in (4a) und (4b) handelt es sich formal um Entscheidungsfragen, die üblicherweise mit Ja oder Nein beantwortet werden. Die Antwort entspricht also genau den grammatischen Erwartungen. Gemeint ist aber etwas anderes, und das wissen auch alle: Es handelt sich um die höflich verklausulierte Bitte, die Uhrzeit bzw. den Weg zum Rathaus mitzuteilen. Weil das alle wissen, und weil wir vermuten, dass alle kommunikativ kooperieren, können die Fragenden die Antworten als Witze erkennen (solche Witze nervig zu finden bleibt ja unbenommen). In (4c) ist die eigentliche Frage (Und sie? ) mehrdeutig. Sie ist unvollständig, und man muss Informationen ergänzen. Sie kann verstanden werden als ‚Und wer sind sie? ‘, so ist sie intendiert; aber auch als ‚Und sie? Sind sie auch Norbert Meyer? ‘. Das ist mit dem Eigennamen natürlich absurd, aber wenn wir an die Stelle z. B. ein Adjektiv setzen, sehen wir, dass es grundsätzlich funktioniert: Ich bin satt/ zufrieden/ müde, und sie? Ich nicht. Auf der anderen Seite können Äußerungen auch faktisch korrekte Informationen enthalten, nur eben zu viele. Ein Beispiel sind Bildunterschriften wie die folgende, die 2017 auf dem amerikanischen Fernsehsender CNBC zu sehen war: 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze 171 Maxime der Relation Abb. 77: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (links); Standbild des Fernsehsenders CNBC von 2017; Quelle: https: / / twitter.com/ sophieliselotte/ status/ 854216299530137601 Der Präsident begrüßt hier den Botschafter des Osterhasens im Weißen Haus (absurd genug, aber das ist hier nicht der Punkt), und der Sender weist darauf hin, dass der Präsident der Vereinigten Staaten links im Bild zu sehen ist. Das ist korrekt. Warum ist es dann lustig? Weil wir annehmen, dass sich alle an die Maxime der Quantität halten, also nicht zu viele Informationen liefern. Der amerikanische Präsident ist ganz eindeutig links im Bild, und selbst, wenn dort eine uns unbekannte Person stehen würde, wäre der Zusatz überflüssig, weil rechts gut sichtbar keine Person steht. Die Information über die Position des Präsidenten (links) muss also anders interpretiert werden: Jemand missachtet die Maxime der Qualität ganz bewusst, um einen Witz zu machen, in diesem Fall: Um zu suggerieren, dass die beiden Gestalten verwechselt werden könnten. Auch die Maxime der Relation kann scheinbar verletzt werden. Sie fordert, dass das, was wir zu einem Gespräch beitragen, relevant sein muss, sich also auf das zuvor Ge‐ äußerte beziehen muss. Wie sieht das im folgenden Fall aus? (5) Warum können Banker kein Golf spielen? Weil das mit Handschellen so schwierig ist. Auf den ersten Blick ergibt der zweite Satz keinen Sinn, er scheint sich nicht auf die Frage zu beziehen. Aber wir unterstellen der Person, die den Witz äußert, dass sie sich kooperativ verhält und versucht, die Relationsmaxime zu befolgen. Wir müssen also versuchen, um die Ecke zu denken, und die Antwort irgendwie auf die Frage beziehen. Und wenn wir unterstellen, dass die Antwort relevant ist, dann finden wir auch einen 172 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze Maxime der Art und Weise Zusammenhang: Banker sind nach einem verbreiteten Vorurteil oft korrupt, und sie gehören ins Gefängnis - mit Handschellen (als Symbol der Bestrafung) kann man allerdings nicht gut Golf spielen. Natürlich funktionieren solche Witze nur, wenn die Vorurteile tatsächlich verbreitet sind, wenn es also eine gemeinsame Wissensbasis gibt. Etwas ähnliches passiert, wenn in einem Arbeitszeugnis kaum etwas steht außer „Er war stets vorbildlich pünktlich“. Das ist ja eine positive Zuschreibung - warum ist ein solches Zeugnis dann so schlecht? Wir unterstellen der Person, die das Zeugnis geschrieben hat, dass sie kooperiert und etwas Relevantes schreibt, das heißt in diesem Zusammenhang vor allem: Einzelheiten zum Arbeits- und Sozialverhalten; außerdem kennt sie sich wahrscheinlich mit der Textsorte Zeugnis aus und weiß, dass Zeugnisse kaum je negative Bewertungen enthalten. Nun ist Pünktlichkeit sicherlich nicht die Hauptsache, andere Eigenschaften oder Verhaltensweisen sind wichtiger. Die einzige Möglichkeit, das zu interpretieren, ist: Pünktlich zu sein ist das einzig Positive, das man über den Arbeitnehmer sagen kann. Obwohl das Zeugnis keine negativen Äußerungen enthält, hat es genau diese Wirkung, und zwar, weil wir grundsätzliche Kooperationsbereitschaft und das Befolgen der Maximen unterstellen. In diesen beiden Fällen (dem Witz und dem Zeugnis) wurde die Maxime der Relation also eigentlich gar nicht verletzt. Weil wir der Person, die den Witz äußert, Koopera‐ tionsbereitschaft unterstellen, können wir die Relevanz freilegen. Das funktioniert natürlich auch deswegen, weil die Sprecherin oder der Sprecher genau weiß, dass das passieren wird (dass also Kooperationsbereitschaft unterstellt wird). Aber es gibt auch Fälle, in denen die Maxime der Relation tatsächlich verletzt wird: (6) Bei ihrer Geburtstagsfeier mit der Familie kommt heraus, dass die 16-jährige Lena sich gegen den Willen der Eltern ein Tattoo hat stechen lassen. Lena: „Ja und? Ist halt mein Leben und meine Entscheidung! “ Großmutter: „Irgendjemand noch ein Stück von diesem wunderbaren Marmorku‐ chen? “ Die Äußerung der Großmutter ist irrelevant für die Unterhaltung. Sie drückt damit aus, dass ihr mit der Richtung, die das Gespräch genommen hat, nicht wohl ist, und dass die Diskussion an dieser Stelle besser beendet werden sollte. Bei der letzten Maxime, der Maxime der Art und Weise, geht es nicht darum, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Sie hat eine ganze Reihe von konkreteren Submaximen, unter anderem: Vermeide Doppeldeutigkeiten! Beispiele, in denen Spre‐ cherinnen und Sprecher diese Maxime bewusst verletzen (oder das nur scheinbar tun) sind selten. Grice selbst gibt als Beispiel zwei Zeilen aus einem Gedicht von William Blake, die offenbar bewusst mehrdeutig konstruiert sind. Aber gerade bei dieser Submaxime sind Fälle häufig, in denen Gesprächsteilnehmer die Maxime unabsichtlich verletzen - dann kommt es zu Missverständnissen. Wenn ich sage Die Schale muss noch abgewaschen werden! und damit die Orangen meine, meine Tochter aber die Keramikschale wäscht, die neben der Spüle steht - dann ist bei der Kommunikation etwas schiefgegangen, und zwar ungeplant. 