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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

2022
978-3-8233-9494-5
Gunter Narr Verlag 
Jana Gamper
Britta Hövelbrinks
Julia Schlauch
10.24053/9783823394945
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Angesichts der Corona-bedingten Verlagerung von Unterricht ins Digitale und Private stehen vor allem neu zugewanderte Schüler:innen und ihre Lehrkräfte vor besonderen Herausforderungen beim Lernen und Lehren. Der Sammelband trägt dazu aktuelle empirische Erkenntnisse zu veränderten zweitsprachlichen Lehr-Lern-Prozessen zusammen und stellt sie für Forschung und Bildung zur Diskussion.

Lockdown, Homeschooling und Social Distancing: Der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch (Hrsg.) Lockdown, Homeschooling und Social Distancing Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch (Hrsg.) Lockdown, Homeschooling und Social Distancing: Der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie Publiziert mit Unterstützung des Open Access Publikationsfonds der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Zentrums für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen. Jana Gamper ORCID: 0000-0001-6268-4880 Institut für Germanistik Justus-Liebig-Liebig Universität Gießen, Deutschland Britta Hövelbrinks ORCID: 0000-0002-8210-887X Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Interkulturelle Studien Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland Julia Schlauch ORCID: 0000-0003-1433-5429 Institut für Germanistik Justus-Liebig-Liebig Universität Gießen, Deutschland DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394945 © 2021 · Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die / den ursprünglichen Autor / innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Umschlagabbildung: E-Learning von zu Hause aus. istockphoto, Stock-ID: 1220111612, da-kuk Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8494-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9494-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0295-7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 Teil I 31 55 81 Teil II 109 135 Inhalt Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zweitspracherwerbs unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven auf Schulunterricht und Schulentwicklung für neu zugewanderte Schüler: innen Satu Guhl / Daniel Rellstab Perspektiven von Lehrer*innen auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen an Schulen in Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . Cosima Lemke-Ghafir / Kristina Nazarenus / Christin Schellhardt / Dorotheé Steinbock, unter Mitarbeit von Aylin Braunewell „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“. Homeschooling während des Lockdowns aus Sicht von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften aus Vorbereitungsklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Barakos / Simone Plöger Wissenschaftliche, bildungspolitische und schulpraktische Ansprüche an Sprachunterricht in Internationalen Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen des Lockdowns auf die Sprachentwicklung von Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache Jessica Lindner Die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule. Eine vergleichende Datenanalyse unter regulären und pandemiebedingten Lehr- und Lernsettings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Schlauch / Jana Gamper Unterbrochenes Lernen? Eine korpusanalytische Studie zu Auswirkungen pandemiebedingter Schulschließungen auf den Zweitspracherwerb . . . . . Teil III 165 195 223 247 Digitale Lehr-Lern-Prozesse im Zweitspracherwerb erwachsener Lerner: innen Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: . Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen: Eine explorative Interviewstudie im Projekt Sprachbegleitung Geflüchteter . . . . . . . . . . . . . . Tamara Zeyer / Dietmar Rösler Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene im virtuellen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Daase / Eliška Dunowski Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen. Herausforderungen, Gefahren und Möglichkeiten in Zeiten sozialer Distanz und digitalen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 vgl. z. B. https: / / www.deutschlandfunk.de/ corona-als-brennglas-das-virus-und-die-soz iale-frage.4216.de.html? dram: article_id=478523 [13. 07. 2021]. 2 vgl. z. B. https: / / www.giessener-allgemeine.de/ giessen/ pandemie-brandbeschleuniger -13793207.html [13. 07. 2021]. 3 vgl. z. B. das Interview der Bundeszentrale für politische Bildung mit El-Mafaalani vom 30. 07. 2020 (https: / / www.bpb.de/ politik/ innenpolitik/ coronavirus/ 313446/ bildungsger echtigkeit [12. 07. 2021]) sowie zahlreiche Berichte von Betroffenen, z. B. im Deutsch‐ landfunk am 29. 05. 2020 aus Sicht einer Schülerin der Landesschülervertretung NRW (https: / / www.deutschlandfunk.de/ probleme-mit-homeschooling-schule-ist-ein-lebens Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zweitspracherwerbs unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung in den Band Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch Nachdem spätestens im März 2020 die COVID -19-Pandemie Deutschland er‐ reicht hat, wurde schnell klar, dass die Pandemie nicht bloß eine medizinische Krise ist. Bereits nach wenigen Wochen und Monaten wurden Metaphern wie ‚Corona als Brennglas‘ 1 oder gar ‚Corona als Brandbeschleuniger‘ 2 bemüht, die der allgegenwärtigen Wahrnehmung Ausdruck verliehen, dass die Pandemie Missstände unterschiedlichster Art gemeinhin sichtbar macht. Besonders of‐ fenbar wurden diese Missstände im Bereich der Bildung, allen voran des Lern‐ orts Schule. Kaum etwas wurde öffentlich so intensiv und kontrovers diskutiert wie die Frage, ob und wann auch Schulen in den Lockdown gehen sollten. Da‐ raus resultierten zahlreiche Fragen nach dem richtigen Umgang mit Schüler: innen und Lehrkräften in der Pandemie, nach Digitalisierungsstrategien für Schulen und den Folgen des Distanzlernens für Familien. Im Verlauf der Pandemie und besonders mit Blick auf die Diskussion bezüglich der pandemie‐ bedingten Schulschließungen wiesen Expert: innen schon früh darauf hin, dass nicht alle Lerner: innen gleichermaßen von den Auswirkungen der Schulschlie‐ ßung betroffen seien. Besonders sozial benachteiligte und leistungsschwächere Schüler: innen drohe eine Bildungsbenachteiligung, weil grade diese Lerner: innen auf das gemeinsame Lernen in Präsenz angewiesen seien. 3 raum.680.de.html? dram: article_id=477017 [12. 07. 2021]) oder mit Blick auf Neuzuge‐ wanderte in der Zeit-Reportage vom 07. 