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Empörung, Revolte, Emotion

2022
978-3-8233-9492-1
Gunter Narr Verlag 
Olivier Baisez
Pierre-Yves Modicom
Bénédicte Terrisse
10.24053/9783823394921

Dieser Sammelband erörtert die Relevanz der aktuellen Emotionsforschung für die verschiedenen Fachrichtungen der Germanistik. Besonders berücksichtigt wird dabei eine bestimmte Emotion: die Empörung, als individueller und als kollektiver Affekt, als ein Gefühl aber auch als ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann.

lendemains edition lendemains 50 Olivier Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse (Hrsg.) Empörung, Revolte, Emotion Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies Empörung, Revolte, Emotion edition lendemains 50 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) und Andreas Gelz (Freiburg) Olivier Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse (Hrsg.) Empörung, Revolte, Emotion Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies DOI: 10.24053/ 9783823394921 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8492-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9492-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0298-8 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: Käthe Kollwitz, Losbruch Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 1. 27 47 69 89 105 2. 129 143 Inhalt Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft Urszula Topczewska Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens . . . . . . Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Gutzmann & Katharina Turgay „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “. Eine sprechakttheoretische Betrachtung von Unwahrheit und Emotionalisierung in den sozialen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Lakyim Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabian Ehrmantraut Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind: Empirische Untersuchungen zum Wandel vom gebundenen Morphem zum freien, expressiven Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen und Geschichte Guillaume Robin Emotionen in der Techno-Szene. Der Rave-Protest als Mittel, den urbanen Raum zurückzuerobern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicolas Batteux Fehlende oder verdächtige Emotionen? . Entemotionalisierungsprozesse bei den SPD-Bundestagsabgeordneten im Laufe der 68er Bewegung (1967-1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 175 193 3. 217 229 241 255 Henning Fauser „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “. Die gestreifte Häftlingskleidung im Zeichen des Protests (1945-1961) . . . . . . . Niall Bond „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften als empörte Abwehr gegen die Hegemonie der instrumentellen Vernunft . Matthias Rein Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs des 14. und 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empörung, Revolte, Emotion in der Literaturwissenschaft Farah El Abed Enites Emotionen in Hartmanns Roman Erec. Eine semantische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emmanuelle Terrones „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“. Zur zeitgenössischen Wut: Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) . . . . . . . . . . . Leslie Brückner „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “. Empörung und Revolte in Heinrich Heines Zeitgedichten . . . . . . Sonja Malzner Trauer, Wut, Empörung, Hass: zu deutschen Afrika-Reisebüchern der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 An dieser Stelle möchten wir uns bei den Institutionen bedanken, die die Veröffentlichung dieses Bandes finanziell unterstützt haben: dem französischen Verband für Hochschulgermanistik, AGES; der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis; der Universität Bordeaux-Montaigne; der Universität Nantes. Unser Dank geht auch der Deutsch-Französischen Hochschule und der Universität des Saarlandes für die freundliche Zusammenarbeit. Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies Einführung 1 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse 1 Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung Seit einigen Jahren kommt die geisteswissenschaftliche Emotionsforschung wieder in Schwung: Neben den traditionellen, immer noch aktuellen Herange‐ hensweisen der Kulturgeschichte, der Anthropologie, der praktischen Philoso‐ phie, der Psychologie, der literarischen Rezeptionstheorie und der Rhetorik haben sich neue Herangehensweisen entwickelt, die einerseits das Erbe der poststrukturalistischen Kulturforschung antreten, und sich andererseits auf die neuen Erkenntnisse der kognitiven Psychologie berufen, die unser Verständnis von Emotionen verändern. Für Brian Massumi (1995) ist Affektforschung die Chiffre zu einer neuen allgemeinen Theorie der Semiotik und der gesellschaft‐ lichen Kommunikation überhaupt. Wie umstritten die Parole der „emotionalen Wende“ der Geisteswissenschaften auch ist (s. Leys 2011 für eine grundlegende Kritik), sie hat dennoch zur Entstehung einer neuen Reihe von Forschungen über Gefühle und Emotionen wesentlich beigetragen (für einen Überblick, s. etwa Greco & Stenner 2008 oder Lemmings & Brooks 2014). Ob in der Sprach‐ wissenschaft, in der Literaturwissenschaft oder auch in der kulturellen, intel‐ lektuellen, politischen und sozialen Geschichte: Das erneute Interesse für Emo‐ tionen stellt die Forschung vor die Wahl, die neuen Ansätze mit traditionellen Paradigmen des Einzelfachs zu kombinieren, oder sich von diesen traditionellen disziplinären Mustern abzugrenzen. Die intrinsisch interdisziplinäre Herangehensweise der Emotion Studies stößt zudem auf die bestehende disziplinäre Vielfalt der kulturwissenschaftlichen und neuphilologischen Ansätze im Bereich der Germanistik - ob man diese als Ein‐ zelbereich der Areal Studies betrachtet, oder auf dem Fokus auf diskursives bzw. philologisches Material besteht. Die mutmaßliche „emotionale Wende“ gestaltet sich also unterschiedlich in der Germanistik, als in einem Einzelfach wie etwa Ethik oder der vergleichenden Literaturwissenschaft. Dies gilt insbesondere für die nationalen Traditionen der Germanistik, die sich seit Längerem mit ge‐ schichtlichen, soziologischen und anthropologischen Fragestellungen ausei‐ nandersetzen. Dazu zählt die französische Germanistik. Auf Betreiben des französischen Verbandes für Hochschulgermanistik (As‐ sociation des Germanistes de l’Enseignement Supérieur, AGES ) wurden 2019 die Germanistinnen und Germanisten weltweit dazu eingeladen, sich mit den He‐ rausforderungen der Emotionsforschung auseinanderzusetzen. In freundlicher internationaler Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes und beson‐ ders mit Prof. Dr. Nine Miedema war ursprünglich eine internationale und in‐ terdisziplinäre Tagung für 2020 in Saarbrücken geplant. Die - emotionsreichen - coronabedingten Wechselfälle der folgenden Monate haben es anders ent‐ schieden. Es wurde dennoch beschlossen, die Weichen für weitere Gespräche und Forschungen zu stellen, indem eine Auswahl aus den geplanten Beiträgen herausgebracht und veröffentlicht werden sollten. Um trotz der Vielfalt der untersuchten Emotionen einen Leitfaden zu be‐ halten, wird ein bestimmter Emotionskomplex besonders berücksichtigt: Zorn und Empörung. Empörung wird hier als individueller und als kollektiver Affekt definiert. Diese Emotion ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. Empö‐ rung und Revolte wurden schon von den traditionellen Herangehensweisen der Emotionsforschung gründlich behandelt und eignen sich daher für den ge‐ wünschten Dialog gut. Das Spannungsverhältnis zwischen Behauptung und Zerstörung (bzw. Positivität und Negativität) bei Empörung und Revolte gibt zumindest Anlass zur Besprechung von zwei Grundthemen der Affekttheorie Massumi’scher Prägung: den komplexen Verbindungen zwischen persönlichen Werturteilen und emotionaler Intensität, und dem Verhältnis zwischen Emoti‐ onen und der „Virtualität“, d. h. der Menge aufkeimender, emergierender und unvollkommener Entwicklungen, durch welche die „Futurität“ in der Gegen‐ wart verankert aber auch teilweise gefangen ist. 8 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse Gesammelt werden Beiträge aus historischer, geistesgeschichtlicher, literari‐ scher und linguistischer Perspektive zu den Phänomenen Revolte - Empörung - Emotion im deutschsprachigen Raum. Zu den rekurrierenden Motiven der Bei‐ träge gehören die Sozialgeschichte der Empörung, die kulturellen und diskur‐ siven Aspekte von Revolte, die literarische Behandlung von Revolte, Empörung und benachbarten Emotionen sowie die Rhetorik der Empörung und die Rolle von Empörung und Emotionen in der Sprachtätigkeit selber. 2 Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft Diskursiv lassen sich Emotionen, und vor allem Empörung, als Haltungen der Sprecher: innen bezüglich vorgestellter Sachverhalte fassen. In diesem Sammel‐ band wird aber auch Empörung als Ereignis begriffen, das über eine auszudrü‐ ckende innerliche Haltung hinausgeht: Empörung kann auch dieser Ausdruck selbst sein, oder die Reaktion darauf. Emotionen sind daher ein wichtiger the‐ oretischer Gegenstand für die Sprechakttheorie. Welche Regelmäßigkeiten treten in diesen Interaktionen zutage, die die Grice’schen Kooperationsmaximen (vor allem die „Modalitätsmaxime“) oft missachten? Was ist das Zusammenspiel zwischen Emotionalität und illokutiver Kraft? Die Grundsprechakte, die von Searle (1969) definiert worden sind, beinhalten entweder keine intrinsischen emotionalen Komponenten (Aussage, Frage, Befehl), oder werden sehr allge‐ mein als emotional definiert (Exklamation, in vielen Hinsichten ein Stiefkind der klassischen Sprechakttheorie, s. Danon-Boileau & Morel 1995, Krause & Ruge 2004, d’Avis 2016, Larrory-Wunder 2016). Die neuere Sprechaktforschung liefert aber ein differenzierteres Bild, die auf eine feinkörnigere Beschreibung der emotionalen Merkmale verschiedener Illokutionssorten hoffen lässt, auch in formaler Hinsicht: Mehrere formale Ansätze versuchen jetzt, die Semantik und Pragmatik der Empörung und der Emotion modellieren (Potts 2007, Gut‐ zmann 2015). Wahrheits- und gebrauchskonditionale Semantik werden mitei‐ nander artikuliert, um die Glückensbedingungen (felicity conditions) emotio‐ naler und insbesondere empörerischer Sprechakte zu bestimmen. Eine wichtige Frage dabei ist, wie sich die emotionalen, empörerischen Illokutionen in die Landschaft der Sprechakte verorten lassen. Gibt es eigene emotionale Sprech‐ akte, oder soll man eher Emotion, etwa Empörung, als eine zusätzliche illoku‐ tionäre bzw. expressive Verfärbung basaler Sprechaktsorten verstehen? Oder soll der Expressivitätsbegriff kritischer betrachtet werden (Blakemore 2015)? Diese Frage wird in den ersten zwei Beiträgen des Bandes erörtert. In ihrem Beitrag „Emotionen in expressiven Sprechakten. Das Beispiel des Dankens“ 9 Einführung nimmt Urszula Topczewska diese Frage nach dem Platz der Expressivität in der Sprechakttheorie zum Ausgangspunkt. Die Vermittlung von Emotionen durch Sprechakte lässt sich nicht auf eine pauschale Ausdrucksfunktion redu‐ zieren und inkludiert immer eine teilweise diskursive Herausbildung der Emo‐ tion durch den Sprechakt selbst. Sie unterliegt somit den sozialen Konventionen, die dem Rückgriff auf spezialisierte Untertypen von Sprechakten entsprechen. Diese theoretischen Stellungnahmen werden anschließend am Beispiel der emo‐ tionalen Bestimmungen des Sprechaktes „Danken“ veranschaulicht. Auch der Beitrag von Anne-Kathrin Minn und Nathalie Schnitzer, „Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht“, be‐ fasst sich mit diesem Themenbereich der Emotionsvermittlung innerhalb von konventionalisierten Illokutionen. Diesmal geht es um die Aufforderung als Il‐ lokution (eher als um den Imperativsatz als Satzmodus). Berücksichtigt wird das Spannungsfeld von Emotionalität und (Auf)forderung am Beispiel von Äuße‐ rungen aus dem Umfeld der Corona-Pandemie. Dieser Beitrag kennzeichnet sich auch durch eine didaktische Perspektive aus der Sicht des Deutschen als Fremd‐ sprache: Veranschaulicht wird die Aneignung pragmatischer Strategien durch fortgeschrittene Sprachlernende anhand von fünf praktischen Aufgaben. Nach dieser Standortbestimmung rückt Empörung durch den Beitrag von Daniel Gutzmann und Katharina Turgay in den Vordergrund. Unter dem Titel „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! Eine sprechakttheoretische Betrach‐ tung von Unwahrheit und Emotionalisierung in den sozialen Medien“ befassen sie sich mit unwahren Assertionen, die auf Empörung abzielen („Trolling“, „Bullshit“, s. Stefanowitsch 2020). Unter Berücksichtigung der neueren theore‐ tischen Forschung zur Lüge (s. u. a. Meibauer 2015) versuchen Sie, solche Wort‐ meldungen sprechakttheoretisch zu verorten, und von anderen konventionali‐ sierten Illokutionstypen abzugrenzen. Sprechakttheorie erschöpft aber das Feld der pragmatischen Emotionsfor‐ schung nicht. Auch die interaktive Dimension emotionaler Diskurse soll auch in Betracht gezogen worden, sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Interaktionen: Wie laufen footing- und face-taking-Strategien in emotionbela‐ denen Kontexten (Brown & Levinson 1987)? Welche sprachlichen Phänomene kann die korpusbasierte Erforschung emotionaler Diskurse an den Tag legen? Werden Emotionen vermittelt oder verheimlicht, je nach den Requisiten einer bestimmten Tradition? Und wie? Erste Angaben sind aus den neueren Studien zum Ausdruck der expressiven Funktion der Sprache (Bühler 1934, Jakobson 1960) zu erwarten (s. schon Traverso, Plantin & Doury 2000 sowie Schwarz-Friesel 2007 oder Micheli et al. 2013, und die Sammelbände von Paulin 2007, Gautier & Monneret 2011, Chauvin & Kauffer 2013, Gutzmann & Gärtner 10 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse 2013, d’Avis & Finkbeiner 2019, Mackenzie & Alba-Juez 2019). Erste Ansätze haben sich erfolgreich mit mündlichen und multimodalen Korpora beschäftigt (s. u. a. Mondada 2016, Pfänder & Gülich 2013, Quignard et al. 2016, sowie aus germanistischer Sicht König 2017), wie auch mit den Eigenschaften der Emoti‐ onsvermittlung in neuen Medien (Bucher 2020, Fladrich & Imo 2020). Im Geiste der Unterschung von Nähe- und Distanzsprache (Koch & Oesterreicher 1985) ließe sich fragen, inwieweit der Ausdruck von Emotionen genremäßig mit kon‐ zeptioneller Mündlichkeit verbunden ist (über Emotionen in schriftlichen Texten, s. dennoch Fries 2009). Der Beitrag von Roland Lakyim „Einseitigkeit und institutioneller Rahmen (Öffentlichkeit) als einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen“ widmet sich diesem Metho‐ denbereich der interaktionalen korpusbasierten Emotionsforschung und nimmt bewusst schriftliche Diskurse zum Ausgangspunkt. Ausgehend von den kon‐ ventionalisierten diskursiven Eigenschaften eines konzeptionell und medial schriftlichen Genres, der offiziellen Korrespondenz, erforscht Roland Lakyim die Art und Weise, wie pragmatisch-kontextuelle Regelmäßigkeiten den Aus‐ druck von Emotionen erschweren können. Dabei zeigt er auch, dass Emotiona‐ lität sich trotzdem an den Tag legen lässt, und isoliert er erste Formen und Stra‐ tegien der schriftlichen, öffentlichen Emotionsvermittlung. Insgesamt lässt sich Emotionalität nicht als ein getrenntes Feld der Sprach‐ wissenschaft absondern. Ob man sie als allgegenwärtige Belebungskraft gegen die Grammatik hervorhebt, oder sie umgekehrt als Quelle von Irregularitäten bzw. Performanzunfällen abtut: Emotionen liegen genausowie Illokutionen zu‐ mindest teilweise im Lexikon und in der Grammatik. Emotionalität unterliegt somit dem Prinzip der sprachlichen Arbitrarität und muss mit den Instrumenten der Morphologie, der Phraseologie (Schmale 2013) und der Syntax erfasst werden können. Auf lexikalisch-semantischer Ebene dürfte hier der Begriff der Intensivierung in den Vordergrund rücken. Wie lassen sich morphologische In‐ tensivierungsmarker rekrutieren? Sind sie Fälle von Grammatikaliserung (Trau‐ gott 1995)? Von Pragmatikalisierung? Inwieweit kann man von einem Konti‐ nuum zwischen intensivierenden und nicht-intensivierenden Lesarten sprechen? Im vorliegenden Sammelband wird diese Frage im Hinblick auf in‐ tensivierende Wortbildung gestellt. In seinem Beitrag „Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind - Empirische Untersuchungen zum Wandel vom gebundenen Morphem zum freien, expressiven Wort“ nimmt Fabian Ehr‐ mantraut die beiden Präfixoide super- und biounter die Lupe. Das erste hat eine konventionelle affektive und eine intensivierende Bedeutung entwickelt. Emotionalität und Werturteil schwingen sehr oft im Gebrauch des zweiten mit. Der Beitrag befasst sich mit den verschiedenen Gebrauchsweisen der beiden 11 Einführung Formen und weist nach, inwieweit der morphologische Wandel mit einer Be‐ deutungsänderung und einer Konkretisierung einhergeht. 3 Emotionen und Geschichte Die Geschichtswissenschaft hat schon relativ früh die sogenannte emotionale Wende (emotional turn) zur Kenntnis genommen und integriert. Die Erkenntnis, dass der Ausdruck und das Empfinden von Emotionen und Gefühle nicht ewig naturgegeben, sondern dem Wandel der Zeit unterworfen sind, ist nicht zuletzt der Historiker*innen zu verdanken. Sie sind den Fragen „Haben Emotionen eine Geschichte? “ und „Machen Emotionen Geschichte? “ nachgegangen und stellten mit Lucien Febvre, der bereits 1941 zur Beschäftigung mit dem „Affektleben von einst“ aufrief, erneut fest, dass sozial und kulturell konstruierte Emotionen ein ertragreicher Forschungsgegenstand der Gesellschaftsgeschichte darstellen können. Seit dem Ende der 2000er Jahre bildet die Emotionsgeschichte bzw. die Geschichte der Gefühle ein expandierendes Forschungsfeld, dem zum Beispiel das Max-Planck-Institut in Berlin ab 2008 ein eigenes Forschungsbereich wid‐ mete. Sowohl in Deutschland als auch Frankreich wurden in den letzten Jahren Standardwerke zur Geschichte der Emotionen veröffentlicht (Frevert 2011 und 2016, Plamper 2012; Corbin, Courtine, Vigarello 2017), die sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzen, welche Emotionen angestrebt und kultiviert, welche Vorstellungen vermittelt, welche Anforderungen gestellt, welche emo‐ tionalen Reaktionen in verschiedenen Sinn- und Kulturhorizonten erwartet wurden (Stalfort 2013). Besonders in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts lassen sich Emotionen häufig mit Empörung bzw. Revolte verbinden - man denke nur an das weltweit gelesene und rezipierte Pamphlet von Stéphane Hessel: „Empört Euch! “ (2010). Im Kontext der Historisierung der deutschen Geschichte artikulierten sich Tagungen und Werke um die DDR -Geschichte oder die 68er Revolution sowie linke Bewegungen oder auch um Krisenzeiten, Kalten Krieg, Kapitalismus (Illouz, Benger 2017) und Kampf um Umweltschutz (Radkau 2011). Unterschiedliche Herangehensweisen wurden bevorzugt: Dis‐ kursgeschichte, Geschichtspolitik, Didaktisierung in Museen oder an Schulen (Brauer 2016). Wesentliche Impulse kamen auch aus der Politikwissenschaft, so konnte der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert werden (Aschmann 2005) oder auch durch Medienwissenschaftler mit der doppelten Funktion der Medien, Kaptation und Beeinflussung (Bösch, Borutta 2006). In seinem Beitrag veranschaulicht Guillaume Robin am Beispiel der Kund‐ schaft des Berghain-Clubs auch aus der soziologischen Perspektive die Schlüs‐ 12 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse selrolle der Beherrschung von Emotionen und deren Somatisierung bzw. Nicht-Somatisierung als Stütze des Zugehörigkeitsgefühls in einer Subkultur. Die Emotionen, die diese „emotionale Gemeinschaft“ (in Anlehnung an den von Barbara Rosenwein eingeführten Begriff der emotional communities) der Techno-Szene zusammenhalten, können auch für politische Zwecke mobilisiert werden, nämlich im Kampf um die Nutzung des urbanen Raums. Auch Nicolas Batteux orientiert sich an Rosenwein und führt eine Umkeh‐ rung gewöhnlicher emotionsgeschichtlicher Untersuchungen durch, indem er in der 68er Bewegung nicht die protestierenden Studenten, sondern Parlamen‐ tarier der SPD -Bundestagsfraktion unter die Lupe nimmt. Er zeigt im Beson‐ deren, wie der Begriff „Emotionen“ von den Abgeordneten in Abgrenzung zum Begriff „Gefühle“ verwendet wurde, um das als negativ empfundene Verhalten der demonstrierenden Jugend als übermäßig affektbetont anzuprangern. Henning Fauser kehrt den Blick nach Frankreich und beleuchtet in seinem Beitrag ebenfalls das Verhalten einer Gruppe sowie die Signalfunktion, die be‐ stimmte Handlungen beim Ausdruck von Emotionen haben können, und zwar am Beispiel des öffentlichen Tragens der gestreiften Häftlingskleidung durch französische KZ -Überlebende im Zeitraum 1945-1961. In diesem Fall sollte ein gestreiftes Stück Stoff, das auf Demonstrationen am Leib getragen wurde, auf vergangenes Leid verweisen, beim Betrachter Emotionen wecken und eine Stigma-Umkehr von negativer Ausgrenzung zu positiver Abhebung vollziehen. Gezeigt wird außerdem, dass nur kommunistisch gesinnte ehemalige Häftlinge ihre KZ -Kleidung auf diese Art und Weise als visuelles Mittel politischer Kom‐ munikation einsetzen. Viel weiter zurück in der Zeit geht Niall Bond bei seiner Untersuchung der Rolle von Emotionen und Empörung in der formativen Phase der Rechts- und Sozialwissenschaften in Deutschland. In der Auseinandersetzung zwischen der romantischen Rechtsauffassung eines Savignys und dem von Rudolf von Jhering vertretenen Utilitarismus wurde dem Vorwurf der übertriebenen Rationalität (Gefühlsleere, Emotionslosigkeit, zweckorientiertes Kalkül) bzw. Irrationalität (Sentimentalität bis zur Gefühlsduselei) vorgeworfen. Bei Ferdinand Tönnies und in der frühen deutschen Soziologie finden sich Spuren beider Richtungen, die sich im Begriffspaar Gemeinschaft-Gesellschaft niederschlagen. Dahinter sieht Bond den strukturellen Gegensatz zwischen Normen der Bewusstheit und Normen der Unbewusstheit. Dem Beitrag von Matthias Rein über Zorn im geistlichen Sündendiskurs des Mittelalters kommt nicht nur in chronologischer Hinsicht ein besonderer Platz zu, handelt es sich doch um den einzigen Text zur vorneuzeitlichen Ge‐ schichte in diesem historischen Teil. Er steht auf Grund seines metasprachlichen 13 Einführung Ansatzes auch an der Nahtstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissen‐ schaft und bemüht sich um eine differenzierte Thematisierung der Grundemo‐ tion Zorn. Über die narrative Ebene hinaus werden auch die psychischen, phy‐ sischen und sozialen Auswirkungen von Zorn berücksichtigt und anhand von drei Beispieltexten eingehend untersucht. 4 Literaturwissenschaft: Empörung, Revolte, Emotion Seit der antiken Rhetorik gehören Emotionen zu den Wesensmerkmalen der Literatur. Sie wurde als Kunst aufgefasst, die durch sprachliche Mittel eine ge‐ wisse Macht auf Zuhörerbzw. Leserschaft ausüben kann und soll (cf. die von der aristotelischen Tragödie auszulösende Reaktion von eleos und phobos). Den Leser und den Zuhörer zu „erschüttern“ (movere) gehört bekanntlich neben den anderen Funktionen des Belehrens (docere) und Unterhaltens (delectare) zu den Hauptaufgaben der antiken Redekunst. Die Literatur des Barocks stand diesem rhetorischen Modell noch nahe. Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert wurde Literatur u. a. als Instrument der Seelenerkundung begriffen. In dieser psycho‐ logischen Auffassung der Literatur spielen Emotionen, Gefühle und Empfin‐ dungen eine große Rolle. Literarische Bewegungen des 18. Jahrhunderts wie die „Empfindsamkeit“, der „Sturm und Drang“ oder auch der Pietismus lassen sich sogar als Reaktionen auf das Modell der antiken Rhetorik im Bereich der Emo‐ tionen interpretieren: als „Gegenmodell emotionaler Kommunikation“, das „das erlebnisästhetische“ gegen das rhetorische ausspiele, indem sie behaupteten, „Emotionen können nicht nur nachgeahmt, sondern faktisch erlebt werden“ (Anz 2006). Gerade gegen dieses rhetorische und psychologische, als traditionell wahrgenommene, Verständnis der Literatur lehnte sich die Literatur der Mo‐ derne auf. Die Revolte der modernen Kunst richtete sich gegen den Vorrang der Emotionen in der Literatur und befürwortete dagegen eine Kunst des sprachli‐ chen Experiments, der Selbstreflexion und des Kalküls. Nun lässt sich seit den 2000er Jahren eine Art Rückkehr zu den noch vor kurzem verpönten Emotionen in der Literaturwissenschaft beobachten. Der Erfolg der amerikanischen Mo‐ ralphilosophie (Nussbaum 1990, 2013, 2017), die der Literatur und ihrer Art, Emotionen darzustellen und einzusetzen, einen Erkenntniswert beimisst, da be‐ stimmte Konzepte der Ethik dadurch neu gedacht werden können, mag dazu beigetragen haben. Die Frage nach der Macht der Literatur, die von der der Affekte nicht zu trennen ist (Bouju / Gefen 2012), steht im Mittelpunkt der ak‐ tuellen theoretischen Reflexionen der Literaturwissenschaft. Emotionen dienen der Neubeschreibung von Gattungen (Meyer-Sickendiek 2005) dank dem Begriff des „emotionstypischen Schlüsselszenarios“; sie werden in der Erzähltheorie 14 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse eingesetzt, Empathie bzw. Sympathie etwa gehören zu den wichtigen Begriffen in der Analyse der Figuren in fiktiven Erzählungen. Die interbzw. transmediale Wende mag ein weiterer Grund sein für das neu erweckte Interesse an Emoti‐ onen, so stark emotionalisierend Bild und Sound im Film sein können (Grau / Keil 2005). Unter den neu berücksichtigten Affekten kommt Empörung, in der Doppel‐ bedeutung des Wortes als „Entrüstung bzw. Indignation“ und „Aufstand“, an der Schnittstelle also zwischen „Emotion“ und „Handlung“, eine Schlüsselrolle zu. Sie lässt sich dem Zorn zuordnen, wobei zwischen „thumos“ und „nemesis“ un‐ terschieden werden soll. Während „thumos“ Zorn als einen individuellen Affekt bezeichnet, verweist „nemesis“ auf eine „legitime Indignation“ (Boyer-Wein‐ mann 2015), die dem Anderen zugewandt ist und auf das Zusammenspiel von Individuum und Kollektivum hinweist. Zorn kann verschiedene literarische Formen und Textsorten in Anspruch nehmen, wie die Satire (Kraus, Tucholsky, Jelinek), der Sarkasmus (Bernhard), das Pamphlet, das Flugblatt (Büchner) oder das Manifest, die Brand- und Streitschrift, das Kampflied oder die Hymne (Heine, Brecht, Biermann). Empörung rückt also das Verhältnis von Literatur und Politik, die Fähigkeit der Literatur, „die Welt zu verändern“ (Marx), in den Vordergrund, wobei die Parallelisierung von politischer und literarischer Avant‐ garde immer wieder in Frage gestellt wird (Enzensberger 1962). Dass Protest mit formalästhetischen Mitteln durchaus wirksam - und vielleicht mit größerer Schlagkraft als mit einer pathetischen, gefühlsbeladenen Sprache - ausgedrückt werden kann, gehört zu den brisantesten Erkenntnissen der modernen Literatur, zudem der Widerspruch bzw. die Diskrepanz zwischen empfundenen, nachge‐ ahmten Emotionen und kontrolliertem Schreibakt der Literatur innewohnt. Die Lyrik der angry young men Thomas Brasch oder Rolf Dieter Brinkmann, das Theater des jungen Handke lassen sich nicht unbedingt mit dem Stichwort „Emotion“ beschreiben, aber sie provozieren und skandalisieren, rufen Empö‐ rung bei der Leserschaft hervor und werden als eine Form von Gewalt wahrge‐ nommen (s. den Film Brinkmanns Zorn von Harald Bergmann). Auf welcher Seite des Schreibakts steht also Zorn? Fungiert Zorn bzw. Empörung bei manchen Schriftstellern als Triebkraft des Schreibens? Wenn Zorn ein historischer Affekt ist, wie Michelet im Hinblick auf die Französische Revolution behauptete, was ist der Affekt der Literatur nach der geschichtlichen Katastrophe der Judenver‐ nichtung? Kann Empörung neben der Melancholie mit den Texten Sebalds oder Celans in Verbindung gebracht werden, wie über Primo Levi oder Chalamov geschrieben wurde (Boyer-Weinmann 2015)? Ist literarische Empörung männ‐ lich codiert, wobei Jelineks Schriften als prominente Ausnahmen firmieren würden? 15 Einführung Der Beitrag von Emmanuelle Terrones im vorliegenden Sammelband lotet am Beispiel des Romans einer Schriftstellerin, Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012), und der Erfahrungen seiner Ich-Erzählerin die Pa‐ radoxen und Widersprüche der Wut aus, die sie im Lichte der Reflexionen von Hannah Arendt untersucht. In diesem Beispiel für weibliche Empörung wird die Frage nach dem Geschlecht der Wut allerdings nicht thematisiert. In Farah El Abeds Aufsatz hingegen steht das Geschlechtsstereotypische im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Figur der Enite aus dem Roman Erec von Hart‐ mann von Aue aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Der Artikel beleuchtet ei‐ nerseits die Rolle der Emotionen und Wahrnehmungen in der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse im Mittelalter, wo die Frau als „Sensorium“ des Mannes fungiert und somit ihre Funktion als Vermittlerin erfüllt und ihren Status als frowe erreicht. Andererseits wird die Ambiguität der Position des Au‐ tors ans Licht gebracht, der die tradierten Rollen und Codes zwar inszeniere, sich aber möglicherweise davon kritisch distanziere. In ihrer Auseinandersetzung mit der Empörung stellen die Texte von Em‐ manuelle Terrones, Leslie Brückner und Sonja Malzner die politische Di‐ mension dieser Emotion in den Vordergrund. Ausgehend von Arendts Ver‐ ständnis des Zorns als „gesteigertes Realitätsbewusstsein“ wirft Terrones‘ Beitrag die Frage nach der politischen Tragweite der Empörung auf, indem er das Verhältnis dieser Emotion zur Macht bzw. Ohnmacht aber auch zur Not‐ wendigkeit bzw. Unmöglichkeit des Austauschs erörtert. Gegenstand des Zorns der Protagonistin des Gegenwartsromans von Grjasnowa sind die „Diskrimi‐ nierungen und Demütigungen, denen Flüchtlinge zum Opfer fallen“. Leslie Brückner widmet sich dem „Verhältnis von revolutionärer Empörung, von ver‐ baler Gewalt und tatsächlicher revolutionärer Gewalt“ in Heinrich Heines po‐ litischer Lyrik der 1840er Jahre. Dabei erweist sich die Position des Autors, der Ironie und Pointe als „Gegengewicht“ in seinen Texten verwendet, als besonders komplex, was Tendenzdichtung angeht. Die Emotion des Zorns und deren Dar‐ stellung durch die konventionelle Metapher des Donnerns dienen dem Selbst‐ verständnis des Autors als „zorniger politischer Dichter“, gleichzeitig scheint der Blitz der Ironie seine Eigenart geradezu zu kennzeichnen und den Wunsch nach der Umsetzung der revolutionären Tat zu relativieren. Sonja Malzner untersucht die Art und Weise, wie Emotionen (vornehmlich Trauer, Wut, Em‐ pörung und Hass) in deutschen Afrika-Reisebüchern der Zwischenkriegszeit durch verschiedene rhetorische Strategien auf textueller, peritextueller, karto‐ graphischer und bildlicher Ebene vermittelt werden. Dabei gebraucht sie den Begriff „politisch motivierte Emotionalität“, und zeigt auf, wie diese Form von „Erinnerungsliteratur“ als „Emotionsort“ fungiert, der zur „Konstruktion eines 16 Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse nationalen kolonialen Gedächtnisses“ beiträgt und das „Projekt Revisionismus“ fördert. Eng verwoben mit dem politischen Aspekt der Empörung ist die Frage nach der Wirkung des Schreibens. Wird die Wut als „begrenzt wirksam“ in Grjasnowas Roman beschrieben, denn sie verhelfe der Protagonistin weder dazu, „Akteurin ihrer eigenen Existenz“ zu werden, noch die Umstände zu än‐ dern, so ist die „Appellfunktion an den Leser“ in den politischen Gedichten Heines und den Afrika-Reisebüchern gemeinsam. In beiden Fällen soll sich der Rezipient bzw. die Rezipientin engagieren: für die Revolution bzw. im Sinne des Kolonialrevisionismus. Ob der Leser tatsächlich handelt, wie die emotional aufgeladenen Bücher und Gedichte es sich wünschen würden, bleibt dahingestellt. Festzustehen scheint aber, dass Empörung als wirksamer Impetus des Schreibens fungiert. 5 Literaturangaben 1 Emotionen in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften Greco, Monica / Steiner, Paul, Emotions: a Social Science Reader, London, Routledge, 2008 (Neuauflage 2013). 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Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern expressive Sprechakte den beim Sprecher tatsächlich vorhandenen Emotionen Ausdruck verleihen und inwiefern sie deren Herausbildung steuern. Zunächst wird die Searle’sche Definition expressiver Sprechakte diskutiert, und anschließend wird die sich daraus ergebende These, dass expressive Sprechakte sozialen Normen folgen und in diesem Sinne von sozialen Regeln geleitet sind, anhand des Sprechakts der Danksagung veranschaulicht. 1 Einleitung Die moderne Neurobiologie definiert Emotionen als größtenteils automatisch im Gehirn ablaufende Vorgänge, die menschliche Kognitionen und Handlungen begleiten und somatosensorisch gefühlt werden können: Emotionen treten auf, wenn im Gehirn verarbeitete Bilder emotionsauslösende Re‐ gionen anregen, beispielsweise die Amygdala oder besondere Abschnitte der Stirn‐ lappen. Sobald eine dieser Auslöseregionen aktiviert wird, scheiden endokrine Drüsen und subkortikale Gehirnkerne chemische Substanzen (bei Angst beispielsweise Cor‐ tisol) aus, die sowohl ins Gehirn als auch in den Körper gelangen. Darüber hinaus werden bestimmte Handlungen eingeleitet (zum Beispiel wiederum im Fall der Angst, Flüchten oder Stehenbleiben sowie Kontraktionen des Darms) und bestimmte Aus‐ drucksweisen (beispielsweise von Angst geprägte Gefühlsausdrücke oder Körperhal‐ tungen) gezeigt. Zumindest für den Menschen gilt, dass auch bestimmte Gedanken und Pläne im Geist auftauchen. […] Die Gesamtheit all dieser Reaktionen stellt den «emotionalen Zustand» dar, der sich recht schnell entfaltet und dann wieder nachlässt, bis neue Reize, die ebenfalls Emotionen verursachen können, im Geist hin‐ zukommen und eine erneute Kettenreaktion anstoßen. (Damasio 2011: 123) Emotionen sind aber nicht nur physiologisch bedingt, sondern auch persön‐ lichkeits- und kulturabhängig. Sie basieren auf Normen- und Wertesystemen, die von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die Kultur stellt jeweils sozial anerkannte Verhaltensmuster bereit, die als situationsange‐ messen gelten und insofern die Entstehung von Emotionen fördern. Aus philosophischer Sicht bilden Emotionen eine sehr heterogene Klasse von mentalen Zuständen, die von einfachen, reaktiven bis zu hochkomplexen, men‐ scheneigenen animi motus reichen: At first blush, the things we ordinarily call emotions differ from one another along several dimensions. For example, some emotions are occurrences (e.g., panic), and others are dispositions (e.g., hostility); some are short-lived (e.g., anger) and others are long-lived (e.g., grief); some involve primitive cognitive processing (e.g., fear of a suddenly looming object), and others involve sophisticated cognitive processing (e.g., fear of losing a chess match); some are conscious (e.g., disgust about an insect in the mouth) and others are unconscious (e.g., unconscious fear of failing in life); some have prototypical facial expressions (e.g., surprise) and others lack them (e.g., regret). Some involve strong motivations to act (e.g., rage) and others do not (e.g., sadness). Some are present across species (e.g., fear) and others are exclusively human (e.g., schaden‐ freude). And so on. (Scarantino / de Sousa 2018) Das am wenigsten kontroverse Merkmal von Emotionen scheint ihre Intentio‐ nalität zu sein. Ob sie aber deskriptiv oder präskriptiv zu interpretieren ist, bleibt in der philosophischen Diskussion nach wie vor unentschieden. Fest steht nur, dass Emotionen im Rahmen einer sozialen bzw. moralischen Ordnung als an‐ gemessen bzw. unangemessen in Bezug auf ihr intentionales Objekt angesehen werden (ebd.). Sprachlich werden Emotionen z. B. in Sprechakten des Lobens, Bewunderns, Spottens, Beschimpfens, Dankens, Sich-Ängstigens usw. ausgedrückt, also in denjenigen Sprechakten, die Searle (1969) zu den Expressiva zählt und die nach seiner Definition den illokutionären Zweck haben, psychische Zustände des Sprechers auszudrücken (cf. Searle 1976: 12; Searle / Vanderveken 1985: 211-216; Vanderveken 1990: 213-219). Mit Expressiva will also ein Sprecher etwas von seinen subjektiven Erlebnissen mitteilen: 28 Urszula Topczewska 1 In diesem Beitrag verzichte ich aus Übersichtlichkeitsgründen auf die Nennung von gendergerechten Formen und benutze Maskulina wie Sprecher und Adressat in ihrer generischen Bedeutung. They may express very general propositional attitudes such as belief or intention, or affectively coloured inner states such as hope, desire, and the like. We say that the expression of inner states is upgraded when the speech act foregrounds the speaker’s inner states, sometimes emphasising their intensity. The expression of inner states is downgraded if linguistic and textual devices hinder the foregrounding of the speaker’s inner states where the context and / or the discourse topic would make it appropriate to expect its occurrence. (Bazzanella et al. 1991: 67) Hermanns (1995) unterscheidet emotionsausdrückende und emotionsbezeich‐ nende Äußerungen. Diejenigen, die Emotionen ausdrücken (z. B. in Form von Exklamativsätzen wie Was für ein Genie! ), benennen sie nur sekundär, und um‐ gekehrt: Äußerungen, in denen Emotionen diagnostiziert werden (z. B. Er liebt sie bzw. Ich habe Angst), dienen nur sekundär zum Ausdruck von Emotionen. In diesem Sinne stellt Hermanns fest: „Ich finde auch, der Satz Ich liebe dich drückt das Gefühl der Liebe in der Regel gar nicht aus“ (Hermanns 1995: 145). Emoti‐ onsbezeichnende Sätze drücken nach Hermanns nicht die genannte Emotion aus, sondern die Intention des Sprechers, den Adressaten glauben zu lassen, dass der Sprecher ihm gegenüber diese Emotion empfindet 1 . Noch weiter geht Motsch (1995: 149), der der gesamten Klasse von Expressiva den intentionalen Modus des Glaubens, dass p, zuschreibt, indem er die expressiven Sprechakte auf Bewertungen reduziert. Schwarz-Friesel (2007) hält dagegen die von Hermanns vorgeschlagene Un‐ terscheidung zwischen emotionsausdrückenden und emotionsbezeichnenden Äußerungen für artifiziell und findet den Satz Ich liebe dich nicht weniger ex‐ pressiv als eine spontane Liebesbekundung mit einem Exklamativsatz wie Oh mein süßer Hase. Sie behauptet ihrerseits: „Auch Äußerungen mit emotionsbe‐ zeichnenden Wörtern drücken selbstreferenziell den inneren Zustand des Spre‐ chers aus“ (Schwarz-Friesel 2007: 147). Vor dem Hintergrund dieser Diskussion lokutionärer und illokutionärer Be‐ deutungen von Expressiva ist der vorliegende Beitrag ein Versuch, folgenden Fragen nachzugehen: Inwiefern verleihen expressive Sprechakte unseren Emo‐ tionen Ausdruck? Geht die Ausdrucksfunktion der Expressiva mit einer Dar‐ stellungsfunktion einher? Steuern Expressiva als formelhafte, kollektive Orien‐ tierungsmuster die Herausbildung von Emotionen? Zunächst werde ich die Searle’sche Definition expressiver Sprechakte disku‐ tieren und in diesem Zusammenhang soziale Aspekte von expressiven Illokuti‐ 29 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 2 Den Terminus „Illokution“ verwende ich im Sinne von „illokutionärer Sprechakt“ bzw. „illokutionäre Sprechhandlung“. onen 2 herausstellen. Die sich daraus ergebende These, dass expressive Sprech‐ akte sozialen Normen folgen und in diesem Sinne von sozialen Regeln geleitet sind, wird anschließend anhand des Sprechakts der Danksagung veranschau‐ licht. 2 Was drücken expressive Sprechakte aus? Sprechakte werden als grundlegende Einheiten zwischenmenschlicher Kom‐ munikation angesehen (Searle 1976: 1). Darunter sind Äußerungen zu verstehen, die nicht nur etwas bedeuten bzw. für eine Bedeutung stehen, sondern auch etwas in der sozialen Welt leisten bzw. bewirken. Austin (1962) ist der Meinung, dass in jedem Sprechakt drei verschiedene Handlungen vollzogen werden, die er Lokution, Illokution und Perlokution nennt. Die Illokution sieht er als den‐ jenigen Akt an, der den kommunikativen Zweck einer Lokution bzw. ihre „Kraft“ (force) deutlich macht und somit anzeigt, wie die gegebene Äußerung zu ver‐ stehen ist. Die illokutionäre Kraft ist diejenige Bedeutung einer Äußerung, die unabhängig von ihren Wahrheitsbedingungen dank der Konvention realisiert wird, dass mit der Äußerung bestimmte illokutionäre Zwecke erreicht werden, z. B. kann die Äußerung Befehl, Behauptung oder Begrüßung zum Zweck haben (cf. Austin 1962: 98-99). Während Lokutionen reale oder fiktive Sachverhalte in einem Satzmodus ausdrücken, wird mit Illokutionen die soziale Wirklichkeit gestaltet bzw. ver‐ ändert. Austin (1962) nennt drei Folgen einer gelungenen Illokution: ein uptake seitens des Rezipienten, normative Sachverhalte und eine Folgehandlung. Eine gelungene Behauptung wird z. B. der Sprecherintention gemäß verstanden, ver‐ ändert den normativen Kontext, indem sie den Sprecher zur Wahrheit des Ge‐ sagten verpflichtet, und wird in einer Antwortäußerung akzeptiert oder abge‐ lehnt. Die normativen Folgen einer Illokution liegen dann vor, wenn sie verbindlich für die Interaktionspartner ist, d. h. ihnen Verpflichtungen auferlegt bzw. Rechte erteilt. Der normative Kontext wird der externalistischen Interpre‐ tation zufolge durch Glückensbedingungen eines Sprechakts bestimmt; die in‐ ternalistische Interpretation macht sein Glücken von den mentalen Zuständen, d. h. den Intentionen des Sprechers abhängig (cf. Harnish 2009). Austin (1962) berücksichtigt in seinem sprechaktheoretischen Modell, dass sprachliche Äußerungen neben Intentionen sowie deskriptiven Kognitionen auch Emotionen der Sprecher ausdrücken. Sie werden vordergründig bei der 30 Urszula Topczewska 3 Dieser Gedanke findet sich bei Grice wieder, der unter Umständen eine intentionale Verwendung der natürlichen Bedeutung von Symptomen zulässt (cf. Grice 1989: 215). Bevor eine bestimmte Interpretation eines natürlichen Symptoms in bestimmten Kon‐ texten zur Konvention geworden ist, hat man es seiner Meinung nach bereits mit einer nicht-natürlichen, aber noch nicht mit einer konventionellen Bedeutung zu tun. Eine Konvention kann also durch natürliche Zusammenhänge erklärt werden, sobald sie sich aber herausgebildet hat, erübrigen sich jedwede inferentiellen Schlüsse. Charakterisierung der sog. konduktiven Sprechakte (Behabitives) behandelt, die emotionale Einstellungen der Sprecher zum Ausdruck bringen. Emotionen können zwar in jedem Sprechakt ausgedrückt werden, z. B. durch expressive Wörter, Topikalisierungen, Wiederholung sprachlicher Einheiten, Interjekti‐ onen, Intonation, brüchige bzw. misstrauische Stimme u. ä., denn potenziell können jedem Sprechakt alle drei Bühlerschen Funktionen zugeschrieben werden: neben einer appellativen und einer referentiellen auch eine expressive Funktion. Was aber sonst eher symptomatisch mittels Sprache ausgedrückt wird, kommt in den expressiven Sprechakten im symbolischen Modus zum Ausdruck 3 . Die Spezifik der Behabitiva im Vergleich zu anderen Sprechakten liegt nach Austin (1962) auch darin, dass sie weder eine Veränderung der Welt durch Worte bewirken (wie Behauptungen, die Emotionen beschreiben) noch Worte an die Welt anpassen (wie etwa Kommissiva), sondern den Empfindungen (feelings) des Sprechers Luft machen, und zwar auch dann, wenn sie die Empfindungen zugleich beschreiben. Auch in diesem Fall steht der Ausdruck von emotionalen Einstellungen nicht im Dienste einer anderen Intention, sondern macht den ei‐ gentlichen Zweck der gegebenen Illokution aus. Nach Searle (1969) sind Illokutionen regelgeleitete Handlungen, die kommu‐ nikative Intentionen von Sprechern den geltenden Konventionen gemäß aus‐ drücken. Die Intentionen werden dabei als mentale Zustände verstanden, die auf außerhalb ihrer selbst liegende Sachverhalte ausgerichtet sind. Sie ent‐ scheiden über die illokutionäre Kraft einer Äußerung und sind auch für die Be‐ nennung von Sprechakten ausschlaggebend, zugleich ist aber ihr kommunika‐ tiver Einsatz konventionell geregelt. Man kann nicht sagen Hier ist es kalt im Sinne von ‚Hier ist es warm‘ „ohne einen entsprechenden Bühnenhintergrund“ (Searle 1973: 71), denn auch eine illokutionäre Bedeutung (z. B. der Gebrauch von Ironie) „ist zumindest manchmal auch eine Sache der Konvention“ (ebd.). Die Struktur eines illokutionären Akts beschreibt Searle (1973: 51) mit der allgemeinen Formel F (p) und nimmt somit an, dass sich die illokutionäre Kraft 31 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 4 Austins Analyse von Sprechakten verzichtet dagegen gänzlich auf den Begriff der Pro‐ position, um den Handlungscharakter von sprachlichen Interaktionen zu betonen, der kaum formalsemantisch zu erfassen ist (cf. Sbisà 2013: 63). einer Äußerung als Funktion ihres propositionalen Gehalts beschreiben lässt 4 . Um grundsätzliche Formen von Sprechhandlungen zu identifizieren, bedient sich Searle (1976) insgesamt dreier Definitionskriterien: des Kriteriums des il‐ lokutionären Zwecks (illocutionary point bzw. purpose), der Anpassungsrichtung (direction of fit bzw. propositional content condition) und des Ausdrucks eines psychischen Zustands (expression of a psychological state). Weder die Eingangs‐ regel noch die Aufrichtigkeitsregel, die Searle (1969) für seine Beispiele von Sprechakten nach der Bedingung des propositionalen Gehalts angibt, werden von Searle (1976) bei den Definitionskriterien für Illokutionen berücksichtigt. Nur die wesentliche Regel bzw. die wesentliche Bedingung wird mit dem illo‐ kutionären Zweck identifiziert: If we adopt illocutionary point as the basic notion on which to classify uses of language, then there are a rather limited number of basic things we do with language: we tell people how things are, we try to get them to do things, we commit ourselves to doing things, we express our feelings and attitudes and we bring about changes through our utterances. (Searle 1976: 22-23) Searles klassifikationstheoretischer Ansatz wurde unter verschiedenen Ge‐ sichtspunkten kritisiert. Einer davon betrifft die Frage der zuverlässigen Er‐ mittlung von illokutionären Zwecken, die konstitutiv für die einzelnen Sprech‐ aktklassen sind und in der wesentlichen Regel für den Vollzug des jeweiligen Sprechakttyps angegeben werden. Es ist jeweils derjenige Zweck, der im kor‐ rekten Vollzug eines Sprechaktes notwendigerweise realisiert wird und somit den wichtigsten Bestandteil der illokutionären Kraft einer Äußerung darstellt. Bei seiner Deskription werden aber von Searle stellvertretend für die Sprechakte selbst die Bedeutungen von sprechaktbezeichnenden Verben untersucht. Aus diesen Bedeutungen schließt Searle auf den illokutionären Zweck und folglich die illokutionäre Kraft entsprechender Sprechakttypen. Dass dieses Vorgehen eine verkürzte Sichtweise bedingt, hat z. B. Marten-Cleef (1991: 99-122) gezeigt. Die Autorin weist darauf hin, dass die illokutionäre Kraft von Beschimpfungen wie in Beispiel (1) - (2) nicht unbedingt mit der Bedeutung des Verbs verachten zusammenfällt, sondern auch Enttäuschung, Bewertung und ggf. sogar Scherz beinhalten kann, wenn die Äußerung z. B. von einem freundlichen Lachen be‐ gleitet wird. 32 Urszula Topczewska (1) Ich Trottel! (2) Du Idiot! Im Anschluss an Bühlers Sprachtheorie könnte man argumentieren, dass hier nicht nur der Satztyp und nicht in erster Linie ein expressiver Ausdruck (Trottel, Idiot) als Illokutionsindikator angenommen werden soll, sondern die gesamte Äußerung, die dem Sprechhandlungsmuster (3) folgt, Träger der Illokution ist. Bühler (1965 2 : 32) führt als Beweis dafür, dass es bei solchen Äußerungen nicht so sehr auf das Schimpfwort selbst ankommt, sondern auf den „Ton“ der Ge‐ samtäußerung, das Beispiel vom Bonner Studenten an, der „im Wettkampf das schimpftüchtigste Marktweib mit den Namen des griechischen und hebräischen Alphabetes allein (῾Sie Alpha! Sie Beta! …’) zum Schweigen und Weinen gebracht haben“ soll. (3) Du X! Searle (1969) weist bei seiner Besprechung einiger Beispiele für Sprechakte, die er später der Klasse der Expressiva zurechnet, darauf hin, dass die psychischen Zustände, die in diesen Handlungen ausgedrückt werden, im Grunde emotionale Zustände (feelings) sind, z. B. Dankbarkeit beim Danken, Freude über die An‐ kunft des Hörers beim Willkommenheißen, Freude über das Glück des Hörers beim Beglückwünschen. Andere Sprechakttypen bringen andere Typen von In‐ tentionen zum Ausdruck, z. B. Glauben (Assertiva), Wünsche (Kommissiva), Verlangen (Direktiva). Während aber die anderen Sprechakttypen die jeweiligen mentalen Zustände zusätzlich zu ihrem illokutionären Zweck zum Ausdruck bringen, ist deren Ausdruck im Falle von Expressiva der illokutionäre Zweck schlechthin (cf. Searle 1976: 23). Damit eng verbunden ist ihre Eigenschaft, keine Anpassungsrichtung zu haben und die Wahrheit der ausgedrückten Proposition zu präsupponieren (Searle 1976: 12, cf. auch Kissine 2013: 181). Da Searle zu‐ gleich davon ausgeht, dass beinahe allen Sprechakten eine Proposition zugrunde liegt, beschreibt er die Expressiva mit der symbolischen Formel (4), wo E für den illokutionären Zweck, das Nullsymbol ø für das Fehlen der Anpassungsrichtung, die Variable P für die möglichen psychologischen Zustände und die Variablen S / H für den Sprecher bzw. Adressaten stehen, dem eine Eigenschaft (property) auf der Ebene der Proposition zugeschrieben wird. (4) E ø (P) (S / H + property) Auf die in der gegebenen Proposition dargestellte Sachlage soll sich die emoti‐ onale Einstellung des Sprechers beziehen, die dem Hörer kommuniziert wird (cf. Searle / Vanderveken 1985: 58). Diese Auffassung der Proposition wird von Hanks (2018) entschieden zurückgewiesen. Hanks rechnet Expressiva zu den „non-propositional speech acts“, wofür nicht zuletzt die Unmöglichkeit spricht, ihre Anpassungsrichtung zu bestimmen. Ähnlich wie Austin den Behabitiva 33 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 5 Kissine (2013: 185-186) rechnet zu den Expressiva auch Äußerungen wie I find this disgusting, die propositionale Urteilseinstellungen ausdrücken, nimmt aber an, dass die Emotion in diesem Fall primär und die Sprecherüberzeugung erst sekundär ausgedrückt wird. konnte auch Searle den Expressiva keine Anpassungsrichtung zuweisen, was damit zusammenhängt, dass ihnen keine Glückensbedingungen zugewiesen werden können. Expressiva können weder wahr noch falsch sein, weder kann die jeweilige Sprecherintention vom Hörer erfüllt werden, noch kann der Hörer den Sprecher für Ihre Erfüllung verantwortlich machen. Wenn also der propo‐ sitionale Gehalt Ausgangspunkt für die Bestimmung von Erfüllungsbedin‐ gungen der Sprechakte sein soll, verfehlt seine Annahme ihren Zweck bei Sprechakten, die keine Erfüllungsbedingungen besitzen (cf. Hanks 2018: 141) 5 . Auf die Unmöglichkeit, Glückensbedingungen für Expressiva anzugeben, verweist auch Sander (2013): „[W]eder sind hier die Wörter ‚deskriptiv‘ auf die Welt ausgerichtet, noch soll sich im ‚präskriptiven‘ Modus die Welt nach dem Wort richten“ (Sander 2003: 12). Im Unterschied zu Deskriptionen stellen sie keine Berichte über innere Zustände dar, und im Unterschied zu Versprechungen und Aufforderungen entbehren sie einer sozialen Verpflichtung. Der soziale Aspekt spielt dabei dennoch eine wichtige Rolle. Was mit ihnen ausgedrückt wird, sind sozialisierte Emotionen bzw. Kognitionen davon, und erst sekundär individuelle emotionale Einstellungen (cf. Sander 2003: 22). An dieser Stelle muss Searles Konzeption sekundärer und ggf. unbewusster bzw. unbeabsichtigter Intentionen erwähnt werden, die sich auf Austin zurück‐ führen lässt. Austin (1962) lässt z. B. bei seinen Exercitiva die Möglichkeit zu, dass der Sprecher eine Illokution vollzieht, ohne die entsprechende Intention zu haben, lediglich deshalb, weil seine Äußerung im gegebenen Kontext mit guten Gründen als diese Illokution wahrgenommen werden kann. Sie verändert den sozialen Kontext unabhängig von Sprecherintentionen, wenn der Sprecher be‐ stimmte Befugnisse besitzt und die erforderliche Formel vor entsprechendem Auditorium äußert. In Bezug auf expressive Sprechakte kann in diesem Zusam‐ menhang die Frage gestellt werden, ob ihr Glücken von emotionalen Einstel‐ lungen bzw. Empfindungen des Sprechers oder von ihrer Rezeption abhängt. Besteht ferner ihr illokutionärer Zweck lediglich darin, Einstellungen zu einem Sachverhalt auszudrücken, „ohne dass weitere Konsequenzen intendiert sind“ (Liedtke 2016: 61)? Können schließlich Expressiva nur tatsächlich beim Sprecher vorhandene innere Zustände ausdrücken, oder sind sie eher Ausdruck sozialer Verpflichtung zu diesen Zuständen? Mit Sander (2003) lässt sich die letztere Frage wie folgt formulieren: 34 Urszula Topczewska Liegt der ‚Witz‘ solcher Sprechakte wie dem Danken und dem Gratulieren wirklich nur im bloßen Ausdruck von ‚feelings‘, oder wäre hier nicht eher an die soziale Funk‐ tion solcher Vollzüge zu denken? (Sander 2003: 12) Rolf (1997) versucht dieses Dilemma zu lösen, indem er den Expressiva „die regulative Beeinflussung der emotionalen (Gesamt-)Lage des Adressaten“ (Rolf 222-223) als ihren illokutionären Zweck zuschreibt. Eine kommunikative Be‐ einflussung des Adressaten lässt sich nach Austin (1962) allerdings nicht mit der Äußerung von Worten, sondern nur durch die geäußerten Worte erreichen, sie betrifft also den perlokutionären Zweck einer Äußerung. Rolf begründet seinen Verweis auf die perlokutionären Folgen der Expressiva bereits in der wesentli‐ chen Regel für ihren Vollzug damit, dass die meisten expressiven Sprechakte „essentiell Hörer-gerichtet“ sind (cf. Searle / Vanderveken 1985: 211). Mit an‐ deren Worten, und zwar im Anschluss an Austins Charakterisierung der Beha‐ bitiva, lässt sich Rolfs Vorschlag damit begründen, dass alle Expressiva direkt die Beziehung zwischen Sprecher und Adressat betreffen. Eine auf die Beeinflussung des Adressaten ausgerichtete Sichtweise attestiert Searle (1969) dem Grice’schen bedeutungstheoretischen Ansatz, der zwar nicht zwischen illokutionären und perlokutionären Akten differenziert, aber perlokutionäre Intentionen bei der Bestimmung der Sprecherbedeutung im Blick hat, wenn er die Wirkung des Gesagten auf den Hörer bzw. seine Reaktion auf das Gesagte zum kommunikativen Ziel des Sprechers erklärt. Die Grice’sche Bestimmung der Bedeutung beziehe sich demnach nicht auf die Absicht, einen illokutionären Akt zu vollziehen, obschon gerade diese Absicht das vom Spre‐ cher Gemeinte definieren soll: Grob gesehen läuft Grice’s Bestimmung [des Bedeutungsbegriffs] darauf hinaus, daß Bedeutung unter dem Gesichtspunkt der Absicht, einen perlokutionären Akt zu voll‐ ziehen, definiert werden muss. Aber etwas zu sagen und es zu meinen, ist nicht not‐ wendig mit der Absicht verknüpft, einen perlokutionären Akt zu vollziehen; dagegen ist es untrennbar mit der Absicht verknüpft, einen illokutionären Akt zu vollziehen. (Searle 1973: 69-70) Als Beispiel für illokutionäre Akte, die keine perlokutionären Effekte zum Ziel haben, nennt Searle Begrüßungen wie „Hallo“, bei denen es nur darauf an‐ kommt, dass der Hörer weiß, dass er gegrüßt wird, d. h. das Verstehen der illo‐ kutionären Intention soll keine weiteren Folgen bewirken (cf. Searle 1973: 73). Die Frage, ob mit Grüßen dieser Art tatsächlich keine perlokutionären Effekte beabsichtigt werden und man nur höflich wirken will, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Festhalten möchte ich nur: Auch wenn Searle die Rolle der Perlokutionen im Vollziehen von Sprechakten marginalisiert, wird von ihm 35 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 6 Searles Hinweis darauf, dass es illokutionäre Verben gibt, die sich unter Bezug auf die beabsichtigten perlokutionären Effekte bestimmen lassen, wurde schon in einigen Ar‐ beiten empirisch geprüft. In Topczewska (2017) wird beispielsweise gezeigt, dass Perlokutionen als konstitutiv für aggressive Sprechakte berücksichtigt werden sollen. die Möglichkeit einer Reduktion des Illokutionären auf das Perlokutionäre er‐ wogen (cf. Searle 1973: 113) 6 . Beim Aufstellen seiner Sprechaktklassifikation kommt er allerdings zu dem Schluss, dass perlokutionäre Effekte nicht syste‐ matisch mit Illokutionen einhergehen und daher nicht in die konstitutive Regel eines Sprechakttyps aufgenommen werden können: For many, perhaps most, of the most important illocutionary acts, there is no essential perlocutionary intent associated by definition with the corresponding verb, e. g. state‐ ments and promises are not by definition attempts to produce perlocutionary effects in hearers. (Searle 1976: 3) Alston (2000) folgt Searle (1976) und Searle / Vanderveken (1985) darin, dass er als Ausgangspunkt für seine Behandlung von Expressiva das Vorhandensein entsprechender mentaler Zustände beim Sprecher annimmt. Alston zufolge gibt es keine objektiven Erfüllungsbedingungen für den gelungenen Vollzug eines expressiven Sprechakts, sondern es ist lediglich die Verpflichtung des Sprechers erforderlich, sich in einem bestimmten mentalen Zustand zu befinden. Es kann sich dabei um beliebige mentale Zustände handeln. Da sie aber auch in anderen obligationenerzeugenden Akten (Kommissiva und Direktiva) ausgedrückt werden, erübrigt sich aus Alstons Sicht die Searle’sche Annahme einer eigenen Klasse von Expressiva (cf. Alston 2000: 103-109). Finkbeiner (2019a: 352) spricht sich für die Beibehaltung der Expressiva als gesonderter Sprechaktklasse aus, findet aber die Searle’sche Definition expres‐ siver Sprechakte insofern problematisch, als die meisten Sprechakte, die Searle dieser Klasse zuordnet, „in bestimmten Situationen sozial hochgradig erwartet sind und deshalb zu Routinisierung neigen“. Sie findet selbst den Terminus „ex‐ pressiver Sprechakt“ irreführend für Danken, Gratulieren oder Kondolieren, wo das Ausdrücken individueller Emotionen „ein Stück weit gegenüber der Erfül‐ lung einer sozialen Konvention verloren[geht]“ (ebd.). Finkbeiner führt im An‐ schluss an Bach / Harnish (1979) aus, dass der illokutionäre Zweck dieser Sprech‐ akte in vielen Fällen nicht darin besteht, eigene Emotionen zum Ausdruck zu bringen, sondern darin, die soziale Erwartung zu erfüllen, dass diese Emotionen ausgedrückt werden. Ähnlich wie Austins Behabitiva sind Expressiva diejenigen Sprechakte, mit denen der Sprecher eine Einstellung ausdrückt, auch wenn er sie nicht unbedingt verspürt, sondern lediglich für angemessen hält (cf. Bach / Harnish 1979: 51). Sie sollen in bestimmten Situationen ausgedrückt 36 Urszula Topczewska werden, auch wenn man sie nicht hat, denn ihr Vorhandensein wird konventi‐ onellerweise vom Sprecher erwartet bzw. bei ihm vorausgesetzt (cf. Finkbeiner 2019: 131). Die Konvention allein scheint sicherzustellen, dass die gemeinte Il‐ lokution vom Adressaten auch im Falle einer unaufrichtigen, ironischen, ellip‐ tischen o. ä. Kommunikation verstanden wird. 3 Expressive Sprechakte im Spannungsfeld zwischen Intention und Konvention In der aktuellen Auseinandersetzung zwischen internalistischen, auf Intenti‐ onen basierenden Betrachtungen von Illokutionen und externalistischen, sich auf Konventionen bzw. wesentliche Regeln berufenden Ansätzen zur Interpre‐ tation dieser Sprechakte können im Anschluss an Sbisà (2013) drei grundsätz‐ liche Positionen identifiziert werden: Illocution may be viewed as the production of conventional effects, as the carrying out of a rule-governed activity, or as the expression of a communicative intention and therefore of a psychological attitude of the speaker. (Sbisà 2013: 63) Die erstere ergibt sich direkt aus dem Austinschen Verständnis von Sprechakten, die zweite lässt sich auf Searle zurückführen und die dritte auf Grice. Im Fol‐ genden wird Searles Ansatz eingehender diskutiert und als Grundlage für eine im Austinschen Sinne externalistische Interpretation expressiver Illokutionen genutzt. Searle hat mehrmals die Unterscheidung zwischen intentionalen und kon‐ ventionellen Aspekten eines Sprechakts und die Untersuchung ihrer wechsel‐ seitigen Beziehungen zum Ziel seiner Analyse illokutionärer Sprechakte erklärt. Dabei schreibt er Konventionen institutionalisierte bzw. sekundäre Intentionen zu, die auch unabhängig von primären, individuellen Intentionen Handlungen hervorbringen können. Der wichtigste Unterschied zwischen ihnen ist folgender: Soziale Konventionen können auch unbewusst angewendet werden, wie etwa Konventionen der deutschen Sprache in Searles (1969) Beispiel vom ame‐ rikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, der des Deutschen nicht mächtig ist, sich aber mit einem Goethe-Zitat als Deutscher zu erkennen geben will. Der nach sprachlichen Konventionen Handelnde muss auch nicht wissen, dass er regelgeleitet handelt oder wie sich die Regeln ausformulieren lassen (cf. Searle 1973: 67). Aber nur weil es Sprache gibt, können Sprechakte vollzogen werden; genauso wie eine Banknote nur ein Stück Papier wäre, wenn es nicht die Insti‐ tution des Geldes gäbe, die dem Papier einen konventionell festgelegten Wert verleiht. 37 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens Soziale Konventionen, die institutionelle Tatsachen konstituieren und in Form von „X gilt als Y im Kontext C“ erfasst werden, unterscheidet Searle von sozialen Regeln bzw. Regelmäßigkeiten, die nur aufgrund der Kenntnis von Präzedenzfällen wiederholbar sind (cf. Searle 1973: 67). Letztere kommen als regulative Regeln vor und lassen sich mit der Formel „Tue X“ bzw. „Wenn Y, tue X“ umschreiben (Searle 1973: 57). Sie dienen als Bewertungsgrundlage mensch‐ licher Handlungen (und sind somit für die Herausbildung sozialer Emotionen verantwortlich); diese Handlungen können allerdings auch ohne solche Regeln vorkommen, z. B. kann freundliches Verhalten auch ohne entsprechende An‐ standsregeln existieren (Searle 1973: 58). Sprechakte, die in einer Sprache vollzogen werden, behandelt Searle als in‐ stitutionelle Tatsachen, denn „es [ist] eine Sache der Konvention […], daß die Äußerung der und der Ausdrücke unter bestimmten Bedingungen als ein Ver‐ sprechen gilt“ (Searle 1973: 60). Als Beweis dafür, dass Sprechakte kein regel‐ mäßiges, sondern regelgeleitetes Handeln sind, benutzt Searle ein translatori‐ sches Argument: „Verschiedene menschliche Sprachen können in dem Maße, in dem sie ineinander übersetzbar sind, als verschiedene auf Konventionen beru‐ hende Realisierungen der gleichen zugrundeliegenden Regeln betrachtet werden“ (Searle 1973: 63-64). Dieses Argument stellt eine Konkretisierung des Prinzips der Ausdrückbarkeit dar, das besagt, dass alles, was man meinen kann, auch sprachlich ausdrückbar ist. Das genannte translatorische Argument wird in diesem Sinne von Searle (1973: 109) fortgesetzt: Auch wenn eine Sprache noch nicht erlaubt, alles zu sagen, was ihre Sprecher meinen, „bestehen keine grund‐ sätzlichen Hindernisse, um sie entsprechend zu bereichern“. Searle spielt auch mit dem Gedanken, dass illokutionäre Akte zwar mithilfe sprachlicher Konven‐ tionen ausgeführt werden, aber nicht von Regeln geleitet sind. In diesem Fall müsste man aber imstande sein, sie auf natürliche Tatsachen zurückzuführen und ihre Wirkung mit natürlichen (z. B. kausalen) Folgen zu erklären. Dies ist für soziale Normen wie Höflichkeitskonventionen möglich (z. B. um höflich einen Vorschlag abzulehnen, wird der Grund für die Ablehnung genannt, anstatt dass der Vorschlag direkt abgelehnt wird), nicht aber für einzelne Typen von Illokutionen (z. B. Ablehnung als direkter Sprechakt). Soziale Normen, die den sprachlichen Ausdruck von Emotionen steuern, werden von Searle zu den nicht institutionellen Tatsachen gerechnet. Kemmer‐ ling (2001) weist allerdings nach, dass illokutionäre Sprechakte auch dann er‐ folgreich vollzogen werden, wenn ein unbeabsichtigtes Sprecherverhalten kraft sozialer Regeln als entsprechender Sprechakt gilt. Diese Fälle deuten darauf hin, dass es soziale Konventionen gibt, die für die vollzogene Illokution verbindlicher als eine soziale Regelmäßigkeit sind, wenn sie selbst beim Fehlen der erforder‐ 38 Urszula Topczewska lichen Intention die den Umständen entsprechende illokutionäre Bedeutung von Äußerungen in Kraft setzen. Für den Vollzug von Expressiva bedeutet dies, dass sie nicht nur Höflichkeitsregeln involvieren, sondern sich auf Umgangsformen berufen, die die soziale Identität der Sprecher stiften. Der Sprecher gibt durch ihren Vollzug seine soziale Zugehörigkeit, etwa seine Gewohnheiten bzw. sozi‐ alen Rituale, zu erkennen. Sprechakte wie (5) oder (6) sind kontradiktorisch, weil Sich-Bedanken Anerkennung und Tschüß-Sagen Verabschiedung bedeutet, beide könnten nur dann vorkommen, wenn die sozialen Rituale außer Kraft gesetzt worden wären, z. B. „if the social ritual had been effectively disengaged from the spontaneous expressing“ (Alston 2000: 113). (5) I don’t feel my appreciation for the gift, but thank’s a lot (Alston 2000: 112). (6) Tschüß. Das war keine Verabschiedung, im Gegenteil (Finkbeiner 2019a: 355). Searle gibt zu, dass eine Emotion ausdrücken und eine emotionale Einstellung haben zwei verschiedene Sachverhalte sind, und auch der Gedanke, dass für den Vollzug expressiver Sprechakte die soziale Norm, was „gut“ und was „schlecht“ ist, eine Rolle spielt, wird von ihm ausdrücklich erwogen (cf. Searle 1976: 8). Er subsumiert aber diesbezügliche Bewertungen unter die gesamten psychischen Einstellungen und schreibt ihnen keine besondere Rolle in seiner Sprechakt‐ klassifikation zu. Sander (2003) hebt dagegen hervor, dass der Vollzug von Ex‐ pressiva jeweils ein konventionell geregeltes Urteil darüber enthält, was sozial angemessen ist und was nicht. Expressiva sollen sich dadurch auszeichnen, dass die mit ihnen ausgedrückten Emotionen stets durch evaluative Urteile des Spre‐ chers begleitet sind (Sander 2003: 25). Es ist gerade die Bewertung von emotio‐ nalen Zuständen, die im Hinblick auf ihre soziale Angemessenheit dazu führen kann, dass bestimmte Emotionen vom Sprecher gefordert werden, „was im Falle bloßer ‘feelings’ aufgrund ihres Widerfahrnischarakters offensichtlich sinnlos wäre“ (Sander 2003: 21). Aus diesem Grund hält Sander die kollektiv geteilte evaluative und nicht die individuell-affektive Komponente einer Einstellung für ausschlaggebend bei expressiven Sprechakten. Die letztere bildet lediglich eine phänomenale Begleiterscheinung und spielt keine wesentliche Rolle beim Aus‐ druck der jeweiligen Einstellung. 4 Konventionalisierte Emotionen: Der Fall der Dankbarkeit Dankbarkeit als Teil sozialer Relationen ist weitgehend eine kulturell geformte Emotion (cf. z. B. Sommers 1984). Sie wird in vielen Alltagssituationen zur so‐ zialen Pflicht, z. B. beim Empfang von Geschenken, bei einer Einladung oder als 39 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 7 Auch die Dankbarkeit für etwas, was der Adressat versprochen hat zu tun, bezieht sich in erster Linie auf ein Versprechen, das in der Vergangenheit liegt, und nicht auf das Tun, das in der Zukunft liegt. Zur Frage der zukunftsgerichteten Intentionen cf. Ans‐ combe (2000). Reaktion auf Komplimente. Undankbarkeit wird in solchen Situationen als Cha‐ rakterbzw. Erziehungsmangel sozial stigmatisiert (cf. Alston 200: 112). Inter‐ kulturelle Studien zeigen allerdings, dass die Dankbarkeit in informellen Ge‐ sprächssituationen viel häufiger implizit oder schweigend als verbal ausgedrückt wird. For speakers of Lao (Southeast Asia) or Siwu (western Africa), saying ‘thank you’ is so rare that it may be perceived as bizarre or out of place, whereas English speakers in foreign contexts sometimes find it rude when gratitude is left unspoken. Languages like Cha’palaa (South America) have no conventional way to say ‘thank you’ at all, and while some speakers know the Spanish word ‘gracias’, they are unable to translate it. (Floyd et. al. 2018: 8) Die Dankbarkeit als emotionale Einstellung zum Adressaten wird explizit im Sprechakt des Dankens ausgedrückt. Searle bringt dies in seinem Kommentar zu diesem Sprechakttyp folgendermaßen auf den Punkt: „Danken bedeutet nur, Dankbarkeit auszudrücken“ (Searle 1973: 103). Der illokutionäre Zweck dieses Sprechakts und somit seine wesentliche Regel wird von ihm vorher als „Aus‐ druck der Dankbarkeit oder Anerkennung“ (Searle 1973: 102) beschrieben. Searle bemerkt außerdem, dass sich die Aufrichtigkeitsregel beim Danken weit‐ gehend mit der wesentlichen Regel deckt: Aufrichtiges Danken kommt dann zustande, wenn der Sprecher gegenüber seinem Adressaten Dankbarkeit emp‐ findet. Aus der wesentlichen (konstitutiven) Regel des Dankens, dass Danken als Ausdruck der Dankbarkeit oder Anerkennung gilt, ergibt sich die Einleitungs‐ regel hierfür: „Wenn ich jemandem danke, impliziert das für mich, daß das, wofür ich mich bedanke, mir geholfen hat.“ (Searle 1973: 108). Die Dankbarkeit kann man außerdem nur für etwas Vergangenes empfinden 7 (Regel des propo‐ sitionalen Gehalts) und nur für etwas, was einem vorteilhaft bzw. nützlich ist und als solches erscheint (Einleitungsregel). Betreffs der Regel des propositionalen Gehalts hat sich in der sprechaktthe‐ oretischen Forschung bereits die Meinung durchgesetzt, dass der Sachverhalt, auf den man mit einer Danksagung Bezug nimmt, stets als gegeben vorausge‐ setzt und nicht erst mit dem Sprechakt behauptet wird (cf. Brandt et al. 1992: 55, Hanks 2018: 140, Finkbeiner 2019: 143-145). Selbst wenn in eine expressive Äußerung eine Proposition wie in (7) eingebettet ist, benennt sie nicht den Inhalt 40 Urszula Topczewska 8 Hervorhebung im Original. 9 Hervorhebung im Original. des Akts des Dankens, sondern den Anlass, zu dem die expressive Illokution vollzogen wird. Beim Fehlen des expliziten Nennens dieser Angabe in (8) und (9) wird die Sprechhandlung einer Danksagung nicht weniger korrekt als in (7) vollzogen, denn die Illokution wird allein durch das Verb danken bezeichnet. (7) He thanked her for opening the door (Hanks 2018: 140). (8) Oh, vielen Dank! (9) Vielen, vielen Dank! Sander (2003: 10) unterstreicht die Subjektivität der entsprechenden Überzeu‐ gung eines Sprechers, der kaum über die objektive Vorteilhaftigkeit des Dank‐ anlasses urteilen kann. Z. B. ist die Danksagung für ein geschenktes Motorrad auch dann berechtigt und geglückt, wenn der Sprecher „am nächsten Tag in einen Unfall verwickelt wird, der ihn für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl fesselt“ und „die Handlung des Schenkens von außen und retrospektiv“ (ebd.) kaum als Vorteil angesehen wird. Aus diesem Grund formuliert Sander die Sear‐ le’sche Einleitungsregel wie folgt um: Ein Sprecher ist der Überzeugung, dass eine Handlung des Hörers für ihn von Vorteil war (ebd.). Im Hinblick aber auf z. B. das misstrauische Danken scheint mir die subjektive Überzeugung des Sprechers als Einleitungsbedingung nicht auszureichen, sondern vielmehr die Searle’sche Formulierung „A benefits S and S believes A benefits S“ (Searle 1969: 67) zu gelten, die auch die Perspektive „von außen“ mit berücksichtigt, darunter etwa die Überzeugung des Hörers, dass er eine dem Sprecher vorteilhafte Hand‐ lung ausgeführt hat. Sander weist allerdings zurecht auf eine weitgehende Redundanz in der Sear‐ le’schen Definition des Akts des Dankens hin, insofern die in der wesentlichen Regel geforderte Dankbarkeit des Sprechers nicht nur bereits in der Aufrichtig‐ keitsregel gefordert wird, sondern sich begrifflich auch mit der Einleitungsbe‐ dingung weitgehend überlappt: „Gehört es nicht zu einem […] Begriff der Dank‐ barkeit, daß der Dankbare die ausgeführte Handlung als vorteilhaft betrachtet? “ 8 (Sander 2003: 11). Wie bereits in Abschnitt 3. bemerkt, spricht sich der Autor dafür aus, dass die Dankbarkeit sprechakttheoretisch nicht nur als „eine Art von Empfindung“ (ebd.) 9 behandelt wird, sondern als innerer Zustand, der zugleich eine evaluative Überzeugung des Sprechers beinhaltet, die wie‐ derum das Vorteilhafte als Formalobjekt hat. Für den geglückten Vollzug einer Danksagung ist es dementsprechend prin‐ zipiell unerheblich, ob der Sprecher beim Sagen einer Dankformel dankbar ge‐ stimmt ist. Solange der Sprechakt im gegebenen Kontext Höflichkeitserwar‐ 41 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens 10 Die Bedingung der Aufrichtigkeit ist an Assertionen orientiert, mit denen sich der Sprecher auf die Wahrheit des Gesagten verpflichtet, kann also bei nicht assertiven Akten kaum relevant sein. Eine Danksagung, ein Kompliment oder eine Kondolenz kann m. E. ebenso wenig vorgetäuscht werden wie eine Verabschiedung oder Begrü‐ ßung. tungen und andere soziale Normen erfüllt, wird er korrekt vollzogen. Dies wird auch von Searle zugegeben: In den Fällen, in denen durch die Aufrichtigkeitsbedingung ein psychischer Zustand bestimmt wird, gilt der Vollzug des Aktes als Zum-Ausdruck-Bringen jenes Zustandes. Dieses Gesetz gilt unabhängig davon, ob der Akt aufrichtig oder unaufrichtig voll‐ zogen wird, d. h. unabhängig davon, ob der betreffende psychische Zustand bei dem Sprecher wirklich besteht oder nicht. (Searle 1973: 107) Searle zufolge ist also ein Danke! auch dann ein gelungener expressiver Sprechakt, wenn die Aufrichtigkeitsbedingung nicht erfüllt wird, z. B. wenn der Sprecher keine Dankbarkeit empfindet, sondern nur das Bedürfnis verspürt, einer sozialen Konvention zu folgen oder ihr nachzugeben 10 . Wenn also in diesem Sinne unaufrichtige Danksagungsakte immer noch gelungene, obschon für manche Forscher defekte (cf. Kissine 2013: 184) Sprechakte sind, dann müsste ihr illokutionärer Zweck eigentlich nicht im Ausdruck der vorhandenen oder nicht vorhandenen Emotion liegen - wie es Austin und Searle wollen - sondern eher in der Erfüllung der sozialen Norm, diese Emotion in bestimmten Situati‐ onen ausdrücken zu sollen. Da der Emotionsausdruck durch Konvention zur sozialen Pflicht geworden ist, muss man in der Regel zu weiteren verbalen - z. B. mehrmaliger Wiederholung des Danke! oder zusätzlichen Exklamationen wie in (10) - (13) - bzw. nonverbalen, z. B. mimischen, gestischen, kinetischen Mitteln greifen, um die tatsächlich vorhandene Emotion der Dankbarkeit aus‐ zudrücken. (10) Das ist genau das, was ich gebraucht habe! (11) Das ist so eine Erleichterung für mich! (12) Das war so eine große Hilfe! (13) Das werde ich dir nie vergessen! Noch deutlicher wird die Rolle des Konventionellen beim Ausdrücken von Emo‐ tionen der Dankbarkeit im Falle von misstrauischem, missmutigem bzw. ironi‐ schem Dank. Was in diesen Sprechakten als eigentlich ausgedrückter innerer Zustand gelten kann, ist weniger Dankbarkeit als Misstrauen, Missmut, Unzu‐ friedenheit bzw. Verärgerung, also innere Zustände, die die Dankbarkeit ent‐ weder begleiten oder auch gänzlich verdrängen können, so dass die Äußerung im Extremfall nur eine Kritik am Adressaten statt Dankbarkeit ausdrückt. 