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze 173 Und die Verletzung genau dieser Maxime ist die Basis einer Vielzahl von Witzen, so wie in den folgenden Beispielen: (7) a. Grenzbeamter: „Haben Sie Devisen? “ Grenzgängerin: „Nur diese eine: Seid nett zueinander! “ - b. Kellner: „Wie fanden Sie das Schnitzel? “ Gast: „Indem ich die Zitronenscheibe hochgehoben habe.“ - c. Kunde: „Könnte ich bitte die karierte Hose im Schaufenster anprobieren“ Verkäufer: „Ja, aber wir haben auch Kabinen.“ In (7a) und (7b) dreht sich alles um einzelne Wörter, die mehrdeutig sind. Devisen können einerseits ausländische Zahlungsmittel sein, andererseits Grundsätze. Mit dem Verb finden können wir einerseits ein Adjektiv anbinden, das unsere Einstellung zu etwas beschreibt (Ich fand das Schnitzel lecker), andererseits aber auch den Ort, an dem ich etwas Gesuchtes auffinde. Das Beispiel (7c) funktioniert anders, es ist nicht lexikalisch mehrdeutig, sondern syntaktisch: Wir können im Schaufenster entweder als Attribut an Hose anbinden, dann beschreibt es die Position der Hose näher; wir können die Konstituente aber auch als adverbiale Angabe zum Verb anprobieren verwenden, dann beschreibt sie den Ort des Anprobierens. Solche Präpositionalattribute sind notorisch mehrdeutig anbindbar im Deutschen und immer wieder Anlass zu Missverständnissen. Sind die Maximen von Grice eine endgültige Liste? Sicherlich nicht, das hat auch Grice nicht angenommen. In den Jahren nach der Veröffentlichung der Idee wurden das Inventar von anderen immer wieder modifiziert, erweitert, oder reduziert. Aber der Vorschlag von Grice zeigt sehr schön, wie man erfassen kann, dass wir manchmal etwas ganz anderes sagen, als wir meinen - und trotzdem verstanden werden. Weiterführende Literatur • Paul Grice hat seine Maximen 1967 in einer Vorlesung in Harvard vorgestellt. In G R IC E (1975) sind sie erstmals in Aufsatzform veröffentlicht, und der Text ist nach wie vor einer der zentralen Texte der linguistischen Pragmatik, also der Teildisziplin der Linguistik, die sich mit nicht-wörtlichen Bedeutungen beschäftigt. • Die Konversationsmaximen werden in praktisch jeder Einführung in die Pragmatik vorgestellt und diskutiert. Eine besonders zugängliche Darstellung findet sich in Peter A U E R ( 2 2013: 95 ff.). • Laura N E UHAU S (2019) untersucht, wie die Ironiemarker #nicht oder #hurrah auf Twitter funktionieren. 174 12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft Was ist so toll an Kafka? Wie können wir unsere intuitiven Zuschreibungen auf linguistisch solide Füße stellen? Oder anders: Wie schafft es Kafka handwerklich, bei uns bestimmte Effekte auszulösen? Was sind seine Tricks? Wären Linguistik und Literaturwissenschaft auf Facebook, müsste ihr Beziehungs‐ status wohl ehrlicherweise mit „It’s complicated“ bezeichnet werden. Die beiden Disziplinen sind an den meisten Universitäten Parallelgesellschaften: Man lebt so nebeneinander vor sich hin und hat sich nicht allzu viel zu sagen. Für viele in der Literaturwissenschaft sind Linguisten kleingeistige Erbsenzähler, deren Erkenntnisse so kleinteilig sind, dass sie uninteressant sind; für viele in der Linguistik sind Litera‐ turwissenschaftler abgehoben, ihre Aussagen sind so beliebig wie unbelegt. Zu tun hat man allerdings miteinander, und zwar zwangsläufig. In den deutschspra‐ chigen Ländern sind sie beide unter dem Dach der sogenannten „Neuphilologien“ wie Germanistik, Anglistik oder Romanistik vereint. Das ist eine etwas deprimierende Zustandsbeschreibung - ganz besonders, wenn man bedenkt, dass es sowohl in der Literaturals auch in der Sprachwissenschaft um die Sprache geht. Sie ist in beiden Disziplinen der Ausgangspunkt, von dem aus verschiedene Wege eingeschlagen werden. In diesem Sinne ist das hier ein Versuch: Wir nehmen einen literarischen Text und überlegen, was wir aus linguistischer Perspektive dazu sagen können, genauer: Wir schauen auf die Zeichensetzung und die Grammatik. Der Text ist der Beginn der Erzählung „Ein Landarzt“ von Franz Kafka (Erstveröffent‐ lichung 1918). Was fällt Ihnen beim Lesen an der Sprache auf ? Wie ist der Ausschnitt in Sätze gegliedert, wie sind diese Sätze verbunden? Und was ist der Effekt? Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schnee‐ gestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet; mein Dienstmädchen lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war aussichtslos, ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer unbeweglicher werdend stand ich zwecklos da. Am Tor erschien das Mädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich, wer leiht jetzt sein Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof; ich fand keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit Satz‐ punkte statt Semi‐ kolons dem Fuß an die brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Sie öffnete sich und klappte in den Angeln auf und zu. Wärme und Geruch wie von Pferden kam hervor. Eine trübe Stallaterne schwankte drin an einem Seil. Ein Mann, zusammengekauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte sein offenes blauäugiges Gesicht. „Soll ich anspannen? “ fragte er, auf allen Vieren hervorkriechend. Ich wußte nichts zu sagen und beugte mich nur, um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab. Das Dienstmädchen stand neben mir. „Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig hat,“ sagte es und wir beide lachten. „Holla, Bruder, holla Schwester! “ rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige, flankenstarke Tiere, schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten. Das ist ein handwerklich hervorragend konstruierter Anfang einer Geschichte. Und Kafka mochte Semikolons, soviel steht fest. In diesem kurzen Ausschnitt verwendet er zehn Stück, und zwar alle in den ersten 13 Zeilen. Sie grenzen Sätze voneinander ab, die eigentlich fertig und abgeschlossen sind und auch mit einem Punkt oder mit einem Komma voneinander getrennt sein könnten. Mit Punkten würde das so aussehen: Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor. Ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe. Starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm. Einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt. In den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe. Aber das Pferd fehlte, das Pferd. Hier sind die sechs Sätze, die bei Kafka mit Semikolons zu einem langen Satz verbunden sind, mit Punkten beendet. Was ist der Effekt? Der Text wird langsamer. Punkte wirken wie Mauern zwischen den Sätzen, sie sind praktisch undurchlässig. Trifft man auf einen Punkt, wird erstmal der Satz bis zum Punkt verarbeitet - das bedeutet, dass die Wörter erkannt und im Gehirn abgerufen werden müssen, dass die syntaktische Struktur erkannt werden muss und aus Wortbedeutungen und Konstruktionsbedeutung die Bedeutung des Satzes errechnet wird; dann wird diese Bedeutung integriert in das Modell des Textes, das wir bis dahin haben (also: Wie passt dieser Satz zu allem, was ich bislang gelesen habe? ). Nachdem die Bedeutung extrahiert und integriert wurde, kommt der nächste Satz an die Reihe. Daher rührt vielleicht der Eindruck der Bedächtigkeit, Langsamkeit - Kafkas langer Satz wird in kleinere Teile aufgebrochen, die Stück für Stück und relativ kleinteilig verarbeitet werden. Außerdem wirkt der Text, mit Punkten getrennt, etwas langweiliger als das Original. 176 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft Kommas statt Semi‐ kolons Machen wir die Gegenprobe mit Kommas. Der erste Satz sähe dann so aus: Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor, ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe, starkes Schnee‐ gestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm, einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt, in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe, aber das Pferd fehlte, das Pferd. Die einzelnen Sätze verlieren so ein Stück ihrer Eigenständigkeit und damit ihrer Wichtigkeit; sie sind zu einer Reihe von nebengeordneten Bemerkungen degradiert. Außerdem ist der Text etwas schwerer zu lesen, denn es kommen ja auch sonst Kommas vor, die beispielsweise Einschübe und Koordinationen kennzeichnen (einen Wagen hatte ich, leicht, großrädrig …). Mit dem Semikolon kann hier deutlicher markiert werden, wo der Teilsatz endet und ein neuer beginnt. Schematisch kann man das so darstellen wie in Abb. 78 (jetzt wieder mit Semikolons). Abb. 78: Schematische Darstellung der Leistung der Satzzeichen in einem Teilsatz aus Kafkas „Ein Landarzt“ Das erste Komma signalisiert, dass jetzt ein Einschub folgt, das zweite und dritte, dass etwa koordiniert wird. Das Semikolon am Ende des Teilsatzes zeigt den Lesenden, dass sie jetzt wieder auf der obersten Ebene angekommen sind. Der Text ist, wenn wir nur Kommas verwenden, also schwerer zu lesen, weil die Zuordnung zu bestimmten Hierarchieebenen nicht klar wird. Er hat aber außerdem noch einen anderen Effekt: Der Punkt hat den einzelnen grammatischen Sätzen, die in Kafkas erstem Satz integriert sind, jeweils zu viel Raum gegeben, sodass die bepunktete Version eher träge und tranig wirkte. Das Komma gibt ihnen demgegenüber zu wenig Raum. Wenn der Punkt die grammatische Verarbeitung abschließt, dann muss alles, was zwischen zwei Punkten steht, von den Lesenden integriert werden. Was zwischen zwei Punkten steht, ist wie eine Szene, die aus mehreren Teilen bestehen kann. Alles wird in einen großen Topf geworfen. Daraus erklärt sich, dass die einzelnen Sätze fast zu Nebensächlichkeiten werden. Sie werden grammatisch nebengeordnet (ganz so, wie auch Äpfel, Birnen und Bananen einander mit Komma und und nebengeordnet werden können, → Kap. 8), und offenbar neigen wir dazu, daraus auch inhaltlich auf Koordination zu schließen: Das ist passiert, und das, und das, dann das. 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft 177 Effekt des Semiko‐ lons Wortstellung Aber Moment - wenn alles, was vom Punkt begrenzt wird, zusammen verarbeitet wird, gilt das ja auch für das Semikolon. Ja, auch hier wird alles integriert, aber das Semikolon lässt den einzelnen Teilen ihre Eigenständigkeit. Sie sind nicht nur neben‐ geordnet, sondern müssen weiter interpretiert werden, z. B. als Begründung oder Ex‐ plikation: Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe Mit dem Warten des Schwerkranken wird genauer ausgeführt, warum die dringende Reise bevorstand. Wir sind also gezwungen, die einzelnen Teile sinnvoll aufeinander zu beziehen und nicht einfach zu addieren. Das heißt nicht, dass es immer die Beziehung der Explikation ist, zu der das Semikolon auffordert - aber vielleicht ist es immer eine textverknüpfende Funktion. Das Komma sagt: „Und dann gibt es noch diesen Satz hier, und diesen, und diesen“; das Semikolon sagt: „Hier ist ein Satz, und der steht in einer besonderen Beziehung zu diesem Satz - aber in welcher, das musst Du schon selbst herausfinden! “ Die Erzählung startet mit einem emotionalen Einblick („Ich war in großer Verlegen‐ heit“) und mit hohem Tempo. Das ist nicht die einzige Möglichkeit. Man könnte die Geschichte auch sachlicher und gemächlicher beginnen, z.