06. 2020 (https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ schu le/ 2020-06/ schule-fluechtlinge-corona-homeschooling-internationale-foerderklasse-if oe/ seite-2 [12. 07. 2021]) sowie in der Süddeutschen Zeitung vom 02. 06. 2020 (https: / / ww w.sueddeutsche.de/ muenchen/ starnberg/ coronakrise-landkreis-starnberg-fluechtlings kinder-1.4924669 [12. 07. 2021]). Obwohl bildungspolitische Entscheidungen solche Mahnungen nach beson‐ deren Lernbedarfen teils berücksichtigten und in entsprechende Notbetreu‐ ungsregelungen überführten, blieb eine Gruppe mit ebenso besonderen, aber anders gelagerten Lernbedarfen bis heute fast unsichtbar: neu zugewanderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die noch am Anfang ihres Deutsch‐ erwerbs stehen und deshalb in außerordentlich hohem Maße auf soziales Mit‐ einander, das die Voraussetzung für jegliches sprachliches Lernen darstellt, an‐ gewiesen sind. Während die Pandemie Forschende, Lehrende, weitere bildungspolitisch verantwortliche Akteur: innen und auch Eltern auf gesell‐ schaftliche und darunter besonders bildungspolitische Missstände aufmerksam macht, bleibt die pandemiebedingte Situation für Neuzugewanderte während der gesamten Pandemie in der Öffentlichkeit nahezu unsichtbar (vgl. auch Rude 2020). Bis auf O-Töne ‚aus der Praxis‘, die Einblicke in die teils dramatische Lage, aber auch in individuelle, innovative Lösungen geben, erfahren die Bedürfnisse und Bedarfe Zugewanderter weder im öffentlichen Diskurs noch in der For‐ schung die notwendige Aufmerksamkeit, die die Thematik Zuwanderung und Bildung aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive erfordern würde. Aus dieser Beobachtung heraus speist sich die Motivation für den vorlie‐ genden Sammelband. Er verfolgt das Ziel, eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe in den Fokus zu rücken, die wahrscheinlich besonders unter den Folgen von Kontaktreduktionen, schulischem und außerschulischem Distanzlernen und das Angewiesensein auf individuelle Ressourcen gelitten hat. Die pande‐ miebedingten mittel- und langfristigen Folgen können sich für Neuzugewan‐ derte besonders stark auswirken, grade weil für sie die benannten Einschrän‐ kungen in einen elementaren Sprachlernprozess eingreifen, der die Weichen für individuelle Bildungsbiographien stellt. Dass diese Lerner: innen auch im Kon‐ text der Pandemie anhaltend nicht berücksichtigt werden, kann dabei massive gesellschaftliche Folgen haben, was Integrationsprozesse und -erfolge angeht. Mit dieser Ausgangslage sollen an dieser Stelle im Sinne einer Bestandsauf‐ nahme, die angesichts der sich rasant und dynamisch entwickelnden Forschung zu pandemiebedingten Folgen nur eine Momentaufnahme sein kann, For‐ schungserkenntnisse zu (positiven wie negativen) Auswirkungen pandemiebe‐ dingter Maßnahmen im Bereich des Lehrens und Lernens zusammengeführt 10 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch werden. Aus den bisherigen Befunden sollen erste Annahmen zur spezifischen Pandemiesituation für Neuzugewanderte formuliert werden, die es dringend zu beforschen gilt. Dazu soll im Folgenden in einem ersten Schritt die Lerngruppe näher bestimmt und eingegrenzt werden. 1 Zugewanderte im deutschen Bildungssystem Massumi und von Dewitz definieren Neuzugewanderte als „Kinder und Jugend‐ liche […], die im schulpflichtigen Alter (sechs Jahre oder älter) nach Deutschland migrieren und zu diesem Zeitpunkt über keine oder nur geringe Deutschkennt‐ nisse verfügen“, wobei Deutschkenntnisse dann als „nur gering“ gelten, wenn sie „nicht als ausreichend angesehen werden, um erfolgreich am Unterricht in einer Regelklasse an einer deutschen Schule teilzunehmen“ (Massumi / von De‐ witz 2015: 13). Der Begriff ist also ursprünglich auf das schulische Sprachlernen bezogen und stellt heraus, dass Partizipation an einem (in diesem Fall schuli‐ schen) Regelsystem denjenigen vorbehalten zu sein scheint, deren Deutsch‐ kenntnisse als ausreichend eingestuft werden. Dabei ist nicht klar definiert, was im Einzelfall ausreichend bedeutet. Ebenso unklar ist, wer darüber entscheidet, wann Deutschkenntnisse ausreichen und wie überprüft wird, ob sie ausreichen. Trotz dieser substantiellen Lücken wird Sprache, oder genauer sprachliche Fä‐ higkeiten im Deutschen, zur Voraussetzung für soziale Teilhabe gemacht. Dies ist keinesfalls auf die von Massumi und von Dewitz zurückgehende Begriffsde‐ finition zurückzuführen, vielmehr bildet diese eine gängige Praxis ab: Kompe‐ tenzen in der Mehrheitssprache werden bei Zugewanderten zur notwendigen Voraussetzung für Partizipation im weiteren Sinne, d. h. sowohl im Kontext von Bildungsinstitutionen als auch gesamtgesellschaftlich, gemacht. Im Kontext von Integrationsmaßnahmen kommt der Ausbildung ‚ausreichender‘ Sprachkennt‐ nisse im Deutschen somit eine Schlüsselfunktion zu. Entscheidend am Begriff Neuzugewanderte ist zudem das dem Partizip vo‐ rangestellte Adjektiv neu. Es suggeriert, dass es einen Unterschied gibt zwischen neu zugewanderten und zugewanderten Personen, der wiederum an Sprachfä‐ higkeiten festgemacht wird. Werden nämlich Deutschkenntnisse als ausrei‐ chend eingestuft, so verliert eine neu zugewanderte Person lediglich das Attribut ‚neu‘ - zugewandert bleibt sie trotzdem. In Bildungsstatistiken werden Zuge‐ wanderte dabei häufig in einer Sammelkategorie wie Personen / Schüler: innen mit Migrationshintergrund oder nicht-deutscher Herkunftssprache oder auch DaZ-Lerner: innen subsummiert, häufig ohne zusätzliche Differenzierung indi‐ vidueller Bildungs- und / oder Sprachbiographien. 11 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung Die vorgestellte Definition von Massumi und von Dewitz (2015) bezieht sich explizit auf Kinder und Jugendliche in der Schule. Basierend auf der hier vor‐ genommenen Auslegung der Definition lässt sich der Begriff jedoch auch auf (junge) Erwachsene übertragen. Auch jenseits schulischer Bildungsinstitutionen wird hier für Zugewanderte Sprache zur Bedingung für Partizipation gemacht. Die Parallelen zeigen sich besonders darin, dass beispielsweise der Studienzugang vom Nachweis sprachlicher Fertigkeiten (mit) abhängig ist. Zu‐ gewanderte Erwachsene sind, je nach Aufenthaltsstatus, teils verpflichtet zum Besuch sog. Integrationskurse, die im Grunde Sprachkurse sind, und zum Ab‐ legen entsprechender Sprachprüfungen. Sprachkompetenzen fungieren dann als Zugangsvoraussetzung zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Sozialer Teil‐ habe ist, vereinfacht gesagt, ein Sprachkurs vorgeschaltet. Dieser Usus findet sich in ähnlicher Form auch in der Schule in Form sog. Vorbereitungsklassen, die