42 Urszula Topczewska 11 Vom Standpunkt einer Grice’schen Pragmatik könnte man die mit der Dankformel ver‐ bundene default-Illokution als konventionelle Implikatur einordnen, die in (14) aber durch die konversationell gemeinte Ironie blockiert wird. Zur kontextbedingten Blo‐ ckierung konventioneller Implikaturen vgl. z. B. (Topczewska 2012: 145). Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Definition einer Danksagung könnte man sich mit guten Gründen fragen, ob insbesondere ein ironischer Dank - wie etwa die Danksagung in (14) als Reaktion auf eine Auskunftsver‐ weigerung - immer noch die illokutionäre Kraft des Dankens hat. (14) A: Wo finde ich die Garderobe? B: Hier jedenfalls nicht. A: Vielen Dank, dass Sie mir so freundlich Auskunft erteilt haben. Dem Äußern des Danks liegt hier ein Vermissen von adressatenseitiger Hilfs‐ bereitschaft, also nichts Vorteilhaftes für den Sprecher und keine Dankbarkeit seinerseits zugrunde. Die Dankformel ist zwar den Höflichkeitskonventionen gemäß gebraucht, kann aber nicht in ihrem konventionellen Sinne gemeint sein 11 . Der ausgedrückte psychische Zustand des Sprechers hat hier mit dem Danken als sog. sekundärer Illokution nur soweit zu tun, als die Äußerung in‐ direkt auf die mangelnde Bereitschaft des Sprechers zur emotionalen Einstellung der Dankbarkeit verweist. Die letztere müsste eventuell wie z. B. in (15) ausge‐ drückt werden. Das Danken in (14) kann also wütend, verärgert, tadelnd, miss‐ mutig, sich distanzierend, aber kaum noch dankend gemeint sein, so dass (16) unmöglich gesagt werden kann, denn in der Äußerung würde es sich um zwei kontradiktorische Evaluationen derselben Situation handeln wie in (5). (15) Danke trotzdem. (16) # Vielen Dank, dass Sie mir so freundlich Auskunft erteilt haben, ich danke Ihnen trotzdem. Die Rolle des Konventionellen bei einer ironischen Danksagung kann man wie folgt zusammenfassen: Auf der lokutionären Ebene werden sprachliche Kon‐ ventionen eingesetzt, während auf der illokutionären die konventionelle, kul‐ turell bedingte Bewertung einer Auskunftsverweigerung stattfindet. Die sekun‐ däre Illokution in (14) fällt mit der lokutionären Bedeutung des geäußerten Satzes zusammen, aber bedankt hat man sich mit dem Satz nicht einmal annä‐ hernd. 5 Fazit Searle (1969) verweist im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der pragmatischen Bestimmung des Bedeutungsbegriffs von Grice (1957) darauf, dass eine Analyse illokutionärer Sprechakte sowohl die von Grice hervorgeho‐ 43 Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens benen intentionalen als auch die von ihm heruntergespielten konventionellen Aspekte des Sprechens mit berücksichtigen muss. Die illokutionäre Kraft einer Äußerung bestimmt denjenigen Aspekt ihrer Bedeutung, der als sog. illokutio‐ näre Bedeutung auf soziale Konventionen zurückzuführen ist. Eine illokutionäre Bedeutung bezieht sich auf individuelle Einstellungen, insofern die letzteren eine Bedingung für aufrichtige Illokutionen darstellen. Die wesentliche Bedin‐ gung bezieht sich aber nicht auf die Einstellungen selbst, sondern auf ihren Ausdruck. Gerade im Falle von emotionalen Einstellungen wird ihr sprachlicher Aus‐ druck weitgehend von sprachlichen und anderen sozialen Konventionen gere‐ gelt. Auf solche Konventionen bezieht sich die kollektiv geteilte Bewertung einer vorgefundenen Situation, auf deren Grundlage sich emotionale Einstel‐ lungen herausbilden, die in expressiven Sprechakten ausgedrückt werden. Sprachlich ausgedrückt werden also in diesen Sprechakten nicht beliebig ent‐ standene, sondern durch die sozialen Regeln geförderte Emotionen. Sie sind vor allem evaluative Reaktionen auf Sachverhalte, deren affektive Komponente mit den jeweils individuellen Intensitätsgraden letztendlich nicht mehr als eine Va‐ riante des gewählten sozialen Handlungsmusters darstellt. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Anzahl expressiver Sprechakttypen durch die Anzahl konventionell ausdrückbarer Emotionen und nicht durch die Anzahl individu‐ eller Empfindungen bestimmt wird. 6 Bibliographie Anscombe, Elisabeth M., Intention, Cambridge Mass., London, Harvard University Press, 2000. Alston, William P., Illocutionary acts and sentence meaning, Ithaca, London, Cornell University Press, 2000. Austin, John L., How to do things with words, Oxford, Oxford University Press, 1962. Bach, Kent / Harnish, Robert M., Linguistic communication and speech acts, Cambridge, MIT Press, 1979. Bazzanella, Carla / Caffi, Claudia / Sbisà, Marina, „Scalar dimensions of illocutionary force“, in: Zagar, Igor Z. (ed.), Speech acts: Fiction or reality? , Ljubljana, IPRA, 1991, 63-76. Brandt, Margareta / Reis, Marga / Rosengren, Inger / Zimmermann, Ilse, „Satztyp, Satz‐ modus und Illokution“, in: Inger Rosengren (ed.), Satz und Illokution, Vol. 1, Tübingen, Niemeyer, 1992, 1-90. 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Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer (Université Bordeaux Montaigne & Aix-Marseille Université) Aux jeunes, je dis: regardez autour de vous, vous y trouverez les thèmes qui justifient votre indignation - le traitement fait aux immigrés, aux sans-papiers, aux Roms. Vous trouverez des situations concrètes qui vous amènent à donner cours à une action citoyenne forte. Cherchez et vous trouverez! 1 (Hessel 2010a: 16). Abstract „Hände waschen“, „Abstand halten“, „Maske tragen“ - in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie stehen diverse Forderungen zum Einhalten von Hygienevorschriften auf der Tagesordnung, auf Twitter liegen Hashtags mit Appellen an den Gemeinsinn wie #BleibtZuhause oder #SocialDistan‐ cingNow im Trend. Die sanitären Maßnahmen der Gesundheitsbehörden stoßen auf heftigen Widerstand mancher Bürgerinnen und Bürger, die mit Forderungen wie „Corona-Diktatur stoppen“ oder „Maske weg“ gegen Ein‐ schränkungen ihrer Grundrechte lautstark protestieren. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie spannungsreich Aufforderungen und emotionale Zu‐ stände in manchen Kommunikationssituationen verknüpft sind, etwa wenn die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Der Bei‐ 2 Alle in diesem Absatz angeführten Beispielsätze wurden im Dezember 2019 in Wien zusammengetragen. trag setzt sich zum Ziel, das Wechselspiel von Emotion und Aufforderung aus pragmatischer und didaktischer Perspektive näher zu beleuchten. Dabei werden nicht nur sprachliche Merkmale und Realisierungsmöglichkeiten von Aufforderungen jenseits der „klassischen“ Imperativsätze betrachtet, sondern es wird auch der Frage nachgegangen, wie dieser wichtige Sprechakt im Sinne einer „lebensweltbezogenen“ Auffassung von Grammatik zum motivierenden Lerngegenstand eines aufgabenorientierten Fremdsprachenunterrichts werden kann. Am Beispiel eines in der Praxis mit französischen Studierenden erprobten, kompetenzorientierten Unterrichtsmodells im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird das grammatische Thema „Aufforderung“ in eine aktuelle, landeskundlich fundierte DaF-Einheit eingebettet. Darin erar‐ beiten die Lernenden zunächst den kommunikativen Kontext rund um den gesellschaftlichen Corona-Diskurs anhand authentischer Materialien, bevor sie sprachliche Merkmale emotionaler (Auf-)Forderungen rezipieren, analy‐ sieren und aus ihrer Sicht selbst kreativ anwenden. Damit zeigt der Beitrag auf, wie ein Thema, das an lebensnahe Diskurse anknüpft, gerade für fortge‐ schrittene Deutschlernende in besonderem Maße weiterführendes inhaltli‐ ches und sprachliches Lernpotential bietet. 1 Einleitung In unserem täglichen Leben werden wir mit den unterschiedlichsten Aufforde‐ rungen konfrontiert, ohne dass es uns sonderlich auffällt oder gar stört. Kaum haben wir die Wohnung verlassen und wollen ins Freie, steht ein „Ziehen“-Auf‐ kleber an der Eingangstür. Die Straße ist mit Werbeplakaten gesäumt, die uns zum Kauf von Konsumgütern anregen: „Sei frei für Momente in Fake-Fur oder Fleece. Shoppe Weihnachts-Outfits, die du liebst“. In den öffentlichen Verkehrs‐ mitteln werden wir gebeten, uns vorschriftsgemäß zu verhalten: „Wollen Sie aussteigen? Bitte rechtzeitig Druckknopf betätigen“. In der Bibliothek einmal angekommen, können wir kaum einen Schritt machen, ohne von verbotenen Handlungen abgehalten zu werden: „Die Mitnahme von eingeschalteten Mo‐ biltelefonen in die Lesesäle ist untersagt. Die Mitnahme des Garderobenschlüs‐ sels außer Haus ist nicht erlaubt. Das Reservieren von Leseplätzen in den Lese‐ sälen ist nicht gestattet […]“ (Schild im Eingangsbereich der Österreichischen Nationalbibliothek) 2 . 48 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer Auch in der mündlichen Kommunikation sind Aufforderungen allgegen‐ wärtig, ob wir sie bewusst zur Kenntnis nehmen oder nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es in fast jeder zwischenmenschlichen Situation einen Anlass gibt, sein Gegenüber verbal dazu bringen zu wollen, etwas zu tun oder zu lassen. Ziel des Beitrags Dass wir es in unserer von Normen und Vorschriften durchdrungenen Gesell‐ schaft gewohnt sind, mit den verschiedensten mehr oder weniger ritualisierten Aufforderungen relativ emotionslos umzugehen, bedeutet noch lange nicht, dass Emotionen und Aufforderung nichts miteinander zu tun hätten. In diesem Beitrag setzen wir uns zum Ziel, das wechselseitige Verhältnis zwischen Emo‐ tionen und Aufforderung genauer zu beleuchten und einige Aufforderungsva‐ rianten im Zusammenhang mit dem emotionalen Zustand der Gesprächsbetei‐ ligten näher zu beleuchten: Werden in Aufforderungen Emotionen preisgegeben, bewusst eingesetzt bzw. intensiviert oder gar geweckt? Haben die unterschiedlichen Formen von Aufforderung mit dem emotionalen Zustand der sprechenden Person etwas zu tun? Welche Emotionen können wiederum bei der adressierten Person ausgelöst werden? Dabei sollen die Äußerungssituationen besondere Beachtung finden, in denen die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Wie werden diese Emotionen sprachlich umge‐ setzt? Gibt es hierfür bevorzugte sprachliche Merkmale? Im empirischen Teil wollen wir uns mit der didaktischen Umsetzung der zuvor dargestellten Überlegungen zum Wechselspiel von Emotion und Auffor‐ derung befassen. Ausgehend von einer Auswahl konkreter Kommunikationssi‐ tuationen sollen Studierende über die prototypischen Imperativsätze hinaus mit der Pragmatik der Aufforderung vertraut gemacht werden und dadurch nicht nur ihre kommunikative Kompetenz erweitern, sondern auch eine andere, ‚le‐ bensorientiertere‘ Auffassung von Grammatik entwickeln, in der Emotionen auch eine Rolle spielen. 2 Aufforderung und Emotion Für Dieter Wunderlich „[sind] Aufforderungen wohl mit als die elementarsten Sprechhandlungen anzusehen“ (Wunderlich 1984: 100), für die es stammesge‐ schichtliche Vorformen gibt (wie Drohgeste, Warnruf, Lockruf). Aus psycho‐ linguistischer Sicht kann Auffordern (engl. to request) „dadurch charakterisiert werden, dass in einer kommunikativen Situation seitens eines Sprechers der Versuch unternommen wird, einen (oder mehrere) Kommunikationspartner zu 49 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 3 https: / / grammis.ids-mannheim.de/ systematische-grammatik/ 1874 [letzter Zugriff für alle im Beitrag genannten Online-Quellen: 15. 02. 2021]. einer vom Sprecher intendierten Handlungsweise zu veranlassen“ (Graf / Schweizer 2003: 432 / siehe auch Herrmann 2003: 713). Nicht selten werden auch negative Aufforderungen formuliert, die die adressierte Person dazu bringen wollen, eine Handlung zu unterlassen oder bestimmte Zustände nicht zu akzeptieren (cf. Wunderlich 1984: 110-111). Der direktive Sprechakt „Auffordern“ fungiert also als Oberbegriff für eine breite Palette von Sprechhandlungen: „Die Benennung ‚Aufforderung‘ ist […] in einem weiten Sinne zu verstehen, der neben Befehl, Bitte, Anordnung, Wei‐ sung, Ersuchen und Auftrag z. B. auch Ratschlag, Vorschlag, Erlaubniserteilung, Verbot, Anweisung und Instruktion / Anleitung einschließt“ (grammis / letzte Änderung am 18. 09. 2018) 3 . Von der Emotion zur Sprache (und zurück) Aus psycholinguistischer Sicht definiert Monika Schwarz-Friesel Emotionen als „interne und damit absolut subjektive Eigenschaften des Menschen […], die nicht direkt, sondern nur über ihre Ausdrucksmanifestationen beobachtbar sind“ (Schwarz-Friesel 2007: 44). Dabei keimen Angst, Freude, Traurigkeit, Wut usw. nicht spontan in der Tiefe unserer Psyche auf, sondern entstehen in der Interaktion mit anderen Menschen. Emotionen sind also nicht nur Elemente unseres privaten Innenlebens, von unserer Umwelt scharf getrennt. Sie sind vielmehr innere Reaktionen auf Impulse von außen, die uns so aufwühlen können, dass sie wiederum Auslöser für nicht sprachliche bzw. sprachliche Handlungen werden, die sich auf unsere Mitmenschen beziehen. Fiehler be‐ zeichnet sie als „öffentliche Phänomene in sozialen Situationen interpersoneller Interaktion“ (1991: 11). Somit spielen Emotionen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der sprachlichen Kommunikation, auch wenn das emotionale Erleben nicht explizit zum Thema der Interaktion gemacht wird, sondern sich allein in der Form des Ausdrucks manifestiert (cf. Fiehler 1991: 12). Wenn wir uns zum Beispiel über private bzw. gesellschaftliche Missstände so sehr aufregen, dass Empörung in uns wächst, eine Emotion, „die sich an der Verletzung des Gerechtigkeitssinns entzündet […]“ (Millner / Oberreither / - Straub 2015: 7), müssen wir irgendwann dem angestauten Unmut Luft machen. Die Empörungsenergien vieler können sich zu einem kollektiven Aufruhr ver‐ dichten, bei der konstruktive wie auch destruktive Kräfte freigesetzt werden. Demonstrationen bieten eine Gelegenheit, individuelle Entrüstung bzw. kollek‐ tiven Aufruhr sprachlich zu verarbeiten. Zum Beispiel in der Form von Ausrufen 50 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 4 Zusammen mit „Rückführungspatenschaften“ zum Unwort des Jahres 2020 gekürt: htt p: / / www.unwortdesjahres.net/ fileadmin/ unwort/ Pressemitteilungen/ pressemitteilung _unwort2020.pdf 5 Getaggte Fassaden in Wien (Dezember 2019). 6 Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen - die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? […]. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hin‐ sehen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. „Ohne mich“ ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den „Ohne mich“-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhandengekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement (Hessel 2010b: 13). mit mehr oder minder beleidigendem Charakter: „Lügenpresse! “, „Corona-Dik‐ tatur! 4 “, die sowohl mündlich (evtl. durch Megafon verstärkt) als auch schriftlich (auf Transparenten) vermittelt werden. Unserer Empörung freien Lauf zu lassen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Revolte. Der zweite Schritt besteht darin, konkrete Ansprüche zu stellen, um die Sachlage zu verändern, die für unsere Empörung verantwortlich ist: „Rettet das Klima! “, „Kinder an die Macht! “. Insofern befindet sich der direktive Aufforde‐ rungsakt ein Stück weiter auf dem Weg zum Handeln als der expressive Sprechakt Exklamation. So bieten zum Beispiel Hausfassaden für militante Anarchisten willkommene Flächen, um ihren Unmut über die bestehenden Ver‐ hältnisse zu äußern und gleichzeitig ihre Forderungen zugunsten einer herr‐ schaftsfreien Gesellschaft bekannt zu geben: „Lebe wild! “, „Wählt das Leben, nicht die Urne! “, „Die Häuser denen die drin (sic) wohnen …“ 5 . Mit Sprache werden Gefühle und emotionale Einstellungen nicht nur ausge‐ drückt und benannt, sondern auch „geweckt, intensiviert sowie konstituiert“ (Schwarz-Friesel 2007: 361). Dass der Weg auch von der Sprache zur Emotion gehen kann, zeigt uns Stéphane Hessel mit seinem Pamphlet Indignez-vous! (Empört Euch! ) (Hessel 2010a / b), indem er seine Leserschaft dazu aufruft, emo‐ tional wach zu werden und sich dann für eine gute Sache zu engagieren: C’est vrai que les raisons de s’indigner peuvent paraître aujourd’hui moins nettes ou le monde trop complexe. Qui commande, qui décide? […] Mais dans ce monde, il y a des choses insupportables. Pour le voir, il faut bien regarder, bien chercher. Je dis aux jeunes: cherchez un peu, vous allez trouver. La pire des attitudes est l’indifférence, dire "je n’y peux rien, je me débrouille". En vous comportant ainsi, vous perdez l’un des composantes essentielles qui fait l’humain. Une des composantes indispensables: la faculté d’indignation et l’engagement qui en est la conséquence. 6 (Hessel 2010a: 14) 51 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht Wenn sich Empörung in Engagement verwandelt, werden auch (Auf-)Forde‐ rungen laut. Inwiefern die emotionale mit der sprachlichen Ebene zusammen‐ hängt, soll im Folgenden näher untersucht werden. Pragmatik der Aufforderung Als Oberbegriff für eine ganze Reihe von direktiven Sprechhandlungen (be‐ fehlen, bitten, vorschlagen, abraten …) lässt sich die Aufforderung relativ gut definieren. Schwieriger gestaltet sich die Aufgabe, wenn es darum geht, die Vielfalt ihrer sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten pragmatisch zu erklären. In der einschlägigen Literatur werden verschiedene Faktoren genannt, die bei der Wahl der Formulierung eine entscheidende Rolle spielen (cf. Weigand 1984; Wunderlich 1984; Herrmann 2003; Graf / Schweizer 2003). So sollte genau darauf geachtet werden, welches hierarchische Verhältnis zwischen den Kom‐ munikationsbeteiligten besteht, ob sie auf Kooperation oder Konkurrenz ein‐ gestellt sind, in wessen Interesse die intendierte Handlung ausgeführt werden soll, inwiefern die besagte Handlung einen dringenden, bindenden Charakter hat, ob die Aufforderung explizit an eine bestimmte Person adressiert ist oder sich an ein breiteres Publikum wendet usw. Werden die genannten Faktoren miteinander kombiniert, ergibt sich ein extrem komplexes Bild. Es kann zum Beispiel sein, dass Sprecherin X angesichts ihres Alters oder ihrer sozialen Stel‐ lung über eine höhere Position verfügt, die es ihr erlaubt, wenig Rücksicht auf Adressaten Y zu nehmen, und sich trotzdem für eine diplomatischere Vorge‐ hensweise entscheidet, ohne Imperativmodus. Direkte Aufforderungen können nämlich leicht „Reaktanz“, d. h. „aversive Reaktionen“ auslösen (cf. Herrmann 2003: 725) und sind keine Garantie für eine höhere Effizienz. Differenzierte sprachliche Mittel sind umso mehr angesagt, als die Aufforderung für beide Beteiligten ein Risiko bedeutet, schließlich setzen sie ihr „Gesicht“ aufs Spiel: Bei einer expliziten Aufforderung kann der Sprecher sein Gesicht verlieren, wenn der Adressat ihr nicht folgt; und der Adressat kann sein Gesicht verlieren, wenn er seine Handlungen nicht mehr selbst bestimmt. Daher folgen die Sprecher in der Wahl der Äußerung einer Strategie, die die Effektivität so groß wie möglich und den Gesichts‐ verlust so niedrig wie möglich macht. (Wunderlich 1984: 112) Laut Fandrych und Thurmair hat sich sogar das besondere Risiko, das mit diesem im zwischenmenschlichen Austausch unumgänglichen Sprechakt prinzipiell verbunden ist, auf die Sprachentwicklung ausgewirkt: Das große formale Spektrum für Aufforderungshandlungen ist vermutlich deshalb entstanden, weil eine Aufforderung, die ja vom Angesprochenen eine Handlung ver‐ langt, immer potenziell gesichtsbedrohend ist. Also haben sich sehr viele unterschied‐ 52 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 7 Basierend auf Martys Theorie (1908) definieren Caffi / Janney „emotive communication“ folgendermaßen: „the intentional, strategic signalling of affective information in speech and writing […] in order to influence partners’ interpretations of situations and reach different goals. Marty contrasted the notion of ‘emotive communication’ to the notion of ‘emotional communication’, which he regarded as a type of spontaneous, uninten‐ tional leakage or bursting out of emotion in speech […]” (Caffi / Janney 1991: 328). lich direkte (und unterschiedlich höfliche) Formen herausgebildet. Welche Form im konkreten Fall adäquat ist, hängt vom Kontext, den an der Kommunikation Beteiligten und insbesondere von der Textsorte ab. (Fandrych / Thurmair 2018: 276) Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Pragmatik der Aufforderung ins Interesse der Forschung gerückt und in ihrem Facettenreichtum untersucht worden. Dennoch ist die emotionale Komponente bis jetzt kaum explizit herangezogen worden, wenn auch die immer wiederkehrende Frage des Höflichkeitsgrads der Auffor‐ derung ein Zeichen dafür ist, dass Empfindungen hier eine besondere Rolle spielen. Dass eine sprachliche Handlung, die so tief im menschlichen Zusam‐ menleben verankert ist, nicht nur distanziert und emotionslos realisiert werden kann, scheint in der Tat naheliegend. Dabei kann es sich um den nicht intenti‐ onalen Ausbruch eines realen Affekts handeln (emotional communication), oder aber um das intentionale, strategische Signalisieren einer wahren bzw. ge‐ spielten Empfindung (emotive communication) 7 . 3 Einblick in einige Aufforderungsvarianten In den Publikationen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Thema aus‐ einandergesetzt haben, herrscht Konsens über die grammatische Heterogenität der Aufforderungssätze. Was die aufforderungsgeeigneten Sätze betrifft, sind sie „kaum exhaustiv angebbar. Deshalb sollte auch nicht versucht werden, solche Sätze zusammenhängend darzustellen“ (Wunderlich 1984: 113). Diese Ansicht findet ihre Bestätigung in einer etwa zum gleichen Zeitpunkt erschienen Studie von Edda Weigand, in der sie über 100 Varianten zusammenträgt, um jemanden aufzufordern, den Rasen zu mähen. Angesichts der Menge von möglichen Va‐ rianten kommt Weigand zu dem Schluss, dass sich die Einheit des Sprechakts nicht grammatisch definieren lässt: „Die Vielfalt der Äußerungsmöglichkeiten macht deutlich, dass sich kein sprachlicher Nenner finden lässt, der diese Äu‐ ßerungsmenge intensional definieren könnte“ (Weigand 1984: 83). Für das Erlernen der deutschen Sprache bildet diese Vielfalt eine Herausfor‐ derung, denn die Lernenden müssen zunächst erkennen, dass es sich bei Sätzen ohne Imperativmodus überhaupt um Aufforderungen handelt, dann sollten sich Fortgeschrittene unter ihnen mit diesem Formenreichtum besser vertraut ma‐ 53 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 8 Zur pragmatischen Leistung der Modalpartikeln in Aufforderungssätzen siehe z. B. Fandrych / Thurmair (2018: 173 / im Original unterstrichen): „Mach mal/ ruhig/ doch/ bloß/ ja/ eben/ halt / schon die Tür zu! “ 9 Pragmatische Erklärung für den Gebrauch eines Aussagesatzes im Futur mit Auffor‐ derungsintention: eine futurische Äußerung von einer übergeordneten zu einer unter‐ geordneten Person erscheint nicht als Vorhersage, sondern als Aufforderung (cf. Liedtke 1998: 34). 10 Zur formalen Beschreibung dieser (im Französischen nicht belegten) Konstruktion, ihrer historischen Entstehung und ihrer Anwendung im Kontext siehe Donhauser (1984). 11 „Verbletzt-Aufforderungssätze werden eher im vertrauten Gespräch verwendet. Der Sprecher gibt sich - manchmal ironisch - autoritär“. (grammis / letzte Änderungen 15. 09. 2003): https: / / grammis.ids-mannheim.de/ systematische-grammatik/ 1952 chen. So kommen wir nicht umhin - Wunderlichs Warnung zum Trotz - uns der Schwierigkeit zu stellen und zumindest einen Teil der aufforderungskom‐ patiblen Sätze hier zusammenzutragen. Tabellarische Übersicht der Hauptvarianten Imperativsatz 8 Fang an! Fangen wir an! Fangt an! Fangen Sie an! Verbzweitsatz im Indikativ Präsens Du gehst jetzt ins Bett! Verbzweitsatz im Indikativ Präsens mit Modalverb Du sollst nicht töten. Verbzweitsatz im Indikativ Futur 9 Du wirst erst mal schön ruhig sein! Verbzweitsatz mit Konjunktiv 1 Man nehme zwei Eier, etwas Sahne […]. Subjektloser Passivsatz Jetzt wird geschlafen! Interrogativsatz (+/ - Modalverb; +/ - Konj. 2) Kannst du mir bitte das Salz reichen? Infinitivsatz Einsteigen bitte! Nicht hinauslehnen! Infinitivsatz (mit zu + haben / sein) Du hast zu gehorchen! Selbständiges Partizip 2 10 Aufgepasst! Stillgestanden! Hierge‐ blieben! Selbständiger dass-Satz im Indikativ 11 Dass du mir nicht wegläufst! Verbloser Satz Tür zu! Hände hoch! Auf die Plätze, fertig, los! 54 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 12 Hier im Stil der französischen Gelbwesten am Körper getragene Forderung: https: / / im g.zeit.de/ kultur/ 2021-01/ unwort-des-jahres-corona-diktatur-und-rueckfuehrungspate nschaften-bild/ wide__820x461__ 13 https: / / www.rbb-online.de/ content/ dam/ rbb/ rbb/ fernsehen/ kontraste/ 2020/ maske-we g-imago0102811776h.jpg.jpg/ size=966x543.jpg 14 https: / / www1.wdr.de/ urteil-wegen-volksverhetzung100~_v-gseapremiumxl.jpg Wie umfangreich die Palette der eingeführten Varianten sein soll, hängt vom Sprachniveau der Betroffenen ab und bleibt dem Ermessen der Lehrperson überlassen (siehe als mögliche Umsetzung Punkt (3) des Unterrichtsvorschlags im didaktischen Teil dieses Beitrags). Aufforderungsvarianten werden gewöhnlich als „Ersatzformen“ des Impera‐ tivsatzes bezeichnet, ein Terminus, der dem Phänomen nicht ganz gerecht wird: „Aufforderungssätze dürfen nicht mit dem Sonderfall Imperativsatz gleichge‐ setzt werden. Aufforderungen können syntaktisch ganz unterschiedlich reali‐ siert werden, Imperativsätze sind nur eine von vielen Möglichkeiten“ (Duden 4 2016: 904). Da die meisten Grammatiken aber semasiologisch (von der Form zum Inhalt) aufgebaut sind, führt die Formenvielfalt zu einer zersplitterten Darstel‐ lung dieses sprachlichen Phänomens. Der pragmatische Reichtum der Auffor‐ derung, und damit auch die emotionale Komponente, wird jedoch erst wahrge‐ nommen, wenn mehrere Ausdrucksweisen zur Auswahl stehen, andernfalls bleibt diese Dimension weitgehend unberücksichtigt. Die seltenen onomasio‐ logischen Grammatiken, die von den Redeabsichten bzw. von den sprachlichen Inhalten zu den sprachlichen Mitteln ausgehen, widmen der Aufforderung auch viel mehr Aufmerksamkeit. Die Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremd‐ sprache verfügt über ein eigenes Kapitel „Aufforderungen“ (Engel / Tertel 1993: 64-74). Die Grammatik in Feldern, in zehn Kapitel („Felder“) unterteilt, widmet der Aufforderung ein ganzes Feld (Buscha et al. 1998: 239-294). Im Rahmen einer aufgabenorientierten Fremdsprachendidaktik bieten solche Grammatiken wert‐ volles Material für den Aufbau einer Unterrichtseinheit (siehe Teil 4 dieses Bei‐ trags „Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung“). Im Folgenden wollen wir uns auf zwei Varianten mit sehr unterschiedlichen syntaktischen Merkmalen konzentrieren und ihr Verhältnis zur Emotion näher beleuchten: zum einen die Infinitivformen, in denen das (ungebeugte) Verb im Vordergrund steht, zum anderen die „Reduktionsformen“, bei denen gar kein Verb vorkommt. Beide Satzformen sind auf Transparenten (Spruchbändern auf Demonstrationen) sehr beliebt: „C O R O NA -D IK TAT U R S T O P P E N “ 12 . „Maske weg“ 13 . „Freiheit Grundrechte“ 14 . 55 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 15 „Stop à la dictature sanitaire“ lautet die entsprechende Forderung bei Protestaktionen in Frankreich: https: / / resize.marianne.net/ r/ 770,462/ img/ var/ LQ3249426C/ 406770/ revo ltesmarianne.jpg 16 https: / / www.stura.uni-heidelberg.de/ 2021/ 01/ 31/ corona-sondersitzung-die-forderung en-der-studierendenschaft/ Aufforderungen im Infinitiv Diese Formen haben im Deutschen eine besonders breite Palette von möglichen Anwendungen - von dem emotionslosen Vorschriftendeutsch bis zum emoti‐ onsgeladenen „Alarm-Infinitiv“. Aufforderungen im Infinitiv richten sich formal nicht an eine spezifische Person oder Gruppe und haben damit den Vorteil, dass sie sich grundsätzlich an alle wenden, die mit ihnen, sei es mündlich oder schriftlich, in Berührung kommen. Deshalb sind sie insbesondere in schriftli‐ chen Kontexten mit längerer Gültigkeitsdauer besonders geeignet, um Vor‐ schriften bzw. Anweisungen zum Ausdruck zu bringen: „Aufzug im Brandfall nicht benutzen“. „Bitte Ladefläche freihalten“. Im Deutschen sind solche Konstruktionen aber auch in der mündlichen Kom‐ munikation üblich, unter anderem, wenn es darum geht, jemanden vor einer akuten Gefahr zu warnen: Der Ausruf „Nicht essen! “ kann z. B. erfolgen, „wenn man an der Unterseite des Löffels beim Nachbarn am Tisch eine Wespe bemerkt“ (Albertsen 1970: 116). Der Auslöser der Aufforderung ist hier eindeutig die Angst vor dem lebensgefährlichen Stich im Mund oder Rachen. Im Gegensatz zum emotionslosen „Vorschriften-Infinitiv“, steht der „Alarm-Infinitiv“ ziemlich hoch auf der Emotionsskala. Bemerkenswerterweise ist diese Aufforderungs‐ variante im Französischen zwar im Schriftlichen bei Vorschriften auch üblich, aber nicht im Mündlichen und nicht bei konkreten, mehr oder weniger „akuten“ Situationen. So wäre z. B. die von den selbsternannten „Querdenkern“ geäußerte Forderung „Corona-Diktatur stoppen“ ins Französische nicht mit einer Infini‐ tivform übersetzbar. Mögliche Äquivalente wären etwa: Stop / Non à la dictature du Coronavirus  15 . Verblose Aufforderungen Obwohl sie eine Handlung intendieren, brauchen Aufforderungen nicht unbe‐ dingt ein Verb, um als solche gedeutet zu werden. Sie können z. B. auf eine No‐ minalgruppe reduziert werden (mit oder ohne das Wort „bitte“ als Höflichkeits‐ marker und Zeichen der Aufforderungsintention): „Einbau von Luftfiltern! “, „Flexible Prüfungsmodalitäten! “, „Pauschalverlängerung bei Prüfungsfristen! “ lauten z. B. Forderungen der Studierendenschaft der Universität Heidelberg vor dem Hintergrund der Corona-Krise. 16 Diese kurz gefassten Aufforderungen re‐ flektieren die große Unzufriedenheit der Studierenden in Anbetracht ihrer pre‐ 56 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 17 „Österreich“ Werbung aus dem Jahr 1997: https: / / brand-history.com/ osterreich-werbun g-wien/ osterreich-werbung-wien/ osterreich-werbung-wien-alltag-raus-osterreich-rei n-sujet-almweide kären Lage und sind ein dringender Appell an die Universitätsleitung - die sich vielleicht einen milderen Ton gewünscht hätte. Reduzierte Aufforderungen dieser Art können, je nachdem ob sie ritualisiert sind oder nicht, „als adäquat und nicht unhöflich angesehen werden (z. B. ‚Salat! ‘ bei der Essensausgabe in der Mensa) - während dieselbe Konstruktion in einer weniger schematisierten Situation als unhöflich gelten würde“ (Graf / Schweizer 2003: 435). Der Umgang mit solchen Konstruktionen erfordert also ein gewisses Sprachgefühl und sollte von Nichtmuttersprachlern entsprechend geübt werden. Bei verblosen Aufforderungen ist auch das Muster „Verbpartikel + Präpositi‐ onalgruppe“ besonders gut vertreten: „Ab ins Bett! “, „Raus aus dem Alltag! “, „Her mit dem Geld! “. Das Muster „Nominalgruppe + Verbpartikel“ scheint auch ziemlich produktiv zu sein: „Geld her! , Ausländer raus! “, „Bauch weg! “ (Bertrand 2019: 42). Diese knappen Wendungen sind für erfahrene Sprachbenutzerinnen und -benutzer leicht verständlich, da die Verbpartikeln einen wichtigen Hinweis auf die intendierte Handlung geben, sie lassen sich leicht einprägen und sind in vielen Kontexten aufzufinden, unter anderem in der Werbesprache: „Alltag raus, Österreich rein! “ 17 . Die Dynamik und die Knappheit der Formulierung lassen keinen Platz für Zweifel, der zur Schau gestellte Enthusiasmus soll geradezu ansteckend wirken. Ob diese etwas reißerische Art, das Publikum anzuwerben, immer von Erfolg gekrönt ist, sei allerdings dahingestellt. Im Rahmen des DaF-Unterrichts können diese reduzierten Formen allerdings Schwierigkeiten bereiten, insbesondere bei der Produktion, da sie eine sichere Kenntnis von trennbaren Verben und Verbpartikeln voraussetzen. Im franko‐ phonen Kontext stellt sich außerdem die Frage der französischen Äquivalente für solche Sätze. Da das Französische im Unterschied zum Deutschen keine trennbaren Verbpartikeln besitzt, und erst recht keine, die auch ohne Verb auf‐ treten könnten, gibt es für diese Wendungen keine direkte Entsprechung. Bei der Übersetzung ins Französische muss also eine Lösung von Fall zu Fall ge‐ funden werden: „Hände weg! “ / „Bas les pattes! “; „Her mit dem Geld! “ / „Par ici la monnaie“, „Ab ins Bett“ / „Au lit! “ (cf. Bertrand 2019: 51). Bei der Übersetzung ins Deutsche treten andere Schwierigkeiten auf: Mit dem Ausruf „La porte! “ kann nämlich sowohl „Tür auf! “ als auch „Tür zu! “ gemeint sein. Hier muss der Kontext herangezogen werden, um die Bedeutung zu klären. Fest steht, dass mit dem Gebrauch dieser Wendung eine gewisse Gereiztheit mitschwingt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die verblosen Aufforderungsva‐ rianten in ihrer Knappheit besonders gut geeignet sind, um starke Emotionen 57 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht auszudrücken, die aus dem Sprechenden herauszubrechen scheinen. Ob dieser Emotionsausbruch spontan oder intentional geschieht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Dabei können sich sowohl positive Emotionen wie Enthusiasmus, Begeisterung, Tatendrang als auch negative Emotionen wie Gereiztheit, Ärger, Wut manifestieren und die Intensität des direktiven Sprechakts verstärken. 4 Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung Wie wir aus pragmatischer Perspektive gesehen haben, sind Aufforderungen mehr als nur Imperativsätze und haben zahlreiche Realisierungsmöglichkeiten, wobei die Wahl der Formulierung zum Teil auf den emotionalen Zustand der Kommunikationsbeteiligten zurückzuführen ist. In ihrer Formvielfalt sind sie in der alltäglichen Kommunikation allgegenwärtig und in vielen Textsorten ver‐ treten. Wie können die Lernenden das erkennen? Welche authentischen Mate‐ rialien sind zu Unterrichtszwecken relevant? Wie kann dieser wichtige Sprechakt im Rahmen eines aufgabenorientierten Unterrichts behandelt werden? Das Grammatikthema „Aufforderung“ wird im folgenden Unterrichtsvor‐ schlag im kommunikativen Zusammenhang erarbeitet und gemäß einem reali‐ tätsbezogenen, handlungsorientierten Unterricht anhand authentischer Mate‐ rialien in den Blick genommen. Im Sinne eines aufgabenorientierten Fremdsprachenunterrichts sollen neben der Inhaltsdimension die Bedeutung und Funktion der Sprache im Zentrum stehen und die Lernenden als Sprach‐ anwender und potenzielle Diskursteilnehmer gesehen werden. Aufgrund ihres Weltwissens, ihrer bisherigen Sprach- und Lebenserfahrungen verfügen viele Lerner über die Fähigkeit, hintergründige Sprech- und Redeabsichten zu ent‐ schlüsseln, und diese Fähigkeit sollte in einem modernen, auf Kommunikation angelegten Fremdsprachenunterricht genutzt und weiterentwickelt werden: Denn Kompetenz in einer (Fremd-)Sprache heißt nicht nur, das Gesagte zu ver‐ stehen, sondern auch, das Gemeinte zu erkennen und darauf entsprechend zu reagieren (cf. Nieweler 2006: 167-168). Dabei gilt zu bedenken, dass nicht nur Kalkül, sondern auch (nicht rationale, weniger bewusste, spontane usw.) Emo‐ tionen in der Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen. Schließlich ist für Emotionen ihr „gefühlter“ Kern charakteristisch - Emotionen spürt man, sie sind keine reinen Gedankeninhalte, es braucht affektives Erleben (cf. Frenzel / Stephens 2017: 20). Hierfür sollten die Lernenden sensibilisiert werden, 58 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 18 Aus der Forschung der Didaktik und Neurowissenschaften ergeben sich zusätzliche Hinweise auf die Bedeutung der unterschiedlichen Emotionen für Lernprozesse. Zwar sind noch nicht alle Nuancen der komplexen Emotionen, zu denen Menschen fähig sind, im Detail erschlossen, doch lassen sich die (durchaus interessanten) neurobiologischen Grundlagen der Emotionen im Gehirn nachvollziehen (cf. Arndt / Sambanis 2017: 125-127). 19 Zum Sprechakt Aufforderungen im Französischunterricht cf. Nieweler 2006: 167-173. 20 Siehe z. B. für den Französischunterricht Krämer / Küster 2016: v. a. 99-118; Husemann 2013: 18 sq., Fäcke 2010: 157; für den DaF-Unterricht Huneke / Steinig 2010: 182-186, Storch 2008: 15-20. etwa, indem sie ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf bestimmte Äuße‐ rungen formulieren (siehe hierzu auch Punkt (2) im Unterrichtsvorschlag). 18 Die Tatsache, dass es keine Eins-zu-eins-Zuordnung von Sprechabsichten zu korrespondierenden Redemitteln gibt, stellt eine potenzielle Schwierigkeit dar, sodass im Unterricht thematisiert werden sollte, dass ein Sprechakt wie die Aufforderung mit mehreren Redemitteln (in unterschiedlicher grammatikali‐ scher Form, z. B. als Aussage, Frage, Imperativ, Infinitiv) wiedergegeben werden kann. Die Lernenden werden so dafür sensibilisiert, dass die Wahl der Redemittel von den Begleitumständen der Äußerung (Kommunikationssituation, spre‐ chende Person, Ort, Zeit, Medium) abhängig ist. 19 Mit Blick auf die Lernermo‐ tivation sind dabei von Anfang an Zweck und kommunikativer Nutzen der grammatischen Strukturen transparent zu machen - schließlich sollen diese nicht um ihrer selbst willen erlernt werden, sondern einem besseren Verständnis von Diskursen in der Fremdsprache und der Befähigung zu eigenen intentio‐ nalen Sprechhandlungen dienen. Spracharbeit im aufgabenorientierten Fremdsprachenunterricht In der Fremdsprachendidaktik herrscht heute fachübergreifend Konsens, dass im Zeitalter der Kompetenzorientierung grammatikintegrierende Konzepte ge‐ fragt sind, die ein kommunikationsorientiertes, funktionales und anwendungs‐ bezogenes, ganzheitliches Lernen fokussieren. 20 Der Lehrperson kommt bei der Konzeption entsprechender Einheiten die Aufgabe zu, einen Schwerpunkt auf die für Lernende interessanten Themen und Kommunikationszusammenhänge mit lebensweltlichem Bezug zu legen, denen Redemittel und Grammatikphäno‐ mene zugeordnet werden. Hieran besonders anschlussfähig ist das ‚task based language learning‘-Kon‐ zept, das v. a. darauf abzielt, den konkreten und persönlichen Lebensbezug beim Fremdsprachenlernen durch authentische Aufgaben herzustellen, bei denen Lernende als sie selbst agieren. Obschon kein detaillierter Konsens über die Lernaufgabe besteht, gibt es etliche Übereinstimmungen hinsichtlich ihrer Cha‐ 59 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 21 „Task structuring involves arranging tasks so that the essential aspects are clearly dis‐ tinguished from the nonessential, and that they are cognitively and communicatively accessible and challenging to the learners. Tasks that are too easy can lead to frustration, lack of motivation, and disinterest in much the same way as tasks that are too broad or too difficult“ (Hall 2001: 87). rakteristika, die hier zusammenfassend genannt werden sollen: lebensweltlicher Bezug, Handlungsorientierung, Komplexität, Outcomeorientierung, Transpa‐ renz, Inhaltsorientierung (bei gleichzeitiger Berücksichtigung formaler Aspekte der Sprache), Problemorientierung, Lernerorientierung und Offenheit (cf. Fäcke 2010: 82). Damit unterscheidet sich dieses Aufgabenverständnis deutlich von herkömmlichen Übungsaufgaben (z. B. Einsetzübungen von Verben) im Fremd‐ sprachenunterricht. Authentische Lernaufgaben so zu strukturieren, dass sie adäquat fordern, ist besonders anspruchsvoll, wenn die außerunterrichtliche Realität in ihrer inhaltlichen Komplexität von den Lernern erfasst wird, aber nicht ohne Arbeitseinsatz bzw. unterstützende Unterrichtsarrangements in der Fremdsprache bearbeitet werden kann (Scaffolding). 21 Lehrende müssen also für ihre Lerngruppen zielführende Phasen der Einübung grammatischer Strukturen mitdenken, da sie wichtig sind, um sprachliche Merkmale zu üben und zu re‐ flektieren, aber jede Einübung sollte zu einer Anwendung, d. h. zu einer mög‐ lichst freien Aufgabe hinführen (cf. Brinitzer et al. 2016: 112). Bei der Konzeption grammatikintegrierender Lernarrangements im aufgaben- und kommunikati‐ onsorientierten Fremdsprachenunterricht können die in Teil 3 erwähnten ono‐ masiologischen Grammatiken eine gute Hilfe für die Unterrichtsvorbereitung sein (cf. Engel / Tertel 1993: 64-74, Buscha et al. 1998: 239-294). 5 Emotionen, (Auf-)Forderungen und Studierende in der Corona-Krise Emotionen und Aufforderungen begegnen Lernenden häufig in ihrem analogen Alltag wie auch in der digitalen Welt, in der sie sich heute selbstverständlich bewegen. In akuten Krisenzeiten wie der globalen Corona-Pandemie erfahren sie diese verstärkt auf einer neuen und persönlich bedeutsamen Ebene. Unser aller Leben wird seit Beginn der Pandemie von medial vermittelten Diskursen verschiedenster (politischer, gesellschaftlicher …) Institutionen und Akteure ge‐ prägt und es gilt z. B. diversen Forderungen zum Einhalten von Hygienevor‐ schriften Folge zu leisten („Hände waschen“, „Abstand halten“, „Maske tragen“ etc.). Gleichzeitig verbinden sich Aufforderungen, Sozialkontakte zu vermeiden, mit Appellen an den Gemeinsinn; auf Twitter lagen die Hashtags #BleibtZuhause und #SocialDistancingNow im Trend (cf. Pahl 2020: 27). Daneben brechen sich 60 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 22 Über die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wird zwar öffentlichkeitswirksam in deutschen Nachrichten berichtet, diese spiegeln aber nicht die mehrheitliche Meinung der Deutschen wider, die den Regeln zur Eindämmung der Pandemie grundsätzlich zustimmen. Für einen Überblick über (teils fragwürdige) Gruppierungen gegen die Co‐ rona-Politik cf. https: / / www.deutschlandfunk.de/ corona-demonstrationen-wer-marsc hiert-da-zusammen.2897.de.html? dram: article_id=483465 23 Cf. https: / / www.forschung-und-lehre.de/ lehre/ studierende-gehen-fuer-praesenzlehre -auf-die-strasse-3419/ andere Emotionen und Forderungen in Form von Corona-Protesten Bahn, bei denen Menschen ihre Empörung darüber zum Ausdruck bringen wollen, dass die demokratischen Verfahren aus ihrer Perspektive keinen Ort für kritische Stimmen haben. 22 Neben anderen Gesellschaftsgruppen sind es nicht zuletzt Lernende und Stu‐ dierende selbst, die in der Corona-Krise ihre Stimme erheben und z. B. ihre For‐ derungen für Bildungsgerechtigkeit und angemessene Lernbedingungen arti‐ kulieren. Anfang 2021 gingen in Frankreich zahlreiche Studierende auf die Straße, um die Lehrbedingungen unter Corona anzuprangern und um für eine Gleichbehandlung von Schulen und Hochschulen zu demonstrieren. Sie klagten über psychische und finanzielle Probleme und forderten u. a. die Wiederauf‐ nahme des Präsenzunterrichts an Universitäten. 23 Auch in deutschen Universi‐ tätsstädten gab es Demonstrationen für Hilfen von der Politik. Die immer wieder in der Gesellschaft, aber auch in einzelnen Kursen kundgetane Aussage von Studierenden, dass ihre Lage in der aktuellen Corona-Pandemie nicht ausrei‐ chend wahrgenommen werde, bildet den Ausgangspunkt für die nachfolgend skizzierten Lernaufgaben. Sie stellen Ideen vor, um ein zentrales und reales Be‐ dürfnis aus der Lebenswelt der Lernenden, nämlich gehört zu werden und For‐ derungen zu artikulieren, in den Unterricht hineinzutragen und darauf auf‐ bauend landeskundliches und interkulturelles Lernen rund um den aktuellen Corona-Diskurs mit grammatischem Lernen zu verbinden. Forderungen im Diskurs: Ein kompetenzorientierter Unterrichtsvorschlag Diesem Lernarrangement für Fortgeschrittene liegt eine Aufgabenprogression zugrunde, bei der die Lernenden sich zunächst mit dem inhaltlich-situativen und sprachlich-kommunikativen Kontext rund um den Corona-Diskurs vertraut machen, bevor sie sprachliche Merkmale emotionaler (Auf-)Forderungen rezi‐ pieren, analysieren und schließlich selbst kreativ anwenden. Die nachfolgend skizzierte Unterrichtssequenz wurde für Deutschlernende an der Universität entworfen und in allgemeinsprachlichen Kursen mit vor‐ 61 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 24 Erprobt wurde die Einheit in mehreren Lerngruppen mit Studierenden an der Université Bordeaux Montaigne. Die entsprechenden Kurse („Thématiques d’actualité“, „Langue spécialisée“, Allemand C1“) richten sich an fortgeschrittene Deutschlernende (3. Ba‐ chelorstudienjahr, Master) mit einem B2-/ C1-Sprachniveau gemäß GER. 25 https: / / www.dw.com/ de/ gleich-zwei-begriffe-zum-unwort-des-jahres-2020-gek%C3% BCrt/ a-56200161 26 Die Erklärung des Slogans „Corona-Diktatur“ ist eine anspruchsvolle sprachkritische Reflexionsaufgabe für Lerner, da sie die ihm zweifach inhärente Kritik (zum einen die der Protestierenden an den Corona-Einschränkungen, zum anderen die der Jury an der irreführenden Verwendung des Diktatur-Begriffs) erkennen müssen. 27 Im Internet finden sich hierfür diverse Beispiele (Lese-/ Hörtexte, Videos, …), siehe z. B. https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ philipp-ruch-vom-zps-ueber-die-anti-corona -demo-solange-sie.1008.de.html? dram: article_id=483235 rangig inhaltlichem bzw. landeskundlichem Schwerpunkt durchgeführt. 24 Ger‐ manistikstudierende belegen daneben oft auch explizit sprachbezogene Gram‐ matikkurse. Ihre Situation unterscheidet sich also vom insgesamt eher integrativ ausgerichteten DaF-Unterricht für Lernende an weiterführenden Schulen in Frankreich. (1) Textlektüre + Bildimpuls zum „Unwort“ des Jahres 2020 („Corona-Diktatur“) → Fokus: Lesen + Sprechen (Erarbeitung des Kontextwissens - Sprachkritik) Ausgehend von einem Brainstorming (Was ist ein „Unwort“? Was könnte das „Unwort des Jahres 2020“ sein? ) lesen die Studierenden den Text „Gleich zwei Begriffe zum ‚Unwort des Jahres 2020‘ gekürt“ 25 , recherchieren unbekannte Vo‐ kabeln und erschließen den Themenwortschatz (z. B. „systemrelevant“, „Quer‐ denker“ etc.). Im Anschluss erklären sie mit ihren Worten, was mit dem Wort „Corona-Dik‐ tatur“ gemeint ist und reflektieren, ob es ein vergleichbares Konzept für das „Unwort des Jahres“ oder ein Äquivalent für „Corona-Diktatur“ in ihrer Sprache gibt. 26 Der textbegleitende Bildimpuls (Protestierende halten ein Transparent mit den Worten „Diktatur im Deckmantel der Gesundheit - wacht auf “ in die Höhe) konfrontiert sie zugleich implizit mit dem Empörungsmotiv und einer emotionalen Aufforderung. (2) Aufgabe zur Untersuchung von Aufforderungen und Emotionen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie → Fokus: Recherche + Schreiben (Zitate-Collage - Forderungen im Diskurs) Die Lernenden recherchieren Quellen, die auf Sender-Seite (Auf-)Forderungen enthalten - und die auf Empfänger-Seite emotionale Reaktionen bewirken können. 27 Sie beschreiben, was die Äußerungen bei ihnen hervorrufen und wie man darauf reagieren könnte. Gerade die Aufforderungen im Infinitiv und die 62 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 28 Geeignetes Unterrichtsmaterial findet sich z. B. unter https: / / www.br.de/ alphalernen/ fa echer/ deutsch/ 2-kommunikation-sender-empfaenger-modell102.html 29 Cf. z. B. https: / / solidarsemester.de/ 30 Ähnlich dem der Studierendenschaft Heidelberg, cf. https: / / www.stura.uni-heidelberg. de/ 2021/ 02/ 10/ corona-sondersitzung-die-forderungen-der-studierendenschaft/ verblose Variante, die auf Transparenten bei Demonstrationen äußerst beliebt sind, eignen sich sehr gut, um das emotionale Potenzial von Aufforderungen zu beleuchten (siehe hierzu auch die ausführliche Beschreibung dieser Varianten im theoretischen Teil 3 dieses Beitrags). (3) Aufgabe zur Systematisierung von Grammatik und Wortschatz → Fokus: Förderung der Sprachbewusstheit + Einübung sprachlicher Mittel Anhand der recherchierten Beispiele ist nun zu analysieren, wie Aufforde‐ rungen sprachlich realisiert werden und mit welchen Emotionen sie verbunden sind. Im Sinne des konstruktivistischen und kooperativen Lernens kann diese individuell vorbereitete Aktivität gut als Partner-/ Gruppenarbeit fortgeführt werden. Um die Lernenden mit grundlegenden Überlegungen aus der Kommu‐ nikationstheorie vertraut zu machen, bietet es sich an, vorab das „Sender-Emp‐ fänger-Modell“ zu thematisieren; 28 außerdem sollte die Analyse von Sprech‐ akten im gemeinsamen Unterrichtsgespräch modellhaft eingeübt werden. Zusätzlich können unterstützende Lernangebote (Scaffolding) bereitgestellt werden, z. B. ein Arbeitsblatt zur Pragmatik der Aufforderung mit dem Analy‐ seraster eines konkreten Beispiels, das die sprachliche Realisierung der Sprech‐ handlung und den paraverbalen Kontext einschließt oder eine tabellarische Übersicht über die Hauptvarianten von Aufforderungen (siehe hierzu auch die Tabelle in Teil 3 dieses Beitrags „Einblick in einige Aufforderungsvarianten“). (4) Aufgabe zur Integration der einzeln bearbeiteten Kompetenzaspekte → Fokus: Sprechen + Schreiben (kreative Textarbeit) Die Lernenden formulieren selbst (Auf-)Forderungen aus ihrer Sicht als junge Menschen bzw. Studierende, mit denen sie ihre Wünsche und Bedürfnisse in der Corona-Pandemie ausdrücken. Adressierung und sprachliche Realisierungs‐ formen sind frei wählbar; wichtig ist aber, klare Forderungen zu stellen. Als Impuls (interkulturelles Lernmoment, Perspektivenwechsel) ist es interessant, die Situation von Studierenden im deutschsprachigen Raum vergleichend ein‐ zubeziehen. 29 Ziel der Aufgabe ist es, in Gruppenarbeit einen studentischen For‐ derungskatalog (z. B. als Plakat) 30 zu erarbeiten und zu präsentieren. Dazu dis‐ kutieren die Studierenden ihre Forderungen, versprachlichen diese mithilfe der kennengelernten grammatischen Strukturen und üben, diese überzeugend vor‐ 63 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht 31 Die Gruppendiskussionen in der Erarbeitungsphase zeigten den Ernstcharakter der Lernaufgabe für die Studierenden: Sie debattierten z. T. kontrovers den Dringlichkeits‐ faktor einzelner Forderungen, nahmen Priorisierungen vor und beratschlagten über die angemessenen sprachlichen Formulierungen. zutragen. 31 In der Präsentationsphase können einzelne Forderungen hinterfragt bzw. zur Abstimmung gestellt werden. So forderte eine Arbeitsgruppe im kon‐ kreten Unterrichtsversuch, die sich selbst „Die empörten und überzeugenden Studenten“ nannte, nachdrücklich in Slogan-Form: „Die UB wieder aufma‐ chen! “, „Präsenzunterricht zurück! “, „Finanzielle Hilfe! “, „Besseres Internet für alle! “ Weitere eifrig diskutierte Forderungen waren z. B.: „Jetzt werden kosten‐ lose Mahlzeiten verteilt! “, „Mehr sozialen Kontakt mit anderen Studenten! “, „Haben Sie mehr Verständnis! “, „Etablieren Sie bitte psychologische Hilfe mit Hotlines und Sensibilisierung! “, „Kommunikation zwischen den Lehrern! “, „Rücksicht auf neue Studis: Erstsemester oder Erasmus-Studierende, die noch kein Netz haben“ etc. (5) Weiterführende kreative Anschlussaufgaben (Textproduktion) → Fokus: Schreiben + individuelle Reflexion, eventuell Leistungskontrolle Als Abschluss der Unterrichtseinheit und Transfer bieten sich Aufgaben zur kreativen Textproduktion an, diese sind mit unterschiedlichen Akzentuierungen denkbar, z. B. Schreiben Sie einen Brief … an den Universitätspräsidenten, in dem Sie Ihre Studiensituation schildern und Ihre aktuellen Forderungen artiku‐ lieren / … an eine / n Freund / in, der / die an einer Hochschule in Deutschland studiert und vergleichen Sie die Studiensituation / studentischen Forderungen in beiden Ländern etc. 6 Fazit und Ausblick Ein Anliegen dieses Artikels war es, die besondere und bislang kaum eingehend beleuchtete emotionale Komponente von Aufforderungen herauszuarbeiten. Der praktische unterrichtsbezogene Teil machte zudem deutlich, dass dieses Thema für Lernende besonders motivierend ist, wenn sie auf Basis ihrer Le‐ benserfahrungen eigene (emotionale) Forderungen selbst formulieren können. Von Anfang an stand bei der Unterrichtseinheit das Bewusstsein, dass das Thema „(Auf-)Forderungen in der Corona-Krise“ besonders viel Sensibilität sei‐ tens der Lehrperson, aber auch der Lernenden untereinander verlangt: unter‐ schiedliche Dispositionen, Emotionen, eventuell auch schwierige persönliche Situationen und psychische Probleme sind bei einem Unterricht zu diesem Thema mitzudenken. Der Unterrichtsgegenstand sollte daher mit besonderem 64 Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer 32 Von der GfdS zum Wort des Jahres 2020 gekürt: https: / / gfds.de/ wort-des-jahres-2020-1 / Augenmaß in einem angemessenen zeitlichen Rahmen behandelt werden, je nach Voraussetzungen und Bedürfnissen der Lernenden. In der Unterrichtseinheit wurde deutlich, dass der Ansatz der Aufgabenori‐ entierung besonders für fortgeschrittene Fremdsprachennutzer weiterfüh‐ rendes inhaltliches und sprachliches Lernpotential bietet. Bei der Erschließung der grammatischen Inhalte in den skizzierten komplexen Lernaufgaben zeigte sich einmal mehr, wie wichtig der sinnvolle Wechsel von kooperativen Lern‐ formen und individuellen Lernarrangements für eine abwechslungsreiche und motivierende Unterrichtsgestaltung ist. Gerade bei diesem emotionalen Thema, das die Lernenden auch in ihrem täglichen Leben beschäftigt, erwies sich eine angstfreie, produktive Arbeitsatmosphäre in der Lerngruppe als entscheidend für die Aufrechterhaltung der Lernermotivation. Grammatische Übungen zu gestalten, ist für gut ausgebildete, erfahrene Leh‐ rerinnen und Lehrer eine relativ leichte Angelegenheit - wenn irgendetwas bei der Unterrichtspraxis als „leicht“ angesehen werden darf. Ausgehend von einer kommunikativen Unterrichtssequenz, die aktuelle Themen (z. B. Corona-Pan‐ demie 32 ) behandelt, zu einer interaktiven Sprachreflexion überzugehen, ohne dabei den thematischen Faden - und die Motivation der Gruppe - zu verlieren, sodass am Ende die gesamte Sequenz eine in sich kohärente „runde Sache“ zur Zufriedenheit aller Beteiligten ergibt, ja, das ist eine ganz andere Angelegenheit. Diese Herausforderung stellt sich umso mehr, wenn man bedenkt, dass unsere Studierenden es nicht gewohnt sind, auch wenn sie ein relativ gutes Sprachni‐ veau erreicht haben und sich auf Deutsch schon gut verständigen (cf. Schnitzer 2020). Die Unterrichtssequenz hat gezeigt, dass die Sensibilisierung für ver‐ schiedene sprachliche Aufforderungsvarianten durchaus sinnvoll ist, solange sie nicht als „theoretische Trockenübung“ in Lehrbuchmanier vermittelt wird, sondern an echte, lebensnahe Diskurse der Lerner anknüpft. Dann kann das Thema gerade für fortgeschrittene Fremdsprachenlerner einen Beitrag dazu leisten, einen souveränen Umgang mit Sprache zu erlernen - und damit zugleich ihr Sprachbewusstsein zu schärfen. 7 Quellen Albertsen, Leif Ludwig, „Nicht hinauslehnen! Sprachstilistische Bemerkungen zum so‐ genannten imperativischen Infinitiv“, in: Zeitschrift für deutsche Sprache, 26, 1970, 116-118. 65 Aufforderung und Emotion aus pragmatischer und didaktischer Sicht Arndt, Petra A. / Sambanis, Michaela, Didaktik und Neurowissenschaften. Dialog zwi‐ schen Wissenschaft und Praxis, Tübingen, Narr, 2017. Bertrand, Yves, „Une structure impérative méconnue“, in: Nouveaux Cahiers d’allemand, 2019, 1, 39-52. Brinitzer, Michaela / Hantschel, Hans Jürgen / Kroemer, Sandra et al., DaF unterrichten. Basiswissen Didaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Stuttgart, Ernst Klett Sprachen, 2 2016. 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Sie können demnach als „Antiassertionen“ be‐ zeichnet werden, auch wenn sie augenscheinlich wie Assertionen aussehen. Darüber hinaus scheint die (intendierte) Emotionalisierung der Hörerschaft eine wichtige Funktion dieser Unwahrheiten zu sein, welche in die sprach‐ akttheoretische Definition dieser Sprechakte aufgenommen werden sollte. 1 Einleitung Diskurse in den sozialen Medien sind zusehends durch starke Emotionen ge‐ prägt. Dies mag ultimativ auf außersprachliche Faktoren zurückzuführen sein, spiegelt sich jedoch auch in der Art und Weise wider, in der Diskurse geführt und absichtsvoll emotionalisiert werden. Dies zeigt sich sprachlich vor allem darin, dass die Intention vieler Beiträge vornehmlich in dem Ausdruck von Em‐ pörung liegt, wie das Beispiel in (1) zeigt. (1) a. Tageschau: Langjähriger VW Chef Piëch gestorben. Er war von 1993 bis 2002 Vorstandschef bei Volkswagen. b. User Kommentar: Seine 12 Kinder reiben sich schon die Hände und freuen sich auf das Erbe! Auf den Beitrag der Tagesschau auf Facebook, der bekannt gibt, dass der ehe‐ malige Vorstandschef von VW Ferdinand Piëch gestorben ist, äußert sich der User in seinem Kommentar provokativ. Da der User vermutlich nicht weiß, wie die Kinder Piëchs auf diese Nachricht reagiert haben, kann man sicher davon ausgehen, dass das Ziel des Kommentars des Schreibers keine Informationsver‐ mittlung noch eine Einladung zu einer sachlichen Diskussion ist. Stattdessen scheint der User hier darauf aus zu sein, die Leser*innen seines Kommentars zu provozieren und Emotionen in ihnen zu wecken. Dass dies zu gelingen scheint, zeigt sich darin, dass 38 Personen eine Reaktion auf den Kommentar zum Aus‐ druck bringen. Die Adressat*innen reagieren unterschiedlich emotional auf den Kommentar, in dem sie verschiedene Emojis nutzen. Zustimmung wird dabei mit dem Daumen-hoch-Emoji ausgedrückt, was in diesem Fall 20× erfolgte. Spezifischere Gefühle drücken die vier Verwender*innen des lachenden Emojis aus. Dass dieser Beitrag jedoch auch negative Emotionen hervorbringt und keine Zustimmung, zeigt die Verwendung der insgesamt 14 wütenden Emojis. Diese Reaktion lässt die provozierte Empörung vermuten. 70 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay Wie bereits kurz erwähnt, scheint der User, der den Kommentar in (1b) ver‐ fasst hat, nicht wirklich daran interessiert zu sein, eine wahrheitsgemäße Aus‐ sage zu treffen. Dies scheint eine generelle Strategie in politisch aufgeladenen Diskursen zu sein: Unwahre Äußerungen bzw. Äußerungen, denen es nicht auf die Wahrheit des Inhaltes ankommt, scheinen besonders geeignet zu sein, um Empörung auszudrücken und diese zu wecken, da solche Aussagen mehrere Seiten gleichzeitig bedienen können. Um solche Unwahrheiten näher auf ihr Empörungs- oder genereller ihr Emotionalisierungspotential hin zu analysieren, wollen wir diese in diesem Beitrag aus sprechakttheoretischer Sicht betrachten. Auch wenn - so nehmen wir an - es sich bei (1b) um eine unwahre Äußerung handelt und der User - so nehmen wir weiterhin an - sich durchaus der Tatsache bewusst ist, dass sein Betrag unwahr ist, so ist es vermutlich nicht seine Inten‐ tion, die Adressat*innen dazu zu bringen, etwas Unwahres zu glauben. Vielmehr scheint der User einfach kein Interesse am Wahrheitsgehalt der Äußerung zu haben. Dies macht derartige provokative Äußerungen zu einem interessanten Gegenstand für sprechakttheoretische Überlegungen. Denn eine Äußerung wie in (1) sieht aus wie eine Behauptung, also wie ein assertiver Sprechakt in Searles (1969) Klassifikation von Sprechakten. Doch für Assertionen spielt die Wahrheit eine entscheidende Rolle. Demnach gilt als wesentliche Regel für Assertionen, dass sich die Sprecher*in in unterschiedlichem Maße auf die Wahrheit einer Proposition festlegt. Nehmen wir als Beispiel die folgende Behauptung: (2) In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit Assertionen. Wenn wir (2) behaupten, so legen wir uns auf die Wahrheit fest, dass es sich in unserem Beitrag tatsächlich um Assertionen und nicht beispielsweise aus‐ schließlich um deklarative Sprechakte handelt. Das ist die Proposition p, die als Teil des lokutionären Aktes nach Austin (1962) ausgedrückt wird und auf welche wir uns durch die Behauptung öffentlich festlegen. Das bedeutet, wir sollten dann auch so handeln, als ob (2) wahr ist. Insbesondere sollten wir nichts be‐ haupten, was zu der Wahrheit von (2) im Widerspruch steht (also beispielsweise, dass wir uns in diesem Beitrag nicht mit Assertionen beschäftigen). Dies ist die sogenannte wesentliche Regel von assertiven Sprechakten. Ein weiteres Krite‐ rium in Searles Sprechaktklassifikation ist der sogenannte psychische Zustand, in dem sich die Sprecher*in befinden muss, um einen bestimmten Sprechakt aufrichtig zu vollziehen. Bei assertiven Sprechakten ist dieser psychische Zu‐ stand der Glauben (der ausgedrückten Proposition). Wenn wir (2) also aufrichtig behaupten, dann glauben wir auch, dass unser Beitrag sich den Assertionen widmet. Das dritte Kriterium nach Searle ist die sogenannte Anpassungsrich‐ tung. Wenn die Äußerung von (2) aufrichtig sein und glücken soll, dann sollten 71 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ wir unsere Worte an die Fakten in der Welt anpassen. Die Anpassungsrichtung bei assertiven Sprechakten ist also „Wort-an-Welt“. Diese kurze Ausführung zu den entscheidenden Merkmalen von assertiven Sprechakten zeigt schnell, dass es sich bei provokativen Äußerungen wie in (1b) nicht um Assertionen in diesem klassischem Sinne handeln kann, da sich die Sprecher*in von solchen Äußerungen nicht auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition festlegt. Trotzdem stellt sich die Frage, ob im Falle von empörenden unwahren Äußerungen dennoch von Assertionen gesprochen werden kann. Dieser Frage möchten wir in diesem Beitrag nachgehen. Dazu nehmen wir eine sprechakttheoretische Untersuchung vor und betrachten die Rolle der (Un)wahrheit bei verschiedenen Sprechakten der Internetprovokation, wozu wir provozierende Äußerungen auch von anderen Sprechakten aus dem Bereich der „Unwahrheiten“ abgrenzen, um deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und der Frage nachzugehen, inwiefern provokative Äuße‐ rungen bestimmten Sprechaktarten entsprechen. Als Belegkorpus für unsere Untersuchungen dienen uns authentische, selbst recherchierte Daten aus den sozialen Medien, wobei wir uns vor allem auf Facebook konzentrieren, da hier die Emotionsbekundung - das sogenannte Liken - in Form von verschiedenen vorgegebenen Emojis erfolgen kann und somit diverse Facetten von Emotionen zum Ausdruck kommen; anders als es beispielsweise zurzeit bei dem an sich leichter durchsuchbaren Dienst Twitter der Fall ist. In dem Sinne dienen die Beispiele also lediglich als authentische Belege; unsere Studie erhebt weder den Anspruch einer quantitativen noch einer exhaustiven qualitativen Untersu‐ chung. Unser Beitrag gliedert sich wie folgt. In Abschnitt 2 werden wir uns zunächst verschiedenen Sprechakten widmen, die zwar von ihrer sprachlichen Struktur her nicht von normalen assertiven Sprechakten zu unterscheiden sind, die es mit der Wahrheit aber nicht so genau nehmen - sprich, bei denen sich die Spre‐ cher*in nicht auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition festlegt. Dabei grenzen wir klassische Lügen von den sogenannten Bald-Faced Lies ab. Als wei‐ tere Formen unwahrer Sprechakte, die zur Empörung und Provokation dienen können, beleuchten wir das sogenannte Trolling, die Kategorie des Bullshits und gehen auch auf den aktuellen Begriff „Fake News” (oder „alternative Fakten“) ein. Nach der Etablierung dieser verschiedenen Sprechakte werden wir diese in Abschnitt 3 in Hinblick auf ihr Potential, Empörung bei den Adressat*innen hervorzurufen, untersuchen. In Abschnitt 4 werden wird die Erkenntnisse aus den vorherigen Abschnitten dann nutzen, um sprechakttheoretische Definiti‐ onen für die von uns betrachteten Unwahrheiten zu geben und diese abschlie‐ 72 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay ßend mit gewöhnlichen Assertionen zu vergleichen. Wir schließen mit einigen Überlegungen zu den möglichen Konsequenzen der gewonnenen Resultate. 2 Unwahre Sprechakte Im Jahr 2014 gab Donald Trump, der spätere Präsidentschaftskandidat der Re‐ publikaner*innen und Präsident der USA , die Äußerung in (3) von sich. (3) I spoke indirectly - and directly - with President Putin, who could not have been nicer. (Trump, Mai 2014) Üblicherweise sollten Hörer*innen dieser Aussage also davon ausgehen, dass dies dann auch der Wahrheit entspricht. Dies entspricht dem sogenannten Prin‐ ciple of Charity - dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation - des Sprach‐ philosophen Donald Davidson (Davidson 1974): Gemeinhin gehen Menschen davon aus, dass Gesprächspartner*innen normalerweise die Wahrheit sagen. Davidson zufolge, der dieses Prinzip auf Überlegungen von Quine (1960) auf‐ baut, ist das Prinzip der wohlwollenden Interpretation jedoch nicht nur die Be‐ schreibung davon, wie Hörer*innen Äußerungen zu interpretieren tendieren, sondern muss als eine zentrale Grundlage für (rationale) Kommunikation an‐ genommen werden. Würden wir einem alternativen „Prinzip der skeptischen Interpretation“ folgen und alle Aussagen so interpretieren, dass sie falsch sind, würde diese die zwischenmenschliche Kommunikation erheblich erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen. Ähnliche Überlegungen stellt auch Paul Grice mit seinen Überlegungen zu rationaler, kooperativer Kommunikation an (Grice 1975). Dessen Qualitätsma‐ xime - eine von vier Konversationsmaximen - besagt, dass die Sprecher*in ver‐ suchen sollte, ihren Beitrag so zu machen, dass er wahr ist (und nicht etwas behaupten soll, für das sie keine ausreichende Evidenz hat). Wenn wir also Trumps Äußerung in (3) hören, gehen wir davon aus, dass er kooperativ kommuniziert und sein Beitrag wahr ist. Darüber hinaus gehen wir Searles Aufrichtigkeitsbedingung entsprechend davon aus, dass Trump auch glaubt, dass er indirekt und direkt mit Putin gesprochen hat und dass dieser ausgesprochen nett war. Und gemäß der wesentlichen Regel sollte sich Trump auch auf die Wahrheit der ausdrückten Proposition(en) festlegen und sich ent‐ sprechend auch so verhalten, als ob der Inhalt seiner Äußerung wahr ist. Ins‐ besondere sollte er, wie oben erwähnt, nichts sagen, dass seiner Äußerung in (2) widerspricht. Doch zwei Jahre später, äußerte Trump folgendes: (4) I never met Putin, I don’t know who Putin is. […] I never met Putin. […] I have nothing to do with Putin. I’ve never spoken to him. (Trump, Juli 2016) 73 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ Mit dieser Äußerung, die wie eine Assertion aussieht, scheint er jeglichen Kon‐ takt mit Präsident Putin zu bestreiten. Es liegt auf der Hand, dass die Äußerung in (4) im Widerspruch zu der Aussage in (3) steht; mindestens einer der beiden Aussagen von Trump muss falsch sein. Hat Trump also gelogen? Um diese Frage zu beantworten, werden wir dazu das Konzept der klassischen Lüge etwas ge‐ nauer aus sprechakttheoretischer Perspektive betrachten. 2.1 Klassische Lügen Eine klassische Definition von Lügen sieht nach “Konzepte des Lügens” (Mei‐ bauer 2015) wie folgt aus: Die Sprecher*in äußert einen Deklarativsatz mit der Bedeutung p, wobei p hier und im Folgenden für den semantischen Gehalt des geäußerten Satzes steht; also der Proposition, die dieser ausdrückt. Während bei einer aufrichtigen Assertion die Sprecher*in den psychischen Zustand des Glau‐ bens (dass der propositionale Gehalt p wahr ist) haben sollte, glaubt die Spre‐ cher*in bei einer klassischen Lüge, dass die Proposition p falsch ist. Dennoch möchte sie, dass die Addressat*in glaubt, dass p wahr ist. Dies ist bei der klas‐ sischen Assertion üblicherweise auch der Fall. Weiterhin ist es - so zumindest eine weitverbreitete Ansicht - für die klassische Lüge notwendig, dass die Spre‐ cher*in möchte, dass die Adressat*in nicht erkennt, dass die Sprecher*in den semantischen Gehalt der Äußerung eben gerade nicht glaubt. Oder anders aus‐ gedrückt: Die Sprecher*in vollzieht eine verdeckte Verletzung der Qualitätsma‐ xime nach Grice oder der Aufrichtigkeitsbedingung nach Searle, die Sprecher*in möchte aber, dass die Hörer*in glaubt, die Sprecher*in würde die Qualitätsma‐ xime und Aufrichtigkeitsbedingung befolgen. Man kann also festhalten, dass eine Täuschungsabsicht seitens der Sprecher*in vorliegt: Eine Lüge ist dann erfolgreich, wenn die Adressat*in nachher glaubt, dass die Sprecher*in glaubt, dass die Proposition p wahr ist, und dass die Adressatin*in im Idealfall (aus Perspektive der Lügner*in) auch glaubt, dass p wahr ist. 2.2 Bald-Faced Lies Der zuletzt erwähnte Aspekt - die Täuschungsabsicht - unterscheidet klassi‐ sche Lügen von den sogenannten Bald-Faced Lies, bei denen dies nicht der Fall ist. Bei Bald-Faced Lies handelt es sich um untypische Lügen, die in der Literatur viel diskutiert wurden (Sorensen 2007) und bei denen die Adressatin*in weiß, dass die Sprecher*in nicht die Wahrheit sagt, und es der Sprecher*in auch be‐ wusst ist, dass die Adressat*in die Lüge als solche erkennt. Beispiel (4), das an die Serie Mad Men angelehnt ist, illustriert diesen Fall. 74 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay (5) [Don kommt am Morgen nach Hause, nachdem er die Nacht mit seiner Affäre verbracht hat. Seine Frau Betty weiß davon und Don weiß, dass sie davon weiß.] Betty: Wo bist du die Nacht gewesen? Don: Ich habe im Büro geschlafen, weil wir noch ein langes Meeting hatten. Betty: Du arbeitest zu hart. Die Äußerung von Don, dass er aufgrund eines langen Meetings im Büro ge‐ schlafen hat, ist in diesem Szenario falsch und Don glaubt natürlich auch nicht, dass er im Büro geschlafen hat. So wie das Szenario gestrickt ist, kann aber keine Täuschungsabsicht von Seiten Dons vorliegen, da er ja weiß, dass Betty heraus‐ gefunden hat, dass er bei seiner Affäre war, und er folglich weiß, dass er Betty mit seiner unwahren Aussage nicht täuschen und dazu bringen kann, zu glauben, dass er im Büro geschlafen hätte. Statt des Versuchs, seine Frau zu täuschen, geht es in diesem Beispiel darum, dass Don und Betty über das offen‐ sichtliche Problem ihrer Beziehung - nämlich, dass Don eine Affäre hat - nicht reden möchten und sie oberflächlich so tun, als sei alles in Ordnung. In gewisser Hinsicht ist ihre Kommunikation also immer noch kooperativ, da beide so tun, als ob Qualitätsmaxime und Aufrichtigkeitsbedingung erfüllt sind. Wie verhält es sich nun mit unwahren Äußerungen, die dazu dienen, Empö‐ rung hervorzurufen? Handelt es sich dabei um klassische Lügen? Oder sind es vielleicht Bald-Faced Lies? Betrachten wir das Beispiel in (6). (6) a. Der Spiegel: Urteil im „Stromstoß“-Prozess in München: Die Schmerzen der Frauen. Das Gericht stellte fest, dass es den Angeklagten erregt habe, Frauen leiden zu sehen. b. User-Kommentar: Tja, wenn es wichtiger ist zu wissen, was Sarah Lombardi für einen Nagellack verwendet, als die Wir‐ kung von Strom zu kennen, tut’s halt weh! Das auszunutzen ist natürlich nicht in Ordnung! 75 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ Der User bringt in seinem Kommentar zum Facebook-Beitrag des Spiegels, in dem zu einem Artikel über das Gerichtsverfahren im “Stromstoß”-Prozess ver‐ linkt wird (bei dem der Angeklagte Frauen Stromstöße versetzte), zum Aus‐ druck, dass die betroffenen weiblichen Opfer selbst schuld an ihrem erlebten Leid wären, weil sie sich als Frauen nur für Nagellack und Stars interessieren und deswegen nicht wüssten, welche Schmerzen Strom verursachen kann. Weil dieser doch recht boshafte Kommentar, der einen Fall des victim blamings dar‐ stellt, natürlich total übertrieben ist, gehen wir davon aus, dass der Verfasser dieses Kommentars nicht wirklich glaubt, dass Frauen im Allgemeinen oder die Opfer im Falle des Prozesses nicht wissen, dass Stromstöße starke oder gar töd‐ liche Schmerzen verursachen können (die Begründung, dass sie sich nur für Nagellack interessieren würden, ist natürlich ebenso absurd wie unwahr). Statt‐ dessen müssen wir davon ausgehen, dass der User weiß, dass seine Aussage nicht wahr ist, und dass er absichtlich extra krasse Klischees dazu verwendet, um andere Leser*innen zu verärgern, zu provozieren und zu empören. Doch auch wenn das, was der User in (6) schreibt nicht wahr ist und er sich dessen auch bewusst ist (wovon zumindest auszugehen ist), so handelt es sich unserer Ansicht nach bei provokativen Äußerungen wie in (6) nicht um Lügen. 76 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay Der provozierenden Person geht es nicht darum, die Adressat*innen zu täuschen und dazu zu bringen, den Inhalt der Provokation zu glauben. Im Gegenteil: Würde die provozierende Äußerung von den anderen User*innen einfach als wahr akzeptiert werden, dann hätte der Provokateur sein Ziel verfehlt. Es kann sich im Falle von (6) also nicht um eine klassische Lüge handeln. Wie steht es mit der Kategorie der Bald-Faced Lie? Auch diese lässt sich nicht auf das Beispiel anwenden. Denn auch wenn eine Bald-Faced Lie nicht täuschen soll, so soll der Diskurs im Anschluss an die Bald-Faced Lie dennoch so weitergeführt werden, als ob diese wahr sein. Würde Betty in einem alternativen Szenario zu dem in (5) auf Dons Behauptung, er habe im Büro übernachtet, wie in (7) antworten, dann wäre die Bald-Faced Lie nicht erfolgreich. (7) Don: Ich habe im Büro geschlafen, weil wir noch ein langes Meeting hatten. Betty: Das stimmt doch nicht! Wir wissen doch beide, wo du gewesen bist. Dies unterscheidet Bald-Faced Lies von den Provokationen. Denn wieder gilt: Würde die provozierende Äußerung einfach als wahr akzeptiert (auch wenn die Leser*innen es nicht glauben) und keine empörte Gegenwehr auslösen, dann wäre die Provokation nicht erfolgreich gewesen. Halten wir fest: Wenn mit unwahren Äußerungen bewusst provoziert und Empörung hervorgerufen werden soll, dann kann es sich entsprechend der vo‐ rangegangenen Überlegungen weder um klassische Lügen noch um Bald-Faced Lies handeln. Handelt es sich also um eine ganz eigenständige Art von Sprechakt? Um dieser Frage nachzugehen, werden wir im Folgenden verschie‐ dene Arten von unwahren Sprechakten betrachten, die alle auch in Verbindung zur Provokation stehen. 2.3 Trolling Wenn es um Provokation im Internet und speziell in den sozialen Medien geht, dann ist außerhalb der Linguistik und innerhalb der Internetkommunikation selbst das sogenannte Trolling ein etablierter Begriff, der unseres Wissens nach aber bisher nur marginale Beachtung innerhalb von sprachwissenschaftlichen Betrachtungen gefunden hat. So charakterisieren Buckels et al. (2014) Trolling als ein Verhalten, dessen einziger Zweck ist, andere Diskurse durch Provokation zu stören: Online trolling is the practice of behaving in a deceptive, destructive, or disruptive manner in a social setting on the Internet with no apparent instrumental purpose. (Buckels et al. 2014: 97) 77 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ Darüber hinaus lässt sich für das Trolling festhalten, dass die trollende Person dabei keine neuen Diskurse erschafft, sondern provozierend in bereits beste‐ hende Diskurse eingreift. Trolling kann als ein provokativer Sprechakt in Reinform betrachtet werden. Und um zu provozieren schreckt ein sogenannter Troll natürlich auch nicht davor zurück, unwahre Aussagen zu nutzen. Unwahre Aussagen sind sogar be‐ sonders gut für die Zwecke des Trollings geeignet, da es bei unwahren Aussagen weniger wahrscheinlich ist, dass diese von den Zielen des „Trollangriffs“ ak‐ zeptiert werden. Hier besteht, wie oben schon erwähnt, also ein entscheidender Unterschied zu klassischen Lügen und Bald-Faced Lies. In beiden Fällen geht es der Lügner*in darum, dass die Unwahrheit geglaubt bzw. zumindest als wahr akzeptiert wird. Dies ist genau das Gegenteil von den Zielen eines Trolls: Das Gesagte soll möglichst wütende Reaktionen der Abwehr und Zurückweisung hervorrufen: die Empörung der Leser*innen. Oder wie Leone (2017: 166) festhält: „The ultimate goal of a troll is to be insulted by its victim.