-B. so: Vor vielen Jahren arbeitete ich als Arzt auf dem Land. Eines Tages erfuhr ich, dass ein Schwerkranker im nächsten Dorf meine Hilfe brauchte. Es schneite so stark, dass … Stattdessen fällt der Erzähler mit der Tür ins Haus und berichtet direkt von der großen Verlegenheit, in der er sich befindet. Der anschließende Doppelpunkt zeigt, dass alles, was nun kommt, eine genauere Beschreibung dieser Verlegenheit ist; das wird dann in aller Kürze und sehr sachlich skizziert. Gleichzeitig baut der Doppelpunkt Spannung auf: Worin besteht die Verlegenheit? Alles ist stromlinienförmig, nichts zu viel; der Erzähler scheint selbst keine Zeit zu verlieren zu haben (was ja merkwürdig ist, weil die erzählte Zeit in der Vergangenheit liegt). Dieses Nach-vorn-drängen endet im letzten Teil des Satzes, in dem der Erzähler berichtet, dass er kein Pferd finden konnte: Daran scheitert alles. Hier bricht die bis dahin ökonomische Erzählung zusammen, wenn der Erzähler - wie eine Klage - den Grund für das Scheitern wiederholt (das Pferd fehlte, das Pferd). Dieses Scheitern wird sehr subtil auch noch auf einer zweiten Ebene vorbereitet. Es heißt „einen Wagen hatte ich“. Das ist eine ungewöhnliche Wortstellung. Das Akku‐ sativobjekt einen Wagen wird in den meisten Fällen nach dem Verb realisiert, das Sub‐ jekt ich davor. Eine unauffälligere Version des Satzes wäre Ich hatte einen Wagen. Aber 178 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft Satzlänge Kafkas Version hat einen besonderen Effekt: Mit dem Akkusativobjekt am Beginn des Satzes wird ein Kontrast aufgemacht, von dem man erwartet, dass er irgendwann auf‐ gelöst wird. Das passiert auch, aber Kafka reizt diesen Spannungsbogen eine Weile aus, und wir Lesenden müssen das aushalten (s. Abb. 79). Abb. 79: Spannungsbogen im ersten Satz von Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“ Kafka bereitet sehr geschickt vor, dass etwas nicht stimmt. Die nächsten vier Sätze sind ähnlich strukturiert. Sie enthalten alle kleinere Sätze, die für sich vollständig sind, und die mit einem Semikolon oder einem Komma verbunden werden. Der Erzähler schildert die Hoffnungslosigkeit seiner Situation (es ist aussichtslos, jetzt ein Pferd zu finden) und seine Niedergeschlagenheit. Frustriert stößt er die Tür zu einem alten Schweine‐ stall auf. Diese vier ersten Sätze enthalten 162 Wörter, also gut 40 Wörter pro Satz. Zum Vergleich: Die Deutsche Presseagentur empfiehlt, dass optimal verständliche Sätze nicht mehr als neun Wörter enthalten sollten. Kafkas erste Sätze sind also sehr lang (und sie sind, nebenbei gesagt, auch sehr verständlich). Diese langen Sätze bereiten nun einen bemerkenswerten Effekt vor: Der Erzähler findet im Stall vollkommen unerwartet Pferde. Dieser Moment, in dem die Spannung abfällt, wird in einer Reihe sehr kurzer Sätze berichtet, die alle mit einem Punkt abgeschlossen sind. Dadurch wird das Tempo aus der Geschichte genommen; Kafka tritt nach halsbrecherischer Fahrt auf die Bremse. Mit etwas Abstand sieht man das besser. In Abb. 80 hat jeder potentiell selbständige Satz seine eigene Zeile, und die grauen Kästen fassen kleinere Sätze zu größeren zusammen. 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft 179 Stil und Verbvalenz Abb. 80: Darstellung der ersten vier Sätze inklusive Teilsätze in Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“ Ohne auf den konkreten Text zu achten, sieht man, wie lang und komplex die ersten Sätze sind, und wie kurz und einfach im Vergleich die drei folgenden, die das Finden der Pferde beschreiben. Man hat beim Lesen aber nicht nur das Gefühl des Getriebenwerdens. Die Situa‐ tion, die der Erzähler schildert, scheint (zumindest bis zum überraschenden Fund) hoffnungslos. Sein Schicksal liegt nicht in seiner Hand, er kann aus eigener Kraft seine Lage nicht ändern. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wird vor allem durch die verwendeten Verben transportiert. Verben sind nicht irgendeine x-beliebige Wortart; sie sind maßgeblich für die grammatische Struktur von Sätzen und ihre Bedeutung verantwortlich. Insofern lohnt es sich bei der Analyse literarischer Texte immer, einen Blick auf die verwendeten Verben und ihre Valenz (→ Kap. 7) zu werfen. Unterstreichen Sie doch oben einmal alle Verben bis zu dem Moment, in dem der Erzähler den Mann im Schweinestall be‐ schreibt. Einige Spielregeln: Wir sammeln nur die finiten Verben ein, also Verben, die ein Subjekt haben und die nach Person und Numerus flektiert sind. Partizipien wie gepackt (Z. 5) und Infinitive wie zu bekommen scheiden aus. Achtung, einige Verben sind mehrteilig (z. B. stand … bevor, Z. 1). Wahrscheinlich sieht Ihr Text so ähnlich aus: 180 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft Hand‐ lungskon‐ trolle Agens und Patiens Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwer‐ kranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schnee‐ gestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet; mein Dienstmädchen lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war aussichtslos, ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer unbeweglicher werdend stand ich zwecklos da. Am Tor erschien das Mädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich, wer leiht jetzt sein Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof; ich fand keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit dem Fuß an die brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Viele dieser Verben haben etwas gemeinsam: Ihnen fehlt das Element der Handlungs‐ kontrolle. Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen. Wie alle sprachlichen Klassen sind Verben eine sehr gemischte Gruppe. Es gibt ty‐ pische und weniger typische Verben, es gibt große und kleine Untergruppen. Die größte und typischste Gruppe von Verben ist die der zweistelligen Verben wie backen. Man sagt, backen ist zweistellig, weil es zwei Argumente an sich bindet (einen Bäcker und etwas Gebackenes). Das machen die allermeisten Verben im Deutschen. Aber nicht nur das, es herrscht ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Bäcker und dem Gebackenen, und zwar ungefähr dasselbe wie zwischen dem Schläger und dem Geschlagenen, dem Schreiber und dem Geschriebenen usw. Wir können das etwas genereller formulieren und vom X-er und dem Ge-X-ten sprechen, mit X als der Variable für den Verbstamm (back-, schlag-, schreib-). So fassen wir die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen konkreten Verben zusammen. Eine entscheidende Gemeinsamkeit von backen, schlagen und schreiben ist, dass der X-er die Verbhandlung kontrolliert. Das wird deutlich, wenn wir diese Gruppe von Verben mit anderen zweistelligen vergleichen, bei denen das anders ist, z. B. hören, kennen oder haben. Im Satz Carl hört ein Geräusch hat Carl keine Kontrolle über die Verbhandlung, genausowenig wie Ava im Satz Ava kennt ein Geheimnis, oder Emmy im Satz Emmy hat ein neues Fahrrad. Ein Test für Handlungskontrolle ist die Modifikation mit absichtlich oder sorgfältig: *Carl hört sorgfältig ein Geräusch ist kein guter Satz. Er backt sorgfältig ein Brot funktioniert hingegen gut. Wer die Handlung kontrolliert, der wird auch das Agens der Verbhandlung genannt - mit wem umgekehrt etwas gemacht wird, wer sozusagen das Ziel der Verbhandlung ist, der ist das Patiens - zum Beispiel das Haus, das gebaut wird, der Bruder, der geschlagen wird oder der Brief, der geschrieben wird. 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft 181 Effekt von Hand‐ lungsver‐ ben Agens und Patiens sind semantische Rollen. Mit ihnen wird in den Grammatiken beschrieben, welche Bedeutung die Mitspieler eines Verbs tragen. Das könnte man natürlich auch beim jeweiligen Verb selbst vermerken, also etwa so: „schlagen nimmt zwei Argumente, eines im Nominativ, das ist das Subjekt, und eines im Akkusativ, das ist das Objekt; das Subjekt bezeichnet die Person, die schlägt; sie macht das bewusst und kontrolliert die Handlung; das Objekt bezeichnet, wer oder was geschlagen wird; es hat keine Kontrolle über die Handlung, sondern erleidet sie.“ Wenn man das für viele verschiedene Verben macht, kann man feststellen, dass die Einträge sich größtenteils gleichen. Es liegt also nahe, diese Teile nur einmal (und zwar zentral) zu nennen, also von den konkreten Verben zu abstrahieren, wie wir das oben mit dem X-er gemacht haben. Das ist die sparsamere und lesbarere Beschreibung; außerdem kann man hier eine interessante Verallgemeinerung über bestimmte Verben aufstellen. Der Test mit sorgfältig oder absichtlich funktioniert deswegen, weil die Wörter syntaktisch zu jedem Satz hinzugefügt werden könnten (sie fungieren dann als adverbiale Angaben) - die so modifizierten Sätze ergeben aber nur dann Sinn, wenn die Bedeutung von absichtlich nicht mit der Verbbedeutung kollidiert, d. h. wenn die Verbhandlung auch tatsächlich kontrolliert wird. Wenn wir den Test auf die unterstrichenen Verben in Kafkas Text anwenden, stellen wir fest, dass er nur bei einem Teil der Verben funktioniert, und zwar bei stehen, erscheinen, schwenken, leihen, durchmessen und stoßen. Bei den übrigen acht Verben hat das Subjekt keine Handlungskontrolle. Das erklärt das Gefühl des Ausgeliefertseins, stellt es gewissermaßen auf empirische Füße. Sehen wir uns zum Vergleich einen anderen Text an, der in der ersten Person Singular erzählt ist, hier den Beginn von Siegfried Lenz’ Kurzgeschichte „Der Gleichgültige“: Der Finne kam am Monatsende. Ich lag auf dem Küchensofa und rauchte, lag schon einige Stunden im Mantel da und überlegte, ob ich Elsa von der Eisdiele abholen sollte, in der sie als Kellnerin arbeitete. Ich dachte an ihre geröteten, plumpen Hände, die Eisbecher auf die fleckigen Marmortische schoben, Wechselgeld aus der extra breiten Bauchtasche hervorholten, Schokoladensplitter über den Batzen Schlagsahne krümelten […] Jedes der Verben in diesem kurzen Ausschnitt gesteht seinem Subjekt Kontrolle über die Handlung zu: Der Finne kam bewusst am Montasende; Ich lag absichtlich auf dem Küchensofa etc. (höchstens bei denken kann man streiten: Wieviel Kontrolle haben wir darüber? ) Das Ergebnis ist ein Text, in dem alles möglich ist; der Protagonist und nicht das Schicksal ist Herr der Dinge. Ihm steht alles offen, er ist, anders als Kafkas Protagonist, kein Getriebener - das ist durchaus wichtig für die moralische Einordnung der Geschichte, insbesondere des Endes. 182 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft Dafür, dass wir den Text nur auf seine Zeichensetzung und Syntax untersucht haben, war das relativ ergiebig. Wir konnten so Gefühle, die beim Lesen entstehen (hohes Tempo am Anfang, dann das zeitlupenhafte Schweben; das Getriebene, das Ausgeliefertsein) an konkrete sprachliche Mittel binden. Ein wertvolles Werkzeug in unserem Werkzeugkasten ist dabei immer der Austausch: Wenn wir wissen wollen, warum der Text gerade so ist, wie er ist, und ob dieses Gerade-so-sein den Effekt bedingt, den wir beim Lesen ausmachen - dann tauschen wir nach und nach einzelne Teile gegen andere, die denselben Inhalt transportieren könnten oder die eine ähnliche Funktion haben. Oben wurden Semikolons gegen Kommas und Punkte getauscht und die Abfolge der Wörter in Sätzen. Aber der Methode sind keine Grenzen gesetzt. Mit ihr können wir im besten Fall erklären, warum der Text aussieht, wie er aussieht (und nebenbei lässt sich etwas über gute Texte lernen). Das kann also die Linguistik bei der Untersuchung von Literatur leisten: Sie kann Aussagen zum Stil auf fundierte Füße stellen, und mit ihr können wir einen Blick unter die Motorhaube des Textes werfen, auf das Getriebe, die Zahnräder. Darauf kann dann die Literaturwissenschaft aufbauen, damit