dem Aufbau grundlegender Deutschkenntnisse dienen, bevor zu‐ gewanderte Schüler: innen in Regelklassen übergehen dürfen. Zugleich ist die Art der Beschulung bei neu zugewanderten Schüler: innen, wie die Gruppe selbst, in enormem Maße heterogen. Das Spektrum der Beschulungsmodelle reicht von vollständig separierten Klassen bis hin zu vollständiger Inklusion in Regelklassen von Beginn an. Dazwischen finden sich unterschiedliche teilin‐ klusive bzw. teilseparierende Modelle (vgl. für einen Überblick Ahrenholz et al. 2016, Decker-Ernst 2017, Massumi / von Dewitz 2015). Jenseits des konkreten Lernorts und auch jenseits konkreter individueller Bedarfe, die aus einem komplexen Ineinandergreifen unterschiedlichster indi‐ vidueller sowie externer Lernfaktoren erwachsen, ist das Erwerben grundlegender Kenntnisse im Deutschen für alle Neuzugewanderten das wichtigste und auch drängendste Lernziel. Dieses Ziel ist, wenn man so will, der kleinste gemeinsame Nenner für die hochgradig heterogene Lerngruppe. Die COVID -19-Pandemie und die damit einhergehende Verlagerung jeglichen Lernens in die Distanz stellt für diese Gruppe einen tiefen Einschnitt in den elementaren Sprachlernprozess dar. 12 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch 2 Lernen und Lehren während der Pandemie „Ich habe jeden Sonntag mit meiner Tochter die Mails von ihrem Lehrer sortiert und einen Wochenplan für sie erstellt“ (O-Ton einer Mutter von 3 Kindern im Juni 2020) Im Kontext der globalen Ausbreitung von COVID -19 stellte die Schließung jeg‐ licher Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten, außerinstitutionelle Lernorte) weltweit eines der wichtigsten Mittel zur Eindämmung der Pandemie dar. In Deutschland erfolgte die Schließung aller Bildungseinrichtungen am 18. März 2020 für zunächst sieben Wochen, Ausnahmeregelungen gab es ledig‐ lich in Schulen für Kinder und Jugendliche mit Eltern in sog. systemrelevanten Berufen. Ab dem 4. Mai durften ausgewählte Lerngruppen - Abschlussklassen und zum Teil auch Lernende mit besonderem Unterstützungsbedarf - nach und nach in den eingeschränkten Regelbetrieb mit erheblich reduzierter Präsenzzeit wechseln, dies erfolgte mit großen bundesland- und zum Teil sogar schulspezi‐ fischen Unterschieden (vgl. für einen Überblick über Maßnahmen und Regelungen Fickermann / Edelstein 2020: 10-13, Fickermann / Edelstein 2021a: 8-17 sowie Reintjes et al. 2021: 7-11). Eine Vielzahl von Schüler: innen hatte erst ab Mitte Juni erstmals wieder Zutritt zu ihrer Schule, das entspricht einer Präsenz‐ unterbrechung, die mehr als das Doppelte der Sommerferienzeit beträgt, und auch nach der Schulöffnung gab es wenig Kontinuität. Die sich dynamisch ent‐ faltende Pandemiesituation führte dazu, dass grade Schulen wenig bis keine Planungssicherheit hatten und sowohl für das weitgehende Aussetzen als auch für hybride Modelle des Lernens kreative Konzepte und Lösungen in möglichst kurzer Zeit entwickeln und umsetzen mussten. Für viele Lehrkräfte, Schullei‐ tungen, Schüler: innen und Familien wurde der Schulbesuch reduziert auf eine wochenweise Planung, die wiederum jederzeit durchbrochen werden konnte von Quarantänemaßnahmen. Angesichts der fast schon unüberschaubaren Vielfalt an Regelungen zu Schulöffnungen und unterschiedlichsten Planungsstrategien ist es nahezu un‐ möglich, die Fülle ebendieser zu erfassen. Hinzu kam, dass die Bundesländer ab November 2020 eigene Stufenpläne - meist in Form von Ampelsystemen - in Abhängigkeit von lokalen Inzidenzzahlen entwickeln konnten, um regional auf das Infektionsgeschehen reagieren zu können. Eine einheitliche Schulschlie‐ ßung kam nach der inzwischen 21-monatigen Pandemiesituation erneut am 16. Dezember 2020 durch den vorgezogenen Start der Weihnachtsferien zu‐ stande. Diesmal blieben die Schulen bis Mitte Februar bundesweit geschlossen (neun Wochen, wieder mit Ausnahmeregelungen zur Betreuung), danach kam 13 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung 4 vgl. für konkrete Daten https: / / en.unesco.org/ sites/ default/ files/ duration_school_closu res.csv [12. 07. 2021] sowie https: / / en.unesco.org/ covid19/ educationresponse#durations choolclosures [12. 07. 2021] für die dazugehörige bildungspolitische Analyse zu beiden Lockdowns im internationalen Vergleich; vgl. außerdem Blum / Dobrotiç (2021). es erneut zu regionalen Stufenplänen, etwa Ende April 2021 waren alle Schulen weitestgehend im eingeschränkten Regelbetrieb. Universitäten und auch au‐ ßerinstitutionelle Bildungsorte blieben im gesamten Zeitraum nur stark einge‐ schränkt zugänglich oder sogar gänzlich geschlossen. In der Schule lassen sich - nach bisherigem Stand - somit zwei größere ‚Lockdowns‘ ausmachen, die das Lernen und Lehren von Grund auf veränderten, wobei der zweite Lockdown Ende November mit etwa fünf Monaten deutlich länger anhielt als der erste. In der Summe blieben in Deutschland Schulen 34 Wochen (teilweise oder vollständig) geschlossen, teils deutlich länger als im Vergleich zu anderen (west-)europäischen Ländern. 4 Im Zuge der Lockdowns - und darin insbesondere der vollständigen Schul‐ schließungen - mussten die Schulen jegliches Lernen auf Distanzlernen und damit sowohl auf synchrone Formate unter Rückgriff auf digitale Instrumente als auch asynchrone Formate umstellen. Alle Bildungseinrichtungen, ganz be‐ sonders jedoch die Schulen, sind mit den Möglichkeiten des Distanzlernens sehr unterschiedlich umgegangen. Wie genau sich die abrupte Umstellung auf Dis‐ tanzlernen an Schulen ausgestaltet hat, ist inzwischen Gegenstand zahlreicher Studien. So lagen bereits recht früh im Pandemieverlauf (teils repräsentative) Erhebungen zur konkreten Ausgestaltung des Distanzlernens und zum Einsatz digitaler Lehr-Lern-Tools vor (vgl. z. B. Eickelmann / Drossel 2020, Huebener et al. 2020, Geis-Thöne 2020, Tengler et al. 2020, Wößmann et al. 2020). Insgesamt kommen diese Studien zum Fazit, dass synchrone Lernumgebungen in Form von Videokonferenzen im Vergleich zu asynchronen Lernangeboten, bei denen Ma‐ terialien und Aufgaben zwar teils digital per Mail oder Lernplattform abgerufen, aber weitgehend selbstständig bearbeitet werden müssen, nicht die Regel dar‐ stellten. Das Aufrechterhalten des Kontakts per Videokonferenz fand in 20-30 % der Fälle statt (vgl. Eickelmann / Drossel 2020: 17; Huebener et al. 2020: 870; Wößmann et al. 2020: 33). Huebener et al. (2020: 871) machen hierbei zudem einen deutlichen Schultypeffekt aus: An Gymnasien wurden synchrone Formate deutlich häufiger eingesetzt als an anderen weiterführenden Schulformen sowie insbesondere an Primarschulen. In sog. Akademikerhaushalten finden sich dabei