“ 2.4 Bullshit Im Gegensatz zum Lügen ist einer trollenden Person die Wahrheit ihrer Äuße‐ rung also ziemlich egal; sie interessiert sich einfach nicht dafür. Dies bringt das Trolling in die Nähe einer anderen Kategorie von Sprechakt, die eine Nähe zur Unwahrheit aufweist, aber keine wirkliche Lüge darstellt: das Bullshit. Auch zur Illustration dieser Unwahrheit dient ein Beispiel von Donald Trump: (8) ISIS is honoring President Obama. He is the founder of ISIS. He is the founder of ISIS, okay? He is the founder. (Trump, 10. August 2016) Diese Aussage entspricht offensichtlich nicht der Wahrheit. Doch will Trump lügen und seine Zuhörer*innen dazu bringen, den propositionalen Inhalt seiner Aussage zu glauben? Wohl kaum, denn dazu ist die Aussage zu absurd. Auch hat Trump, der hier zu seinen Anhänger*innen spricht, nicht die Absicht, diese zu provozieren, denn auch wenn diese seine Äußerung vielleicht nicht als wahr akzeptieren, werden sie wohl kaum geneigt sein, Trumps Aussage abzulehnen. Nein, im Gegenteil: Trump möchte seine Anhänger*innen durch seine Aussage vermutlich emotionalisieren und aufwiegeln. Dabei ist es Trump egal, ob seine Aussage nun falsch ist oder nicht, er möchte durch die Aussage nur seine ne‐ gative Einstellung gegenüber dem damaligen demokratischen Präsidenten Ba‐ rack Obama zur Schau stellen, die ihn mit seinen Anhänger*innen vereint. Es handelt sich einfach nur um Bullshit (Frankfurt 2005). As the Princeton University philosophy professor Harry Frankfurt put it in a famous essay, to lie presumes a kind of awareness of and interest in the truth - and the goal is to convince the audience that the false thing you are saying is in fact true. Trump, 78 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay more often than not, isn’t interested in convincing anyone of anything. He’s a bulls‐ hitter who simply doesn’t care. (Matthew Yglesias @ Vox Media, 30. 05. 2017) Bullshit kursiert ebenfalls in den sozialen Medien und wird dort auch, ähnlich wie das Trolling, gezielt zur Provokation eingesetzt. Allerdings steht die Provo‐ kation beim Bullshit nicht so sehr im Vordergrund wie beim Trolling. Der Aus‐ druck einer bestimmten Einstellung und Selbstdarstellung ist, worum es beim Bullshit geht. Das folgende Beispiel illustriert dies: (9) a. tagesschau: Der britische Premier Johnson hofft, ein Handelsvertrag mit den USA öffne Großbritannien nach dem Brexit neue Chancen. In Paris sieht man das anders. b. User-Kommentar: Briten machen das richtig wir haben vorher auch gut gelebt die Wartezeit an den Grenzen habe ich gerne in Kauf ge‐ nommen Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der Verfasser des Kommentars, anders als behauptet, nicht gerne an den Grenzen innerhalb der EU gewartet, als es diese noch gab. Allerdings geht es dem User hier nicht darum, dies als Wahrheit zu präsentieren - er macht also keine Assertion - sondern vielmehr möchte er zum Ausdruck bringen, dass er Grenzen (trotz der damit verbundenen Wartezeit beim Grenzübertritt) als etwas positives betrachtet. Ob der Inhalt seiner Äußerung nun wahr ist oder nicht, spielt für den User dabei keine entscheidende Rolle. 79 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ Dadurch unterscheidet sich Bullshit genau wie das Trolling also nicht nur von einer gewöhnlichen Assertion, sondern auch von beiden Arten des Lügens. Im Gegensatz zur “klassischen Lüge” liegt keine Absicht vor, die Adressat*innen zu täuschen oder dazu zu bringen, etwas Falsches für wahr zu halten. Und auch bei einer Bald-Faced Lie ist der Sprecher*in die Wahrheit nicht egal: Der Inhalt der Lüge soll trotz besseren Wissens der Gesprächsteilnehmer*innen als wahr be‐ handelt werden. Zwischen dem zuvor diskutierten Trolling und dem Bullshitting bestehen aber auch entscheidende Unterschiede. Sie teilen zwar die Indifferenz der Sprecher*in gegenüber dem Wahrheitsgehalt ihrer Äußerung, unter‐ scheiden sich aber in ihren Zielen. Einer bullshittenden Person geht es darum, eine Einstellung („Ich lehne Obamas Politik ab“; „Ich befürworte Grenzen in Europa“) zum Ausdruck zu bringen und sich selbst vor den Adressat*innen in ein bestimmtes Licht zu rücken. Im Gegensatz dazu geht es einer trollenden Person nicht um Selbstdarstellung oder der Zurschaustellung einer persönlichen Einstellung. Dies zeigt sich am deutlichsten daran, dass Troll-Kommentare oft‐ mals anonym oder mit Hilfe eines extra eingerichteten Fake-Accounts getätigt werden (was auf Twitter oder insbesondere Internet-Foren der Fall ist). Troll-Kommentare sollen nur provozieren und auch wenn Bullshit wie oben gesehen auch provozieren kann (insbesondere dann, wenn es vor einer Öffent‐ lichkeit produziert wird, in der gemischte Einstellungen vorliegen), so ist die beim Trolling gänzlich fehlende Selbstdarstellung die Hauptfunktion von Bullshit und nicht die Provokation. 2.5 Fake News und alternative Fakten Ein weiterer und letzter von uns thematisierter unwahrer Sprechakt sind die sogenannten „alternativen Fakten“ oder auch Fake News. Auch hier kann wieder eine Aussage von Donald Trump als Beispiel genommen werden: (10) a. Trump [über die Menschenmenge bei seiner Vereidigung]: … it went all the way back to the Washington Monument. b. Sean Spicer [später: ] This was the largest audience to ever witness an inauguration, period, both in person and around the globe. Diese Aussagen zur Vereidigung als 45. Präsident der Vereinigten Staaten im Jahr 2017 stammen von Donald Trump und seinem Pressesprecher Sean Spicer. Bekanntlich entsprechen diese Aussagen nicht den Tatsachen, was Bilder des Ereignisses offensichtlich illustrieren. Später wurden die von Spicer und Trump angeführten Sachverhalte als „alternative Fakten“ bezeichnet. Ein anderer Be‐ griff für solche offenkundigen Falschaussagen ist der Begriff Fake News. In Er‐ mangelung eines etablierten Terminus für derartige Aussagen, wollen wir diesen Begriff hier verwenden. Diesen Begriff haben wir bereits in Gut‐ 80 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay zmann / Turgay (2021) aus sprechakttheoretischer Perspektive ausgearbeitet und die Überlegungen in diesem Beitrag bauen darauf auf. Und auch wenn wir den Begriff Fake News hier weiterverwenden wollen, soll darauf hingewiesen sein, dass der Begriff im politischen Diskurs (insbesondere auch von der Trump-Administration und deren Anhängern) als Kampfbegriff verwendet wird, um die Glaubwürdigkeit von durchaus zuverlässigen Medien zu diskredi‐ tieren. Wir verwenden diesen Begriff hier als rein deskriptiven Begriff für eine bestimmte Art von unwahren Aussagen. Um uns dem Begriff der Fake News aus theoretischer Perspektive zu nähern, müssen wir uns zunächst fragen, warum Trump und Spicer solche Aussagen äußern, die relativ offensichtlich falsch und leicht überprüfbar sind? Sicherlich kann keine wirkliche Täuschungsabsicht vorliegen, denn - so nehmen wir wohlwollend an - weder Trump noch Spicer gehen davon aus, dass selbst ihre Anhänger*innen den Inhalt ihrer Aussagen für tatsächlich wahr halten werden (falls manche Adressat*innen die Inhalte von (10) wider Erwarten glauben sollten, ist das natürlich auch im Interesse der Sprecher*innen). Die wichtigste Funktion von solchen Fake News ist es, dass die unwahren „alternative Fakten“ in den Diskurs eingebracht werden, wobei es zweitranging ist, ob die Spre‐ cher*in oder die Adressat*innen den Inhalt der Äußerung glauben. Dies rückt die alternativen Fakten in die Nähe von Bald-Faced Lies, da nicht primär ge‐ täuscht werden soll, die Inhalte dennoch als wahr präsentiert werden sollen. Während sich die Sprecher*in bei einer Bald-Face Lie genau wie bei einer klas‐ sischen Lüge oder einer gewöhnlichen Assertion auf die Wahrheit der ausge‐ drückten Assertion festlegt, ist dies bei Fake News nicht der Fall. Denn auch wenn sich bei Bald-Faced Lies die Diskursteilnehmer*innen der Tatsache be‐ wusst sind, dass die Aussage falsch ist, führen sie, sofern die Lüge erfolgreich ist, den nachfolgenden Diskurs so aus, als ob die Aussage wahr wäre. Es sollten also im folgenden Diskurs insbesondere keine Äußerungen gemacht werden, die im Widerspruch zu der Bald-Faced Lie stehen, da dies das gemeinsam auf‐ rechtgehaltene „Lügenkonstrukt“ zum Einsturz bringen würde. Dies ist bei Fake News nicht der Fall. Hier soll kein kohärentes Narrativ erzeugt werden - Pro‐ duzent*innen von Fake News haben keinerlei Probleme damit, sich selbst zu widersprechen - sondern es geht vor allem darum, die Adressat*innen zu emo‐ tionalisieren und, sofern es sich um eine gemischte Adressaten*innengruppe handelt, zu spalten. Betrachten wir hierzu noch ein weiteres Beispiel, dass dies veranschaulicht. (11) a. Campact. e. V.: Greta Thunberg - Ein Jahr Klimastreik. Aus ihrem kleinen Protest wurde eine ganze Klimabewegung. für diesen Einsatz! Am 20. September werden dieses Jahr Hun‐ 81 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ derttausende Menschen weltweit für das Klima streiken. Mach mit! Und bewege die Politiker*innen endlich zu handeln. b. User-Kommentar: Nun Greta macht grade eine Weltreise auf einem Schiff, das aus Kunststoff besteht, keine Toilette hat, bei Flaute sich mit Siliciumbatterien fortbewegt. Das Schiff wurde nur zu einem Zweck gebaut: Freizeit Vergnügen für. 2 Personen 6Mitglieder fliegen zurück nur 2 segeln zurück. Und wie kommt Greta und ihr Vater zurück? Schwimmen die? Für mich ist sie unglaubwürdig. Sie zeigt auch keine Lösungen auf. Der Kommentar zum Campact-Post über Greta Thunberg in (11) enthält viele nicht wahre Behauptungen und streut somit falsche Fakten über das Schiff, mit dem Greta in die USA reist. Hier ist besonders deutlich, dass es nicht die Absicht der User*in ist, dass diese Tatsachen von den Leser*innen übernommen werden, da sie diese auf einer Seite postet, die tendenziell positiv gegenüber Greta Thun‐ berg eingestellt ist; in den Antworten auf den Kommentar findet man die Aus‐ sagen auch entsprechend schnell widerlegt. Das Ziel des Kommentars ist statt‐ dessen die Emotionalisierung der Adressat*innen: Bei den „Klima- 82 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay skeptiker*innen“ soll der Kommentar Empörung über Greta Thunberg und der Klimabewegung hervorrufen und bei Klimaaktivist*innen soll Empörung über den Post selbst (und dessen Unwahrheit) erzeugt werden. Wie die zahlreichen Reaktionen und Antworten auf den Kommentar zeigen, ist der Kommentar sehr erfolgreich in dieser Absicht. So schafft es die User*in, beide Seiten des Konflikts zu emotionalisieren und weiter zu spalten. 2.6 Zwischenfazit In diesem Abschnitt haben wir verschiedene Arten von Unwahrheiten näher beleuchtet und dabei Lügen von weiteren unwahren Sprechakten abgegrenzt. Die folgende Tabelle hält die Ergebnisse noch einmal fest. Der Unterschied zwi‐ schen klassischen Lügen und den Bald-Faced Lies ist, dass die Sprecher*in bei Letzteren nicht möchte, dass die Adressat*in den Inhalt der Äußerung glaubt, sondern beide nur so tun, als ob es sich um die Wahrheit handelt. Auch bei den anderen Unwahrheiten ist der Wunsch der Sprecher*in, dass die Adressat*in den semantischen Gehalt der Äußerung glaubt, nicht notwendig (aber möglich). Der Glaube der Sprecher*in, dass die Proposition ihrer Äußerung wahr ist, ist ebenfalls bei keiner Unwahrheit eine notwendige Bedingung, jedoch möglich. Die Funktion von Trolling und Fake News ist eine Emotionalisierung der Ad‐ ressat*innen, die Empörung hervorrufen soll. Anders ist es beim Bullshit, bei dem die Selbstdarstellung oder Vermittlung einer bestimmten Einstellung die vorrangige Funktion ist. Klassi‐ sche Lüge Bald- Faced Lie Trolling Bullshit Fake News S glaubt, dass p - - +/ - +/ - - S will, dass A glaubt, dass p + - +/ - +/ - (+) Selbstdarstellung / Einstel‐ lung - - - + - Tabelle 1: Überblick über die Unwahrheiten 3 Emotionalisierung durch Unwahrheiten Wie wir gezeigt haben, können die unterschiedlichen Konzepte der Unwahr‐ heiten dazu genutzt werden, zu provozieren und Empörung bei den Ad‐ ressat*innen hervorzurufen. Eine Provokation dieser Art zielt also immer auch 83 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ 1 Der sich als Mediziner ausgegebene Täter überredete weibliche Personen an einer ex‐ perimentellen Studie teilzunehmen, um ihnen Stromstöße zuzufügen. (https: / / www.spiegel.de/ panorama/ justiz/ stromstoss-prozess-in-muenchen-als-haette -jemand-daslicht-ausgeschaltet-a-1297662.html) auf eine Emotionalisierung ab. Im Folgenden werden wir untersuchen, wie sich die betrachteten Unwahrheiten in Hinblick auf ihr Empörungspotential unter‐ scheiden. Zudem werden wir diskutieren, inwiefern die Absicht zur Emotiona‐ lisierung auch eine notwendige Eigenschaft der diskutierten Unwahrheitsphä‐ nomene ist. 3.1 Trolling und Emotionalisierung Trolling ist Provokation in Reinform: die Empörung der Zielgruppe ist das vor‐ rangige Ziel. Nur wenn die Adressat*innen sich über den Beitrag des Trolls emotional aufregen, kann der Beitrag als ein erfolgreiches Trolling betrachtet werden. Die Emotionalisierung der Zielgruppe ist somit eine essentielle und notwendige Komponente des Trollings. Dies zeigt die Reaktion einer Adressatin auf den Kommentar des Trolls zum Stromstoß-Prozess Beispiel (6). Eine andere User*in antwortet direkt auf diesen Kommentar und skizziert nochmals den Tathergang 1 , sie zeigt dadurch ihr Unverständnis gegenüber dem Troll. Die Emotion, die der Kommentar des Trolls bei ihr hervorgerufen hat, bringt sie mit dem emotional-evaluativen Adjektiv eklig zum Ausdruck. Die Emotionalisie‐ rung vieler Leser*innen durch den Kommentar des Trolls zeigt auch der mehr‐ fach gewählte wütende Emoji. (12) [Als Antwort auf (6)] User*in: Ihnen ist schon klar, dass er den Frauen vorgaukelte, sie würden dabei an einer Studie zum Thema Schmerzempfinden teilnehmen? Ihr Kommentar ist ziemlich ekelig, wenn ich ehrlich bin. 84 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay 3.2 Bullshit Im Gegensatz zum Trolling ist es keine notwendige Eigenschaft des Bullshits, zu provozieren. Viele klassische Beispiele von Bullshit sollen eher Zustimmung hervorrufen und die Sprecher*in in ein positives Licht rücken. Allerdings kann, wie gesehen, Bullshit durchaus auch zur Provokation eingesetzt werden, wenn die ausgedrückte Einstellung in dem Kontext des Bullshits provozierend wirkt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Bullshit in einem Kontext mit unter‐ schiedlichen Adressat*innengruppen geäußert wird. Und auch wenn Provoka‐ tion nicht notwendigerweise zum Bullshit dazugehört, so hat es doch eine emo‐ tionalisierende Komponente: Der Inhalt des Bullshits ist oft stark konnotiert und ruft deshalb bei der Zielgruppe emotionale Reaktionen hervor, die sie auf die Seite der Sprecher*in ziehen sollen. In dieser Hinsicht hat die Emotionalisierung beim Bullshit die gegenteilige Funktion des Trollings. Folgendes Beispiel greift noch einmal den in (9) illustrierten Kommentar zum Brexit und den geschlos‐ senen Grenzen auf. (13) [Als Reaktion auf (6)] User-Kommentar: dann hör auf so ne scheiße zu behaupten, ihr menschen wisst einfach nicht zu schätzen was die EU für viele bedeutet. Zum einen zeigt hier die Wahl des lachenden Emojis und der Likes, dass ein Teil der Adressat*innen der Einstellung des bullshittenden Users beipflichtet. Zum anderen zeigt die Verwendung des weinenden Emojis die Emotionalisierung der anderen Gruppe von Leser*innen durch den Kommentar an. Dies wird auch durch schriftliche Reaktionen auf den Kommentar deutlich, wie der in (13) an‐ gegebenen. Die an den Bullshitter gerichtete Reaktion des zweiten Users ver‐ deutlicht dessen Empörung durch eine Unterlassungsforderung. Auch sprach‐ lich wird die Empörung des Users durch die expressive Nominalphrase so eine Scheiße zum Ausdruck gebracht. 85 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ 3.3 Fake News Bei Fake News ist es etwas komplexer, was das Provokations- und Emotionali‐ sierungspotential anbelangt. Zunächst scheint das Erzielen von Empörung nicht zwingend notwendig zu sein, wenn man die Funktion von Fake News betrachtet und die herausgearbeiteten Eigenschaften. Ähnlich wie beim Bullshit und im Gegensatz zum Trolling ist die Funktion von Fake News nicht primär die Pro‐ vokation. Dennoch scheint die Emotionalisierung eine entscheidende Rolle bei Fake News zu spielen, denn es ist die eigene „Anhängerschaft“ oder „In-Group“, die durch den Inhalt der Fake News emotionalisiert werden. Dies zeigt sich darin, dass es keine belanglosen, nüchternen Thematiken sind, die Gegenstand von Fake News sind - Falschmeldungen über das Wetter sind wohl kaum Inhalt von Fake News - sondern die erfundenen Inhalte haben meist eine höchst empörende Komponente. Die Inhalte von Fake News werden von den Produzenten also be‐ vorzugt so gewählt, dass sie eine Emotionalisierung bei den primären Ad‐ ressat*innen auslösen. Dass auch das „gegnerische Lager“ dadurch provoziert wird in Form von Empörung, ist ein (erwünschter) Nebeneffekt. Daraus ergibt sich die spalterische Funktion von Fake News. In dem User-Kommentar zu dem Post über Greta Thunberg in (11) werden falsche „Fakten“ über die Atlantik‐ überquerung der Klimaaktivistin verbreitet. Durch die gut recherchiert wir‐ kenden Informationen vermittelt die Schreiberin den Eindruck, es handele sich um tatsächliche Fakten. Das Thema „Klima“ ist für viele höchst emotionalisie‐ rend und bildet durchaus Gegenlager, womit eben aufgrund solcher Fake News die Anhänger*innen der Klimaaktivist*innen provoziert werden können und gleichzeitig die eigene Seite aufgewiegelt werden kann. 4 Zusammenfassung: Sprechakttheoretische Definitionen Basierend auf den vorangegangen Untersuchungen der drei Unwahrheiten, die sich nicht zu den Lügen zählen lasen, und den anschließenden Überlegungen zu ihrem Emotionalisierungspotential, wollen wir die Ergebnisse nun in Form von sprechakttheoretischen Definitionen für die drei Kategorien zusammenfassen. Dabei soll dies an dieser Stelle nicht implizieren, dass es sich hier jeweils um eigene Sprechakttypen handelt, da es durchaus möglich zu sein scheint, einige der Sprechakte zu einer allgemeineren Klasse zusammenzufassen. Diese Frage müssen wir an dieser Stelle jedoch für weitere Forschungen offenlassen. Wir beginnen mit der Definition für das Trolling. (14) Trolling Sprecher*in S äußert p zu einer Adressat*in (oder Ad‐ ressat*innengruppe) A. S legt sich nicht auf die Wahrheit von p fest. 86 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay S will nicht, dass A p als wahr akzeptiert. S will, dass A p bestreitet und sich über die Behaup‐ tung, dass p, empört. In gewisser Hinsicht ist nicht die Lüge, sondern das Trolling das Gegenteil einer Assertion. Denn während sowohl Assertion als auch Lüge die „Übertragung“ von Informationen zum Ziel hat, ist es beim Trolling das Ziel, dass der Inhalt der Äußerung abgelehnt wird. Nicht zu vernachlässigen ist aber auch das psycho‐ logische Ziel: der Inhalt soll die Adressat*innen des Trollings auch empören. (15) Bullshit Sprecher*in S äußert p zu einer Adressat*in (oder Adressat*in‐ nengruppe) A. S legt sich nicht auf die Wahrheit von p fest. S will stattdessen eine kontextuell mit p assoziierte Einstellung q zum Ausdruck bringen. S will, dass A glaubt, dass S die Einstellung q hat. Ob A auch p glaubt, ist S gleichgültig. (Als Provokation) S will, dass A durch den Inhalt von p und q empört ist. Beim Bullshit verhält es sich anders als beim Trolling, denn hier soll zumindest eine Information vermittelt werden und die Sprecher*in möchte auch, dass die Adressat*innen diese glauben. Nur geht es dabei nicht um den eigentlichen In‐ halt des Gesagten - dessen Wahrheit ist dem Bullshitter gleichgültig - sondern um die Einstellung, die mit diesem Inhalt kontextuell assoziiert ist. Wenn Bullshit als Provokation eingesetzt wird, dann soll die Einstellung und / oder der Inhalt gemeinsam die Empörung auslösen. (16) Fake News Die Sprecher*in S äußert p zu einer Adressat*in (oder Ad‐ ressat*innengruppe) A. S legt sich nicht auf die Wahrheit von p fest. S will, dass A p glaubt oder zumindest scheinbar als wahr akzeptiert. S will, dass A durch den Inhalt von p empört ist. Als dritte Kategorie ähneln Fake News dem ersten Anschein nach einer Mi‐ schung aus klassischen Lügen und Bald-Faced Lies mit einer emotionalisier‐ enden Absicht. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass sich die Spre‐ cher*in bei beiden hier diskutierten Arten der Lüge auf die Wahrheit des propositionalen Inhalts festlegt, was bei den Fake News nicht der Fall ist. Neben der Fähigkeit zur Emotionalisierung vereint dieser Aspekt die drei betrachteten 87 „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! “ Unwahrheiten. Während beide Arten von Lügen also die wesentliche Bedingung einer Assertion teilen, aber eben unaufrichtige Assertionen sind, da der psychi‐ sche Zustand nicht erfüllt ist, gilt dies nicht für die hier diskutierten Fälle. Trol‐ ling, Bullshit und Fake News können folglich als „Antiassertionen“ aufgefasst werden. 5 Bibliographie Austin, John L., How to Do Things with Words, Oxford University Press, 1962. Buckels, Erin E. / Trapnell, Paul D. / Paulhus, Delroy L., „Trolls just want to have fun“ in: Personality and Individual Differences, 67, 2014, 97-102. Davidson, Donald, „On the Very Idea of a Conceptual Scheme“, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, 47, 1974, 5-20. Frankfurt, Harry G., On Bullshit, Princeton University Press, 2005. Gutzmann, Daniel / Turgay, Katharina, „Fake News - Alles Lügen? “, erscheint in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 18, 1, 2022. Grice, H. Paul, „Logic and conversation“, in: Cole, Peter / Morgan, Jerry L. (ed), Syntax and Semantics 3. Speech Acts, New York, Academic Press, 1975, 41-58. Leone, Massimo, „The art of trolling“, in: Eva Kimminich & Julius Erdmann (ed.), Virality and Morphogenesis of Right Wing Internet Populism, Frankfurt / Main, Peter Lang, 2017, 163-178. Meibauer, Jörg, „Konzepte des Lügens“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 34, 2, 2015, 175-212. 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Im Falle von offiziellen Korrespondenzen gibt es aber manche ein‐ schränkende bzw. zwingende Faktoren, die die Freiheit des schreibenden Subjekts in seinem Emotionsausdruck beschränken; dazu zählen u. a. der of‐ fizielle bzw. öffentliche Charakter des Schreibens, die soziale Position des Absenders und des Empfängers, und die Einseitigkeit der Korrespondenz bzw. des Schreibens. Der Schreibende muss mit diesen Faktoren rechnen, indem er gleichzeitig sicherstellt, dass sein Rezipient die im Briefe ausgedrückten Emotionen wie erwünscht wahrnimmt und dementsprechend auch reagiert, was eine große Herausforderung darstellt. Mit Rücksicht auf die vom Schreib‐ enden übernommene Position und die Wortwahl können trotzdem in offi‐ ziellen Schreiben sowohl emotionelle Zustände als auch Appelle an den Ad‐ ressaten herausgefunden werden. Einleitung Briefe und offizielle Korrespondenzen haben bislang erstaunlicherweise wenig Berücksichtigung in der Sprachwissenschaft gefunden. Diese Vernachlässigung verwundert, umso mehr als Briefe seit Jahrhunderten zu den Kommunikations‐ gewohnheiten der Menschen immer gehört haben (Nickisch 1991). Wissen‐ schaftliche Untersuchungen, die sich dem Briefwechsel gewidmet haben, be‐ trachten diesen vorwiegen als literarisches Produkt, als sprachliches Kunstgebilde oder als Widerspiegelung einer fiktionalen Darstellung durch den Menschen (z. B.: Nickisch 1991: VI ; Stangl 2012). Einer vorrangigen sprachwis‐ senschaftlichen Ermittlung der offiziellen Briefe steht heute im Wege, dass diese von der neuen elektronischen Kommunikation (E-mails, soziale Netzwerke) aufgrund der schnellen Entwicklung von technologischen Geräten verdrängt zu sein scheint. Dennoch erkennt Zott (2002: 50), dass Brief und Briefwechsel nicht nur verbalsprachlich fixierte Interaktion und iterative Wechselbeziehung sind, sondern auch eine kognitive und emotionale Funktion haben. Emotionen finden also ihre Manifestation erheblich in Sprachhandlungen und gelten somit als unentbehrliche Bestandteile aller verbalen Interaktion, d. h., sie sind von un‐ serem Sprachgebrauch untrennbar (Elouni 2018: 15), werden trotzdem als vor‐ wiegend in mündlichen Interaktionen auftauchende Phänomene betrachtet (Fiehler 1990a; Kallmeyer 1979b; Günthner 1997). Die Beziehung zwischen Sprache und Emotion ist stark theoretisch erläutert (Fiehler 2002), aber die schriftliche Ausdrückbarkeit emotioneller Zustände wird bislang noch kaum sprachwissenschaftlich berücksichtigt, deshalb sind empirische Belege zur Ver‐ anschaulichung dieser Beziehung zwischen Sprache und Emotionen noch re‐ lativ knapp. Wird nun angenommen, dass auch der schriftliche Sprachgebrauch diese emotionelle Prägung nicht entbehren kann, kann auch die Frage aufge‐ griffen werden, wie emotionelle Zustände in offiziellen Korrespondenzen zum Ausdruck gebracht werden. Es bestehen in diesem Falle von offiziellen Briefen einige Zwänge, welche der Schreibende in Kauf zu nehmen hat, will er seine Emotionen gemäß den Normen offizieller Briefe aufzeigen. Trotz einiger zwin‐ genden Faktoren wie Öffentlichkeit des Briefes, anerkannter Position des Ab‐ senders, Einseitigkeit der Kommunikation und Beachtung der stilistischen Normen, die mit offiziellen Briefen verbunden sind, stellt sich dem Schreibenden die Herausforderung, mit Rücksicht darauf einerseits seine Emotionen eindeutig zu reflektieren, andererseits bei dem Empfänger des Briefes die erwünschte Re‐ aktion zu bewirken. Im Folgenden wird zunächst unsere Bestimmung des Aus‐ drucks offizielle Korrespondenz angeführt und danach ein Überblick über die emotionale Prägung des Sprachgebrauchs vorgelegt. Nachdem wir die zwin‐ genden Faktoren in offiziellen Korrespondenzen und die Grundzüge der Posi‐ tionierungstheorie präsentiert haben, wird im Lichte zweier authentischer Kor‐ respondenzen und mit Rücksicht auf diese Positionierungstheorie der Umgang mit emotionellen Zuständen der Absender und mit einschränkenden Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Briefen untersucht. 1 Begriffsbestimmung Briefkommunikation ist seit Jahrhunderten eine Gewohnheit des Menschen. Der Sender verschriftlicht mit dem Brief eine Botschaft bezüglich eines Tatbe‐ standes an einen Empfänger, den er mehr oder weniger kennt, was heißt, dass der Briefwechsel immer eine bestimmte Bekanntschaft mit einer Person und 90 Roland Lakyim einem Problem impliziert (Zott 2002: 48). Da in Briefen der Faktor der Beziehung zwischen den in der Kommunikation involvierten Partnern von großer Bedeu‐ tung ist (Seliverstova 2008: 232), kann diese Art Kommunikation je nach den Beziehungen zwischen Sender und Empfänger informellen oder offiziellen bzw. formellen Charakter aufweisen. Im privaten Brief sollte die Bekanntschaft zwi‐ schen Sender und Empfänger relativ hoch sein. Aufgrund dieser Vertrautheit fühlt sich der Sender von einigen thematischen und stilistischen Zwängen be‐ freit, die mit offiziellem Schreiben verbunden sind. Zott (2002: 48) erkennt fol‐ gende Merkmale im privaten Brief: „Der Inhalt ist nicht streng sachdeterminiert, sondern die Themen wechseln, werden mit unterschiedlicher Gründlichkeit be‐ handelt, sind hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs nur unvollständig kontrol‐ lierbar. Der Privatbriefwechsel kommt spontan zustande und kann in der Regel ohne Zwang abgebrochen werden“. In offiziellen Korrespondenzen wird meistens das besprochen, was in die pri‐ vate Sphäre nicht gehört und in einem offiziellen Brief als Beleg fortbestehen kann. Auch wenn sich der Sender und der Empfänger in einem anderen Kontext schon kennen, kann die Gelegenheit es erfordern, dass die Kommunikation über eine offizielle Korrespondenz erfolgt bzw. erfolgen muss. Zwei Geschäftsleiter, die beispielsweise miteinander zusammenarbeiten und auch miteinander privat vertraut sind, würden nicht aufgrund dieser Vertrautheit offizielle Geschäfts‐ angelegenheiten ausschließlich im Privatgespräch besprechen. Offizielles Schreiben bzw. offizielle Korrespondenz wird in diesem Rahmen als einen Brief bestimmt, der einen Sachverhalt bespricht, der den Sender und Empfänger for‐ mell in Beziehung setzt. Dabei werden einige Schriftnormen beachtet, die die formelle bzw. institutionelle Beziehung zwischen Sender und Empfänger norm‐ gemäß reflektieren, und der Brief hat einen Sachverhalt zum Betreff, der aus dieser offiziellen Beziehung entsteht und nur in diesem Rahmen bestehen kann. 2 Emotionen im Sprachgebrauch Emotionelles Verhalten wird von einer personellen Erfahrung des agierenden Subjekts bewirkt. In der mündlichen direkten Interaktion spiegelt sich die Emo‐ tionen oft durch Mischung von körperlichem Verhalten und spezifischen ver‐ balen Ausdrücken wider. Emotionen sind somit ein Grundkennzeichnen der Subjektivität, welche in jedem Sprachgebrauch auftaucht, wie Elouni (2018: 45) anführt: „La subjectivité est, par ailleurs, inhérente à toute prise de parole“. Einen identischen Standpunkt vertritt Schwarz-Friesel (2008: 277), indem sie bejaht, dass Emotionen einen Großteil unserer Wahrnehmungs-, Denk- und Hand‐ 91 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen lungsprozesse prägen und in nahezu allen Bereichen menschlicher Existenzer‐ fahrung unleugbaren Bestand hat. Emotionen sind für unser Leben deshalb wichtig, weil sie häufig mit persön‐ lich bedeutenden Ereignissen verbunden sind und zudem offensichtlich Einfluss auf unser Benehmen haben (Mau 2009: 7). Da Emotionen sich in unserem Ver‐ halten auswirken, prägen sie auch unseren Sprachgebrauch beträchtlich aus. Schwarz-Friesel (2008: 277) betont die Untrennbarkeit von Sprachverwendung und emotionelle Prägung wie folgt: „Mit sprachlichen Äußerungen werden Emotionen ausgedrückt und benannt, geweckt, intensiviert sowie konstituiert“. Der Emotionsbegriff wird aber nicht immer einheitlich erklärt. Schwarz-Friesel (2008) sieht in den Emotionen ein reaktives Verhalten, wel‐ ches von äußeren Ereignissen verursacht wird und weist darauf hin, dass emo‐ tionelle Zustände von kognitiven Prozessen nicht zu trennen sind. Im Gegensatz zu Weber-Gustav (2009) sieht sie Emotionen als unbewusste Gefühle an und bezieht ferner die Position, dass Emotionen bzw. Gefühle eher spontan vorkom‐ mende Zustände sind, die überhaupt nicht intentional aktivierbar sind. In Über‐ einstimmung mit Hühlshoff (1999: 14) fasst sie die Emotionen auf als „körper‐ lich-seelische Reaktionen, durch die ein Umweltereignis aufgenommen, verarbeitet, klassifiziert und interpretiert wird, wobei eine Bewertung statt‐ findet“ (Schwarz-Friesel 2008: 284). Diese Emotionen würden sich also unab‐ hängig von dem Willen des agierenden Subjekts manifestieren. In ihrer Sicht lässt sich jede Emotion prinzipiell mit den Qualitätseigenschaften positiv (+) oder negativ (-), auf einer Skala zwischen intensiv (+) oder nicht intensiv (-), sowie hinsichtlich der Dauer (permanent) oder (nicht permanent) beschreiben. So gesehen sind Emotionen, die von Schwarz-Friesel (2008: 284) ferner als sub‐ jektive Bewertungen oder Bewertungssysteme betrachtet werden, in emotion‐ ellen Verhalten immer präsent, insofern als alle Geschehnisse, alle Bewusst‐ seinsinhalte von vornherein immer auch angenehm oder unangenehm, interessant oder langweilig, erfreulich oder unerfreulich, mit anderen Worten: durch unsere Gefühle kategorisiert sind (Pöppel 1985). Bevor sie ihre Auffassung des Emotionsbegriffs darlegt, macht Elouni (2018: 15-65) ihrerseits vorerst eine deutliche Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen. Das Gefühl wäre ein innerlicher psychischer Zustand, während die Emotion ein reaktives Benehmen wäre, der von einem äußerlichen Auslöser bewirkt wird. Gefühle wären also in der Auffassung von Elouni (2018) nicht spür- oder wahrnehmbar, was nicht der Fall mit Emotionen ist: „les sentiments n’entrainent aucune manifestation mimo-gestuelle ou comportementale, quant aux émotions, elles sont plutôt verbalisées par l’intermédiaire des gestes et des réactions affectant le comportement extériorisé par le corps“ (Elouni 2018: 54). 92 Roland Lakyim Emotionen und Gefühle existieren aber nicht als unterschiedliche psychische Zustände, die autonom vorkommen und somit voneinander unabhängig sind. Emotionen bestehen eher als eine Reaktion auf einen Sachverhalt, als Äußerung und Versprachlichung eines Gefühls. Das folgende Zitat von Elouni (2018: 58) enthält auch eine implizite Definition von Emotion: „une émotion est constituée par un ensemble de facteurs liés à un déclencheur d’ordre physique ou psychique (par exemple, un événement, une parole heureuse ou malheureuse, un sentiment ou une autre émotion déclencheur, etc.) qui va susciter un besoin de réaction en réponse à ce qui a déclenché l’émotion“. Mit Rücksicht auf die Erläuterung Elounis bezieht sich die Emotion immer auf einen äußeren Sachverhalt, und funktioniert andererseits unter der Steuerung folgender Faktoren: die Intensität, die Qualität, die Dauer, die physische Manifestation. Folgende primäre bzw. Grundemotionen, die von Psychologen anerkannt werden, listet Elouni (2018: 61) auf: Die Angst, der Ärger, der Ekel, die Traurigkeit, die Freude und die Über‐ raschung. Wie auch die Emotionen beschaffen seien, es gibt immer wahrnehmbare Un‐ terschiede in den individuellen Reaktionen der Menschen auf ein- und dasselbe Ereignis, da die Menschen ein Ereignis, ein Verhalten, oder einen Sachverhalt weder gleicherweise auffassen, noch einstimmig bewerten. Es kann auch vor‐ kommen, dass ein Mensch auf ein und dasselbe Ereignis, das mehrmals vor‐ kommt, sehr verschiedenartig reagiert. Mau (2007: 9-11) spricht in dieser Hin‐ sicht von interwie auch intraindividueller Varianz, und erwähnt folgende Kennzeichen für jedes emotionelle Verhalten: • Zeitlichkeit und Dauer. Emotionen sind zeitlich datierte, aktuelle psychi‐ sche Zustände. • Qualität und Intensität. Die Qualität einer Emotion umschreibt deren emotionale Färbung. • Objektgerichtetheit. Emotionen existieren nicht für sich, sondern be‐ ziehen sich immer auf eine Person, ein Ereignis, oder auf einen Gegen‐ stand. • Veränderung der Verhaltensweisen. Subjektive Bewertung eines Ereig‐ nisses führt zu einer wahrnehmbaren Änderung im Verhalten des Sub‐ jekts. Wie dem auch sei, Emotionen entstehen aus der persönlichen Erfahrung des agierenden Subjekts und existieren immer als bewertende Reaktion auf einen äußeren Sachverhalt. Sie sind derart soziale Phänomene, dass wir sie gar nicht haben können, ohne mit anderen Personen darüber im Austausch zu sein (Weber-Guskar 2009: 254). Erst in der Interaktion mit anderen Menschen finden 93 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen Emotionen Gelegenheit für ihren Bestand. Elouni (2018: 67) sieht in der Sprach‐ verwendung ein privilegierter Ort, um subjektive emotionelle Zustände aufzu‐ zeigen: „C’est dans la langue que les êtres humains trouvent le lieu d’expression et de verbalisation de leurs affects et leurs états d’âme. Ainsi, ils cherchent à adapter le comportement discursif à ces situations pour avoir un impact sur le ou le destinataires“. Wird davon ausgegangen, dass jeder Sprachgebrauch po‐ tentiell eine emotionelle Prägung mit sich trägt, kann auch postuliert werden, dass offizielle Korrespondenzen trotz der ihnen inhärenten normativen und sti‐ listischen Zwänge auch ein bestimmtes Maß an Emotionalität tragen können, wie im Folgenden gezeigt werden wird. 3 Zwingende Faktoren bei Emotionsausdruck in öffentlichen Korrespondenzen Wie oben angeführt, können offizielle Briefe zu den folgenden Zwecken verfasst werden: Anfrage, Nachfrage, Beschwerde, Entschuldigung, Dank, Befehl, Er‐ mahnung zum Kauf oder zur Bezahlung, Appel an den Rezipienten usw. Die wechselseitige Abwesenheit von Autor und Empfänger und die räumliche Tren‐ nung sind Grundkennzeichen des Briefes (Zott 2002: 48). Dass der Empfänger aber nicht anwesend ist, löscht nicht die Emotionen aus, die den Absender des Briefs im Schreibprozess begleiten und im Brief ausgedrückt werden müssen. In den Fällen, wo der Absender wegen der Haltung des Empfängers vorher eine unangenehme Erfahrung durchgemacht hat (etwa die verspätete Bezahlung eines Dienstes in Geschäftsbeziehungen oder die Unfähigkeit, als Institution eine Aufgabe zu übernehmen), entsteht in ihm ein emotioneller Zustand mit einer negativen Polarität (wie z. B. Enttäuschung, Ärger, Überraschung), den er im Brief zum Ausdruck bringen muss. In einer offiziellen Korrespondenz müssen aber einige Präsentations- und Schreibnormen beachtet werden. Dies führt dazu, dass der Absender seine Emotionen nicht wie in einem informellen Dialog oder einem inoffiziellen Brief aufzeigen darf. Folgende Faktoren, die der Absender in Erwägung ziehen muss, beschränken seine Freiheit beim Emotionsausdruck: Der offizielle Charakter des Briefes, die Einhaltung der Schreibnormen, die Po‐ sition des Absenders, die Einseitigkeit des Briefes. 3.1 Der offizielle Charakter des Briefes Offizielle Korrespondenzen sollen die Qualität der Beziehung zwischen dem Absender und dem Empfänger anzeigen. Deshalb muss der Absender die Prä‐ sentationsnormen befolgen und darauf achten, dass der Brief alle Teile einer offiziellen Korrespondenz enthält: Den Briefkopf, den Betreff, die korrekte An‐ 94 Roland Lakyim rede, den Brieftext oder den Inhalt, den Briefschluss oder die Grußformel, die Unterschrift. Diese Einteilung ist insofern aufzwingend als jeder dieser Teile nicht nur im Briefe erscheinen muss, sondern auch einige etablierte Konventi‐ onen wie oben angedeutet (Abschn. 1) beachten muss. Die Anredeform, die den Brieftext einführt, deutet schon darauf hin, dass eine formelle Beziehung zwi‐ schen Absender und Empfänger besteht, die sich im Brieftext durch Wortwahl und Schreibstil widerspiegeln wird. Der zwingende Aspekt liegt also darin, dass der Absender diese Normen beachten muss, wie auch seine Emotionen be‐ schaffen seien. Die Intensität, der Grund und die Dauer des Ärgers oder der Enttäuschung des Absenders geben ihm nicht das Recht, die Gestaltungsnormen einer offiziellen Korrespondenz zu ignorieren. 3.2 Einhaltung der Schreibnormen im Brieftext Der Inhalt einer offiziellen Korrespondenz muss gemäß den Schreibnormen of‐ fizieller Briefe verfasst werden. Das heißt, dass die Freiheit, deren sich der Ab‐ sender in einem informellen Gespräch erfreuen würde, von den Schreibnormen offizieller Briefe beschränkt wird. Will man eine Beschwerde, eine Enttäuschung oder eine Aufforderung versprachlichen, muss man damit rechnen, dass der Empfänger nicht da ist, und dass daher kein körperliches Verhalten den Schreiber dabei zum Ausdruck der entstandenen Emotionen verhelfen kann. Der Verfasser steht somit vor einer herausfordernden Aufgabe: Begriffe und einen Schreibstil verwenden, die die offizielle Beschaffenheit der Korrespondenz nicht verbergen und gleichzeitig die durchgemachten Emotionen genau reflektieren. Generell gilt, dass Aufzeigen von emotionellen Zuständen mit negativer Pola‐ rität (wie Ärger, Traurigkeit, Enttäuschung) in offiziellen Briefen immer mit einem Appell an den Rezipienten verbunden ist. Dieser kann dazu aufgefordert werden, eine erwartete Bestellung zu liefern, einen schlechten Dienst zu ver‐ bessern, eine Bezahlung zu erledigen, einen Bericht abzugeben, einen Schaden zu reparieren, usw. Indem er sich vergegenwärtigt, dass er eine offizielle Kor‐ respondenz verfasst, hat der Absender eine Wortwahl zu operieren und einen Schreibstil zu verwenden, die es beim Empfänger bewirken, dass er nach Emp‐ fang des Briefs wie erwartet handelt und somit eine unangenehme Situation repariert oder einen Schaden wieder gut macht. 3.3 Einseitigkeit der Korrespondenz Der Absender einer offiziellen Korrespondenz erwartet nicht immer eine brief‐ liche Rückmeldung des Empfängers. Die Verfassung eines emotionellen Briefes erstrebt in den meisten Fällen, wie bereits angedeutet, eine reparierende Hand‐ lung vonseiten des Empfängers. In vielen Umständen ist ein Briefwechsel nicht 95 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen mehr nötig, so dass der Absender mit einem Rückbrief nicht rechnen soll. Hier haben wir es mit einem Einbahnbrief zu tun, in dem der Absender seine Gefühle äußern und seinen Rezipienten zu einem Verhalten bzw. zu einer Handlung be‐ wegen muss. Mit Einseitigkeit ist also gemeint, dass der Absender vom Emp‐ fänger ein Rückschreiben weder verlangt, noch erwartet. Sei es eine Entschul‐ digung, eine Überraschung, eine Kulanz, oder eine Enttäuschung, diese emotionellen Zustände müssen in diesem unilateralen Brief vorkommen, und zwar derart, dass die Wortwahl und die syntaktischen Konstruktionen dem Schreiber den Eindruck geben, dass er seine Gefühle nicht nur auf eine formelle Weise, sondern auch eindeutig versprachlicht hat. Im Gegensatz zu einem di‐ rekten Gespräch, wo der Sprecher die Auswirkungen seines emotionellen Ver‐ haltens auf seinen Gesprächspartner beobachten kann, hat der Absender des Briefes keine völlige Sicherheit, dass der Rezipient die im Briefe ausgedrückten inneren Zustände so wahrnehmen wird, wie er es wünscht, und noch weniger, dass sein Brief beim Empfänger so wirken wird, wie er es erwartet. Deshalb wird vermutet, dass der Absender nach Verfassung und Versand des Briefes immer mit einem bestimmten Unsicherheitsgefühl bleibt. 3.4 Unsicherheit Unsicherheit entsteht bei dem Verfasser als Folge der Einhaltung der oben er‐ wähnten Zwänge. Dass man alle offiziellen Präsentations- und Schreibnormen einer Korrespondenz beachtet, kann einen nur selten mit einem Sicherheitsge‐ fühl lassen, was das Verständnis der schriftlich ausgedrückten Emotionen an‐ geht. In vielen Fällen kann der Schreibende nicht völlig sicher sein, ob der Brief so verstanden sein wird, wie er es meinte oder ob der Rezipient so agieren wird, wie der Absender es möchte oder erwartet. Emotionelle Zustände eines Dritten zu begreifen heißt auch, dass man den Grund und den Ursprung dieses Zu‐ standes wohl erkennt, und dass man auch einen identischen Emotionszustand erfahren hat. Weber-Guskar (2009: 79) weist darauf hin, dass für das Verstehen von Gefühlen anderer Personen nicht nur vergleichbare Erfahrungen not‐ wendig sind, „sondern ein Erkennen von Ähnlichkeit der Erfahrung des An‐ deren mit einer eigenen. Man muss weder im Moment das Gleiche fühlen noch in der Vergangenheit das Gleiche gefühlt haben, man muss nur eine vergleich‐ bare Gefühlserfahrung gemacht haben“. Die die Emotionen des anderen verste‐ hende Person muss also nicht das gleiche durchlebt haben, sondern auch im Moment des Verstehens auch die einst persönlich erlebten Emotionen wieder erkennen. In formellen einseitigen Korrespondenzen gibt es keinen Grund, der von vornherein gewährleistet, dass die vom Empfänger erlebte Erfahrungen ihm erlauben werden, den inneren Zustand des Autors angemessen zu begreifen und 96 Roland Lakyim daraufhin auch so handeln, wie der Absender möchte. Daher kann vermutet werden, dass einseitige und emotionsgeprägte offizielle Briefe fast immer mit einem Unsicherheitsgrad einhergehen. 4 Positionierung in der Korrespondenz Die Anhänger der Positionierungstheorie wie Van Lagenhove / Harré (1998) und Lucius-Hoene / Deppermann (2004) sind der Meinung, dass jede verbale Inter‐ aktion mit Positionierungsakten einhergeht. Der Sprecher schreibt sich im Ge‐ spräch eine bestimmte Identität zu, mit der bestimmte Rollen und Eigenschaften verbunden sind. Gleichzeitig sieht der Sprecher in seinem Gesprächspartner eine gewisse Identität, welche sich im Laufe der vorliegenden Interaktion ent‐ wickelt und allmählich bestätigt. Die Positionierungstheorie fokussiert also die‐ jenigen Aspekte sprachlicher Handlungen, mit denen ein Sprecher sich in einer Interaktion zu einer sozial bestimmbaren Person macht, d. h. eine bestimmte Position im Gesprächskontext für sich in Anspruch nimmt und mit denen er dem Interaktionspartner eine Rolle und eine Stelle im Gespräch zuschreibt. Die Rollen, Attribute und Eigenschaften, die jeder Gesprächsteilnehmer für sich nimmt oder seinem Gesprächspartner verleiht, sollen in jedem Gesprächskon‐ text als eigene oder fremde Positionen gelten. Van Lagenhove / Harré (1998: 17) verstehen unter Positionierung „a metaphorical concept through reference to which a person’s moral and personal attributes as a speaker are compendiously collected. One can position oneself as e. g., powerful or powerless, confident or apologetic, dominant or submissive, definitive or tentative, authorized or un‐ authorized, and so on“. Erst die Art und Weise, wie sich jeder Sprecher positio‐ niert, steuert den Sprachgebrauch von jedem Gesprächsteilnehmer in der ver‐ balen Interaktion, was denn heißt, dass Zuschreibung von eigenen und fremden Rollen und Eigenschaften über die Sprachverwendung durchgeführt wird, wie Moghaddam / Harré (2010: 3) erklären: „It is with words that we ascribe rights and claim them for ourselves and place duties on others“. Im Rahmen einer offiziellen Korrespondenz sollte also die eigene Position des Verfassers seinen Sprachgebrauch in seinem Emotionsausdruck lenken. Je nachdem, ob er sich als autoritäre Person, als Vorgesetzter, als Beleidigter, oder als Opfer eines unangemessenen Verhaltens betrachtet, soll der Verfasser Wörter auswählen, die seine Position aufzeigen. Gleiches gilt für die Position, die er dem Empfänger des Briefes bei der Verfassung des Briefes zuschreibt. Appelle an den Adressaten der Korrespondenzen werden also damit zusam‐ menhängen, welche Rollen, Pflichten und Aufgaben vom Briefempfänger er‐ wartet werden. 97 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen Im Folgenden soll nun an zwei Beispielen veranschaulicht werden, wie jeder Absender bei offizieller Korrespondenz mit den normativen Zwängen umgeht, und zugleich auch mit Rücksicht auf seine eigene und auf die fremde Position seine emotionellen Zustände aufzuzeigen versucht. 5 Beispielfall zweier emotions- und positionierungsgeprägter offizieller Korrespondenzen Mit den zwei folgenden Beispielfällen wird nun der Versuch unternommen zu erläutern, wie die Absender mit ihren emotionellen Zuständen in offiziellen Briefen positionsmäßig umgehen. Hier wird davon ausgegangen, dass emoti‐ onsgeprägte Korrespondenzen schon Hinweise auf den Anlass bzw. die Ursache für den emotionalen Zustand enthalten. Deshalb wird vermutet, dass sich in diesen Briefen die Ursache des emotionellen Zustandes des Verfassers so wie die sprachlichen Manifestationen dieser Emotionen mit Blick auf die verschiedenen Positionen herausfinden lassen. Folgende Faktoren werden bei der Analyse in folgenden Fallbeispielen berücksichtigt: • Ursache des Emotionszustandes; • Expliziter oder Impliziter Einsatz der Position im Schreiben; • Auf Emotion hinweisende Sätze und Ausdrücke und Erläuterung der vor‐ liegenden Emotion mit Rücksicht auf sprachliche Zwänge bzw. Restrik‐ tionen; • Expliziter oder impliziter Appell an den Rezipienten. Es geht um authentische Briefe. Verändert wurden hierbei aus Vertraulichkeits‐ gründen alle Namen, Adressen, oder Angaben, die auf real existierende Per‐ sonen oder Institutionen verweisen, oder die irgendwelchen Bezug zu den Ab‐ sendern und Empfängern der jeweiligen Korrespondenzen zeigen könnten. Diese wurden mit Buchstaben und Sternchen ersetzt. Außer den versteckten privaten Angaben wird der Inhalt der Briefe unverändert wiedergegeben. 98 Roland Lakyim J* S*, B*Straße 40, 75431 G* Bundesdienst für B* Leiter Herr E* D* A*Straße 34 10556 D* P*, 14.08.2010 Beschwerde bezüglich des schlechten Sommerwetters 2010 Sehr geehrter Herr Erhardt Dürer, Ich sehe mich veranlasst, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass durch den dauerhaften Einsatz der NATO-Tankflugzeuge mit dem Ausbringen von hochgiftigen Chemikalien und Schwermetallen im Nanobereich, u.a. über dem Luftraum der Bundesrepublik Deutschland das Wetter sich dramatisch zum Negativen verändert hat. Sie wissen ja selbst, dass der sogenannte Klimawandel eine Fälschung ist und die USA unter dem „Programm W* f* 2025“ unser Wetter bereits massiv beeinflussen. Im Rahmen Ihrer geschäftsführenden Tätigkeit fordere ich Sie daher höflich auf sich einmal ernsthaft um diese Angelegenheit zu bemühen - leere Worte kommen bei uns Bürgern nicht mehr an. Sobald wir eine Veränderung zum Besseren feststellen, sehen wir einen Beweis zumindest für Ihren guten Willen. Mit freundlichen Grüßen J* S* Bei diesem ersten Fallbeispiel handelt es sich um einen Brief an den Leiter eines Bundesdienstes, in dessen Inhalt der Absender seine Abneigung gegen einen festgelegten Klimawandel thematisiert. Schon der Betreff des Briefs, eine Be‐ schwerde bezüglich eines schlechten Wetters, deutet darauf hin, dass der Ab‐ sender eine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen möchte, und dass der Brief‐ inhalt deshalb emotional geprägt ist. Der Absender zögert nicht, schon im einführenden Abschnitt den Grund für seine Unzufriedenheit aufzuzeigen: Die Verschlechterung des Klimas. Dass er mit der formellen brieflichen Formel Ich sehe mich veranlasst anfängt, deutet darauf hin, dass er trotzt seines inneren emotionalen Zustands die Normen von offiziellen Briefen einhält bzw. einhalten möchte. An diesem einführenden Abschnitt ist abzulesen, dass der Absender sich als ein Umweltfreund positioniert, also als ein Mensch, dem der Leiter des Dienstes für Umweltschutz Rechenschaft über den festgelegten Klimawandel, der von dem US -amerikanischen Programm W* f* 2025 verursacht wird, ablegen muss. Im Nachhinein positioniert er den Empfänger als denjenigen, der dafür zuständig ist, Maßnahmen gegen diese unerwünschte Situation zu treffen und fordert diesen gleichzeitig dazu auf, dementsprechend zu handeln. Bei dieser 99 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen Fremdpositionierung verwendet er eine ausdrückliche Höflichkeitsformel (for‐ dere ich Sie daher höflich auf), um den Anforderungen der formellen Korres‐ pondenz nochmals gerecht zu werden. Desungeachtet ist der darauffolgende Satz stark emotional geprägt: leere Worte kommen bei uns Bürgern nicht an. Dieser Satz weist implizit darauf hin, dass das Problem des Klimawandels nicht zum ersten Mal vom Absender und Empfänger besprochen wird und wahr‐ scheinlich in anderen Situationen erwähnt wurde, wo der Empfänger sich mit Argumenten verteidigt hat, die der Absender als leere Worte bezeichnet. Dies lässt also vermuten, dass der Briefempfänger vorher mehrere Versprechen be‐ züglich des Klimaschutzes gemacht hat, die er nicht halten konnte bzw. wollte. Wegen des offiziellen Charakters des Briefes möchte der Absender etwa nicht sagen: Wir haben genug davon, belogen zu werden! Oder: Ihre Lügen können wir nicht mehr aushalten! An diesem Brief können gemäß der Einstufung von Elouni (2018: 61) drei emotionale Zustände vonseiten des Absenders geortet werden: Überraschung, Ärger und Ekel. Die Überraschung entsteht daher, dass der Bundesdienst, der für Umweltschutz zuständig ist, seine Aufgaben nicht erfüllt hat, d. h., der Dienst hat nicht dafür gesorgt, dass der Luftraum der Bundesrepublik Deutschlands gegen Chemikalien und Schwermetallen geschützt wird. Diese Überraschung wird zu einer Enttäuschung bei dem Absender, der sich deshalb als Umwelt‐ freund über diese Situation ärgern muss. Dieser Ärger bewegt ihn dazu, seinen Ekel, also seine Abneigung gegen die Schädigung des Klimas in einem offiziellen Brief auszudrücken, da er diese Schädigung repariert haben möchte. Diese Emotionen sind nur implizit und mit Rücksicht auf die Normen von offiziellen Korrespondenzen ausgedrückt: Briefteile sind sichtbar, die offiziellen Anredeform (Sie) wird benutzt und der Absender ist ständig bemüht, sich höflich auszudrücken. Wollte der Absender seine Gefühle ausdrücklich etwa mit einem Satz wie: wir sind enttäuscht und haben genug von Ihren Lügen zeigen, würde er also die stilistischen Normen offizieller Korrespondenzen offenkundig ver‐ letzen. Nichts zeigt im Brief, dass der Absender eine briefliche Rückmeldung vom Rezipienten erwartet, deshalb kann diese Korrespondenz als einseitige Korres‐ pondenz angesehen werden. Hingegen endet der Brief mit einer Erinnerung an einen vorher formulierten Appell an den Empfänger: Dieser soll angesichts seiner Position dafür sorgen, dass die unerwünschte Klimaveränderung ge‐ stoppt und repariert wird, sonst bliebe der Absender in seinem Enttäuschungs‐ gefühl. Die abschließende Formulierung: Sobald wir eine Veränderung zum Bes‐ seren feststellen spiegelt das Unsicherheitsgefühl wider, mit dem der Schreiber nach Absenden des Briefs zu bleiben hat. Einerseits kann er nur vermuten, dass 100 Roland Lakyim der Briefempfänger die Enttäuschung, den Ärger und die Abneigung gegen den negativen Klimawandel, genauso wie den Grad dieser Emotionen verstanden hat, die dem Absender beim Schreiben des Briefs begleitet haben, andererseits bleibt er mit der Hoffnung, dass der Leiters des Bundesdienstes sich darum be‐ mühen wird, Maßnahmen gegen diese Verschlechterung des Klimas, deren Ur‐ sachen er (der Absender) klar erwähnt hat, zu treffen, damit sich eine positive Veränderung manifestiert. Bei folgendem Beispiel wird eine Vorhaltung mit Rücksicht auf stilistische Briefnormen ausgedrückt. J* S*, B*Straße 40, 75431 G* Bundesdienst für B* Leiter Herr E* D* A*Straße 34 10556 D* P*, 14.08.2010 Beschwerde bezüglich des schlechten Sommerwetters 2010 Sehr geehrter Herr Erhardt Dürer, Ich sehe mich veranlasst, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass durch den dauerhaften Einsatz der NATO-Tankflugzeuge mit dem Ausbringen von hochgiftigen Chemikalien und Schwermetallen im Nanobereich, u.a. über dem Luftraum der Bundesrepublik Deutschland das Wetter sich dramatisch zum Negativen verändert hat. Sie wissen ja selbst, dass der sogenannte Klimawandel eine Fälschung ist und die USA unter dem „Programm W* f* 2025“ unser Wetter bereits massiv beeinflussen. Im Rahmen Ihrer geschäftsführenden Tätigkeit fordere ich Sie daher höflich auf sich einmal ernsthaft um diese Angelegenheit zu bemühen - leere Worte kommen bei uns Bürgern nicht mehr an. Sobald wir eine Veränderung zum Besseren feststellen, sehen wir einen Beweis zumindest für Ihren guten Willen. Mit freundlichen Grüßen J* S* Bereits im ersten Abschnitt lässt der Schreiber aufkommen, was er über dieses Bundesamt denkt: Eine wichtige Institution, die das Verständnis demokratischer Werte fördert. Mit dieser Bewertung schreibt der Absender dem Empfänger eine Position und eine Rolle zu: Die Förderung des Verständnisses demokratischer Werte. Diese einführende und auch höfliche Hochachtung zeugt gleichzeitig vom Willen des Schreibers, stilistische Normen der offiziellen Korrespondenz einzuhalten und also nicht unhöflich auszusehen. Er muss leider darauffolgend feststellen, dass das Bundesamt seine Rolle nicht eingehalten hat. Das produ‐ 101 Einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen zierte Begleitheft zum Drehen eines Films entspricht nicht, so der Absender, den Prinzipien und Zielen von diesem Bundesamt. Der Absender übernimmt hier die Position des Beurteilers dieses Begleithefts und zeigt deshalb dessen Mängel auf: Der palästinensische Selbstmordterrorismus werde nicht eindeutig diskre‐ ditiert, die Komplexität des israelisch-arabischen Konflikts werde nicht in An‐ spruch genommen, der Film sei nicht genug dokumentiert, und Schuldzuwei‐ sungen seien in diesem Begleitheft einseitig. Die Mängel des Begleithefts seien derart auffällig, dass er seine Kritiken mit einem abschließenden Urteil anfängt: Die Chance sei bedauerlicherweise versäumt, eine tiefgreifende Diskussion über den Nahostkonflikt anzustiften. Diese Unzulänglichkeiten des Begleithefts haben also zur Versäumung dieser Chance geführt, welche wiederum bei dem Absender bestimmte Emotionen bei dem Absender erregt hat. Es zeichnen sich in dieser Korrespondenz zwei Gefühlstypen ab, die gleichzeitig den inneren Zu‐ stand des Schreibers ans Licht bringen: Überraschung und Ekel. Der Absender drückt diese Überraschung in Form von impliziter Enttäuschung aus, die ihren Grund in den Mängeln des Begleitheftes zum Drehen des Films N* w* findet. Die anscheinend große Anzahl der Kritiken, die sich im Brief über zwei Ab‐ schnitte erstrecken, gibt auch vermutlich Hinweise über den Grad der Enttäu‐ schung vom Absender, die er aufgrund des offiziellen Charakters des Briefes nur sittlich zum Ausdruck bringen muss. Aus dieser Enttäuschung entsteht also ein anderer Emotionstyp, nämlich der Ekel. Dies veranlasst den Absender dazu, seine Abneigung gegen das erwähnte Begleitheft formell und implizit zu zeigen. Diese Abneigung gegen das Begleitheft lässt sich auch in dem abschließenden Urteil im letzten Abschnitt feststellen: Das Begleitheft sei kontraproduktiv. Einseitigkeit der Kommunikation kann man dadurch feststellen, dass der Schreiber vom Empfänger keine briefliche Antwort verlangt. Mithilfe der höf‐ lichen Formel kann ich nur herzlich bitten, die seine Neigung zum Respekt der Zwänge von offiziellen Briefen aufzeigt, formuliert der Absender einen Appell an den Rezipienten, der darin besteht, den Vertrieb der Materialien zum Drehen des Films einzustellen. Der Gebrauch des Verbs bitten in diesem Appell weist auf den Erwartungszustand hin, in dem sich der Schreiber am Ende des Briefes befindet. Nichts deutet darauf hin, dass der Empfänger zweifelsohne so handeln wird, wie es der Schreiber erwartet, was das Unsicherheitsgefühl des Senders begründen soll. Der Schreiber kann nur hoffen, dass der Empfänger seine Ent‐ täuschung so nachvollzogen hat, wie er wünscht und auch deshalb gemäß seinen Erwartungen reagieren wird. 102 Roland Lakyim 6 Schluss Emotionszustände werden in diesen beiden Fallbeispielen von der Nichteinhal‐ tung der positionellen Aufgaben jedes Rezipienten ausgelöst. D. h., der Rezipient hat vorher kraft seiner Position nicht so gehandelt wie von ihm erwartet wäre. Er hat seine Aufgabe nicht erfüllt, was eine emotionelle Reaktion bewirkt hat, die der Absender auf offizielle Weise verschriftlicht hat. Der offizielle Charakter wird in diesem Prozess beibehalten bzw. berücksichtigt. Da die Freiheit des Ab‐ senders eingeschränkt wird, hat er also in einem offiziellen Stil seine Emotionen zu zeigen, wie groß ihr Grad auch sei. Was er körperlich, prosodisch oder um‐ gangssprachlich nicht aufzeigen kann, muss der Schreiber in offiziellen Worten und in impliziten Anspielungen packen, und die Enthüllung des wahren Grades seiner Emotionen dem Adressaten überlassen, da er aufgrund der Einseitigkeit dieser Kommunikation mit der brieflichen Erwiderung des Empfängers nicht rechnen soll. Offizielle Briefe enthalten also ein hohes Potenzial impliziter An‐ spielungen auf Emotion. Ferner konnte etabliert werden, dass eine Emotion eine andere auslösen kann. Aus der Überraschung entsteht Ärger, der wiederum zum Ekel, also zur Abneigung gegen einen Sachverhalt führen kann. Emotionelle Zustände sind also voneinander nicht stringent abzutrennen. 7 Literatur Elouni, Najeh, Etude de quelques formes d’expression des émotions et des sentiments dans le contexte des nouvelles formes de communication. Thèse de doctorat de l’Université de Bourgogne Franche-Comté, 2018. Fiehler, Reinhardt, Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Unter‐ suchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion, Berlin, De Gruyter, 1990a. Günthner, Susanne, „The contextualization of affect in reported dialogues”, in: S. Nie‐ meier / R. Dirven (ed.), The language of emotions. Conceptualization, expression, and theoretical foundation, Amsterdam / Philadelphia, John Benjamins, 1997, 247-275. Hühlshoff, Thomas, Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische pädago‐ gische und soziale Berufe, Stuttgart, UTB, 1999. 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Es stellt sich die Frage, ob diese Ausdrücke tatsächlich freie Wörter darstellen und falls ja, wie sich die Entwicklung vom gebundenen zum freien Morphem vollzogen hat. Vor allem im Fall von bio gehen die Meinungen zum Wortstatus in der Forschung auseinander. So argumentiert zum Beispiel Scheller-Boltz (2008) gegen einen Wortstatus von bio, Gehlen (2016) hingegen dafür. Beide Ansätze werden im Folgenden kritisch beleuchtet, bevor im Anschluss kor‐ pusbasierte sowie experimentelle Daten vorgelegt werden, die zeigen, dass sich bio und super in der Tat von gebundenen zu freien Morphemen entwickelt und dabei einen Prozess semantischer Verengung und Konkretisierung durchlaufen haben, an dessen Ende wertende Ausdrücke stehen. 1 Einleitung Wer sich positiv oder negativ über einen bestimmten Gesprächsgegenstand äußert, braucht dafür mitunter expressive, wertende Wörter, um die entsprech‐ enden Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Viele solcher Wörter sind modische Erscheinungen, jede Generation hat ihre eigenen: Die einen fanden fabelhaft oder grandios, was andere knorke und dufte fanden. Cool, scheiße, oder mega wurden allesamt von ihren jeweiligen Sprechergemeinschaften zu expressiven Spracheinheiten auserkoren. Die Abnutzung solcher expressiven Wörter führt dazu, dass immer wieder Bedarf an frischen expressiven Lexemen besteht (cf. 1 An dieser Stelle sei auf die Anmerkung eines Gutachters hingewiesen, dass sich die jeweiligen Arten der Wertung unterscheiden: „(3a) ist intrinsisch wertend, rein ex‐ pressiv. (3b) hat m. E. eine wertende und eine nicht-wertende Bedeutungskomponente. (3c) ist per se nicht wertend, wird aber im außersprachlichen Kontext valorisiert.“ Ich teile diese Einschätzung mit Ausnahme der Ausführungen zu (3c). Auch wenn die Be‐ deutung von bio nicht an sich wertend ist, so wird es de facto stets wertend verwendet. Schon das gebundene biohat diese Funktion bzw. Konnotation in bestimmten Kon‐ texten (Biobanane, Biofleisch). Das freie Element hat sich dann als solches etabliert, gerade weil es diese Konnotation zwingend transportiert. 2 Mit bio/ super sind jeweils freie, mit bio-/ supergebundene sowie mit bio(-)/ super(-) beide Varianten gemeinsam gemeint. Biedermann 1969: 126 sq., Bolinger 1972: 18). In diesem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, wie sich eine ganz bestimmte Gruppe solcher neuen Wörter aus gebundenen Morphemen entwickelt hat. 2 Hintergrund Super und bio sind nur zwei Beispiele für ehemals gebundene Morpheme des Deutschen, die sich zu freien Lexemen entwickelt zu haben scheinen. Die erste Besonderheit, die bei näherem Betrachten dieser neuen Wörter auffällt, ist, dass sie als freie Varianten nicht mehr in gleicher Weise in allen Kontexten verwendet werden können wie ihre gebundenen Pendants (2b): (1) a. Das ist ein Superzeugnis. b. Das Zeugnis ist super. (2) a. Das ist ein Superstau. b. #Der Stau ist super. Die zweite Besonderheit, die sich beobachten lässt, ist, dass die freien Elemente allesamt wertende Ausdrücke sind, die eine Sprecherevaluation zum Ausdruck bringen: (3) a. Die Party war mega. b. Du bist immer so anti. c. Die Tomaten sind bio. Diese Wertung kann subjektives Gefallen zum Ausdruck bringen, wie in (1a) und (3a), subjektives Missfallen wie in (3b) oder auf anderen Kriterien basierende Wertungen, wie z. B. die umwelt-ethische respektive gesundheitliche Bewer‐ tung der Tomaten in (3c). Auch gebundene Varianten können in subjektiv wer‐ tenden Kontexten auftreten (1a), sind allerdings nicht auf diese beschränkt (2a). 1 Auf Basis korpusbasierter sowie experimenteller Daten wird im Folgenden am Beispiel von bio(-)  2 und super(-) dargelegt, inwiefern der morphologische 106 Fabian Ehrmantraut 3 Viele Beispiele in diesem Text sind Belege aus Korpus-Suchanfragen vom 04. 09. 2019 (super) bzw. 13. 01. 2018 (bio) mit Cosmas-II im Korpus W-ohneWikipedia-öffentlich - alle öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen, ohne Wikipedia), im Fol‐ genden Gesamtkorpus genannt, durchgeführt (IQ1). URLs sind am Ende des Aufsatzes aufgelistet und im Fließtext mit IQ gekennzeichnet. 4 In Klammern findet sich stets die im Korpus angegeben Signatur. Wandel dieser Elemente mit einer semantischen Verengung und Konkretisie‐ rung einhergeht, an deren Ende expressive, wertende Ausdrücke stehen. 3 Morphologischer Wandel - Ja oder Nein? Zunächst soll die Frage erörtert werden, ob es sich bei diesen neuen Elementen um eigenständige freie Lexeme handelt oder nicht. 3.1 Super(-) Im Falle von super ist die Antwort wenig kontrovers. Das Adjektiv ist im Deut‐ schen etabliert und wird prädikativ (4a), attributiv (4b) und adverbial (4c), also in allen drei adjektivischen Gebrauchstypen verwendet: 3 (4) a. Es war super! (A98 / JUL.47 183) 4 b. Das ist eine super Sache! (BRZ07 / MAI.14 609) c. René hat super gespielt. (HMP07 / SEP.00 218) Es stammt vom gebundenen Affix superab, welches wiederum in lateinischen Fremdwörtern Einzug ins Deutsche gefunden hat: LAff ‛übergeordnet’, z. B. Superordination; ‛sehr groß’, z. B. Superlativ; und ‛großartig, fantastisch’, z. B. superklug, häufig ironisch std. (-) Das Affix wurde in lateinischen Entlehnungen ins Deutsche übernommen; sein Ur‐ sprung ist das lateinische Adverb super ‛oben, darüber, von oben herab, über sich, über … hinaus, jenseits’. Auch umgangssprachlich produktiv. (Kluge 2012) Später hat es sich dann emanzipiert und vermutlich auch unter dem Einfluss größerer Präsenz amerikanisch-englischer Sprache nach dem zweiten Weltkrieg (cf. Kirkness 1978) zu einem produktiven, positiv wertenden Ausdruck entwi‐ ckelt. Früheste Belege für das gebundene Element superreichen bis ins 16. Jahrhundert zurück (cf. ebd.). Auch das freie super ist im Deutschen schon einige Zeit vertreten, so findet sich der früheste Beleg im Gesamtkorpus bereits 1964: (5) [I]hre Hüte […] sind „super“. (Z64 / APR.00 092) Wie in Schaubild 1 deutlich wird, ist die Frequenz von super seitdem kontinu‐ ierlich angestiegen: 107 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 5 Suchanfragen vom 20. 12. 2020 mit Cosmas-IIim Gesamtkorpus sowie dem Teilkorpus Spiegel, (Texte des Magazins Der Spiegel von 1947-2019). Schaubild 1: Frequenz super (pro Million Wörter) Für die Untersuchung der Häufigkeitsentwicklung wurden zwei verschiedene Korpora gewählt: das Gesamtkorpus sowie Der Spiegel. 5 Das Gesamtkorpus be‐ steht aus einer Vielzahl von Texten verschiedener Textsorten und Jahrgänge, wie Zeitungsartikeln, Plenarprotokollen, Chats u. a. Dementsprechend lässt sich hier die diachrone Entwicklung gut nachvollziehen. Leider ist die Zusammen‐ setzung des Korpus in einzelnen Jahrgängen bezüglich der Verhältnisse der ver‐ schiedenen Textsorten nicht konstant. Die Vielfalt der Textsorten nimmt in spä‐ teren Jahren zu, was den Anstieg der relativen Häufigkeit eines Ausdrucks im Korpus natürlich beeinflusst, wenn er in verschiedenen Textsorten unterschied‐ lich frequent ist. Um zu verhindern, dass ein falscher Eindruck des Produktivi‐ tätsverlaufs von super entsteht wurde die gleiche Suchanfrage im Teilkorpus Der Spiegel durchgeführt, das nur aus einer Textsorte - oder zumindest einer Gruppe von verwandten Textsorten wie Artikel, Reportage, Kommentar etc. - besteht. Auch dort zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Produktivität (cf. Schau‐ bild 1). Super wird auch in nominaler Funktion in Eigennamen und als Bezeichnung für Treibstoff verwendet. In dieser Arbeit steht jedoch die adjektivische Ver‐ wendung im Fokus. Deshalb wurden beide Suchanfragen zusätzlich für klein‐ geschriebene Varianten durchgeführt. Hier verzeichnet man ebenfalls einen deutlichen Anstieg der Produktivität. Es lässt sich also an dieser Stelle zusam‐ 108 Fabian Ehrmantraut 6 Eine umfassendere Auseinandersetzung mit den beiden Aufsätzen ist in Ehrmantraut (2021) zu finden. menfassen, dass super als sprachlich eigenständiges Element seit den 60er-Jahren sowohl in nominaler als auch in adjektivischer Funktion stetig pro‐ duktiver wurde und sich im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert hat. 3.2 Bio(-) Bioist ein im Deutschen sehr produktives Element, das im Allgemeinen der Klasse der Konfixe zugeteilt wird (cf. Donalies, 2005: 179, Elsen, 2005: 135-137, Fleischer & Barz, 2012: 111 sq., Grimm, 1997: 277, Michel, 2009: 129, Scheller-Boltz, 2008: 243, Schmidt, 1987: 51). Ursprünglich wurde es in Lehn‐ wörtern griechischen Ursprungs ins Deutsche eingeführt, hat sich aber mittler‐ weile zu einem auch in der deutschen Wortbildung produktiven, eigenständigen Morphem entwickelt: bio- LAff ‛Leben, (Natur)’ (z. B. Biographie ‛Schrift über das Leben einer Person’); ‛naturbelassen’ (z. B. Bio -Äpfel ). std. (-). Das Element geht auf gr. bíos ‛Leben’ zurück und wurde zunächst in Wörtern griechischer Herkunft ins Deutsche entlehnt. Häu‐ figere Verwendung in neoklassischen Bildungen; in der Gegenwartssprache stark he‐ rangezogen, um naturbelassene, umweltfreundliche Verfahren und Produkte zu be‐ zeichnen. (Kluge 2012) Das freie Auftreten von bio ist ein durchaus bekanntes Phänomen. Schon Olt (1983: 64 f), der immer häufiger auftretende hybriden Komposita mit biobe‐ leuchtet, diskutiert erste freie Belege. Der Wortstatus von bio wird im Gegensatz zu dem von super allerdings kontrovers diskutiert: So werfen z. B. Elsen (2005: 135) und Donalies (2005: 49) anhand von bio die Frage auf, ab wann solche Ein‐ heiten als freie Lexeme aufzufassen sind. Am ausführlichsten beschäftigen sich damit jedoch Gehlen (2016) und Scheller-Boltz (2008). Bevor ich meinen eigenen Erklärungsversuch für dieses sprachliche Phänomen anstelle, möchte ich die zwei Aufsätze hier kurz besprechen. 