kann sie weiterarbeiten. Wenn wir solche Abläufe etablieren könnten, wäre das ein guter Start in die Paartherapie von Linguistik und Literaturwissenschaft. Zur Vertiefung • Wolfgang K L E IN (2008) macht sich grundsätzliche Gedanken zum Verhältnis zwi‐ schen Literaturwissenschaft und Linguistik; ein sehr unterhaltsamer und relevan‐ ter Aufsatz, nicht nur im Kontext dieses Kapitels. • Judith M ACH E IN E R (2003) zeigt kurzweilig, wie sich subjektive Zuschreibungen wie „gelungener Stil“ an grammatische Strukturen binden lassen. Was macht wirklich gute Sätze eigentlich gut? • Agens und Patiens sind sog. semantische Rollen. In der kurzen gleichnamigen Einführung von Beatrice P R IMU S (2012) werden diese und andere Rollen sowie ihr Verhältnis zueinander zugänglich und instruktiv diskutiert. Sie gibt den Lesenden außerdem konkrete Tests auf bestimmte Rollen an die Hand (wie z.-B. die Modifi‐ kation mit sorgfältig). 13 Semikolons: Linguistik und Literaturwissenschaft 183 Ressourcen, Blogs und Podcasts Ressourcen • Der Google NGram Viewer ist eine Schnittstelle, um sehr schnell die große Textsammlung Google Books zu befragen: https: / / books.google.com/ ngrams • Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache ist eine Plattform, die ganz unterschiedliche Informationen zu deutschen Wörtern zusammenträgt; außerdem findet man hier ein großes, ausgewogenes Korpus von Texten des 20. Jhds: https: / / www.dwds.de • Deutsches Textarchiv ist eine Sammlung von deutschen Texten des 15. bis 20. Jahrhunderts, die insgesamt mehr als 300 Millionen Wortformen enthält: https: / / www.deutschestextarchiv.de • Das Wörterbuchnetz ist eine Sammlung von sprachgeschichtlichen und regio‐ nalsprachlichen Wörterbüchern, die frei zugänglich sind: https: / / www.woerterbuchnetz.de/ #0 • grammis ist eine Plattform am Institut für Deutsche Sprache, in der verschiedene Ressourcen abfragbar sind - einerseits grammatische Grundbegriffe, andererseits aber auch Wörterbücher und Bibliographien: https: / / grammis.ids-mannheim.de • Der World Atlas of Language Structures Online ist eine Datenbank, in der linguistische Eigenschaften von 2662 Sprachen zusammengetragen wurden: https: / / wals.info • lingbuzz ist ein Archiv für linguistische Aufsätze, sowohl noch unveröffentlichte als auch bereits erschienene: https: / / lingbuzz.net Linguistische Blogs • Das Sprachlog ist ein linguistischer Blog, der von Susanne Flach, Kristin Kopf und Anatol Stefanowitsch betrieben wird; der wahrscheinlich dienstälteste und vielleicht beste: https: / / www.sprachlog.de • Die Engelbart-Galaxis nennt sich der Blog von Henning Lobin, dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, in dem er in letzter Zeit vor allem sprachpolitische Fragen diskutiert: https: / / scilogs.spektrum.de/ engelbart-galaxis/ • Die Zwiebel ist ein Blog, in dem immer wieder sehr interessante Zweifelsfälle und andere linguistische Fragestellungen diskutiert werden: https: / / derzwiebel.wordpress.com • Linguistische Werkstattberichte ist eine Plattform, auf der kurze Beiträge zur Angewandten Linguistik veröffentlicht werden: https: / / lingdrafts.hypotheses.org • Language Log ist ein englischsprachiger Blog, der von Mark Liberman und Geoffrey Pullum betrieben wird: https: / / languagelog.ldc.upenn.edu/ nll/ • All Things Linguistics heißt der Blog der Internetlinguistin Gretchen McCulloch: https: / / allthingslinguistic.com Podcasts • Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat einen Wortcast, in dem es unter anderem um Etymologien, aber auch um Namensgebung geht: https: / / gfds.de/ podcast/ • Lingthusiasm heißt der englischsprachige Podcast von Gretchen McCulloch: https: / / lingthusiasm.com Sonstiges • Die Studentische Tagung Sprachwissenschaft (StuTS) ist genau das, nämlich eine linguistische Tagung von Studierenden für Studierende; es gibt sie schon seit 1987: https: / / stuts.de 186 Ressourcen, Blogs und Podcasts Glossar Affix. Oberbegriff für → Morpheme, die nicht frei vorkommen und die reihenbildend sind (die also in mehreren Bildungen vorkommen). Unter dieser Bezeichnung werden → Präfixe, → Suffixe und → Zirkumfixe zusammengefasst. Agens. → Semantische Rolle, die dasjenige → Verbargument bezeichnet, das die Verbhandlung kontrolliert und bewusst ausführt. Ein einschlägiger Test ist die Modifikation mit sorgfältig oder absichtlich: Wenn der betreffende Satz auch danach noch akzeptabel ist, gibt es ein Agens darin. Bei Tom füllt den Lottoschein aus funktioniert das (Tom füllt sorgfältig/ absichtlich den Lottoschein aus); bei Tom gefällt der Lottogewinn hingegen nicht (*Tom gefällt der Lottoschein sorgfältig/ absichtlich). Das Gegenstück zum Agens ist das Patiens, der Mitspieler, der von der Verbhandlung betroffen ist. Allgemeines Silbenbaugesetz. Das Allgemeine Silbenbaugesetz beschreibt den Bau von Sprachsilben. Die Laute in Silben sind vom Anfangsrand zum Kern hin geordnet, und zwar nach der → Sonoritätshierarchie (von wenig sonor bis sehr sonor). Die maximale Sonorität ist im Kern erreicht, dann geht es umgekehrt wieder zurück entlang der Sonoritätshierarchie. Approximant. Ein konsonantischer Sprachlaut, bei dem die Zunge den Luftweg etwas stärker verengt als bei Vokalen, der aber dennoch mit nur wenig Geräuschanteil gebildet wird. Approximanten stehen also zwischen → Vokalen und → Konsonanten. Im Deutschen ist [j] wie in Jahr eindeutig ein Approximant; über [l] wie in lahm kann man sich streiten (der Laut wird auch als ‚Lateral‘ klassifiziert). Derivation. → Wortbildung mit einem → Stamm und einem → Präfix, → Suffix oder → Zirkumfix. Entlehnung. Erweiterung des Wortschatzes durch Import von Wörtern (oder Morphemen) aus einer anderen Sprache. Beispiele: Portemonnaie (aus dem Französischen), Shitstorm (aus dem Englischen), Pizza (aus dem Italienischen). Flexion (auch: Beugung). → Wortformen eines abstrakten → Lexems werden in ihrem konkreten Kontext flektiert, d.