häufiger Formen des direkten Kontakts (per Videokonferenz oder indivi‐ duellen Gesprächen) als in Nicht-Akademikerfamilien (vgl. Wößmann et al. 2020: 33). An diesem grundsätzlichen Gefälle ändert sich auch im zweiten Lock‐ down nichts, obwohl der Anteil an Videokonferenztools als Mittel des Distanz‐ 14 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch unterrichts hier steigt (vgl. Wößmann et al. 2021: 48). Nur ein Teil des Unter‐ richts bzw. nur einige Schüler: innen hatten somit die Möglichkeit, in der gewohnten Lerngruppe und v. a. in direkter Interaktion mit der Lehrkraft zu lernen. Für die meisten anderen bedeuteten die Lockdowns die Umstellung auf ein weitgehend selbstverantwortliches und auch selbstorganisiertes Lernen. Be‐ sonders alarmierend ist dabei die Tendenz, dass asynchron selbstorganisierte und digital abgegebene Lernprodukte zum Teil keine Rückmeldung durch Lehr‐ kräfte erfuhren. Laut einer Elternbefragung zum Homeschooling im ersten Lockdown übermittelten knapp zwei Drittel der Schüler: innen ihre bearbeiteten Aufgaben digital und erhielten dazu nicht selbstverständlich - d. h. in 20-25 % der Fälle selten oder niemals - eine Rückmeldung (vgl. Wildemann / Hosenfeld 2020: 24-27 sowie Wößmann et al. 2021: 48). Für die jeweils involvierten Akteur: innen stellte diese Umstellung eine teils große Herausforderung dar: So mussten Schulen die Infektionssicherheit dort gewährleisten, wo der Zugang zu Schulen möglich gemacht wurde, sie mussten in sehr kurzer Zeit unterschiedlichste Maßnahmen und Verordnungen umsetzen und auch die Infrastruktur für digitales Lernen für ihre Schüler: innen im Home‐ schooling bereitstellen. Von Lehrenden wurde ein hohes Maß an Flexibilität im Umgang mit individuellen Bedarfen, ein teils sehr hohes Engagement sowie die zügige und weitgehend selbstständige Umstellung auf Distanzlehrformate er‐ wartet. Lernende standen vor der Aufgabe, sich selbst zu organisieren (z. B. mit‐ hilfe von - teils selbst erstellten - Wochenplänen), selbstverantwortlich zu han‐ deln und z. B. eigenständig auf Probleme aufmerksam machen, sich selbst zum Lernen zu motivieren und unter Ablenkung selbstdiszipliniert zu arbeiten. Di‐ gitale Medienkompetenzen sowie das Vorhandensein kompetenter Personen im familiären Umfeld wurden dabei fast schon vorausgesetzt (vgl. Frohn 2020: 67, 71 f., 73). Eltern waren mehr denn je in der Pflicht, Lernverläufe technisch und inhaltlich zu ermöglichen und zu unterstützen. Wie Lehrkräfte, Schüler: innen, aber auch Eltern mit dieser Situation umge‐ gangen sind, ist ebenfalls Gegenstand von inzwischen zahlreichen (und in der Zahl wachsenden) teils repräsentativen Befragungen (vgl. z. B. Andresen et al. 2020a, 2020b; Demski et al. 2021; Dietrich et al. 2021; Geis-Thöne 2020; Grewenig et al. 2020; Holtgrewe et al. 2020; Huber / Helm 2020; Leibniz Institut 2020, 2021; Wildemann / Hosenfeld 2020; Wößmann et al. 2020, 2021). Aus den bishe‐ rigen Ergebnissen lässt sich zum einen folgern, dass sich die Lernzeit im Mittel für die meisten Schüler: innen deutlich reduziert hat (vgl. Wößmann et al 2020: 28; Wößmann et al. 2021: 38), am stärksten bei leistungsschwächeren Kindern und Jugendlichen aus Nicht-Akademiker-Haushalten (vgl. z. B. Dietrich et al. 2021: 357 f.; Grewenig et al. 2020: 7 f.; Wößmann et al. 2020: 28). Nicht nur 15 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung Schüler: innen beschreiben Situationen der Überforderung mit den Anforde‐ rungen des Distanzlernens (vgl. Holtgrewe et al. 2020: 3 f.), auch ihre Eltern sehen die implizite Anforderung, das Lernen zu Hause zu unterstützen, mehr‐ heitlich als wenig erfolgreich an und schätzen den Lernzuwachs im Vergleich zum Präsenzunterricht als (z. T. deutlich) geringer ein (vgl. Leibniz Institut 2020: 7). Grundsätzlich kommt eine Reihe von Studien zu dem Befund, dass individu‐ elle und familiäre Ressourcen als Voraussetzung für selbstverantwortliches Lernen teils stark divergieren und dabei häufig vom familiären Bildungshinter‐ grund abhängig zu sein scheinen (vgl. u. a. Fuchs-Schündeln et al. 2020, Gre‐ wenig et al. 2020). Die technische Ausstattung stellt sich dabei zunächst nicht für alle als grundsätzliche Hürde dar, denn die meisten Jugendlichen verfügen zumindest über einen Zugang zu Computern, Laptops oder Tablets (abhängig vom sozialen Status, im Mittel knapp 90 % der 12- und 14-Jährigen, vgl. Geis-Thöne 2020: 11). Rude stellt dar, dass dies auch auf 85 % der Kinder mit Migrationshintergrund zutrifft, bei geflüchteten Kindern liegt der Anteil hin‐ gegen unter 50 % (vgl. Rude 2020: 49). Deutlich weniger haben jedoch Zugriff auf einen eigenen Computer (ca. 28 % der 12-Jährigen und 40 % der 14-Jährigen, vgl. Geis-Töhne 2020: 12). Entscheidender als die technischen Ressourcen sind jedoch Faktoren wie die individuelle Lesekompetenz (vgl. Leibniz-Institut 2021: 3) oder auch allgemeine motivationale Faktoren (vgl. z. B. Wildemann / Hosen‐ feld 2020: 9-13) sowie die grundsätzliche Erreichbarkeit von Schüler: innen (vgl. Einschätzung der Lehrer: innen in Eickelmann / Drossel 2020: 16). Insgesamt, so lässt sich mit inzwischen großer Sicherheit sagen, entscheidet der individuelle familiäre Bildungshintergrund sowie die individuelle Leis‐ tungsstärke (wobei beide Faktoren teils co-abhängig sind) in einem hohen Maße darüber, wie gut oder schlecht Schüler: innen mit dem Distanzlernen umgehen (konnten). Angesichts dieses Befundes stellt sich die unmittelbare Frage nach individuellen sowie gesamtgesellschaftlichen Folgen dieses Auseinanderklaf‐ fens. Bildungsökonomische Studien prognostizieren hierzu volkswirtschaftliche Langzeitschäden, die durch Unterrichtsausfall verursacht werden können (vgl. z. B. Wößmann 2020). Auf Lernentwicklung hin ausgerichtete Studien weisen zugleich recht deutlich darauf hin, dass Schulschließungen eine Form der Lern‐ unterbrechung darstellen und Lernstagnationen sowie Lernrückstände hervor‐ rufen, wobei auch hier ohnehin bildungsbenachteiligte Lerner: innen in beson‐ derem Maße von solchen Folgen betroffen sind (vgl. für einen systematischen Überblick Hammerstein et al. 2021 sowie im Besonderen für Deutschland Dep‐ ping et al. 2021 sowie Schult et al. 2021). Schüler: innen und Eltern bestätigen die Sorge, dass die Schulschließungen zu teils deutlichen Lernrückständen führen (vgl. IfD 2021: 32). 16 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch 3 Pandemiebedingte Auswirkungen auf Neuzugewanderte „Es ist so traurig mit anzusehen, wie uns viele Schüler: innen entgleisen. Einige meiner DaZ-Schüler: innen verstehe ich teil‐ weise gar nicht mehr, da sie die gespannten Laute nicht mehr hinbekommen. Da fehlt das (Muskel-)Training. Bei anderen fehlt die Einstellung zum Lernen oder einfach nur die Möglichkeit, in Ruhe zu lernen.