6 Scheller-Boltz (2008: 244) stellt einige Wortspezifika auf, die ein freies Lexem erfüllen muss, um als solches gelten zu können. Zwei davon erfüllt bio ihm zufolge nicht: Das erste Kriterium ist das der Basisfähigkeit, welches häufig zur Charakterisierung von freien Lexemen herangezogen wird, jedoch entgegen der Behauptungen Scheller-Boltz‘ nicht allen freien Lexemen zugeschrieben werden kann (z. B. Wörtern wie hallo, heute, ja, etc.). Dementsprechend wäre eine nicht vorhandene Basisfähigkeit noch kein Grund, bio den Wortstatus abzusprechen. Zudem gibt es durchaus Belege, die bio als Basis in Derivationen zeigen: 109 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 7 Alle Belege in (8) stammen aus Scheller-Boltz (2008: 251-252). (6) Wir sind ja heute schon ziemlich bio, und wir werden immer bioer. (PRF15 / AUG.00 209). (7) Ich war früher auch so ökomäßig drauf. […] Ich glaube, das liegt einfach so in der Natur der Sache, dass die junge Mutter zum Biotum neigt. (T10 / OKT.02 154) Auch wenn solche Bildungen sicher als okkasionell einzustufen sind, zeigen sie doch, dass bio zumindest potenziell basisfähig ist. Scheller-Boltz (2008: 247) räumt selbst ein, dass nicht alle Wörter alle von ihm aufgestellten Wortspezifika erfüllen müssen. Er sieht den Wortstatus von bio weniger durch die vermeintlich fehlende Basisfähigkeit in Frage gestellt als vielmehr durch bestimmte semantische Probleme: „Die Zuordnung einer sprachlichen Einheit zur Kategorie Wort wird primär durch zwei Spezifika be‐ stimmt: ihre Selbstständigkeit und ihre lexikalische Bedeutung“ (Scheller-Boltz 2008: 249). Bio ließe sich zwar durchaus eine „gewisse lexikalische, somit eine im Lexikon kodifizierte Bedeutung“ (Scheller-Boltz 2008: 250) zuordnen, diese sei jedoch nicht unabhängig, sondern bloß kontextuell abhängig definierbar: Das Wortbildungselement funktioniert vielmehr synsemantisch und hat dementspre‐ chend auch eher determinierenden Charakter. In der Konsequenz realisiert Bio / bio allein, ohne Kontext und ohne Sprechsituation, keine konkrete Bedeutung. (Scheller Boltz 2008: 251) Damit ist für Scheller-Boltz das zweite seiner zentralen Wortspezifika nicht er‐ füllt. Im Zuge der Diskussion der Korpusstudie sowie der experimentellen Studie unten wird sich zeigen, dass diese Behauptung insofern problematisch ist, als sie nur auf das Konfix bio-, nicht aber auf das freie Lexem bio zutrifft, welches seine Bedeutung nämlich nicht je nach Kontext variiert, sondern im Gegenteil durch seine Bedeutung auf bestimmte Kontexte beschränkt ist. Scheller-Boltz kommt letztlich zu dem Schluss, dass es sich bei Bio in nominaler Verwendung wie in (8a) und (8b) um ein Kurzwort für Bioprodukte handelt, analog zu Bio für Biologieunterricht (cf. Scheller-Boltz 2008: 254). Genauso handelt es sich ihm zufolge bei der adjektivischen Verwendung von bio wie in (8c) um ein Kurzwort für das Syntagma aus biologischem Anbau ohne chemische Zusatzstoffe. Die „Hauptbedeutung“ (Scheller-Boltz 2008: 251 sq.) besteht für ihn dabei jeweils in Produkt bzw. produziert: 7 110 Fabian Ehrmantraut (8) a. Neu ab Mai gibt’s hier Bio! (Werbung von BioFrischemarkt) b. Ich kaufe nur noch Bio. c. Hieß es nicht immer, bei teurem Wein sei es egal, ob er ›bio‹ sei oder nicht? Scheller-Boltz’ Vorgehen ist jedoch in mehrfacher Hinsicht unsystematisch. Zu‐ nächst wählt er nur einige wenige Beispiele aus, um seine These zu bestätigen. Diese Beispiele stammen dabei überwiegend aus problematischen Texttypen wie Schlagzeilen oder Werbeslogans, die häufig syntaktisch und semantisch an‐ deren Gesetzmäßigkeiten folgen (cf. Wir sind Papst ( IQ 2), Wohnst du noch oder lebst du schon? ( IQ 3)). Es lassen sich außerdem einfach Belege finden, die durch die Kurzwortanalyse nicht erklärbar sind. Bio und bio repräsentieren keineswegs in allen Fällen die vorgeschlagenen Vollformen: (9) a. Bio also. Ein Megatrend, wie man das nennt. Wir sind ja heute schon ziemlich bio, und wir werden immer bioer. […] Wirklich bio ist, wer da noch durchsteigt. (PRF15 / AUG.00 209) b. Bioprodukte also. Ein Megatrend, wie man das nennt. Wir sind ja heute schon ziemlich aus biologischem Anbau ohne chemi‐ sche Zusätze, und wir werden immer biologisch angebauter. Wirklich aus biologischem Anbau ohne chemische Zusätze ist, wer da noch durchsteigt. (10) a. Warum sollten auch Hartz-IV-Empfänger Bio leben? (S10 / FEB.00 135) b. Warum sollten auch Hartz-IV-Empfänger Bioprodukte / aus biologischem Anbau ohne chemische Zusätze leben? Belege wie (9a) und (10a) zeigen im Vergleich zu den von mir modifizierten Varianten in (9b) und (10b), dass sich Bio und bio nicht immer durch die laut Scheller-Boltz zugrundeliegenden Vollformen ersetzen lassen. Speziell der ad‐ verbiale Gebrauch von bio (10) sowie die prädikative Zuschreibung zu Nicht-Produkten (9) zeigen die Mängel der Kurzworthypothese auf. Ebenfalls verwunderlich ist, dass Bio in nominaler Verwendung keinen Artikel und keine Flexion aufweist, was bei Kurzwörtern normalerweise durchaus der Fall ist (cf. das Auto(mobil), die Autos, der Tra(ns)fo(rmator), die Trafos etc.). Im gleichen Stil sollten auch das Bio(produkt) und die Bios auffindbar sein. Hiernach sucht man jedoch vergeblich. Es handelt sich bei Bio/ bio also offensichtlich nicht um Kurz‐ wörter. Gehlen (2016) verfolgt einen systematischeren Ansatz. In einer Korpusstudie anhand von Zeitungstexten des Mannheimer Morgen von 1996 bis 2012 unter‐ sucht er in Anlehnung an Scheller-Boltz die Häufigkeit des Vorkommens ver‐ schiedener semantischer Varianten von bio als freies Lexem (cf. Gehlen 2016: 39): 111 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind • bio im Sinne von mit Biosiegel versehen • bio als expressives Mode- und Werbewort • bio als Kurzwort für aus biologischem Anbau • Bio als Kurzwort für Bioprodukte • Bio als Kurzwort für Biologie (Schulfach) • Bio als Kurzwort für Biologie (Studienfach). Außerdem erfasst er vergleichend die Häufigkeit, mit der bioals Konfix in Komposita auftritt (cf. Gehlen 2016: 39). Auch Gehlen kommt zu dem Schluss, dass Scheller-Boltz’ Kurzworthypothese nicht auf alle freien Verwendungen von bio anwendbar ist (cf. ebd.: 41). Sein Vergleich der Häufigkeiten der einzelnen semantischen Varianten von bio liefert keine eindeutigen Unterschiede, „kein Bedeutungsaspekt ist domi‐ nant“ (ebd.: 44). Er versäumt es an dieser Stelle jedoch, den gemeinsamen Kern der Semantik freier Varianten von bio zu erfassen und bleibt eine Beschreibung der Bedeutung schuldig. Interessant ist allerdings die allgemeine Feststellung Gehlens, dass sich die Semantik von bioals gebundenes Element hin zum freien Element verändert: Von Konfixkomposita (Biologie) über hybride Komposita (Biobanane) hin zum freien Gebrauch (Das Feisch ist bio) verengt sich die Be‐ deutung immer weiter (cf. ebd.: 44 sq.). Dadurch sei evident, dass es sich bei den freien und gebundenen Varianten nicht mehr um das gleiche Morphem handeln kann, weshalb er bio als eigenständiges Wort etabliert sieht (cf. ebd.: 45). Worin genau jedoch die semantische Verengung und damit der semantische Unter‐ schied besteht, bleibt offen. Dies ist eine der Schwachstellen von Gehlens Kor‐ pusanalyse. Er vergleicht die Häufigkeit verschiedener semantischer Varianten des freien bio. Der interessantere und zielführendere Vergleich müsste jedoch zwischen semantischen Varianten von sowohl freien als auch gebundenen Be‐ legen angestellt werden. Zudem ist die gewählte Stichprobe recht klein und mit nur einer Textsorte aus einer Quelle nicht wirklich repräsentativ. Auch der zeit‐ liche Umfang ist schlecht gewählt: Wie schon Olt (1983: 64 sq.) zeigt, ist das Phänomen bereits vor 1996 zu beobachten. Um die Entwicklung des Morphems nachvollziehbar darstellen zu können, sollte deshalb ein weiter zurückrei‐ chendes Korpus als Grundlage gewählt werden. All dies wurde in der in Ab‐ schnitt 4 dokumentierten Korpusanalyse berücksichtigt. Folgende früheste Belege für die unterschiedlichen freien Verwendungs‐ formen von bio (nominal (11), prädikativ (12), adverbial (13)) finden sich im Gesamtkorpus: (11) Es wäre verdammt einfach, mit Freunden ein Bauernhaus auf dem Land zu übernehmen und das große Selbstversorger-Leben mit Makro und Bio rauszuhängen. (1980) (S80 / DEZ.00 371) 112 Fabian Ehrmantraut (12) Alles ist „bio“ oder „öko“. (1987) (Z87 / OKT.00 486) (13) Sie leben "immer schon bio", genau gesagt "seit Tschernobyl". (1996) (O96 / MAR.32 295) Schaubild 2: Frequenz bio (pro Million Wörter) Ähnlich wie bei super hat die Produktivität von bio diachron betrachtet ebenfalls stetig zugenommen. In Schaubild 2 sind analog zu Schaubild 1 für super die Häufigkeitsverteilungen für bio im Gesamtkorpus sowie in Der Spiegel jeweils für alle Formen und separat für kleingeschriebene Varianten aufgelistet. Beide Varianten in beiden Korpora weisen einen deutlichen Anstieg der Produktivität auf, sodass auch für bio festgehalten werden kann, dass es sich als freies Element im deutschen Sprachraum stetig weiter etabliert hat. 4 Semantischer Wandel Dass in beiden Fällen ein morphologischer Wandel hin zum freien Lexem statt‐ gefunden hat, wurde im vorherigen Abschnitt gezeigt. Zu erklären, wie dieser Wandel vonstattenging, soll in diesem Abschnitt versucht werden. Ein vielver‐ sprechender Ansatz besteht darin, die grammatischen Eigenschaften der freien und gebundenen Elemente zu vergleichen, um so potenzielle Katalysatoren für den morphologischen Wandel ausfindig zu machen. In Tabelle 1 ist eine mög‐ liche Klassifikation der Morphemtypen Affix, Konfix und freies Lexem anhand 113 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 8 Eine vollständige Diskussion der Klassifikation des Deutschen Morphemapparats kann hier nicht geleistet werden. Stellvertretend sei auf die einschlägige Literatur verwiesen: Donalies (1999, 2005, 2009), Eins (2008, 2009), Elsen (2005), Fleischer (1995), Grimm (1997), Michel (2009), Scheller-Boltz (2008, 2010), Schmidt (1987b), Schu (2005). 9 Zu dem mit ? markierten Feld: Für superlassen sich nur Kombinationen finden, in denen es als Erstglied fungiert. Bei Verwendungen wie Supernova lässt sich etymolo‐ gisch schnell feststellen, dass es sich um eine Ableitung handelt. Bei hybriden Kombi‐ nationen wie Supermann oder supergut lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei entscheiden, ob es sich um eine Komposition aus zwei freien Lexemen oder eine Ableitung durch das Affix superhandelt. Für bio lassen sich vereinzelt Belege finden, in denen es die Position des Zweitglieds einnimmt, sodass es sich nicht mehr um Ableitungen mit dem positionsfesten Präkonfix biohandeln kann: […] neo-österreichisches Edelbio im Noi. (FLT09 / APR.00 061). der gängigen diskutierten Kriterien dargestellt sowie deren Anwendung auf die im Fokus stehenden Elemente bio(-) und super(-). 8 Affix Konfix Freies Lexem biobio supersuper Gebundenheit + + - + - + - Basisfähigkeit - + +/ - + + - - Lexikalisch-begriffliche Bedeutung +/ - + + + + + + Kompositionsgliedfähig‐ keit - + +/ - + + - ? Positionsfestigkeit + +/ - +/ - + - + + Produktivität + +/ - +/ - + + + + Freies Pendant in an‐ deren Sprach(stuf)en - + +/ - + + - - Tabelle 1: Morphemkriterien: biovs bio & supervs. super Vergleicht man nun jeweils die beiden morphologischen Varianten von bio(-) und super(-) stellt man fest, dass das Kriterium der Gebundenheit auf den ersten Blick das einzige zu sein scheint, in dem sich die jeweiligen Varianten unter‐ scheiden. 9 Da der Wandel vom gebundenen zum freien Element aber nicht durch Verweis auf sich selbst erklärt werden kann, muss ein anderer Unterschied ge‐ funden werden. Und tatsächlich ist Gebundenheit eben nur scheinbar das ein‐ zige Kriterium, durch das sich die beiden Morpheme unterscheiden lassen. Auch das Kriterium der lexikalisch-begrifflichen Bedeutung kann dies leisten. Denn 114 Fabian Ehrmantraut zwei Morpheme, die beide über lexikalisch-begriffliche Bedeutung verfügen, können sich natürlich in der Qualität ihrer Bedeutung unterscheiden. So wie z. B. die polysemen Ausdrücke Schule (Gebäude) und Schule (Institution) beide lexikalisch-begriffliche Bedeutung tragen, aber eben nicht exakt dieselbe, können auch bio- und bio bzw. super- und super jeweils unterschiedliche lexi‐ kalische Bedeutung tragen. 4.1 Empirische Daten zu supervs. super Die Hypothese, dass der entscheidende Unterschied zwischen freien und ge‐ bundenen Varianten in ihrer lexikalischen Bedeutung liegt und dass sich da‐ durch bedingt der morphologische Wandel vollziehen konnte, soll im Folgenden überprüft werden. Dazu wurden zunächst korpusbasierte Daten für super(-) und bio(-) erhoben, indem jeweils Stichproben für gebundene und freie Varianten gezogen und nach den semantischen Kategorien annotiert wurden, in denen sie verwendet wurden. Jedes Mal, wenn ein Beleg in keine der zuvor eröffneten semantischen Kategorien passte, wurde eine neue Kategorie eröffnet. Für super(-) ergaben sich folgende semantischen Kategorien: A sup über- (skalar oder hierarchisch überge‐ ordnet) Superministerium, Supermittelgewicht B1 sup B2 sup groß (wörtlich) groß (bildlich) Supermarkt, Supershow, Super‐ party Superstar, Supermacht, Supertalent C sup deutlich über das gewöhnliche Maß hinaus gehend (überdurchschnitt‐ lich / sehr) Supernova, Supercomputer, super attraktiv D sup toll, gut Superidee, Superjob, es läuft super Tabelle 2: Semantische Kategorien super(-) 115 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 10 Je 500 zufällige freie und gebundene Belege aus dem Gesamtkorpus. 57 Belege wurden als Eigennamen aussortiert. 11 Einige Belege stellten auch nominalisierte Adjektive dar, wie z. B. die Superreichen. Schaubild 3: Semantische Kategorisierung super(-) Schaut man sich nun die Verteilung der gebundenen und freien Varianten auf diese Kategorien an (Schaubild 3), stellt man Folgendes fest: 10 Während Deri‐ vationen mit dem Präfix superin allen Kategorien vertreten sind, tritt das freie super ausschließlich in den Kontexten C und D auf und hat somit ein engeres Verwendungsspektrum als die gebundene Variante. Genau genommen sollte man jedoch wohl nicht von der freien Variante spre‐ chen, denn je nachdem wie super als freies Element verwendet wird handelt es sich um zwei verschiedene Lexeme: (14) a. Super viele Anfragen. (M02 / OKT.74 375) b. Überhaupt sind wir super zufrieden. (NKU08 / MAI.08 159) (15) a. Eine super Erfindung. (B15 / OKT.01 870) b. Der Platz ist super. (M18 / JUL.07 118) c. Er bereitet uns super vor. (E14 / MAI.01 459) In (14) liegt der erste Verwendungstyp vor: super als Intensivierer. In dieser Funktion wird es in Adjektivphrasen mit der Bedeutung ‘sehr‘ (Kategorie C) eingesetzt. Neben eindeutig abgeleiteten Varianten wie Supercomputer oder Su‐ perkapitalismus bestand ein Großteil der gebundenen Elemente (54,4 %), die dieser Kategorie zugeordnet wurden, aus Kombinationen mit Adjektiven wie superreich oder super-klug, die zu den in Fußnote 8 angesprochenen Spezialfällen gehören, in denen nicht eindeutig entschieden werden kann, ob es sich um De‐ rivationen mit dem Präfix super- oder um Kompositionen mit dem freien Lexem super handelt. 11 Dass in diesen Fällen das Erstglied die gleiche semantische Be‐ deutung und Funktion übernimmt wie das eindeutig freie intensivierende 116 Fabian Ehrmantraut super, spricht allerdings dafür, dass es sich am ehesten um Kompositionen han‐ delt. Die Beispiele in (15) hingegen stellen adjektivische Verwendungen dar, die semantisch Kontext D entsprechen. Super tritt in allen adjektivischen Ge‐ brauchstypen auf: attributiv (15a), prädikativ (15b), adverbial (15c) und bleibt dabei stets unflektiert. Als gebundenes Element kann es also je nach Kontext verschiedene semantische Ausprägungen annehmen, von der relativ allge‐ meinen Bedeutung in den Kontexten A und C bis hin zu konkreteren Bedeu‐ tungen in den Kontexten B und D. Häufig ist es dabei auch bereits mit einer positiven Konnotation besetzt (cf. Superman, Superzeugnis,), jedoch nicht zwangsläufig (cf. Superstau, Supernova). Als freies Lexem hingegen ist der Ver‐ wendungsspielraum eingegrenzt auf ganz bestimmte, expressive Kontexte, in denen es entweder eine expressiv intensivierende Funktion einnimmt (14) oder expressiv evaluierende (15). Die Semantik von super(-) hat sich vom gebundenen zum freien expressiven Element also zum einen verengt (in Bezug auf das Ver‐ wendungsspektrum) und zum anderen konkretisiert. 4.2 Empirische Daten zu biovs. bio 4.2.1 Korpusstudie Analog zu super(-) wurde auch für bio(-) eine Stichprobe nach semantischen Kategorien annotiert, die in Tabelle 3 festgehalten sind: A bio Allgemein das Leben(dige) betreffend … A1 bio A2 bio Im naturwissenschaftlichen Sinn Im biografischen Sinn Biologe, biotisch, Biotop Biograf, biografich, biodeutsch B bio bestehend aus / abstammend von Lebendigem Biomasse, Biomüll, Biogas C nach bestimmten umwelt-ethischen und / oder gesundheitlichen Krite‐ rien … C1 bio C2 bio C3 bio hergestellte landwirtschaftliche Pro‐ dukte hergestellte sonstige Produkte geführte Institutionen / Betriebe / Le‐ bensstile Biofleisch, die Zutaten sind bio Biokosmetik, die Windeln sind bio Bioladen, er kocht bio Tabelle 3: Semantische Kategorien bio(-) 117 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 12 944 zufällige Belege aus Der Spiegel, nach Kontext: A1: 541, A2: 54, B: 44, C1: 74, C2: 94, C3: 137; nach Morphologie: Konfixkomposita: 165, Konfix-Wort-Komposita: 240, Derivationen: 346, freie Lexeme: 193. 13 Bei den wenigen Belegen für freie Varianten (4 Belege) in Kontext B handelt es sich um ambige, teilweise ironische Verwendungen, die sowohl eine Lesart nach Kontext C als auch nach Kontext B zulassen. Schaubild 4: Semantische Kategorisierung bio- Biotritt dabei anders als supernicht nur in Ableitungen, sondern auch in zwei Typen von Komposita auf, nämlich Konfix-Konfix-Komposita wie Biotop sowie Konfix-Wort-Komposita wie Biobanane. In Schaubild 3 werden diese deshalb zusätzlich unterschieden. 12 Es ergibt sich ein ähnliches Bild: Ableitungen finden sich ausschließlich in Kategorie A1. Biohat dort stets abstrakte, naturwissen‐ schaftliche Bedeutung. Belege wie biotisch, antibiotisch oder symbiotisch be‐ ziehen sich immer auf das Leben(dige) im allgemein naturwissenschaftlichen Sinn. Konfix-Konfix-Verbindungen finden sich sowohl in A1 (Biologie) als auch in A2 (Biograf). Bioweist in diesen Wörtern ebenfalls diese abstrakte Bedeutung auf. Auch Konfix-Wort-Kombinationen kommen in Kategorie A1 (Biophysik) und A2 (biodeutsch) vor. Sie treten darüber hinaus aber auch in allen anderen (Unter-)Kategorien auf: in B (z. B. Biomasse), in C1 (z. B. Biomilch), in C2 (z. B. Biodiesel) und in C3 (z. B. Bioladen). Als gebundenes Element kann bioalso so‐ wohl abstrakte Bedeutung tragen (‚allgemein das Leben betreffend‘, ‚aus Orga‐ nischem bestehend‘) als auch konkrete Bedeutung (‚nach konkreten positiv be‐ werteten Kriterien produziert‘) und ist somit in Bezug auf den Verwendungskontext genau wie supervariabler als sein freies Pendant, das na‐ hezu ausschließlich in Kategorie C vorkommt. 13 Die Bedeutung wird von den Kontexten des Typs A über Kontexte des Typs B hin zu den Kontexten des Typs C schrittweise konkreter, sodass die freie Variante sich von der gebundenen 118 Fabian Ehrmantraut 14 Hier sei erneut auf die in Fußnote 1 thematisierte Anmerkung des Gutachters verwiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass die Art und Weise der Wertungen, die mit super und bio vorgenommen werden, unterschiedlich sind. Entscheidend ist jedoch die Fest‐ stellung, dass beides wertende Ausdrücke sind. ebenfalls dadurch unterscheidet, dass ihr Verwendungsspektrum enger und ihre Bedeutung konkreter ist. Berücksichtigt man die zeitliche Abfolge des ersten Auftretens der jeweiligen Varianten wird deutlich, dass sich die Konkretisierung der Bedeutung von äl‐ teren Varianten hin zu den jüngeren vollzogen hat. Zunächst wurde das gebun‐ dene, entlehnte Morphem im Deutschen Morphemsystem reanalysiert und als Wortbildungselement produktiv. In hybriden Komposita wurden nach und nach neue Bedeutungsvarianten möglich, von denen die des Typs C sich schließlich zu freien Varianten emanzipierten. Dies deckt sich mit den oben angespro‐ chenen Ausführungen Gehlens (2016: 44 sq.). Bio wird als freies Lexem au‐ ßerdem stets wertend verwendet. 14 An bio sind bestimmte umwelt-ethische oder gesundheitliche Kriterien geknüpft, mit denen ein Produkt, ein Betrieb oder sogar eine Lebensweise (cf. (10)) bewertet werden können. Diese subjektive, meist moralische Wertung rührt wohl daher, dass vor allem in der landwirt‐ schaftlichen Produktion seit einigen Jahrzehnten eine Diskussion um moralisch bzw. gesundheitlich gute und schlechte Verfahren geführt wird. Bestimmte Vor‐ gehensweisen werden positiv, andere negativ bewertet. Als eine Möglichkeit, diese Unterscheidung sprachlich zu treffen, hat sich das Morphem bio(-) auf‐ getan. Schon als Konfix hat es in Kontexten der Kategorie C eine positiv wer‐ tende Konnotation. Eine Biobanane ist gesundheitlich und / oder um‐ welt-ethisch besser bewertet als eine Banane, die nicht dieses sprachliche Gütesiegel verdient. Der Unterschied zum freien Lexem bio ist jedoch der, dass Letzteres stets diese Bedeutung aufweist und es sich nicht länger bloß um eine in bestimmten Kontexten auftretende Konnotation handelt. Bio ist nicht nur ein wirtschaftliches oder politisches Gütesiegel für Produkte, es ist auch ein sprach‐ liches: (16) Nur, wie bio ist das Biomüsli, das mit monatelanger Haltbarkeit aus den Regalen leuchtet? (O94 / MAI.45 871) (17) Bio-Gurken reisen von Spanien, Deutschland nach Österreich. Wie bio ist das? (NEW11 / JUN.00 099) (16) und (17) zeigen, dass bio mitunter sprachlich instrumentalisiert wird, um die umwelt-ethische Güte von mit Biosiegel versehenen Produkten in Frage zu stellen. Bio steht also nicht nur für Produkte, die mit diesem Siegel versehen sind, sondern ist ein selbstständiger sprachlicher Ausdruck. 119 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind Als Zwischenfazit lässt sich also festhalten, dass sowohl super(-) als auch bio(-) im Laufe des 20. Jahrhunderts freie Varianten in Form von wertenden Ausdrü‐ cken entwickelt haben, die sich in ihrer Semantik und ihrem Verwendungs‐ spektrum von ihren gebundenen Pendants dergestalt unterscheiden, dass ihre Verwendung enger und ihre Bedeutung konkreter geworden ist. 4.2.2 Ratingstudie Unter der Annahme, dass das Auftreten bzw. Nicht-Auftreten bestimmter Vari‐ anten in bestimmten Kontexten mit ihrer jeweiligen Akzeptanz oder Natürlich‐ keit in diesen Kontexten zusammenhängt, wurde am Beispiel von bio(-) eine Ratingstudie zur Bestätigung der Ergebnisse der Korpusanalyse durchgeführt. Design und Material Da das freie bio weder in Kontexten des Typs A noch des Typs B produktiv zu sein scheint, wurden diese zum Kontext AB zusammengefasst. Daraus ergibt sich ein 2×2 Design mit den Faktoren Morphologie (gebunden vs. frei) und Kon‐ text ( AB vs. C). Um die Items so ähnlich wie möglich zu halten, wurde die Studie zudem auf prädikative Konstruktionen mit dem Kopula-Verb sein und konse‐ quenter Kleinschreibung von freiem bio beschränkt. Für die Bedingung ge‐ bunden wurde biojeweils in Komposita mit einem entsprechenden Bezugs‐ zwort kombiniert ((18a) und (19a)), wohingegen bio in der Bedingung frei mittels Kopulakonstruktion über dasselbe Bezugswort prädiziert wurde ((18b) und (19b)). Der Kontext wurde jeweils durch einen dem Itemsatz vorausgestellten Kontextsatz sowie das jeweils gewählte Bezugswort realisiert, sodass eine se‐ mantische Umgebung geschaffen wurde, die den Bedingungen AB (18) oder C (19) entsprechen. (18) Jim erforscht die Bewegungsabläufe von Lebewesen a. Das ist Biophysik. b. Diese Physik ist bio. (19) Der Imker in meiner Nachbarschaft produziert auf rein natürliche Weise. a. Das ist Biohonig. b. Dieser Honig ist bio. Dabei wurde das Bezugswort nie im Kontextsatz selbst verwendet, um Doppe‐ lung als Störfaktor auszuschließen. Der eigentliche Itemsatz wurde zudem fett‐ gedruckt und die Instruktionen lauteten, nur diesen fettgedruckten Satz zu be‐ werten. (18) und (19) repräsentieren ein vollständiges Token-Set mit allen vier 120 Fabian Ehrmantraut 15 Formel des vollständigen Modells: lmer(Rating ~ (Kontext + Morphologie + Index)^2 + (1| Item) + (1|Proband)). Bedingungen. Die Items setzten sich dabei pro Kontexttyp zu gleichen Teilen aus Beispielen der Unterkategorien (3×A1, 3×A2, 6×B, 4×C1, 4×C2, 4×C3) zu‐ sammen. Alle Filler hatten den gleichen Aufbau wie die Items und wiesen ent‐ weder keinen oder leichte bis schwere semantische Kategorienfehler bei der Anwendung von Adjektiven auf. Sechs dieser Filler, die dem kompletten Spektrum der Skala entsprechen, wurden dem Experiment vorangestellt, um die Probanden darauf einzustellen, dass der Fokus bei der Bewertung der Testsätze nicht auf syntaktischer, sondern auf semantischer (Un-)Natürlichkeit liegt. Die zu testenden Hypothesen, die sich aus den Ergebnissen der Korpusstudie ableiten, lauten: H1: Der Unterschied im Rating der Natürlichkeit eines Satzes mit bio als freiem Lexem in prädikativem Gebrauch und Sätzen mit dem gebun‐ denen Pendant in Komposition mit demselben Bezugswort ist in ge‐ schriebenen Kontexten des Typs C ((19a vs 19b)) kleiner als in Kon‐ texten des Typs AB ((18a) vs (18b)). H2: Das Rating der Natürlichkeit von Sätzen mit der freien Variante bio in prädikativem Gebrauch ist in geschriebenen Sätzen des Kontexttyps C (19b) höher als in Kontexten des Typs AB (18b). Durchführung Insgesamt wurden 24 Items und 48 Filler von 73 freiwilligen, über Social Media rekrutierten Teilnehmern auf einer 7-Punkt Likert-Skala mithilfe des On‐ line-Umfrage-Tools LimeSurvey ( IQ 4) bewertet. Die Items und Filler wurden jedem Probanden in zufälliger Reihenfolge präsentiert, wobei die unterschied‐ lichen Gruppen von Items und Fillern im Vorfeld so pseudorandomisiert wurden, sodass in der Umfrage nie zwei Items oder Filler desselben Typs aufeinander folgten. Ergebnisse Mithilfe des Pakets lme4 (Bates et al. 2015) wurde in R (R Core Team, 2017) ein lineares Mixed-Effects-Model mit der abhängigen Variable Rating berechnet (Schaubild 4). Das vollständige Modell beinhaltet als unabhängige Variablen („fixed effects“) Index, die Reihenfolge, in der die Items präsentiert wurden, Kontext und Morpholgie inklusive Interaktionsterm. Als „random effects“ wurden Intercepts sowohl für Proband als auch für Item gesetzt. 15 Anschließend wurden nach dem Prinzip der Backwards Model Selection schrittweise alle nicht 121 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind 16 Formel des finalen Modells: lmer(Rating ~ (Kontext + Morphologie)^2 + Index + (1|Item) + (1|Proband), REML=FALSE). signifikanten Effekte und Interaktionen aus dem Modell gestrichen. Dazu wurde jeweils ein neues Modell berechnet, indem der als nicht-signifikant geschätzte Effekt bzw. die als nicht-signifikant geschätzte Interaktion getilgt wurde. Beide Modelle wurden dann mittels Likelihood-Ratio-Tests (cf. Winter 2013: 31-34) und der Funktion anova auf die Signifikanz ihres Unterschieds hin verglichen. War der Unterschied der Modelle nicht signifikant, wurde der Effekt ausge‐ schlossen. Das finale Modell beinhaltet somit nur noch signifikante Effekte und Interaktionen, die wiederum mithilfe eines Likelihood-Ratio-Tests auf das Maß ihrer Signifikanz hin überprüft wurden (cf. Tabelle 4): Effekt Estimate SE χ 2 p-value Index 3.005e+00 3.742e-01 5.04 < .05 * Kontext 2.227e+00 9.989e-02 181.69 < .001 *** Morphologie -3.894e-03 1.733e-03 446.21 < .001 *** Kontext: Morpho‐ logie -1.838e+00 1.412e-01 161.34 < .001 *** Tabelle 4: Finales Modell. 16 Schaubild 5: Mixed Effects Model Es zeigt sich ein signifikanter Haupteffekt für den Faktor Kontext (χ 2 (2) = 181.69, p < .001***), und zwar dergestalt, dass Items in AB signifikant schlechter be‐ 122 Fabian Ehrmantraut wertet werden als in C. Für den Faktor Morphologie wurde ebenfalls ein signi‐ fikanter Haupteffekt festgestellt (χ 2 (2) = 446.21, p < .001***): Gebundene Vari‐ anten werden signifikant besser bewertet als freie. Des Weiteren zeigt sich eine Interaktion zwischen Kontext und Morphologie (χ 2 (1) = 161.34, p < .001***): Der Unterschied im Rating zwischen gebundenen und freien Varianten ist in Kon‐ texten des Typs AB signifikant größer als in solchen des Typs C, sodass freie Varianten in AB signifikant schlechter bewertet werden als alle anderen Vari‐ anten. Dies stützt H1. Die Kombination aus Haupteffekten und Interaktion be‐ stätigt außerdem H2 und damit die Ergebnisse der Korpusstudie. Die Reihenfolge, in der die Items präsentiert wurden hatte ebenfalls einen signifikanten Effekt auf das Rating (χ 2 (1)=5.04, p < .05*): Es lässt sich ein leichter Gewöhnungseffekt von -.004 Punkten (± .002 sd) pro Anstieg des Indexwerts um 1 feststellen. 5 Fazit und Ausblick Ein im Deutschen produktiver Mechanismus zur Generierung neuer expressiver Wörter scheint darin zu bestehen, gebundene Elemente, die in hybriden Kom‐ posita bereits expressive Bedeutungen oder Konnotationen verzeichnen, zu freien Lexemen zu emanzipieren. Für bio(-) und super(-) bestätigen die Ergeb‐ nisse der empirischen Studien einen solchen morphologischen Wandel in Kom‐ bination mit einer semantischen Verengung und Konkretisierung. Superstaus sind nicht super und Biowaffen nicht bio, weil super- und super bzw. bio- und bio nicht dieselbe Bedeutung haben. Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, zeigen die Beispiele in (20) - (22): (20) a. Megakatastrophe / #mega Katastrophe / #Die Katastrophe war mega. b. Megaparty / mega Party. / Die Party war mega. (21) a. Ökobilanz / #öko Bilanz / #Die Bilanz ist öko. b. Ökomüsli / #öko Müsli / Das Müsli ist öko. (22) a. Toplader / #top Lader / #Der Lader ist top. b. Topspieler / top Spieler / Der Spieler ist top. Mega(-), öko(-) und top(-) sind nur einige Beispiele für weitere Elemente, die einen analogen Sprachwandel durchlaufen haben und weiterführende Unter‐ suchungen anregen. 6 Bibliografie Bates, D. et al., „Fitting linear mixed-effects models using lme4”, in: Journal of Statistical Software, 67 (1), 2015, 1-48. 123 Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind Biedermann, R., „Die deutschen Gradadverbien“, Dissertation. Universität Heidelberg. 1969. Bolinger, D., „Degree Words”, Den Haag / Paris: Mouton. 1972. Donalies, E., „Können Wortbildungsaffixe semantische Kerne sein? 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Man kann also im Fall der Berliner Techno-Subkulturen von einer "emotionalen Gemeinschaft" sprechen. In einem zweiten Schritt zeigen wir, dass Emotionen, die von derselben Gemeinschaft geteilt werden, auch für politische Zwecke mobilisiert werden können. Über die Eigeninteressen der Techno-Community und der Clubs hinaus drücken sie in der Form einer Ra‐ volte ein politisches Engagement und die Verteidigung des urbanen Raums aus. Einführung Im Juni 2020 versammelten sich auf der Spree mehrere hundert Menschen auf Kanus und Schlauchbooten, um für den Erhalt der Clubkultur und die Unter‐ stützung von Kulturschaffenden zu demonstrieren. Die Veranstaltung wurde in den Feuilletons aufgegriffen und auch in den sozialen Medien kommentiert. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie wurden die Teilnehmenden auch als ignorant, verantwortungslos und asozial bezeichnet. Kritisiert wurden sowohl die Organisatoren, die sich von dem Ausmaß der Veranstaltung hätten über‐ rollen lassen, als auch die Teilnehmer, die sich ohne Hygieneschutzmaßnahmen 1 Die Frage, wer sich hier Fehlverhalten geleistet hat, kann auch auf verschiedenen Ebenen gestellt werden: Haben die Veranstalter*innen moralisch versagt, nicht nur indem sie die Demo am Urban-Krankenhaus enden haben lassen sondern auch weil parallel dazu eine Black Live Matters Bewegung in Deutschland entstand? Oder sind es nur die Feiernden, die die Presse nicht als politische Subjekte ernst nehmen konnte? 2 "Entsetzen über Technoparty mit 400 Booten", in Berliner Morgenpost, 04. 06. 2020. Siehe auch B. Z, 04. 06. 2020. und soziale Distanzierung auf der Spree versammelt hätten 1 . Die von der Presse verwendeten Adjektive zur Beschreibung dieser umstrittenen Wasser-Demo ("ignorant", "asozial", "abstoßend dumm", "empörend" usw. 2 ) deuten auf eine starke emotionale Aufladung hin. Die starken Emotionen, die durch dieses Er‐ eignis auch im Internet ausgelöst wurden, erinnern daran, wie stark Emotionen und Demonstrationen miteinander verwoben sind. Der folgende Beitrag widmet sich aus einer affektbzw. emotionstheoretischen Perspektive Formen der Ver‐ gemeinschaftung und des Protests in der Berliner Techno-Subkultur. Zum einen analysiere ich auf der Basis einer ethnographischen Forschung, wie Emotionen im Techno-Club Berghain sozial geformt und kontrolliert werden. Anderseits stelle ich die Bedeutung von subkulturell geprägten Protestaktionen für politi‐ sche Kämpfe um den urbanen Raum und gegen Rassismus heraus. Im Rahmen einer ethnografischen Forschung habe ich eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt und Stammgäste des Berghains nach ihrem Gefühlsleben befragt. Die Untersuchung von Emotionen im subkulturellen Techno-Umfeld erfolgt hier aus einer ethnographischen Perspektive und konzentriert sich auf das Stammpublikum eines Berliner Techno-Clubs, des Berghains, das sich in einem ehemaligen Heizkraftwerk im Stadtviertel Friedrichshain befindet. Die Me‐ thodik dieser Feldforschung kombiniert hier beobachtende Teilnahme mit Zeug‐ nissen von Stammgästen, die ihr emotionales Erleben reflektieren. Das Unter‐ suchen der Rolle von Emotionen im Berghain-Stammpublikum führt uns dazu, Emotionen als Produkte des Sozialen zu betrachten. Das Berghain war ur‐ sprünglich - Ende der 1990er Jahre - ein Schwulenclub (Ostgut) und hat sich inzwischen seit seiner Wiedereröffnung 2004 unter dem Namen Berghain einem breiteren Publikum geöffnet und gilt heute in der Techno-Landschaft als einer der besten Clubs der Welt. Entgegen der verbreiteten Annahme, das Nachtleben sei nur auf exzessive Erlebnisse und emotionale Entgleisungen ausgerichtet, zeige ich in einem ersten Schritt, dass Affekte und Emotionen in der Techno-Szene und insbesondere im Kontext des Berghains ebenso stark kontrolliert werden. In einem zweiten Schritt, dass Emotionen auch eine aktive Rolle im politischen Bewusstsein und 130 Guillaume Robin in der Mobilisierung der Jugend spielen, insbesondere im Kampf um den ur‐ banen Raum. Das Berghain als emotionale Gemeinschaft Die Begriffe Affekt und Emotion sind mehrdeutig und werden oft als Synonyme verwendet. Sie haben je nach Disziplin (etwa Philosophie oder Psychologie) un‐ terschiedliche Bedeutungen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was als Gefühl, als Empfindung, als Gemütszustand oder Gefühlserregung ver‐ standen wird. In der Psychologie bezieht sich der Begriff Affekt auf kurzweilige Impulse: auf etwas Unbändiges und Unkontrollierbares. Die Freudsche Psycho‐ analyse versteht den "Affekt" als triebgeleitete, physiologische Reaktion ohne bewusste Repräsentation und unterscheidet ihn vom "Gefühl" als Wahrneh‐ mung bzw. bewusstem Erleben. In den kognitiven Wissenschaften und insbe‐ sondere in der Psychologie wurden die Affekte lange Zeit der Kognition - als rationales Denken - gegenübergestellt, wobei der Affekt in erster Linie als eine unreflektierte Reaktion galt. Inzwischen haben die Ätiologie und die Verhal‐ tensforschung gezeigt, dass affektive Prozesse es dem Menschen erlauben, sich an seine Umwelt anzupassen und daher auch Bestandteile der Kognition sind. Der Philosoph Brian Massumi unterscheidet zwischen Affekten und Emoti‐ onen: Nach Massumi sind Emotionen sozialisiert und finden ihren Ausdruck in Gesten und Sprache, wohingegen sich Affekte der kulturellen Codierung und dem Diskurs entziehen (Massumi 2010: 54). Die Historikerin Barbara Rosenwein beschreibt soziale Gruppen, deren Mit‐ glieder bestimmte emotionale Normen und Verhaltensweisen teilen, als emotional communities. Nach Rosenwein helfen systems of feeling dabei, Emotionen, die von der Gemeinschaft akzeptiert sind, von denen zu unterscheiden, deren Ausdruck unerwünscht ist. Manche Emotionen werden identifiziert und ge‐ schätzt, wobei andere abgewertet werden oder der Gruppe fremd erscheinen. So kann es vorkommen, dass der Ausdruck von Emotionen, die in der Gefühls‐ gemeinschaft keine Anerkennung finden (z. B. Wut), von der Gruppe sanktio‐ niert wird. Die Mitglieder einer emotional community sind also vor allem emo‐ tional aneinandergebunden, nicht etwa durch ihr Geschlecht oder ihre Zugehörigkeit zu einer Klasse. In Techno-Subkulturen spielen Emotionen und Musik eine entscheidende Rolle für den Zusammenhalt, weshalb in diesem Zusammenhang auch von felt communities gesprochen wird (L. M. Garcia, 2020). Doch inwieweit stellt die Techno-Community, mit Fokus auf das Stammpublikum des Berghains, eine emotionale Gemeinschaft im Sinne Rosenweins dar? 131 Emotionen in der Techno-Szene Im Rahmen meiner ethnografischen Forschung habe ich die Stammgäste des Berghains danach gefragt, welches Verhalten sie im Club inakzeptabel finden. Viele gaben an, dass sie es unangemessen halten, wenn Wut und Ärger ausge‐ drückt werden - was wohl allgemeiner Konsens in Bezug auf eine gute Party sein sollte. Doch oft wurde auch fehlende Geduld kritisiert. Besonders in Techno-Kreisen ist es üblich, in kleinen Gruppen Drogen auf der Toilette zu konsumieren. Im Berghain bilden sich daher üblicherweise lange Schlangen vor den Toiletten. Der Ausdruck von Ungeduld entspricht nicht dem von den Stammgästen erwarteten Emotionsschema. Teil der Gemeinschaft zu werden setzt die Kenntnis subkultureller Gewohnheiten und vorherrschender emotio‐ naler Codes voraus. Bereits Marcel Mauss hat darauf hingewiesen, dass Gefühlsausdrücke als Körpertechniken kollektiv geprägt und sozial vermittelt sind. Emotionen ent‐ falten sich entlang von sozialen Erwartungen. So sind z. B. Trauer und Tränen bei Beerdigungsanlässen für die Gruppe notwendige, "obligatorische" Reakti‐ onen (Mauss 1924). Auch im Berghain gelten bestimmte ritualisierte "Gefühls‐ regeln". Die Stammgäste neigen dazu, ihre Gefühle mit denen der Gruppe in Einklang zu bringen. Solche "obligatorischen" Emotionen werden zwar scheinbar spontan geäußert, aber tasächlich sind sie einem emotionalen Lern‐ prozess unterworfen. Berghain-Stammgäste wissen, dass es unangebracht wäre, Barkeeper*innen zuzuwinken oder an die Tür einer Toilette zu klopfen. Wie meine Beobachtungen gezeigt haben, werden neue Clubbesucher*innen, die solche Verhaltensregeln und emotionale Muster noch nicht verinnerlicht haben, meist langsamer, manchmal auch gar nicht bedient oder sie werden von Stamm‐ gästen darum gebeten, ihre Ungeduld zu mäßigen. Für Mauss haben Emotionen als Bestandteil einer Kultur auch immer eine symbolische Dimension und sind mit kollektiven Repräsentationen verbunden, die bestimmte Emotionen legiti‐ mieren, andere abwerten und somit typische emotionale Muster schaffen, die die Basis einer gemeinsamen Emotionskultur darstellen. Mit dem Begriff "emo‐ tionale Arbeit" bezieht sich die amerikanische Soziologin Arlie R. Hochschild auf die Art und Weise, wie Menschen mit ihren Emotionen im täglichen Leben und bei der Arbeit umgehen, damit sie den gesellschaftlichen Erwartungen ent‐ sprechen. Soziale Interaktionen führen dazu, dass wir "Gefühlsregeln" befolgen. Gewöhnlich sind wir sind uns dieser Regeln bewusst und versuchen deshalb, unseren Gefühlsausdruck an diese Regeln anzupassen. Eine Emotionsarbeit muss geleistet werden, wenn eine Kluft zwischen dem Empfundenen und den sozialen Erwartungen entsteht. Die von Hochschild thematisierte Diskrepanz konnte ich auch bei der eth‐ nographischen Untersuchung des Verhaltens in der Warteschlange des Berg‐ 132 Guillaume Robin hains feststellen. Die Schlange vor dem Club ist lang und es kann manchmal mehrere Stunden dauern, bis das Gebäude erreicht wird - an der Tür ange‐ kommen ist die Chance relativ hoch, abgewiesen zu werden. Die Türpolitik des Berghains gilt als eine der härtesten der Berliner Clubszene. In der Warteschlange des Berghains hat sich eine Gefühlsregel etabliert: Um die Chancen zu erhöhen, Einlass in den Club gewährt zu bekommen, dürfen keine Emotionen gezeigt werden. Stammgäste reden oder lachen daher seltener in der Schlange. Der Feldforscher kommt zur folgenden Beobachtung: man soll als Stammgast, so die implizite Gefühlsregel, in der Warteschlange keine Emo‐ tionen zeigen, sie irgendwie verdrängen, um die Chancen zu optimieren, in den Club zu kommen. Es ist nicht unüblich, dass sich jemand - unter den Augen anderer Gäste, die seit Langem warten - vordrängelt. Die Wartenden reagieren darauf meist gelassen. Die scheinbare Gleichgültigkeit erfordert tatsächlich aber ein hohes Maß an emotionaler Kontrolle. Doch warum zeigt sich niemand irri‐ tiert? Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe: Erstens wird - egal ob das Ver‐ halten als legitim oder illegitim erachtet wird - das Vordrängeln in der Warte‐ schlange als eine Praxis der Stammgäste identifiziert. Es wird davon ausgegangen, dass sich neue Clubbesucher*innen wahrscheinlich nicht trauen würden, die Reihenfolge nicht zu beachten. Zweitens wird der Ausdruck von Unzufriedenheit oder Gereiztheit von den Stammgästen als fremdes Verhalten interpretiert - denn es verrät einen Mangel an emotionaler Kontrolle. Ob Clubbesucher*innen emotionale Arbeit leisten müssen, hängt vor allem von ihrem subkulturellen Status ab. Während regelmäßige Besucher*innen ge‐ lernt haben, ihre Emotionen zu verbergen und dazu neigen, sich nicht einzu‐ mischen, wird ein Newbie eher bereit sein, Unzufriedenheit am Vordrängeln auszudrücken. Die Kontrolle dieser Emotionen ist quasi eine Voraussetzung für die erfolgreiche Integration in die Berghain-Community. Ein Charakteristikum der emotionalen Gemeinschaft des Berghains ist das besondere Verhältnis des Publikums zur kollektiv empfundenen Angst, vom Club abgewiesen zu werden. Dieses Gefühl scheint die Berghain-Community zu binden - selbst Stammgäste mit jahrelanger Erfahrung können dieses Angstgefühl empfinden. Wie Theodore Kemper in seiner Macht-Status-Theorie darlegt, können angst‐ basierte Emotionen von Machtverhältnissen abhängig sein, in diesem Fall von der Disziplinarmacht des Clubs (Kemper 2006). Stammgäste haben - trotz ihres Insider-Status - im Vergleich zu den Türsteher*innen, die den Einlass gewähren oder verweigern können, weniger Machtressourcen. Der durch die sozialen In‐ teraktionen bestimmte Statusunterschied führt zu einem bestimmten physiolo‐ gischen Zustand bzw. einer spezifischen Emotion. Hier ist es die kollektive Angst, die von den Stammgästen des Berghains noch stärker als in anderen 133 Emotionen in der Techno-Szene 3 Siehe auch dazu: Anderson, Benedict R. O’G. (1991). Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism (Revised and extended. ed.). London: Verso. 4 Siehe Felt Communities? Emotions in European Music Performances (Concluding Report), 2014, https: / / www.mpib-berlin.mpg.de/ 340721/ research-report-2014-2016-felt-commu nities.pdf 5 "Until recently talking about feelings when referring to protests was quite unpopular in social movement studies, and it still causes ambivalent responses amongst scholars. Deborah Gould explains this suspiciousness toward any connection of protests with the unreasonable by the aftermath of psychological theory of mass political action, developed by Gustave Le Bon at the end of the 19th century", in Auer, C., Affect in political protest - The sound of anti-austerity demonstrations in Lisbon, 2013. Clubs empfunden zu werden scheint. Diese in der Gruppe geteilten Emotionen tragen zur Konstruktion einer felt community  3 im Sinne einer gefühlten Ge‐ meinschaft bei 4 . Techno-Communities, wie die des Berghains, sind emotionale Gemeinschaften in dem Sinne, dass emotionale Konventionen eine Rolle bei der Identitätsbildung der subkulturellen Gruppen spielen. Andere Emotionen können aber auch von der Techno-Community zugunsten politischer Forde‐ rungen mobilisiert werden. Der folgende Abschnitt verfolgt das Ziel, herauszu‐ arbeiten, welche Rolle Protest-Raves für den Kampf um den urbanen Raum haben. Resist-dance Der Affekt kann als eine Quelle der Kreativität und des politischen Potenzials betrachtet werden. Im Folgenden werden verschiedene politische Ereignisse analysiert, die mit der Techno-Szene verbunden sind und als "Protest-Raves" bezeichnet werden können. Die Proteste haben unterschiedliche Ziele: Einer‐ seits geht es um Proteste, die Clubkultur schützen sollen und städtische Räume für sich beanspruchen, zum anderen zeigt sich die Techno-Szene solidarisch mit gesellschaftlich marginalisierten Gruppen und positioniert sich gegen Recht‐ extremismus. Auer erinnert daran, dass es in der Erforschung sozialer Bewegungen lange unpopulär war, sich auf Emotionen zu beziehen 5 . Dies kann auf den Einfluss der Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten psychologischen Theorie von Gustav Le Bon zurückgeführt werden, der das politische Aufbegehren der Massen als völlig irrational betrachtet und behauptet, dass große Menschenansammlungen ihren Affekten ausgeliefert sind. In seinem 1895 erschienenen Buch Psychologie der Massen bezeichnet Le Bon den politischen Protest der Massen als eine Pa‐ thologie und als Ausdruck der Barbarei. Dieser Ansatz führte zur Delegitimie‐ rung von Protestbewegungen, indem man ihnen vorwarf, sich von Emotionen 134 Guillaume Robin und nicht von der Vernunft leiten zu lassen. Seitdem wurde die treibende Kraft der Emotionen für politisches Handeln akzeptiert; die Rationalität der Demonst‐ ranten wird nicht mehr infrage gestellt (Gould 2010: 22). Mit dem Ausdruck feeling protest - den Protest spüren - unterstreicht Auer die Bedeutung einer politischen Emotion, die nicht das Ergebnis logischen Denkens ist, sondern sich auf die Kapazität bezieht, das politische Engagement emotional und physiolo‐ gisch zu empfinden. Feeling protest bildet die Basis für kollektives Handeln in der Techno-Szene. Nach Erik Meyer (2000) spielt der Rave im öffentlichen Raum, auch wenn die politischen Botschaften dabei mehr gefühlt werden als klar po‐ litisch artikuliert sind, eine wichtige Rolle bei der Politisierung von jungen Menschen. Das Beispiel der Techno-Bewegung zeigt, dass das politische Be‐ wusstsein der Jugend sich nicht mehr nur über die klassischen politischen Or‐ ganisationen (z. B. der politischen Parteien und den Gewerkschaften) artikuliert, sondern auch über den Körper, durch die physische und feierliche Eroberung des urbanen Raums. Meyer verweist auf die Ambivalenzen der Loveparade, die sich anfangs als politische Demonstration positionierte, der es aber im Laufe der Zeit immer schwieriger wurde, wegen der wachsenden Popularität und Kom‐ merzialisierung eine explizite politische Botschaft zu formulieren und vor den Behörden ihren Status als politische Demonstration zu verteidigen. Der Akti‐ onsmodus der „Protest-Raves“ im Feld der Techno-Subkulturen lässt sich mit dem rationalistischen Paradigma, das die Soziologie des kollektiven Handelns lange dominiert hat, nicht erklären. Diese Prostest-Demonstrationen stellen festliche Aktionsformen dar, die gerade durch das Mobilisieren von Affekten politische Unterstützung gewinnen wollen. Nehmen wir das Beispiel des Pro‐ test-Raves, der am 25. Mai 2019 auf der Elsenbrücke in Berlin veranstaltet wurde und der dazu aufrief, den Ausbau der Autobahn A100 zu stoppen. Die Bürger‐ initiative Stadtring Süd ( BISS ) engagiert sich seit 2003 für die Einstellung des Bauprojektes der A100 über Treptow, Friedrichshain und Lichtenberg, die auch die Existenz von mehreren Techno-Clubs wie dem Salon zur wilden Renate, dem About Blank und der Else gefährden. Das Aktionsbündnis, das den Protest-Rave veranstaltete, stellte nicht nur Forderungen zum Schutz der Clubkultur, sondern wies zudem die damalige Berliner Verkehrs- und Umweltpolitik als nicht zu‐ kunftsfähig zurück. Im Aufruf zur Demonstration wird eine Stadt imaginiert, die auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen eingeht: Wir tanzen gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A100 durch Treptow, Friedrichs‐ hain und Lichtenberg! Es wäre auch das Ende vieler Clubs! Berlin will verkehrspoli‐ tisch nachhaltig, emissionsarm und innovativ sein? Gerne! Aber dann rollt Euren Au‐ tobahnplan gleich wieder ein! Dieser Plan einer Stadtautobahn ist aus dem letzten Jahrtausend und will sich durch unsere Kieze, unsere kurzen Alltagswege und unsere 135 Emotionen in der Techno-Szene 6 https: / / www.a100stoppen.de/ tag/ rave/ https: / / www.youtube.com/ watch? v=Tf Ye8HeasNA 7 "Politische Satire auf der Spree" (http: / / www.tagesspiegel.de/ berlin/ Mediaspree%253Ba rt270,2563538) In: Der Tagesspiegel, 2. Juli 2008, Planschprotest im Gummiboot. In: Der Tagesspiegel, 12. Juli 2008 kulturstiftenden Clubs wälzen. Wir fordern eine Elsenbrücke als Spreebalkon für alle! Mit viel Raum für Fußgänger, Radfahrer und Sonnenuntergangsanbeter. Aufenthalts‐ qualität statt Autobahnwahn! Komm and rave für Deinen Freiraum! 6 Eine ähnliche politische Strategie verfolgten auch die Betreiber*innen des mitt‐ lerweile geschlossenen Clubs Bar 25. Auch sie gingen ein Bündnis mit anderen Akteur*innen ein und beteiligten sich aktiv an der Bürger*inneninitiative Me‐ diaspree Versenken, die vom Architekten Carsten Joost angestoßen wurde. Diese Bürgerinitiative zielt darauf ab, ein großes Investitionssprojekt am Spree‐ ufer zu verhindern. Vergleichbare Protestaktionen zur Verhinderung von Bau‐ projekten wurden etwa auch von der Fuckparade oder dem Transgenialen CSD durchgeführt. Am 22. April 2007 wurde eine symbolische Versenkung des Bau‐ vorhabens Mediaspree auf der Michaelbrücke inszeniert und von der Polizei unterbrochen. Im Jahr 2008 fanden in Kreuzberg mehrere Anti-Mediaspree-De‐ monstrationen statt. In dem Dokumentarfilm Bar 25 - Außerhalb der Zeit (2012) sehen wir, wie sich ein Betreiber der Bar 25 emotionsgeladen - ihm fließen Tränen vor Wut - an den Aktionen von Mediaspree versenken beteiligt. Unter dem Slogan "Spreeufer für alle! " blockierten die Demonstrant*innen mit Ruder-, Tret- und Schlauchbooten den Landwehrkanal und die Spree. Die Veranstalter der Wasserdemo riefen mit dem Leitspruch "Investoren bejubeln" die Teilnehm‐ enden dazu auf, die Kreuzfahrt einer Investor*innendelegation mit kleinen Bo‐ oten zu eskortieren, so dass diese vorzeitig abgebrochen werden musste 7 . Das festliche Motiv dient somit als Kampfmittel; es steckt in der Satire und in der Techno-Party ein klares politisches Statement: die Verteidigung der Spreeufer für alle. In der Dokumentation ist zu sehen, wie die Betreiber*innen der Bar 25 Vertreter*innen der Bürgerinitiative Mediaspree versenken, den Bezirksbür‐ germeister Franz Schulz (Grüne) und Vertreter*innen der Bezirksverordneten‐ versammlung ( BVV ) an einen Tisch holten. Die Forderungen waren klar: Das Spreeufer wird im Namen des "Rechts auf Stadt" als gemeinnütziger Raum be‐ ansprucht und gegen den Bau von luxuriösen Eigentumswohnungen wie den des Hochhauses Living Levels verteidigt. Die Empörung der Berliner Bevölke‐ rung über die privaten Investitionsprojekte am Spreeufer führte am 13. Juni 2008 zum Bürger*innenentscheid "Spreeufer für alle". 87 Prozent der Wahlberech‐ tigten im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg stimmten gegen die Bebau‐ 136 Guillaume Robin 8 Potter, Nicholas, "Weil wir ein Club sind. Club Griessmühle in Gefahr", in TAZ, 21. 01. 2020. ungspläne, denen einige Berliner Politiker*innen zugestimmt hatten. Sie legten ein Veto gegen den ökologischen und urbanen Irrweg der zunehmenden Be‐ bauung und Asphaltierung des öffentlichen Raums ein und gegen die Gentrifi‐ zierung ganzer Stadtteile durch private Investor*innen. Zehn Jahre sind inzwi‐ schen vergangen, aber die Aktionsform der Wasserdemo belegt die Verflechtung des Emotionalen und der rational konstruierten Argumentation, wobei sich das Emotionale und das Rationale vermischen. Henri Lefebvre fordert in seinem einflussreichen Werk Le droit à la ville (Das Recht auf Stadt) eine Transformation der Städte. Lefevbre verteidigt die Vision einer erneuerten, bewohnbaren Stadt, die ein Gegenmodell zur rasanten Urbanisierung und den Massenwohnungsbau darstellt. Die vom Aktionsbündnis A100 Stoppen vorgebrachten Argumente zu den "Qualitätseinbußen, die mit dem Urbanisierungsprozess einhergehen" stellen ein Echo von Lefebvres Forderungen dar. Der Protest-Rave sollte zwar die eigenen subkulturellen Räume verteidigen, die Forderungen gingen aber weit über die eigenen Interessen hinaus: Er sollte den urbanen Raum für die Berliner Bevölkerung zurückerobern. Die Initiative "Save our Spaces" der Griessmühle, eines Techno-Clubs im Be‐ zirk Neukölln, die ins Leben gerufen wurde, um gegen dessen Schließung zu protestieren, stellt eine weitere subkulturelle Widerstandsformen dar. Der Club, dessen Mietvertrag Anfang 2020 auslief, wurde von der Immobilienverwal‐ tungsgesellschaft S IMMO zum Umzug aufgefordert - auf dem Clubgelände sollten Eigentumswohnungen gebaut werden 8 . Der Club startete eine On‐ line-Petition, die fast 42 000 Unterschriften sammelte. Die dazugehörige Crowd‐ funding-Kampagne brachte 60 000 Euro ein. Die Griessmühle veranstaltete am 20. Januar 2020 als letztes Mittel eine Techno-Demo, die auf die Gefahren von Immobilienspekulationen für die Berliner Clubkultur aufmerksam machen wollte und vor dem Rathaus Neukölln endete. Die Aktion Save our Spaces - Rettet die Griessmühle wandte sich in den sozialen Medien an Stammgäste und mög‐ liche Unterstützer*innen. Der Aufruf bediente sich einer emotional aufgela‐ denen Sprache, das Wort "Liebe" wurde mehrmals wiederholt. Der Text schloss mit einem Appell an die Stadt Berlin: "Don’t break our heart". Die Verwendung von Emotionen verfolgt ein klares politisches Ziel: einen Kulturstandort schützen. "Wir sind nicht nur ein Club: Mit Ping-Pong-Abenden, Kinonächten und Trödelmärkten, geht ein Kiez-Treff für den Bezirk und die Menschen hier in Berlin-Neukölln verloren." Nach erfolglosen Versuchen, den zuständigen Ver‐ walter und den Eigentümer des ehemaligen Industriegeländes (die Immobilien‐ 137 Emotionen in der Techno-Szene gesellschaft S IMMO Germany GmbH) an einen Tisch zu bringen, wandten sich die Organisator*innen an die politischen Parteien, wohl wissend, dass für die lokale Politik die Unterstützung der Clubkultur in Berlin ein wichtiges Wahl‐ kampfthema darstellt. Auf der Unterstützungsdemonstration am 20. Januar 2020 hielten die Vertreter*innen mehrerer Parteien kurze Reden und bekräftigten ihre Unterstützung für die Techno-Szene: Martin Hikel ( SPD , Bürgermeister von Neukölln), Falko Liecke ( CDU , stellvertretender Bezirksbürgermeister), Georg Kössler (Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses in der Fraktion Bündnis / die Grünen), Anne Helm (Linke, MdA). Interessant ist, dass der Appell an die Stammkundschaft der Griessmühle und an die Berliner*innen auf einer politi‐ schen Argumentation basiert: über die naheliegenden Forderungen hinaus, die alle im Eigeninteresse des Clubs stehen, zielt der Diskurs auf die Selbstpositio‐ nierung des Clubs als Kulturstandort hin, um damit die Forderungen an die Politik zu legitimieren: Mit der drohenden Verdrängung durch Neubauten sind wir nicht allein. Auch andere Kulturstandorte Berlins müssen derzeit dagegen ankämpfen. Die Umweltstandards sind auch für die Zukunft der Clubs und der Clubs selbst gleich. Ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Unterstützung bedanken. Daher lauten unsere konkreten Forderungen an die Politik zusätzlich: Bestandsschutz bestehender Clubs und Berücksichtigung von Clubstandorten in Bebauungsplänen bis 2030, Anerkennung der Clubs als Kultur‐ stätten, langfristige innerstädtische Alternativen für bedrohte Standorte. Der Mietvertrag wurde jedoch nicht verlängert und alle Versuche, mit der Im‐ mobiliengesellschaft zu verhandeln, scheiterten. Die Griessmühle musste schließen, konnte aber unter dem Namen Revier Südost im Stadtteil Schön‐ eweide wiedereröffnen. Proteste, die von der Techno-Community angestoßen werden, fordern aber nicht nur ein Recht auf Stadt ein, sondern können sich auch gegen politischen Extremismus engagieren. Die Mobilisierung von Emotionen in der Techno-Community als treibende Kraft für politisches Handeln scheint auf zwei Hauptgründen zu basieren: erstens auf der Forderung nach einer Clubkultur als Ausdruck des Rechts auf Stadt; zweitens auf der festlichen Selbstbehauptung im urbanen Raum als politischem Kampfmittel gegen Extremismus und Obskuran‐ tismus. Diese zweite Aktionsform wird anhand von zwei Protestaktionen ver‐ anschaulicht: dem Rave AfD Wegbassen vom 27. 05. 2018 und der Techno Procesja im November 2020. In Reaktion auf die Ankündigung einer AfD-Großdemonst‐ ration in Berlin rief die Club Commission, ein Zusammenschluss von Berliner Clubs, die Techno-Community dazu auf, einen Rave als Gegendemonstration zu organisieren, mit dem Ziel die AfD "wegzubassen". Das Motto "Kein Dancefloor 138 Guillaume Robin 9 27. 05. 2018. "AfD Wegbassen - Berlin Against Nazis: Berlins Clubkultur ist alles, was die Nazis nicht sind und was sie hassen: Wir sind progressiv, queer, feministisch, anti‐ rassistisch, inklusiv, bunt und haben Einhörner. Auf unseren Dancefloors vergesell‐ schaften sich Menschen mit unbegrenzten Herkünften, vielfältigsten Begehren, wech‐ selnden Identitäten und gutem Geschmack. Demgegenüber verkörpern AfD und Pegida ein repressives, heteronormatives, antifeministisches und rassistisches Bild von Ge‐ sellschaft. Ihr Ziel ist die völkische Formierung, die Rekonstituierung nationalis‐ tisch-homogener Staaten und die Stigmatisierung von allen, die nicht dazugehören sollen. Sie wollen am 27. Mai ihre menschenfeindliche Ideologie zum Kanzlerinnenamt tragen, um den Druck von Rechtsaußen aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Sicht‐ bare Merkmale dieser Strategie sind die Verschärfungen der Regierungspolitik gegen Geflüchtete, die Aufrüstung der sog. Inneren Sicherheit und - als Gipfel der Ge‐ schmacklosigkeit - das Heimatministerium. Dieser Zustand ist nicht tanzbar. Deshalb wird unsere Party ihren Aufmarsch crashen. Wir laden die Berliner Feierszene zur Af‐ terhour - den AfD-Aufmarsch wegbassen! " https: / / ra.co/ events/ 1112352. für Nazis" sollte die Haltung der Techno-Community zusammenfassen. Die For‐ mulierung "dieser Zustand ist nicht tanzbar 9 " appelliert an die Affekte der Techno-Community, an die Form des Feeling Protests. Bei der Techno-Parade, an der der sog. Queer-Block teilnahm - eine bunte und friedliche, parodistische Umkehrung des Schwarzen Blocks -, versammelten sich laut Zählungen der Organisator*innen fast 70 000 Teilnehmer*innen in Berlin und überstiegen damit zahlenmäßig die Anhänger*innen der AfD, welche an diesem Tag nur zwischen 5000 und 8000 Demonstrant*innen mobilisieren konnte. Ein weiterer Auslöser für den Protest, die von einem großen Teil der Berliner Techno-Com‐ munity unterstützt wurde, war der brutale Eingriff der georgischen Polizei am 12. Mai 2018 im bekannten Techno-Club Bassiani in Tiflis. Dass diese Hochburg der LGBT - und Techno-Community in Georgien zum Ziel der Polizeigewalt wurde, löste eine kollektive Empörung aus. Nach diesem Polizei-Angriff ent‐ fachte sich eine tiefe Entrüstung in der georgischen Jugend und mehrere Tau‐ send junge Georgier organisierten vor dem georgischen Parlament eine nicht genehmigte Ravolte - einen Protest-Rave -, um die repressive Politik der geor‐ gischen Regierung anzuprangern. Die Empörung der georgischen Jugend fand ein Echo in der Berliner Jugend, denn das Bassiani gilt als eines der besten Techno-Clubs der Welt und repräsentiert für den Kaukasus, was das Berghain für die westeuropäische Technoszene darstellt. Der gemeinsame Tanz drückt eine Form des Protests aus. Er ist Teil des "Fee‐ ling Protest". Ähnliche Beweggründe veranlassten das Kollektiv "Dziewuchy Berlin" (Frauen von Berlin), am 7. November 2020 einen Protest-Rave unter dem Motto "If I can’t dance, that’s not my revolution" zu veranstalten. Der Zweck dieser Demonstration war es, gegen das neue Gesetz der polnischen Regierung zum Verbot der Abtreibung zu protestieren. Sie sollte ein Zeichen der Solidarität 139 Emotionen in der Techno-Szene 10 https: / / www.facebook.com/ events/ hermannplatz/ techno-procesja-if-i-cant-dance-its -not-my-revolution/ 364923668109840/ mit den polnischen Frauen und der LGBT + Community sein: Mehrere Hundert Menschen versammelten sich auf dem Hermannplatz in Berlin und parodierten eine religiöse Prozession, indem sie den feierlichen Umzug mit basslastiger Musik unterlegten: "Wir marschieren im Rhythmus des Techno zur (polnischen) Kirche Johannes Basilika, wo wir wie üblich Lärm machen, indem wir feminis‐ tische Parolen singen und laut über die Diskriminierung sprechen, die uns be‐ trifft. " 10 Diese Veranstaltung zielte darauf ab, die Berliner Techno-Community, die in Fragen Gender, Körperfreiheit und Frauenrechte sensibilisiert ist, durch Emotionen zu bewegen und damit zur Ravolte anzuregen. Rebellion der Raver Der am 31. 05. 2020 vom Kollektiv "Rebellion der Träumer" organisierte Rave-Protest kann auch trotz seines patenten Hedonismus im Sinne einer Ra‐ volte interpretiert werden. Er hat aber auch deshalb innerhalb der Techno-Com‐ munity für Spannungen gesorgt. Die Organisatoren bedienten sich der gleichen Aktionsform, d. h. einer Wasserdemo, einer musikalischen Besetzung der Spree mit Schlauch-, Tret- und Motorbooten. Diese von den Veranstaltern als "Rebel‐ lion der Träumer" bezeichnete Wasserdemo setzte sich zum Ziel, in Zeiten der Corona-Pandemie die Aufmerksamkeit auf die Schließung der Clubs zu lenken und für die wachsende Prekarität von Kulturschaffenden zu sensibilisieren. Sie unterstreicht, wie stark das Thema Clubkultur in Berlin emotional aufgeladen ist. Die Präsenz eines auf einem Boot befestigten Banners mit der Aufschrift "I can’t breathe", das vermutlich als Solidaritätsbekundung zur parallel veranstal‐ teten Demonstration von Black Lives Matter gedacht war, stieß wegen dieses zweifelhaften Amalgams in den sozialen Netzwerken vermehrt auf Ablehnung. Außerdem endete der Rave-Umzug vor einem Krankenhaus, was etwa die Grünen-Fraktionschefin Silke Gebel schockierte: "Ein Rave vor einem Kranken‐ haus ist mindestens schlechter Stil". Der SPD -Bundestagsabgeordnete Karl Lau‐ terbach empörte sich über die Schlauchboot-Party und nannte sie "makaber". Die Veranstalter*innen mussten sich dafür entschuldigen, dass die Demonstra‐ tion außer Kontrolle geriet und begründeten in der Pressemitteilung erneut ihr Engagement für den Erhalt der Clubkultur und die Unterstützung der von der Pandemie bedrohten Kulturschaffenden. Die vorangestellten Beispiele von Protest-Raves sind neue Ausdrucksformen des Politischen. Im Bereich der Soziologie des kollektiven Handelns wird die 140 Guillaume Robin 11 Siehe dazu Van Dam Denise, Nizet Jean, Streith Michel, "Les émotions comme lien entre l’action collective et l’activité professionnelle: le cas de l’agriculture biologique", Natures Sciences Sociétés, 2012 / 3 (Vol. 20), S. 318-329. URL: https: / / www.cairn.info/ revue-natur es-sciences-societes-2012-3-page-318.htm wesentliche Rolle von Emotionen betont (Cefaï 2007, Neveu 2005) 11 . Der Zu‐ sammenhalt in der Techno-Community bildet auch die Basis von politischen Zusammenschlüssen. Was zunächst nur als die Verteidigung des Eigeninteresses der Clubs erscheint, muss in größere Zusammenhänge eingeordnet werden. Die Forderung der Wiederbelebung der Clubkultur wird an eine bestimmte Vision von urbaner Entwicklung gekoppelt: Sie steht auch für einen gemeinnützig ge‐ nutzten öffentlichen Raum und stellt sich gegen Immobilienspekulationen. Durch die von Emotionalität aufgeladene Aktionsform der Resist-dance positi‐ oniert sich die Clubkultur als Gegen-Modell im öffentlichen Raum und als ge‐ meinnützige kulturelle Aktivität. Literatur Auer, Christine, Feeling protest: Emotion in social movement studies and affect as a theoretical concept, 2012: https: / / f-origin.hypotheses.org/ wp-content/ blogs.dir/ 1140/ files/ 2013/ 02/ Affect-in-political-protest_Christine-Auer.pdf. Cefaï, Daniel, Pourquoi se mobilise-t-on ? Les théories de l’action collective, Paris, la Dé‐ couverte, 2007. Favret-Saada, Jeanne, Weber, Les émotions et la religion, Terrain: revue d’ethnologie de l’Europe, Ministère de la culture, Sous-direction ARCHETIS-DAPA, 1994, S. 93-108. Garcia, Luis-Manuel, Feeling the vibe: sound, vibration, and affective attunement in electronic dance music scenes, in Ethnomusicology forum 29, 2020, S. 1-19. Gould, Deborah, On Affect and Protest, in Janet Staiger et al. (Hg.), Political Emotions. 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Robin, Guillaume, Techno, Berghain und die Körperfabrik, Marburg, Büchner, 2021. Rosenwein, Barbara H., Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca, NY, Cornell University Press, 2006. Rosenwein, Barbara H., Emotional Communities and the Body, Médiévales, vol. 61, no. 2, 2011, S. 55-75. 142 Guillaume Robin Fehlende oder verdächtige Emotionen? Entemotionalisierungsprozesse bei den SPD -Bundestagsabgeordneten im Laufe der 68er Bewegung (1967-1972) Nicolas Batteux (Sorbonne Université, Paris / Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Sorbonne - Identités, relations internationales et civilisations de l’Europe, UMR 8138) Abstract Die 68er Bewegung gilt als Paradebeispiel für einen Emotionsausbruch. Al‐ lerdings wurden bisher oft die Studenten allein als Gegenstand von emoti‐ onsgeschichtlichen Untersuchungen betrachtet. Ziel dieses Beitrags ist es, diese traditionelle Perspektive umzukehren und das Parlament anhand des Beispiels der SPD -Bundestagsfraktion zu jener Zeit emotionsgeschichtlich zu beleuchten. Die SPD -Abgeordneten eigneten sich ein besonderes Verständnis des Emotionsbegriffs an, das viel restriktiver als die übliche, oft als Synonym für Gefühle benutzte Verwendung des Begriffs war. „Emotionen“ fungierte nämlich als Containerbegriff, um das als negativ empfundene Verhalten der demonstrierenden Jugend an den Pranger zu stellen. In diesem Beitrag wird dieser Gebrauch mit Hinblick auf die Entwicklungen der Sozialdemokratie - und der Bundesrepublik - in den früheren Jahrzehnten kontextualisiert. Da‐ rüber hinaus soll die Frage der Dynamik der Fraktion in ihrem Verhältnis zu den Emotionen der 68er untersucht werden. Die Erforschung von Emotionen als Gegenstand der Geschichtswissenschaft steht seit mindestens zwei Jahrzehnten hoch im Kurs. Es herrscht ein Konsens darüber, dass Emotionen als historisches Konstrukt und nicht als etwas Natür‐ liches verstanden werden sollen. Obschon etliche Studien sich darum bemühen, die Geschichte von einzelnen Emotionen in der longue durée zu erforschen (Fre‐ vert 2017a; Gotto 2018), bieten ebenfalls Momentaufnahmen, die in der Öffent‐ lichkeit sehr stark rezipiert wurden, einen sinnvollen Anlass zu emotionsge‐ schichtlichen Untersuchungen. Die 68er Bewegung gehört zu diesen Momenten. Ob als Bruch mit den verkrusteten Strukturen der westdeutschen Gesellschaft oder als Beginn einer gesellschaftlichen Dekadenz interpretiert, hat diese Be‐ wegung die westdeutsche Gesellschaft - wie auch viele andere - sehr stark polarisiert und zu einer diskursiven Zuspitzung der involvierten AkteurInnen geführt. Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, die Demonstrationen der Notstandsgegner sowie die Anti-Springer-Kampagne nach dem Anschlag auf den Studentenanführer Rudi Dutschke gehören seit langem zum kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft, wie die Berücksichtigung der 68er Be‐ wegung als deutscher Erinnerungsort es beweist (Bude 2009). Diese Wutaus‐ brüche gegen die bestehende Ordnung artikulierten sich zum größten Teil durch die Aktivitäten der außerparlamentarischen Opposition ( APO ). Die APO machte sich die Kritik und die Empörung zu eigen und richtete sie gegen das parlamentarische System, das sich mit der Gründung der Großen Koalition 1966 selbst disqualifiziert habe. Wie reagierten aber die Bundestagsabgeordneten auf diese Emotionsausbrüche? Beanspruchte die APO ein Emotionsmonopol ge‐ genüber den Bundestagsabgeordneten im Laufe der 68er Bewegung? Während die Straße als emotionaler Ort zu jener Zeit bereits untersucht wurde (Pilzweger 2015; Häberlen 2018), ist das Parlament als Akteur der 68er Bewegung von der Emotionsforschung bisher kaum rezipiert worden. Ziel dieses Beitrags ist dem‐ entsprechend, das Parlament am Beispiel der SPD -Bundestagsfraktion im Laufe der 68er Bewegung zu hinterfragen. Die Methoden der Kulturgeschichte der Politik scheinen hier besonders fruchtbar, um das Verhältnis der SPD -Bundes‐ tagsabgeordneten zu den „Emotionen“ auszuloten. Dieses Verhältnis lässt sich zunächst diskursiv messen, aber die Haltung der Abgeordneten im Plenum, ihre Zurufe, ihre Gestik sind ebenfalls Ausdruck einer Emotionalität, wie der Histo‐ riker Thomas Mergel am Beispiel des Weimarer Reichstags bereits gezeigt hat (Mergel 2002). Die semantische Verwendung des Emotionsbegriffs durch die SPD -Bundestagsabgeordneten erweist sich schon als ein Indiz für die Wahr‐ nehmung der Emotionen innerhalb der Fraktion und soll deswegen näher be‐ trachtet werden. „Emotionen“ bei den SPD-Bundestagsabgeordneten. Begrifflichkeiten Zunächst ist es wichtig, Emotionen als Quellenbegriff zu definieren. Als sie sich auf dem Höhepunkt der Krise der 68er Bewegung befanden, deuteten nämlich die SPD -Abgeordneten Emotionen als grundsätzlich negativen Meinungsaus‐ druck. In dieser Hinsicht verstanden sie sie als Gegensatz zur Mäßigung und 144 Nicolas Batteux 1 Fédération de la Gauche Démocrate et Socialiste (wortwörtlich übersetzt: Bund der de‐ mokratischen und sozialistischen Linken). Die FGDS wurde 1965 gegründet und bestand in einer Koalition aller linksorientierten Kräfte außer der Kommunistischen Partei. Dieses Bündnis, dessen Ziel es war, zur Gründung einer großen sozialistischen Partei war, sollte eine glaubwürdige Alternative zum Gaullismus bilden. Sachlichkeit, als Form des Exzesses (Biess 2019). Diese Emotionen wurden grundsätzlich normativ definiert und unterschieden sich dementsprechend von der breiteren Bedeutung, die dem Begriff üblicherweise zugemessen wird. Ob‐ wohl er oft als Synonym für Gefühle verwendet wird (Miard-Delacroix / Wir‐ sching 2020: 2), umfasste dieser Begriff bei den SPD -Abgeordneten 1967 nicht die ganze Bandbreite der Gefühle, sondern hauptsächlich die als negativ emp‐ fundenen Gefühle. Der für diesen Artikel herausgestellte Korpus besteht aus Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages aus der Zeitspanne 1967-1972, sowie Protokolle aus Ausschussberatungen und SPD -Arbeitskreisen, SPD -Fraktionssitzungen sowie Zeitungsartikeln und Briefkorrespondenzen von einzelnen SPD -Bundestagsab‐ geordneten. Anhand dieser verschiedenen Quellen lässt sich feststellen, dass die breite Palette von Gefühlen, die im Laufe der 68er Bewegung und der Ausei‐ nandersetzung der Bundestagsabgeordneten mit der Notstandsverfassung (1967-1968) artikuliert wurden, sehr oft unter den Begriff „Emotionen“ subsu‐ miert wurden. Diese „Emotionen“ stehen im Zentrum dieses Beitrags. Emotionen in der Bundesrepublik: die Karriere eines negativ konnotierten Begriffes Wenn man sich mit verschiedenen Parlamenten in Europa zur Zeit der 68er Bewegung befasst, fällt der frappierende Kontrast zwischen der emotionalen Praxis der bundesrepublikanischen (sozialdemokratischen) Abgeordneten und ihrer französischen (sozialistischen) Kollegen auf. Während sich SPD -Bundes‐ tagsabgeordnete wie etwa der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt ausdrück‐ lich weigerten, Emotionen im Laufe der 68er Bewegung als akzeptablen Kom‐ munikationsmodus anzuerkennen, beobachtete man im Mai 1968 in der französischen Nationalversammlung eine Tendenz bei den FGDS   1 -Abgeord‐ neten, sich emotional zu verhalten. Sie machten das Parlament zu einer de‐ monstrations- und mobilisierungsförmigen Arena. Gaullistische Abgeordnete beschwerten sich beispielsweise über die Ähnlichkeiten zwischen den De‐ monstrationen in Nanterre und den Wutausbrüchen der sozialistischen Abge‐ 145 Fehlende oder verdächtige Emotionen? 2 Französische Nationalversammlung - 3. Wahlperiode - Plenarsitzung am 14. 5. 1968 (1. Sitzung) [ONLINE]. Plenarprotokoll Nr. 29, Jahrgang 1968, 1775, http: / / archives.assem blee-nationale.fr/ 3/ cri/ 1967-1968-ordinaire2/ 022.pdf (abgerufen am 06. 12. 2020). 3 Archiv der sozialen Demokratie, SPD-BT-Fraktion, 5. WP, 49 / 52, Zitiert nach: Frakti‐ onssitzung, SPD, 31. 01. 1967, in: „Editionsprogramm Fraktionen im Deutschen Bun‐ destag”, SPD, 5. Wahlperiode, online. https: / / fraktionsprotokolle.de/ handle/ 762 (abge‐ rufen am 06. 12. 2020). ordneten, die sie mit den „enragés à Nanterre“ 2 gleichstellten, als sich die Zurufe und die Unterbrechungen seitens der FGDS -Abgeordneten vermehrten. Da‐ durch versuchten die empörten FGDS -Abgeordneten, die studentischen Akti‐ onen zu unterstützen und sich als Herolde der studentischen Sache zu stilisieren. Der Versuch der FGDS -Fraktion, sich emotional, durch vermehrte Zurufe im parlamentarischen Raum durchzusetzen, geschah mit der Absicht, sich gegen‐ über der studentischen Jugend in einem positiven Licht zu präsentieren. Das, was der Fraktion an objektiver Macht im Verhältnis zur gaullistischen Mehrheit fehlte, versuchte sie, im Mai durch verbalen Aktivismus und schiere Emotiona‐ lität zu kompensieren. Solche emotionalen Ausbrüche gab es aber zu jener Zeit bei den SPD -Bun‐ destagsabgeordneten in der Bundesrepublik nicht. Sachlichkeit und Nüchtern‐ heit waren Stichwörter der bundesrepublikanischen Politik (Frevert 2017b: 133), die sich die SPD -Abgeordneten angeeignet hatten. Die emotionale Ge‐ meinschaft mit den Studierenden, die die FGDS in Frankreich herzustellen ver‐ suchte, war in der Bundesrepublik aus mehreren Gründen undenkbar. Zunächst befanden sich die SPD -Abgeordneten in einer Großen Koalition mit der CDU / CSU , die zur Änderung des Parteistatus beigetragen hatte (Eichhorn 2009). Die SPD war nämlich zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesre‐ publik Regierungspartei auf Bundesebene und gerade die Teilnahme an einem Bündnis mit dem größten politischen Gegner - der CDU / CSU - sorgte für Un‐ ruhe und Unverständnis in den sozialdemokratischen Reihen. Hedwig Meer‐ mann, SPD -Bundestagsabgeordnete, schätzte im Laufe der Fraktionssitzung vom 31. Januar 1967, dass die SPD in der Notstandsdebatte größere Schwierig‐ keiten als die CDU / CSU und die FDP hatte, weil die Notstandsgegner insbe‐ sondere Ressentiments gegenüber der SPD hegten. 3 Das Verhältnis dieser Ak‐ teure zur SPD lasse sich durch das Paradigma des Verrats lesen. Die Notstandsgegner rekrutierten sich massiv aus Gewerkschaftern und Studenten, die oft in enger Verbindung zur Partei standen. Die doppelte Kurskorrektur in der Partei - sowohl die Teilnahme an der Großen Koalition als auch die Unter‐ stützung der Notstandsverfassung - führte zu einem Bruch zwischen den Ver‐ teidigern des pragmatischen Kurses innerhalb der Partei oder der Bundestags‐ 146 Nicolas Batteux 4 Brief von Theodor Heuss an Konrad Adenauer am 19. Juni 1951, in: Hans Peter Men‐ sing / Rudolf Morsey / Hans-Peter Schwarz (ed.), Heuss Adenauer. Unserem Vaterlande zugute. Der Briefwechsel 1948-1963, Berlin, Siedler, 1989, 72-74. 5 In Ihrem Beitrag zu den „Problems and methods of the history of emotions“ schätzt Barbara Rosenwein, dass eine Nation als „emotional community“ wahrgenommen werden könne (Rosenwein 2010: 12). fraktion und den Anhängern, die an den historischen Werten der Sozialdemokratie festhielten. Diese Konstellation schaffte eine Dichotomie zwi‐ schen Pragmatismus und Idealismus, Adaptabilität und Kontinuität, die letzt‐ endlich in den Dualismus zwischen Sachlichkeit und Emotionalität mündete. Zu diesem eher konjunkturellen Element gehört auch eine Grundtendenz, die eine gewichtige Rolle in der Abkehr von Emotionen bei den Bundestagsabge‐ ordneten spielte. Die Erfahrung des Nationalsozialismus prägte nämlich den Umgang des politischen Personals mit Emotionen in der Nachkriegszeit sehr stark. Der Historiker Eike Wolgast sieht „Politik und Politikvorstellungen“ nach 1945 als „entemotionalisiert“ an (Wolgast 1997). Bundespräsident Theodor Heuss ging sogar in den 1950er Jahren einen Schritt weiter, indem er von einem „Pathos der Nüchternheit“ in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sprach. 4 Das Konzept der emotional community, das von Barbara Rosenwein entwickelt wurde, erscheint hier sinnvoll, um die Bundesrepublik als eine solche emotional community darzustellen 5 (Rosenwein 2010), die auf dem Konsens über Demut beruhte (Frevert 2017b: 133). Diese Gemeinschaft beruhte auf der ge‐ meinsamen Erfahrung des Nationalsozialismus, die auch das Handeln der Ab‐ geordneten bedingte. Die jüngere Generation, die im Kontext der 68er Bewe‐ gung demonstrierte teilte aber diese kollektive Erfahrung nicht: Sie stellte vielmehr die Grundlage dieser nationalen emotional community, nämlich die Demut, infrage. Die westdeutsche Gesellschaft sei kaum entnazifiziert worden und die Verantwortung der Vätergeneration im Zweiten Weltkrieg solle the‐ matisiert werden. Es herrsche eine Heuchelei, die mit der zugespitzten Sach‐ lichkeit des politischen Diskurses einherging und die es zu entlarven galt. Emotionen und Generationalität Die 68er Bewegung wurde in der Forschung oft im Spiegel des Generationsbe‐ griffs (Gilcher-Holtey 2011, Siegfried 2005) analysiert. Im Rahmen einer emoti‐ onsgeschichtlichen Untersuchung des Phänomens im Parlament erweist sich das Generationsparadigma ebenfalls als relevant, um die kontrastierten Wahr‐ nehmungen von Emotionen zwischen Jugendlichen und Parlamentariern zu 147 Fehlende oder verdächtige Emotionen? 6 Franke, Egon, „Aus dem Leben seines Funktionärs. Offener Brief an einen jungen An‐ hänger der APO“, in: Neue Gesellschaft, 15, 1968, 473-477. 7 Ibid., 473. 8 118 von 217 SPD-Bundestagsabgeordnete waren 1967 mindestens 51 Jahre alt (eigene Berechnungen). 9 AdsD, SPD-BT-Fraktion, 5. WP, 114. Fraktionssitzung, SPD, 21. 01. 1969, in: „Editions‐ programm Fraktionen im Deutschen Bundestag“, SPD, 5. Wahlperiode, online. https: / / fraktionsprotokolle.de/ handle/ 825 (abgerufen am 06. 12. 2020). analysieren. In einem Brief an einen fiktiven jungen Anhänger der APO 6 ant‐ wortete der einflussreiche SPD -Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Egon Franke auf die emotionale Kritik, mit der die SPD zu jener Zeit konfrontiert wurde. Der Begriff der „Funktionäre“, der zum Repertoire der APO gehörte, wurde von Franke übernommen, um die SPD -feindlichen Vorurteile abzubauen, die in der Jugend grassierten. Seine Erzählung hielt er gewiss nüchtern; er sagte, er könne von keinen „großen Sensationen“ be‐ richten. 