-h. an diesen Kontext angepasst. Beispiel: Das Lexem T U R M wird, wenn es als Genitivattribut verwendet wird, anders flektiert, als wenn es als wenn es als Akkusativobjekt fungiert (der Bau des Turmes vs. Wir bauen den Turm). Flexionsparadigma. Tabellenförmig geordnete Darstellung aller → Wortformen eines → Lexems. Wie umfangreich ein Paradigma ist, hängt von der Wortart ab; substantivische Paradigmen haben acht Zellen (4 Kasus x 2 Numeri), Adjektive und Verben (je nachdem, welche Kategorien man ansetzt) deutlich über 100 Zellen. Frikativ. Sprachlaut, bei dem durch eine Engebildung im Mundraum Verwirbelungen entstehen, die als Zischgeräusche hörbar sind. Im Deutschen z. B. [f] (wie in frei), [ʃ] (wie in Schule) oder [v] (wie in Wind). Fugenelement. Einheiten an den Grenzen von Komposita (s. → Komposition), dort, wo die Bestandteile aufeinandertreffen. Grammatisch tragen sie keine Funktion; sie sind keine Flexionssuffixe. → Produktiv im heutigen Deutsch sind nur noch -s- (wie in Störungstweet; *Störungtweet) und -(e)n- (wie in Ärztinnentweet; *Ärztintweet). Zum Teil wird auch die Abwesenheit eines Fugenelements zu den Fugenelementen gezählt (dann als sog. „Nullfuge“). Grammatische Funktion (auch: Syntaktische Funktion). Funktion, die eine → syntaktische Konstituente in einem konkreten Satz spielt. Traditionelle grammatische Relationen sind z. B. Subjekt, Prädikat, Objekt und Attribut. Sie vermitteln zwischen der Form eines Satzes und seiner Bedeutung. Komposition. Wortbildung, bei der zwei → Stämme kombiniert werden. Beispiele: Baum·haus, Bade·hose, himmel·blau. Konsonant. Sprachlaute wie [t], [f] oder [n], bei denen der Luftstrom im Mund behindert wird und die deswegen typischerweise einen Geräuschanteil haben. Konversationsmaxime. Ein verletzbarer Grundsatz, dem Menschen in Kommunikationssitu‐ ationen folgen. Zusammen mit der Annahme, dass unser Gegenüber prinzipiell kooperati‐ onswillig ist, bilden die Konversationsmaximen das Grundgerüst, mit dem man erklären kann, warum wir machmal etwas anderes sagen, als wir meinen, und trotzdem verstanden werden. Konversion. Wortbildung, bei der ein → Stamm oder eine → Wortform die Wortart wechselt, ohne dass sie mit einem anderen Stamm oder → Affix kombiniert wird. So kann z.-B. der verbale Infinitiv twittern zum Substantiv (das) Twittern werden. Lexem. Abstrakte Einheit; umfasst das → Flexionsparadigma und die Bedeutung eines Wortes; wird meist in Kapitälchen gesetzt. Beispiel: Das Lexem K I N D besteht aus dem Flexionspara‐ digma (das wiederum die Wortformen Kind, Kindes, Kinder, Kindern umfasst), sowie der Bedeutung ‚präpubertärer Mensch‘. Lexikalisierung. Prozess, bei dem ein Wort ins kollektive Lexikon der Sprache aufgenommen wird. Meist wird als zusätzliche Bedingung gefordert, dass das Wort nicht vollständig transparent sein darf, dass also seine Bedeutung sich nicht aus der Bedeutung seiner Teile ergibt wie bspw. Fernseher. Minimalpaarmethode. Methode zur Identifikation von Phonemen einer Sprache. Wenn zwei Wörter sich nur in einem Laut unterscheiden, aber ansonsten identisch sind, dann sind diese beiden Laute Phoneme in der Sprache. Beispiel: Kanne und Tanne unterscheiden sich nur im [k] und [t], folglich sind beides Phoneme des Deutschen. Morphem. Kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache. ‚Bedeutung‘ ist hier weit gemeint - auch grammatische Informationen wie ‚Genitiv‘ fallen darunter. Einfache → Stämme wie 188 Glossar Baum, schön und lessind ebenso Morpheme wie Flexionsaffixe (z.-B. -st, -en oder -te) und Derivationsaffixe (z.-B. un-, -heit oder -bar). Nasal. Sprachlaut, bei dem die Luft größtenteils durch die Nase ausströmt; im Deutschen [n], [m] und [ŋ]. Obstruent. Laut mit Geräuschanteil, der durch eine Enge- oder Verschlussbildung erzeugt wird. Oberbegriff für → Plosive und → Frikative. Partikelverbbildung. Wortbildung, bei der Verben mit sog. Partikeln verbunden werden. Das Besondere an diesen so gebildeten Verben ist, dass sie syntaktisch trennbar sind: weg·naschen z. B. wird in bestimmten Kontexten aufgespalten (Ich nasch das weg). Das ist für Wortbildungen etwas untypisch, normalerweise halten sie besser zusammen. Phonem. Kleinste Einheit der gesprochenen Sprache, die Bedeutungen unterscheidet. Sprach‐ laute unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander; es ist kaum möglich, denselben Laut zweimal identisch zu artikulieren. Aber nur bestimmte Unterschiede sind funktional in einer Sprache, und um die geht es. Als Funktion wird wie oben meist die Differenzierung von Bedeutungen angesehen, die Methode zur Ermittlung ist die → Minimalpaarmethode. Plosiv. Sprachlaut wie [t], [p] oder [d] (die ersten Laute in Tal, Paar und Dank), der gebildet wird durch einen totalen Verschluss, den Aufbau von Luftdruck und die plötzliche Lösung des Verschlusses. Die Luft entweicht dann explosionsartig. Präfix. → Affix, das vor dem Stamm realisiert wird, den es modifiziert. Beispiel: ver·achten, zer·reden, Ex·freund. Produktivität. Typischerweise wird mit dem Begriff die Eigenschaft von → Wortbildungsmus‐ tern bezeichnet, neue Wörter hervorbringen zu können. Mit produktiven Mustern wie der Komposition im Deutschen wird der Wortschatz erweitert. Unproduktive Muster (wie -sam in arbeitsam, wachsam) stehen nicht mehr für Neubildungen zur Verfügung. Semantische Rolle. Mit diesem Begriff wird die „Rolle“ bezeichnet, die Verbargumente in Bezug auf das Verb spielen. Dasjenige Argument, das die Verbhandlung kontrolliert, ist das → Agens (z. B. Mein Vater backt einen Kuchen), dasjenige, das sie erleidet, ist das Patiens. Neben diesen beiden Rollen werden eine Reihe weiterer angenommen, z.