“ (O-Ton einer Lehrerin für Geographie und Deutsch als Zweit‐ sprache im März 2021) Die in Abschnitt 2 berichteten Beobachtungen und Befunde sind zunächst all‐ gemeiner Natur und gelten nicht im Besonderen für Neuzugewanderte. Wie bereits erwähnt, finden neu zugewanderte Lerner: innen nur wenig oder gar keine Berücksichtigung in den teils groß angelegten und repräsentativen Stu‐ dien. So findet sich bspw. in den 84 Projektsteckbriefen, die Fickermann / Edel‐ stein (2021b) in Bezug auf die Erforschung der Auswirkungen der Pandemie auf Lern- und Lehrprozesse zusammengeführt haben, kein einziges mit einem Bezug zu Deutsch als Zweitsprache im weiteren Sinne. Auch in (umfangreicheren) Publikationen, die sich zur Rolle der Sprachentwicklung im Kontext des Dis‐ tanzlernens explizit äußern (so z. B. Gogolin 2020, Maaz / Becker-Mrotzek 2021), findet sich keinerlei Erwähnung der besonders vulnerablen Gruppe der Neuzu‐ gewanderten (zur Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen vgl. Rude 2020). Gleiches gilt für Expertisen, die bildungspolitische Empfehlungen und Strategien zum Gegenstand haben und punktuell Entscheidungsgrundlage für die Krisensitzungen der Bundesregierung und Landesminister: innen waren (wie die Stellungnahme der Leopoldina 2020 am 15. April 2020 zur Beratung der Schulöffnungen, vgl. Fickermann / Edelstein 2020: 11). Fast schon erschreckend sind diejenigen Expertisen, die mehrsprachige Schüler: innen sowie Schüler: innen mit kognitiv bedingten Lernschwierigkeiten in einer Kategorie abhandeln (so z. B. Baumann et al. 2021: 28). Die Marginalisierung einer ohnehin marginalisierten Gruppe scheint, und das ist keineswegs als Vorwurf an die hier erwähnten Arbeiten zu verstehen, also ein strukturelles Problem zu sein. Dies gilt ganz besonders für quantitative Studien und solche, die auf Paneldaten zu‐ rückgreifen können. Wird der Faktor Zuwanderung aufgegriffen, dann, wie oben bereits erwähnt, in Form größerer Kategorien wie Migrationshintergrund (vgl. Danzer 2020, Geis-Thöne 2020, OECD 2020) oder familiärer Multilingualität (vgl. Holtgrewe et al. 2020). Geis-Thöne macht mithilfe von SOEP -Daten aus dem Jahr 2018 17 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung 5 Vgl. hierzu auch Frohn (2020: 75), die hervorhebt, dass besonders bildungsschwächere Schüler: innen auf den direkten Kontakt zur Lehrkraft angewiesen sind. deutlich, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechter dastehen, was die Größe des Wohnraums oder die Verfügbarkeit eines eigenen Zimmers, einer Lernsoftware oder schulbezogenen Büchern angeht, gleichzeitig aber eine über‐ durchschnittlich starke Lernmotivation seitens der Familie erfahren. Mit Danzer (2020) lassen sich besonders diese materiellen Ungleichheiten mit der grund‐ sätzlichen sozioökonomischen Benachteiligung von Menschen mit Migrations‐ hintergrund erklären. Sozial und familiär bedingte Lernbedingungen sind somit für diese Schüler: innen weniger günstig. Die Situation verschärft sich ganz be‐ sonders bei geflüchteten Lerner: innen, die bspw. in Sammelunterkünften leben (vgl. Rude 2020). Holtgrewe et al. können mittels einer Befragung von Schüler: innen, Eltern und Lehrkräften zeigen, dass Lernende in „multilingualen Haushalten“ sich häufiger überfordert mit der Gesamtsituation (2020: 4) sowie mit der Aufgabenbewältigung im Homeschooling (vgl. Holtgrewe et al. 2020: 11) fühlen, jedoch tendenziell sicherer im Umgang mit den geforderten digitalen Medien (vgl. Holtgrewe et al. 2020: 9). Darüber hinaus wünschen sie sich mehr Austausch in ihrer Lerngruppe (vgl. Holtgrewe et al. 2020: 14). Diese Befunde, nämlich vielmals schlechtere materielle und auch familiäre Ressourcen sowie das besonders dringliche Fehlen des sozialen Miteinanders zeigt sich in den (u. W. bisher wenigen) qualitativen Studien, die sich neu zuge‐ wanderten Lerner: innen widmen. So zeigen Hüttmann et al. (2020) mittels einer Interviewstudie, dass geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene eine ge‐ ringere technische Ausstattung, geringere Kompetenzen im Umgang mit digi‐ talen Medien und nur eingeschränkte persönliche Unterstützungssysteme haben, die allesamt durch sprachliche Schwierigkeiten verstärkt werden. Lerner: innen würden grade aufgrund der noch im Aufbau befindlichen Deutsch‐ kompetenzen faktisch von Partizipation ausgeschlossen (vgl. Hüttmann et al. 2020: 16 f.), weil Verständnisschwierigkeiten das Lernen stark beeinträchtigen oder gar unmöglich machen (vgl. dazu auch Popyk 2020: 8). Grade bei Geflüch‐ teten kommen, bedingt durch unsichere Aufenthaltsperspektiven, massive Exis‐ tenz- und Zukunftsängste hinzu (vgl. Kollender / Nimer 2020: 6). Primdahl et al. (2021) heben hierbei die besondere Rolle der Lehrkraft hervor, die dazu aufge‐ fordert ist, den direkten Kontakt auf meist sehr kreative Weise aufrechtzuer‐ halten. 5 Ohne Einzelkontakte, und dieser Punkt ist zentral, findet für viele Zu‐ gewanderte kaum Interaktion im Deutschen statt. Der besondere Förderbedarf besteht für Neuzugewanderte somit im Zugang zum Input zum Deutschen, der wiederum ausschließlich in Form des sozialen Miteinanders (in direktem Aus‐ 18 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch 6 Diese Information entstammt der persönlichen Konversation mit Hessener Vorberei‐ tungsklassenlehrkräften. Es ist anzunehmen, dass auch andernorts Entscheidungen oder Absprachen über ein solches Vorgehen, sei es schulintern oder auf übergeordneten Ebenen, vorlagen. Eine systematische Berücksichtigung in den Verordnungen der Bil‐ dungs- und Kultusministerien lässt sich jedoch nicht sichtbar machen. 7 vgl. exemplarisch den „Leitfaden zum Umgang mit heterogenen Lernständen infolge der Corona-Pandemie“ des Thüringer Bildungsministeriums (TMBJS 2021), in dem „Lernende mit Förderbedarf in Deutsch als Zweitsprache“ (TMBJS: 15 ff.) gesondert berücksichtigt werden. tausch mit der Lehrkraft oder in der Peergroup) zugänglich gemacht wird. Dies unterscheidet sie von anderen Gruppen mit ebenfalls drängenden, aber eben anders gelagerten Bedarfen. Die Erreichbarkeit der Betroffenen ist, wegen der schlechteren materiellen und besonders technischen Ausstattung, zugleich nicht immer gegeben und auch nicht immer möglich (vgl. Rude 2020: 52). Indi‐ viduelle materielle, familiäre, soziale und sprachliche Ressourcen gehen somit Hand in Hand. Die große Notwendigkeit der sozialen Interaktion wird in einigen Empfeh‐ lungen explizit thematisiert (so z. B. bei Baumann et al. 2021), die bevorzugte Berücksichtigung von DaZ-Lerner: innen im Kontext von Öffnungsstrategien der allgemeinbildenden Schulen punktuell angemahnt (vgl. z. B. Geis-Thöne 2020: 20). Das Land Berlin hat diesen besonderen Bedarf für neu zugewanderte Lerner: innen erkannt und eine Empfehlung dahingehend ausgesprochen, dass sog. Willkommensklassen (d. h. Vorbereitungsklassen) im Kontext einer Priori‐ sierung von Präsenzbedarfen zu berücksichtigen sind (vgl. Sen BJF 2020). Auch andere Bundesländer wie z. B. Hessen sollen Vorbereitungsklassen den einge‐ schränkten Präsenzbetrieb präferiert ermöglicht haben. 