7 Dadurch schilderte er exemplarisch den Werdegang zahlreicher SPD -Mitglieder im Krieg, die das Parteiverbot, den Freiheitsentzug und die Ge‐ fangenschaft erlebt hatten. In seinem Beitrag betonte Franke seine Leidenschaft für die Demokratie und stellte in dieser Hinsicht ein gewisses Pathos der de‐ mokratischen Gesinnung unter Beweis, das auf das Heuss’sche Konzept des „Pathos der Nüchternheit“ zurückgriff. Franke rechtfertigte die Nüchternheit der SPD -Politiker, indem er das Narrativ einer demokratischen Entbehrung zur Zeit des Nationalsozialismus bemühte, die zur wahren Schätzung der Grund‐ werte der Demokratie geführt habe. So legitimierte er die Sachlichkeit und den Pragmatismus seiner SPD -Kollegen gegenüber der Jugend. Die meisten SPD -Bundestagsabgeordneten hatten ein ähnliches Profil wie Franke. Die Mehrhheit der Abgeordneten war Ende der 1960er Jahre über 50 Jahre alt. 8 Aus diesem Grund wurde die studentische 68er Bewegung als ein „Kulturschock“ wahrgenommen (Frevert 2017b: 136). Die Sprüche der APO störten einen Teil der politischen Klasse und darunter auch SPD -Bundestags‐ abgeordnete erheblich. In der Fraktionssitzung vom 21. Januar 1969 zog Helmut Schmidt sogar eine Parallele zwischen der „Demolierung von Rektoratszimmern oder von Kaufhäusern oder Gewerkschaftshäusern oder Parteibüros“ und „dem Verhalten von SA -Trupps heute vor 30 oder 35 Jahren“. 9 Interessant ist dabei Schmidts Absicht, den Eindruck zu vermitteln, nicht „emotionalisiert zu sein“. Diese Worte gehörten nämlich zu einem ähnlichen Repertoire wie dem der Stu‐ dentenrebellen, die sich an die politische Klasse wandten. Schmidt wollte aber jeglichen Vergleich mit den Demonstranten wegen der Verwendung ähnlicher Begriffe vermeiden. In der Auseinandersetzung mit der Jugend solle sich - so Helmut Schmidt - die Partei nicht als eine „pädagogische Institution, eine all‐ 148 Nicolas Batteux 10 Ibid. 11 Deutscher Bundestag - Drucksachen und Plenarprotokolle des Bundestages - 1949 bis 2005 [online]. [Berlin]: Deutscher Bundestag. Drucksache Nr.: 05 / 136 vom 17. 11. 1967, 6918, http: / / dipbt.bundestag.de/ doc/ btp/ 05/ 05136.pdf (abgerufen am 6. 12. 2020). gemeine Volkshochschule“ verstehen, sondern „in erster Linie [als] eine Verei‐ nigung politisch Gleichgesinnter“, deren Ziel es sei, „staatliche Macht zu er‐ ringen und zu bewahren“. 10 Die Ablehnung von Emotionen durch Schmidt ging mit einer kritischen Sicht der Jugend einher. Wie es der Historiker Matthieu Dubois bereits in seiner Studie über die Jugendorganisationen der politischen Parteien im Laufe der 68er Bewegung in Frankreich und in der Bundesrepublik zeigte, war die SPD in der Frage des Verhältnisses zur protestierenden Jugend gespalten. Der eine Pol um Willy Brandt kennzeichnete sich durch eine wohl‐ wollende Haltung gegenüber den jungen Demonstranten. Er versuchte, sie all‐ mählich in die Strukturen der SPD zu integrieren, um sie zu nüchterneren Aus‐ sagen zu bringen. Der andere Pol um Helmut Schmidt dagegen zeigte sich in dieser Frage kritischer (Dubois 2014: 182), wie das obige Zitat beispielhaft of‐ fenbart. Emotionen gehörten in Schmidts Augen nicht zum Ethos eines Berufs‐ politikers. Schmidt ging noch weiter, als er in einer Plenarsitzung am 17. 11. 1967 erklärte, dass Exzesse und Empörung von der jüngeren Generation zwar zu er‐ warten waren, aber dass er sich selbst zu seiner Jugendzeit - und als SDS -Vor‐ sitzender - nie den Emotionen und der Respektlosigkeit hingegeben habe, die sich die 68er-Demonstranten zu eigen gemacht hatten. 11 Schmidt stellt ein ein‐ leuchtendes Beispiel für eine entschiedene Ablehnung der emotionalen Radi‐ kalität der 68er Bewegung dar. Demnach stellt sich also die Frage der Reprä‐ sentativität der Haltung Schmidts innerhalb der eigenen Bundestagsfraktion. War diese Wahrnehmung beispielhaft für das Selbstverständnis der SPD -Frak‐ tion in ihrem Verhältnis zu Emotionen? SPD-Bundestagsabgeordnete und die „Emotionen“ der Studenten: eine homogene Gesinnungsgemeinschaft? Das Generationsparadigma erklärt zu einem nicht unerheblichen Teil den Un‐ terschied der emotionalen (oder nicht emotionalen) Kommunikationsmodi von SPD -Bundestagsabgeordneten und 68er-Jugendlichen. Allerdings existierten auch Unterschiede innerhalb der Fraktion. Dies war bereits sichtbar in den Re‐ aktionen auf die studentischen Demonstrationen. Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, der für bundesweite Empörung gesorgt hatte, fand aber in den SPD -Fraktionssitzungen nur eine mäßige Resonanz. Das Thema wurde zwar im Zuge der Sitzung vom 6. Juni besprochen, doch wurde es erst nach der politi‐ 149 Fehlende oder verdächtige Emotionen? 12 AdsD, SPD-BT-Fraktion, 5. WP, 65. Fraktionssitzung, SPD, 06. 06. 1967, in: Editions‐ programm „Fraktionen im Deutschen Bundestag“, SPD, 5. Wahlperiode, online. https: / / fraktionsprotokolle.de/ handle/ 775 (abgerufen am 06. 12. 2020). 13 Ibid. 14 AdsD, SPD-BT-Fraktion, 5. WP, 1143. 15 Karl-Heinz Kurras war der Polizeibeamte, der Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschoss und Josef Bachmann schoss auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. schen Situation im Nahen Osten, den Wahlergebnissen in Niedersachsen, der Situation der Großen Koalition und der wirtschaftlichen Lage im politischen Bericht vom Fraktionsvorsitzenden Schmidt erwähnt. 12 Auch in diesem Bericht erwähnte Schmidt nicht die emotionale Dimension des Mordes, sondern sprach von den „Vorgängen in Berlin“ und von der Notwendigkeit, Staatsbesuche wie den vom iranischen Schah in der Zukunft zu vermeiden. Kurt Mattick, Berliner Abgeordneter, beschrieb in dieser Sitzung die Freie Universität als „Sammelbe‐ cken radikaler Elemente“; 13 in der Fraktion galt er dementsprechend auch als Vertreter einer harten Linie gegenüber den Studenten. Die behandelten Fragen - und vor allem die nicht erwähnten Themen - sind an sich schon symptomatisch für die Zurückhaltung gegenüber der Emotionalität, die in Bezug auf den Mord an Ohnesorg ausgedrückt wurde. Eine solche Meinung teilten aber nicht alle Mitglieder der Fraktion. In einem Brief vom 10. Juni 1968 14 an Adolf Arndt warf ihm ein gewisser Walter Schwarz vor, sich für eine Amnestie der an den Studentenunruhen teilnehmenden Ju‐ gendlichen ausgesprochen zu haben. Noch schlimmer als die Stellungnahme sei jedoch, so Schwarz, Arndts Begründung, wonach „ein junger Mensch, der nach dem Tod von Benno Ohnesorg und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke nicht empört war, ein Fisch“ sei. Schwarz empfand den Begriff der „Empörung“ als höchst problematisch in dieser Aussage, da er implizierte, dass „Unrecht ge‐ schehen“ sei und dass „dieses Unrecht von jemandem verschuldet [sei]; nicht Kurras und Bachmann 15 s[eien] die Schuldigen, sondern das Establishment.“ Adolf Arndt gehörte zu den wichtigen Persönlichkeiten der SPD , er wurde sogar oft als „Kronjurist“ der SPD genannt und in der Fraktion oft zum „Weisen“ sti‐ lisiert (Gosewinkel 2011). Das Beispiel von Adolf Arndt beweist in diesem Zu‐ sammenhang, dass das Alterskriterium zu kurz greift, um eine Sympathie oder eine scharfe Ablehnung der jugendlichen Emotionen zu erklären. Helmut Schmidt, der sich als Gegner der studentischen Emotionalität profilieren wollte, war 1968 50 Jahre alt, während Adolf Arndt damals 64 war. Arndt gehörte eher zum rechten Flügel der Fraktion, aber er verstand die Demonstrationen der Ju‐ gend als ein Zeichen dafür, dass eine neue Generation aufkam, die nicht „reak‐ tionär und obrigkeitsfromm“ war (Philipps 2012: 307). Obschon Schwarz seine 150 Nicolas Batteux 16 SPD-Pressemitteilung Nr. 168 1968 vom 11. 04. 1968, http: / / library.fes.de/ cgi-bin/ pdpdf. pl? d=10&f=470 (abgerufen am 06. 12. 2020). 17 Hirsch, Martin, „Beides zugleich! “, Sozialdemokratischer Pressedienst, P / XXIII / 74, 19. 4. 68, http: / / library.fes.de/ spdpd/ 1968/ 680419.pdf (abgerufen am 06. 12. 2020). 18 Ibid. Überraschung über die vermutlichen Worte Arndts ausdrückte, stand Arndt dennoch in der Kontinuität der Parteilinie. Alfred Nau, Präsidiumsmitglied der SPD , hatte in einer knappen Pressemitteilung die „Abscheu, Empörung und Er‐ schütterung“ der Partei nach der Nachricht des Anschlags gegen Rudi Dutschke ausgedrückt. 16 An dieser Stelle schien die Spannung zwischen SPD -Bundes‐ tagsabgeordneten, die sich entweder vehement gegen die höchst emotionalen Ausbrüche der studentischen Jugend oder entgegenkommend gezeigt hatten, abgeflaut zu sein. Die „Empörung“, und allgemein die „Emotionen“, die Helmut Schmidt 1967 und vor dem Anschlag auf Dutschke 1968 als so problematisch betrachtet hatte, wurden nicht mehr als Eigenschaft der Demonstranten defi‐ niert, sondern wurden nun auch von der SPD geteilt. Diese Erfahrung trug zu einer provisorischen Überbrückung der Streitigkeiten zwischen einem Teil der SPD -Bundestagsfraktion und der 68er Bewegung bei. Allerdings erwiesen sich diese Solidarisierung und Übernahme der studenti‐ schen Empörung als kurzlebig. In diesem Sinne gehörten die Osterunruhen von 1968 zu diesen „‘Emotionsereignisse[n]‘, bei denen sich Gefühle und die Rollen, in denen sie erlebt werden, sehr kurzfristig verändern können” (Miard-Dela‐ croix / Wirsching 2020: 11). Robert Philipps hat gezeigt, wie sich die Meinung zu dieser Empörung innerhalb der ganzen SPD verändert hat. Vom anfänglichen Verständnis gegenüber der emotionalen Haltung der Jugend geriet der engere Führungskreis der SPD nach den Osterunruhen in „Verbitterung und emotionale Ablehnung der Außerparlamentarischen Opposition“ (Philipps 2012: 301). Al‐ lein Willy Brandt und Gustav Heinemann, der SPD -Bundesjustizminister, blieben in diesen Kreisen Gegner einer zu rigiden Haltung im Verhältnis zur APO (Ibid.; Faulenbach 2011: 45). Die emotionale Antwort der Demonstranten wurde in den sozialdemokratischen Milieus - bei Brandt und Heinemann, aber auch bei Abgeordneten wie dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Rechtswesen der SPD -Fraktion Martin Hirsch - als Antwort auf „politische und gesellschaft‐ liche Fehlentwicklungen“ gedeutet, obwohl Verständnis für die studentische Empörung kein Synonym für Entschuldigung sei. 17 Hirsch ging in einem an‐ deren Text noch weiter, in dem er das Streben der Demonstranten nach einer „Revolution“ als Bewegung „gegen die Masse des Volkes“ zu entlarven meinte. 18 Die emotional community der Studenten, die sich innerhalb der westdeutschen community und in Reaktion auf deren Praxis gebildet hatte, wurde als Minder‐ 151 Fehlende oder verdächtige Emotionen? heit beschrieben, die für sich beanspruchte, das ganze Land zu vertreten, und sich dadurch disqualifizierte. Sie unterscheide sich so von den Parlamentariern, die sich durch sachliche Arbeit bemühten, die Situation zu ändern. Emotionen und Technokratisierung des parlamentarischen Betriebs in der SPD-Bundestagsfraktion Der Bundestag erlebte eine zunehmende Technokratisierung seiner Arbeit im Laufe der 1950er und 1960er Jahre. Seit der 2. Wahlperiode (1953-1957) exis‐ tierten Arbeitskreise innerhalb der Bundestagsfraktionen, die die Gesetzesvor‐ haben vorbereiteten und darüber berieten (Recker 2018: 319). So entstand eine neue Ebene in der parlamentarischen Arbeit, die dazu beitrug, die Diskussionen innerhalb der Fraktion zu professionalisieren. Die Meinungsbildung erfolgte nämlich nicht in der Gemeinschaft der Fraktion, sondern sie wurde zunächst von Fachleuten in der Fraktion behandelt und erst nach dieser ersten Beratung unter Experten an die restliche Fraktion weitergeleitet. Die Abgeordneten ent‐ wickelten ein eigenes Profil und eine fachliche Spezialisierung im Laufe ihrer parlamentarischen Karriere, was den Debatten im breiteren Kreis der Fraktion eine schwächere Bedeutung verlieh. Spezialisten in einem bestimmten The‐ menkomplex kamen nämlich mehr zu Wort als laienhafte Abgeordnete. Mit dieser zunehmenden Bedeutung der fachlichen Expertise (Mergel 2010: 24), die mit einer reduzierten Berücksichtigung der laienhaften Abgeordneten zu bestimmten Themen einherging, spielte die Aufnahme des Godesberger Pro‐ gramms als Grundsatzprogramm der SPD 1959 eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis der Partei. Gegen die Meistererzählung, wonach das Godes‐ berger Programm einen ideologischen Bruch mit der politischen Tradition der Sozialdemokratie dargestellt hätte, hat der Politikwissenschaftler Karim Fertikh gezeigt, dass das Programm keineswegs als Bruch mit der Tradition konzipiert wurde. Eher war es Gegenstand von vielen entgegengesetzten Interpretationen. Fertikh hat jedoch auch dargelegt, wie der rechte Flügel der Partei am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre versucht hat, die Deutung dieses program‐ matischen Textes als Ablehnung des Marxismus durchzusetzen (Fertikh 2020: 197). Der interpretative Kampf innerhalb der Partei hatte wegen der Erneuerung der Basis am Ende der 1960er Jahre an Bedeutung gewonnen. Jene stammte zu einem erheblichen Teil aus dem studentischen Milieu und stand auch mit dem linken Flügel der Partei in Verbindung (Fertikh 2020: 194). Die Durchsetzung einer antimarxistischen Deutung des Godesberger Programms war eine Folge der Zersplitterung der SPD in verschiedene Flügel (Ibid.). Der Pragmatismus der SPD -Bundestagsabgeordneten, der insbesondere in der parlamentarischen 152 Nicolas Batteux 19 AdsD, SPD-BT-Fraktion, 6. WP, 6 / TONS000 010. Fraktionssitzung (Tonband), SPD, 23. 03. 1971, in: „Editionsprogramm Fraktionen im Deutschen Bundestag“, SPD, 6. WP, online. https: / / fraktionsprotokolle.de/ handle/ 455 (abgerufen am 06. 12. 2020). 20 Ibid. Praxis zu beobachten war, wurde an eine restriktive Interpretation des Partei‐ programms gekoppelt, welche die vermeintlichen Exzesse des Marxismus - da‐ runter verstand man auch die emotionalen Ausbrüche der Studentenschaft - ausschließen sollte. Dies alles führte zu einer Änderung des Selbstverständnisses der SPD -Bun‐ destagsabgeordneten, die sich als Fachleute und nicht als Ideologen verstanden. Das Verhältnis zu „Emotionen“, die per definitionem auf einer subjektiven Wahr‐ nehmung beruhen, konnten in diesem Zusammenhang für einen Teil der SPD -Bundestagsfraktion nur heikel werden. Dies führte sogar den berühmten Schriftsteller Günter Grass, im Rahmen einer Fraktionssitzung am 23. März 1971, den Standpunkt sozialdemokratischer Wähler zu vertreten. Er forderte die SPD -Bundestagsabgeordneten auf, die Ideologie nicht zugunsten der rein tech‐ nischen Arbeit zu vergessen und die sozialdemokratische Wählerschaft nicht aus dem Blick zu verlieren. Grass monierte übrigens die Tendenz der Abgeord‐ neten zur Spezialisierung, die bereits erwähnt wurde, indem er feststellte: „Mit Sorge beobachten sozialdemokratische Wähler, wie ihre Abgeordneten und gleichfalls die von ihnen geachteten Minister nur noch im eigenen Ressort Sprache finden und ansonsten muff bleiben.“ 19 Die Emotionen, die von mehreren SPD -Bundestagsabgeordneten bereits 1967 an den Pranger gestellt wurden, stammten aus einer systemischen Empörung vor der Gesamtsituation der west‐ deutschen Gesellschaft der 1960er Jahre. Die Technokratisierung der Arbeit in‐ nerhalb der Fraktion hatte aber, so Grass, zum Verlust des Überblicks geführt: „Ihr Fleiß darf Sie nicht hindern zu kämpfen. Ihr Detailwissen darf Sie nicht hindern das Ganze zu sehen.“ 20 Der Begriff der Entemotionalisierung ist zum Teil als Ergebnis dieser Tech‐ nokratisierung der parlamentarischen Arbeit zu verstehen, die keineswegs erst in den 1960er Jahren begonnen hatte. Die Gegenüberstellung mit der Betonung einer zugespitzten Emotionalität seitens der Demonstranten 1967-1968 bot An‐ lass zu einer Versinnbildlichung der zunehmenden emotionalen Distanz zwi‐ schen den SPD -Abgeordneten und der Jugend. Kurzfristige Emotionen und langfristige Parlamentsarbeit Die Emotionen, die von den SPD -Bundestagsabgeordneten verpönt wurden, wurden als unmittelbare Reaktion auf Ereignisse verstanden. In diesem Sinne 153 Fehlende oder verdächtige Emotionen? wurde die Unmittelbarkeit der studentischen Aktionen als Ausdruck einer ge‐ wissen Unreflektiertheit dargestellt. Die Unmittelbarkeit stand im schieren Ge‐ gensatz zum parlamentarischen Alltag, gilt doch das Parlament theoretisch als Ort der sachlichen Diskussion, der Rationalität und der Abkehr von den unmit‐ telbaren Emotionen. Das parlamentarische Procedere beruht auf einer längeren Zeitlichkeit. Im Bundestag schafft der Beratungsprozess zwischen den Frak‐ tions-, Ausschuss- und Plenumssitzungen eine zeitliche Dehnung zwischen dem Moment des historischen Ereignisses und der eigentlichen Reaktion des Parla‐ ments bzw. seiner gesetzgeberischen Behandlung der Vorkommnisse. In dieser Hinsicht erscheint der Begriff der „Empörung“ als nur schwer mit der parla‐ mentarischen Zeitlichkeit kompatibel. Hermann Wentker betont die kurzfristige Dimension, die mit Gefühlen wie Begeisterung oder Empörung einhergeht. Sie lösen oft Wellen der Sympathie oder der Abscheu aus, die aber dazu tendieren, nur kurzlebig zu sein (Wentker 2020: 404). Die Demonstrationen der Studen‐ tenbewegung bzw. der APO waren zwar Gegenstand von Aktuellen Stunden im Bundestag, doch die Bearbeitung der damit verbundenen Emotionen in Form von Gesetzesvorhaben nahm mehr Zeit in Anspruch. Aus der Responsivitäts‐ funktion des Parlaments (Patzelt 2003: 23) rührt der Spagat zwischen den For‐ derungen hic et nunc der Bevölkerung - in diesem Fall den emotional artiku‐ lierten Desiderata der Studenten - und der zur sachlichen Auseinandersetzung mit der Frage auf parlamentarischer Ebene erforderlichen Zeit. All diese Elemente - Professionalisierung der Abgeordneten, Kursänderung innerhalb der SPD und Berücksichtigung der verschiedenen zeitlichen Ebenen der parlamentarischen Arbeit - trugen zur Bildung eines besonderen Ethos des SPD -Bundestagsabgeordneten bei. Durch die Professionalisierung der Abge‐ ordneten hatten immer weniger Parlamentarier eine Nebentätigkeit außerhalb des Abgeordnetenmandats (Mergel 2010: 24), was auch zu einer zunehmenden Verinnerlichung der Normen der parlamentarischen Arbeit führte, die keinen äußeren Widerspruch duldete. Dieses Ethos bildete sich allmählich heraus und verankerte eine sachliche Praxis der Politik, die Emotionsausbrüche vermied. Dies schloss die SPD -Fraktion in einer Selbstreferenzialität ein, welche die Kommunikationsmodi der Straße ausschloss. Die bereits erwähnten Entwick‐ lungstendenzen des Bundestags betrafen nicht nur die SPD -Bundestagsabge‐ ordneten, sondern alle Parlamentarier. Kann man dennoch daraus schließen, dass alle Abgeordneten jenseits der SPD -Bundestagsfraktion diese negative Wahrnehmung gegenüber den Emotionen der 68er Bewegung teilten? 154 Nicolas Batteux 21 Deutscher Bundestag - Drucksachen und Plenarprotokolle des Bundestages - 1949 bis 2005 [online]. [Berlin]: Deutscher Bundestag. Drucksache Nr.: 05 / 69 vom 30. 4. 1968, 9002, http: / / dipbt.bundestag.de/ doc/ btp/ 05/ 05169.pdf (abgerufen am 6. 12. 2020). 22 Ibid., 9040. Wie repräsentativ war die SPD-Bundestagsfraktion im Parlament? Inwiefern lassen sich die Feststellungen über die emotionale Praxis der Sozial‐ demokraten verallgemeinern? Der letzte Teil dieses Artikels soll nun die Frage der Repräsentativität der Haltung der SPD -Abgeordneten gegenüber der auf‐ brausenden Emotionalität der 68er behandeln. Die FDP -Parlamentarier ver‐ suchten ihrerseits, in diesen Angelegenheiten Abstand von den Mehrheitsfrak‐ tionen zu nehmen. Dies lässt sich zunächst durch den Status der FDP als Oppositionspartei, die versuchte, sich als Spiegelbild der auf der Straße artiku‐ lierten Forderungen zu inszenieren, erklären. Die Diskussionen mit den Ju‐ gendlichen wurden hervorgehoben, so wie es beispielweise Walter Scheel vor‐ machte: „Diese Jugend ist kritisch, sie ist politisch, und sie ist demokratisch, wie es kaum eine andere Generation vor ihr gewesen ist.“ 21 Diese Feststellung un‐ terschied sich aber nicht von dem, was die anderen Fraktionen, so auch die SPD -Bundestagsfraktion, dazu sagten. Allerdings versuchten die FDP -Abge‐ ordneten stets, ihre Solidarität mit den Studenten gegen die Regierung zu zeigen. Paradoxerweise gab sich Helmut Schmidt, der seine Ablehnung der Emotiona‐ lität der Demonstranten mehrmals bekundet hatte, in seinen Auseinanderset‐ zungen mit dem FDP -Abgeordneten Wolfram Dorn selber der Empörung hin. Im Laufe der Plenarsitzung vom 30. April 1968 hatte Dorn Schmidts Kritik ge‐ genüber der „elitären Arroganz“ eines Teils der Jugend als Pauschalurteil über die Jugend verallgemeinert: Ich möchte auch ein sehr ernstes Wort zu dem sagen, was der Herr Kollege Schmidt (Hamburg) heute morgen hier gesagt hat, als er von der Überheblichkeit und der Arroganz der Studenten und dem Elitebewußtsein sprach und ihnen vorwarf, sie hätten noch nichts geleistet, sie sollten erst einmal etwas leisten und dann könnten sie hier mitreden. Meine Damen und Herren, so kann man mit jungen Menschen in der heutigen Zeit eben nicht diskutieren.  22 Nach dem Beitrag von Dorn drückte Schmidt seine Gereiztheit über diese Aus‐ sage aus, indem er erklärte: „Mich empört das. Wenn das in diesem Hause so vorexerziert wird, wie soll es dann draußen sein? ! “ Die „Emotionen“, die Em‐ pörung eignete sich Schmidt an, obwohl er sich bisher eher darum bemüht hatte, sich als „nicht emotionalisiert“ zu inszenieren. In dieser Rede thematisierte er übrigens die Beispielhaftigkeit des Bundestages als Ort der Vernunft und der 155 Fehlende oder verdächtige Emotionen? Respektabilität. In dieser Hinsicht trug Schmidt aber gleichwohl dazu bei, die Strategie der FDP , sich den Studenten anzunähern, zu bestätigen. Die rhetori‐ schen Exzesse von Dorn dienten der Versinnbildlichung in Richtung der APO , dass die FDP die gleichen Ziele wie sie verfolge und dass sie - zumindest in dieser Hinsicht - die Verbündete der Studenten im Bundestag sei. CDU und SPD unterstützten sich oft gegenseitig in diesen Fragen, obschon die CDU -Bundestagsabgeordneten weniger den Akzent auf die Emotionen legten als ihre SPD -Kollegen, was die SPD -Bundestagsfraktion in eine beson‐ dere Stellung zu dieser Emotionsproblematik brachte. Schluss Die SPD -Bundestagsabgeordneten haben sich im Laufe der 68er Bewegung einen spezifischen Emotionsbegriff angeeignet. „Emotionen“ fungierten als Containerbegriff, der alle Exzesse der demonstrierenden Jugend umfassen sollte und bei den SPD -Parlamentariern auf Ablehnung stieß. Üblicherweise wird der Begriff der Emotionen dem der Rationalität gegenübergestellt. Im Falle der SPD -Bundestagsfraktion während der 68er Bewegung scheint es jedoch ange‐ messener, von einer Entemotionalisierung zu sprechen. Durch die Rationalisie‐ rung wird nämlich eine positive Betonung der Vernunft hervorgehoben, die aber in diesem Zusammenhang nur in geringerem Maße zu finden war. Vielmehr kennzeichneten sich die SPD -Bundestagsabgeordneten - und vor allem der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt - durch eine Disqualifizierung jener „Emotionen“. Geprägt durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und durch ihr parlamentarisches Ethos, weigerten sich die SPD -Abgeordneten, sich die Emotionen der Studentenschaft zu eigen zu machen. Dies bedeutete nicht, dass sie die Empörungsmotive der Studenten nicht nachvollzogen oder dass sie sich nicht mit ihnen solidarisierten, sondern dass sie deren bevorzugten Kom‐ munikationsmodus verurteilten. Bibliografie Biess, Frank, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2019. Bude, Heinz, „Achtundsechzig“, in: Étienne François / Hagen Schulze (ed.), Deutsche Er‐ innerungsorte, Bd. 2, München, C. H. Beck, 2003, S. 122-134. Dubois, Mathieu, Génération politique: les ‘années 68’ dans les jeunesses des partis politiques en France et en RFA, Paris, PUPS, 2014. 156 Nicolas Batteux Eichhorn, Joachim Samuel, Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg: die Regierungs‐ praxis der ersten Großen Koalition (1966-1969), München, R. Oldenbourg, 2009. 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Es wird gezeigt, dass diese Praxis ausschließlich von kommunistischen Überlebenden und Mitgliedern von Häftlingsvereini‐ gungen ausgeübt wurde, die der Kommunistischen Partei nahestanden. Ehe‐ malige Deportierte anderer politischer Orientierungen trugen die frühere KZ -Kleidung bei Gedenkfeiern, enthielten sich jedoch der politischen Ver‐ wendung ihrer früheren Häftlingsuniform. Als die Überlebenden der Konzentrationslager im Frühjahr und Sommer 1945 nach Frankreich zurückkehrten, trugen einige von ihnen noch die gestreiften Hosen, Jacken und Kleider, die sie in Auschwitz, Dachau oder Ravensbrück ge‐ tragen hatten. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten holten manche ehema‐ lige Häftlinge diese Kleidung noch einmal hervor, um sie bei öffentlichen An‐ lässen zu tragen. Noch bei den letzten großen Gedenkfeiern im April 2019 und im Januar 2020 trugen Überlebende gestreifte Mützen, Jacken oder den kom‐ pletten Anzug. 1 In ihrer Dissertation zur „Geschichte und Symbolik der gestreiften KZ-Häftlingsklei‐ dung“ (Universität Oldenburg, 2000) widmet Bärbel Schmidt dieser Frage vier Seiten. Diese beschränken sich auf die Kommentierung von sieben Fotos, eine tiefergehende Analyse der Gründe für das Tragen der Häftlingskleidung zu den entsprechenden An‐ lässen erfolgt jedoch nicht. 2 Dabei handelt es sich um die Fédération nationale des déportés et internés résistants et patriotes (FNDIRP), die Fédération nationale des déportés et internés de la Résistance (FNDIR), die Union nationale des associations de déportés internés et familles de disparus (UNADIF), und die Association nationale des anciennes déportées et internées de la Ré‐ sistance (ADIR). Siehe meine Dissertation zu weiteren Informationen über Mitglieder, Aktivitäten und politische Ausrichtung dieser Häftlingsvereinigungen: Fauser, Hen‐ ning, Représentations de l’Allemagne et des Allemands chez d’anciens concentrationnaires en France (Universität Paris 1 / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2016). 3 Sellier, André, Histoire du camp de Dora, Paris, La Découverte, 1998, 335. Dieser Marsch zum Triumphbogen entwickelte sich anschließend zum Gründungsmythos der FNDIR, der in den folgenden Jahrzehnten durch die Veröffentlichung von Bildern und Berichten gepflegt wurde. Siehe z. B. Le Déporté 142 (Mai 1960), 8; 306 (Dezember 1974 - Januar 1975), 1; 493 (April 1995), 2 und 57 sowie 500 ( Juli 1996), 1. Ein Foto aus anderer Per‐ spektive ist in Matard-Bonucci, Marie-Anne, „‘Retour à la vie‘. Entre mise en scène et lecture officielle de la déportation“, in: Marie-Anne Matard-Bonucci / Eduard Lynch (ed.), La Libération des camps et le Retour des déportés. L’Histoire en souffrance, Bruxelles, Complexe, 1995, 222 zu finden. Weniger bekannt, und bisher nicht untersucht, ist das Tragen dieser früheren KZ -Kleidung bei politischen Demonstrationen. 1 In Frankreich konzentriert sich dieses Phänomen auf die Jahre 1945 bis 1961, weshalb hier das öffentliche Tragen der gestreiften Kleidung in diesem Zeitraum genauer betrachtet werden soll. Dabei wird der Frage nachgegangen, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht ehemalige KZ -Häftlinge die gestreifte Sträflingskleidung nach ihrer Befreiung noch einmal anzogen. Neben der Untersuchung der verschiedenen Anlässe werden ebenfalls die Gründe und Absichten für diese symbolische Klei‐ dungswahl betrachtet. Schließlich wird durch die Analyse der Veröffentlich‐ ungen der vier wichtigsten französischen Häftlingsvereinigungen 2 gezeigt, welche Gruppen dieses Symbol bevorzugt einsetzten und welche darauf ver‐ zichteten. Erste Gedenkfeiern und Demonstrationen von Überlebenden in Häftlings‐ kleidung fanden unmittelbar nach der Rückkehr der Deportierten statt. Am 1. Mai 1945 marschierten ehemalige Häftlinge der Lager Buchenwald und Dora über die Champs-Élysées zum Triumphbogen, wo sie von Charles de Gaulle empfangen wurden und einen Kranz auf dem Grab des unbekannten Soldaten niederlegten. 3 Am gleichen Tag zogen Mitglieder der Kommunistischen Partei und ver‐ schiedener Gewerkschaften vom Platz der Bastille zum Platz der Nation, wobei 160 Henning Fauser 4 Siehe Fotos in ebd., 223 und 228. 5 Siehe Foto in Wolikow, Serge, Les combats de la mémoire. La FNDIRP de 1945 à nos jours, Paris, le cherche midi, 2006, 49. 6 Siehe Fotos in Le Déporté 493 (April 1995), 5 und 32 sowie in Bernay, Sylvie, „Le Père Michel Riquet. Du philosémitisme d’action lors des années sombres au dialogue inter‐ religieux“, in: Archives Juives 40, 2007, 100. 7 Le Déporté 493 (April 1995), 5. 8 Le Patriote Résistant 5 (15. April 1946), 1. Maurice Thorez und Jacques Duclos auf der Ehrentribüne von gerade heimge‐ kehrten Häftlingen in gestreifter Kleidung umringt waren. 4 Umgeben von Män‐ nern und Frauen in gestreiften Uniformen war auch der ehemalige Buchen‐ wald-Häftling und spätere kommunistische Minister Marcel Paul, als er bei dieser Demonstration für die Anwendung des Programms des Conseil national de la Résistance eine Rede hielt. 5 Außerhalb des patriotischen und politischen Kontexts war die Häftlingsuni‐ form auch im religiösen Rahmen präsent. Am 7. Juli 1945 hielt der Pater und Mauthausen-Überlebende Michel Riquet in dieser Kleidung eine Messe für die Überlebenden auf der Esplanade des Trocadéro. 6 Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich einer der Anwesenden: La silhouette frêle du Père Michel Riquet qui apparaissait sur cette colline de Chaillot, ici-même où cinq années plus tôt, presque jour pour jour, Hitler était venu, arrogant et euphorique, contempler notre capitale et nos monuments, constituait un véritable symbole. Le Père Riquet représentait alors, dans sa veste rayée de bleu et de blanc, l’image d’une victoire de la dignité humaine sur la barbarie totalitaire. 7 Trotz dieser Präsenz im Alltagsleben und in der Presse wurde diese Kleidung in der unmittelbaren Nachkriegszeit von einigen Landsleuten jedoch noch nicht wiedererkannt, was bei manchen Überlebenden Erstaunen, mitunter Empörung hervorrief. Dies war der Fall bei Louise Alcan, einer Überlebenden der Lager Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück: Rayures bleues et blanches, triangle rouge, barbelés, numéro, c’est l’insigne des déportés. C’est sans doute peu suggestif pour certains, puisque quelqu’un m’a demandé l’autre jour: ‘De quel club sportif c’est l’insigne? ’ Étrange club: le club des condamnés à mort! 8 Durch die regelmäßige Nutzung der gestreiften Kleidung, des roten Winkels und der Häftlingsnummer wurden diese Symbole in der Folge auch der großen Masse geläufig und blieben bei Demonstrationen und anderen Anlässen nicht uner‐ kannt. 161 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ 9 Diese fanden zunächst je nach Befreiungstag des Lagers im April oder Mai jedes Jahres statt, bevor 1954 die Journée nationale de la Déportation am letzten Sonntag des Monats April geschaffen wurde. 10 Neben dem Kampf gegen das Wiederaufleben der nationalsozialistischen Ideologie setzten sich die Überlebenden insbesondere gegen die Bedrohung von Freiheit und Frieden ein. Die unterschiedlichen Deutungen dieser Begriffe und deren ideologische Aufladung im Kalten Krieg schufen ab Ende der 1940er Jahre tiefe Gräben zwischen den Häftlingsvereinigungen. Siehe dazu Fauser, Henning, „’Indignez-vous! ’ Zur Empö‐ rung in den Äußerungen französischer KZ-Überlebender“, in: Marie-Therese Mäder et al. (ed.), Brücken bauen. Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive. Festschrift für Dorothee Röseberg zum 65. Geburtstag, Bielefeld, transcript, 2016, 307-319. 11 Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München, Beck, 2014, 635. Neben Gedenkfeiern anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager 9 , trugen Überlebende die Häftlingsuniform ebenfalls bei der Einweihung von Denkmälern oder Beerdigungen ihrer Kameraden. Des Weiteren wurden die Überlebenden ausdrücklich dazu aufgerufen, ihre Häftlingskleidung - oder Teile davon - bei Demonstrationen für ihre Rechte und Ansprüche zu tragen. So marschierten ehemalige KZ -Häftlinge seit Ende der 1940er und bis Anfang der 1960er Jahre regelmäßig in gestreifter Kleidung über die Boulevards von Paris, um schließlich vor den Toren des Ministeriums für Veteranen und Kriegsopfer zu demonstrieren. Wenn es bei diesen Protesten um die Wahrnehmung der Eigeninteressen der Opfer von Verfolgung und Deportation ging, so sahen sich einige von ihnen aufgrund ihrer Erfahrungen in der Résistance und ihres Leidens in den Kon‐ zentrationslagern jedoch auch in einer gesamtgesellschaftlichen Verantwor‐ tung. 10 Dieser politische Gebrauch der Erinnerung in Form der Häftlingsklei‐ dung wird im Folgenden anhand von vier Beispielen betrachtet. Der Kampf für den Frieden (1949-1953) Mit Beginn des Kalten Krieges nahm das öffentliche Tragen der Häftlingsuni‐ form beträchtlich zu. Ein Grund dafür war die Wahrnehmung einer neuen Kriegsgefahr in dem Maße wie sich die Spannungen zwischen den USA und der Ud SSR intensivierten. Letztere befand sich seit August 1949 im Besitz der Atom‐ bombe 11 , was ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zur Folge hatte. Gegen diese atomare Bedrohung wurden die FNDIRP und ihr angeschlossene Überlebendenvereinigungen wie die Amicale d’Auschwitz aktiv. Das wichtigste Ereignis in dem Kampf gegen die atomare Gefahr war die weltweite Mobilisierung für die Unterzeichnung des Appells von Stockholm. 162 Henning Fauser 12 Judt, Tony, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn, bpb, 2006, 256. 13 Le Patriote Résistant 97 (30. Juni 1950), 1. 14 Judt 2006, 256. Dieser Aufruf war im März 1950 vom Weltfriedensrat, dem „Prototyp einer kommunistisch gesteuerten Tarnorganisation“ 12 , veröffentlicht worden. Neben dem zu erwartenden Erfolg in den sozialistischen Blockstaaten traf er auch in einigen westeuropäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, auf große Re‐ sonanz. Die Kommunistische Partei und ihre Massenorganisationen mobili‐ sierten ihre Mitglieder in diesem „Kampf für den Frieden“. Die der KPF nahe‐ stehenden Häftlingsverbände riefen die Überlebenden ausdrücklich dazu auf, ihre gestreifte Kleidung noch einmal anzuziehen und Unterschriften für den Appell von Stockholm zu sammeln. So wandte sich Charles Joineau, Überle‐ bender des KZ Natzweiler-Struthof und Generalsekretär der FNDIRP , während des 5. Kongresses an die Mitglieder: Camarade déporté, revêts ta tenue rayée de bagnard et parcours le pays! Lis l’Appel sur les marchés et les foires, au stade comme au cinéma, à l’usine comme à l’école, dans toute assemblée ou manifestation, dans les réunions de famille. Camarade déporté: arrête quelques instants ta machine; paysan, arrête quelques in‐ stants ta batteuse. Et, pour que le grain de blé ne germe pas dans ton sang, de toute ta foi d’homme de progrès et de Paix: lis l’Appel et fais signer autour de toi. 13 Die Mitglieder der FNDIRP sammelten in ganz Frankreich Unterschriften für den Appell von Stockholm, der in Westeuropa von mehreren Millionen Men‐ schen unterzeichnet wurde. 14 Innerhalb der FNDIR und der 1950 gegründeten Schwestervereinigung UNADIF , in deren Reihen sich gaullistische, christde‐ mokratische und sozialistische Deportierte und Internierte sammelten, fand dieser Aufruf keine Resonanz. Das war ebenso der Fall innerhalb der ADIR , deren Mitgliedschaft aus ehemaligen Widerstandskämpferinnen bestand, die in den Jahren 1940-1945 interniert und deportiert worden waren. Da ihre Mit‐ glieder dem gesamten politischen Spektrum angehörten, waren die Publikati‐ onen und öffentlichen Stellungnahmen der ADIR durch eine große politische und intellektuelle Vielfalt geprägt, wobei Gaullismus und Antitotalitarismus dominierten. Die Proteste von Überlebenden in Häftlingsuniformen gegen die atomare Gefahr und für den Frieden beschränkten sich also auf kommunistische Über‐ lebende und die von ihnen geleiteten Häftlingsvereinigungen. Schon im Vorjahr hatten Mitglieder der FNDIRP in gestreiften Jacken und Kleidern Unterschriften für einen vom Weltfriedenskongress angeregten „vote pour la Paix“ gesam‐ 163 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ 15 Le Patriote Résistant 83 (15. September 1949), 2 und 84 (1. Oktober 1949), 10. 16 Le Patriote Résistant 130 (1. Januar 1952), 1. 17 Judt 2006, 256. 18 Vgl. Morin, Edgar, Autocritique, Paris, Julliard, 1959, 139. 19 Die gezielte Benutzung des Begriffes réarmement verdeutlicht die Absicht, eine Konti‐ nuität zu den früheren deutschen Armeen herzustellen. Eine weitere diskursive Stra‐ tegie war die durchgängig benutzte Warnung vor einer „neuen Wehrmacht“. 20 Guillen, Pierre, La question allemande (1945-1995), Paris, Imprimerie nationale Éditions, 1996, 28. melt 15 und taten dies erneut in den Jahren 1951 und 1952, diesmal für einen von der Sowjetunion propagierten „Pacte pour la Paix“ zwischen den Welt‐ mächten. 16 In dem Wort „Frieden“ kristallisierte sich folglich die sowjetische Propaganda der Jahre 1949 bis 1953 und wurde zum Kernstück ihrer Kulturstrategie. 17 Edgar Morin, der in dieser Zeit als Redakteur für die FNDIRP gearbeitet hatte, be‐ merkte nach seinem Bruch mit der Kommunistischen Partei, dass es gerade die Stärke der Stalinisten war, eine Kriegspsychologie in Friedenszeiten aufrecht‐ zuerhalten. 18 Die Mobilisierung kollektiver Emotionen, insbesondere der Em‐ pörung über die „Kriegstreiber“, stellte ein Kernelement dieser Friedenspropa‐ ganda dar. Dies lässt sich auch am Beispiel des Kampfes gegen die Aufstellung einer westdeutschen Armee beobachten. Der Kampf gegen die „deutsche Wiederbewaffnung“ (1950 - 1955) Die politische Auseinandersetzung, in der die Häftlingsuniform die größte Ver‐ wendung fand, war der Kampf gegen die Aufstellung einer neuen deutschen Armee. Wenn dabei auch durchgängig vom réarmement allemand gesprochen wurde, betraf dieses Engagement jedoch ausschließlich die Verhinderung einer westdeutschen Armee. Kampf für den Frieden bedeutete also auch den Wider‐ stand gegen die „Wiederbewaffnung“ 19 der Bundesrepublik. Nach ersten amerikanischen Gedankenspielen im Herbst 1948 20 konkreti‐ sierte diese sich zwei Jahre später. Vorausgegangen waren die Gründung des Nordatlantikpaktes im April 1949 und der Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950. Als der französische Premierminister René Pleven im Oktober 1950 seinen Plan für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft ( EVG ) unter bundesdeut‐ scher Beteiligung öffentlich machte, liefen die von den Kommunisten domi‐ nierten Häftlingsverbände dagegen Sturm. Die FNDIRP ließ Plakate und Flugblätter drucken, ihre Mitglieder brachten diese in gestreifter Kleidung unter das Volk, sammelten Unterschriften gegen die Wiederbewaffnung, demonstrierten in ganz Frankreich. Die dabei verbrei‐ 164 Henning Fauser 21 Lalieu, Olivier, „Le Mouvement déporté face à la guerre froide“, in: Claire And‐ rieu / Gilles Le Béguec / Danielle Tartakowsky (ed.), Associations et champ politique. La loi de 1901 à l’épreuve du siècle, Paris, Publications de la Sorbonne, 2001, 382. 22 Le Patriote Résistant 107 (20. Februar 1951), 2. 23 Ebd., 1-2. 24 Lavabre, Marie-Claire, „Usages du passé, usages de la mémoire“, in: Revue française de science politique, 3 / 44. Jahrgang, 1994, 480-493. teten Bilder und Diskurse zielten darauf ab, Parallelen zwischen den deutschen Verbrechen der Jahre 1940-1945 und möglichen Untaten einer neuen deutschen Armee herzustellen. Neben der Häftlingskleidung als Bindeglied zwischen Ver‐ gangenheit und Gegenwart zeichneten die Redner bei Gedenkfeiern für die Opfer von Besatzung und Deportation nun durchgängig Kontinuitäten zwi‐ schen der „deutschen Gefahr“ von damals und heute. Diese erste Phase im Kampf gegen die Europäische Verteidigungsgemein‐ schaft zog sich von der Verkündung des Pleven-Plans bis zur Unterzeichnung des EVG -Vertrags am 27. Mai 1952. Neben der Verteilung von Flugblättern und dem Sammeln von Unterschriften durch Männer und Frauen in Häftlingsuni‐ form organisierte die FNDIRP nun auch Demonstrationen gegen dieses Vor‐ haben. Ein Ereignis, das dabei hohe mediale und politische Wellen schlug, waren die gewaltsamen Proteste gegen deutsche Militärs am 15. Februar 1951. Diese waren nach Paris gekommen, um die Verhandlungen über die EVG aufzunehmen. Zuvor hatte die Kommunistische Partei die FNDIRP ausdrücklich darum ge‐ beten, eine Großdemonstration gegen diesen Besuch zu organisieren. 21 So liefen an diesem Tag Tausende Männer und Frauen über die Boulevards, trugen Trans‐ parente und skandierten die darauf stehenden Parolen: „Souviens-toi d’Ausch‐ witz! “, „Souviens-toi d’Oradour! “, „Pas de nazis à Paris! “ und „Pas d’armes à nos bourreaux! “ 22 . Zuvor war diese Demonstration jedoch von den Behörden un‐ tersagt und daher anschließend mit scharfer Polizeigewalt niedergeschlagen worden. Nach der Demonstration veröffentlichte der Patriote Résistant zahl‐ reiche Berichte und Fotos, in denen verletzte Männer und Frauen in gestreifter Häftlingskleidung das zentrale Element bildeten. 23 Auch in diesem Fall ging es darum, für öffentliche Empörung zu sorgen und einem politischem Anliegen durch den „Gebrauch der Vergangenheit“ 24 und die moralische Autorität der KZ -Überlebenden Kredit zu verschaffen. Eben diese herausgehobene Rolle der ehemaligen Häftlinge unterstrich Charles Joineau im Oktober 1952 vor dem Nationalkomitee der FNDIRP . An‐ gesichts der Frage, wie die Überlebenden nach der Unterzeichnung des EVG -Vertrags nun gegen dessen Ratifizierung durch die Nationalversammlung 165 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ 25 Le Patriote Résistant 147 (1. Oktober 1952), 4. Hervorhebung im Original. 26 Le Patriote Résistant 181 (1. November 1954), 5. 27 Le Patriote Résistant 183 ( Januar 1955), 7. aktiv werden könnten, erklärte er, wie die französische Bevölkerung seiner Meinung nach die Überlebenden wahrnähme und welche Aufgaben daraus er‐ wüchsen: Sur ce problème par excellence, la voix des déportés résonne profondément dans le cœur de tous les Français qui, eux, n’oublient pas. Les honnêtes gens connaissent nos luttes et nos souffrances. Ils savent combien furent grands les sacrifices de nos martyrs pour la cause nationale. Ils savent que nous avons vu la bestialité nazie sans masque, dans toute son horreur. La vue d’une tenue rayée, la vue de notre drapeau, leur inspire le respect. Le mot „DEPORTÉ“ suscite leur sympathie, leur donne confiance. C’est dire combien grandes nos responsabilités. Notre premier devoir est d’alerter l’opi‐ nion. 25 Die FNDIRP setzte die Mobilisierung ihrer Mitglieder in den bekannten und erprobten Aktionsformen fort und gehörte zu den gesellschaftlichen Kräften, die dazu beitrugen, dass die Nationalversammlung schließlich am 30. August 1954 den EVG -Vertrag ablehnte. Dieser Sieg war jedoch nur von kurzer Dauer, denn schon zwei Monate später fand eine neue Konferenz statt, aus der die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 hervorgingen. Gegen deren Ratifizierung durch die Nationalversammlung startete die FNDIRP eine neuerliche Kampagne, die wiederum auf den aktiven Einsatz ihrer Mitglieder setzte: Que la voix de la déportation se fasse entendre dans toutes les assemblées d’anciens combattants, que les parlementaires soient visités, qu’ils reçoivent des lettres, des pétitions, que se multiplient les expositions des crimes nazis, que sortent les tenues rayées … Alors chacun comprendra son devoir et la victoire sur la C. E. D. ne sera pas sans lendemain. 26 Auch dieser Appell verdeutlicht die politische Benutzung der Vergangenheit, sei es im Tragen der gestreiften Kleidung oder aber in der Organisation von Aus‐ stellungen über die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Bis zur Ra‐ tifizierung der Pariser Verträge durch die Nationalversammlung am 30. De‐ zember 1954 sammelten kommunistische Überlebende in Häftlingsuniform, mit den Orden der Résistance am Revers, nun wieder Unterschriften in ganz Frank‐ reich. 27 Auch in den Reihen der FNDIR - UNADIF und der ADIR weckten Pläne und Umsetzung der deutschen Wiederbewaffnung alte Ängste, nur kamen hier auch 166 Henning Fauser 28 Le Patriote Résistant 110 (16. April 1951), 2 sowie 124 (8. Oktober 1951), 1. 29 Le Patriote Résistant 209 (März 1957), 9. 30 Le Patriote Résistant 210 (April 1957), 1. 31 Voix et Visages 56 (März-April 1957), 9 und 64 (September-Oktober 1958), 3-4 sowie Le Déporté 104 (März 1957), 1. 32 Miard-Delacroix, Hélène, Question nationale allemande et nationalisme. Perceptions françaises d’une problématique allemande au début des années cinquante, Villeneuve d’Ascq, Septentrion, 2004, 194-195. 33 Voix et Visages 56 (März-April 1957), 9. die Sorgen über die Aufstellung einer ostdeutschen Armee zur Sprache. De‐ batten und Auseinandersetzungen über diese Fragen blieben jedoch auf den in‐ ternen Bereich der Jahreshauptversammlungen und Publikationen dieser Ver‐ einigungen beschränkt. Sie organisierten keine Proteste gegen die Aufstellung der Bundeswehr oder der Nationalen Volksarmee, bei denen die Häftlingsklei‐ dung hätte getragen werden können. Am 9. Mai 1955 trat die Bundesrepublik der NATO bei. Sechs Monate später wurden die ersten Soldaten der Bundeswehr vereidigt. Der Kampf gegen Hans Speidel (1957) Im Januar 1957 gab die bundesdeutsche Regierung die Ernennung des Generals Hans Speidel zum Oberbefehlshaber der NATO -Landstreitkräfte in Mitteleu‐ ropa bekannt. Zwei Monate später, unmittelbar vor der Ankunft Speidels im Schloss Fontainebleau, dem Sitz des NATO -Hauptquartiers, entbrannte eine heftige Kontroverse, in der ehemalige KZ -Häftlinge wieder eine zentrale Rolle spielten. Woher kam die Ablehnung gegen diesen deutschen General? Zunächst einmal war Hans Speidel eine Schlüsselfigur der westdeutschen Wiederaufrüstung. So war er all jenen, die in den vorhergehenden Jahren gegen die Aufstellung einer bundesdeutschen Armee gekämpft hatten, bereits ein Be‐ griff. Seit Beginn der Verhandlungen über die EVG hatte die FNDIRP ihn als „général nazi“ 28 tituliert und legte nun nach: ein Plakat dieses Verbandes nannte Speidel den „bourreau de la France occupée“ 29 , ihr Generalsekretär Charles Joi‐ neau bezeichnete ihn als „pourvoyeur des pelotons d’exécution et des chambres à gaz“ 30 . Auch in den Reihen der UNADIF - FNDIR und der ADIR wurden Vor‐ behalte gegenüber Hans Speidel geäußert 31 , jedoch immer auch mit Abstand zu der polemischen Wortwahl und den politischen Absichten der FNDIRP . Selbst das französische Außenministerium war misstrauisch gegenüber diesem „poli‐ tischen General“ 32 , dessen Name bis 1951 auf einer Liste der in Frankreich un‐ erwünschten Deutschen gestanden hatte. 33 167 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ 34 Die Sicherheitspolizei (Sipo) umfasste seit 1936 die Kriminalpolizei und die Geheime Staatspolizei (Gestapo). Im September 1939 wurden diese staatlichen Organisationen mit dem Sicherheitsdienst der SS (SD) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusam‐ mengefasst. 35 Nachrichtendienst der Wehrmacht. 36 Voix et Visages 56 (März-April 1957), 9. 37 Après Auschwitz 69 (Februar-März 1957), 2. Es handelte sich dabei um die sechs Trans‐ porte jüdischer Deportierter, die zwischen dem 27. März und dem 17. Juli 1942 Frank‐ reich verließen, und um den Deportationstransport politischer Häftlinge vom 6. Juli 1942. 38 Le Patriote Résistant 208 (Februar 1957), 8. 39 Le Patriote Résistant 210 (April 1957), 8. Die Hauptursache, die Hans Speidel zum „Auslöser“ schmerzhafter Erinne‐ rungen und zum idealen Ziel der kommunistischen Propaganda machte, war seine Rolle im besetzten Frankreich. Von Juni 1940 bis März 1942 war er der Stabschef des Militärbefehlshabers in Frankreich gewesen. In dieser Funktion war Speidel verantwortlich für Feldgendarmerie, Geheime Feldpolizei sowie Gefängnisse und Lager im besetzten Frankreich. Da weder Sipo und SD 34 - ge‐ meinhin als „Gestapo“ bezeichnet“ - noch die Abwehr 35 über materielle Voll‐ zugsmöglichkeiten in Frankreich verfügten, wurden Durchsuchungen und Ver‐ haftungen, Inhaftierungen und Exekutionen durch die Dienststellen unter dem Kommando von Hans Speidel durchgeführt. 36 Aus diesem Grund warfen die Häftlingsverbände ihm die Organisation aller repressiven Maßnahmen vor, die zwischen Juni 1940 und März 1942 durchge‐ führt worden waren, insbesondere Verhaftungen, Geiselerschießungen und die ersten Deportationen. Die Lagervereinigung der Auschwitz-Überlebenden machte ihn für die Massenverhaftung von 3733 Juden am 14. Mai 1941 und für die ersten sieben Deportationstransporte nach Auschwitz verantwortlich. 37 Die FNDIRP veröffentlichte Dokumente, die seine Beteiligung an der Organisation des ersten Häftlingstransports vom 27. März 1942 belegten. 38 Die französischen Überlebendenverbände und ihr Führungspersonal lehnten daher, bis auf wenige Ausnahmen, die Ernennung Hans Speidels zum Oberbefehlshaber der NATO -Landstreitkräfte ab. Selbst die Mitglieder der Verein‐ igungen, die sich nicht an der Kampagne gegen ihn beteiligen, hielten diese Entscheidung für unklug. Die Kommunisten hingegen, noch immer gezeichnet von der Niederlage im Kampf gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung, ge‐ wannen neuen Aufwind. So betrachtete sich die FNDIRP als an der „Spitze des Kampfes“ stehend 39 und gehörte somit zu den Massenorganisationen und Ver‐ einigungen unter kommunistischer Kontrolle, die eine großangelegte Kam‐ pagne gegen Hans Speidel durchführten. Obwohl seine Ernennung das Motiv 168 Henning Fauser 40 Le Patriote Résistant 209 (März 1957), 9. 41 Le Patriote Résistant 210 (April 1957), 1. 42 Ebd., 5. für diese Angriffe war, bestand deren eigentlicher Zweck doch darin, sowohl die NATO als auch die Bundesregierung, die ihn in diese Position berufen hatte, in Misskredit zu bringen. Gleichzeitig war dieser General jedoch auch ein leichtes Ziel aufgrund seiner Tätigkeit im besetzten Frankreich, über die er selbst sich bedeckt hielt. Seit der Bekanntgabe der Ernennung Hans Speidels entwickelte die FNDIRP also eine intensive Aktivität auf allen Ebenen, bei der ihre Mitglieder auch diesmal ihre gestreifte Häftlingsuniform anzogen. Dies war jedoch nur eine Ak‐ tionsform unter vielen, um die öffentliche Empörung über Speidels Ernennung zu schüren und kollektive Emotionen gegen NATO und Bundesrepublik zu mo‐ bilisieren. Die Sektionen der FNDIRP in ganz Frankreich sendeten Telegramme an den Staatspräsidenten und den Präsidenten des Ministerrates, starteten Pe‐ titionen und organisierten Treffen, um ihre Mitglieder zu informieren und Pro‐ testveranstaltungen zu organisieren. Auf lokaler Ebene klebten die Mitglieder der FNDIRP Plakate gegen Speidel 40 und verteilten Flugblätter. Auf den Straßen von Paris war Roger Guerbette, Überlebender von Auschwitz, Buchenwald und Flossenbürg, in einer gestreiften Häftlingsjacke unterwegs, auf deren Rücken der Slogan „Speidel Assassin“ stand. 41 Zur gleichen Zeit verteilten Mitglieder in Puteaux Flugblätter gegen Speidel, gedruckt in roter Schrift auf blau-weiß ge‐ streiftem Papier. 42 Diese Proteste hielten auch in den folgenden Monaten an und wurden von weiteren Häftlingsvereinigungen, wie den Amicales der Überlebenden von Auschwitz, Buchenwald und Ravensbrück und auch von der Association des an‐ ciens déportés juifs de France ( AADJF ) unterstützt. Diese Vereinigungen gehörten der FNDIRP an und wurden wie diese von Mitgliedern oder Sympathisanten der Kommunistischen Partei geführt. Die UNADIF - FNDIR und die ADIR lehnten die Ernennung Speidels ebenfalls ab, beteiligten sich jedoch nicht an den politischen Kampagnen gegen ihn. Der Kampf gegen Manöver der Bundeswehr in Frankreich (1960 - 1961) Zu Beginn des Jahres 1960 verdichteten sich die Anzeichen darauf, dass erstmals seit 1945 deutsche Truppen wieder französischen Boden betreten würden. Dieses Vorhaben konkretisierte sich mit der Unterzeichnung eines Abkommens durch die Verteidigungsminister Frankreichs und der Bundesrepublik im Mai 169 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ 43 Le Patriote Résistant 248 ( Juni 1960), 1. 44 Voix et Visages 56 (März-April 1957), 9. 45 Ebd., 2. 46 Ebd., 1. 47 Le Patriote Résistant Sonderausgabe 2 (Oktober 1960, 1 und 3. 48 Le Patriote Résistant 254 (Dezember 1960), 4-5. Der Slogan „Pas de bottes allemandes sur le sol de France“ ist in den Publikationen der FNDIRP omnipräsent. Die deutschen Soldatenstiefel dienen dabei als Erinnerung an die Besatzungsherrschaft der Jahre 1940-44. 49 Le Patriote Résistant 253 (November 1960), 5. 1960. Dieses ermöglichte der Bundeswehr, die Hälfte ihrer Nachschubversor‐ gung auf französischem Boden einzurichten und verschiedene Truppenübungs‐ plätze für die Luftwaffe zu nutzen. 43 Diese Neuigkeit löste eine erste Protestwelle aus, insbesondere in Cognac, wo sich eine der vier potentiellen Luftwaffenbasen befand. 44 Der Patriote Résistant kommentierte diese Ankündigung mit den Worten „Speidel ne suffisait plus“ 45 und sein Chefredakteur René Roy prophezeite, dass die „Bonner Militaristen“ es nicht dabei belassen würden. 46 So ist es nicht verwunderlich, dass die FNDIRP sich im Oktober 1960 lautstark entrüstete, als die Ankunft der ersten 3000 Bun‐ deswehrsoldaten zu Übungsmanövern in Mourmelon und Sissonne bekannt wurde. 47 Dieser Häftlingsverband setzt anschließend die gewohnten Propagandamittel ein, um die öffentliche Meinung gegen den „retour des bottes allemandes“ 48 zu mobilisieren. Auf lokaler und regionaler Ebene organisierten ihre Unterabtei‐ lungen Versammlungen und Demonstrationen, sammelten Unterschriften, klebten Plakate und verteilten Flugblätter, auch diesmal wieder in gestreifter Häftlingskleidung. Der Mauthausen-Überlebende Henri Masi berichtete über den Erfolg der Aktion in Marseille: Nous avons vu des camarades venir se mettre spontanément à notre disposition. On avait prévu une distribution de tracts sur la Canebière en tenue rayée avec décorations. Un ou deux camarades se sont montrés sceptiques et nous ont rappelé des manifes‐ tations semblables où nous nous retrouvions à quatre ou cinq en rayé. Jamais on n’a‐ vait trouvé suffisamment de camarades en rayé. Dans la semaine où nous avons lancé cette idée, on a vu arriver chez nous une cinquantaine de camarades désireux de par‐ ticiper à l’action. Vingt camarades en rayé se sont fait inscrire. C’est par des mani‐ festations semblables que nous arriverons à alerter la population. En effet, le jour où on va voir les déportés dans la rue, s’opposant au réarmement allemand, où ils expli‐ queront ce que cela représente pour nous, la population ne peut pas ne pas être d’ac‐ cord … 49 170 Henning Fauser 50 Le Patriote Résistant 254 (Dezember 1960), 1. 51 Voix et Visages 76 (November-Dezember 1960), 3-4 sowie 77 ( Januar-Februar 1961), 7. Auch an diesem Beispiel wird der Wille deutlich, als Überlebende der national‐ sozialistischen Verbrechen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Der Verweis auf den Widerstand gegen die „Wiederbewaffnung“, die zu diesem Zeit‐ punkt seit über fünf Jahren in Gang war, erinnert jedoch auch an die verlorenen Kämpfe der jüngeren Vergangenheit. Außerhalb der Großstädte demonstrierten die Überlebenden zudem in den Orten nahe den Truppenübungsplätzen, wo nun deutsche Truppen stationiert waren. Den absichtlich gesuchten Kontrast zwischen den Uniformen der Sol‐ daten und der Häftlingskleidung der Überlebenden verdeutlichte der Patriote Résistant auf der Titelseite seiner Dezemberausgabe des Jahres 1960. 50 Während die FNDIRP dieser Frage große Anstrengungen und zahlreiche Texte in ihrer Zeitung widmete, blieb die UNADIF - FNDIR diesbezüglich voll‐ kommen stumm. Im Rundbrief der ADIR meldeten sich drei Überlebende per Leserbrief zu Wort, wobei der patriotisch gefärbten Ablehnung von Lise Lesèvre das Argument der Annäherung und Aussöhnung mit den „Feinden von gestern“ durch Solange Blanc de Vianney entgegengesetzt wurde. 51 Doch trotz dieser individuellen Reaktionen nahm die ADIR auch zu diesem Thema nicht öffentlich Stellung. Keine der ihr angehörenden Überlebenden demonstrierte in ihrer frü‐ heren Häftlingskleidung. Fazit Wenn in den Jahren 1945 bis 1961 ehemalige französische KZ -Häftlinge ihre frühere Sträflingskleidung in der Öffentlichkeit trugen, dann waren es in erster Linie Kommunisten. Dabei wurde die gestreifte Häftlingskleidung von der FNDIRP und ihren Mitgliedern zielgerichtet eingesetzt, um Emotionen, wie z. B. Empörung und Wut, in der öffentlichen Meinung zu erregen und diese dadurch für ihre Position zu gewinnen. Sie vertrauten dabei auf ihr Prestige als ehemalige Widerstandskämpfer und KZ -Häftlinge und die damit verbundene gesellschaft‐ liche Anerkennung als moralische Autoritäten. Die Nutzung dieser Kleidung in Protesten gegen die Bundesrepublik, ihre Politiker und Militärs entsprach dabei den vom kommunistischen Antifaschismus geprägten Deutschlanddiskursen der FNDIRP , die nicht müde wurde, die Kontinuitäten und Parallelen zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik herauszustreichen. Der in Form der Häftlingsuniform zur Schau getragene Verweis auf das eigene Leiden in der 171 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ Vergangenheit stigmatisierte somit auch die politischen Gegner der Gegenwart als Faschisten. Auf Seiten der UNADIF - FNDIR und der ADIR , deren Diskurse über Vergan‐ genheit und Gegenwart durch antitotalitäre Denkmuster geprägt waren, wurde die Häftlingsuniform nach 1945 außerhalb von Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus nicht mehr getragen. Dies deckt sich mit ihrer Haltung, sich öffentlich nur in politische Debatten einzumischen, die die ehemaligen Wider‐ standskämpfer und KZ -Häftlinge explizit betrafen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die gestreifte Uniform von der FNDIRP und ihren Mitgliedern schließlich immer seltener eingesetzt, so z. B. bei Pro‐ testen gegen Besuche ehemaliger Gestapo- und SS -Angehöriger in Frankreich. Dafür griff die nachfolgende Generation dieses Symbol ab den 1970er Jahren vermehrt auf. So ließen sich Beate und Serge Klarsfeld bei ihrer öffentlichkeits‐ wirksamen Verfolgung der Verantwortlichen für Verfolgung und Deportation der in Frankreich lebenden Juden nicht nur von Pressevertretern, sondern auch von ehemaligen Häftlingen in gestreifter Jacke begleiten. Bibliografie Bernay, Sylvie, „Le Père Michel Riquet. Du philosémitisme d’action lors des années sombres au dialogue interreligieux“, in: Archives Juives 40, 2007, 100-116. Fauser, Henning, Représentations de l’Allemagne et des Allemands chez d’anciens concentrationnaires en France, Dissertation, Universität Paris 1 / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2016. Fauser, Henning, „’Indignez-vous! ’ Zur Empörung in den Äußerungen französischer KZ-Überlebender“, in: Marie-Therese Mäder et al. (ed.), Brücken bauen. Kulturwissen‐ schaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive. Festschrift für Dorothee Röseberg zum 65. Geburtstag, Bielefeld, transcript, 2016, 307-319. Guillen, Pierre, La question allemande (1945-1995), Paris, Imprimerie nationale Éditions, 1996. Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München, Beck, 2014. Judt, Tony, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn, bpb, 2006. Lalieu, Olivier, „Le Mouvement déporté face à la guerre froide“, in: Claire Andrieu / Gilles Le Béguec / Danielle Tartakowsky (ed.), Associations et champ politique. La loi de 1901 à l’épreuve du siècle, Paris, Publications de la Sorbonne, 2001, 379-388. Lavabre, Marie-Claire, „Usages du passé, usages de la mémoire“, in: Revue française de science politique, 3 / 44. Jahrgang, 1994, 480-493. Matard-Bonucci, Marie-Anne, „‘Retour à la vie‘. Entre mise en scène et lecture officielle de la déportation“, in: Marie-Anne Matard-Bonucci / Eduard Lynch (ed.), La Libération 172 Henning Fauser des camps et le Retour des déportés. L’Histoire en souffrance, Bruxelles, Complexe, 1995. Miard-Delacroix, Hélène, Question nationale allemande et nationalisme. Perceptions fran‐ çaises d’une problématique allemande au début des années cinquante, Villeneuve d’Ascq, Septentrion, 2004. Morin, Edgar, Autocritique, Paris, Julliard, 1959. Schmidt, Bärbel, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, Dissertation, Universität Oldenburg, 2000 (http: / / oops.uni-oldenburg.de/ 407/ 1/ 440.pdf, abgerufen am 29. 8. 2019). Sellier, André, Histoire du camp de Dora, Paris, La Découverte, 1998. Wolikow, Serge, Les combats de la mémoire. La FNDIRP de 1945 à nos jours, Paris, Le Cherche midi, 2006. 173 „Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays! “ „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften als empörte Abwehr gegen die Hegemonie der instrumentellen Vernunft Niall Bond (Université Lyon 2, Institut d’Histoire des Représentations et des Idées dans les Modernités, UMR 5317, Universität Johannesburg, Soziologieabteilung, Faculty of Humanities) Abstract Emotion, Revolte und Empörung spielten in Diskursen über die Rechtswis‐ senschaften im Neunzehnten Jahrhundert eine Rolle, und gingen in die Ideen der frühen Sozialwissenschaften in Deutschland am Ende des Jahrhunderts ein. Bei der Gründung der deutschen historischen Schule der Rechtswissen‐ schaften durch Savigny vermischte sich Empörung über revolutionäre Ver‐ suche, aus einer vermeintlichen menschlichen Natur universal gültige Ge‐ setze über den Menschen in der Gesellschaft abzuleiten, mit Empörung über Respektlosigkeit vor der Sitte und Sittlichkeit, über die Auffassung von Recht als bloßer Zweckdienlichkeit, und darüber, dass den Deutschen ein fremdes, zweckrationales römisches Rechtsverständnis aufgestülpt würde. Die roman‐ tische Auffassung von Savigny wurde in Gierkes „Genossenschaftsrecht“ im Zweiten Reich weitergeführt. Ein zeitgenössischer Widersacher der roman‐ tischen Sichtweise war der Utilitarist Rudolf von Jhering, der hinter jedem Rechtsakt einen bewussten Zweck suchte. Die romantische Auffassung eines absichtslos, durch „stillwirkende Kräfte“ entstanden sittlichen Rechtes ging in den Gemeinschaftsbegriff des Gründers der klassischen deutschen Sozio‐ logie Ferdinand Tönnies über, während die utilitaristische Auffassung der Zweckdienlichkeit von Rechtakten Tönnies’ Gesellschaftsbegriff prägte. In diesem Gegensatz wurden Kämpfe zwischen aufgeklärten Verfechtern der Rationalität des Rechts und romantischen Befürwortern der überrationalen stillwirkenden Kräfte der Sitte ausgefochten. Dahinter verbirgt sich der Ge‐ gensatz zwischen Normen der Bewusstheit und Normen der Unbewusstheit. 1 “It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest. We address ourselves, not to their humanity but to their self-love, and never talk to them of our own necessities but of their advantages.” 1 Einleitung Hier soll gezeigt werden, wie der Diskurs der modernen Sozialwissenschaften in Deutschland zum Teil konzipiert wurde, um der Hegemonie der instrumen‐ tellen Vernunft in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften eine Neubewer‐ tung von Emotionen entgegenzusetzen. Im Zentrum des Diskurses steht der Be‐ griff der Gemeinschaft, bei Max Weber „Vergemeinschaftung“, der eine - nach dem Sozialphilophen Ferdinand Tönnies (1855-1936) auf Gefallen oder Ge‐ wohnheit beruhende - „gefühlte“ Zusammengehörigkeit voraussetzt. Ein Beitrag zur Hinterfragung von (Zweck-)Rationalität war Immanuel Kants empörte Selbstzweckformel im kategorischen Imperativ im 1785 erschienenen Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Handle so, dass Du die Mensch‐ heit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 1978: 428). Bei aller Achtung vor der Vernunft hatte Kant damit einen Grundstein eines Kanons der Relativierung der instrumentellen Vernunft gelegt. Diese Relativierung kann eine affekthafte sein, wenn dieser letzte Maßstab von Gut und Böse einer leiden‐ schaftlichen Entrüstung darüber entspringt, dass Menschen sich anmaßen, an‐ dere instrumentell zu gebrauchen, anstatt sie zu lieben. Diese Thematik steht im Gegensatz zum neun Jahre zuvor, 1776, festgestellten pragmatischen Lehrsatz Adam Smiths, der den Weg zum 1780 von Jeremy Bentham gegründeten Utili‐ tarismus (Bentham 1780) ebnete: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschensondern an ihre Eigenliebe“ (Smith 1776: X). 1 Neun Jahre später ver‐ lieh Kant also seiner Empörung Ausdruck, dass Menschen einander „als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ betrachten konnten (Kant op.cit.: 429). War Smiths lebenskluge Formel eine Anleitung zum Gedeihen in der bürgerlichen Gesellschaft, stellte Kants Formel die Verwerfung der in‐ strumentellen Vernunft in zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Tönnies stellte 1887 in Gemeinschaft und Gesellschaft der auf Eigeninteresse beruhenden bürgerlichen Gesellschaft ein auf Mitgefühl fußendes Gemeinschaftsideal ent‐ gegen (Tönnies 2019). Ein Beispiel der Verwerfung der instrumentellen Vernunft ist die Opposition der neuen Disziplin der Soziologie in Deutschland zum Utilitarismus, wie er sich 176 Niall Bond mit seiner Behauptung ausschließlicher normativer Geltung in unterschiedli‐ chen Disziplinen, vor allem aber in der klassischen ökonomischen Theorie, der Regierungslehre und der Jurisprudenz geltend gemacht hatte. Die Behauptung, dass Soziabilität letztlich auf einer zweckrationalen Einstellung zu Anderen be‐ ruht, rief beim „Nestor der deutschen Soziologie“ Tönnies Empörung hervor, und führte ihn dazu, an einer bis über Habermas (Habermas 1981) hinaus an‐ dauernden deutschen Revolte gegen die instrumentelle Vernunft zugunsten sakraler „Gemeinschaftswerte“ oder kommunikativer Vernunft teilzunehmen. Nachdem wir anderenorts die Gegenhegemonie der Affekte gegenüber homo oeconomicus bei den Kathedersozialisten der Deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie und bei Marx gezeigt haben (Bond 2011, Bond 2013a, Bond 2013b), werden wir uns hier mit dem Fach der Normativität schlechthin be‐ schäftigen: den Rechtswissenschaften, hier durch den Utilitaristen Rudolf von Jhering (1818-1892) vertreten, dessen Werk Der Zweck im Recht in zwei Bänden 1877 und 1883 erschienen ist und auf den ideengeschichtlich erfolgreicheren Autor Ferdinand Tönnies als eine Provokation wirkte. (In einer parallelen Ver‐ öffentlichung über Rechts- und Sozialwissenschaften setzen wir uns mit der Aufnahme von der organischen Sicht des Rechtshistorikers Otto von Gierke durch Tönnies auseinander (Bond 2021b)). Zwischen 1880 und 1887 griff Tön‐ nies also in eine rechtsphilosophische Debatte ein, um gegenüber dem auswu‐ chernden Zweckmäßigkeitsgedanken einen Platz für gemeinschaftliche Affekte zurückzuerobern. Dieser Eingriff ist nur vor dem Hintergrund einer früheren normativen Aus‐ einandersetzung verständlich: Im Kodifikationsstreit um 1814 wurden die er‐ kenntnistheoretischen Grundlagen der historischen Rechtswissenschaften in ihrem Widerstreit mit dem Natur- oder Vernunftrecht von Friedrich Carl von Savigny gelegt. Savigny wollte den Gedanken des Naturrechts durch die Be‐ hauptung der Überlegenheit des kollektiv und organisch entstandenen Rechts des Volkes in seine Schranken verweisen. Vor dem Hintergrund dieser früheren deutschen Opposition zum Naturrecht aus der Restaurationszeit argumentierte Tönnies 1887 gegen die Ausschließlichkeit des in der Vernunft begründeten Na‐ turrechts der bürgerlichen Gesellschaft von Vertragsverhältnissen durch Thomas Hobbes und John Locke. Ein Motiv war seine Empörung über die Hob‐ bes’sche Annahme, dass Menschen nur miteinander leben würden, um sich in‐ dividualistisch zu gegenseitig bedienbaren Mitteln zu machen. Dem im zweck‐ mäßigen Vertragsgedanken gegründeten Naturrecht der Gesellschaft von Hobbes und Locke - der Mensch lebt friedlich, um ein längeres, angenehmeres Leben zu führen - stellte Tönnies ein Naturrecht der Gemeinschaft sich gegen‐ seitig aus Affekten bejahender Menschen entgegen. Hobbes lehrte ein Natur‐ 177 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften recht der Vernunft, Tönnies stellte neben dieses ein Natürliches im Recht auf der Grundlage gefühlsmäßiger Zusammengehörigkeit. Diese Aufwertung von Affekten wurde so der Auftakt zu einer neuen deutschsprachigen Soziologie, welche - insbesondere nach einer Intervention von Max Weber in der Debatte - die in der klassischen Wirtschaftstheorie und der utilitaristischen Rechtstheorie wichtige Annahme der zweckrationalen Orientierung relativierte, um neben ihr unsere Orientierung an Affekten, Traditionen und Werten gelten zu lassen. Die Behauptung des Zweckgedanken 1877 durch den Juristen Rudolf von Jhering kann als Schwanengesang des Ausschließlichkeitsanspruchs der Zweckratio‐ nalität betrachtet werden. Tönnies sah in Jherings Verteidigung des Zwecks als zentrales Merkmal allen Rechts die Wiederkehr von rationalistischen Universalien und insofern eine „Erneuerung des Naturrechts“. Doris Schweitzer schreibt: Wenn also Tönnies den Rationalismus „als Prinzip des wissenschaftlichen Denkens überhaupt erkannte“ … , dann ist für ihn das rationalistische Naturrecht - und hier paradigmatisch dasjenige Hobbes (vgl. ebd.) - der Prototyp des wissenschaftlichen Denkens. Daher fühlt er sich aufgrund seines strengen Wissenschaftsverständnisses dem Naturrecht verpflichtet. (Schweitzer 2021) Doch war es Tönnies’ Anliegen, neben das Naturrecht der Zweckrationalität ein gefühlsmäßiges Natürliches im organisch entstandenen Recht zu stellen. Das Na‐ türliche im Recht besteht in diesem Falle, wie er später in Die Sitte schreibt, aus dem „stillschweigenden Einverständnis über das, was sein muß, einem Einver‐ ständnis, das aus den tatsächlich gegebenen Verhältnissen als eine Folgerung und Forderung sich ergibt: es ist ‚selbstverständlich‘ und also notwendig“ (Tön‐ nies 1909, 19). Dabei griff er auf Argumentationsfiguren von Savigny, dem Gründer der Historischen Schule, zurück. 2 Zum historischen Hintergrund der Opposition der deutschen Rechtsphilosophie zu einem als westlich empfundenen Rationalismus: der Moment Savigny Aus der Sicht Vieler nahm der westeuropäische Rationalismus unterschiedliche Formen an, welche die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage stellte. Eine Reaktion auf eine als hegemonial empfundene Aufklärung durch den Westen war die Bewegung der Romantik und die Schule des Historismus. Ein Beispiel für die romantische Reaktion in der Wirtschaftstheorie bietet Adam Heinrich Müller (1779-1829), dessen Elemente der Staatskunst von 1809 die Unvollstän‐ digkeit und die Kontextlosigkeit der Smith’schen Erklärung der Ökonomie an‐ 178 Niall Bond prangerte. Müller hatte beim Göttinger Juristen Gustav Conrad Hugo (1764-1844) studiert, der sich für die historische Schule aussprach, die von Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) mitgegründet wurde. Savigny betrat die ideengeschichtliche Bühne, als der Jurist Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840) unter dem Einfluss des französischen Code civil und der gerade abgeworfenen französischen Besatzung 1814 für ein einheitliches bürgerliches Recht für ganz Deutschland Partei ergriff (Thibaut 1814), um das „Gemeine Recht“ oder „jus commune“, einer Mischung aus römischen und kanonischen Recht, abzulösen, u. a. um die Rechtsunsicherheit aufgrund unterschiedlicher geltender Rechtssysteme in deutschen Ländern aufzuheben. Im Kodifikations‐ streit standen unterschiedliche Fragen auf dem Spiel: Was ist eine legitime Quelle des Rechtes? Ist das Recht universell? Kann man es aus der Natur des Menschen beziehungsweise der Vernunft ableiten? Sollte das Recht rationali‐ siert und auf ganz Deutschland ausgedehnt werden? Ist es angemessener, ein Recht römischen oder germanischen Ursprungs in Deutschland zu verallgemei‐ nern? Im gleichen Jahr veröffentlichte Savigny seine Streitschrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in welcher er Gegenargumente hervorbrachte: nach der „krebsartigen“ Eindringung des Codes in Deutschland bestimmte „ein äußerer Zweck … alles, dem eigenen Werthe des Gesetzbuchs völlig fremd, ein an sich selbst heilloses Verhältniß, selbst abgesehen davon, daß es der verderblichste unter allen Zwecken war“ (Savigny 1814: 2). Im „Kodifi‐ kationsstreit“ barrikadierte Savignys Gegenbewegung somit Thibauts Unter‐ nehmen, ein Bürgerliches Gesetzbuch für ganz Deutschland einzuführen. Ko‐ difikationen waren bereits im preußischen allgemeinen Landrecht von 1794 für die nordöstlichen und westlichen Gebiete und im Code civil in Südwestdeutsch‐ land entstanden. Statt der Einführung eines einheitlichen Rechtssystems müsse nach Savigny die Rechtswissenschaft das im Volk organisch entstandene Ge‐ wohnheitsrecht aufnehmen und erst dann die Kodifikation nach dem Vorbild des römischen Rechts vornehmen. Dieser Widerstand gegen das liberale Projekt eines einheitlichen bürgerlichen Rechts entsprach auch den konservativen Machtinteressen der Restauration. Wie im Zitat angedeutet, ging Savigny gegen die Zweckrationalität, gegen das Natur- oder Vernunftrecht und gegen den Universalitätsgedanken der Auf‐ klärung vor. Er verwarf die „Ueberzeugung, daß es ein praktisches Naturrecht oder Vernunftrecht gebe, eine ideale Gesetzgebung für alle Zeiten und alle Fälle gültig, die wir nur zu entdecken brauchten, um das positive Recht für immer zu vollenden“ (ibid.: 8). Das Recht, die Sprache, die Sitten und Verfassungen der unterschiedlichen Völker seien „untrennbar verbunden“. Die „symbolischen“ 179 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften und „förmlichen Handlungen“, durch welche Rechtsverhältnisse entstanden oder untergegangen sind, seien „die eigentliche Grammatik des Rechts“. Und während das „Hauptgeschäft der älteren römischen Juristen“ in ihrer „Erhaltung und genauen Anwendung“ bestand, würde man sie nun häufig als „Barbarei und Aberglauben“ verachten (ibid.: 10). Der „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes“ bewahre sich hingegen - wie die Sprache - „im Fortgang der Zeiten“ (ibid.: 11). Das Wort Wesen wird in Tönnies’ Begriff des Wesenwillen wichtig, da Tönnies durch den Begriff bestimmt, welche Willensobjekte wesentlich, also wichtig sind. Das Recht wachse und sterbe dort mit dem Volk, wo das Volk „seine Eigenthümlichkeit verliert“ (ibid.: 11). Mit der Differenzierung der Kultur differenziert sich auch das Recht. Politisch hänge das Recht mit dem Volksleben zusammen, wodurch sich „natürliches Recht“ (nicht aber Naturrecht! ) ergebe. Technisch hänge es mit der Wissenschaft zusammen, das ergebe „gelehrtes Recht“ (ibid.: 13). Savigny gibt Gewohnheitsrecht den Vorzug: „d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkühr eines Gesetzgebers“ (ibid.: 14). Der Kollektivität Volk wird ein eigenes Geistes- und Gefühlsleben zugeschrieben, auf das zu achten ist. Diese „still‐ wirkenden Kräften“ entsprechen Tönnies’ Idee vom „Wesenwillen“, der im Ge‐ gensatz zur Willkür steht, und mit durch Gewohnheiten geprägten, im Keime angelegten Emotionen im Einklang steht. Der Ehrgeiz der Kodifikation besteht nach Savigny darin, ungeachtet von Verästelungen und Verschiedenheiten im Recht ein „allgemeines“ Gesetzbuch für die unterschiedlichen deutschen Stämme aufzustellen; um ein solches Ge‐ setzbuch inhaltlich zu füllen, rekurrieren Befürworter der Kodifikation auf „das allgemeine Vernunftrecht, ohne Rücksicht auf etwas bestehendes“ (ibid.: 17 f.). Das „Vernunftrecht“ ist hier gleichbedeutend mit „Naturrecht“. Nach Savigny ist dieser „falsche Schein“ „höchst verderblich“, da das Gesetzbuch „durch seine Neuheit, seine Verwandtschaft mit herrschenden Begriffen der Zeit … alle Auf‐ merksamkeit auf sich und von der wahren Rechtsquelle ablenken“ will (ibid.: 23). Die Kodifikation von Erneuerungen, die „bald als Naturrecht, bald als jurisprudence, bald als Rechtsanalogie“ begründet werden, ist vergeblich, da sie nie erschöpfend sein könnte. Manche Befürworter, die im Römischen Recht „die ewigen Regeln der Gerechtigkeit in vorzüglicher Reinheit“ und ein „Naturrecht“ sehen, bewundern im Grunde allein die Theorie der „Contrakte“ (ibid.: 27). Im Abschnitt „Zur Berufung unserer Zeit für die Gesetzgebung“ argumentiert Savigny, dass die „Gegner des Römischen Rechts“ den Wert von Erneuerungen überschätzen: Ein Blick auf die „feinen Künsten“ genügt um zu sehen, dass das Neue nicht in allem überlegen ist. Savigny nennt die Meinung, „daß jedes Zeit‐ 180 Niall Bond alter zu allem berufen“ sei, „das verderblichste Vorurtheil“ (ibid.: 45). Er schreibt über das Achtzehnte Jahrhundert, dass es in Deutschland kaum Juristen mit dem zweifachen „historischen“ und „systematischen“ Sinn gegeben habe, hingegen aber „ein vielfältiges flaches Bestreben in der Philosophie“ (ibid.: 48) und einen Rückgang im Gebrauch der Sprache (ibid.: 52). Den Code civil von Napoleon führt Savigny auf dessen Versuche zurück, von der Revolution lediglich das zu erhalten, was „ihm diente, und die Rückkehr der alten Verfassung“ ausschloss (ibid.: 55). Die Revolution gründete ihrerseits auf „blindem Trieb gegen das be‐ stehende“ (ibid.). Der Code war ein Mittel Napoleons, „die Völker zu um‐ schlingen“ (ibid.: 57). Seine Befürworter rekurrierten nur dann auf das Natur‐ recht (équité naturelle, loi naturelle), „wenn selbst usage und doctrine nicht ausreichen“ (ibid.: 74). Somit wurde das Naturrecht zu einem „Vorwand einer Ungerechtigkeit“; in allen „aus der Revolution hervorgegangenen Stücken des Codes“ bat nun „das vorige Recht gar keinen Schutz gegen die blinde Willkühr“ (ibid.: 78). Eine Auffassung des Naturrechts bestand darin, zu verallgemeinern, was man in den eignen Gesetzen „für allgemein und nicht für positiv“, d. h. von einem Gesetzgeber gesetzt hielt; diese Auffassung ähnelte dem römischen jus gentium, dem Recht aller Völker, und stellte ein Rechtsargument dar, auf das man zurückgreifen würde, wo das Gesetzbuch Lücken aufweist (ibid.: 92.) Der Rekurs auf diese Rechtsquelle sei aber „sehr gefährlich für die Rechtspflege“ (ibid.: 107). Savigny meint, das Recht sei nicht durch die nackte Vernunft zu erschließen, sondern durch die Rechtsgeschichte „in den Universitäten“ zu er‐ mitteln: das historische Studium des gemeinen Rechts sei „mit Ernst zu fordern“ und im Verkehr zwischen deutschen Landen zu begünstigen, da „nur in der innigsten Vereinigung ihr Heil“ sei. (ibid.: 153 f.). Bei der Begründung der historischen Schule verwirft Savigny das „Vernunft‐ recht“ als willkürlich, da es dem Verstand einzelner Individuen entspringt; statt‐ dessen macht er sich für das organisch gewachsene Recht stark. Aber ist ein „organisch gewachsenes“ Recht allein deshalb weniger willkürlich, wenn man es auf keine spezifische Entscheidung und keine spezifische Rationalität zu‐ rückführen kann? Ist das liebevolle Vertiefen in die Rechtsnormen früherer Zeiten eine verlässliche Basis für die Findung von Normen, die unserer Welt mit unseren sich rasch fortentwickelnden Einsichten in unsere Natur als Individuen und als Mitglieder von Gemeinschaften gerecht werden? Das Vernunftrecht wird von Savigny als einen fremden Eindringling wahrgenommen, der sich gegen organisch gewachsene, kollektiv gefühlte Normen durchsetzen will. Achtet man auf die Vermengung heterogener Kriterien, so scheint dieser spe‐ zielle konservative Historismus das Gefühlte, das Organische, das Tradierte, das Wünschbare und das Heilige zu vermischen. 