-B. Instrument, Thema, Ziel etc. Sonorant. Oberbegriff für alle Nicht-Obstruenten, also → Vokale, → Nasale, Liquide und → Approximanten. Sonoritätshierarchie. Ordnung der Sprachlaute nach ihrer Sonorität (oder Schallfülle, tw. auch Lautheit). Am sonorsten sind Vokale, am unsonorsten sind stimmlose Plosive. Zwischen ihnen spannt sich das Feld der übrigen Kategorien auf (Vokale > Approximanten > Nasale > Frikative > Plosive). Stamm. Ein Stamm ist in der Morphologie das Gegenstück zum → Affix, eine Einheit, an die Affixe treten können. Stämme können einfach sein (wie schön in Schönheit) oder komplex (wie unbeholfen in Unbeholfenheit). Bei Verben kommt der Stamm (anders als bei Substantiven Glossar 189 und Adjektiven) meist gebunden, also nicht frei vor; er wird dann von einem Flexionssuffix begleitet (z.-B. löschen, löscht, löschte etc. - der Stamm ist lösch-). Starkes/ schwaches Verb. Flexionsklasse von Verben. Schwache Verben bilden z.B. das Präte‐ ritum mit -t (ich spiele - ich spielte), starke Verben mit Vokalwechsel (ich singe - ich sang). Es gibt wesentlich mehr schwache Verben als starke Verben, und entlehnte Verben flektieren automatisch schwach (ich skypte), aber unter den wenigen starken Verben sind sehr häufige (sein, gehen, werden). Suffix. → Affix, das nach dem Stamm realisiert wird, auf den es sich bezieht. Beispiel: spiel·st, Leit·ung, trink·bar. Syntaktische Konstituente. Eine Gruppe von Wörtern, die in einem Satz eine syntaktische Einheit bilden. Um das festzustellen, gibt es eine Reihe von etablierten Tests, z.-B. das gemeinsame Verschieben im Satz oder das Ersetzen durch ein Pronomen. Valenz. Die Eigenschaft von Wörtern, Leerstellen zu öffnen und Bedingungen für die Füllung dieser Leerstellen anzugeben. Das Verb tragen ist z.-B. zweistellig, d.-h. es öffnet zwei Leerstellen, von denen die eine mit einem Nominal im Nominativ gefüllt werden muss, die andere mit einem Nominal im Akkusativ (Das Kind trägt den Rucksack). Valenzträger wie tragen binden also zwei Argumente an sich. Verbargument. Ergänzung eines Verbs, das in der → Verbvalenz angelegt ist. Virgel. Satzzeichen, das bis ins Frühneuhochdeutsche die Funktion des Kommas übernommen hat. Formal oft als Schrägstrich realisiert. Vokal. Sprachlaute wie [a], [ɪ] oder [u], die ohne Behinderung des Luftstroms im Mund gebildet werden. Sie werden nach ihrer Zungenposition unterschieden (wo hat die Zunge ihren höchsten Punkt? ) sowie nach ihrer Lippenrundung. Wortbildung. Schaffung neuer Wörter durch Kombination bestehender Wörter und → Mor‐ pheme. Neben der Wortschöpfung und der Entlehnung eine der drei Möglichkeiten, das Lexikon einer Sprache zu erweitern, und im heutigen Deutsch mit Abstand die häufigste. Wortbildungsmuster. Abstraktes Bauschema, nach dem a) im Falle von → Produktivität neue Wörter gebildet werden können oder b) vorhandene Wörter analysiert werden können. Wortform. Konkrete Form eines Wortes, wie sie bspw. in Texten vorkommt, mitsamt ihren Flexionsaffixen. Wortformen können → Lexemen zugeordnet werden. Beispiel: spielt, spielte, spieltest, gespielt sind Wortformen des Lexems S P I E L E N . Wortschöpfung. Schaffung neuer Wörter durch (Re-)Kombination von Phonemen. Ist im heutigen Deutsch selten und betrifft vor allem Firmen- und Eigennamen. Zirkumfix. → Affix, das aus → Präfix und → Suffix besteht. Zirkumfixe sind im Deutschen selten. Ein Beispiel aus der → Flexion ist das Affix des Partizip Präteritum ge…t (bzw. bei → starken Verben ge…en) wie in ge·spiel·t. 190 Glossar Literaturverzeichnis A U E R , Peter ( 2 2013): Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. Berlin u.a.: de Gruyter. A X T E L L , Robert L. (2001): Zipf distribution of US firm sizes. 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BUCHTIPP Matthias Granzow-Emden Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten bachelor-wissen 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019, 328 Seiten €[D] 21,99 ISBN 978-3-8233-8134-1 eISBN 978-3-8233-9134-0 Diese neuartige Einführung in die deutsche Grammatik verbindet schulgrammatisches Wissen und neuere Grammatikmodelle in anschaulicher und verständlicher Weise miteinander. Lehramtsstudierende können sich damit die Kenntnisse und Kompetenzen aneignen, die sie für ihr Studium und ihren künftigen Beruf brauchen, erfahrene Lehrkräfte erhalten wichtige Impulse für neue Wege im Deutschunterricht. Mit den funktional orientierten Erklärungen zum Feldermodell und den zahlreichen systematisch gestalteten Tabellen im Bereich der Verben, Nomen/ Nominalgruppen, Präpositionen und Pronomen bekommt die Schulgrammatik eine tragfähige Grundlage. Die Tabellen eignen sich darüber hinaus für DaF-/ DaZ-Kurse sowie für die autodidaktische Aneignung des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache. Die neue Auflage wurde gründlich überarbeitet und erweitert. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Wir alle nutzen Sprache, kompetent und ganz selbstverständlich. Aber was das genau heißt, und welche komplexen Strukturen und Systeme dahinterstecken, ist den meisten Laien unklar, denn wir können auf dieses Wissen nicht direkt zugreifen. Hier setzt dieser Band an. Ausgehend von authentischen Sprachdaten stellt er den Leser: innen interessante und faszinierende Aspekte aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor. Jedes Kapitel widmet sich allgemeinverständlich und auf Basis aktueller linguistischer Forschung einem anderen sprachlichen Aspekt: ausgestorbene und aussterbende Wörter, Sprachwandelprozesse, sprachliche Zweifelsfälle, Trends bei der Vornamengebung und vieles mehr. Mit Phänomenen, die erstaunen und überraschen, führt der Band Studieninteressierte und Studierende an die Linguistik heran und macht neugierig auf einen ebenso spannenden wie vielseitigen Untersuchungsgegenstand: die deutsche Sprache. ISBN 978-3-8233-8441-0 Berg Wort - Satz - Sprache Wort Satz Sprache Eine Hinführung zur Sprachwissenschaft Kristian Berg