6 Ob und von wie vielen Schulen diese Empfehlungen in welcher Form umgesetzt wurden, ist u. W. nicht systematisch erfasst worden. Aktuell werden zudem erste Überlegungen zu der Frage sichtbar, wie neu zugewanderte Lerner: innen im nächsten Schuljahr zu fördern seien und wie sich (vermeintliche) Lernrückstände kompensieren lassen, 7 auch hier ist die weitere Entwicklung noch nicht absehbar. In der Summe lässt sich folgern, dass bei neu zugewanderten Lerner: innen mehrere besonders ungünstige Faktoren zusammenkommen, die das Distanz‐ lernen in der COVID -19-Pandemie schwierig bis unmöglich gemacht haben. Das Zusammenwirken von geringen materiellen und technischen Ressourcen, das Wegbrechen sozialer Unterstützungssysteme, prekäre Bleibeperspektiven und ganz besonders keine oder nur geringe Deutschkenntnisse stellen zusammen eine Bildungsbedrohung für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene dar. Trotz der teils dramatischen Situation für diese Lerner: innen und auch trotz der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit Blick auf 19 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung die soziale und gesellschaftliche Integration dieser Lerner: innen zeigt sich in der bisherigen Forschung - oder ggf. auch ursächlich in der Verteilung von For‐ schungsaufträgen - eine fast schon systematische Vernachlässigung dieser Gruppe. Die wenigen Forschungsarbeiten, die sich zu neu zugewanderten Lerner: innen finden, beziehen sich zudem auf Kinder und Jugendliche. Studien oder Expertisen zu neu zugewanderten erwachsenen DaZ-Lerner: innen (wie etwa Studierende oder Lernende in Integrationskursen) fehlen u. W. bisher wei‐ testgehend (vgl. für Schüler: innen mit DaZ auf dem zweiten Bildungsweg jedoch Demski et al. 2021). Einige wenige Erkenntnisse wie die Expertise der OECD (2020) zeigen jedoch, dass im Bildungssektor für Erwachsene (z. B. bei vhs-Sprachkursen) zwar Mittel zur Digitalisierung verfügbar gemacht wurden, die online-Lernangebote von den Kursteilnehmer: innen jedoch nicht immer wahrgenommen werden konnten. Auch hier liegen die Gründe in geringeren materiellen Ressourcen, allen voran jedoch in nicht weit genug ausgebauten sprachlichen Kompetenzen begründet (vgl. OECD 2020: 19 f.). Die obigen Be‐ funde gelten somit für kindliche, jugendliche und erwachsene Neuzugewan‐ derte gleichermaßen. Der vorliegende Band möchte vor dem Hintergrund dieser Befunde einen Beitrag dazu leisten, die Gruppe neu zugewanderter Lerner: innen in den Fokus zu rücken und damit auf ihre besondere Problemlage hinweisen. Der Band ver‐ folgt dabei das Ziel, die durch die COVID -19-Pandemie veränderten Lehr-Lern-Bedingungen für neu zugewanderte Lerner: innen in ihren unter‐ schiedlichen Facetten, die sich auch durch die Heterogenität der Lernenden selbst ergibt, darzustellen. Neben den Perspektiven von und auf DaZ-Lerner: innen sollen auch Erfahrungen, Positionen und Handlungsspiel‐ räume weiterer Akteur: innen wie Lehrer: innen, und bildungspolitisch Verant‐ wortlicher dargestellt werden. Das Ziel des Bandes erschöpft sich dabei nicht darin, lediglich Missstände und Probleme aufzuzeigen. Vielmehr sollen auch Problemlösungswege aufgezeigt und in Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit über die Pandemiezeit hinaus geprüft werden. Der Band ist hierbei in drei themati‐ sche Teile gegliedert. Teil I richtet den Fokus auf Schulunterricht und Schulentwicklung für neu zugewanderte Schüler: innen an allgemeinbildenden Schulen und berücksichtigt dabei Einschätzungen von Schüler: innen, Lehrer: innen und bildungspolitischen Akteur: innen. Satu Guhl und Daniel Rellstab eröffnen den Band mit einem Blick auf die Rolle der Lehrer: innen im pandemiebedingt veränderten Unterricht. Anhand episodischer Interviews mit Lehrer: innen in Vorbereitungsklassen an Grund- und weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg werden deren Erfah‐ 20 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch rungen während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 dargestellt und daraus gezogene Konsequenzen der Akteur: innen für die erneuten Schulschlie‐ ßungen zum Jahreswechsel 2020-21 reflektiert. Die im Kontext der kritischen Language Policy-Forschung angesiedelte Studie zeigt die Gestaltungsspiel‐ räume von Lehrkräften im Spannungsfeld bildungsinstitutioneller Vorgaben und (Sprach-)Ideologien auf, die über die Pandemiesituation hinaus gültig sind. Cosima Lemke, Kristina Nazarenus, Christin Schellhardt und Doro‐ thée Steinbock analysieren anhand von problemzentrierten Interviews mit 13 Schüler: innen aus zwei Vorbereitungsklassen (mit und ohne Alphabetisie‐ rung) deren Einschätzungen zum Lernen in Distanz während der pandemiebe‐ dingten Schulschließungen. Sie arbeiten die schülerseitige Perspektive auf die Veränderungen bzw. Verlagerungen des Lernens ins Homeschooling, den dabei wahrgenommenen sprachlichen Lernfortschritt sowie die Konsequenzen für soziale Kontaktmöglichkeiten heraus und zeigen dabei die entscheidende Rolle von sprachlicher Interaktion untereinander sowie mit der Lehrkraft für den Spracherwerb und damit für gesellschaftliche Partizipation auf. Elisabeth Barakos und Simone Plöger liefern eine mehrperspektivische Problematisierung des Homeschoolings für Schüler: innen in Internationalen Vorbereitungsklassen. Sie verknüpfen dazu die Sichtweisen von Wissenschaft, Bildungspolitik (d. h. eine Schulbehörde) und Schulpraxis (d. h. eine Einzel‐ schule) und verbinden dabei theoretische Vorüberlegungen mit illustrierenden O-Tönen aus Interviews mit dem Schulbehördenleiter und DaZ-Lehrkräften. Die Ausschnitte zeigen, dass schon die grundlegendsten Voraussetzungen (techni‐ sche Ausstattung und digitale Erreichbarkeit) die schulbezogene Kommunika‐ tion auf Distanz erheblich stören können. In Teil II des Bandes finden sich Beiträge, die die Auswirkungen des Lock‐ downs auf die Sprachentwicklung von Schüler: innen mit Deutsch als Zweit‐ sprache anhand von Analysen sprachlicher Daten sichtbar machen. Jessica Lindner rückt in ihrem Beitrag Schulanfänger: innen in den Fokus, die erst