181 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften Savignys Opposition zum Naturrecht verbindet sich im Laufe des nationali‐ stischen 19. Jahrhunderts mit der Idee, dass während Deutschland schon affektiv und kulturell, politisch aber noch nicht geeinigt war, die bürgerlichen Gesell‐ schaften der westlichen Nachbarländer lediglich durch gebändigtes Eigeninte‐ resse zusammengehalten wurden. Eine späte Extremform war die von Gemein‐ schaft und Gesellschaft inspirierte Dichotomie Werner Sombarts, die den deutschen Helden dem englischen Händler entgegenstellte (Sombart). Der so‐ ziale Frieden auf utilitaristischer vertragsmäßiger Basis entspricht für Tönnies der „mechanistischen“ Lehre der Gesellschaft,während die affektive gegenseitige Bejahung von Gemeinschaftsgenossen das „organische“ Lebensprinzip der Ge‐ meinschaft begründet, hierin Savigny wie aber auch Tönnies’ Zeitgenossen Otto von Gierke folgend (Bond 2021b). Das organische Prinzip nimmt an, dass Hand‐ lungen unüberlegt, unbewusst, affektiv und kollektiv erfolgen. Der Kampf zwi‐ schen den mechanischen und organischen Auffassungen des sozialen Lebens durchzieht das 19. Jahrhundert. Im Jahre 1789 gründete Jeremy Bentham mit seiner Introduction to the Principles of Morals and Legislation den philosophi‐ schen Utilitarismus, der dem neueren Zeitgeist zu entsprechen schien und me‐ thodisch radikal vom Individualismus ausgeht. In den Rechtswissenschaften wurde der Utilitarismus von John Austen, in der Nationalökonomie von John Stuart Mill weiterentwickelt. Als einen deutschen Verfechter des Utilitarismus verstand sich der Jurist Rudolf von Jhering (1818-1882) ( Jhering 1883: 154), gegen dessen reinen Zweckrationalismus Tönnies in seinem Jugendwerk Ge‐ meinschaft und Gesellschaft empört anschrieb. 3 “Der Zweck im Recht.” Die Widerlegung des Utilitarismus Rudolf von Jherings als Ausgangspunkt von Tönnies’ Rechtsphilosophie Dreiundsechzig Jahre nach Savignys Werk, im Jahre 1877, erschien Rudolf von Jherings Plädoyer für eine auf der Zweckrationalität als universalem Prinzip fundierende Rechtswissenschaft, der erste Band von Der Zweck als Recht. Jhe‐ rings Versuch, aus Universalien Rechtsnormen abzuleiten, deutete Tönnies als eine Erneuerung des Naturrechts. In der Sprache erinnert Jherings Kritik an der Rechtslehre seiner Zeit an Savigny, indem er die Bewusstlosigkeit von logisch vermeintlich ableitbaren Rechtsdoktrinen, wie dies Robert Summers feststellt, „ohne jede Berücksichtigung der praktischen Folgen“ anprangert; „Was in der Zukunft vorkommen wird, wird nicht durch die Logik, sondern durch das Leben bestimmt, durch den Handel und den Verkehr und durch den menschlichen Ins‐ tinkt nach Gerechtigkeit, ob dieser nun logisch deduzierbar ist oder nicht - da es ja sonst nicht passieren wird“ (Summers 1996: 63). Doch stellt Jhering die 182 Niall Bond Zweckrationalität ins Zentrum sämtlicher Überlegungen - aufgrund seiner Überzeugung, dass das, was zweckmäßig ist, gut ist. Die Zurückführung aller Normen auf bewusstes Kalkül war für den Schopenhauerianer Tönnies schon Grund zur Ablehnung, und so schrieb er, dass seine „eigene Theorie … in einem gewissen negativen Verhältnis zu Ihering gewachsen“ sei (Tönnies 1924: 13). Wenn Tönnies die Zweckrationalität als ausschliessliche normative Orientie‐ rung, die Jherings Utilitarismus ausmacht, ablehnt und Savignys und Gierkes organische Auffassung gelten lassen möchte, weist er das Naturrecht als solches nicht ab. Tönnies ist der Auffassung, dass die rationalistische naturrechtliche Erklärung des sozialen Friedens keine ausschliesslich rechthabende ist, und dass man neben dieses rationalistisch gesellschaftliche Naturrecht ein historisch ge‐ meinschaftliches Naturrecht stellen müsste. Tönnies ging es darum, sowohl das rationalistische Naturrecht als auch den flachen Utilitarismus zu relativieren. An der höchsten Stelle in der utilitaristischen Wertehierarchie stand das größt‐ mögliche Glück der größtmöglichen Zahl, wovon die Zwecke des Rechts dedu‐ zieren wurden. Erstens betrachtete Tönnies das Glücksideal mit Skepsis, und meinte, die Verfolgung dieser Chimäre, die dem Menschen der Vormoderne gleichgültig gewesen sei, wäre eine Illusion der modernen Gesellschaft (Bond 2017). Die zwei Bände von Jherings “Der Zweck im Recht” sind 1877 resp. 1883, kurz vor und um die Entstehung von Gemeinschaft und Gesellschaft erschienen. Jhe‐ ring bezeichnet Der Zweck im Recht als „einen Ausläufer“ von seinem Werk über das römische Recht und bedauert, die philosophische Vorbildung nicht gehabt zu haben, um auf Fragen der Ethik zulängliche Antworten zu geben ( Jhering 1877: vi, vii). Wie Tönnies bekennt sich Jhering zum monistischen Prinzip, dass Geist und Materie eine Einheit bilden und betont aber, dass das Verständnis eines intendierten Sinnes eines Geistes mit der monistischen Auffassung zu ver‐ söhnen sei. „Mit der monistischen Auffassung, zu der ich mich hiermit bekenne, steht die Annahme eines doppelten Gesetzes für die Welt der Erscheinung: des Causalitätsgesetzes für die unbelebte und des Zweckgesetzes für die belebte Schöpfung im Mindesten nicht in Widerspruch“ (ibid.: 12). Seine „Erörterungen über das Zweckgesetz“ fangen mit einer Klärung dieser Kausalität an. „Nach der Lehre vom zureichenden Grunde geschieht nichts in der Welt von selbst (causa sui), sondern alles, was geschieht, d. h. jede Veränderung in der Sinnenwelt ist die Folge einer vorangegangenen andern, ohne die sie selber nicht eingetreten sein würde. Diese durch unser Denken postulirte und durch die Erfahrung be‐ stätigte Thatsache bezeichnen wir als Causalitätsgesetz“ (ibid.: 1). Aber die Natur von Ursache und Wirkung ist bei menschlichem Handeln eine spezifische. „Der Stein fällt nicht, um zu fallen, sondern weil er muss, d. h. weil ihm die Stütze 183 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften entzogen ist, aber der Mensch, welcher handelt, thut es nicht eines ‘Weil’, son‐ dern eines ‘Um’ wegen, - um etwas damit zu erreichen“ (ibid.: 4). Hier setzt Jhering voraus, dass das Handeln ein bewusstes ist, was der Tönnies als Schüler Schopenhauers ablehnen musste. Jherings sah die Zweckrationalität überall, auch in den unbewussten Vor‐ gängen der Natur. „Das thierische Leben, wie die Natur es nun einmal gedacht und gestaltet hat, ist die Behauptung der Existenz aus eigener Kraft (volo, nicht cogito, ergo sum), Leben ist praktische Zweckbeziehung der Außenwelt auf das eigene Dasein. Die ganze Ausstattung des lebenden Wesens: Empfindung, Ver‐ stand, Gedächtniss hat bloß den Sinn, das lebende Wesen dabei zu unterstützen“ (ibid.: 9). An dieser Stelle finden wir eine grundlegende Verschiebung bei Jhe‐ ring: Dadurch, dass etwas besteht, erbringt es den Beweis der eigenen Zweck‐ mäßigkeit. Jhering gleitet vom Utilitarismus zu einem konservativen Sozialdar‐ winismus. Die Prüfung des Rechts anhand des Zweckbegriffs kann einen emanzipato‐ rischen Sinn haben. Statt das Recht als ein organisch Gewordenes zu beweih‐ räuchern, könnte eine sinnvolle historische Auffassung vom Recht den Sinn individueller Rechtssätze hinsichtlich der Intention des Gesetzgebers hinter‐ fragen, um dann zu fragen, ob solche Zwecke heute noch sinnvoll sind. Die Behauptung, dass das Recht schon deshalb einem legitimen Zweck entspricht, weil es besteht, ist hingegen ebenso konservativ wie der Gedanke des organisch gewordenen Rechts. Jhering sieht allerdings die Verfechter der Idee des „ab‐ sichts- und bewusstlosen Handelns“ als seine Gegner an; auch beim Handeln in der Tierwelt gebe es tatsächlich Zwecke (ibid.: 20). Und Jhering wehrt sich gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit, da der „Hebel“ der „sich selber gestaltenden Kraft in der Welt“ der „Zweck“ sei (ibid.: 25). Sein Zweckbegriff ist einerseits allum‐ fassend, andererseits ist die Existenz eines Zweckes Grund genug für seine Be‐ jahung. Er steigert sich im sechsten Kapitel - „Das Leben durch und für Andere oder die Gesellschaft“ - zur Behauptung, „dass der Satz: ‘Jeder ist für die Welt da’ für die Völker ganz dieselbe Geltung hat wie für die Individuen, und dass wir in ihm das oberste Culturgesetz der Geschichte besitzen“ (ibid.: 91). Jhering macht aus Adam Smiths Feststellung eine universale Wahrheit. Das dritte Kapitel von Jherings Werk heißt „Der Egoismus im Dienst fremder Zwecke“: Die Natur selber hat dem Menschen den Weg gewiesen, den er einschlagen muss, um einen Andern für seine Zwecke zu gewinnen, es ist der Verknüpfung des eignen Zweckes mit dem fremden Interesse. Auf dieser Formel beruht unser ganzes menschliches Leben: der Staat, die Gesellschaft, Handel und Verkehr. Eine Cooperation mehrerer Menschen für denselben Zweck kommt nur dadurch zu Stande, dass die Interessen aller conver‐ 184 Niall Bond gierend in demselben Endpunkt zusammentreffen. Keiner hat vielleicht den Zweck als solchen, sondern Jeder nur sein eignes Interesse im Auge, aber die Coincidenz ihrer Interessen mit dem allgemeinen Zweck bewirkt, dass, indem Jeder sich bloss für sich bemüht, er zugleich für den Zweck thätig wird. (ibid.: 42) In seinen Ausführungen über „unorganisierte“ und „organisierte“ „Kollektiv‐ zwecke“ verweist Jhering auf die „Wissenschaft“ als Beispiel für die ersten, auf das Recht mit seinem „auf der geregelten, festen Vereinigung der Zweckge‐ nossen beruhender Apparat“ (ibid.: 45) als Beispiel für die letzteren. Jhering nennt als Beispiele „den Verein, die Genossenschaft, Gesellschaft, juristische Person, um in ihm sofort eine Anschauung von dem unendlichen Reichthum dieser Zwecke hervorzurufen” (ibid.: 47). Dabei mag man fragen, ob diese Ge‐ bilde nicht eher Mitteln entsprechen. Jhering sieht sogar die Gesellschaft insgesamt als einen Zweck an. „Der Be‐ griff der Gesellschaft ist bekanntlich ein moderner, er ist uns, soviel ich weiss, von Frankreich gekommen“ (ibid.: 93 f.). Er definiert die Gesellschaft zunächst nicht als die Konfiguration (praktisch) aller auf einem nennbaren Gebiet be‐ findlichen Personen - sondern im Kleinen, als die freiwillig eingegangene Ver‐ einigung von Personen. „Eine Gesellschaft (societas) im juristischen Sinn ist ein Verein mehrerer Personen, welche sich zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks verbunden haben, von denen daher jede, indem sie für den Gesell‐ schaftszweck thätig wird, zugleich für sich handelt. Eine Gesellschaft in diesem juristischen Sinn setzt einen auf ihre Errichtung und Regelung gerichteten Ver‐ trag, den Gesellschaftsvertrag voraus” (ibid.: 94). Dann aber geht er über zu einer völlig anderen Definition von „Gesellschaft“ als Gesamtheit der Menschen. „Menschliches und gesellschaftliches Leben sind gleichbedeutend. Das haben bereits die alten griechischen Philosophen vollkommen richtig erkannt; es gibt keinen Ausspruch, der die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen kürzer und treffender wiedergäbe als die Bezeichnung desselben als zoon politikon d. h. gesellschaftliches Wesen. Erst die Gesellschaft macht unseren obigen Satz wahr: die Welt ist für mich da, indem sie mir in der Gemeinschaft, die sie begründet, die Welt stellt, deren ich bedarf. Aber sie kann es nur mittelst der Antithese: Du bist für die Welt da, sie hat an Dir ganz dasselbe Anrecht, wie Du an ihr“ (ibid.: 95). Die zugleich wirtschaftlich liberale und sozietär konservative Ideologie drückt sich so aus: „Handel und Gewerbe, Ackerbau, Fabrikation und Industrie, Kunst und Wissenschaft, die Sitte des Hauses und des Lebens organisiren im Wesentlichen durch sich selbst” (ibid.: 96). Doch Jherings Ethik, in der er seine Schwächen offen eingesteht, ist es, was Tönnies am meisten vor den Kopf gestoßen haben muss. Im Kapitel IV , “Das Problem der Selbstverläugnung”, versucht er den Beweis zu erbringen, dass 185 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften die “Selbstverläugnung” auch Ausdruck der Eigensucht ist. „Wer kein weiteres Motiv des menschlichen Handelns kennt als den Egoismus, dem bietet das menschliche Leben unlösbare Räthsel” (ibid.: 53). Das eiserne Gesetz des unab‐ dingbaren Egoismus, an welchem Jhering so zu hängen scheint, wird somit problematisch. „Die Sprache bezeichnet die Gesinnung, aus der diese Hand‐ lungen hervorgehen, als Selbstverläugnung: der Handelnde will bei der Hand‐ lung nichts für sich, sondern alles nur für den Anderen. Die Möglichkeit eines solchen Handelns steht mit dem Gesetz des Willens, das wir bisher constatirt haben: dem Zweckgesetz nicht in Widerspruch; auch die Selbstverläugnung will etwas Zukunftiges, sie will es nur nicht für sich sondern für Andere“ (ibid.: 54). Dennoch sei der Altruismus, das Selbstopfer aus dem Bauch heraus „etwas, wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann, und dessen Gründe auf dem Wege der Erfahrung nicht auszumitteln sind“ (ibid.: 55). Jhering gleitet von Definition eines philosophischen Egoismus in eine Hul‐ digung des praktischen gegenseitigen Egoismus. Das Mitgefühl sucht man in seinen Argumenten umsonst. Er schreibt, „Ich bin mir bewusst, mit diesem Lob‐ lied auf den Egoismus bei jedem meiner Leser, der über die Sache nicht weiter nachgedacht hat, Anstoss zu erregen. Der Egoismus im Verkehr, wird er mir einwenden, ist ein nothwendiges Uebel, aber wo er sich noch nicht eingestellt hat, soll man ihn nicht herbeisehnen, sondern sich freuen, dass man ohne ihn auskommen kann. Nun gut! Der Leser soll an einem speciellen Verhältniss selber die Probe machen … Er denke sich, dass er die Wahl habe zwischen einer Reise in ein Land, in dem er überall Gasthöfe vorfindet, oder in ein solches, wo es an denselben völlig fehlt, dieser Mangel aber durch eine allgemein übliche Gast‐ freundschaft ersetzt wird“ (ibid.: 125). So gesehen sei eine “Gastwirthschaft” „besser als Gastfreundschaft. Die Gastwirthschaft gewährt mir die Sicherheit der Aufnahme, und das Geld erspart mir das Demüthigende der Bitte, der empfang‐ enen Wohlthat, des Dankes - in meinem Geldbeutel steckt meine Freiheit und Unabhängigkeit auf Reise“ (ibid.: 126). Jhering beschreibt die spontane Gabe somit als etwas Denkbares, aber Uner‐ wünschtes. Die Gefühlregungen, die bei der spontanen Gabe und beim spon‐ tanen Empfang aufkommen, sind für diesen Utilitaristen nicht nur irrational, sondern auch störend. Tönnies sieht ein solches vertragsmäßige berechnende Denken zwar als zeitgemäß an; aber es ist weder universell, noch vor allem wünschenswert. Zu unterschiedlichen Zeiten verwarf Tönnies gerade diese kommerzielle Berechnung, die Jhering hochhält: z. B. in seiner ersten, 1875 ver‐ öffentlichten Schrift über studentische Reform, in welcher er vor der „ledernen“ kommerziellen Pedanterie des wissenschaftlichen Geistes warnt und eine cha‐ rismatische Gegenbewegung heraufbeschwört (Tönnies 1875: 48), und dann in 186 Niall Bond seinem berühmten Werk von 1887, in welchem er eine Geschichtsphilosophie (Bond 2021a) entwickelt, in welcher zwar emotionale Bindungen instrumen‐ tellen Seilschaften vorausgehen, doch beide tragisch zum Untergang verurteilt sind. Das Hochkommen utilitaristischer Rationalität bedeutet den Untergang gefühlten Miteinanders. 1887 stellt Tönnies in seinen Ausführungen zu Rechtsnormen ein Paradoxon fest, das seinen Zeitgenossen entgangen war. Beobachter würden das Ausei‐ nanderklaffen zwischen zwei Phänomenen nicht verstehen: nämlich zwischen der „Ausbildung, Mobilisierung, Universalisierung“ bis hin zur „Kodifikation“ „des Rechtes“ einerseits und dem „Verfall des Lebens und der Sitten“ andererseits. Der spätere Verfechter der wissenschaftlichen Objektivität beklagt, dass „auch die gelehrten Schriftsteller beinahe niemals von ihren Urteilen des Gefallens und Mißfallens sich zu befreien und zu einer durchaus unbefangenen, streng objek‐ tiven Auffassung der Physiologie und Pathologie des sozialen Lebens zu ge‐ langen [vermögen].“ Dass die gesellschaftliche Entwicklung mit dem Untergang des Patriarchats eine pathologische war, stand für ihn fest. Jene „gelehrten Schriftsteller“ „bewundern das römische Reich und Recht; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte. Den Kausalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen, ist ihr Gesicht nicht ausgebildet. Und freilich gibt es in allem Wirkli‐ chen und Organischen keine Entzweiung von Ursache und Wirkung, wie der stoßenden Kugel und der gestoßenen“ (Tönnies 2019: 376). Die Norm des Ver‐ trags - des schlichten Austausches von gleichwertigen Gegenständen ohne An‐ gesicht der Person - war, wie zu den Zeiten des Untergangs Roms, die geltende Norm der berechnenden Träger der modernen Gesellschaft geworden. Tönnies setzt mit einem gewaltigen Gefühlsausbruch fort: In der Tat aber war ein rationales, wissenschaftliches, freies Recht erst möglich durch die aktuelle Emanzipation der Individuen von allen Banden der Familie, des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens, der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und Pflicht. Und diese war der Untergang des schaffenden und ge‐ nießenden gemeinschaftlichen Haushalts in Dorf und Stadt, der ackerbauenden Ge‐ meinde und der städtischen handwerksmäßig, genossenschaftlich, religiös-patriotisch gepflogenen Kunst. Sie war der Sieg des Egoismus, der Frechheit, der Lüge und Küns‐ telei, der Geldgier, der Genußsucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschauli‐ chen, klaren, nüchternen Bewußtheit, mit welcher Gebildete und Gelehrte den gött‐ lichen und menschlichen Dingen gegenüberzustehen wagen. Und dieser Prozeß ist doch niemals als ein vollendeter anschaubar (Tönnies 2019: 376). Die heiligen Bande, die von Glauben, Sitte und Gefühlen getragen wurden, würden im Laufe einer naturgemäßen Entwicklung von Egoismus, Frechheit, 187 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften Lüge und Künstelei abgelöst. Der Romantik treu, von Carlyles Past and Present beeinflusst, verortet Tönnies authentische Gefühle und gefühlte Authentizität in der Vergangenheit: Der Weg in die Zukunft ist der Weg der instrumentellen Vernunft, auf welchem alles bewusst berechnet werden muss und wird. Ge‐ meinschaft und Gesellschaft kann als Schwanengesang wahrer Emotionen ge‐ lesen werden. Dabei führt das Werk zwei Irrtümer Savignys in das 20. Jahrhun‐ dert ein: Dass Gefühle und das Wesentliche zwangsläufig auf dem Kollektiven und dem Vergangenen - Tönnies sagt Gewohnheit - beruhen, und dass es dem modernen Menschen nicht gelingt, durch Vernunft für die menschliche Kondi‐ tion angemessenere Normen als die tradierten Normen zu entwickeln, die ih‐ rerseits ein reiches emotionales Leben tragen können. 4 Die Beleuchtung der Spannung zwischen aufgeklärtem Individualismus und stillschweigenden kollektiven Normen aus den Lebenserfahrungen von Tönnies Auf einer Sitzung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hat der Histo‐ riker und Soziologe Uwe Dörk unlängst dafür plädiert, wissenschaftliche Er‐ neuungen im Hinblick nicht nur auf Paradigmenwechsel, sondern auf Episo‐ denhaftigkeit zu analysieren. Dementsprechend könnte man die Episode nachzeichnen, die Tönnies dazu veranlasste (oder verleitete), in seiner kultur‐ pessimistischen Geschichtsphilosophie das Emotionale nur in der Vergangen‐ heit zu sehen. Spekulativ ist man auf den Weg vom Bauernhof seiner Kindheit in die Provinzstadt Husum, auf seinen weiteren Weg in Weltstädte, auf seine unerwiderte Liebe zur Emanzen avant la lettre Lou von Salomé gekommen. Doch bestand die Zweckrationalität auch in vormodernen Zeiten; sie ist sogar bei anderen Gattungen anzutreffen. Der aus dem Existenzkampf materieller Not hervorgehende Mensch hat außerdem andere Gefühle freigestellt, die allmählich salonfähig wurden. Jhering mag Recht gehabt haben, dass auch hochheilige tra‐ dierte „stillwirkende“ Rechtsnormen stets auf Zwecke zurückführbar sind. Solche Zwecke können im Laufe der Zeit undurchsichtig werden oder überholt erscheinen. Beklagt man wie Tönnies, dass die Emanzipation eine Durchratio‐ nalisierung des Rechtes und - aus mancher Sicht - den „Verfall des Lebens“ zutage fördert, so geschieht diese Durchrationalisierung aus Respekt vor den zu Emanzipierenden. Tönnies’ Geschichtsphilosophie scheint außerdem eine Ver‐ einfachung zu sein: es kamen im Laufe von seinem Leben Emotionen und Ge‐ meinschaftsbegeisterungen auf, die früheren historischen Vergemeinschaf‐ tungen in nichts nachstanden. Dazu gehörten ebenso die Mobilisierung massenhafter politischer Emotionen in totalitären Herrschaftssystemen - wir 188 Niall Bond lassen hier die Debatte ganz beiseite, ob „Volksgemeinschaften“ oder Ausbrüche von Klassensolidarität nach Tönnies’ Begriffsbestimmungen eigentlich Gemein‐ schaften oder Gesellschaften waren - oder die Freisetzung bislang unterdrückter Emotionen im Laufe der Liberalisierung der Sitten. Die Grundlagen der gefühls‐ mäßigen Bindungen seines Bruders waren nicht neu und waren schon im 19. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen: Der Schweizer Heinrich Hössli (1784-1864) hatte in den 1830er Jahren die Männer‐ liebe in der Antike thematisiert (Hössli 1836, 1838), und der deutschsprachige Ungar Karl Maria Kertbeny (1824-1882) in seiner Verteidigung von Gefühls‐ werten als Menschenrechten im Jahre 1868 den Begriff der Homosexualität ge‐ prägt (Kerbeny 1868). Um emotionale Bindungen zwischen Männern soziolo‐ gisch zu fassen - denn Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff entsprach der Normativität der Familie - entwickelte im Kielwasser von Gemeinschaft und Gesellschaft der jugendbewegte Hermann Schmalenbach die Kategorie des Bundes (Schmalenbach 1922). Den politischen und sozialen Entwicklungen von Ausbrüchen der Gemeinschaftlichkeit und der sozialen Emotionen nach dem Loslösen aus familiärer Unmündigkeit trug Tönnies in seinem wissenschaftli‐ chen Schaffen kaum Rechnung. Gefühlsausbrüche von Einzelnen, die ihre Ge‐ meinschaft nicht im Hergeholten, sondern im Künftigen suchen, mögen ihm als Sieg der Frechheit erschienen sein. Lediglich die Entschleunigung, nicht aber die Reversibilität eines Vergesellschaftungsim Sinne eines Rationalisierungs- und Intellektualisierungsprozesses schien Tönnies möglich zu sein - und für diese Verlangsamung des Rationalisierungsprozesses setzte er seine Hoffnung in die ökonomische Genossenschaftsbewegung. Aber für das Aufkommen und den Ausdruck neuer Emotionen war sein Blick wegen seiner Angst vor dem Siegeszug der instrumentellen Vernunft, vor dem Ausdruck verpönter Gefühle und vor dem Verfall tradierter Normen versperrt. Für ein Verständnis der Ge‐ fühls- und Gedankenwelt von Traditionalisten ist die Auseinandersetzung mit Tönnies aufschlussreich. Doch hatte Tönnies nicht nur ein Werk geschaffen, das Traditionalisten aus der Seele sprach. Er hat auch den Grundstein der radikalen neuen Disziplin der Soziologie in Deutschland gelegt. Da knüpfte er an andere an und bereitete ra‐ dikaleren Denkern einen fruchtbaren Boden vor. Marx und Nietzsche waren gleichermaßen von der Entwürdigung des Menschen zu einem bloßen Mittel entsetzt und haben darin die Gründergeneration der deutschen Soziologie be‐ einflusst. Die Zweckreihe wurde nach Tönnies zu einem zentralen Gegenstand von Georg Simmel, dessen Soziologie auf dem „Gegensatz der kausalen und der teleologischen Denkrichtung“, von Gefühlen als „Trieben“ und Zweckreihen beruht (Simmel 1901). Um die Zweck-Mittel-Problematik kreiste auch das Ver‐ 189 „Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften hältnis zwischen Ferdinand Tönnies und Max Weber (Tönnies 1923), der in seiner verstehenden Soziologie in Wirtschaft und Gesellschaft der zweckratio‐ nalen Orientierung eine traditionelle, eine wertrationelle und wohlgemerkt eine affektive entgegensetzte (Weber 1922). Die schöne deutsche Kollokation „Sinn und Zweck“ entnimmt ihren Sinn der Tatsache, dass der Zweck der Sinn sein kann, aber nicht immer ist, dass ein Warum nicht immer ein Wozu ist, und dass sich der wahre Sinn gelegentlich von außerhalb, oft erst durch die Prüfung der Emotionen erkundet wird. Das vollständige Absterben von Emotionen zugunsten einer rein auf der Zweckrationalität beruhenden Gesellschaft ist unmöglich: Stets beruhen Zweckmäßigkeitsentscheidungen auf Emotionen. Letzte Zwecke werden zwangsläufig irrational gesetzt. Allerdings wird diese Bestimmung jener letzten Zwecke immer mehr auf mechanische Instanzen und Algorithmen verlagert, und somit werden Menschen des emotionalen Sinnes ihres Handelns beraubt. Darin ist Tönnies’ Jugendwerk, wie dies Arno Bammé betont (z. B. Bammé 2018), richtungsweisend. Die Geschichte von Normen kann auch als eine Ge‐ schichte des Kampfes um die Bestimmung legitimer Emotionen gelesen werden. Bibliografie Bammé, Arno, Ferdinand Tönnies, eine Einführung, Marburg, 2018. Bentham, Jeremy, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London, T. Payne and Sons, 1780. Bond, Niall, „Ferdinand Tönnies and academic ‘socialism’“, in: History of the Human Sciences, Band 24, Nummer 3, SAGE, Juli 2011, 23-45. Bond, Niall, „Tönnies and Karl Marx: debts and distance“, in: Journal of Classical Socio‐ logy, Band 13, Nummer 1, Sage Publications, 2013a, 136-162. 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Wenn manche aber meinen, die Zeiten kehrten ähnlich wieder, so haben doch in Wahrheit nur eine Hand‐ voll Elementarien des Gemüts, des Gewis‐ sens, der ideellen Wahrnehmung, des Stils etc. sich in neuem Verschnitt gezeigt oder ihren Dreh gewechselt. (Strauß 2006: 56) Abstract Während das Thema ‚Zorn in der mittelalterlichen deutschsprachigen Lite‐ ratur‘ in den letzten Jahren zumeist bezogen aus der Sicht weltlicher Litera‐ turgattungen behandelt wurde, wird im vorliegenden Beitrag der geistliche Sündendiskurs des Mittelalters unter die Lupe anhand zweier weniger rezip‐ ierter Beispieltexte unter die Lupe genommen. Erstens wird das Bihte buoch herangezogen, ein ca. 1300 entstandener Beichttraktat in mittelhochdeut‐ scher Sprache. Zweitens rückt der Fokus auf rheinfränkisch-lothringische Übersetzungen von Digullevilles Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, die im 15. angefertigt wurden. Die Behandlung von Zorn erweist sich als differen‐ ziert, und beschränkt sich keinesfalls auf plakative Urteile über den Zorn als Todsünde. Schon metasprachlich zeigt es sich, dass das Phänomen Zorn viel‐ schichtig in seinen psychischen, physischen und sozialen Auswirkungen be‐ schrieben wird. Es werden auch Gegenmittel gegen seine Gefährlichkeit vor‐ geschlagen. Dazu wird ‚Zorn‘ aber auch narrativ ausgestaltet und auf dieser Ebene in Aspekten angesprochen, die in der direkten Didaxe nicht zur Sprache kommen. 1 In einzelnen Fällen ist ‚Zorn‘ auch nur ein sekundäres Movens in der vorgelegten In‐ terpretation, wie bei der schlüssigen Deutung von Thürings von Ringoltingen Melusine durch Toepfer 2015, auf die der nach Literatur zur Thematik ‚Zorn‘ Suchende aufgrund des Aufsatztitels stößt. Einen Überblick über die germanistisch-mediävistische For‐ schung zur Zorn-Thematik bis ca. 2006 bietet Martini 2009: 63-86. 2 Eine Ausnahme stellen zwei Arbeiten von Hildegard Elisabeth Keller (Keller 2003 und Keller 2006) dar, von denen v. a. die jüngere die von der germanistischen Mediävistik 1 Einführung: Zugriffe auf ‚Zorn im Mittelalter‘ Im Jahr 1977 stellte der britische Historiker und Soziologe Theodore Zeldin - im Hinblick freilich auf die Kulturgeschichte Frankreichs zwischen 1848 und 1945 - fest: „The history of anger has yet to be written“ (Zeldin 1977: 1120). Die amerikanische Mediävistin Barbara Rosenwein, die 1998 einen Sammelband zu Anger’s Past - diesmal im Mittelalter - herausgab, konstatierte in ihrer Einlei‐ tung zu diesem, auf Zeldin Bezug nehmend: „The comment could still be made today. […] This is the first book explicitly devoted to the history of anger in the medieval West“ (Rosenwein 1998: 1), und auch der germanistische mediävisti‐ sche Literaturwissenschaftler Klaus Ridder zog 2003 in seinem Aufsatz „Kampf‐ zorn: Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik“ eine entsprechende Bi‐ lanz: „Von einer Geschichte des Zorns […] sind wir weit entfernt“ (Ridder 2003: 225 sq.). Hat sich die Forschungssituation - bezogen auf die Geschichte des Zorns im Mittelalter - inzwischen gebessert? Leider nicht grundlegend, das ergab eine Durchsicht der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Literatur, die ich zur Situierung der in den beiden folgenden Abschnitten dieses Beitrags gemachten Beobachtungen an zwei volkssprachigen geistlichen Texten des späteren Mit‐ telalters vorgenommen habe: Zwar ist das Thema ‚Zorn‘ gerade in der germa‐ nistischen mediävistischen Literaturwissenschaft in den beiden letzten Jahr‐ zehnten auf ausgesprochen reges Interesse gestoßen, das sich in einer großen Zahl von Publikationen mit vielfältigen innovativen methodologischen Zu‐ griffen (cf. die Bibliographie) widerspiegelt, allerdings werden diese neuen An‐ sätze zumeist an nur je einem Text ausprobiert, so dass sich ein Gesamtbild über ‚Zorn in der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur‘ nicht ergeben kann. 1 Neben der Beschränkung auf Einzeltexte verhindert einen umfassenden Zugriff auf die Thematik aber auch eine gattungsmäßige Fokussierung der ge‐ wählten Untersuchungsgegenstände auf überwiegend weltliche Textsorten wie Antikenroman, Heldendichtung, Chanson-de-geste-Rezeption, Spielmanns‐ epos, Artusroman, Mære, Schwankroman und früher Prosaroman unter grund‐ sätzlicher Ausklammerung volkssprachiger religiöser Texte. 2 Dieser Engfüh‐ 194 Matthias Rein an der weltlichen Literatur erprobten neuen methodischen Zugriffe mit Gewinn auf ein religiöses Textgefüge anwendet. 3 Marcel Viller unterscheidet drei Positionen (Noble / Viller 1953: 1068-1074). Die mittlere Position, die Zorn theoretisch erlaubt, aber davon abrät, in der Praxis tatsächlich auf ihn zurückzugreifen (Noble / Viller 1953: 1070-1072), kann er allerdings frühestens bei Dionysius dem Kartäuser († 1471) und hauptsächlich bei Franz von Sales (1567-1622) - also erst für die Schwelle zur Neuzeit und danach - nachweisen. 4 Thomas von Chobham lehnt sich hierbei mehrfach wörtlich an an einen bis ins späte Mittelalter hoch angesehenen Prätext: Gregors des Großen († 604) Moralia in Iob (V,45,78-83) (entstanden zwischen 579 und spätestens 602) (Gregor der Große 1979: 276-281; cf. Little 1998: 12). In Fortsetzung der Lehre der Summa theologiae (verfasst ab 1265) des Thomas von Aquin († 1274) vertrat auch noch im 20. Jahrhundert der Do‐ minikaner Henri-Dominique Noble (1875-1945) die Legitimität des Zorns bei ge‐ rechtem Anlass und Kontrolle der Emotionen (Noble / Viller 1953: 1058-1060). Auf die Darstellung der Zornlehre des Thomas von Aquin, die von der aristotelischen Zorn-De‐ rung der Thematik möchte die vorliegende Untersuchung zweier noch vergleichsweise wenig bekannter geistlicher Texte ergänzend und vervollstän‐ digend entgegentreten. Zuvor jedoch soll auf der Grundlage des bisher Erforschten in Grundzügen zusammengefasst werden, wie der Diskurs über Zorn im Mittelalter geführt worden ist. Dass man aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials mit wissen‐ schaftlicher Redlichkeit v. a. die Geschichte der Zornkonzepte, kaum aber dieje‐ nige der Emotion direkt wird rekonstruieren können - dass man sich vielmehr vor einer Psychologisierung der Befunde hüten, stattdessen den medialen, tra‐ ditionalen und kommunikativ funktionalen Kontext der Aussagen beachten muss und nicht von einer ‚Überzeitlichkeit‘ emotionaler Muster und der ‚Wie‐ derspiegelung‘ der Lebenswirklichkeit in den Texten ausgehen darf, hat insbe‐ sondere der methodologische Maßstäbe setzende Aufsatz Ridders schon 2003 ausgeführt (Ridder 2003: 222-224, cf. Rosenwein 1998: 2; Millet 2011: 142 sq., und Lehmann 2012: 26-31). Zorn wurde im Mittelalter keineswegs umfassend als Sünde angesehen - die grundsätzliche Position der beiden später näher zu betrachtenden volksspra‐ chigen geistlichen Texte -, er wurde vielmehr aufgespalten in einen ‚guten‘ und gerechten Zorn und einen ‚schlechten‘, ungerechten Zorn (Cf. Little 1998: 27; Barton 1998: 155 sq.). 3 Thomas von Chobham († zwischen 1233 und 1236) z. B. unterscheidet in seinem Beichthandbuch Summa Confessorum (wohl 1215-1216 abgeschlossen) zwischen dem Eiferzorn (ira per zelum), der sich gegen Laster und Menschen, die mit diesen behaftet sind, richtet, und lasterhaftem Zorn (ira per vitium), durch den jemand dazu bewegt wird, einem anderen zu schaden oder ihn zu beleidigen (Thomas von Chobham 1968: 414-417; cf. Barton 1998: 156 sq.). 4 Diese Spaltung geht auf die antike Diskursgeschichte zurück: In der 195 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs finition (Rhetorik II, 2, 1378a) ausgeht (die die Forschung - in meinen Augen nicht zu Recht - auch auf volkssprachige Literaturwerke immer wieder gerne anzuwenden ver‐ sucht, so z. B. Martini 2009: 90, und Freienhofer 2017: 112 mit n. 6), soll in diesem Beitrag zugunsten einer Zusammenfassung derjenigen seines Zeit- und Ordensgenossen Wil‐ helm Peraldus († vielleicht 1271) verzichtet werden (s. das Folgende), cf. zu Thomas von Aquins Zornlehre aber z. B. Brungs 2009. Beispiele für den ‚gerechten Eiferzorn‘ später als Heiliger verehrter Personen stellt Berschin 2009: 12 sq. zusammen. 5 Die häufig anzutreffende diametral-geometrische Entgegensetzung des alttestamentli‐ chen zornig strafenden und des neutestamentlichen liebend verzeihenden Gottesbilds ist eine Vereinfachung, die für viele Missverständnisse der zweifellos komplexen bib‐ lischen Haltung zum Zorn verantwortlich gemacht werden kann. Cf. hierzu einführend (und diskutabel) Lehmann 2012: 89-112, und grundlegend nach wie vor Miggelbrink 2002. 6 Dass Zorn in der Welt der Krieger, Adligen und Könige häufig nichts mit einer die Ratio schwächenden oder einschränkenden Emotion zu tun hat, sondern Konflikte struktu‐ riert, steuert und sogar verhindert, ist seit dem Sammelband Anger’s Past zu Recht häufig betont worden, so v. a. von White 1998: 139-152; Barton 1998: 161-170, und Freienhofer 2010. Millet 2011: passim, und Schanze 2015: 49 weisen darauf hin, dass mittelhoch‐ deutsch zorn mit neuhochdeutsch ‚Zorn‘ häufig nicht angemessen wiedergegeben werden kann. Stattdessen sind ‚Kampf ‘, ‚Streit‘, ‚Auseinandersetzung‘ u. ä. in solchen Fällen besser als Übersetzungsgleichungen geeignet. Bibel wird Gott gerechter Zorn zugeschrieben, zugleich den Menschen aber Sanftmut und Feindesliebe als Ideal empfohlen. 5 Spätantike christliche Autoren machten sich - aufbauend neben der Bibel auch auf den Schriften heidnischer Denker - auf durchaus gegensätzliche Weise ihren Reim auf diese widersprüch‐ lichen Wertungen in der Heiligen Schrift: Während sich beispielsweise Martin von Braga († 579) in seinem Traktat De ira (wahrscheinlich 572-573 abgefasst) eng an das Vorbild von Lucius Annæus Senecas d. J. († 65) gleichnamigem Werk (um 45 entstanden) hielt und Zorn in jedem Fall einer ruhigen vernunftgeleiteten Reaktion im Sinn der stoischen ἀπαϑεῖα für unterlegen ansah (Martin von Braga 2018: 122-161; cf. Averill 1982: 82-86; Little 1998: 12), hielt Lucius Cæcilius Firmianus Lactantius († vermutlich 325) in seinem De ira Dei (wahrscheinlich erst nach 311 entstanden) Zorn für unverzichtbar zum Erhalt eines Staatswe‐ sens, eine Ansicht, die in mittelalterlicher Staatstheorie und Herrschaftspraxis ebenso vielfältig belegt ist wie in der volkssprachigen weltlichen Literatur - Gattungen wie Heldendichtung und Artusroman durchaus übergreifend (Lac‐ tantius 1982: 90-213. Cf. Averill 1982: 86-89; Barton 1998: 157 sq. mit n. 20; Freienhofer 2010: 87 sq., und Lehmann 2012: 80-85). 6 Bei aller Ambiguität der Einstellung mittelalterlicher Autoren zum Zorn gibt es doch, soweit ich sehe, einen diskursiven patristisch-moraltheologischen Tra‐ ditionsstrang, der zwar gewiss nicht als der Mainstream mittelalterlichen Redens über Zorn verstanden werden kann, andererseits aber auch nicht zugunsten 196 Matthias Rein 7 Dass das erste im Folgenden von mir anzusprechende Werk, das Bihte buoch, in der Tat Wilhelms Summa de vitiis (allerdings den Traktat über die Trägheit) verwendet hat, ist mir vor einigen Jahren zu zeigen gelungen (Rein 2016: 13-23). 8 Dies liegt freilich auch daran, dass eine kritische Edition der Summa de vitiis bisher an der Fülle zur Verfügung stehender Textzeugen (cf. zur Orientierung Kaeppeli 1975: 134-142 und Kaeppeli / Panella 1993: 106) gescheitert ist (Rein 2016: 12 sq.). Für einen Überblick erscheint es aber akzeptabel, auf den auch im World Wide Web (https: / / book s.google.de/ books? id=flc7vaps2qwC&hl=de&source=gbs_navlinks_s, 03. 12. 2020) kos‐ tenfrei zugänglichen Druck des Werkes Lyon 1668 zurückzugreifen. Das angegebene Digitalisat enthält den Band 1 des Drucks, der Wilhelms Summa de virtutibus enthält, und Band 2 mit seiner Summa de vitiis, auf die hier ausschließlich eingegangen wird, hintereinander in einer Datei. später einsetzender Rezeptionsvorgänge (Aristoteles) vernachlässigt werden sollte. Für das hohe und - rezeptionsgeschichtlich 7 - späte Mittelalter scheint mir als Beispiel für diesen Diskursstrang hier ein Text der Vorstellung wert zu sein, dem die Forschung bisher kaum Beachtung diesbezüglich geschenkt hat: 8 Der tractatus octavus de ira aus der Summa de vitiis (vor 1236 entstanden) des Wilhelm Peraldus († vielleicht 1271). Auch Wilhelm unterscheidet zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Zorn (Wil‐ helm Peraldus 1668: 360; ibid.: 361 noch weitere Gliederungen des Zorns), al‐ lerdings handelt er dieses Paradigma mittelalterlicher Zornlehre in wenigen Zeilen ab. Im übrigen lässt seine Darstellung keinen Zweifel daran, dass Zorn für ihn stets vitium - Laster, Sünde - ist: Zunächst zählt Wilhelm fünf Gründe auf, warum der Zorn Gott missfällt - beispielsweise, weil er das Abbild Gottes im Menschen verwischt und dasjenige das Teufels an dessen Stelle setzt - (Wil‐ helm Peraldus 1668: 351 sq.), darauf vier Gründe, warum er dem Teufel gefällt - u. a., weil der Teufel zornige Menschen besser unter seine Herrschaft zwingen kann, weil sie die Furcht davor, Schandtaten zu begehen, einbüßen (Wilhelm Peraldus 1668: 352 sq.). Zorn schadet nicht nur den Mitmenschen, sondern auch dem Zornigen selbst: seinem Körper, seinem Hab und Gut und seiner Seele, die er blind macht und der er das Mitgefühl raubt, wodurch auch der Gerechtig‐ keitssinn des Menschen getrübt wird (Wilhelm Peraldus 1668: 353 sq.). Man kann den Zornigen vergleichen mit einem Menschen, der sein hölzernes Haus an‐ zündet, mit einem überkochenden Kessel, mit einem Wahnsinnigen, der sich mit dem Schwert des Hasses selbst tötet und mit dem Kreuzdorn, der mittels des Windes Feuer aus sich selbst hervorbringt (Wilhelm Peraldus 1668: 354). Aus‐ führlich zeigt Wilhelm, dass Zornige in vieler Hinsicht dumm und unvernünftig sind (Wilhelm Peraldus 1668: 354-360). Zorn führt zu Krieg, und Wilhelm führt zwölf Grunde an, die Menschen davon abhalten sollen, Krieg zu führen - u. a., dass Gott den Frieden liebt und den Krieg hasst (was seinerseits mit sechs Ar‐ 197 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs gumenten gestützt wird) und dass alle Menschen Geschwister sind - Nicht‐ glaubende immerhin von Adam und Eva her und Glaubende von Gott und der Kirche her, weshalb Feindschaft zwischen Glaubenden wie die Feindschaft Kains (gegenüber seinem Bruder Abel) sei (Wilhelm Peraldus 1668: 361-364). Auch die Tötung eines Menschen ist eine Folge des Zorns, und diese Sünde gehört, wie Wilhelm ausführt, zu den vier (himmel)schreienden Sünden (peccata cla‐ mantia), einer traditionellen Sündengruppierung in katechetischen Texten (Wil‐ helm Peraldus 1668: 366-369). Gegen den Zorn eines Anderen helfen eine sanfte Antwort, Schweigen, oder demjenigen Gutes zu tun, gegen den eigenen Zorn die Betrachtung des Leidens des Herrn, Schweigen, die Betrachtung der göttli‐ chen Vorsehung, die alles, was uns widerfährt, bestimmt hat, die Betrachtung des Nutzens, der von der Anfechtung (dem Widerstand gegen die eigenen, auch guten, Absichten) kommt, die Betrachtung des Zustands des Wahnsinns, in dem sich der Zürnende befindet, die Betrachtung der eigenen Fehler, die Betrachtung des Todes als zwingendem Ende des Lebens und schließlich die Betrachtung der eigenen Machtlosigkeit (Wilhelm Peraldus 1668: 369-371). 2 ‚Zorn‘ im mittelhochdeutschen Bihte buoch In diesem Beitrag sollen zwei mittelalterliche deutschsprachige Texte in die Diskussion um ‚Zorn im Mittelalter‘ eingebracht werden, die sich von den Werken, die die germanistische Mediävistik im Kontext dieser Thematik bisher zumeist untersucht hat, relevant unterscheiden: Sie gehören zur religiös-didak‐ tischen Literatur, die Zorn primär als Sünde auffasst und an seinem potenziellen Nutzen als Mittel weltlicher Herrschaft - ein Aspekt, der im Vordergrund vieler innovativer altgermanistischer Arbeiten der letzten Jahrzehnte zum Thema stand - nicht interessiert ist. Beim mittelhochdeutschen Bihte buoch handelt es sich um einen nicht-nar‐ rativen Gebrauchstext in Prosa: um den ältesten nach hochscholastischer Sys‐ tematik angelegten Beichttraktat in deutscher Sprache. Der Text möchte seinen Rezipient*innen den Weg zur seligmachenden Schau Gottes auf der Grundlage des korrekten Vollzugs des Sakraments der Versöhnung in durchaus vorbildlich scholastisch-didaktischer Weise nahe bringen. In einem ersten Hauptteil wird das richtige Beichten methodisch mittels der Aufzählung verschiedener Be‐ trachtungsebenen erläutert: Die Grundeinstellung des Beichtenden, vier Haupt‐ prinzipien der Beichtablegung, neun Haupteigenschaften des Bekenntnisses und schließlich acht Umstände, die sich auf die Wertung der Sünde als leichtere oder schwerere auswirken, werden der Reihe nach thematisiert. Im zweiten Hauptteil werden dann die Haupt- und die davon abgeleiteten Tochtersünden 198 Matthias Rein 9 Meine Übersetzung: „Salomon sagt, dass man die Bekehrung und die Beichte nicht von Tag zu Tag aufschieben soll, denn Gottes Zorn komm jäh und unversehens über den Menschen, der nicht mit Reue und Beichte auf den Tod vorbereitet ist.“ Der oben wie‐ dergegebene Text folgt der Handschrift Freising, Dombibliothek, Hs. 20, fol. 7 r . Lautlich nicht differenzierende Schreibvarianten wie ‹ſ› und ‹ʒ› wurden dabei durch die heute allein üblichen Zeichen ersetzt, Abkürzungen und Superskripte (z. B. ‹uͦ› zu ‹uo›) still‐ schweigend aufgelöst, und eine moderne Interpunktion durchgeführt. In der Pariser Handschrift - und damit natürlich auch in Bihtebuoch 1784 - fehlt diese Passage auf‐ grund von Blattverlust. im Einzelnen vorgestellt, wodurch dann nach der formalen auch die inhaltliche Seite des Bekenntnisses im Sakrament der Versöhnung zur Sprache kommt. Al‐ lerdings handelt es sich bei den Ausführungen des zweiten Hauptteils des Bihte buochs durchaus nicht nur um eine beim Vollzug der Beichte abzuarbeitende Liste. Im Hinblick auch auf den Gesamttext kann das didaktische Ziel des Trak‐ tats vielmehr als exemplarische Anleitung des Gewissens der Rezipient*innen dazu bestimmt werden, für die Vielgestaltigkeit und intuitive Undurchschau‐ barkeit des Phänomens Sünde zunehmend sensibler zu werden (Rein 2016: 6-8). Das Bihte buoch entstand um 1300 wahrscheinlich im Oberrheingebiet und ist in fünf Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts überliefert (Rein 2016: 9-11; Schiewer 2019: 139 sq. mit n. 14). Eine der ältesten dieser Handschriften (heute Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. All. 127) befand sich im späten 18. Jahrhundert im Besitz des Straßburger Philologen Jeremias Jacob Oberlin (1735-1806), der ihren - leider durch recht umfangreichen Blattverlust unvollständigen - Inhalt abdrucken ließ (Bihtebuoch 1784). Ich bereite eine Aus‐ gabe vor, die die gesamte handschriftliche Überlieferung berücksichtigt. Von Zorn ist metasprachlich im Bihte buoch zum ersten Mal im Kontext des zweiten Hauptprinzips der Beichtablegung im Hinblick auf Gott die Rede: Salomon […] sprichet, daz man die bekerde und die bihte nit sol fristen von tage ze tage, wanne Gotes zorn der kumet gahenden und unverweint uf den menschen, der nit bereit ist zuo dem tode mit riuwen und mit bihte.  9 Es handelt sich hierbei um die semantisch weitgehend treue, die Aussage des Originals allerdings auch im Wortlaut auf die Beichte ausdehnende deutsche Wiedergabe eines Bibelzitats - Jesus Sirach 5,8 sq. -, allerdings nicht direkt dem Schrifttext, sondern der Vorlage entnommen, der das Bihte buoch in seinem ersten Hauptteil überwiegend folgt: Raimunds von Peñafort († 1275) Summa de Pænitentia (entstanden zwischen 1224 und 1227, revidiert 1236) (Raimund von Peñafort 1976: 819). Gottes - auch im Bihte buoch zweifellos nach biblischem Vorbild als gerecht aufgefasster - Zorn wird hier, v. a. durch die Unvorhersehbarkeit seiner zeitli‐ 199 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs 10 Die Handschriften Berlin, Staatsbibliothek, mgq 125 und ebd., mgq 149, sowie München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 4700, nennen sechs Tochtersünden, die genau denje‐ nigen der Vorlagen - mittelbar Gregors des Großen († 604) Moralia in Iob (XXI,45,87) (entstanden zwischen 579 und spätestens 602) (Gregor der Große 1979: 1610 sq.), un‐ mittelbar Raimunds von Peñafort († 1275) Summa de Pænitentia (entstanden zwischen 1224 und 1227, revidiert 1236) (Raimund von Peñafort 1976: 832 sq.) - entsprechen, die Handschriften Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. All. 127, und Freising, Dom‐ bibliothek, Hs. 20 lassen in Textgemeinschaft mit der Erlanger Beichte (Bruchhold 2010: 314) die zweite Tochtersünde tumor mentis ‚Aufgeblasenheit‘ weg, verschmelzen clamor und indignatio zu fluochen und ergänzen diese vier der Vorlage entnommenen Toch‐ tersünden mit den drei originellen Hinzufügungen rache geben/ rache wider_gelten, übel wider guot tuon/ ubil wider guot und unwirdeninsches hertz han/ unverwizzenheize [Fehl‐ leistung in der Erlanger Beichte? ]. 11 Ergänzend zum Handbuch Vogel 1978 / 1985 sind zu dieser Quellengattung neuere Dar‐ stellungen von Rob Meens (Meens 2014; Meens 2019) zu Rate zu ziehen. 12 Ullrich Bruchhold spricht in diesem Zusammenhang von einem „Baukasten, aus dem sich ein Leser bei allen Beichtfragen bedienen konnte“ (Bruchhold 2010: 326). chen Auswirkung (gahenden und unverweint) zur Drohkulisse, die die Rezi‐ pient*innen mit Nachdruck zu unverzüglicher Umkehr und Beichte auffordert. Während Gottes Zorn dessen gerechte Herrschaftsausübung gegenüber den Sündern ist, indem die Erinnerung an ihn die Rezipient*innen des Bihte buochs dazu ermahnt, sich von der Sünde abzuwenden und Reinigung von diesen zu suchen, erscheint Zorn im Übrigen im Bihte buoch fest in ein auf alter Tradition beruhendes System von Sündenbegriffen eingepasst: Er gehört zu den sieben Hauptsünden, und ihm werden im Bihte buoch sieben (bzw. sechs) Tochter‐ sünden zugeordnet (Bihtebuoch 1784: 31, 33). 10 Näher auf die verschiedenen Formen, in denen sich Zorn als Sünde im Leben der Rezipient*innen potenziell zeigt, wird in einem eigenen Abschnitt des zweiten Hauptteils eingegangen (Bihtebuoch 1784: 59-64). Strukturell betrachtet handelt es sich bei diesem um eine nicht näher untergliederte und kaum syste‐ matische Reihe mittlerer Länge von Beichtfragen, die kasuistisch die Sünden‐ tatbestände ausdifferenzieren. Solche interrogationes sind ein grundlegendes Strukturelement der Beichttraktatliteratur, das diese von der Vorläufergattung der Bußbücher 11 übernommen hat. Die Fragen konnten vom Priester als Grund‐ lage des Beichtgesprächs verwendet werden, sie dienten aber gleichermaßen der / dem Beichtenden als Vorbereitung im Sinn einer Gewissenserforschung - eine doppelte Funktion, die sicher auch für die Rezipient*innen des Bihte buochs vorausgesetzt werden kann. 12 Beispielhaft für eine solche interrogatio kann aus dem vorliegenden Abschnitt die Frage danach stehen, ob der Beich‐ tende bereits einen Menschen totgeschlagen hat: 200 Matthias Rein 13 Meine Übersetzung: „Und ob du jemals einen Menschen tötetest - mit dem Willen, mit Worten oder mit Werken - und ob du jemandem den Tod gönntest von Deiner Hand oder der eines Anderen mit Worten - indem du rietest, dass ihm jemand ans Leben ginge - oder ob du wusstest, dass man jemand an seinem Leib Schaden zufügen wollte - dass du es dann nicht mit Worten oder mit Werken abwandtest, wenn du konntest.“ In Oberlins Editionstext wurde hier und in den folgenden Zitaten eingegriffen, indem ‹ſ› durchgängig durch ‹s› ersetzt wurde. 14 So dv von zorne bichten wilt, so soltv sagen, ob dv ie zornig vnd vngediultig ane sache wrde? oder von sache? (Bihtebuoch 1784: 59) Meine Übersetzung: „Wenn Du Zorn beichten willst, dann sollst Du sagen, ob Du jemals mit oder ohne Anlass zornig und ungeduldig wurdest.“ 15 Vnn ob dv ie geweintost von zorne, so dv dich niht mohtost gerechen an dem, das dir leide tet, das dv es denne ivber dich selben liez gan? (Bihtebuoch 1784: 60) Meine Übersetzung: „Und ob du je vor Zorn weintest, wenn du dich nicht rächen konntest an demjenigen, der dir etwas antat, so dass du deinen Zorn dann gegen dich selbst richtetest.“ Vnn ob dv lange gedechte nach der rache? vnn ob dir leit was, so dvs vergeze, des man dir hette getan, das dvs niht mohtoft gereken? (Bihtebuoch 1784: 63) Meine Übersetzung: „Und ob du der Rache lange nachsannst. Und ob es dir leid tat, wenn du vergaßest, was man dir angetan hatte, so dass du es nicht rächen konntest.“ Vnn ob dv ie ze manslaht keme mit willen, mit worten, oder mit werken? vnn dastv iemanne des todes gondost von dir selben, oder von ieman anderme mit worten, das dv rietist, das ime an den lip gienge? oder wivstost, das man iemanne an dem libe schaden wolte tvon, das divs niht wantoft, ob dv mohtest mit worten oder mit werken? (Bihtebuoch 1784: 60 sq.) 13 Zunächst wird mittels der adaptierten Formel der Grundeinstellung zur Beichte aus dem Confiteor der Messliturgie („ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken“) unterschieden, ob der Totschlag nur beabsichtigt, angedroht oder tatsächlich begangen wurde, dann wird ein Zwischenzustand zwischen Absicht und Drohung angesprochen und ein Dritter als Mitsündigender in Betracht ge‐ zogen, daraufhin ein Zwischenzustand zwischen Drohung und Begehen the‐ matisiert, und schließlich Mitwisserschaft als weitere Möglichkeit der Sünden‐ beteiligung erwogen, wenn denn die Möglichkeit bestanden hat, die Sünde durch Worte oder Werke zu verhindern. Auf diese Weise sollen so viele Even‐ tualitäten wie möglich bei der Gewissenserforschung und beim Beichtakt in Betracht genommen werden. Zorn wird auch im Bihte buoch als soziale Sünde aufgefasst, indem danach gefragt wird engegin weme dv zvrndost? ob er din ivberhovbet was? oder din ge‐ liche? oder din nider? (Bihtebuoch 1784: 59; meine Übersetzung: „wem Du zürn‐ test - ob es ein Dir gegenüber Höhergestellter oder Gleichgestellter oder Nied‐ rigergestellter war“). Er wird im Zusammenhang gesehen mit Ungeduld 14 und Rachegedanken 15 . Zorn wird als eine autoaggressive Emotion thematisiert, die 201 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs 16 Vnn ob div dich selben ie von zorne gervogetost boeser dinge, der dv schuldig were? oder niht schuldig were? vnn ob dv ie dich selben geschiulte? oder dir selben gefluochtest von zorne? oder von vngedultikeite? oder von dir selben so harte koeme, dastv dehein ding hin wrfest oder zebrechist von vngedultekeite so es dir ivbel ze handen gie? (Bihtebuoch 1784: 59 sq.) Meine Übersetzung: „Und ob du dich jemals selbst aus Zorn für Schlechtes ge‐ tadelt hast, dessen du schuldig warst oder nicht schuldig warst. Und ob du dich aus Zorn oder aus Ungeduld jemals selbst schaltest oder dich selbst verfluchtest oder so außer dich gerietest, dass du irgendeinen Gegenstand hinwarfst oder zerbrachst aus Ungeduld, wenn es dir damit schlecht von der Hand ging.“ 17 Meine Übersetzung: „Und ob du jemals jemandem in seinen Sünden folgtest: Wenn du jemanden sündigen sahst, der dir unterstellt oder mit dir zusammen war, dessen Sünde du hättest verhindern können, dass du sie nicht abwandtest; oder du vielleicht sonst eine Sünde geschehen sahst oder von ihr wusstest, die du durchaus hättest abwenden können, und du sie nicht abwandtest; und ob es dir nicht leid tat, wenn du jemanden sündigen sahst; und ob du ihm mit Worten oder mit Werken oder durch dein Verhalten halfst, so dass er von dir in den Sünden bestärkt wurde; und ob du jemandem beim Sündigen unterstütztest mit Rat, mit Hilfe, mit Schutz.“ von Selbstvorwürfen über Weinen und Selbstverfluchungen zu zerstörerischen Handlungen reicht - die sich allerdings nicht gegen den eigenen Körper richten, sondern gegen Dinge. 16 Die Behandlung des Zorns lädt den Traktatverfasser auch dazu ein, Begünstigung der Sünden Anderer als eigene Sünde begreiflich zu machen, die begangen wird 1. durch Nichtvermeidung der Sünden Anderer, 2. durch Nichtbedauern der Sünden Anderer, 3. durch Nichtaufdeckung der Sünden Anderer und schließlich 4. durch aktive Förderung der Sünden Anderer: Vnn obe dv ie gevolgetost ze sivndenne, so dv ieman sehe svnden, der in diner gewalt was, oder in diner geselleschaft was, dem dv die svnde erwerren moechtist, das dv si niht wantost? oder lihte svs sehe ein sivnde beschehen, oder wivstost, die dv wol moehtist han iewendet, vnn dv si niht wantoft? vnn ob es dir niht leit waz so dv ieman sahe svndon? vnn ob dv ime mit worten oder mit werken, oder mit geberden gehvlle, das er von dir gesterket mohte werden in dien svnden? vnn ob dv ieman ze svnden hvlfe, mit rate? mit hilfe? mit schirme? (Bihtebuoch 1784: 61 sq.) 17 Zorn als Ungeduld kann dann schließlich sogar zu Blasphemie führen, mit der sich der Mensch selbst von Gott lossagt: Vnn ob dv ie vngedultig wrde an Gottis gerichte, das dir wol geuiele, das Got tet gegen dir oder gegen ieman an dir? oder dastv hazetest Gotes gerichte vbir dich, oder vber ieman andern mit siechtagen? oder mit armvot? oder mit andern dingen, dv an dir widerwertig waren? […] vnd obe dv von Gotte, vnn von Goetlichen dingen, oder von heiligon iht 202 Matthias Rein 18 Meine Übersetzung: „Und ob du jemals ungeduldig wurdest mit Gottes Richterspruch - da dir gut gefiel, was Gott dir oder jemand anderem gegenüber tat - oder du Gottes Richterspruch mit Verhängung von Krankheit oder von Armut oder von anderen Dingen, die dir an dir selbst widerwärtig waren, über dich oder jemand Anderen hass‐ test. […] Und ob du von Gott und vom Göttlichen oder von Heiligen etwas irrtümlich oder aus Furcht oder aus Habgier glaubtest oder sagtest, was nicht wahr war oder wo‐ durch jemand zum Bösen verführt wurde.“ 19 Meine Übersetzung: „Der dritte [Aspekt im Hinblick auf die Trägheit] ist Schlaffheit des Geistes […]. Schlaffheit des Geistes findet man bei den Leuten, die sich um des Gebetes willen der Müßigkeit hingeben und glauben, dass sie nicht arbeiten müssen und dass sie mit Gott zusammen ruhen und ein süßes Leben haben und sonst nichts treiben sollen. Sie beschönigen ihre Trägheit, indem sie sie als spirituelle Ruhe aus‐ geben - und wahrlich, sie wissen nicht, dass spirituelle Ruhe ohne körperliche Arbeit der Seele nicht zugutekommt.“ Das Wort ‚Zorn‘ fällt zur Charakterisierung der eigenen heftigen Reaktion freilich nicht, so dass dieses überall, wo es im Bihte buoch Menschen explizit zugeordnet wird, ausschließlich negativ konnotiert ist. Das Vermeiden des Be‐ griffs durch den Bihte buoch-Autor kann in diesem Kontext vielleicht als Demutsgeste gegenüber Gott verstanden werden, dem allein gerechter Zorn zukommt, vgl. oben. gewandost oder gespreche divrch irretvom, oder diurch vorchte, oder durch gitekeit, das niht war was? oder da von ieman geboesert wart? (Bihtebuoch 1784: 62 sq.) 18 Im Bihte buoch wird Zorn allerdings nicht nur als Gegenstand von vielen Seiten her moraltheologisch beleuchtet, er kommt auch auf intratextueller Ebene zur Sprache, wenn der Traktatverfasser im Kontext der Behandlung einer anderen Hauptsünde - Trägheit - einmal die sonst allenthalben gezeigte Beherrschung verliert und selbst in Zorn gerät: Das dritte ist slafheit des geistes […]. Des geistes slafheit ist an den livten, die sich an nement mvezekeit dur gebetis willen, vnn wenent das si niht wrken svllen, vnn das si mit Gotte svllen rvowen, vnn svzekeit han, vnn niht andirs pflegen sivllin, vnn beschoenent ir tragheit mit geistlicher rvowe. Vnn binamen si wizent nivt, das geistlichivrvowe ane lipliche erbeit niht friumit der sele. (Bihtebuoch 1784: 69) 19 Im Abschnitt zur Trägheit benutzt der Autor des Bihte buochs die vorhin mit ihren Aussagen zum Zorn vorgestellte Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus: Er adaptiert dessen Liste zur acedia als Oberbegriff gehörender Laster - an dieser Stelle Wilhelms dritte Tochtersünde, somnolentia. Schon Wilhelm griff die sich hinter einem in Gebet und Betrachtung verbrachten Leben verbergende Faulheit mancher vermeintlich Frommer an: Somnum contemplationis pigredo immittit in illos qui nomine contemplationis palliant pigritiam suam, nolentes operari aliquid. [Wilhelm Peraldus 1668: 176; meine Übersetzung (Rein 2016: 16): „Der Schlaf der Kontemplation senkt in die Herzen jener die Faulheit ein, die mit dem Namen der Kontemplation ihre Faulheit bedecken und nichts arbeiten wollen.“] Den 203 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs Autor des Bihte buochs versetzt diese Heuchelei und dieser Missbrauch religiöser Ideale aber in Zorn, der sich über seine Vorlage hinaus in eine Rügerede eines praxiserfahrenen Predigers entlädt. 3 ‚Zorn‘ in den rheinfränkisch-lothringischen Übersetzungsfassungen der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs Etwa 1330 / 31 verfasste Guillaume de Digulleville, Prior der Zisterze Chaalis (Frankreich, Département Oise, Arrondissement Senlis, Canton Nan‐ teuil-le-Haudouin), eine Art geistliche Kontrafaktur des hochbeliebten Roman de la Rose. Wie der von Guillaume de Lorris verfasste erste Teil dieses berühmten Werks höfischer Literatur besteht auch die geistliche Umgestaltung, die der Zis‐ terzienserprior als Pèlerinage de vie humaine betitelte, im Wesentlichen aus einem Traumbericht, in dem der Träumende personifizierten menschlichen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen wie ‚Oiseuse‘ (der Müßigen) oder ‚Raison‘ (der Vernunft) begegnet. Der Pèlerinage blieb an Beliebtheit kaum hinter dem Roman de la Rose zurück, insbesondere seine erste Fassung ist im späten Mittelalter in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt worden - allein ins Deutsche im 15. Jahrhundert mehrfach. Drei Handschriften [Bad Berleburg, Schloßbibliothek, Ms. RT 2 / 4 (frühere Signatur Litr. A Nr. 1292); Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 201, und Hamburg, Staats- und Univer‐ sitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Cod. germ. 18] überliefern zwischen 1430 und 1450 zu datierende Übersetzungen des Pèlerinage, die im rheinfrän‐ kisch-lothringischen Sprachgebiet entstanden sind, wobei die Berleburger Fas‐ sung wie die Vorlage in Versen, die Darmstädter und Hamburger Fassungen (die auf eine gemeinsame verlorene rheinfränkisch-lothringische Prosaübersetzung zurückgehen) in Prosa abgefasst sind. Lediglich auf diese drei Übersetzungs‐ textzeugen, die ich im Folgenden vereinfachend gemeinsam als Pilgerfahrt des träumenden Mönchs anspreche, wird der vorliegende Beitrag näher eingehen. Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs gliedert sich in vier Bücher: Im ersten und umfangreichsten Buch (Pilgerfahrt 1915: 1-111) wird dem träumenden Ich-Erzähler sein Ziel - das Himmlische Jerusalem - vor Augen gestellt, er erhält eine umfangreiche Katechese und wird mit allem ausgestattet, was für den Er‐ folg seiner Pilgerreise notwendig ist, so dass er schließlich seine Wallfahrt be‐ ginnen kann. Im zweiten Buch (Pilgerfahrt 1915: 112-200) entscheidet sich der Traum-Ich-Erzähler - den Einflüsterungen seines Leibs, der eher nach dem be‐ quemsten als nach dem richtigen Weg sucht, nachgebend - an einer Weggabe‐ lung für den falschen Weg und begegnet infolgedessen den personifizierten Todsünden ‚Trägheit‘, ‚Hochmut‘, ‚Neid‘ und ‚Zorn‘. Im dritten Buch (Pilgerfahrt 204 Matthias Rein 1915: 200-253) bekommt er es dann mit den Verkörperungen von ‚Habgier‘, ‚Völlerei‘ und ‚Wollust‘ zu tun und wird schließlich von allen Sündenpersonifi‐ kationen gemeinsam angefallen und gefährlich verletzt, von der verkörperten ‚Gnade Gottes‘ aber aus höchster Not gerettet. Im vierten Buch (Pilgerfahrt 1915: 253-307) schließlich gelangt der Pilger an ein zunächst unüberwindliches Hin‐ dernis: das Meer des Lebens, an dessen Ufer der Teufel steht und mit einem Netz Seelen aus dem Meer herausfischt. Da das Traum-Ich sich jedoch gegenüber der Personifikation der ‚Ketzerei‘ standhaft zeigt, ist ‚Gnade Gottes‘, die nach der nur halbherzig durchgeführten Sündenreinigung des Pilgers auf Distanz zum Protagonisten gegangen ist, erneut zur Hilfeleistung bereit und lässt ihn von der Verkörperung der ‚Jugend‘ übers Meer tragen. Die personifizierte ‚Anfechtung‘ stürzt den Pilger allerdings ins Meer, woraufhin der Ich-Erzähler erneut auf die Hilfe von ‚Gnade Gottes‘ angewiesen ist, die ihn auf ein großes, das Ordensleben symbolisierendes Schiff bringt. Dort stellen sich dann aber bald der Reihe nach die Verkörperungen von ‚Krankheit‘, ‚Alter‘ und ‚Tod‘ ein, die den Pilger- und Lebensweg des träumenden Ich-Erzählers an sein Ende bringen [Rein 2021: 45-50 (mit Lit.)]. Anders als das Bihte buoch, das seine Lehrinhalte direkt metasprachlich kom‐ muniziert, bedient sich die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs zu diesem Zweck also einer ausgefeilten Narration. Zwar interagiert das Traum-Erzähler-Ich in der gesamten, bei weitem den größten Teil des Texts umfassenden Traumer‐ zählung ausnahmslos mit personifizierten Instanzen und wird der Fortgang der Erzählhandlung durch lange Redebeiträge und Diskussionen immer wieder teils erheblich verzögert, doch sind es gerade diese Besonderheiten der Erzählweise in der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, die die Vermittlung von Lehrinhalten als intrinsischen Zweck der Narration erst möglich machen. Eine Thematisie‐ rung von ‚Zorn‘ geschieht daher hier im Vergleich zum Bihte buoch häufiger - und relevanter - nicht nur als allegorisch codierte metasprachliche Lehrver‐ mittlung, sondern auch auf der Ebene des Erzählten selbst. Die spezifische Zornlehre der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs kommt zu‐ nächst durch einige allgemeine Aussagen zur Sprache, die die personifizierte ‚Vernunft‘ gegenüber den von Moses als ihrem Bischof neu geweihten Priestern macht: dass unmäßiger Zorn ihre Liebe einbüßen lasse (Pilgerfahrt 1915: 19, V. 753 sq.), dass Rache aus Zorn töricht sei (Pilgerfahrt 1915: 23, V. 979-982) und dass das geistliche Richtschwert, mit dem die Priester in der Pilgerfahrt von Moses ausgestattet werden, nicht in die Hand eines Zornigen gehöre (Pilgerfahrt 1915: 26, V. 1098-1101). Die von den christlichen Moraltheologen aus der stoi‐ schen Philosophie übernommenen Grundpositionen werden also in der Pilger‐ fahrt als Aussagen der personifizierten ratio weitertradiert. 205 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs Bevor in der Pilgerfahrt auf Zorn als eigene Hauptsünde ausführlicher in er‐ zählender Weise eingegangen wird, wird Zorn auch als Nebeneffekt von Neid vorgestellt: Die Verkörperung dieser Hauptsünde - eine abgemagerte alte Frau, die auf allen vieren kriecht, der zwei Lanzen aus den Augen hervortreten und die die Personifikationen ihrer beider Tochtersünden, ‚Verräterei‘ und ‚Ehrab‐ schneidung‘, auf dem Rücken trägt (Pilgerfahrt 1915: 180, V. 8197-8233) - freut sich über den Zorn der Menschen nicht weniger als über deren Armut, Leid und Mühsal (Pilgerfahrt 1915: 181, V. 8264-8269). Sie erklärt sogar, dass die eine der Lanzen, die aus ihren Augen hervorsteche, den Zorn symbolisiere, was sie mit dem biblischen Exemplum (Erstes Buch Samuel 18,10 sq.) von Saul, der seine Lanze aus Neid voll Zorn auf den Harfe spielenden David geworfen habe, er‐ läutert (Pilgerfahrt 1915: 182, V. 8302-8312). Auf narrativer Ebene findet sich dieser Neidzorn noch zweimal in der Pilgerfahrt: wenn der Pilger aus Neid auf die neugeweihten Priester zornig ist (Pilgerfahrt 1915: 22, V. 908-916) und wenn ‚Ehrabschneidung‘ sich bei ihrer Schwester ‚Verräterei‘ beschwert, sie stürbe vor Leid und Zorn, wenn sie dem Pilger nicht ebenso großen Schaden zufügen könne wie ihre Schwester (Pilgerfahrt 1915: 187, V. 8515-8521). Die narrative Präsentation der Hauptsünde Zorn in der Pilgerfahrt ist die konziseste aller Sündendarstellungen dort - sie ist auch erzähltechnisch von besonderem Interesse (Rein 2021: 58 sq.), doch sollen im vorliegenden Zusam‐ menhang allein die allegorischen Aussagen, die über sie gemacht werden, von Interesse sein: ‚Zorn‘ ist eine alte Frau mit besonders entstelltem Äußeren, denn ihr ganzer Körper ist mit Stacheln besetzt, und Feuer springt aus ihrem Gesicht hervor. Sie trägt als Attribute eine Säge im Mund, eine Sense um ihre Schultern gehängt und zwei weiße Steine in ihren Händen. Rache ist ihr Handwerk und Rache übt sie auch schon für die geringste mögliche Kränkung. Sie macht aus Freunden Feinde und lässt Menschen durch ihre blendende Wirkung zu Tieren werden. Sie wirkt wie Säure oder Gift und vergleicht sich mit dem Kreuzdorn, der sich nach der biblischen Jotamfabel (Buch der Richter 9,14 sq.) selbst ent‐ zündet - ein biblisches Bild, das auch Wilhelm Peraldus bereits anführte. Die beiden Steine in ihren Händen symbolisieren Verschmähung und Krieg. Mit ihnen hat sie die Säge in ihrem Mund geschmiedet. Während die personifizierte ‚Gerechtigkeit‘ im Auftrag Gottes eine Feile namens ‚Bestrafung‘ benutzt, um die Sünde bis zur Wurzel wegzufeilen, hat Zorn diese Feile zu ihrer Säge ‚Hass‘ übersteigert. Ihre Sense schließlich symbolisiert den Totschlag, was mit dem biblischen Beispiel des Raubmörders Barabbas (cf. die Evangelien nach Markus 15,7; nach Lukas, 23,18 sq.; und nach Johannes, 18,40b) und dem geschichtlichen exemplum der Mörder der frühchristlichen Märtyrer illustriert wird. Die Tot‐ schläger, die die Sense des Zorns tragen, sind wie wilde Tiere und sollten von 206 Matthias Rein 20 Der Anfang der betreffenden Passage mit dieser Beschreibung von ‚Natur‘ ist durch Blattverlust in der bisher einzig vollständig edierten Berleburger Handschrift der Pil‐ gerfahrt (Pilgerfahrt 1915) nicht überliefert, dafür jeweils in den Prosafassungen der Hamburger und Darmstädter Handschrift (respektive p. 36 sq. - vgl. vorläufig Pilger‐ fahrt 1915: 32, Apparat, Z. 17-27 - und fol. 22v-23r). Ich bereite eine Ausgabe vor, die die Texte der drei Handschriften synoptisch nebeneinanderstellt. den Landesherren eher als das Wild der Wälder gejagt werden (Pilgerfahrt 1915: 194-198, V. 8827-9002; Rein 2021: 59-62). Auch an den Stellen, an denen Zorn in der Pilgerfahrt nicht Thema, wohl aber Inhalt des Erzählten ist, lassen sich interessante Aspekte für das Zornbild des Textes gewinnen. So findet sich z. B. auf dieser Ebene die auch in der Pilgerfahrt vertretene Ansicht, dass Gottes Zorn gerecht ist - wobei freilich der Zorn im Textzusammenhang teilweise nicht direkt von der Gottheit ausgeht, sondern von in seinem Auftrag handelnden Instanzen (Pilgerfahrt 1915: 50, V. 2177-2181; ibid.: 56 sq., V. 2474-2477; ibid.: 218, V. 9948-9951; ibid.: 228 sq., V. 10 430 sq.; ibid.: 245, V. 11 255-11 257; ibid.: 247, V. 11 327-11 332, und ibid.: 296, V. 13 661-13 669). Ein bemerkenswerter Spezialfall hiervon sind die Stellen, an denen das pilgernde Erzähler-Ich den Zorn der personifizierten ‚Gnade Gottes‘ fürchtet, weil es Angst davor hat, dass sie es dann seinen Reiseweg allein und hilflos zurücklegen lässt (Pilgerfahrt 1915: 105, V. 4678-4681, und ibid.: 107, V. 4762-4765; cf. ibid.: 110, V. 4904-4908). Diese Angst des Ich-Erzählers steht dabei in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu seinem zu Beginn häufiger unberechtigt gezeigten eigenen Zorn [Pilgerfahrt 1915: 5, V. 146-149 (Aber ich was zornich dar umb / Und kommert mich in mynem synne / Das ich keynen sacke / Odir auch wallestab enhatte […].); ibid.: 22, V. 908-916 (Da ich die rede also han gehoret, / Zornig wart ich und faste erferet. / Ich sprach: ‚ach, was sal ich dun / Odir auch was han ich getaen, / Das ich Gnade Gots verlorn han? / Er hait sij den gehorneten gegeben / Und den nuwen officialen eben: / Ich wolde viel lieber dot sin / Dann mir solich unrecht solde geschien.‘); ibid.: 30, V. 1336-1341 (‚[…] Dar umb sal dich nit wondern / Noch erschrecken odir zornig sin / Obe dir das swert gegeben ist / In der scheiden und dar in gestoßen ist / Und die slußel besiegelt und gebonden / Haist odir das die sint hart bewonden.‘), und ibid.: 57, V. 2501-2504 (‚[…] Nu hudent uch und zuͤrnent nit, / Dan das ich dem das ich dun sal, dun genug, / Das ist die sache dar umb ich hude begert / Uß mynre kammern zu kommen her! ‘)]. Unberechtigter Zorn ist es aus Sicht von ‚Gnade Gottes‘ (und der des träum‐ enden Erzählers, der die Szene gewärtigt) auch, was die als alte Frau, die ihre Arme schon bei ihrem Auftritt ärgerlich verschränkt hält, verkörperte ‚Natur‘ 20 gegen ‚Gnade Gottes‘ vorbringt: Sie verwehrt sich dagegen, dass die göttliche 207 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs Instanz, deren Sphäre der Himmel ist, sich in ihren Herrschaftsbereich der ir‐ dischen Elemente einmischt, indem sie duldet, dass Moses und die von ihm ge‐ weihten Priester Brot und Wein zu Fleisch und Blut Christi wandeln - ein Mys‐ terium, das auch ‚Vernunft‘ sich traurig und zum Verständnis unfähig in ihren Turm zurückziehen lässt. Fast 500 Verse streiten die beiden Personifikationen miteinander, bis ‚Natur‘ einsieht, dass ‚Gnade Gottes‘ mit der besonderen Gabe an die Priester, die Transsubstantiation von Naturin Gnadengaben vollziehen zu können, ihr nicht in ihren eigenen Zuständigkeitsbereich eingreift (Pilger‐ fahrt 1915: 32-43, V. 1381-1862). Mehrfach (Pilgerfahrt 1915: 35, 38 und 42; V. 1525, 1539 sq., 1695, 1823 und 1838) tadelt ‚Gnade Gottes‘ in diesem Streitge‐ spräch den Zorn von ‚Natur‘. Sie zieht dabei auch die argumentative Kompetenz ihrer Kodisputantin in Zweifel: Diese trete viel zu scharf und grob - ja sogar hochmütig - auf, sie wirke wie trunken vom Wein, wie von Sinnen vor Zorn. ‚Natur‘ habe zugestimmt, nicht übereilt argumentieren zu wollen, halte sich jetzt aber nicht daran, sondern rede unüberlegt und töricht daher. ‚Gnade Gottes‘ würde sie noch weitaus energischer tadeln, sehe aber davon ab, da man vom Zorn Verblendeten ihre Äußerungen nicht nachtragen solle. Diese könnten nicht erkennen, was sie tun oder lassen sollen, denn sie seien unverständig (Pilgerfahrt 1915: 34 sq., V. 1516-1543). Auch auf der narrativen Ebene wird Zorn daher als unvernünftig, ja sogar als Geistesverwirrung gekennzeichnet. 4 Fazit Eine Gesamtgeschichte der Konzepte des Zorns im Mittelalter ist - soweit ich sehe - bis zum Jahr 2020 noch nicht vorgelegt worden, wenn sich auch z. B. der von Barbara Rosenwein 1998 herausgegebene Sammelband Anger’s Past hierum erstmals bemüht hat. Die germanistisch-mediävistische Forschung hat aller‐ dings insbesondere in den beiden vergangenen Jahrzehnten eine große Zahl von Studien zu Einzeltexten vorgelegt (cf. die Bibliographie), die auf die Thematik ‚Zorn im Mittelalter‘ mit vielfältigen innovativen Zugriffen Bezug nehmen. Der vorliegende Beitrag, der lediglich zwei deutschsprachige Texte (und einen la‐ teinischsprachigen Text) des Mittelalters im Hinblick auf ihre Aussagen zum Zorn untersucht, kann freilich keinen Anspruch darauf erheben, dem Mangel an einer Überblicks- oder gar Gesamtdarstellung der Zorn-Diskurse des Mittel‐ alters abzuhelfen, er will allerdings auf einen ‚blinden Fleck‘ der bisherigen For‐ schung zur mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur hinweisen: die fast vollständige Ausblendung volkssprachlicher geistlicher Literatur. In seinem 17 Jahre nach Erscheinen unverändert grundlegenden Beitrag über die Historische Semantik und Diskursgeschichte von zorn, nît und haz verweist 208 Matthias Rein 21 Dass er seine Ausführungen in Listenform strukturiert, um dem Zweck seines Werks als Fundus für Prediger zu entsprechen, wird ihm schon zu lange zu Unrecht vorge‐ halten. 22 Zu diesem Begriff und dem Verhältnis von Selbstkontrolle und religiöser Einstellung cf. McCullough / Carter 2013. Klaus Grubmüller zwar auf Zorns „Position unter den Todsünden“ und stellt fest: „Aus dieser Reihe gewinnt der Zorn seine Bewertung nicht nur in der Pre‐ digt und in der geistlichen Prosa, sie wird auch in die - geistlich geprägte - Erzählliteratur übernommen“ (Grubmüller 2003: 59 sq.). Allerdings lässt er er‐ kennen, dass er insgesamt in der geistlichen Diskurstradition über Zorn „[d]if‐ ferenziertere Diagnosen und Therapien“ vermisse (Grubmüller 2003: 60). Diese finden sich aber durchaus im moraltheologischen Sündendiskurs, wie er hier an den drei Beispielen des tractatus octavus de ira der Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus, des Bihte buochs und der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs vorgestellt wurde: Wilhelm Peraldus arbeitet in vielfältiger Weise Ver‐ haltensweisen, psychologische Zustände und Kausalnexus zwischen diesen und der sozialen Reaktion auf Zorn heraus. 21 Auch das Bihte buoch nimmt eine Viel‐ zahl von Zusammenhängen zwischen dem Zorn und anderen Begierden sowie zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in den Blick und zeigt dabei doch auch auf verschiedenen Ebenen, dass der zum Zorn führende Impuls - anders als freilich das Ausleben der Emotion - nicht in jedem Fall sündhaft sein muss. Verglichen mit diesen beiden metasprachlich argumentierenden Texten wirkt die explizite Sündenlehre der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs etwas plan, was allerdings an gerade der allegorischen Narrativierung liegt, die auf der anderen Seite den Zorn weitaus plastischer - und drastischer - vor Augen stellt als dies den Traktaten möglich ist. Außerdem bietet das erzählerische Gewand, in das die Pilgerfahrt ihre Didaxe - ja Katechese - hüllt, weitaus vielfältigere Möglichkeiten, den Zorn auch unterhalb der Aussageoberfläche in Form der Figurenhandlung zu thematisieren, die in der Pilgerfahrt ausgiebig genutzt werden. Explizit geht zwar nur Wilhelm Peraldus auf Therapien gegen den Zorn ein, aber auch die volkssprachigen Texte bieten dazu Rezepte, die sich von den Rezipient*innen aus den Texten ableiten lassen: Die ausgiebige Gewissenser‐ forschung durch die interrogationes des Bihte buochs strebt ja mittelbar über den korrekten Sakramentsvollzug hinaus die Schulung des Sündenbewusstseins mit dem Ziel bestmöglicher Selbstkontrolle 22 im Umgang mit Sündenimpulsen und Begierden an. In der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs können sich die Rezi‐ pient*innen an der Identifikationsfigur des Pilger-Ich-Erzählers ein Beispiel nehmen, der seine anfangs ungezügelten Impulse zum Zorn schließlich der Angst vor dem gerechten Zorn Gottes und der von ihm beauftragten Instanzen 209 Zorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs unterordnet. Dieses Rezept zur Zornbewältigung mag - anders als Selbstkon‐ trolle - im 21. Jahrhundert unsympathisch erscheinen, doch ist dies in meinen Augen kein Grund, es als ‚undifferenziert‘ aus der Geschichte der Konzepte des Zorns im Mittelalter auszublenden. Martin Baisch, Evamaria Freienhofer und Eva Lieberich sprechen in der Ein‐ leitung des von ihnen gemeinsam herausgegebenen Sammelbands Rache - Zorn - Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters 2014 mehrere Ansätze zu neuen Zugriffen auf die drei von ihnen thematisierten Gefühle an - u. a., dass diese „zentraler Bestandteil von Narra‐ tiven […] sind“ und „[a]uch auf der Handlungsebene […] Erzählungen […] ge‐ nerieren“ (Baisch / Freienhofer / Lieberich 2014: 18). Im engen Sinne lässt sich dies bei den hier vorgestellten Texten freilich nur von der Pilgerfahrt des träum‐ enden Mönchs sagen, wo sich z. B. aus dem Zorn von ‚Natur‘ über einen ver‐ meintlichen Übergriff durch ‚Gnade Gottes‘ eine lange Szene mit emotional aufgeladenem Auftritt, ausgiebiger Diskussion und schließlicher (Selbst)demü‐ tigung der Unterlegenen entspannt, die sicher auch nicht ohne Wirkung auf den passiv beobachtenden Pilger-Ich-Erzähler - und die Rezipient*innen - bleibt. In einem weiteren Sinn trifft es allerdings auch auf die beiden Traktate zu, denn auch diese können nicht ohne - zumindest angedeutete - Beispiele argumen‐ tieren, die als solche naturgemäß Narrative sind, auch wenn sie im Text nicht auserzählt werden. Alle in diesem Beitrag vorgestellten Texte - der tractatus octavus de ira der Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus, das Bihte buoch und die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs - kalkulieren die Interessen und die di‐ daktisch-katechetischen Bedürfnisse ihrer Rezpient*innen ja nicht weniger genau ein als weltliche narrative Literatur. Thorsten Martinis 2009 vorgetragene Kritik, in der germanistisch-mediävistischen Forschung würden „[d]ie Bedin‐ gungen und Funktionen des Zornmotivs rein auf Textebene […] weniger be‐ leuchtet“ (Martini 2009: 86), hoffe ich in diesem Beitrag insofern beherzigt zu haben, dass ich durchgehend gezeigt habe, dass in den behandelten Texten des mittelalterlichen deutschsprachigen (und lateinischsprachigen) Sündendis‐ kurses nicht ausschließlich plan Zorn als Todsünde gebrandmarkt und damit ad acta gelegt wird, sondern dass das im negativen Sinne Faszinierende (Ba‐ isch / Freienhofer / Lieberich 2014: 16-18) an dieser Sünde den Autoren bewusst war, sie es aus differenzierten Blickwinkeln beleuchteten und problematisierten und es vor allem - mehr oder weniger weitreichend - schon intratextuell zu einem Narrativ geformt haben, das subtil neben der z. 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Im ersten Teil befasst sich der Beitrag mit dem lexikalischen Ausdruck von Enites Gefühlen. Dafür wird der vom Autor gewählte Emotionenwortschatz vorgestellt. Dann wird die Inszenierung von Enites Gefühlen am Beispiel einer Monologszene analysiert. Anschließend (Teil 2) rückt die Funktion dieser zahlreichen Emotionen für die Charakterisierung Enites in den Vor‐ dergrund. Hervorgehoben wird die Rolle von Schmerzgefühlen in der 'Ent‐ faltung' ('unfolding') höfischer Figuren. Im letzten Unterteil wird gezeigt, wie Enite durch die emotionale Askese Zugang zu einer Vermittlerinfunktion er‐ hält. Einleitung In Hartmans Roman Erec erlebt die weibliche Hauptprotagonistin Enite eine Entwicklung, die sich als ein Weg von der Jugendlichen zur höfischen Dame zusammenfassen lässt. Mit ihrem Gatten Erec bekämpft Enite gefährliche Räuber und einen arglistigen Grafen. Zeitweilig muss das Paar seine adlige Ehre wiederherstellen. Zudem muss die junge Enite während einer Reise allein gegen Männer kämpfen und sich den eigenen Schwächen entziehen. Nach einigen Episoden (v. a. „Oringles-Episode“) verliert sie ihren Gatten und darf sich nur noch auf sich selbst verlassen. Während sich Enites Abenteuer entfalten, bringt Hartmann all die wunderbaren Eigenschaften ans Licht, mit denen die junge 1 Die verligen-Szene befindet sich am Anfang des Romans direkt nach Enîtes und Erecs Hochzeit. Während dieser Szene bleibt das Paar sehr passiv und Erec erfüllt seine Pflichten als Feudalherr nicht. 2 Erec erkämpft das Recht, Enite nach dem Turnier zu heiraten. Frau ausgestattet ist. Bevor sie zu einer idealen Frau und Königin wird, durch‐ läuft Enite viele Emotionen und schmerzliche Proben. Das physische und mo‐ ralische Leiden der jungen Heldin erweist sich als eine unverzichtbare Etappe in ihrer Bewusstswerdung und ihrer Entwicklung zur vrouwe. Thema des vor‐ liegenden Aufsatzes ist die Schilderung dieser Emotionen und deren Rolle als Spiegel der allmählichen Erhebung Enites zur vrouwe. Erstens befasse ich mich mit dem lexikalischen Ausdruck von Enites Gefühlen. Dafür wird der vom Autor gewählte Wortschatz zur Beschreibung emotionaler Erregungszustände erläu‐ tert. Dann untersuche ich die Bedeutung ihrer vielfältigen Gefühle wie Trau‐ rigkeit, Angst, Scham und Freude. In einem zweiten Schritt soll der Beitrag dieser zahlreichen Emotionen zur Charakterisierung Enites in den Vordergrund rü‐ cken. Somit wird die Rolle von Schmerzgefühlen in der Entfaltung der höfischen Figur hervorgehoben. Im letzten Teil wird gezeigt, dass Enite durch die typisch weibliche emotionale Askese Zugang zu einer Vermittlerinfunktion findet. 1 Enites Emotionen „Enite, die passive, lässt zu, dass die regelnde sittigende Macht der Minne von der Sinnlichkeit verdrängt wird.“ (Carne 1970: 56) Dieser Satz von Eva-Maria Carne stellt eine direkte Korrespondenz zwischen Enites gesteigerter Sinnlichkeit und der verligen-Szene 1 (v.2881-3052) her, in der Enite, statt überlegt zu handeln, wie es der höfische Kodex empfiehlt, sich falsch benimmt und passiv bleibt. Im folgenden wird zuerst untersucht, welche Emo‐ tionen Enite erlebt, unter besonderer Berücksichtigung von Traurigkeit, Freude und Angst. Anschließend bewerte ich die Rolle dieser Emotionen in der eigenen Entwicklung Enites. 1.1 Lexikalischer Ausdruck der Emotionen Um die Empfindsamkeit von Enite zu erklären, werden zunächst die unter‐ schiedlichen von ihr empfundenen Emotionen unter die Lupe genommen. Diese Emotionen werden regelmäßig von dem Erzähler oder von Enite selbst be‐ schrieben. Freude, Traurigkeit, Scham und Angst werden je nach Kontext von der Heldin empfunden, und können manchmal sogar gleichzeitig erlebt werden. Während des Sperber-Turniers 2 (V.160-1049) schildert der Autor zum ersten Mal 218 Farah El Abed einen emotionalen Zustand von Enite, der die Kombination zweier extremer Zustände ist. Tatsächlich weint die junge Frau, weil sie sich während des Kampfes Sorgen um Erec macht (V. 802; V. 850-2). Letzten Endes freut sie sich aber, weil sie nach Erecs Sieg zu seiner Ehefrau wird (V. 1376-85). Smits stellt fest, dass der Zustand ihrer Gefühle oft, wenn auch nicht nur, mit Erec zusam‐ menhängt (Smits 1981: 21). Enite weint ebenfalls, als sie ihre Eltern verlässt, um zu heiraten. Die Hochzeit erfüllt das Paar mit Freude (V. 2122). Nach ihrer Heirat empfindet Enite manchmal sowohl Freude als auch Traurigkeit: beide leip unde leit (V. 2831), dar ir liebes dran geschach / ../ daz si leides dran gewan (V. 2832,2834), beide stolz und gemeit (V. 2850). Am Ende einer Studie über die verschiedenen Verwendungen von vreudegemach definiert Pasques die Freude im Erec als einen subjektiven Zustand, der dem Leiden entgegengesetzt ist (Pasques 2010: 258). Die Assoziation zweier Emotionen taucht noch dreimal im Werk auf: beide trûric und vrô (V. 3135), diu hâte liep bî leide (V. 4502) und beide liebe und ungemach (V. 5601). Der Autor verbindet regelmäßig diese radikal gegensätzlichen Emp‐ findungen, was von der Komplexität von Enites Empfindsamkeit zeugt. Au‐ ßerdem erscheinen diese Gefühle immer nach einem Kampf oder einer Szene, in der Erec sich in Gefahr gebracht hat und in der sie machtlos ist. Die Freude erscheint allein in Form von vrô oder vreude, entweder weil Enite ihre Strafe aufgehoben hat: Diu zwei gelieben wâren vrô (V. 5628), oder weil sie ihr körper‐ liches Leiden unterbrochen sieht: vrouwe Ênîte was vil vrô (V. 3647), oder weil sie sieht, dass Erec in Sicherheit ist (V. 6684 den tôten si vil gerne sach, V. 7030 des wâren si gemeine vrô). Während des Sperber-Turniers stellt Koch fest, dass es zwar objektive Gründe für Enites Traurigkeit gibt, erlebt sie diese aber sub‐ jektiv und weiblich („kumer um Erec“) (Koch, 2006). Mecklenburg schreibt, dass die Entstehung von Emotionen in einer Figur zunächst aus der Beurteilung des Kontextes durch die Figur entsteht (Mecklenburg, 2009: 85). Er fügt auch hinzu, dass es einen kontextuellen Grund für das Auftauchen einer Emotion geben muss, bevor sie in einer Figur sichtbar wird: Die Emotion taucht in einem be‐ stimmten Kontext auf und entspricht einer kulturellen Norm (Mecklenburg 2009: 86). Enites Emotionen werden meist von Erec direkt oder indirekt ausge‐ löst, was nichts Außergewöhnliches ist, da sie ihn liebt und Angst um ihn hat. In den letzten Versen, in denen Freude heraufbeschworen wird, handelt es sich jedoch um eine kollektive Freude über die Vorstellung, dass alle endlich wieder vereint sind, insbesondere Enite und ihre plötzliche Cousine (V. 9679, 9730, 9735). Ausgedrückt werden die Unglücksgefühle der Heldin entweder durch das lexikalische Feld des Unglücks in ihren eigenen Worten (V. 6034, 6038) oder durch Tränen (V. 1456-61): 219 Enites Emotionen in Hartmanns Roman Erec vrouwe Ênîte urloup nam, als einem kinde wol gezam, vil heize weinende, ze rîten in ellende von ir lieben muoter. (V. 4505) sîn wunden weinde si aber dô (V. 6437), trehene begunde si vellen: (V. 6770), allez weinende kunt (V. 8659), der regen ir von den ougen vlôz. Als die junge Frau am Artushof vorgeführt wird, fühlt sie sich unwohl, was durch das Substantiv schame (V. 1711, 1725, 1732) wiedergegeben wird (Smits 1981: 22). ungemach ist zudem eine Parallele zu diesem Gefühl der Scham (V. 1711). Pas‐ ques beschreibt die Bedeutung von gemach als den zentralen Wert der Ehre und schildert, dass es beim Qualifizieren der Gefühle einer Frau immer eine Verbin‐ dung mit Trost besteht. Wenn die 80 Witwen Brandigans von der Königin ge‐ tröstet werden, verwendet der Autor diesen Begriff (V. 9905-9909) (Pasques 2010: 258). Ein weiteres positives Gefühl, das regelmäßig mit Enite in Verbin‐ dung gebracht wird, ist muot. Dieser Name bezieht sich sowohl auf den Mut als auch auf das Herz. Dies wird bei mehreren Gelegenheiten in den Zitaten von Smits illustriert, wo der Begriff immer mit dem Affektiven in Verbindung ge‐ bracht wird (V. 3002, 3702, 4129, 4140, 4745, 5373, 5742) (Smits 1981: 21). Es ist kaum überraschend, dass der Vater mit der gleichen Herzensgüte qualifiziert wird: rîches muotes (V. 314). Emotionaler Ausdruck erscheint durch die Darstel‐ lung der Figur, aber auch durch die Kommentare des Erzählers, was insbeson‐ dere durch die Beschreibung von Enites Verhalten beim Tod Erecs (V. 5743-5763), aber auch während der theatralischen Szene des Monologs deut‐ lich wird (Eming 2007: 257-260). Eming folgt dem Gedanken, dass Enites Körper eine Bühne für den Ausdruck von Gefühlen ist, so dass der innere Zustand der Heldin nach außen dringt und dann eine performative Dimension der Emotion berücksichtigt. Hartmann beschreibt diese emotionalen Veränderungen als Re‐ aktionen auf Enite und ihren weiblichen Zustand, den Smits als Gefühlausbruch bezeichnet (Smits, 1981: 23). Diese Seite ihrer Persönlichkeit kann man als ge‐ schlechtsstereotypich bezeichnen. 1.2 Sinnliche Wahrnehmung Mehrmals werden Enites Wahrnehmungsfähigkeiten im Werk hervorgehoben. Sichtlich mit einer sehr feinsinnigen Passivität bzw. Rezeptionsfähigkeit ausge‐ stattet, nimmt Enite immer die Gefahren vor Erec wahr. Tatsächlich sieht sie fünfmal die Gefahr vor Erec (V. 3149, 3353, 3974, 4147, 4318). Smits stellt hierzu fest, dass Enite als eine Art Radar für das Paar fungiert. Enite steht 17 Male als Subjekt des Verbes hôrte oder seine Varianten, und 30 Male als Subjekt von 220 Farah El Abed sach. Dieses Verb wird aber auch für Erec und für den Erzähler selbst viel ver‐ wendet. Sowohl während der Krise von Karnant, als auch während ihrer Be‐ strafung durch Stillschweigepflicht nimmt Enite als Erste die Umgebung wahr, in der sie sich entwickelt. Smits unterstreicht diesen Aspekt, indem er eine Be‐ merkung des Erzählers zitiert, wonach Enite die Ohren und Augen des Paares (V. 4150-65) sei (Smits 1981: 24). Willms führt diese Interpretation weiter aus und verdeutlicht sie durch einen Hinweis auf die Passage, in der Hartmann er‐ klärt, dass Enite besser sehe und besser höre, weil sie keine Rüstung habe (Willms 1997: 68). Die Forscherin erkennt hier eine Metapher, deren Bedeutung tiefer zu liegen scheint, weil Frauen von Natur aus besser sehen und deutlicher hören als Männer. Willms verwendet Ruhs Begriff „Lockvogel", um Enites Po‐ sition während der ersten Reihe von Abenteuern zu beschreiben (Ruh 1977 und Willms 1997: 68). Diese bevorzugte Wahrnehmung ihrer Umwelt bedrückt die junge Frau, die daraufhin ihr Verhalten ändert. Empfindlichkeit ist eine typisch mittelalterliche weibliche Eigenschaft (Carne 1970: 56). Ihre Sensibilität ist je‐ doch unerlässlich, damit sie auf die Herausforderungen der Umwelt reagieren kann. Als zukünftige vrouwe muss Enite lernen, ihre Sensibilität in den Dienst ihrer Ehe zu stellen (Carne 1970: 57). Sie habe „die Pflicht und demnach das Recht, die Leiterin des Mannes zu sein.“ (Smits 1981: 23). Im Mittelalter hat der We‐ sensunterschied zwischen Männern und Frauen zur Folge, dass Frauen und Männer sich unbedingt anders verhalten müssen (Smits 1981: 20). Ein deutliches, von Smits unterstrichenes Beispiel findet sich V. 5755-69, als Erec nach seinem Kampf mit den Riesen fast tot vom Pferd fällt. Hartmann schreibt, dass Enite nicht wie ein Mann reagiert, d. h. im Notfall aktiv handelt. Laut Hartmann ist dieser „Gefühlsausbruch“ (so der Begriff von Smits) selbstverständlich, da Frauen vor allem emotional seien. Dieser Geschlechtsunterschied findet sich in Pasques' Studie wieder: ihrer Untersuchung zufolge könne die Königin an ge‐ mach teilhaben, aber es sei dem König vorbehalten, „die individuelle Strafe als Vorspiel zur vreude [abzumildern], die in einem mehr ethisch-moralischen und kollektiven Bereich liegt" (Pasques 2010: 265). Der Mann neige eher zur Ver‐ nunft, da er keine emotionale Erschütterung durchmache. Enite erhält die schreckliche Nachricht vom Hof, gerade als sie die erste Gefahr im Wald sieht, während Erec nichts davon wahrnimmt. Carne beschreibt die Rolle der jungen Frau als „Mittlerin zwischen Mann und Umwelt" (Carne 1970: 57). Diese Emp‐ findlichkeit ermöglicht also in der Regel ein Gleichgewicht in der Paarbezie‐ hung: 221 Enites Emotionen in Hartmanns Roman Erec 3 Diese Kraft der Minne funktionniert, wenn sie zusammen sind aber sie fühlen sie sich auch sehr gebundet wenn sie getrennt sind. Dass die richtige Bezogenheit dem Menschen aber nicht automatisch zufällt, wird an Erec deutlich, der sie erst durch den Läuterungs- und Aventiureweg mit Hilfe der Frau erlangt. (Carne 1970: 58) Diese Fähigkeit, eine Emotion zu übertragen, um die Realität richtig zu erfassen, verweist eindeutig auf die damals postulierte starke Vermittlungsfähigkeit von Frauen (Dessaint 2001: 39). Enite besitzt alle intuitiven Qualitäten, um ihrem Ritter zu helfen. Aber Erec bleibt egozentrisch und handelt wie ein Tauber oder Blinder. Deshalb muss Enite zu Beginn der Geschichte bis zum Ende der ersten Abenteuerserie besonders aufnahmefähig bleiben. Diese Position wird für die Heldin schnell zu einer echten Qual: Erec weigert sich, sie mit ihm sprechen zu lassen. Was nützt ihr das Wahrnehmen, wenn sie ihren Mann nicht warnen kann, damit er reagiert, fragt Carne (1970: 58) zu Recht? Indem er Enite verbietet, ihre Rolle als Augen und Ohren des Paares zu spielen, hindert Erec sie daran, ihre Rolle zu spielen. Seinem Verhalten liegt ein naives Verständnis von Autorität in der Ehe zugrunde, sowie eine übertriebene Betonung seines verletzten Stolzes (Smits 1981: 24). Trotz dieser Verbote ver‐ steht Enite sehr wohl, dass sie ihre Pflicht als Frau erfüllen muss, um das von Erec verursachte Ungleichgewicht eigenhändig auszugleichen. In diesem Sinne will Hahn Enite keine besondere Aufgabe zuschreiben: der Weg bleibe der von Erec, aber es gebe ein Bewusstsein der Weiblichkeit im Charakter von Enite (Hahn 1986: 185). Nach der dramatischen Episode von Erecs Auferstehung und seiner Bitte um Vergebung sitzt Enite vor ihm auf seinem Reittier. Smits inter‐ pretiert dieses Bild (V. 6745-9) als ein Zeichen der Akzeptanz der Parteilichkeit: Enite kann die Ohren und Augen des Paares sein (Smits 1981: 25). Während der letzten Episode von Joie de la curt ist das Heldenpaar wiedervereint und scheint leichter zu kommunizieren. Smits bemerkt, dass Hartmann diese neue Stufe als die tiurende kraft ihrer guoten minne beschreibt (v.8870), was sogar zum erstens mal mit Distanz funktioniert. 3 Ganz am Ende der Erzählung schreibt der Er‐ zähler, dass Enite sehr schwierige Momente durchlebt habe, aber dass sie dank ihrer Güte gemach und êre habe bringen können (V. 10 107-114). Bezüglich von Dramen, religiösen Texten und höfischen Erzählungen taucht in der Forschung regelmäßig die Frage nach der Inszenierung von Emotionen und eine Reflexion der damit verbundenen kulturellen Praktiken auf (Eming 2007: 252). Die emotionale Subjektivität der jungen Enite wird größtenteils durch die Palette der ihr durch Hartmann zugeschriebenen Emotionen insze‐ 222 Farah El Abed niert, entweder direkt durch ein Lexikon der Emotionen, oder indirekt durch die Beschreibung einer fast theatralischen gestischen Leistung. Zwischen Freude und Trauer hat die Heldin kaum eine Atempause. Dieser Umstand entspricht dem traditionellen Topos der weiblichen Persönlichkeit, die von ihrer Sensibilität überwältigt ist. Enite hat aber keine andere Wahl, als zu lernen, ihre Emotionen zu handhaben und sich auszudrücken. Als Erec nach dem dramatischen Zeugnis der Treue seiner Frau auf wundersame Weise ins Leben zurückkehrt, beschließt er, die Stillschweigensstrafe Enites aufzuheben und ihr sein volles Vertrauen zu schenken. Enite darf fortan ihre Empfindsam‐ keit nutzen, um auf die dringenden Bedürfnisse der Umstände zu reagieren und zur traditionellen mittelalterlichen Vermittlerin zu werden. Die auf Emotionen aufgebaute Konstruktion des Charakters der Heldin unterstreicht ihre persön‐ liche Entwicklung, ihr Selbstvertrauen in ihrer Rolle als vrouwe. 2. Die Leidenschaft als Askese Die labilen Emotionen Enites sind im ganzen Roman prägend, und ver‐ schwinden am Ende der Joie de la curt-Episode, wo das Paar seine Harmonie wiederfindet. Diese Episode entspricht genau dem Moment, in dem Erec aufhört, seine Frau zu verletzen. Dieser Leitfaden der Kränkung und der Verletzung rechtfertigt eine besondere Aufmerksamkeit für das Leiden der Protagonistin. Dies ist der Gegenstand des vorliegenden Abschnitts. Als erstes wird das lexi‐ kalische Feld des Leidens der jungen Frau veranschaulicht. Dann befasse ich mich mit dem lexikalischen Feld der Angst. Schließlich wird erklärt, wie Enite es schafft, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. 2.1 Angst und Leid: lexikalischer Ausdruck Enite ist ein eher schüchterner und weiblicher Charakter. Diese Persönlichkeit lässt ihr keine großen Möglichkeiten, um auf die Gewalt in ihrem Alltag zu reagieren. Damals war männliche Vorherrschaft, wie Smits schreibt, weithin akzeptiert und nach Hugo de St. Victor sogar in biblischen Texten begründet (Smits 1981: 19). Smits hält die Belege im Erec für ausreichend zahlreich, um zu bestätigen, dass Hartmann die Vorstellung teilte, wonach manchmal aus dieser männlichen Vorherrschaft weibliches Leid resultiert. Das lexikalische Feld des Leidens wird also zumeist der Jungfrau zugeschrieben (Pincikowski 2002: 91). Pincikowski stellt darüber hinaus die Korrespondenz zwischen weiblichem Leiden und höfischer Weiblichkeit fest. Das Lexem leit ist das am häufigsten wiederkehrende. Das Substantiv leit kommt nur viermal vor (V. 2831, 3125, 5772, 9682) und ist im zweiten und dritten Vorkommen mit dem Lexem herze ver‐ 223 Enites Emotionen in Hartmanns Roman Erec bunden. Alle Okkurrenzen werden vom Erzähler verwendet, um den Zustand von Enite zu schildern. Die konjugierte Verbalform wird in der gesamten Erzählung regelmäßig in den Formen leit (V. 3144, 3453, 3454, 3959, 5791, 5995), erleit (V. 5111, 5995) und lide- (V. 3586, 3882, 5740) verwendet, von denen Enite das Subjekt ist. Anzu‐ merken ist auch, dass diese Verben oft liebe oder kumber als Ergänzungen auf‐ weisen, z. B. durch ir mannes liebe leit (v.3144) oder die vrouwe Ênîte erleit / sô kumberlîcher sache (V. 5111-2). Die Heldin zögert nicht, das Leid zu offenbaren, das Erec ihr während seiner List gegen den ersten Grafen zufügt (V. 3881-2). Der erste Umstand, unter welchem Enite leidet, ist offensichtlich das Verhalten ihres Mannes Erec (11 Vorkommen). Die Episode der Mühsal mit den Pferden bildet ein Sonderfall (4 Vorkommen), mit Stellen wie die vrouwe lîdet arbeit (V. 3586; oder 3453). Um Enites unerträgliches Leiden zu veranschaulichen, zögert der Autor nicht, das Vokabular während seines großen Monologs zu variieren. Hartmann ver‐ wendet die Namen ungemach (V. 3350, 3594, 6684), unmuote (V. 6283), jâmer (V. 5743, 5874, 6440). Sie werden oft von Verstärkern wie sô oder groze begleitet. Die folgenden Substantive kommen nur einmal im Zusammenhang mit Enite vor: widermuot (V. 6347), herze belôst (V. 8821), herzesêre (5749), tôtez herze (5790) und valle (V. 5741). Die Adjektive grimmeclîch (V. 5994) und kumberlîch (V. 3325, 5112, 3881) werden meist verwendet, um die harte Arbeit der jungen Frau zu beschreiben. Es sind oft die Überlegungen des Erzählers, die Enites Leiden beschreiben, aber manchmal drückt sie sich auch selbst aus, besonders in ihrem Monolog, der sie zur Empörung führt. Das Thema des Leidens ist während des großen Schluss‐ monologs der Heldin sehr präsent, so sehr, dass der Autor zu diesem Zeitpunkt ihr Lexikon erheblich erweitert. Das lexikalische Feld des Schmerzes taucht auch jedes Mal auf, wenn Erec in den Episoden mit den beiden Räubergruppen, mit dem ersten Grafen und mit Mabonagrin in Brandigan in Gefahr ist, und zwar jedes Mal kurz bevor Enite ihn vor der Gefahr warnen muss. Der Erzähler richtet oft seine Kritik gegen Erec, der seiner Frau Leid zufügt (V. 5770-3) (Hahn 1986: 176). Kritik taucht auch auf, wenn die junge Frau die Pferde ver‐ sorgen muss, eine relativ schwierige Aufgabe für sie. Pasques (2010: 265) ver‐ weist hier auf den häufigen Reim zwischen arbeit und leit. Hartmann schreibt also der Protagonistin ein Leiden zu, das anhand einer zunächst einge‐ schränkten, von leit abgeleiteten Lexik zur Sprache kommt, aber im Laufe des Monologs wird dieser Wortschatz des Leids reicher und diverser. Die Heldin leidet unter dem Verhalten ihres Mannes und der Männer im All‐ gemeinen, was typisch für höfliche Frauen ist. Aber das Thema des Leidens wird 224 Farah El Abed in dem Werk auch in Form von sehr ausgeprägten Ängsten ausgedrückt. Zu‐ nächst ist die Heldin regelmäßig das Subjekt des Verbs vorhte (V. 3012, 3045, 3105, 3137, 6665). Die nominalen Vorkommnisse dieser Wurzel sind Ergän‐ zungen des Verbs, dessen Subjekt Enite ist: ze Êrecken si mit vorhten sprach (V. 3379), wan si diu grimme vorhte treip (V. 6662), von vorhten wart si missevar (V. 3997). Das am zweithäufigsten vorkommenden Lexem dieses Feldes ist sorge. Es wird in seiner Nominalform verwendet (V. 806, 6940,8658) und die letzten beiden Male durch grôz qualifiziert. Dann erscheinen die Adjektive sorc‐ lîch (V. 3351) und sorcsam (V. 8878), die jeweils mit den Substantiven ungemach und muot verbunden sind. In Bezug auf die zuvor genannten Vorkommnisse ist zu bemerken, dass das Lexikon der Angst vor allem am Anfang des Werkes konzentriert ist, anlässlich von Gesprächen zwischen Enite und Erec. Zwei wei‐ tere Episoden ragen aus dem Rest des Textes heraus: bei Graf Oringles und bei Brandigan. Auch hier fällt auf, dass die Sorgen der jungen Frau mit Erec ver‐ bunden sind. Die Herrschaft ihres Mannes wird also von Enite auf beängstigende Weise erlebt. Smits erkennt in diesen Reaktionen, dass Enite ihrem Mann nicht vertraut (Smits 1981: 24). 2.2 Zweckdienliches Leid: eine Entfaltung? Um die Rolle des Leidens von Enite besser zu verstehen, ist es notwendig, mit Pincikowski (2002) das weibliche Leiden in Hartmanns Romanen allgemeiner auszulegen. Pincikowski stellt fest, dass es eine Korrespondenz zwischen dem weiblichen Leiden und einem Kontext gibt (Pincikowski 2002: 91). Er erklärt, dass der weibliche Körper als Spiegel der Gefühle benutzt wird, und zum anderen oft das Objekt männlicher Begierde ist. Tatsächlich führt die körperliche Schön‐ heit einer Frau dazu, dass ihr von Männern, die sie kontrollieren wollen, Leid zugefügt wird, wie in der Episode mit Oringles und dem namenlosen Grafen. Genauso wie Pincikowski stellt Bumke fest, dass Gewalt gegen Frauen in höfi‐ schen Romanen üblich ist, aber keineswegs mit der Ehrung einer höflichen Dame unvereinbar ist (Bumke 1994). In der Tat: Obwohl Enite adlig ist, zögert Oringles nicht, sie zu züchtigen (V. 6515-24) und der Zwerg von Iders, die Zofe der Königin Guinevere zu schlagen (V. 53-59). All diese Elemente der Erzählung sollen laut Pincikowski von einer Kritik des Autors an dieser männlichen Gewalt zeugen. Das Beispiel der Episode mit den 80 Witwen unterstreicht diese weib‐ liche Identität, die Leidensbereitschaft vorweist. Die extremen Folgen dieser Gewalt wurden von der höfischen Gesellschaft akzeptiert (Pincikowski 2002: 96). Laut dem Forscher zeigt die kulturelle Haltung dann, wie der extremste Schmerz ein Ausdruck männlicher Macht ist. Es handelt sich dementsprechend auch um einen Mangel an weiblicher Macht. Andere Aspekte belegen, dass das Leid 225 Enites Emotionen in Hartmanns Roman Erec wahrscheinlich wirklich eine Frauengeschichte ist. Zum Beispiel beruht die so‐ ziale Konstruktion des Unglücks auf der kommunikativen Funktion der weibli‐ chen Stimme und des weiblichen Körpers (Pincikowski 2002: 97). Tatsächlich stellt der weibliche Ausdruck des Leidens, sowohl körperlich als auch verbal, laut Pincikowski einen großen Teil von Hartmanns weiblicher Kommunikation dar. Das Vorhandensein von Leiden im Lexikon, das Enite zugeschrieben wird, zeugt von der Rücksichtslosigkeit oder dem Missbrauch durch ihren Mann. Dementsprechend lässt sich fragen, wieso und wozu Hartmann seinem Cha‐ rakter so viel Leid zugefügt haben kann, während er diesem strukturellen Leiden eher kritisch gegenüberzustehen scheint. Die Akzeptanz des Leidens kann nach Pincikoswky auch eine Form des Machtgewinns sein, in dem Sinne, dass die Frau Kontrolle über ihren eigenen Körper gewinnt. Eine gute Veranschauli‐ chung dieser Idee ist Enites Weigerung, sich zu ernähren, um sich im Tod mit Erec zu vereinen. Dadurch will sie auch vermeiden, dass Oringles sie zur Frau nimmt. Besonders bedeutsam ist hier die Parallele zur mittelalterlichen weibli‐ chen Askese. Enites Leiden erlaubt ihr, ihre Hingabe an Erec zu betonen, sodass Enite sogar Freude darüber ausdrückt, dass Oringles sie schlägt (V. 6552). Insze‐ niert wird dabei eine (Selbst-)Überschreitung: Enite benutzt diese Gewalt, um sich selbst zu erhöhen, um ein größeres Gut zu erreichen: Sie kommt ihrem neuen Status als höfliche Frau näher (Pincikowski 2002: 118). Wenn das Leid überwunden ist, verschafft es Zugang zu einer Vielzahl an Möglichkeiten. Leid ist in diesem Sinne eine Quelle der Überwindung und der Kraft. Laut Pinci‐ kowski bedeute das Leiden bei Hartmann nicht nur Unterordnung, sondern auch Zukunftsmöglichkeiten. Da Enite am Ende des Romans gekrönt und belohnt wird, scheint die Heldin zu demonstrieren, dass sie durch ihre Bereitschaft, ihren Schmerz zu akzeptieren, gesellschaftlich und geistig in den Status einer Königin aufgestiegen ist. Das Leiden von Enite scheint ihren eigenen Willen zu ver‐ härten. Die positiven und negativen Aspekte des Leidens werden in Hartmanns Ro‐ manen dargestellt und traditionell von Frauen erlebt. Der ganze Körper wider‐ spiegelt, wie sie ihre Welt erlebt. Ihre Redeweise und Köpersprache ändern sich nach dem falschen Tod Erecs. Bemerkenswert ist auch, dass Enites Name vorher tendenziell als Objekt des Verbs vorkam, mit der Ausnahme von Klagepassagen. Nachdem Erec scheinbar tot ist, wird die Heldin Subjekt von neuen Prädikaten wie klagen (V. 5872, 6587), schrê (V. 5758, 6082, 6084, 6604), schalt (V. 5913), ge‐ sworn (V. 6415), viel (V. 5755, 8826), kuste (V. 5756, 5758) oder slagen (V. 5757, 5873). Enite akzeptiert am Ende ihr eigenes Leiden, jedoch kämpft sie mit dessen Auswirkungen. Von nun an redet die Heldin laut und setzt sich mit ihrer Stimme 226 Farah El Abed mit anderen Figuren auseinander. Ihr Schweigen hat ihr beigebracht, wie sie sich ausdrücken soll und nicht mehr passiv bleiben muss, wenn sie etwas teilen möchte. An diesem Moment verändern sich auch die umgebende Wirklichkeit und das Verhalten ihres Mannes. Hartmann veranschaulicht die plurale Natur des Leidens und die harte Komplexität der Conditio humana, aber er drückt auch aus, dass die Überwindung des Leids die Erhöhung des Individuums und damit eine Verbesserung der höflichen Zivilisation bedeutet. Auf einer semantischen Ebene wird die Entwicklung der Emotionen der Heldin vom Autor minuziös dargestellt. Die Anwesenheit des wortreichen Emo‐ tionenlexikons bis zur Monologsszene unterstreicht den Kummer und die Em‐ pörung der Protagonistin. Nach der Episode mit Oringles und dem stürmischen Monolog werden Enites Emotionen milder und seltener erwähnt. Nach dem Ende der durch Erec verhängten Stillschweigepflicht kann die Heldin frei han‐ deln und die Vermittlerinfunktion erfüllen, die ihre Empfindsamkeit ihr zuweist. Es gelingt der Heldin, dank ihrer bedingungslosen Liebe zu ihrem Mann, dem Ritter Erec, und trotz ihrer unzählbaren Gefühle, sich von ihren Ängsten zu emanzipieren, indem sie umgekehrt Angst und Leid als Kräfte in ihrem persön‐ lichen Kampf einsetzt. Enites Entfaltung zur vrouwe wird durch ihre lebendige Empfindsamkeit und ihren emotionalen Einklang ermöglicht. Literatur Bumke, Joachim, „Höfischer körper - höfische kultur", in: Joachim Heinzle (ed.), Mo‐ dernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Insel, 1994, 67-102. Carne, Eva-Maria, Die Frauengestalten bei Hartmann von Aue: Ihre Bedeutung im Aufbau und Gehalt der Epen, Marburg, N. G.Elwert, 1970. Dessaint, Micheline, La femme médiatrice dans les grandes œuvres romanesques du XIIe siècle, Paris, Champion, 2001. Eming, Jutta, „Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft", in: JLT 1: 2, 2007, 251-273. 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Arendt) mit den Missständen ihrer Epoche auseinanderzu‐ setzen, so macht sie zugleich deutlich sichtbar, wie ohnmächtig die Figur auch tatsächlich ist. Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern die Empörung als Triebkraft des Schreibens fungiert, und erörtert deren politische Tragweite. In ihrer berühmten Lessingrede 1959 betont die politische Denkerin Hannah Arendt neben dem Mitleid auch den Zorn, einen der „angenehmen Gemüts‐ empfindungen“ der griechischen Affektenlehre (Arendt 1989: 14). „In der Hoff‐ nung“, behauptet sie, „überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht. Aber der Zorn […] stellt die Welt bloß“ (Arendt 1989: 14). Und wenn der Zorn zum politischen Denken gehört, so vor allem deshalb, weil sie ihn als „gesteigerte[s] Realitätsbewusstsein“ versteht (Arendt 1989: 15). Nach den vielen Krisen, die Europa in den letzten zwanzig Jahren durchge‐ macht hat, erweist sich ein solches Realitätsbewusstsein heute als geradezu an‐ gebracht, um nicht zu sagen notwendig. Dabei sorgt ein Thema ganz besonders für Empörung, nämlich die sogenannte „Flüchtlingsfrage“. Zahlreiche deutsch‐ sprachige Romane setzen sich mit der Darstellung von Flüchtlingen auseinander und zeugen unweigerlich von den verschiedenen Diskriminierungen und De‐ 1 Die aus einer russisch-jüdischen Familie stammende in Baku geborene deutsche Schrift‐ stellerin kam als Kind mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland. mütigungen, denen Flüchtlinge zum Opfer fallen. So vielfältig die daraus resul‐ tierenden Formen des Zorns in den Romanen auch sein können - von der Wut‐ rede, die Abbas Khiders Roman Ohrfeige (2016) ausmacht, über die zahlreichen Wutausbrüche von Olga Grjasnowas Hauptfigur in Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) zum Sarkasmus der Erzählerin in Irena Brežnás Die undankbare Fremde (2012) -, so gilt dieser Zorn immer dem unerträglichen Zustand der Ohnmacht, der Nichtanerkennung, sowie der politischen Unfreiheit, in dem sich (ehemalige) Flüchtlinge befinden. Der von Hannah Arendt in der Lessingrede hervorgehobene Grundsatz, „dass man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist“, wird in den Romanen auf die Probe gestellt (Arendt 1989: 30). In Der Russe ist einer, der Birken liebt setzt Olga Grjasnowa 1 ganz charakteristisch eine Ich-Erzählerin in Szene, die als jüdischer Flüchtling aus Aserbaidschan auch nach langen Jahren in Deutschland keinen Frieden finden kann. Aufgezeigt werden soll, inwiefern die Empörung im Roman als Triebkraft des Schreibens fungiert und was an dieser Empörung politisch ist. Ein „gesteigertes Realitätsbewusstsein“? Wenn Grjasnowas Erzählerin Mascha in den Rezensionen als „wütend, ruppig, verletzt“ (Wulff 2012: online) bezeichnet wird und „ihre Unruhe, ihre Wut, ihre Verzweiflung“ (Barthels 2020; online) von vornherein ins Auge fallen, so zeugt es von ihren Bemühungen, um eine arendtsche Formulierung zu übernehmen, „[s]ich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, ohne [s]ich ihr zu verschreiben, wie man sich früher dem Teufel verschrieb“ (Arendt 2019: 161). Dies gilt zunächst symptomatischen Einzelwörtern, die der Ich-Erzählerin intolerabel vorkommen und auf die sie dementsprechend mit voller Wucht reagiert, wie z. B. auf den Begriff „Migrationshintergrund“: „Benutzt du wieder dieses Wort? “ Ich versuchte möglichst ironisch zu klingen, aber es gelang mir nicht. Immer wenn ich dieses Wort las oder hörte, spürte ich, wie mir die Gallenflüssigkeit hochkam. Schlimmer wurde es lediglich beim Adjektiv postmi‐ grantisch. Vor allem hasste ich die damit zusammenhängenden Diskussionen […]. In diesen Gesprächen wurde nie etwas Neues gesagt, aber der Ton war belehrend und vehement. (Grjasnowa 2012: 12) 230 Emmanuelle Terrones 2 Siehe dazu Navid Kermanis Essay Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime: „ Nein, der Dialog der Kulturen ist genauso eine Karikatur wie jene Analysen, die die heutige Welt auf einen Zusammenprall verschiedener Zivilisationen reduzieren. Das Problem ist allerdings, dass sich solche Karikaturen in immer mehr Köpfen festsetzen und dann zu politischem oder gar militärischem Handeln führen“ (Kermani 2009: 127). Mascha wehrt sich gegen jegliche Kategorie und Zuschreibung - seien sie na‐ tional, religiös oder geschlechtlich - die nicht nur zu allgemein und vage sind, um einer vielfältigen Realität gerecht werden zu können, sondern auch Zeichen einer nicht enden wollenden Ausgrenzung, der kein auch so wohlmeinendes Gespräch und schon gar nicht ein Streit entgegenwirken können. 2 Mit solchen Klassifizierungen gehen auch immer wiederkehrende Kurzschlüsse scheinbar unvermeidlich einher, die der Erzählerin zuwider sind, wie etwa Jude sein würde zugleich die Zugehörigkeit zu Israel bedeuten. Dies setzt Maschas Kommilitone Daniel in seinen unbeholfenen Annäherungsversuchen einfach voraus und erntet dabei ihre indignierten Tiraden: Daniel, lass mich mit dem Scheiß in Ruhe. Was willst du überhaupt von mir? Ich lebe in Deutschland. Ich habe einen deutschen Pass. Ich bin nicht Israel. Ich lebe nicht dort. Ich wähle nicht dort, und ich habe auch keinen besonderen Draht zur israelischen Regierung. (Grjasnowa 2012: 63) Wenn Daniel dennoch weiterhin beim „Ihr“ bleibt, um Juden und Israelis zu bezeichnen - als ob überdies beide an sich homogene Entitäten darstellen würden -, so wird dadurch noch einmal darauf hingewiesen, wie festgefahren solche Gespräche sind. Von ähnlich erstarrten Meinungen zeugt ferner die Darstellung vom deutsch-jüdischen Verhältnis im Roman. Dass Auschwitz, kollektive Schuld und schlechtes Gewissen im studentischen Alltag heute noch eine Rolle spielen, wird hier nicht nur mehrfach veranschaulicht, sondern auch mit einem maßlosen Zynismus vonseiten der Erzählerin kommentiert. Als Daniel, das verkörperte Spottbild des Philosemiten, Maschas ehemaligen arabischen Freund beschimpft, kennt Maschas Wutausbruch keine Grenzen: Daraufhin hatte ich Daniel einen Zahn ausgeschlagen und wäre beinahe exmatriku‐ liert worden, wenn Daniel nicht die ganze Schuld auf sich genommen hätte. Die er selbstverständlich auch trug, und das nicht erst in der dritten Generation. Seit ihm ein Zahn fehlte, behandelte er mich als seinen persönlichen Teddyjuden. Mein einziger Makel war, dass ich nicht geradewegs aus einem Konzentrationslager kam. (Grjas‐ nowa 2012: 64) 231 „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“ 3 Siehe dazu den Aufsatz von Dan Diner: „Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz“ (Diner 1986: 11). So überzogen, ja karikaturartig die Wut und die damit zusammenhängenden Kommentare der Figur sein mögen, sie stehen beispielhaft für „die - an Intensität uneinholbare - Auseinandersetzung mit Deutschland, den Deutschen, deut‐ scher Kultur, deutscher Sprache, deutscher Geschichte und Gegenwart durch jüdische Autorinnen und Autoren“, wie sie Stephan Braese aus der Gegenwarts‐ literatur herausliest (Braese 2014: 282). Nicht von ungefähr erwähnt auch Nora Isterheld in ihrer Analyse von Grjasnowas Roman den auf Hannah Arendts Re‐ flexionen stark basierenden Begriff einer „negativen Symbiose“, 3 um das deutsch-jüdische Verhältnis nach 1945 zu bezeichnen (Isterheld 2017: 358). Durch Maschas Wut wird im Roman, wenn nicht explizit von einer solchen „negativen Symbiose“ gesprochen, so doch deutlich gemacht, dass im Hinblick auf das deutsch-jüdische Verhältnis immer noch nicht von einer Normalität die Rede sein kann. Andersrum richtet sich Maschas Zorn auch gegen eine in ihren Augen ge‐ täuschte, ergo inakzeptable Normalität in der deutschen Gesellschaft. So ent‐ larvt sie den falsch - weil allem Anschein zum Trotz durchaus frivol - verstan‐ denen Multikulturalismus eines ihrer Professoren: „Sein Multikulturalismus fand in Kongresshallen, Konferenzgebäuden und teuren Hotels statt. Integration war für ihn die Forderung nach weniger Kopftüchern und mehr Haut, die Suche nach einem exklusiven Wein oder einem ungewöhnlichen Reiseziel“ (Grjasnowa 2012: 33). Ihr Zorn gilt hier dennoch über die Lebensart und die Einstellungen des Akademikers hinaus vor allem seiner anmaßenden, sich selbst gegenüber unkritischen Art, mit verschiedenen ihm fremden Realitäten umzugehen: „Ich würde ihm auch nicht sagen, dass Menschen, die ohne fließendes Wasser leben, nicht zwangsläufig ungebildet sind, aber mein Professor war mein Professor und hatte Patenkinder in Afrika und in Indien“ (Grjasnowa 2012: 33). Maschas Em‐ pörung, und zwar selbst wenn sie mitunter unterdrückt bleibt und erst im Roman zum Ausdruck kommt, entspricht einer Tendenz in der Gegenwartsliteratur, wie Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein es wie folgt analysieren: Transnationale Perspektiven, wie sie aktuell in der Literatur wie auch in Literatur- und Kulturtheorie verhandelt werden, greifen nicht auf universalisierende Konzepte einer idealen menschlichen Kultur zurück, in der Grenzen mit der Überschreitung getilgt und Unterschiede im großen Ganzen aufgehoben wären. Vielmehr nehmen sie ausgehend von dem Befund, dass es zunehmend Lebens- und Schreibentwürfe gibt, die sich zwischen nationalkulturellen Erzählungen verorten und die keiner einzigen Herkunft und Orientierung zuzurechnen sind, jene Brüche und Ausgrenzungen in den 232 Emmanuelle Terrones Blick, die durch die homogenisierenden Impulse des nationalen Dispositivs erzeugt werden. (Bischoff, Komfort-Hein 2012: 263) Zu Recht betont Johann Holzner in dem Sinne Maschas Drang, sich immer sofort empören zu müssen: „Ist es doch eines ihrer Hauptanliegen, Ambivalenzen nicht niederzubügeln, sondern sichtbar zu machen“ (Holzner 2020: 121). So gesteigert ihr Realitätsbewusstsein, so scharf und enthüllend ihr Blick dabei auch er‐ scheinen mag, so zieht ein solch systematisches Aufbegehren allerdings unver‐ meidliche Widersprüche mit sich, was die einmal wieder über ein Gespräch zur politischen Situation in Israel entrüstete Ich-Erzählerin selber zur Kenntnis nimmt: „Ich hatte das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, was ich unter andern Umständen kritisieren würde“ (Grjasnowa 2012: 59). Sie selbst, so ist anzu‐ nehmen, erhebt Zweifel an dem eigentlichen Sinn ihrer ständig genährten Wut. Zwischen Ohnmacht und entfesselten Kräften In ihrem Werk Über die Revolution betont Hannah Arendt einen inhärenten Wi‐ derspruch der Wut: „Denn Wut ist nicht nur ihrem Wesen nach ohnmächtig, sie ist auch die Art und Weise, in der sich die Ohnmacht aus der ihr innewohnenden Verzweiflung schließlich herausstürzt und aktiv wird“ (Arendt 1965: 141). Ohn‐ mächtig ist Maschas Wut unzweifelhaft in vielfacher Hinsicht. Dies erkennt zunächst einmal gewissermaßen die Figur selbst, wenn sich ihre Empörung gegen alles richtet und dadurch letztendlich ungezielt und machtlos wirkt: „Ich war wütend, auf Elias, auf mich und auf die ganze Welt“ (Grjasnowa 2012: 30). Nicht selten muss Mascha außerdem die Erfahrung der stillen Wut machen, die zugleich Ausdruck und Folge der Ohnmacht ist. Bei der Sprechstunde ihres oben schon erwähnten Professors muss sie seine klischeehaften Vorstellungen über ihre Heimat, ihre Sprachkompetenzen und ihre Ausbildung über sich ergehen lassen, da jegliche aufklärende Diskussion nicht nur genauso sinnwie ergeb‐ nislos, sondern auch in dem Moment für die Figur nicht einmal vorstellbar wäre. Davon zeugen an dieser Stelle u. a. die vielen aneinandergereihten Sätze, die mit leichten Varianten von „und ich würde ihm nicht sagen“ beginnen (Grjasnowa 2012: 33). Die Unmöglichkeit, zu Wort zu kommen und dadurch ihrer Empörung freien Lauf zu lassen, ist hier deutlich sozial und hierarchisch bedingt. Doch selbst wenn die Protagonistin angeblich aus freier Entscheidung ihren Wutaus‐ bruch halbwegs zu beherrschen versucht, wie z. B. nach den an sie gerichteten sexistischen Kommentaren eines Bibliothekars - „Ich wollte den schweren Stapel Kunstmonografien auf seine Finger fallen lassen, doch er zog seine Hände rechtzeitig weg. Dann überlegte ich mir, ihn anzuspucken, aber das kam mir zu theatralisch vor. Ich war so wütend, dass ich zur Uni lief “ (Grjasnowa 2012: 233 „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“ 4 Nicht ohne Zynismus gibt sie dem Kommentar des Bibliothekars eine theoretische Grundlage und rechtfertigt damit, warum das Wehren vergeblich wäre: „Wahrschein‐ lich hatte er den eigenen Sexismus dekonstruiert und dachte, er könne sich nun alles erlauben“ (Grjasnowa 2012: 31 sq.). 32) -, so kommt durch den mehrfachen Verzicht auf eine demonstrative Geste der Empörung wieder nur Maschas absolute Hilflosigkeit und Überforderung 4 zum Ausdruck, was die anschließende Flucht nur noch verstärkt. Die im Roman oft mit Flucht kombinierte Empörung wird ganz besonders dann ausgelöst, wenn Mascha an das Trauma ihrer vom Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien geprägten Kindheit erinnert oder diesbezüglich zur Rede gestellt wird. Von ihrem deutschen Freund gefragt, warum sie „1996 ausgewandert ist, als es nicht mehr sein musste“ (Grjasnowa 2012: 42), kann Mascha das kaum entstandene Gespräch nur wütend abbrechen: „,Dann komm mir nicht mit so einer Scheiße.‘ Ich rannte hinaus und schmiss die Tür mit einem lauten Knall zu“ (Grjasnowa 2012: 42). Maschas Wut als Ausdruck ihres Leidens an der Welt - Hauptanliegen ihres Schreibens war laut Olga Grjasnowa zu „er‐ zählen, was der Krieg mit Menschen macht und dass die Wunden niemals heilen“ (Grjasnowa 2015: 87) - kann sich nur als machtlos erweisen. Dies unterstreicht Axel Dunker wie folgt: Der Holocaust, von dem die Großelterngeneration der Ich-Erzählerin betroffen ist, der Bürgerkrieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach wie der blu‐ tige Konflikt zwischen Israel und Palästinensern hat zu Traumatisierungen auf allen Seiten geführt, was in der Motivik des Romans zusammengeführt wird, aber keine Kommunikation über geteilte ähnliche Erfahrungen ermöglicht, sondern in eine Si‐ tuation ohne Ausweg führt. (Dunker 2019: 48) Demgemäß spiegelt die Wut die allgemeine Ausweglosigkeit der Situation wider, in der sich Mascha befindet. Allzu oft in Olga Grjasnowas Roman scheint es eben keine Alternative zur Wut zu geben, und gerade dann stellt sie sich als wirkungslos heraus, was die Ich-Erzählerin womöglich am besten wahrnimmt, wenn sie selber zum Wutobjekt gemacht wird. Um nur ein Beispiel anzuführen, wird einmal Mascha in Palästina von einer Palästinenserin angeprangert, die sie gerade erst auf einer Hochzeit zufällig kennengelernt hat: „Ich verstehe euch nicht! Ihr [Deutschen] kommt als Freiwillige hierher und denkt, dass ihr euch hier so benehmen könnt, wie ihr wollt, nur weil ihr so nett seid. So fürchterlich nett. Ihr interessiert euch doch einen Scheißdreck für uns […]“ (Grjasnowa 2012: 279). Auch da eine ohnmächtige Wut also, die obwohl äußerst politisch nur privat ausgetragen wird und dementsprechend - abgesehen von Maschas un‐ 234 Emmanuelle Terrones gewöhnlicher Fassungslosigkeit, als sie plötzlich als Vertreterin aller Deutschen in Palästina fungieren soll - völlig ineffektiv bleiben muss. Nichtsdestotrotz, um Hannah Arendts Reflexionen zum Paradox der Wut wieder aufzugreifen, „bleibt doch bestehen, dass Leiden, wenn es erst einmal in Wut gerät, überwältigende Kräfte entfesseln kann“ (Arendt 1965: 142). In diesem Sinne bedient sich Olga Grjasnowa in ihrem Roman des Öfteren der Rhetorik von Täter und Opfer. Weil beispielsweise Mascha in der elften Klasse die aus‐ länderfeindlichen Argumente einer an Haarausfall leidenden Deutschlehrerin nicht mehr ertragen kann, demütigt sie sie, indem sie ihr die Perücke vom Kopf reißt, dann heißt es: „Sie tat mir sogar leid, denn sie war genauso ein Opfer wie ich, aber im Gegensatz zu ihr, hatte ich beschlossen, mich zu wehren“ (Grjas‐ nowa 2012: 40). Ihre Empörung - nun als Verteidigungsmittel verstanden - führt sie aus ihrer Opferrolle heraus und macht sie zur Täterin. Über das schlechte Gewissen hinaus hängt hier mit der Wut vor allem das Bewusstsein deutlich zusammen, einer ungerechten Situation ein Ende setzen zu wollen. Wut kann dementsprechend aus einem von außen auferlegten Passivitätszustand hinaus zum Handeln bringen, wie es Stephanie Catani aus dem Verhalten der Figuren im Roman herausliest: „Bei Cem [einem türkischen Freund Maschas] führt die als Kind erfahrene Exklusion und Stigmatisierung, ähnlich wie bei Mascha, zu einer Trotzhaltung und dem Gefühl, es den ,Anderen‘ beweisen zu müssen“ (Catani 2015: 103). Die empfundene Notwendigkeit, gegen überkommene Vor‐ stellungen Widerstand zu leisten und somit den Umständen zu trotzen, nährt sich unverkennbar von der Wut. So muss sich Cem nach einem Verkehrsunfall, der ihn dem Rassismus des angefahrenen Autofahrers ausgesetzt hat, im Nach‐ hinein für seine empörte Reaktion rechtfertigen: „Ich habe keine Probleme mit meiner nationalen Identität. Komm mir nicht mit dem Scheiß. Nationale Iden‐ tität. Ich gehe vor Gericht, ich habe ihn angezeigt. Steck dir deine Nation also sonst wohin. Ich brauche einen Anwalt und keine Kulturtheorie. Ach, Scheiße“ (Grjasnowa 2012: 157). Der Zorn, so derb er sich auch auszudrücken vermag, rüttelt in dem Fall nicht nur an erstarrten Begriffen wie „Nation“ und „nationale Identität“, er setzt vielmehr die Figuren in Bewegung. Indem eben dieser Zorn ihnen offenbar die nötige Kraft verleiht, gegen Unrecht zu rebellieren, und ihnen zugleich das Gefühl vermittelt, ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und die Verhältnisse ändern zu können, nimmt er seine politische Dimension an. Polemisches / politisches Denken? In Bezug auf den Lessingschen Zorn betont Hannah Arendt den Willen, „sich mit der Welt zu versöhnen, in ihr einen Platz zu finden, aber lachend-ironisch, 235 „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“ 5 Auf die Frage, wie wichtig es in der Realität sei, sich zu wehren und welche Rolle Ironie dabei spielen würde, antwortet Olga Grjasnowa: „Ironie ist durchaus eine Strategie sich zu wehren. Je nachdem, wann wehren überhaupt noch etwas bringt“ (Baude 2012: on‐ line). 6 Interessant ist aber auch Cems Antwort auf Maschas nicht weiterbringende Ironie: „Ich spreche nicht von Deutschland, was da los ist, das weißt du ja selbst. Ich meine Frank‐ furt, Gallus“ (Grjasnowa 2012: 223). Diesmal wird Deutschland nicht als Abstraktes in Betracht gezogen, sondern ganz konkret als Ort, an dem auch sie einen Platz hat und handeln kann. ohne sich ihr zu verschreiben“ (Arendt 1989: 15). Dass Mascha ihren Platz in der Welt noch sucht, zeigt nicht zuletzt die Ironie, die als Begleiterscheinung der Empörung unverkennbar zu den treibenden Kräften des Romans gehört, und mit der sie versucht, sich über die Verhältnisse hinwegzusetzen 5 und mit der eigenen Situation in Deutschland klarzukommen. Wenn die Ich-Erzählerin z. B. wie beiläufig betont, dass sie und ihr türkischer Freund Cem miteinander Deutsch sprechen, „wie zwei perfekt integrierte Vorzeigeausländer“, so stellt es natürlich nur ein oberflächliches, mithin falsches Bild dar, gehen doch die beiden sprachbegabten Gesprächspartner nicht nur mit der deutschen Sprache perfekt um, sondern auch mit den Ähnlichkeiten zwischen Aserbaidschanisch und Tür‐ kisch und deren jeweiligen archaischen Varianten (Grjasnowa 2012: 57). Die Selbstironie denunziert hier die nationalen und sozialen Mechanismen, die im Namen der Integration den intellektuellen Reichtum der Personen verleugnen, sowie die Geschwindigkeit, mit der die Betroffenen eine solche Gewalt verin‐ nerlichen. Sie entlarvt aber hauptsächlich ein generelles Unrecht, nämlich den Angriff auf die Pluralität der Menschen - so wie Hannah Arendt sie verstand, nämlich als „Gleichheit und Verschiedenheit“ (Arendt 1967: 213) - und mit ihm die mangelnde Anerkennung, die es schwermacht, in der Aufnahmegesellschaft Fuß zu fassen. So lässt sich ebenfalls der ironische Ton Maschas verstehen, als sie einmal in Israel von Cem aufgefordert wird, nach Hause zu kommen: „Deutschland? Zu Hause? “ (Grjasnowa 2012: 223). Ähnliche Fragen werden in den zahlreichen Romanen und Essays, die sich namentlich nach der soge‐ nannten Flüchtlingswelle 2015 mit dem Thema Flüchtlinge auseinandersetzen, verschiedentlich beantwortet und besprochen. Nora Isterheld spricht in Ma‐ schas besonderem Fall zu Recht von derer sowohl politisch als auch individuell bedingten „existentielle[n] Unbehaustheit“ (Isterheld 2017: 355) 6 . Eins hindert die Figur daran, ihr Recht auf einen Platz in der Welt zu bean‐ spruchen, und zwar die von ihr empfundene Unmöglichkeit, diese Welt zu ver‐ stehen. In einem Essay mit dem Titel „Verstehen und Politik“ definiert Hannah Arendt den Begriff des „Verstehens“ wie folgt: „eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen 236 Emmanuelle Terrones und uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein“ (Arendt 1994: 110). Maschas Nicht-Verstehen kommt im Roman wiederholt durch ihre kritischen, ja sogar polemischen Aussagen zum Vor‐ schein, wie beispielsweise als sie nach dem Besuch der Gedenkstätte Yed Vashem ihrer israelischen Tante zu erklären versucht, warum das Nicht-ver‐ gessen-dürfen nicht genug ist: „Selbst die fanatischsten Siedler gedenken des Holocaust“ (Grjasnowa 2012: 193). An der Lust zum polemischen Ton liegt ge‐ nerell das kritische Potential des Romans. Später heißt es im Hinblick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt auch besonders provokativ: „Die deut‐ schen Lager waren keine moralischen Besserungsanstalten“ (Grjasnowa 2012: 251). Dass sich Geschichte in all ihrer Gewalt wiederholt und die Menschen auch nicht vom Schlimmsten lernen, kehrt im Roman mehrmals explizit wieder, ent‐ spricht es doch der Auffassung der Schriftstellerin: Egal wo sie [Mascha] hinkommt, die Strukturen ähneln sich. Egal ob Kaukasus oder Palästina. […] Das beschäftigt mich persönlich auch sehr, diese Strukturen, die dazu führen, dass man jemanden als anders und fremd wahrnimmt und sich daraus dann sehr schnell gesellschaftliche Konsequenzen entwickeln. Das ist etwas, was ich immer noch nicht ganz verstehe und was mich antreibt. (Baude 2012: online) Wenn im Roman des Öfteren die „Strategie ,Enttabuisierung durch Provoka‐ tion‘“ angewandt wird (Catani 2015: 105), gehören die mal (selbst-)ironischen, mal provokativen, mal zynischen Aussagen der Ich-Erzählerin zu ihrer ver‐ zweifelten Suche nach einem Platz in der Welt, mithin nach einer Art, eben in dieser Welt handeln zu können. Charakteristischerweise drückt es Mascha wieder nicht anders aus als durch ihre Wut, wie z. B. in einem Gespräch mit Daniel: „es machte mich wütend, dass er einen festen Standpunkt hatte und ich nur Zweifel“ (Grjasnowa 2012: 63). Weil die Realität ihr keinen festen Halt bietet, stellt sie sich ihr mit ihren Zwei‐ feln und Widersprüchen und bleibt dabei in einer Dynamik, die zahlreichen ins Stocken geratenen Vorstellungen entgegenzuwirken versucht. Es geht letztend‐ lich um nichts anderes als um das Vitale der Kontroverse, des Konfliktes, ja der Polemik als eines kritischen Austauschs von Gedanken, nur so kann Mascha in einer so ambivalenten Welt und Epoche zurechtkommen, die sie, um Nora Is‐ terhelds Formulierung zu übernehmen „auf ungewohntes Terrain [führen], auf dem sich neue Hürden und Abgrenzungen auftun“ (Isterheld 2017: 356). Des‐ wegen fordert der „polemische“ Ton, als Lust zur kritischen Auseinanderset‐ zung, nicht nur zur permanenten Infragestellung der Realität, sondern auch zum (kontroversen) Austausch auf. Mehrere Streitgespräche werden dementspre‐ chend im Roman in der direkten Rede geführt, d. h. also als unmittelbare Ver‐ 237 „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“ anschaulichung jener Dynamik, und dies mit mehr oder weniger Erfolg. Als beispielsweise in Israel ein Gespräch zwischen den mit Mascha befreundeten Geschwistern Ori und Tal wieder türenknallend abgebrochen wird, heißt es auch: „Können wir nicht mal ein einziges Gespräch führen, bei dem wir nicht gleich den ganzen Zionismus und die Geschichte Israels verhandeln müssen? “ (Grjasnowa 2012: 190). Denn wie schwer es ist, zu einem Gedankenaustausch, ja zu einem wahren Dialog zu kommen, zeigt wiederum die Wut, die zugleich die dringende Notwendigkeit des Austauschs wie auch allzu oft seine Grenzen, wenn nicht seine Unmöglichkeit verdeutlicht. Schlussbemerkungen Politisch ist Maschas Empörung, insofern als sie in ihren Augen vorerst die Möglichkeit darstellt, sich mit ihrer Epoche und deren Missständen auseinan‐ derzusetzen, um sich u. a. als Frau, als Aserbaidschanerin, als Jüdin, als ehema‐ liger Kontingentflüchtling behaupten zu können. Dass ihre von mehreren Traumata sowie gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verursachte Wut aber allzu oft still und unterdrückt oder nur begrenzt wirksam bleiben soll, beeinträchtigt die Figur darin, ihr Recht für sich in Anspruch zu nehmen, einen Platz in der Welt zu finden. In der Ironie, in der Widerrede sowie in der Lust zur Kontroverse versucht sie die Dynamik zu schöpfen, die sie zur Akteurin ihrer eigenen Existenz machen kann. „Handelnd und sprechend offenbaren die Men‐ schen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres We‐ sens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt“, schreibt Hannah Arendt in Vita activa (Arendt 1967: 219). Maschas nicht enden wollende Wut, die ihr weder die Stabilität gewährt, die sie zu einem konstruktiven Handeln und Sprechen ver‐ helfen könnte, noch die erhoffte Änderung der Umstände bringt, ist vielmehr das Zeichen dafür - wie außerdem auch das verzweifelte Ende des Romans in einem Nirgendwo, d. h. ausgerechnet außerhalb von der Welt -, dass für sie der Weg zur „Bühne der Welt“, sowie für die Gesellschaft hier und dort der Weg zu einer im arendtschen Sinne „gemeinsamen Welt“, noch lang ist (Arendt 1967: 73). Bibliografie Arendt, Hannah, „Zueignung an Karl Jaspers“, in: Marie Luise Knott / Ursula Ludz (ed.), Hannah Arendt. Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966, München, Piper, 2019, 160-164. Arendt, Hannah, „Verstehen und Politik“, in: Ursula Ludz (ed.), Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München, Piper, [1994] 2016, 110-127. 238 Emmanuelle Terrones Arendt, Hannah, „Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, in: Ursula Ludz (ed.), Hannah Arendt. Menschen in finsteren Zeiten, München, Piper, [1989] 2017, 11-45. Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München und Berlin, Piper, [1967] 2016. Arendt, Hannah, Über die Revolution, München und Berlin, Piper, [1965] 2016. Baude, Sonja, „Olga Grjasnowa. Der Russe ist einer, der Birken liebt“, in: Aviva-Berlin, 11. 05. 2012, https: / / www.aviva-berlin.de/ aviva/ content_Gewinnspiele.php? id=14114 1 [eingesehen am 3. 11. 2020]. Bischoff, Doerte / Komfort-Hein, Susanne, „Vom anderen Deutschland zur Transnatio‐ nalität“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 30, 2012, 242-273. Braese, Stephan, „Auf dem Rothschild-Boulevard. Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt und die deutsch-jüdische Literatur“, in: Gegenwartsliteratur, 13, 2014, 275-297. Catani, Stephanie, „Im Niemandsland. Figuren und Formen der Entgrenzungen in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt“, in: Stephanie Catani / Fried‐ helm Marx (ed.), Über Grenzen. 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Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Göttingen, Wallstein Verlag, 2015, 87-94. Holzner, Johann, „Die gefesselten Phantasien der Grenzgänger“, in: Gudrun Heide‐ mann / Joanna Jabłkowska / Elżbieta Tomasi-Kapral (ed.), #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden, Berlin, Peter Lang, 2020, 111-126. Isterheld, Nora, „In der Zugluft Europas“. Zur deutschsprachigen Literatur russischs‐ tämmiger AutorInnen, Bamberg, University of Bamberg Press, 2017. Kermani, Navid, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, München, Beck, 2009. 239 „Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“ Wulff, Matthias, „wütend, ruppig, verletzt“, in: Die Welt, 08. 02. 2012, https: / / www.welt.d e/ print/ welt_kompakt/ vermischtes/ article13856300/ Wuetend-ruppig-verletzt.html [eingesehen am 3. 11. 2020]. 240 Emmanuelle Terrones 1 Vgl. dazu Hauschild / Werner 1997, 526. 2 Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke, hg. v. Manfred Wind‐ fuhr [u. a.], 16 Bde., Hamburg: Hoffmann und Campe 1975-1997 (= Düsseldorfer Heine Ausgabe), Bd. 2, S. 224. Im Folgenden zitiert mit der Sigle «DHA». „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ Empörung und Revolte in Heinrich Heines Zeitgedichten Leslie Brückner (CEGIL, Université de Lorraine) Abstract Der Artikel untersucht die Emotionen des Zorns und der revolutionären Em‐ pörung in Heinrich Heines politischer Lyrik der 1840er Jahre. In „Die schle‐ sischen Weber“ gestaltet Heine den revolutionären Zorn der Unterdrückten. In den „Zeitgedichten" und „Deutschland. Ein Wintermärchen“ verleiht er seinem Zorn gegen die Restaurationsordnung in Gewaltphantasien gegen den Reichsadler, in der Liktor-Szene und durch die Donnermetaphorik eine literarische Form. Die Jahre um 1844, der Vormärz im engeren Sinne, sind eine Schaffensphase, in der sich Heine besonders stark als politischer Dichter engagierte. 1 Für die Frage nach den Emotionen Zorn und Empörung ist interessant, dass Heine 1838 als Titel für den späteren Zyklus „Zeitgedichte“ zuerst „Buch des Unmuts“ erwogen hatte 2 (vgl. DHA , Bd. 2, 224 sq.). Dieser aus dem West-östlichem Divan übernom‐ mene Titel bezieht sich bei Goethe im Anschluss an Hafiz auf die Auseinander‐ setzungen des Dichters mit zeitgenössischen Kritikern. Bei Heine verweist er aber auch auf den Unmut in politischer Hinsicht - die Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen im Deutschland der Restauration. Darin zeigt sich, dass die Emotion der (revolutionären) Empörung über die politischen Zustände für Heine in den 1840er Jahren eine Triebfeder seines Schreibens war. 3 Der dreifache Fluch auf Gott, König und Vaterland parodiert den preußischen Schlachtruf von 1813 „Mit Gott für König und Vaterland“. Wie gestaltet Heine die Emotionen des Zorns und der revolutionären Empö‐ rung in seiner Vormärzlyrik? In welchem Verhältnis stehen dabei der revoluti‐ onäre Zorn, das „Donnern“, und die Kunst der feinen ironischen Pointe, das „Blitzen“? Anhand dieser Leitfragen möchte ich den Zyklus „Zeitgedichte“ sowie Deutschland. Ein Wintermärchen näher betrachten. Beide Gedichtzyklen wurden 1844 in dem Band „Neue Gedichte“ erstmals gedruckt. Während die „Zeitge‐ dichte“ den Bezug zum Zeitgeschehen programmatisch im Titel tragen, ist Deutschland. Ein Wintermärchen ein satirischer Angriff auf die politischen Zu‐ stände im Deutschland der Restaurationsepoche. Für die Analyse der Emotionen in diesen Texten wird zuerst Heines berühmtem Vormärzgedicht „Die schlesi‐ schen Weber“, dann zwei Gewaltphantasien gegen die Restauration in Deutsch‐ land. Ein Wintermärchen und „Zeitgedichte“ betrachtet. Schließlich wird anhand der Metaphorik von Blitz und Donner Heines Selbstverständnis als politischer Dichter in den 1840er Jahren dargestellt. 1 Der verbissene Zorn der Ausgebeuteten In „Die schlesischen Weber“ gestaltet Heine höchst eindrücklich den verbis‐ senen Zorn der Ausgebeuteten gegen ihre Unterdrücker. Das Gedicht beginnt im ersten Vers mit einer fehlenden Emotion: „Im düstern Auge keine Träne“ - die erdrückenden politisch-sozialen Zustände führen nicht zu Selbstmitleid. Vielleicht können die Weber nicht mehr weinen, weil ihr „Elend“ (V. 12) zu hart ist. Stattdessen reagieren sie mit gefletschten Zähnen (V. 2): mit animalischem Zorn gegen jenen König, der sie in diese entmenschlichte Situation zwingt und die Aufständischen „wie Hunde“ (V. 14) niederschießen lässt. Der von Heine im Anschluss an frühkommunistisches Gedankengut gestaltete Zorn der schlesi‐ schen Weber gegen den preußischen Staat hat mit der Wut der Sklaven des 18. Jahrhunderts, die Martine Boyer-Weinmann im Artikel „colère“ des „Dicti‐ onnaire Arts et émotions“ darstellt, einiges gemein. Die nackte Wut auf ihre Ausbeuter ist das Einzige, was den Sklaven bleibt. Dieser Zorn wird zu einer Kraft, die sie am Leben hält und die schließlich im politischen Sinne wirksam wir, indem sie sich in einer Revolte entlädt (Boyer-Weinmann 2015: 75). Heine gestaltet die revolutionäre Drohgebärde, die von der Wut der Unterdrückten ausgeht, in jenem dreifachen Fluch gegen den preußischen Staat, den seine Weber in ihre Leintücher einweben. 3 In der zweiten Fassung des Weberliedes von 1846 verweist außerdem das Krachen des Webstuhls (V. 21) auf die anste‐ 242 Leslie Brückner 4 Die Drucklegung der „Neuen Gedichte“ mit dem Zyklus „Zeitgedichte“ erfolgte im März 1844, die Weberaufstände im schlesischen Riesengebirge spitzten sich im Juni 1844 zu (Niederschlagung durch das preußische Militär am 6. 6. 1844). Allerdings hat Heine das Gedicht auch in spätere Werkausgaben nicht aufgenommen. hende Revolte, in der die Wut der Arbeiter das ausbeuterische System sprengen wird. Die in „Die schlesischen Weber“ gestaltete Emotion des Zorns hat eine deut‐ liche Appellfunktion an den Leser: im Gegensatz zum preußischen König, der sich vom Elend der Weber nicht „erweichen“ (V. 12) lässt, soll der Leser die un‐ geweinte Träne des Mitleids vergießen oder - noch besser - den Zorn der Weber zu seinem eigenen machen und sich für die Veränderung der Umstände enga‐ gieren. Der literarisch gestaltete Zorn der Weber hat also eine revolutionär-kom‐ munistische Wirkungsabsicht. Seine agitatorische Wirkmacht entfaltete das Gedicht durch die einprägsame, künstlich einfache Liedform, die „einhäm‐ mernde Funktion des Refrains“ (Stauf 1995: 144). Das Weberlied entstand nach der Drucklegung des Bandes „Neue Gedichte“, es ist daher nicht Teil des Zyklus „Zeitgedichte“. 4 Heine publizierte es aber im Juli 1844 in der von Karl Marx herausgegebenen Pariser Zeitschrift „Vorwärts“ - in der ersten vierstrophigen Fassung. Schon der Ort der Publikation macht deutlich, dass es sich um ein genuines politisches Kampflied im Sinne des früh‐ kommunistischen Gedankenguts handelt (Stauf 1995: 144 und Hau‐ schild / Werner 2002: 105). Heine beteiligt sich mit diesem Gedicht an der pub‐ lizistischen Debatte um den Weberaufstand, und das sehr erfolgreich: sein Weberlied wurde „Teil einer für preußische Verhältnisse weit ausgreifenden li‐ terarischen Revolte in Presse und literarischem Untergrund“ (Briegleb 2005, Bd. 4: 970). Es wurde als Flugblatt verbreitet und in den preußischen Arbeiter‐ vereinen „hundertfach gelesen und gesungen“ (vgl. DHA II : 817). So entfaltete Heines Darstellung des Zorns der Ausgebeuteten im „Weberlied“ bei den Zeit‐ genossen und bis heute in der Schullektüre seine politische Wirkung. Gleich‐ zeitig ist es ein für Heines Werk untypischer Text, da hier im Gegensatz zu vielen anderen Zeitgedichten die ironische Brechung des agitatorischen Impetus fehlt. Heine hat die Drohung an die Oberschicht, die von den hungrigen Ausge‐ beuteten ausgeht, übrigens in dem Nachlassgedicht „Die Wanderratten“ noch einmal gestaltet, wobei dort nicht der Zorn, sondern der Hunger im Zentrum steht und die Ratten im Gegensatz zu den Webern auch keine Sympathieträger sind. Wie Dolf Oehler treffend bemerkt wählte Heine für dieses „Nachmärzge‐ dicht“ keine agitatorische Form mehr und vermied durch die ironische Brechung eine eindeutige politische Positionierung (Oehler 1995: 242). 243 „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ 5 „Meine Gedichte, die neuen, sind ein ganz neues Genre, versifizirte Reisebilder, und werden eine höhere Politik athmen als die bekannten politischen Stänkerreime“ (Heine an Campe, über das Manuskript zu „Deutschland. Ein Wintermärchen“, 20. Feb. 1844, HSA 22, 96 (Brief 992) 6 Die Verse aus „Deutschland. Ein Wintermärchen“ werden wie folgt zitiert: Nummer des Caput in römischen Ziffern, Verszahl in arabischen Ziffern. 2 Gewaltphantasien gegen die Restauration in Deutschland. Ein Wintermärchen Sowohl in Deutschland. Ein Wintermärchen als auch im Zyklus „Zeitgedichte“ gibt es Textstellen, an denen Heine seiner Empörung, seiner Wut, ja seinem Hass auf die Restaurationsregime in den deutschen Staaten Ausdruck verleiht. Im Wintermärchen finden die Emotionen des revolutionären Zorns und der Empö‐ rung ihren Ausdruck in mehreren literarischen Gewaltphantasien gegen Preußen und das Österreich Metternichs. Heine gestaltet auch hier den Zorn des unterdrückten Individuums gegen seine Unterdrücker. Hier sind es aber nicht die verelendeten Arbeiter, sondern es ist der in seiner Freiheit einge‐ schränkte Dichter, der - verkörpert in der Erzählerfigur des Wintermärchens - seinem Zorn eine literarische Form gibt. Die fehlende Meinungsfreiheit, die li‐ terarische Zensur in den deutschen Staaten, ist ein zentrales Thema des Win‐ termärchens. Das Zensurmotiv wird in Caput II ironisch eingeführt („die geis‐ tige Einheit gibt uns die Zensur“) und gipfelt in Caput XXVI schließlich in der Kastration des träumenden Dichters durch die Zensorschere. Die staatliche Re‐ pression seiner Reisefreiheit, die Verbote seiner Werke in Preußen und die Ge‐ fahr für Leib und Leben, die Heine über zwölf Jahre in Paris im Exil festgehalten hatten, werden in seinem „versificiertem Reisebild“ 5 hingegen nicht direkt the‐ matisiert. In Caput III des Wintermärchens inszeniert Heine eine Begegnung zwischen dem Dichter-Ich und dem Reichsadler. Angeregt wird die Szene durch den Adler auf dem Wappenschild der Poststation in Aachen. Der Reichsadler, der schon seit dem Mittelalter auf dem Aachener Stadtwappen figuriert, ist für Heine ein Symbol der Restaurationsregime Preußens und Österreichs. Daher ist er dem Dichter „tief verhaßt“ ( III , 65) und als figura etymologica gleichzeitig „häßlich“ ( III , 65). 6 Der Adler sieht von oben, aus der überlegenen Perspektive der Staats‐ macht, auf den reisenden Dichter „nieder“. Der Dichter wendet sich in einer Apostrophe an den Adler und droht ihm. Von der Anrede „Du“ war am Anfang des Caput III schon einmal die Rede - es ging um das vermeintlich „trauliche[…] Du“ ( III , 31) im preußischen Militär, das doch eine stark hierarchische Struktur 244 Leslie Brückner nur verschleiere. Hier in der Anrede an den Adler ist das „Du“ ein Zeichen dafür, dass der Dichter die Autorität der Staatsmacht nicht achten will. Die Begegnung wird zu einer literarischen Gewaltphantasie gegen das Wap‐ pentier der Restauration: „Du häßlicher Vogel, wirst du einst / mir in die Hände fallen / So rupfe ich dir die Federn aus / und hacke dir ab die Krallen“ (V. 65-68). So viel Brutalität und rohe Gewalt überrascht bei Heine. Gleichzeitig liegt in der literarischen Drohgebärde die ganze Machtlosigkeit des Dichters. Er, der ‚von oben’ auf seiner Reise ständig bewacht und beobachtet wird, kann gegen die Staatsgewalt der Unterdrücker nicht tun, als das stumme Wappentier zu be‐ schimpfen. Auf die individuelle Drohung folgt die Phantasie eines kollektiven Gewaltakts: Als Verstärkung will der Dichter die „rheinischen Vogelschützen“ ( III . 72) zum Preisschießen herbeirufen und den Mann, der den „Vogel herun‐ terschießt“ ( III . 