mit fünf Jahren und damit kurz vor Schuleintritt nach Deutschland ein‐ gewandert sind und Deutsch als Zweitsprache lernen. Sie greift auf Daten von 30 neu zugewanderten Erstklässler: innen des Schuljahres 2018 / 2019 (ohne Pan‐ demie) und 2019 / 2020 (pandemiebedingte Schulschließungen von über zwei Monaten) zurück und vergleicht deren Leistungen in einschlägigen standardi‐ sierten Tests zu Lese- und Schreibfähigkeiten ( WLLP -R, ELFE II und HSP 1+), zunächst quantitativ im Gruppenüberblick und dann differenzierter anhand von je einem Fokuskind der beiden Kohorten. Ihre Analysen bestätigen ihre Hypo‐ these, dass die pandemiebedingten Schulschließungen zu Benachteiligungen in 21 Zweitspracherwerb unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung der Lese- und Rechtschreibentwicklung bei neu zugewanderten Zweitsprach‐ lerner: innen führen. Julia Schlauch und Jana Gamper diskutieren die Schulschließungen im Lockdown im Frühjahr 2020 als mögliche Lernunterbrechung, die sich in der Sprachentwicklung neu zugewanderter Schüler: innen in Vorbereitungsklassen bemerkbar machen könnte. Um dieser Frage nachzugehen, analysieren sie 45 Lerner: innentexte, die kurz vor und nach den ersten Schulschließungen von 16 Schüler: innen geschrieben wurden, in Hinblick auf die darin realisierten Verbstellungsmuster. Ihr zweistufiges profilanalytisches Vorgehen bestätigt für einen Teil der Schüler: innen gewisse Rückschritte oder Stagnationen in den Er‐ werbsstufen, für einzelne Schüler: innen aber auch die Tendenz zur Weiterent‐ wicklung ihrer zweitsprachlichen Kompetenzen, die von den Autorinnen hin‐ sichtlich interner und externer Faktoren diskutiert wird. Teil III schließlich umfasst Beiträge, welche die digitalen Lehr-Lern-Pro‐ zesse bei erwachsenen DaZ-Lerner: innen in den Fokus rücken. Im Beitrag von Ahmed Ezzad Ragab Hassan, Mary Matta und Anne Schwarz wird ein besonderes Kursangebot in den Mittelpunkt gerückt, nämlich zweisprachige, kontrastiv vorgehende Alphabetisierungskurse für Erst- und Zweitschriftlernende im Erwachsenenbereich ( KASA -Kurse). Auch diese Kurse waren im ersten Lockdown von Abbrüchen des Präsenzunterrichts und damit massiven Unterrichtsveränderungen betroffen. Im Beitrag werden zunächst die Auswirkungen der Pandemie auf die Kurse und daran anschließend die Reakti‐ onen von Lernenden, Lehrenden und Koordinator: innen im Projekt anhand il‐ lustrierender Beispiele aufgezeigt und mit Blick auf die Lernvoraussetzungen und damit Potentiale der Zielgruppe diskutiert. Magdalena Can, Mareike Müller und Constanze Niederhaus stellen ein Projekt zur Sprachbegleitung Geflüchteter durch Studierende und dessen Ge‐ staltung unter Pandemiebedingungen dar. Der explorative Zugang über Inter‐ views mit teilnehmenden Geflüchteten, in denen diese ihre Wahrnehmung der Sprachbegleitung reflektieren, macht einen Spracherwerbskontext sichtbar, der auf die Herstellung kommunikativer Praxis und sozialer Teilhabe fokussiert ist und sich damit von einem Sprachkursformat grundsätzlich unterscheidet. Wäh‐ rend Sprachkurse für die dargestellten Lerner: innen in der Pandemie wegbre‐ chen, bleibt das Projekt die Brücke zur sprachlichen Praxis. Resultierend daraus ergibt sich für das Projekt nicht nur eine Überführung ins Digitale, sondern auch eine Flexibilisierung in Bezug auf sprachunterrichtsähnliche Formate, wobei auch Möglichkeiten und Grenzen dieser Veränderungen diskutiert werden. Tamara Zeyer und Dietmar Rösler richten ihren Blick auf studieninteres‐ sierte Geflüchtete, deren universitär verankerter Sprachkurs pandemiebedingt 22 Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch auf digitale Formate - genauer auf Videokonferenzen mit ergänzenden digitalen Tools - umgestellt wurde. Dieser Unterricht wurde aus Sicht von Lehrenden und Lernenden aufgezeichnet und um Reflexionen der beteiligten Akteur: innen ergänzt. Zeyer und Rösler nutzen diese Mehrperspektivität, um Potentiale und Grenzen digitaler Lehr-Lern-Formate sowie weiterführend Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Online- und Präsenzsprachkursen - auch über die Pandemie hinaus - zu diskutieren. Im abschließenden Beitrag des Bandes reflektieren Andrea Daase und Eliška Dunowksi die Umsetzbarkeit berufsbezogener DaZ-Unterrichtsformate in digitaler Form aus praxistheoretischer Sicht. Vor dem Hintergrund der Sprachaneignung als sozialer Praxis und daraus resultierenden Anforderungen an die praktische Gestaltung berufsbezogener Kursformate, diskutieren die Au‐ torinnen anhand exemplarischer Erfahrungen Potentiale und Grenzen digitalen Unterrichts. Literatur Ahrenholz, Bernt / Fuchs, Isabel / Birnbaum, Theresa (2016): „dann haben wir natürlich gemerkt der übergang ist der knackpunkt". Modelle der Beschulung von Seitenein‐ steigern in der Praxis. 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Kruse 2015) analysierten episodischen Interviews mit Lehrer*innen in Vorbereitungsklassen an Grundschulen und weiterführ‐ enden Schulen in Baden-Württemberg vorgestellt. Die Analysen zeigen, wie der Unterricht während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 or‐ ganisiert wurde, welche Erfahrungen damit gemacht und welche Konse‐ quenzen für die erneute Schulschließung im Januar / Februar 2021 gezogen wurden. Es wird deutlich, wie die Lehrer*innen als lokale Akteur*innen mit Vorgaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen umgehen, und welche Rolle auch sprachideologische und sprachpraktische Aspekte dabei spielen (vgl. Spolsky 2017). Über die akute Krisensituation hinausge‐ hend wird so erkennbar, welchen Einfluss Lehrkräfte auf die Ausgestaltung und Umsetzung von Language Education Policies haben. 