74) zum König krönen. Natürlich liegt in dieser Vision vom Meisterschuss eine Anspielung auf Wilhelm Tell, ebenfalls ein Unterdrückter, der heldenhaft gegen die ungerechte Staatsgewalt Geßlers aufbegehrte. Eine ähnliche Zukunftsvision vom revolutionären Meisterschuss auf den Adler hat Heine auch im Zeitgedicht XIV „Das Kind“ gestaltet. „Das Kind“ war bereits zwei Jahre vor der Publikation des Wintermärchens, im Januar 1842, in der „Zeitung für die elegante Welt“ erschienen (Vgl. DHA II , Kommentar zu „Das Kind“) Heine inszeniert auch hier die Zukunftsvision eines Revolutions‐ helden, der Deutschland vom Joch des Restaurationsregimes befreien werde. Die Heldenfigur stilisiert er durch zwei mythologische Bezüge: Einerseits wird das Kind, das die Jungfrau Germania gebären soll, in Anspielung auf die jungfräu‐ liche Geburt Jesu als weltlicher Heiland dargestellt, was in Bezug zu Saint-si‐ monistischen Heilsvisionen steht (Briegleb 2005, Bd. 4: 958). Mit den Anspie‐ lungen auf den kindlichen Schützen Amor ruft Heine andererseits die antiken Helden auf. Wie Amor soll das Kind „ein hübscher Schütze“ werden: „Trifft einst in höchster Luft den Aar, / und flög er noch so stolz / den doppelköpfigen sogar / erreicht sein guter Bolz“ (V. 9-12). Hier ist es also der Doppeladler des habsburgischen Wappens, gegen den sich der Schuss richtet. In dem prominent in einem eigenen Vers platzierten Adjektiv „doppelköpfig“ liegt, in Anlehnung an das Adjektiv „doppelzüngig“, etwas Abwertendes. In „Das Kind“ ist die Szene vom Meisterschuss allerdings keine Gewaltphantasie, sondern sie erscheint, vor allem durch den mythologischen Bezug auf den kindlichen Amor, verspielt und ironisch. Aber auch in den Zeitgedichten gibt es verbale Gewalt, und zwar in dem Gedicht „Der Wechselbalg“ (Nr. XVI ), das auf „Das Kind“ (Nr. XIV ) folgt. Die beiden Gedichte sind nur durch ein Gedicht („Verheißung“) getrennt. Die beiden gegensätzlichen Kinderfiguren, der kindliche Meisterschütze und der hässliche 245 „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ 7 „Dieser Text des Hasses gegen Preußen wurde mit Empörung quittiert, er hat heiligste Gefühle verletzt“ (Briegleb 2005, Bd. 4, S. 958). 8 Hier kann man eine Parallele zu Heines Polemiken gegen August Graf von Platen und gegen Ludwig Börne sehen: als Polemiker ad personam schoss Heine zum Teil weit über die Grenzen des Anstands hinaus. Zu Heine als Polemiker vgl. Windfuhr 1999. Auch die „Lobgesänge auf König Ludwig“, eine Polemik gegen den bayrischen König, der Heine politisch viele Probleme eintrug, wären im Kontext der „Grenzüberschreitungen’ bei Heine näher zu betrachten. Wechselbalg stehen also in enger Beziehung. „Der Wechselbalg“ ist eine äußerst scharfe, haßerfüllte Polemik gegen Friedrich Wilhelm IV von Preußen. Der König wird als „Mißgeburt“ (V. 8) diffamiert und mit Sodomie in Verbindung gebracht. Schließlich fordert das lyrische Ich im Schlussvers die Bevölkerung zum brutalen Mord an dem Kind auf „Ihr sollt es ersäufen oder verbrennen.“ (V. 12) So viel Hass und verbale Gewalt verstörten schon die Zeitgenossen 7 . Der im Gedicht formulierte Hass überschreitet eine Grenze, geht weit über die Grenze des Angemessenen und des guten Geschmacks hinaus 8 - bis heute gilt das Gedicht in der Forschung eher als Entgleisung Heines. In den beiden Gedichten über den Meisterschuss auf den Adler in Caput III des Wintermärchens und dem Zeitgedicht „Das Kind“, zeigt sich, wie Heine seine literarischen Darstellungen des revolutionären Zorns gegen das Restau‐ rationsregime meist in ironische Pointen einbettet. So endet die Zukunftsvision des revolutionären Meisterschützen in „Das Kind“ mit einer leichtfüßigen Pointe über die Nacktheit des römischen Gottes Amor und die Hosen der Sanscülotten, die beide in Deutschland verboten seien. Die Gewaltphantasie gegen den preu‐ ßischen Adler im Wintermärchen wird nicht so stark zurückgenommen, endet aber mit der Krönung des Meisterschützen zum deutschen König. Heine ver‐ weist damit auf eine konstitutionelle Monarchie, in der der Beste unter Gleichen von seinen Pairs zum König gekrönt wird. So führt die wütende Gewaltphantasie gegen die preußische Staatsgewalt zu einer positiven Vision für die zukünftige Revolution in Deutschland. Vorausgegangen war der Adlerszene zudem eine satirische Darstellung des preußischen Militärs, in der Heine voller Sprachwitz über die Schnurrbärte der Soldaten als „des Zopftums neuere Phase“ ( III , V. 34) und die stählerne Spitze der preußischen Pickelhaube als „Pointe“ ( III , V. 56) spöttelt. So wirkt bei Heine die Pointe als Gegengewicht zur verbalen Brutalität des literarisch gestalteten Zorns gegen die Restauration. Nach dem Meisterschuss auf den Adler in Aachen in Caput III gestaltet Heine in Caput VII des Wintermärchens einen weiteren Gewaltakt gegen das Restau‐ rationsregime. Die Reise hat die Erzählerfigur von Aachen nach Köln geführt (Caput IV und VI , VII ). Heine unterstreicht bei beiden Städte den symbolischen Bezug zum Mittelalter: Der Aachener Dom wird als Grablege des Carolus 246 Leslie Brückner 9 Zum Saint-Simonisme bei Heine vgl. Bodenheimer 2010. Magnus eingeführt ( III , 1-2), in den Köln-Kapiteln verspottet Heine dann an‐ hand des Projekts zum Wiederaufbau des Kölner Doms die politisch reaktionäre Mittelalterbegeisterung seiner Zeitgenossen (Caput IV ). Dann inszeniert er im Kölner Dom die Begegnung der Dichterfigur mit den Skeletten der Heiligen Drei Könige (Caput VII ). Die verstaubten Gerippe verkörpern dabei die tote Vergan‐ genheit der Restaurationsordnung ( VII , 95 und 62 sq.), die jetzt durch das „Leben“ abgelöst werden soll ( VII , 99) - durch jenes neue Lied, die neue Gesell‐ schaftsordnung, die Heine im Caput I programmatisch angekündigt hatte. 9 Der Spannungsbogen der drei Köln-Kapitel kulminiert dabei in einer revolutionären Gewalttat: der Zerschlagung dieser „Skelette des Aberglaubens“ ( VII , 111) mit einem Richtbeil. Die nächtliche Traum-Sequenz, die in diesem Akt des revolutionären Zorns endet, beginnt in Caput VI mit der Einführung der Liktor-Figur. Zuerst wird die Erzählerfigur, durchaus selbstironisch, aber auch etwas narzisstisch, in eine Reihe berühmter Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte - Paga‐ nini, Napoleon, Sokrates - gestellt. Der Erzähler wird als Dichter präsentiert, dem der Liktor nachts beim Schreiben erscheint ( VI , 9 s.; VI , 19). Was die Figur des Liktors bedeutet, formuliert Heine in den Strophen 14-18 des Caput VI : in der Figurenrede des Liktors werden die beiden Figuren des Dichters („du“) und des Liktors („ich“) einander in vier Variationen gegenübergestellt. Heine ver‐ schränkt hier die beiden Bereiche Wort und revolutionäre Tat kunstvoll mitei‐ nander. Der Liktor definiert sich dem Dichter gegenüber so: zuerst „wisse, was du ersonnen im Geist / das führ ich aus, das tu ich“ ( VI , 55 sq.), dann im ein‐ prägsamen Parallelismus „Du denkst, und ich, ich handle“ ( VI , 60), schließlich im Chiasmus „Du bist der Richter, der Büttel bin ich“ ( VI , 61). Im Schlussvers des Caput VI gipfelt die Engführung in der Sentenz „ich bin / Die Tat von deinen Gedanken“ ( VI . 72). Gedanke und Tat sind also in Deutschland. Ein Wintermärchen in der Dich‐ terfigur und der Liktor-Figur personifiziert. Die Traumfigur des Liktors schafft aus den Gedanken des Dichters eine neue „Wirklichkeit“ („Ich raste nicht bis ich verwandle / in Wirklichkeit, was du gedacht“ ( VI , 58)). Diese verlockende Vision wird aber durch kritische Überlegungen eingeschränkt, denn der Liktor setzt, wie Heine betont, im Laufe der Zeit unweigerlich alle Ideen des Dichters in die Tat um, auch die falschen („Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt / Und sei es ein ungerechtes“ ( VI , 63 s.)). Die Vorstellung, dass alles, was der Dichter jemals publiziert hat, von anderen Akteuren bedenkenlos und unreflektiert in die Tat umgesetzt wird, erscheint bei Heine verlockend und erschreckend zugleich. 247 „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ 10 Die figura etymologica „un-heimlich“ / “heimlich“ betont auch Sigmund Freud in seinem Aufsatz über „Das Unheimliche“ von 1919. Einerseits ist die Liktor-Figur, die seine „Weltgefühle“ ( VI , 38) und „Geistes‐ blitze“ ( VI , 40) direkt in politische Wirklichkeit verwandelt, ein Wunschtraum des Dichters. Andererseits trägt die Figur des Liktors eindeutig unheimliche Züge. Sie tritt immer in nächtlichen Szenen auf: die Ankunft in Köln findet nachts statt ( IV , 1), ebenso die Schreibszene, in der der Liktor erstmals erscheint ( VI , 10), und schließlich der Spaziergang durch das nächtliche Köln. Diesen Spaziergang inszeniert Heine zwei Mal, wobei er die Formulierung „in der stillen Mondnacht zu Kölllen“ leicht variiert wiederholt ( VI , 24 und VII , 30-32). Auf dem Spaziergang im Reisebildstil in Caput VI erscheint der Liktor, mit deutli‐ chen Anklängen an die fantastischen Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, als un‐ heimliche Doppelgängerfigur des Dichters. Er folgt dem Dichter „auf Schritt und Tritt“ ( VI , 30 und VII , 66-68), wie ein „Schatten“ ( VI , 27) - ein Verweis auf Hoffmanns Peter Schlemihl und die Identitätskrisen der romantischen Literatur. Die verhüllte, unklare Identität der Liktor-Figur, der als „vermummter Gast“ ( VI , V. 11), „sonderbare(r) Geselle()“ ( VI , 22) „die dunkle Gestalt“ ( VII , 55) und „Mein schwarzer, vermummter Begleiter“ ( VII , 34) eingeführt wird, ist ein wei‐ teres unheimliches Element. Heine verwendet auch direkt das Adjektiv „un‐ heimlich“ ( VI , 12). Auch die Waffe des Liktors, mit der die revolutionäre Gewalttat gegen die Könige ausgeführt wird, ist unheimlich. Einerseits ist es ein Richtbeil, also die traditionelle Waffe der Gerechtigkeit. Durch die prominente Stellung am Versende und Wiederholung am Versanfang „ein Beil, / ein Richtbeil“ ( VI , 15 und VI , 70) wird diese Funktion betont. Heine nimmt also zunächst für sich in Anspruch, dass er als literarischer „Richter“ ( VI , 61) des Zeitgeschehens auch gerechte Ur‐ teile fälle. Andererseits ist das Beil unsichtbar unter dem Mantel des Liktors versteckt ( VI , 14 und VI , 54). Gerade weil es verborgen ist, ist es un-heimlich. Heine verwendet explizit das Adjektiv „heimlich“ ( VI , 43) - sicherlich als figura etymologica zu „unheimlich“. 10 Später betont er die Gefahr, die von der Waffe ausgeht, durch die am Versende auffällig betonte Wiederholung des Adjektivs „furchtbar“ - „Da sah ich furchtbar blinken / des stummen Begleiters furchtbares Beil“ ( VII , 11 und 12). Der zweite Teil der Szene, in der der Dichter den Skeletten der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom begegnet, ist bewusst als Traumszene markiert ( VII , 29 und Strophen 1-7). Die Szene weist einige Parallelen zu der Begegnung mit dem Adler in Aachen auf. Zuerst gibt es ein Zwiegespräch zwischen der Dichterfigur und den Skeletten der Könige. Im Gegensatz zum Adler, der nur von oben he‐ 248 Leslie Brückner 11 Auf den alttestamentarischen Bezug mit der Zeichnung der Türpfosten durch Blut kann ich in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen. rabschaut, sprechen die Könige mit der Dichterfigur und verlangen Respekt von ihm. Der Dichter weigert sich, der überkommenen Restaurationsordnung Res‐ pekt zu zollen und droht den Gerippen Gewalt an ( VII , 103). Dabei zitiert er Goethes Erlkönig - die literarische Anspielung transportiert eine ironische Bre‐ chung des revolutionären Geschehens. Kaum hat der Dichter gesprochen, setzt der Liktor seinen Gedanken in die Tat um und zerschlägt die Gerippe der Könige mit seinem Beil: „Er nahte sich, und mit seinem Beil / Zerschmetterte er die armen / Skelette des Aberglaubens, er schlug / Sie nieder ohn’ Erbarmen“ ( VII , 110-112). Interessanterweise ist hier, im Gegensatz zur Adlerszene, ein Ansatz von Empathie zu finden, denn während der Liktor blindwütig, mitleidslos zu‐ schlägt („ohn Erbarmen“) werden die Skelette vom Dichter, der ihnen gerade noch gedroht hat, bedauert („die armen“). Zudem wird die Dichterfigur in der Traumsequenz am Kölner Dom selbst verletzt ( VI , Strophen 10-12 11 ): Der Schlag des Liktors gegen die Gerippe versetzt auch ihm den Todesstoß - woraufhin er erwacht. Hier zeigt sich, dass das Verhältnis von revolutionärer Empörung, von ver‐ baler Gewalt und tatsächlicher revolutionärer Gewalt bei Heine komplexer ist, als es die Sentenz „Die Tat von deinen Gedanken“ vermuten lässt. Zunächst fällt in beiden Szenen auf, dass der Dichter die Tat nicht selbst ausführt. Er ruft andere Akteure auf den Plan: die rheinischen Militärs, den unbekannten Helden, die den preußischen und österreichischen Adler erschießen sollen und den Liktor, der die Gerippe der Könige zerschlägt. In beiden Fällen übt der Dichter verbale Gewalt aus, der eigentliche revolutionäre Gewaltakt wird aber von Dritten voll‐ zogen. Der Liktor als unheimliche Gestalt zeigt das Unheimliche an der revolu‐ tionären Tat. So inszeniert Heine den Schrecken, der von der revolutionären Gewalt ausgeht - einer Gewalt im Übrigen, die sich hier nur gegen Wappentiere und staubige Gerippe, nicht aber gegen lebende Menschen richtet. Die revolu‐ tionäre Tat, die doch aus seinen im deutschen Luftreich des Traums ersehnten revolutionären Gedanken notwendig folgt, erscheint dem Dichter unheimlich, ja, sie tötet ihn sogar. Er erwacht nicht aus einem Wunschtraum, sondern aus einem Albtraum, denn die revolutionäre Tat zerstört auch die Sphäre der Kunst, zu der der Dichter selbst gehört. Holmes interpretiert die Liktor-Figur, unter anderem wegen der Anlehnung in der Formulierung „Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit“ ( VI , 49) an Marx’ Diktum „Ein Gespenst geht um“, als Personi‐ fizierung des Kommunismus. Er arbeitet Heines skeptische Position heraus, unter anderem weil die (kommunistische) Tat der Revolution im Wintermärchen 249 „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ 12 Eine ähnliche Metaphorik von Donner und Krachen findet sich im Nachwort zur Börne-Denkschrift (DHA Bd. 11, S. 212). eben auch den Dichter, die Kunst, die Schönheit, zerstöre (Holmes 1997: 547 sq.). Es ist bezeichnend für Heine, dass er seine Überlegungen zum Verhältnis von politischer Dichtung und politischer Tat gerade nach dem Modell der romanti‐ schen Literatur gestaltet. Durch das Spiel mit der literarischen Tradition der Romantik in der politischen Lyrik verdeutlicht Heine die komplexe Beziehung zwischen Literatur und politischem Engagement. 3 Heines Selbstdarstellungen als zorniger politischer Dichter in den „Zeitgedichten“ Welche Rolle spielen nun die Emotion des Zorns und der Empörung im Ver‐ hältnis von Gedanke und Tat? In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Metaphorik von Blitz und Donner in Heines Zeitgedichten aufschlussreich. Im Schlusskapitel von „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutsch‐ land“ hatte Heine das Verhältnis von revolutionärem Gedankengut und revo‐ lutionärer Tat sentenzhaft formuliert: „Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner.“ ( DHA VIII / 1, 118). In der Philosophie-Schrift von 1834 gehört dieser Satz zu seiner Zukunftsvision einer deutschen Revolution, die die deutsche Geistesgeschichte in die revolutionäre Tat umsetzen sollte. Schon hier hatte Heine die revolutionäre Tat als zwangsläufige logische Folge der revolu‐ tionären Ideen und Schriften herbeigesehnt. Seine Zukunftsvision einer deut‐ schen Revolution war von der Naturmetaphorik des Unwetters geprägt. Die entfesselte Naturgewalt war für die Zeitgenossen eine konventionelle Metapher für die französische Revolution. Bei Heine steht zuerst die Metapher „Der deut‐ sche Donner“ für die deutsche Revolution. Dann fasst Heine das Verhältnis von Gedanke und Tat in die konventionelle Metapher von Blitz und Donner: der (Geistes-)blitz als konventionelle Metapher für das Denken, und der Donner als Metapher für die revolutionäre Tat. 12 Einer ähnlichen Metaphorik begegnen wir in den Köln-Kapiteln in Deutschland. Ein Wintermärchen. Hier nennt Heine ebenfalls die „Geistesblitze“ ( VI , 40), die revolutionären Ideen des Dichters zur Weltgeschichte („Weltgefühle“ VI , 38). Mit der Kraft und Notwendigkeit einer Naturgewalt folgt darauf die revolutionäre Gewalttat des Liktors gegen die drei Könige: eine deutliche Parallele zum „deutschen Donner“ der Philosophieschrift. Die Zukunftsvision einer deutschen Revolution, die Heine 1834 beschworen hatte, steht nun auch 1844 am Ende seines Zyklus der „Zeitgedichte“. In dem kurzen, nur drei Strophen umfassenden Gedicht „Wartet nur“ positioniert Heine 250 Leslie Brückner sich als zorniger politischer Dichter und behauptet, das zornige „Donnern“ der politischen Rede ebenso gut zu beherrschen, wie die Kunst der feinen Ironie, des sprichwörtlichen Geistesblitzes. „Wartet nur“ bildet, als vorletztes Gedicht, den politischen Abschluss des Zyklus „Zeitgedichte“, während „Nachtgedanken“, mit der Darstellung der individuellen Exilerfahrung, den lyrischen Abschluss des Zyklus bildet. Heine veröffentlichte „Wartet nur“ zudem im Juli 1844 auch im Pariser „Vorwärts“: dort steht es als politische Selbstpositionierung des Dich‐ ters für sich. Heine stellt sich hier als wütenden politischen Redner dar, der nicht nur Geistesblitze, sondern zu gegebener Zeit auch „Donnerwort(e)“ (V. 8) äußern werde. Diese Worte sollen bei der für die nahe Zukunft erhofften deutschen Revolution das alte System der Restauration zerstören. In engem Bezug auf frühsozialistisches Gedankengut benennt Heine drei Institutionen, die der Um‐ bruch zerstören soll: die „Eiche“ für das Deutschland der Restauration, den „Pa‐ last“ als Symbol des Adels und den „Kirchenturm“ als Symbol der Religion. Die Verben „zersplittern“, „erzittern“ und „stürzen“ rufen dabei die Metaphorik der gewaltsamen Zerstörung, der Revolution auf. Die Metapher des „Donners“ wird in den ersten zwei Strophen drei Mal wiederholt und betont. Heine hatte die Metapher des Donners für die Redegewalt der revolutionären Redner, die sich wie eine Naturgewalt entfaltet, auch 1838 in Französische Zu‐ stände verwendet. Über den zeitgenössischen englischen Parlamentarier Georg Canning schreibt er dort, dass seine „Befreyungsworte“ „wie heilige Donner über die ganze Erde rollten“ ( DHA XII / 1: 114). Mirabeau, den berühmten Vor‐ redner der französischen Revolution, beschreibt Heine ebenfalls mit der Meta‐ pher des Unwetters: „als das Gewitter seiner Rede mit schrecklichster Herrlich‐ keit aufstieg, als die vergifteten Blitze aus seinen Augen schossen, als die weltzerschmetternden Donner aus seiner Seele hervorgrollten“ ( DHA XII / 1: 148). Beide Redner sprechen mit ihrem „weltzerschmetternde(n)“ beziehungs‐ weise „heilige(n) Donner“ für das revolutionäre Gedankengut, dessen Umset‐ zung Heine sich auch für Deutschland wünschte. Gleichzeitig schwingt in der Donnermetapher die Emotion des Zorns mit, denn der Donner ist seit der an‐ tiken Mythologie eine konventionelle Metapher für den (göttlichen) Zorn. Wenn Heine die Rede eines Mirabeau als „heilige(n) Donner“ beschreibt, spielt er auch auf die Tradition des heiligen, gerechten Zorns des Gottes des Alten Testaments an. Diese Metaphorik vom Donner als göttlichen Zorn hat er später auch in „Hebräische Melodien“ im Romanzero (1851) verwendet ( DHA III / 1: 167 und 170). Der heilige Zorn ist also die Emotion, die diese politischen Reden, die für die Sache der Freiheit sprechen, trägt. Mit „Wartet nur“ stellt sich Heine nun als politischer Dichter selbst in die Tradition dieser berühmten Redner. Die Metapher des Donners drückt dabei die 251 „Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ 13 Vgl. zur Figur des Tambours bei Heine das Reisebild „Tambour Legrand“ und Zeitge‐ dicht VII: "Der Tambourmajor", die Börne-Schrift und "Enfant perdü" und "Bierwirth" 1997. 14 Vgl. dazu Briegleb 2005, Bd. 4, S. 954-956. Redegewalt, aber auch den Zorn, die revolutionäre Empörung aus. Zwei andere „Zeitgedichte“ gehen dieser Selbstpositionierungen des politischen Dichters vo‐ raus. Im Eröffnungsgedicht „Doktrin“ erscheint der politische Dichter als Tam‐ bour, als Vor-Trommler der Revolution, der das schlafende Deutschland wecken soll - eine für Heines Werk insgesamt zentrale Figur. Das Motiv des schlafenden Deutschlands, das der Dichter, als Tambour einer neuen Zeit, aufzuwecken ver‐ sucht, spielt in beiden Gedichtzyklen „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und „Zeitgedichte“ eine zentrale Rolle. 13 Hier geht es allerdings eher um ein aufklä‐ rerisches Reveille, nicht so sehr um die Emotionen Zorn, Wut oder Empörung. Im Zeitgedicht „Die Tendenz“ (Nr. XIII ) setzt sich Heine ebenfalls mit der Rolle der politischen Dichtung seiner Epoche auseinander und verwendet die Donnermetaphorik. „Die Tendenz“ ist nicht (nur) eine Selbstansprache Heines, denn seine Position zur Tendenzdichtung war komplex. Es lässt sich aber durchaus als kritischer Kommentar zu den zeitgenössischen Gebrauchsliedern für die Arbeiter- und Geheimbundbewegung lesen. 14 In „Die Tendenz“ werden die zeitgenössischen deutschen Dichter durch eine Reihe von Imperativen zum politischen Dichten aufgefordert: Zuerst wird die Dichtung als politische Rede und als Waffe begriffen: „Rede Donner, rede Schwerter! “ (V. 10) Mit dem zwei‐ fach (leicht variiert) wiederholten Vers „Blase, schmettre, donnre, töte“ (V. 15 und V. 16) wird der Dichter zum lauten politischen Protest aufgerufen. Wie im vorangegangenen Gedicht über Georg Herwegh (Nr. XII ) setzt sich Heine hier vor allem mit der Gefahr der politischen Verfolgung auseinander. In „Die Ten‐ denz“ zielt die Pointe auf eine Kritik an den Zensurmaßnahmen der deutschen Staaten ab. Das Wort als (tödliche) Waffe wird durch die Zensur verhindert. Durch die Zensur ist der Tendenzdichter machtlos, wie der Dichter in der Ad‐ lerszene im Wintermärchen. Am Ende der „Zeitgedichte“, in „Wartet nur“ positioniert sich Heine nun selbst als zorniger politischer Dichter. Er formuliert die eingangs bereits zitierten Verse: „Weil ich so ganz vorzüglich blitze, / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt! “ (V. 1-2) und behauptet, er habe „Gleichfalls fürs Donnern ein Talent.“ (V. 4) Hatte Heine, wie er hier behauptet, zum „Donnern“ ebenso viel Talent wie zum „Blitzen“? Anhand der vorliegenden Analyse ist man versucht zu ant‐ worten: Nein. Genuin politisch-agitatorische Lyrik wie das Weberlied ist in Heines Werk die Ausnahme geblieben. Jene Textstellen, an denen Heine seinem Hass gegen die Obrigkeit ganz die Zügel schießen lässt, etwa in der Adlerszene 252 Leslie Brückner im Wintermärchen oder im Zeitgedicht „der Wechselbalg“, sind gerade nicht das „beste Stück“ seiner politischen Lyrik, das im „Wintermärchen“ ( XXVI , 104) mit der Zensorschere angegriffen wird. Zu starke Emotion, zu tiefer Haß scheint, zumindest aus produktionsästhetischer Sicht, für Heine nicht die beste Inspira‐ tionsquelle gewesen zu sein. Finden die Emotionen der Empörung und des re‐ volutionären Zorns im Text hingegen ein Gegengewicht in einer Pointe, ist der Leser eher geneigt, die feine Ironie als Anregung zum Nachdenken anzunehmen. Unübertroffen sind die Textpassagen, in denen Heine seine politische Kritik in ironische, leichtfüßige Formulierungen fasst, in denen die „blitzende“ Pointe der verbalen Gewalt die Waage hält. Wie Heine selbst schreibt, lag das Talent, das er „vorzüglich“ beherrschte eben im „Blitzen“ nicht im „Donnern“. Bibliografie Briegleb, Klaus (ed.), Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften, 6 Bde., München, Deutscher Taschenbuchverlag, 2005. Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke, hg. v. Manfred Wind‐ fuhr [u. a.], 16 Bde., Hamburg, Hoffmann und Campe, 1975-1997 (= Düsseldorfer Heine Ausgabe, Sigle: DHA). Bierwirth, Sabine, „Trommler und Tambour: Heines Versuch einer Synthese ‚politisch-ro‐ mantischer’ Dichtung“, in: Aufklärung und Skepsis, 1999, S. 475-488 Bodenheimer, Nina, Heinrich Heine et le Saint-Simonisme. Problèmes de transferts culturels: considérations sur la réception problématique de la philosophie idéaliste au sein du mou‐ vement saint-simonien, Univ. Diss., Université Paris VIII, 2010. Boyer-Weinmann, Martine, „Colère“, in: Dictionnaire Arts et émotions. Mathilde Bernard, Alexandre Gefen, Carole Talon-Hugon (ed.), Paris, Armand Colin, 2015, S. 73-75. Freud, Sigmund, „Das Unheimliche“ (1919), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XII, Frank‐ furt am Main, Fischer Taschenbuch, 1999, S. 227-278. Hauschild, Jan-Christoph / Werner, Michael, Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Heinrich Heine. Eine Biographie, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1997. Hauschild, Jan-Christoph / Werner, Michael, Heinrich Heine, München, dtv, 2002. Höhn, Gerhard, Heine-Handbuch. 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Windfuhr, Manfred, „Heine als Polemiker“, in: Aufklärung und Skepsis 1999, S. 57-70. 254 Leslie Brückner Trauer, Wut, Empörung, Hass: zu deutschen Afrika-Reisebüchern der Zwischenkriegszeit Sonja Malzner (Université de Rouen, Équipe de Recherche Interdisciplinaire sur les Aires Culturelles) Abstract In deutschen Afrika-Reisebüchern der Zwischenkriegszeit ist die Themati‐ sierung des durch den Versailler Vertrag provozierten Ehrverlusts einer Na‐ tion, die sich zutiefst gedemütigt fühlte, in unterschiedlich intensiver Aus‐ prägung präsent. Emotionen, die auf Trauer und Wut über den Verlust der (Wahl)Heimat, kollektive Empörung und dem Hass auf die Siegermächte fußen, werden in den untersuchten populären Reiseberichten sowohl mit sprachlichen Mitteln als auch durch visuelle Elemente, die grafische Gestal‐ tung und Beschriftung der eingefügten Landkarten, durch Motivwahl und Inszenierung auf Fotografien, durch die Umschlaggestaltung und den Titel generiert. Als populäres Dispositiv (Hickethier 2003), das auf verschiedenen, zum Teil unbewusst wahrgenommenen Ebenen an den Rezipienten appelliert, kann der Afrika-Reisebericht insofern als „Emotionsort“ (Koppenfels / Zum‐ busch 2016: 20) bezeichnet werden, der für das „kollektive emotionale Phä‐ nomen“ (Miard-Delacroix / Wirsching 2020: 1) Kolonialrevisionismus fruchtbar gemacht wurde. Ein Schlag ins Gesicht. Als solchen empfanden die Deutschen die Begründung der Alliierten, mit der diese ihnen im Versailler Vertrag sämtliche Kolonien ent‐ zogen. Die deutsche Delegation der Friedensverhandlungen hatte noch gegen den Entscheid, die deutschen Kolonien als Mandatsgebiete zwischen den Sie‐ germächten aufzuteilen, Einspruch erhoben. Die Antwort darauf kam am 16. Juni 1919 und führte zu einem Aufschrei der Entrüstung. Darin heißt es: „Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation ist zu deut‐ lich zutage getreten, als dass die Alliierten und Assoziierten Mächte ihre Hand zu einem zweiten Versuch bieten […] könnten […]“. Die Alliierten und die As‐ soziierten Mächte hätten sich davon überzeugen können, „dass die eingeborene 1 Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte vom 16. Juni 1919 auf die Bemerkungen der deutschen Delegation zu den Friedensbedingungen. Cf. Materialien betreffend die Friedensverhandlungen. Teil IV. Autorisierte Ausgabe. Im Auftrag des Auswärtigen Amtes. Charlottenburg 1919., 25, 83. Zit. n.: Gründer 1999: 316. 2 Siehe dazu auch zum deutschen post-kolonialen Spielfilm der Zwischenkriegszeit Holl‐ meier, Niels, „… von Trägern und Askari - Heia Safari! “ - Herrschaft und Begehren im deutschen Kolonialspielfilm“, in: Malzner / Peiter 2018, 333-352; Struck, Wolfgang, „Die Geburt des Abenteuers aus dem Geist des Kolonialismus. Exotistische Filme in Deutsch‐ land nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Kundrus 2003: 263-281. 3 Im Allgemeinen wurde die Kolonialliteratur von den Nationalsozialisten nicht geför‐ dert, nur geduldet. Nur in den Jahren 1937-1939 wurde auch sie im Rahmen des kolo‐ nialpropagandistischen Vorstoßes Hitlers bevorzugt unterstützt. Cf. Zimmermann, Peter, Kampf um den Lebensraum. Ein Mythos der Kolonial- und der Blut-und-Boden-Li‐ teratur. In: Denkler 1976: 165-182, 171. Die von den Nationalsozialisten definierten moralischen Werte wie Patriotismus, Heroismus, Gehorsam, Liebe zu den Massen, zur Arbeit, zum Führer und zum Krieg sollten sich darin - wie in allen künstlerischen Werken - wieder finden (Richard 2006: 72). Bevölkerung der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, dass sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden […].“ 1 Es war vor allem der Vorwurf, im Bereich der ‚Zivilisierung‘ versagt zu haben, der em‐ pörte, da gerade diese grundlegend für die damalige Legitimierung von Kolo‐ nisation war (cf. Authaler 2019). Hinzu kam, dass der Ausschluss aus der Gruppe der westlichen ‚Kulturnationen‘ für die deutsche Nation, die sich ja im Beson‐ deren über Kultur und Sprache (cf. Fichte 1808) definierte, eine besondere Ehr‐ verletzung darstellte. Diskursbestimmend wurde in der Folge der von Heinrich Schnee 1924 geprägte Begriff der kolonialen Schuldlüge, „Eckpfeiler des Koloni‐ alrevisionismus“ (Gründer 2012: 259), der vom nationalen politischen Spektrum ausgehend sehr schnell von großen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen wurde, da der der koloniale Gedanke durch Filme, Völkerschauen und populärer Lite‐ ratur wachgehalten wurde (cf. Authaler 2019). 2 Die Empörung manifestierte sich dementsprechend auch zahlenmäßig im Hochschnellen der Produktion kolo‐ nialer Literatur: in der Zeit ohne Kolonien wurde in Deutschland mehr Koloni‐ alliteratur publiziert als je zuvor (cf. Gründer 2012: 260). Der Hauptprodukti‐ onszeitraum lässt sich dabei auf die Jahre 1937-1939 eingrenzen, als Hitler die Forderung nach Rückgabe der Kolonien forcierte. 3 Sogar fremdsprachige Ar‐ beiten wurden instrumentalisiert, um das Volumen kolonialrevisionistischer Publikationen zu erhöhen. Die Weißen und die Schwarzen. Erlebnisse in Franzö‐ sisch-West-Afrika (1936) des Polen Georg ( Jerzy) Giżycki ist ein Beispiel dafür. Der Kinooperateur kritisiert in seinem Reisebericht vehement die französischen Kolonisationsmethoden. Grund genug, das nur auf Polnisch erschienene Werk (Biali i Czarni. Fragmenty kolonjalne, 1934) ins Deutsche zu übersetzen. 256 Sonja Malzner 4 Eine der ersten wirklichen Lobeshymnen auf den General fand sich Anfang 1918 in der Deutschen Kolonialzeitung. Zu lesen war da: „Aber der Kommandant der Schutztruppe, Oberstleutnant v. Lettow-Vorbeck, nahm die Zügel der Landesverteidigung gleich in seine Hand, und seinem entschlossenen Handeln ist es zu danken, dass die Bevölkerung nicht ganz den Kopf verlor, sondern ihm zujubelnd voll Begeisterung die Waffen zog zur Verteidigung von Groß-Deutschlands Erde im fernen Ostafrika“. In: „Deutsch-Ost‐ afrika im Krieg, 1. Kriegsausbruch“, in: Deutsche Kolonialzeitung, Nr. 1, 20. Jänner 1918, 13 f. Zit. n.: Schulte-Varendorff, Uwe, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck - Mythos und Wirklichkeit, Berlin, Links, 2006, 39. 5 Ich verwende das generische Maskulinum. Die beiden wichtigsten Motoren der kolonialrevisionistischen Empörungs‐ maschinerie waren der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Ost-Afrika Hein‐ rich Schnee und General Lettow-Vorbeck. Obwohl persönlich durch erbitterte Machtkämpfe im Zuge der Kriegsführung in Ostafrika entzweit, waren sie sich in der Sache einig und warfen sich, ein jeder nach seiner Façon, in den emotio‐ nalen Kampf: Heinrich Schnee als Verfasser des Koloniallexikons (1920) und der propagandistischen „Bibel“ der Kolonialrevisionisten (Gründer 2012: 262), Die koloniale Schuldlüge (1924), der „unbesiegbare“ Kriegsheld General von Lettow-Vorbeck als ihr „Missionar“ (Schulte-Varendorff 2006: 95). Letzterer war innerhalb weniger Wochen nach seiner Rückkehr aus Afrika zu der damals wohl symbolträchtigsten Figur deutschen Heldentums aufgestiegen und wurde, auch durch intensive eigene Mithilfe, rasend schnell zum Mythos. 4 Durch seine zahl‐ reichen Buchveröffentlichungen nährte er sowohl den Mythos des „Dolch‐ stoßes“ und der „kolonialen Schuldlüge“ als auch die Legendenbildung um seine Person (Schulte-Varendorff 2006: 103). Der Titel seines meistverkauften Heia Safari! (1920), in dem er - genauer gesagt: sein Ghost-Writer Walther von Ruck‐ teschell (Schulte-Varendorff 2006: 104) - der deutschen Jugend fiktionalisierte Kriegsabenteuer aus Ostafrika erzählt, ist den Deutschen bis heute ein Begriff. Wie die angeführten Beispiele der Abb. 1 zeigen, rufen bereits die Titel der meisten dieser Publikationen der Zwischenkriegszeit beim damaligen Leser starke Emotionen hervor. Sei es die Trauer um den Verlust der Heimat Afrika, was durch Illustrationen aus der Natur noch unterstrichen wird, sei es die Wut auf die Siegermächte, die den Deutschen einen wichtigen Wirtschaftsstandort geraubt haben (Was Deutschland an seinen Kolonien verlor), sei es, indem die vermeintliche Trauer der Afrikaner über den Verlust ihrer deutschen ‚Herren‘ inszeniert wird (Wann kommen die Deutschen endlich wieder? , Komm wieder Bwana), bis hin zur rhetorischen Strategie der Negierung, indem von „unseren“ Kolonien gesprochen wird. Neben den Illustrationen wird dabei auch durch die Farbwahl Rot, Schwarz und Weiß in den Verlagen an alles gedacht, um beim potentiellen Leser 5 die Emotionen hoch gehen zu lassen: 257 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 6 Es handelt sich um eine bisher nur teilweise katalogisierte private Sammlung mit Schwerpunkt Ostafrika und Sansibar (Bücher, Landkarten, Postkarten, Briefmarken, Stiche und Zeichnungen, Videoaufnahmen, Zeitungsausschnitte), die Michel Polényk (1941-2009) zu verdanken ist, der in den 1960er Jahren als Deutschlehrer nach Réunion kam und dort später das Germanistikinstitut der Université de la Réunion gründete, das nach wie vor das einzige der französischen Überseegebiete ist. Nach seinem Tod ver‐ machte seine Witwe Anne-Marie Polényk die Sammlung verschiedenen Institutionen der Insel. In Zusammenarbeit mit mehreren wissenschaftlichen und kulturellen Insti‐ tutionen der Insel konnte von 2018-2019 das Projekt Trésors du Fonds Polényk unter der Leitung von Sonja Malzner und Sandie Attia durchgeführt werden, das eine Bestands‐ aufnahme und Valorisierung der Sammlung zum Ziel hatte: Katalogisierung und Digi‐ talisierung der Sammlung (Universitätsbibliothek, Musée Historique de Villèle, Museum de l’Ile de la Réunion, Bibliothèque Départementale de la Réunion), Journée d’études an der Université de la Réunion (Februar 2019), Ausstellung an der Universitätsbibliothek Abb. 1: Der erste Eindruck: Titel- und Umschlaggestaltung populärer Afrika-Publikati‐ onen Die deutsche Kolonialliteratur der Zwischenkriegszeit ist vor allem eines: Er‐ innerungsliteratur. Die in der post-kolonialen Ära veröffentlichten Afrika-Rei‐ sebücher, die im Zentrum meiner Überlegungen stehen, lassen sich anhand des vorliegenden Korpus, das sich aus Beständen des Fonds Polényk  6 zusammen‐ setzt, dahingehend grob in drei Kategorien einteilen: Zum klassischen Reisebe‐ 258 Sonja Malzner (Februar 2019), Online-Ausstellung und Buchpublikation Sur les traces du colonialisme, 2022, PUI. richt, in dem eine vor kurzem erlebte persönliche Reiseerfahrung durch meist mehrere afrikanische Länder bzw. Kolonien geschildert wird (z. B. Kasimir Ed‐ schmid, Afrika nackt und angezogen, 1929) gesellen sich in dieser Epoche zum einen solche, die ich als Erinnerungsreiseberichte bezeichnen möchte, da sie Erlebnisse wiedergeben, die schon längere Zeit zurückliegen, als nämlich die bereisten Gebiete noch deutsche ‚Schutzgebiete‘ waren (z. B. August Hauer, Kumbuke, 1923). Zum anderen mehren sich im Lauf der Zeit Berichte von Rei‐ senden, die sich auf koloniale Spurensuche begeben und deren Publikationen man mit dem Begriff Erinnerungstourismus-Berichte umschreiben könnte, wobei sich die kollektive, deutschkoloniale Spurensuche oft mit einer persön‐ lichen vermischt. Die Reiseberichte trugen so explizit zur Konstruktion eines nationalen kolonialen Gedächtnisses bei, indem persönliche Erinnerungen in‐ strumentalisiert und institutionalisiert wurden. Für die Zwischenkriegszeit mag dies nicht überraschen, allerdings gibt es im Korpus noch Beispiele aus den 1950er Jahren, in denen nach wie vor auf die koloniale Tränendrüse gedrückt wird, allen voran das wehmütige Afrika, wie ich es wiedersah (1955) von General von Lettow-Vorbeck, in dem er seine von der Deutschen Illustrierten finanzierte Reise rund um Afrika schildert und auf eigenen Spuren wandelt - sowohl in geographischer als auch in kolonialrevisionistischer Hinsicht. Jahr Autor Ort Verlag Titel Untertitel Titelzusatz 1 1920 Lettow- Vor‐ beck, General v. Leipzig Koehler Heia Sa‐ fari! Deutschlands Kampf in Ost- Afrika Der deutschen Jugend unter Mitwirkung seines Mit‐ kämpfers Hauptmann von Ruckte‐ schell 1923 Hauer, August Berlin Reimar Hobbing Kum‐ buke Erlebnisse eines Arztes in Deutsch-Ost- Afrika 1923 Unter‐ welz, Robert Stutt‐ gart Strecker &Schröder In Tro‐ pen‐ sonne und Ur‐ wald‐ nacht Wanderungen und Erlebnisse in Deutsch-Ost- Afrika Mit 40 Feder-zeich‐ nungen des Verfassers 259 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 1927 Bol‐ finger, Willy & Rausch‐ nabel, Hans Stutt‐ gart Christoph Steffen Jambo Watu! Das Kolonial‐ buch der Deut‐ schen Hgg. von Willy Bolfingen und Hans Rausch‐ nabel unt. Ma. zahlreicher er‐ fahrener 'Kolo‐ nialpioniere' 1930 Wal‐ deyer- Hartz, Hugo, von Stutt‐ gart & Berlin & Leipzig Union Deutsche Verlags‐ gesell‐ schaft Bana kubwa Der deutsche General Eine Erzählung aus den Kämpfen um Deutsch-Ostaf‐ rikas Erwer‐ bung 1933 Behn, Fritz Stutt‐ gart & Berlin J. G. G. Cotta'‐ sche Buch‐ handlung Nach‐ folger Kwa heri - Afrika! Gedanken im Zelt Mit 16 Zeich‐ nungen des Verfassers und einer Verkehrs‐ karte Afrikas 1933 Frey‐ berg, Her‐ mann Berlin Weg‐ weiser- Verlag Afrika ruft Reisen im Lande der un‐ begrenzten Möglichkeiten Mit 166 Abbil‐ dungen in Kup‐ fertiefdruck 1933 Funke, Alfred Han‐ nover Adolf Sponholtz Schwarz- Weiß-Rot über Ost- Afrika Roman Mit 126 Licht‐ bildern in Kup‐ fertiefdruck von Walter Dobbertin 1934 Ed‐ schmid, Kasimir Frank furt / Main Societäts- Verlag Afrika nackt und an‐ gezogen 1935 Dingl‐ reiterS‐ enta Leipzig & Berlin Hase & Köhler Wann kommen die Deut‐ schen endlich wieder? Eine Reise durch unsere Kolonien in Afrika Mit 19 Bildern 1936 Langsdorff, Werner von Gü‐ tersloh Bertels‐ mann Deut‐ sche Flagge über Sand und Palmen 53 Kolonial‐ krieger er‐ zählen 260 Sonja Malzner 1936 Ritter, Paul (ed.) Berlin Zeitge‐ schichte - Verlag und Ver‐ triebs- Gesell‐ schaft mbH Unver‐ gessenes deut‐ sches Land 140 Bilddoku‐ mente aus den alten deutschen Kolonien 1938 Ettig‐ hofer, P. C. Gü‐ tersloh Bertels‐ mann So sah ich Af‐ rika Mit Auto und Kamera durch unsere Kolo‐ nien Alle Bilder in diesem Buch sind Leica-Auf‐ nahmen des Verfassers 1940 Poe‐ schel, Hans Leipzig Koehler & Voigt‐ länder Bwana hakimu Richterfahrten in Deutsch- Ostafrika. Mit 15 Feder-zeich‐ nungen von Kurt Degen‐ kolb 1940 Schuffenhauer, Ida Berlin Süßerott Komm wieder Bwana Ein deutsches Schicksal Mit 30 Bildern und 2 Karten 1941 Schlieben, Hans Jo‐ achim Berlin Neumann Deutsch Ost- Afrika einmal ganz an‐ ders Eine fünfjäh‐ rige For‐ schungsreise 1942 Dresler, Adolf Würz‐ burg Konrad Triltsch Verlag Die deut‐ schen Kolo‐ nien und die Presse 1954 Lettow- Vor‐ beck, General Lenge‐ rich Kleins Verlags‐ anstalt Kwa heri, bwana! Auf Wieder‐ sehen, Herr! Erlebnisse in fernen Ländern 1955 Lettow- Vor‐ beck, General v. Mün‐ chen Lehm‐ anns Afrika wie ich es wie‐ dersah Mit einem Bildnis und einer Karte 1958 Schur- Gü‐ tersloh Bertels‐ mann Romy fährt Ein Mädchen, ein Auto und Mit 36 Fotos der Verfasserin 261 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 7 Unter dem Begriff „Emotionen“ werden hier mit Miard-Delacroix / Wirsching sowohl individuelle Gefühle als auch kollektive Gemütsbewegungen verstanden, die aus einer bestimmten Situation heraus entstehen, in der sozusagen eine „Ansteckung“ stattfindet (Miard-Delacroix / Wirsching 2020: 2). Cf. auch Klausnitzer (2012): 212-238; Koppenfels & Zumbusch 2016. hammer, Romy nach Af‐ rika 20 000 Kilo‐ meter Abb. 2 Übersicht Untersuchungskorpus Über die Fülle der Emotionen 7 hinausgehend, die dem autobiographischen Ele‐ ment des Genres Reisebericht geschuldet sind, wie zum Beispiel Angst in be‐ stimmten Reisesituationen, Ärger und Verdruss über ‚unverlässliche‘ Bediens‐ tete (z. B. Träger) und gescheiterte Vorhaben, Freude über Naturschönheiten oder Jagderfolge, Erleichterung über das Erreichen eines Etappenziels, die Vor‐ freude (auf dem Schiff) bei der An- oder die Trauer bei der Abreise, möchte ich im Folgenden die durch den Verlust der Kolonien hervorgerufenen, politisch motivierten Emotionen in den Blick nehmen und der Frage nachgehen, wie sich persönliche Trauer und Wut über den Verlust der (Wahl)Heimat, kollektive Em‐ pörung und der Hass auf die Siegermächte im populären Medium Reisebericht manifestieren, d. h. welche literarischen und medialen Strategien eingesetzt werden, um die Erzählung der persönlichen Reiseerfahrung für das „kollektive emotionale Phänomen“ (Miard-Delacroix / Wirsching 2020: 1) Revisionismus fruchtbar zu machen. Untersucht werden soll also das Reisebuch als „Emotion‐ sort“ (Koppenfels / Zumbusch 2016: 20), anhand von Beispielen der verschie‐ denen Ebenen des Textes und des außersprachlichen Bereichs (Fotos, péritexte (Genette 1987), Landkarten). Welche diskursiven Phänomene, Themen, Figuren, (neu erschaffenen) Mythen werden herangezogen und welche besonderen sprachlichen und rhetorischen Strategien eingesetzt, um Emotionalität zu er‐ zeugen? Wehmut und Nostalgie - Die verlorene Sprache Auf sprachlicher Ebene tritt in den Reisebüchern über Ostafrika, die den Großteil des Untersuchungskorpus bilden, eine rhetorische Besonderheit hervor, nämlich der immer wiederkehrende punktuelle Gebrauch des Swahili. Die Bantusprache Swahili war - und ist - die Lingua franca Ostafrikas, die von Beginn an von den Kolonisatoren (Deutsche, Briten, Belgier) als Amtsbzw. Verwaltungssprache 262 Sonja Malzner 8 Cf. Schnee, Heinrich, Eintrag „Suahelisprache“, in: Deutsches Kolonial-Lexikon (1920), Band III, 433. eingesetzt wurde. 8 Es war auch ein deutscher Missionar, Ludwig Krapf, der 1850 die erste Grammatik der Swahili-Sprache veröffentlichte (Krapf 1850). Nicht nur die ansässigen Deutschen, sondern auch ein Großteil der Durch-Reisenden be‐ herrschte diese Verkehrssprache zumindest in Ansätzen, wie aus zahlreichen Reiseberichten hervorgeht. Mit den Einheimischen wurde weder auf Deutsch noch in deren Muttersprache(n) kommuniziert, sondern auf Swahili. In deut‐ schen Reiseberichten der Kolonialzeit wird diese besondere Sprachsituation meist erwähnt, bisweilen auch etwas ausführlicher erklärt. In Publikationen ab 1918 jedoch wird der Gebrauch des Swahili regelrecht emotionalisiert: Durch die Verwendung von Swahili-Ausdrücken wird die Erinnerung an ‚damals‘ am Leben erhalten, in der Fremdsprache manifestieren sich die Nostalgie und die Wehmut über das Verlorene. Als emotionalisierendes Moment mit hohem Wie‐ dererkennungseffekt wird Swahili in zahlreichen Publikationen bereits im Titel eingesetzt: Abb. 3: Gebrauch des Swahili in Buchtiteln 263 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit Diese Titel sprechen nicht nur die Leserschaft der ‚alten Afrikaner‘ an, die Swa‐ hili verstehen und Ostafrika-Erfahrung haben, sondern locken durch ihre sprachliche Exotik auch ein größeres Publikum, das in manchen Vorworten de‐ zidiert als eine jugendliche Zielgruppe angesprochen wird. In der Gruppe der Erinnerungs-Reiseberichte tritt in diesem Zusammenhang der fiktionalisierte Erlebnisbericht Komm wieder Bwana. Ein deutsches Schicksal (1940) von Ida Schuffenhauer hervor, in dem außergewöhnlich viele Swa‐ hili-Ausdrücke verwendet werden, auch Satzteile und ganze Sätze, mitunter ohne Übersetzungshilfe. Meist aber wird eine solche indirekt im darauffol‐ genden Satz geliefert: „Als der Träger sein ‚Assanti sana, Bwana! ‘ stammelt, sagt Klaus: ‘Bedanke dich bei der Bibi, sie ist für dich eingetreten! ‘“ (81) Keine Über‐ setzungshilfe gibt es für „Bwana“ und „Bibi“, die Ausdrücke für ‚Herr‘ und ‚Frau‘, die offenbar als bekannt vorausgesetzt werden. Bisweilen kommt es in diesem „auf eigenen Erlebnissen basierende[n] Roman“ (Vorwort) zu extremen Anhäu‐ fungen von Swahili-Begriffen in den Dialogen: „Heia! Los! Kalisana, du wirst die Träger beaufsichtigen und dafür sorgen, dass mein Zelt richtig aufgestellt wird. Umesahamu? Hast du verstanden? “ - „Ndio Bwana, ja Herr! “ Kalisana ist sehr stolz, dass sein Herr ihn zum Nhampara, zum Aufseher, ge‐ macht hat. Er wird den Trägern schon den shaitani ya uvivu, den Teufel der Faulheit, austreiben. Fast überschreit er sich, als er den am Erdboden Hockenden sein „Misingo juu! “ - „Die Lasten auf! “ zuruft und, als dies mit lautem Geschnatter vor sich geht, sein „Keléle! “ - „Ruhe! “ donnert (193-194). Dieser massive Einsatz des Swahili in dialogischen Szenen stört zwar den Le‐ sefluss, schafft jedoch Authentizität und hebt den Unterhaltungswert für den Leser, der sich in dieser Passage gemeinsam mit dem Erzähler über die ver‐ meintliche Naivität, Primitivität und - vor allem - Ergebenheit des Kalisana gegenüber seinem deutschen „Herrn“ amüsieren kann. Generell ist auffällig, dass sich die Swahili-Spuren meistens auf Höflichkeits- und Unterwürfigkeits‐ bezeichnungen den Deutschen gegenüber beschränken. Das am häufigsten auf‐ tretende Wort ist „Bwana“, ‚Herr‘, sowohl in den Buchtiteln als auch im lau‐ fenden Text. Es bezieht sich ausschließlich auf die Anrede des jeweiligen deutschen Erzählers durch Afrikaner. Dass der Begriff „Bwana“ angeblich nur für wichtige Persönlichkeiten benutzt wird, geht ebenfalls aus den Berichten hervor. So heißt es bei Alfred Funke in Schwarz-Weiß-Rot über Ost-Afrika (1933) über einen einheimischen Amtmann, der einen Deutschen ankündigt: „Würde‐ voll schritt der farbige Marktpolizist, das rote Bandelier umgehängt, auf und ab. Laut hallte sein Ruf: ‚Bana Mkuba anakuja! ‘ Der große Herr kommt! “ (33) und August Hauer widerfährt Ähnliches, will man seinen Aufzeichnungen in Kum‐ 264 Sonja Malzner buke (1923) trauen: Er wird ebenfalls mit „Jambo, jambo sana bwana mkubwa“ begrüßt, was er mit „Schönen guten Tag, Euer Hochwohlgeboren“ übersetzt (60). In Tropensonne und Urwaldnacht (1923) von Robert Unterwelz ergibt eine quantitative Stichprobe von 100 Seiten 15 Mini-Dialoge, in denen der Erzähler mit „Bwana“ angesprochen wird. D. h. jedes Mal, wenn sich in einer dialogischen Szene ein Afrikaner an den Erzähler wendet, wird das Wort eingefügt, und es werden fast ausschließlich solche kurzen Dialoge zwischen Erzähler und Be‐ diensteten in Dialogform wiedergegeben (23, 32, 38, 44, 51, 85, 86, 101, 103, 108, 116, 121, 123, 124). Auch wenn das im täglichen Umgang vor Ort vielleicht wirklich so gewesen sein mag, muss dies nicht zwangsläufig zu einer quantita‐ tiven Häufung dieses Swahili-Begriffs in den Reise- und Erlebnisberichten führen, wie an den Publikationen der Kolonialzeit zu sehen ist. Wie schon gesagt tritt dieses Phänomen erst in der Zwischenkriegszeit auf und kann dementspre‐ chend als ein Ausdruck des Verlusts der imperialistischen Identität interpretiert werden, auf persönlicher und kollektiver Ebene. Gestern noch ein großer „Bwana“, heute ein von der Völkergemeinschaft Verachteter: indem sich die Er‐ zähler in ihren Berichten als „Bwana“ ansprechen lassen, werden sie noch einmal, wenn auch nur in der Erinnerung, zu großen „Herren“. Trauer und Hoffnungslosigkeit - Das sterbende Afrika Auf inhaltlicher Ebene möchte ich zwei wiederkehrende Motive hervorheben, die in den untersuchten Reiseberichten eine zentrale Rolle spielen. In beiden Fällen handelt es sich um Projektionen, die auf Mythen basieren. Beginnen wir mit dem Mythos des „sterbenden alten Afrikas“ (Behn 1933: 1), der zwar keine deutsche Besonderheit darstellt, in der deutschen post-kolonialen Literatur al‐ lerdings als besondere Projektionsfläche für das eigene Sterben als Kolonial‐ macht dient. So zum Beispiel in Kwa heri - Afrika! (1933) von Fritz Behn, in dem dieser betont auf eine Rhetorik der Affekte setzt, um den Untergang der deut‐ schen Kolonien mit dem Untergang des ‚wahren‘ Afrika gleichzusetzen: Die Gräber der vor dreißig Jahren für die Kolonie gefallenen Deutschen im Garten der Mission sind von Unkraut überwuchert, ihre Namen kaum mehr leserlich. Daneben spielen die schwarzen Herren Seminaristen im eleganten football-dress und im gescheitelten Kraushaar ihren Fußball. Der Palast des alten Sultan Mareale zerfällt. Sein Schauribaum ist verdorrt. Zamani - - - Im Mondenlicht erglänzt der höchste Berggipfel des alten afrikanischen Deutschland (189). 265 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 9 Fußball, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus England kommend, war in Deutschland zu Beginn verpönt. Cf. Scheuble, Verena / Wehner, Michael, „Fußball und nationale Identität“, in: Der Bürger im Staat, Fußball und Politik, 56 / 1, 2006, 26-31. 10 Cf. Malzner, Sonja, „Repräsentationen der Sultane von Sansibar in deutschen Reisebe‐ richten des 19. und 20. Jahrhunderts“, Publikation geplant Ende 2021. Die wahren Werte und Traditionen Ostafrikas, die sich für Behn aus arabischer (Sultanat), kontinentalafrikanischer (Schauri-Diskussion) und deutscher Kultur zusammensetzen, sind vernichtet durch die Un-Kultur (Fußball) des Eindring‐ lings, des gemeinsamen Feindes, der Briten. 9 Ein ähnliches Bild zeigt sich in Darstellungen des Sultans von Sansibar, wenn dessen Machtverlust durch die Abgabe seiner Souveränität an die Briten im deutschen Diskurs mit dem eigenen Machtverlust verschränkt wird. Die Person des Sultans, die in Reiseberichten der Kolonialzeit als Politiker und Gesprächs‐ partner dargestellt wurde, gerät in Publikationen der Zwischenkriegszeit zu einer historischen Figur, an der symbolisch Trauer und Wehmut über den ei‐ genen Verlust sowie auch der Hass auf die Briten festgemacht werden. 10 So zum Beispiel bei Kasimir Edschmid in Afrika nackt und angezogen (1934), wenn er über den Gesandten des Sultans in Mombasa schreibt: „Er verkörperte mit dem ganzen Einsatz seiner Person den allerletzten Rest des arabischen Reichs in Af‐ rika“ (276). Für Ina von Grumbkow stellt in Mit der Tendaguru-Expedition im Süden von Deutsch-Ostafrika (1924) der nach der britischen Bombardierung 1896 wiederaufgebaute Palast des Sultans nur mehr eine „hoffnungsarme Ge‐ schmacklosigkeit“ dar, der „wie ein groteskes Blechspielzeug auf seine Landes‐ kinder herab[starrt]“ (18). Von der einstigen Größe ist hier nichts mehr übrig: durch die Degradierung von einem veritablen Ort der Macht zu einem Kinder‐ spielzeug in den Händen des Feindes, Großbritannien, erscheint der Palast ge‐ schmacklos und grotesk. Für Grumbkow symbolisiert er nicht nur die Hoff‐ nungsarmut des Sultans auf Wiedererlangung seiner Macht, sondern auch die eigene, deutsche Hoffnungsarmut auf Wiedererlangung der verlorenen Kolo‐ nien. Liebe und Treue - ‚Unserer Neger‘ Die zweite Projektion, der in den vorliegenden Reisebüchern eine bedeutende Rolle zukommt, basiert auf dem von Lettow-Vorbeck initiierten Mythos des ‚treuen Askari‘, der in der Populärkultur der nachkolonialen Zeit tonangebend wurde. Dem Urteil der Alliierten entgegnend, dass die Afrikaner froh seien, die Deutschen los zu sein, wurden im kolonialrevisionistischen Diskurs in kürzester Zeit aus ‚primitiven Negern‘ ‚treue Askaris‘, deren sehnlichster Wunsch die 266 Sonja Malzner Rückkehr ihrer deutschen ‚Herren‘ war. So heißt es zum Beispiel im Vorwort von In Tropensonne und Urwaldnacht (1923) von Robert Unterwelz: „Für unsere Eingeborenen aber wird der schönste Lohn ihrer im Krieg uns bewiesenen Treue die Rückkehr ihrer ehemaligen Herren sein“. Nicht nur bei Unterwelz, sondern in fast allen der vorliegenden Reiseberichte wird die Treue der Soldaten, der Askaris, kurzerhand auf die Gesamtbevölkerung übertragen. Sämtliche Ein‐ wohner der ehemaligen ‚Schutzgebiete‘ fungieren so im Narrativ als Spielbälle, auf deren Rücken der Konflikt zwischen Freund und Feind ausgetragen wird. Es werden ihnen nicht nachweisbare Gefühle angedichtet und Aussagen in den Mund gelegt, um sie, je nach Situation, wahlweise als primitiv, hinterlistig und naiv oder aber als intelligent und vertrauenswürdig erscheinen zu lassen. Ein Paradebeispiel dieser Rhetorik stellt der Reisebericht Senta Dinglreiters dar: Be‐ reits im dementsprechend formulierten Titel Wann kommen die Deutschen end‐ lich wieder? (1935) wird das propagandistische Programm vorweggenommen. Im Vorwort, in dem die überzeugte Nationalsozialistin auf die ‚Kolonialschuld‐ lüge‘ Bezug nimmt, behauptet sie, dass „wilde Neger aus dem Busch“ gegen die Deutschen ausgesagt hätten, als es 1919 um die Frage der Nachfolge der Herr‐ schaft ging, „Eingeborene“ und „Schwarze“ jedoch hätten auf der Seite Deutsch‐ lands gekämpft (6-7). Der „Ewestamm“ in Togo, der nicht mit dem Wechsel der Herrschaft zufrieden war, sei „intelligent“ (53) und bei der Darstellung der Aus‐ beutung der Afrikaner durch nachfolgende, feindliche Kolonialmächte benutzt Dinglreiter den eindeutig positiv konnotierten Begriff des „schwarzen Arbei‐ ters“ (15). Auf visueller Ebene findet diese Darstellungsweise von intelligenten, weil deutschtreuen Afrikanern bei Freyberg (1933) Eingang. Die mit Gefühlen („Begeisterung“) unterfütterte fotografische Inszenierung ist integrativer Be‐ standteil des Narrativs: 267 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit Abb. 4: „Mit großer Begeisterung lesen die Eingeborenen der ehemaligen deutschen Ko‐ lonien die Kolonialzeitung“ (Freyberg 1933: 144-145) Der deutschtreue Afrikaner ist ein intelligenter Afrikaner, so der Grundtenor der Revisionisten, und deshalb ist es auch angebracht, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen, um den Vorwurf der Siegermächte zu entkräften, Deutsch‐ land sei der ‚zivilisatorischen‘ Aufgabe nicht gewachsen. „Ich erinnere nur daran“, so Heinrich Schnee im Vorwort zu Hans Poeschels Die Stimme Deutsch-Ostafrikas (1919), „wie die Eingeborenen im Tabora-Bezirk kürzlich beim Anblick eines Deutschen schrien: ‚Wadeutschi rudini‘ (kehrt zurück, Ihr Deutschen). Ich bin sicher, dass dieser Schrei, wenn auch unausgesprochen, un‐ aufhörlich aus den Herzen unserer ostafrikanischen Eingeborenen emporsteigt“ (2). Die Sehnsucht „unserer Eingeborenen“ ist demzufolge keine, die sich auf den Intellekt (und also auf die deutsche Art und Weise der Kolonialherrschaft) beschränkt, sondern eine Herzensangelegenheit. Dementsprechend werden auf dem Buchumschlag „unsere […] ostafrikanischen Neger“, die „die Stimme Deutsch-Ostafrikas“ symbolisieren (Männer, Frauen, Kinder), in der grafischen Form eines Herzens dargestellt: 268 Sonja Malzner Abb. 5: Buchumschlag Hans Poeschel: Die Stimme Deutsch-Ostafrikas (1919) Dieser Treue- und Liebesbeweis findet nicht nur auf kollektiver, sondern auch auf individueller Ebene statt. So interpretiert Fritz Behn in Kwa heri - Afrika! (1933) das Lachen und den Gruß der Frauen auf dem Markt als ein ihn lockendes, das den Ruf nach der Rückkehr der Deutschen in sich trägt und den imperialis‐ tisch-exotistisch-erotischen Topos von Afrika als einer reizenden Frau: Das Lachen der Frauen, von Herzen und ohne Nebengedanken, natürlich und aus dem Innern heraus leise lockend. Ihre weichen tönenden Stimmen, schmeichelnde Wärme, wenn sie sagen: „Jambo! Bana mkuba! “ - Guten Tag, Herr! “ Und sie betonen so lockend dieses jambo (101). Auch der persönliche Abschiedsschmerz wird auf Afrikaner übertragen, wofür sich der ‚boy‘ als Figur des treuen Dieners besonders gut eignet: „Vergiss mich nicht … Usinisahau! … kumbuke, bwana! Herr, sei eingedenk“ heißt es da in Kumbuke (1923) über den jungen Burschen, der „mit weitem Blick der großen Augen in die Ferne träumt und kaum die Lippen bewegt“ (327) - gemeint ist natürlich die Sehnsucht nach Deutschland. Behn (1933) beschreibt ebenfalls die vermeintliche Trauer ‚seines‘ ‚boys‘: 269 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 11 Eine bedeutende Ausnahme stellt der Reisebericht Wunderwege durch ein Wunderland (1938) von Gustav Adolf Gedat dar, in dem der Autor sich intensiv mit geopolitischen Fragen der durchreisten Regionen auseinandersetzt. Cf. Malzner 2013: 377-431. Mein boy, der Alte, steht bescheiden abseits und wartet auf mich. Zum letztenmal hat er wie alle diese Monate im Zelt und auf der Reise meine Sachen ausgepackt und in der Kabine aufgebaut. Mit unbeweglichen Mienen steht er da, aber traurig und ge‐ ängstigt sind seine Augen (190). Ob von persönlichen oder von kollektiven Gefühlen ausgehend konstruiert, die Grundaussage dieses Diskursstrangs der Treue- und Liebesbekundungen ist klar: Die Afrikaner leiden noch viel mehr unter ‚Versailles‘ als die Deutschen. Hass und Schande - Die koloniale ‚Schuldlüge‘ Vor allem im Vorwort und im Schlusskapitel bzw. der Schlusspassage wird in den untersuchten Reiseberichten die koloniale ‚Schuldlüge‘ und die Rückforde‐ rung der Kolonien explizit thematisiert. Bei manchen Publikationen der natio‐ nalsozialistischen Zeit ist dies wohl auch der Zensur bzw. dem Druck des Re‐ gimes auf die Verlage geschuldet, wenn der Rest des Reiseberichts ansonsten eher unpolitisch gehalten ist. Eine durchgängige Politisierung der Reiseberichte im Sinne eines geopolitischen Sachbuchs, in dem sich das Interesse der Rei‐ senden generell von „exotischen, kulturellen Besonderheiten einer Region“ hin zu deren „Rolle im globalpolitischen Kräftespiel“ verlagert (Hahnemann 2010: 184), ist im vorliegenden Korpus nur teilweise zutreffend: Zwar gerät das Inte‐ resse für den Anderen in den Hintergrund, der freigewordene Platz wird jedoch weniger auf geopolitische Themen verwendet, sondern vielmehr um die eigene, deutsche koloniale Kultur (aus der Erinnerung) darzustellen. 11 Explizite politi‐ sche Seitenhiebe auf andere Kolonialmächte werden dann nur punktuell einge‐ streut, wie zum Beispiel von Unterwelz, wenn er die „Ausbeutung“ der „Neger“ durch die portugiesische Kolonialverwaltung kritisiert - um die deutsche Art und Weise der Kolonialverwaltung hervorzuheben: So war es für jeden, der in portugiesisches Gebiet kam, ein Empfehlungsbrief, wenn er sagte: ‚Ich bin ein Deutscher‘. Die strenge, aber dabei doch gütige Gerechtigkeit der Deutschen stach in den Augen der Neger sehr ab von der Ausbeutung, die sie an ihren Herren kennengelernt hatten (77). Betont politische Emotionalität wird vor allem in denjenigen Publikationen des Untersuchungskorpus generiert, die erklärt dem ‚Deutschtum‘ in Afrika ge‐ widmet sind. Heroisierung deutscher Kriegshelden und der Widerstandskraft 270 Sonja Malzner ansässiger Deutschen (‚alte Afrikaner‘), Empörung über den ‚Raub‘ der Kolonien durch die Siegermächte, allen voran Großbritannien, sowie Erregung über deren Umgang mit den Einheimischen stehen hier thematisch im Vordergrund. Das psychologische Phänomen der Personalisation kolonial- und sozialpolitischer Zustände spielt dabei eine wesentliche Rolle, d. h. die Reisenden beziehen äußere Fakten auf eine sehr persönliche Ebene, was sich in ihrem Diskurs als Empörung, Fremdschämen und dem Verdacht der Beleidigung ausdrückt. Schlieben (1941) zum Beispiel erzählt, wie sich der schwarze Fahrer einer belgischen Reisege‐ sellschaft in Usumbura mit an den Tisch setzt und alle gemeinsam Bier trinken. „In Daressalam oder irgendeinem anderen Orte in Deutsch-Ostafrika oder Kenya wäre so etwas undenkbar! Später in Westafrika, selbst in der britischen Kolonie Nigerien sollte ich aber noch ganz andere Sachen erleben …“ (401), in‐ digniert sich der Deutsche. Das Ausrufezeichen und die Auslassungspunkte verleihen seiner Empörung Nachdruck. Bei P. C. Ettighofer (1938) gehen die Gefühlsbezeugungen noch tiefer: er schämt sich regelrecht für die Engländer, weil ihr Verhalten den Afrikanern gegenüber eine Schande für die „weiße Rasse“ darstelle. Konkret geht es um das Fußballspiel einer britischen, „weißen“ Mann‐ schaft gegen „Eingeborene“ in Tanga: Der Sportler wird sagen: ‚Das ist doch nun einmal so bei uns Männern vom Sport. Im Berliner Olympia-Stadion sah man auch Schwarze‘. Richtig, aber dort war es anders als hier. In Tanga, im Land der Schwarzen, tritt eine weißhäutige Elf an, und außer dieser Mannschaft gibt es bei diesem Treffen nur ganz wenige Europäer. Dagegen drängen sich wohl an die zehntausend Schwarze und Inder rings um den Platz, bilden hier Publikum und Richter. Die elf Weißen sind von vornherein blamiert und machen sich lächerlich, wenn sie auch nur ein Tor verlieren. Verlieren sie keins, so lacht man sie aus, weil sie so schwer um jedes Tor kämpfen müssen. Bei jedem guten Schuss der farbigen Mannschaft setzt ein ohrenbetäubendes Geheul ein, schießt aber ein Eng‐ länder, und ist das Tor der Schwarzen in Gefahr, so herrscht eisiges Schweigen. Jeder einzelne Farbige hier betrachtet innerlich und vielleicht unbewusst dieses Spiel als eine Auseinandersetzung zwischen der weißen und der schwarzen Rasse. Spöttisch klingt zehntausendfaches Lachen, wenn ein Weißer ausgleitet und - in eine Staub‐ wolke gehüllt - auf dem Boden dahinrutscht. […] Warum brechen die elf Weißen das Spiel nicht ab? Warum lassen sie sich weiterhin von den elf schwarzen Spielern stoßen und treten? Wallt in ihren Adern nicht das Blut der Normannen und Wikinger beim Anblick dieser Nachkommen von Sklaven, die unsportlich und offensichtlich für ihre Partei, ihre dunkelhäutige Mannschaft, kämpfen. Ich schäme mich für die Engländer, schäme mich im Namen der weißen Rasse, die hier, bei diesem Spiel, wieder ein Stück ihres Ansehens verliert. Gewiss, der Sport soll international sein und die Völker ei‐ nigen, ohne Rücksicht auf Hautfarbe und Sprache, aber es ist ein Unterschied, unter 271 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit 12 Im Jahr davor, 1954, erschien das Jugendbuch Kwa Heri, Bwana! , in dem Lettow-Vorbeck Kriegs- und Jagderlebnisse aus der Zeit seiner militärischen Einsätze in den ‚Schutzge‐ bieten‘ erzählt. Die Ereignisse werden darin zum Teil fiktionalisiert in eine Art Aben‐ teuerroman überführt, der - nach wie vor - deutsches ‚Heldentum‘ und den Mythos der ‚treuen Askaris‘ in den Mittelpunkt stellt. welchen Umständen und vor welchem Publikum ein Match ausgefochten wird. Im Land der Schwarzen darf der Weiße nur Herr bleiben. Diese englische Fußballmann‐ schaft hat sich durch ihr Spiel vor Farbigen gegen Farbige viel mehr erniedrigt, als das überhaupt möglich wäre. (227-228) Man möchte meinen, dass diese Rhetorik dem revisionistischen Diskurs des Nationalsozialismus geschuldet ist, der unbeugsame Lettow-Vorbeck allerdings vermutet auch noch 1955 beim Besuch des Sultans von Sansibar einer persön‐ lichen Ehrverletzung durch einen Briten ausgesetzt zu sein. Er mutmaßt in seinem Reisebericht, dass der anwesende „höhere englische Beamte“ während der Audienz seine Tochter „von oben herab behandeln wollte“ (58). „Es war ein belangloser Zwischenfall, der mir aber zu denken gab“, so Lettow-Vorbeck arg‐ wöhnisch, bevor er in der Folge ausführlich in kolonialrevisionistischer Manier darlegt, dass „man […] uns Deutschen, die wir in solcher drangvoller Enge leben und Luft und Arbeitsmöglichkeit brauchen, nicht den Zugang [zu Ostafrika] in so hohem Maße erschweren [sollte]“ (59). 12 Neben der Personalisation findet noch ein weiteres psychologisches Phä‐ nomen Eingang in den politischen Diskursstrang. Es handelt sich um den Ab‐ wehrmechanismus der Verleugnung von Fakten, der sich vor allem auf sprach‐ licher Ebene manifestiert, indem wiederholt auf den Gebrauch von Possessivpronomen zurückgegriffen wird. Neben dem bereits erwähnten Aus‐ druck „unsere Neger“ wird auch von „unseren Kolonien“ und von „deutschem Boden“ gesprochen, in überaus konsequenter Weise zum Beispiel bei Hans Jo‐ achim Schlieben in Deutsch Ost-Afrika einmal ganz anders (1941). Bei P. C. Et‐ tighofer manifestiert sich diese Strategie bereits im Titel, wo es heißt Mit Auto und Kamera durch unsere Kolonien (1938). Eingefügte Landkarten werden ebenso benutzt, um diese Negierung auf visueller Ebene zu vermitteln. Landkarten sind aufgrund ihrer vermeintlichen Objektivität ja ideale Orte, um ‚Wahrheiten‘ zu zementieren, wie im vorliegenden Fall die „Politische Karte des heutigen Afrika mit Italiens Kaiserreich Äthiopien“ aus dem Jahr 1941, auf der bei der Beschrif‐ tung die jeweiligen Mandate unterschlagen werden: 272 Sonja Malzner Abb. 6: Karte in: Reichskolonialbund (ed.): Das Volksbuch unserer Kolonien (1941) Die Karte zeigt demnach keine administrative Realität, sondern stellt vielmehr die kartographische Repräsentation einer ideologischen Projektion dar, die auf vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Prinzipien basiert (cf. Brotton 2013: 372). Das erhöht ihren propagandistischen Wert enorm, denn auf den ersten 273 Trauer, Wut, Empörung, Hass: Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit Blick wirkt sie neutral und objektiv, obwohl sie lediglich ein einer Wunschvor‐ stellung entsprungenes Phantasiegebilde ist. Ehre und Leidenschaft - Handlungsmotor Emotion Die Thematisierung des durch den Versailler Vertrag provozierten Ehrverlusts einer Nation, die sich zutiefst gedemütigt fühlte, ist im überwiegenden Teil der Afrika-Reisebücher der Zwischenkriegszeit in unterschiedlich intensiver Aus‐ prägung präsent. Ehre, als „mot-force“, kann wie kein anderes „nationale Lei‐ denschaft entfachen, mobilisieren und dirigieren“ (Frevert 2020: 42), was vor allem vom rechten, nationalistischen Lager genutzt wurde, um den revisionis‐ tisch-revanchistischen Diskurs im Land emotional anzuheizen. Im kolonialen Diskurs führte dies zu der paradoxen Entwicklung, dass ein während der Kolo‐ nialzeit uneinheitlicher und nur beschränkt wahrgenommener Diskurs sich erst nach dem Verlust der Kolonien vereinheitlichte: „Erst der Kolonialrevisionismus in den 1920er Jahren erfindet die geschlossene Vergangenheit kolonialer Ein‐ heit“ (Warnke 2009: 36). Eine Einheit, die in Afrika-Reiseberichten der Zwi‐ schenkriegszeit insbesondere durch ein emotional aufgeladenes Erinnerungs‐ narrativ heraufbeschworen wird. Vor allem in dezidiert propagandistischen Publikationen wurden Emotionen bewusst und zielgerichtet als Teil einer poli‐ tischen Strategie eingesetzt, und durchaus auch explizit thematisiert. Das Au‐ genmerk der vorliegenden Untersuchung lag jedoch nicht so sehr bei der „The‐ matisierung“ von Gefühlsäußerungen, die explizit im Text ausgedrückt werden, sondern bei deren „Präsentation“ (Winko 2003: 329-348, 338 sq.), d. h., wie diese implizit mit dem Text, dem Bild, der Karte, dem péritexte vermittelt werden. Festgestellt konnte dabei werden, dass die Strategien der impliziten, ‚ver‐ steckten‘ Leserlenkung und Informationsvergabe (cf. Klausnitzer 2012: 220) in Bezug auf Emotionen multipel sind und die Möglichkeiten, die der Reisebericht als plurimediales Medium (cf. Malzner 2013) bietet, ausgeschöpft werden: Emo‐ tionen werden sowohl mit sprachlichen Mitteln als auch durch visuelle Ele‐ mente, die grafische Gestaltung und Beschriftung der eingefügten Landkarten, durch Motivwahl und Inszenierung auf Fotografien, durch die Umschlaggestal‐ tung und den Titel generiert, wobei häufig psychologische Projektionen zum Einsatz kommen, bis hin zur psychologischen Abwehrreaktion der Verleugnung von Fakten. Als populäres Dispositiv (Hickethier 2003), das auf verschiedenen, zum Teil unbewusst wahrgenommenen Ebenen an den Rezipienten appelliert, ist der Beitrag des Afrika-Reiseberichts zur Aufrechterhaltung und Steigerung einer politisch motivierten Emotionalität bei breiten Bevölkerungsschichten, allen voran der Jugend, an die sich viele der Reiseberichte dezidiert richten, 274 Sonja Malzner demnach nicht zu unterschätzen. Er kann so eine tragende Rolle im ‚Projekt Revisionismus‘ übernehmen, denn Emotionen führen zu Handlungen. Auch wenn in vielen der untersuchten Reisebücher aus dramaturgischen Gründen eine Fiktionalisierung der Ereignisse bzw. Erlebnisse vorgenommen wird, über‐ wiegt in ihnen der realweltliche Aspekt. Das unterscheidet sie von rein fiktio‐ nalen Texten, deren rein ästhetisch induzierte Emotionen beim Leser nicht zum Versuch einer unmittelbar realweltlichen Bewältigung der vorgeführten Kon‐ flikte führen, weil er sich bewusst ist, dass es sich ‚nur‘ um eine Fiktion handelt (cf. Klausnitzer 2012: 220). In den vorliegenden Reiseberichten steht jedoch trotz mancher Fiktionalisierung der realweltliche Aspekt im Vordergrund und es ist durchaus beabsichtigt, dass die emotionalen Reaktionen des (jungen) Lesers in konkreten Handlungen (cf. Klausnitzer 2012: 217) münden. Bibliografie Authaler, Caroline, „Das völkerrechtliche Ende des deutschen Kolonialreichs“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40-42, 2019. 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Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft Programm - Projekte - Perspektiven 2009, 290 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6540-2 Band 21 Thomas Stauder (éd.) L’Identité féminine dans l’œuvre d’Elsa Triolet 2010, 439 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6563-1 Band 22 Niklas Bender / Steffen Schneider (Hrsg.) Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 2010, 241 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6583-9 Band 23 Lothar Albertin (Hrsg.) Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union Partner auf dem Prüfstand 2010, IV, 225 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6598-3 Band 24 Didier Alexandre / Wolfgang Asholt (éds.) France - Allemagne, regards et objets croisés La littérature allemande vue de France/ La littérature française vue d’Allemagne 2011, XVIII, 277 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6660-7 Band 25 Walburga Hülk / Gregor Schuhen (Hrsg.) Haussmann und die Folgen Vom Boulevard zur Boulevardisierung 2012, 218 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6661-4 Band 26 Ursula Bähler / Peter Fröhlicher / Patrick Labarthe / Christina Vogel (éds.) Figurations de la ville-palimpseste 2012, 159 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6662-1 Band 27 Franziska Sick (Hrsg.) Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2012, 243 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6698-0 Band 28 Nicole Colin / Corine Defrance / Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 542 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6882-3 Band 29 Barbara Berzel Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne 2012, 444 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6746-8 Band 30 Hans Manfred Bock Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs- Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit 2014, 675 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6728-4 Band 31 Thomas Amos / Christian Grünnagel (Hrsg.) Bruxelles surréaliste Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur 2013, 138 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6729-1 Band 32 Annette Keilhauer / Lieselotte Steinbrügge (éds.) Pour une histoire genrée des littératures romanes 2013, 139 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-6784-0 Band 33 Béatrice Costa Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville 2014, 248 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6872-4 Band 34 Anja Hagemann Les Interactions entre le texte et l’image dans le ‹‹Livre de dialogue›› allemand et français de 1980 à 2004 2013, VI, 261 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6808-3 Band 35 Theresa Maierhofer-Lischka Gewaltperzeption im französischen Rap Diskursanalytische Untersuchung einer missverständlichen Kommunikation 2013, 438 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6835-9 Band 36 Margarete Zimmermann (éd.) Après le Mur: Berlin dans la littérature francophone 2014, 268 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-6879-3 Band 37 Hans-Jürgen Lüsebrink / Sylvère Mbondobari (éds.) Villes coloniales/ Métropoles postcoloniales Représentations littéraires, images médiatiques et regards croisés 2015, 285 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6940-0 Band 38 Roswitha Böhm / Cécile Kovacshazy (éds.) Précarité Littérature et cinéma de la crise au XXI e siècle 2015, 186 Seiten €[D] 28,- ISBN 978-3-8233-6936-3 Band 39 Julia Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur 2015, XI, 289 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6916-5 Band 40 Hubert Roland (éd.) Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts 2016, 250 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8043-6 Band 41 Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext 2016, 358 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8059-7 Band 43 Herbert Huesmann Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots Eine literarische Suchbewegung 2017, 550 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8125-9 Band 44 Elisabeth Schulze-Witzenrath Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute 2017, 422 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8162-4 Band 45 Martina Stemberger La Princesse de Clèves, revisited Re-Interpretationen eines Klassikers zwischen Literatur, Film und Politik 2018, 699 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8187-7 Band 46 Rita Schober - Vita. Eine Nachlese Ediert, kommentiert und mit Texten aus Archiven und dem Nachlass erweitert von Dorothee Röseberg 2018, 366 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8227-0 Band 47 Susanne Becker Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé 2019, 311 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8289-8 Band 48 Dietmar Hüser / Ansbert Baumann (Hrsg.) Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren 2020, 300 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8294-2 Band 49 Andreas Gelz / Christian Wehr Biofictions ou la vie mise en scène Perspectives intermédiales et comparées dans la Romania 2022, ca. 300 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8376-5 Band 50 Olivier Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse (Hrsg.) Empörung, Revolte, Emotion Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies 2022, 277 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8492-2 lendemains Dieser Sammelband erörtert die Relevanz der aktuellen Emotionsforschung für die verschiedenen Fachrichtungen der Germanistik. Besonders berücksichtigt wird dabei eine bestimmte Emotion: die Empörung, als individueller und als kollektiver Affekt, als ein Gefühl aber auch als ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. ISBN 978-3-8233-8492-2