1 Einleitung In Baden-Württemberg wurden Vorbereitungsklassen ( VKL ) in der Annahme eingerichtet, dass Kenntnisse der Schulsprache das Fundament einer gelin‐ genden Integration wären (vgl. Ministerium KJS 2017a). Die Vorstellung, dass durch die Einrichtung von Vorbereitungsklassen „gelingende Integration“ zu bewerkstelligen wäre, ist, wie auch die jüngsten PISA -Studien zeigen, zu ein‐ fach; dass die Vorbereitungsklassen selbst komplexe Arenen sind, in welchen nicht bloß die Schulsprache vermittelt und die Lernenden in die Kulturen der Schulen sozialisiert werden, zeigt die bildungs- und sprachwissenschaftliche sowie migrationspädagogische Forschung, die sich mit diesem Bereich des Bil‐ dungssystems befasst. Bundesweite (vgl. Massumi / von Dewitz 2015) und län‐ derspezifische Bestandsaufnahmen (vgl. Decker-Ernst 2017) zeigen, wie unter‐ schiedlich die Modelle sind, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden, um Kinder und Jugendliche, deren Kenntnisse in der Schulsprache als zu gering betrachtet werden, zu fördern. Aspekte der Segregation, insbesondere bei pa‐ rallel organisierten Beschulungsmodellen, wurden unter anderem von Kara‐ kayalı / Nieden (2018) oder ganz aktuell von Füllekruss / Dirim (2020) in den Blick genommen. Fragen des Spracherwerbs oder der Organisation von Übergängen in den Regelunterricht (vgl. Budde / Prüsmann 2020) sind tendenziell mit Schwerpunkt auf die Sekundarstufe und im Hinblick auf die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen thematisiert worden. Dabei wird auch aus fachdidakti‐ scher Perspektive zunehmend nach der Erweiterung der auf Lehrkräfte und Schüler*innen bezogenen mikroperspektivischen Ebene und nach der migrati‐ onsgesellschaftlichen Einbettung des Geschehens gefragt (vgl. Budde / Prüs‐ mann 2020: 7). Die sprachenpolitische Perspektive nimmt nicht nur in den Blick, wie spra‐ chenpolitische Vorgaben auf staatlicher Ebene entwickelt und umgesetzt werden. Aktuelle Ansätze berücksichtigen immer auch die Perspektiven unter‐ schiedlicher Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen (vgl. Tollefson 2015: 144 f.). In der kritischen Language Policy-Forschung (siehe etwa Tollefson 2009) wird dabei auch die Frage danach gestellt, ob bestimmte sprachenpoliti‐ sche Praktiken für bestimmte Gruppen, zum Beispiel neu zugewanderte Schüler*innen, benachteiligend sein könnten. So weist etwa Shohamy (2009) darauf hin, dass die Entscheidungen darüber, welche Sprachen unterrichtet, wie diese Sprachen unterrichtet, aber etwa auch, wie diese Sprachen getestet werden, keine neutralen Akte sind, sondern durch Ideologien, auch Sprachide‐ ologien, geprägt sind. Language Education Policies, so Shohamy (vgl. 2009: 50), entstehen aus einer Vielzahl von Wahrnehmungen über Sprachen und deren Sprecher*innen. Alle beteiligten Akteur*innen, von den Bildungspoli‐ tiker*innen bis hin zu den Lehrkräften, sind immer schon durch gesellschaftlich vorherrschende Wissensbestände über natio-ethno-kulturell-linguale (Nicht-)Zugehörigkeit(en) geprägt und positionieren sich aktiv oder passiv dazu (vgl. Füllekruss / Dirim 2020: 79). Lehrer*innen befinden sich aus dieser Per‐ spektive im Zentrum komplexer sprachpraktischer und sprachenpolitischer 32 Satu Guhl / Daniel Rellstab Prozesse (vgl. Menken / Garcia 2017: 211); und sie sind, wie die Forschung zeigt, ebenfalls zu einem beträchtlichen Maß daran beteiligt, Integration und Inklusion in Bildungsinstitutionen zu ermöglichen oder zu verhindern (vgl. Fettes / Kara‐ mouzian 2018). Die Bandbreite der Praktiken und die spezifischen Mechanismen an Schulen, aus denen die tatsächlich realisierte Sprachenpolitik in den Unterrichtsprak‐ tiken resultieren, ist bis jetzt noch unbekannt (Menken / Garcia 2017: 220), und die überaus heterogene Gruppe von Schüler*innen, die als „neu zugewandert“ kategorisiert werden (vgl. Massumi / von Dewitz 2015: 13), befindet sich im Brennpunkt sprachenpolitischer Auswirkungen und multilingualer Spracher‐ werbsprozesse. Die Sichtweise von Language Policy als Zusammenspiel der As‐ pekte Sprachmanagement, Sprachpraktiken und Sprachideologien (vgl. Spolsky 2017) erlaubt es, Language Education als Sprachmanagement zu sehen: Ma‐ nagement in dem Sinne, dass jemand, der Autorität hat oder zumindest bean‐ sprucht, mit der Absicht handelt, die Sprachpraktiken eines Individuums zu be‐ einflussen oder zu verändern, zum Beispiel seine Sprachkenntnisse zu erweitern (vgl. Spolsky 2017: 5). Hier setzt unser Beitrag an, welcher den Fokus auf die Lehrkräfte richtet. Während der COVID -19-Pandemie 2020 / 21 waren Lehrkräfte damit konfron‐ tiert, ihre Unterrichtsorganisation passend zu den jeweiligen landespolitischen Vorgaben auf die besonderen Bedürfnisse der neu zugewanderten Schüler*innen abzustimmen. Wie Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen mit der komplexen Ge‐ mengelage sprachenpolitischer Vorgaben umgehen, wie sie sich diese aneignen und umsetzen, wurde bislang im deutschsprachigen Raum kaum untersucht; wie sich die durch die COVID -19-Pandemie bedingten Veränderungen auf ihren Schulalltag in der Vorbereitungsklasse auswirken, wurde bislang nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im öffentlichen Diskurs kaum thematisiert. Im Rahmen unserer qualitativ-rekonstruktiven Studie zu Language Education Policies im Kontext der Bildung mehrsprachiger neu zugewanderter Schüler*innen in Baden-Württemberg wurden mit Lehrkräften in Vorberei‐ tungsklassen an Grundschulen und weiterführenden Schulen episodische In‐ terviews geführt. Diese wurden nach GAT (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert, um eine mikrosprachliche Feinanalyse (vgl. Kruse 2015: 475) im Sinne des in‐ tegrativen Basisverfahrens (vgl. Kruse 2015) zu ermöglichen. Weitere, insbe‐ sondere narrative Analyseverfahren (vgl. Bamberg / Georgakopoulou 2008; Goodwin 2016), wurden als methodische Analyseheuristik für die Feinanalyse integriert, und die Interpretation auf der Folie der kritischen Language Po‐ licy-Forschung (z. B. Wiley / García 2016) reflektiert. Dabei wird aus der „Pano‐ ramaperspektive“ in die „Nahperspektive“ gewechselt, um „die aus der Ferne 33 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen wahrnehmbaren Konturen verlässlicher zu erkennen und punktuell genauer zu erkunden“ (Meng 2001: 15). Die Analyse von vier episodischen Interviews, die im Dezember 2020 und Januar 2021 entstanden und jeweils ca. 90 Minuten dauerten, bietet einen Ein‐ blick, wie die Lehrkräfte mit Vorgaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen während der Pandemie umgehen. Der Erhebungszeitpunkt erlaubt einen Rückblick auf die erste Schulschließung im Frühjahr 2020 sowie auf die Phase der teilweisen Schulöffnungen im Sommer und Herbst bis hin zu Aktivi‐ täten, um sich auf die drohende erneute Schulschließung im Januar 2021 vor‐ zubereiten. Es wird sichtbar, wie sich die Lehrer*innen selbst positionieren, welche Rollen sie sich im Prozess der Ausgestaltung des Unterrichts zu‐ schreiben, welche Praktiken und Strategien sie entwickeln, wie sie diese legiti‐ mieren und welche (sprach-)ideologischen Positionen sie dabei rekonstruieren. Es wird sichtbar, wie sie damit die konkrete Ausgestaltung der Bildungsvorgabe beeinflussen, „neu zugewanderten“ Kindern die Schulsprache in einem Maß zu vermitteln, dass sie an der jeweiligen Schule in den Regelunterricht integriert werden können. 2 Schulische Rahmenbedingungen für Sprachförderung und Vorbereitungsklassen in Baden-Württemberg Bundesweit liegen verschiedene schulorganisatorische Modelle zur Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen vor, die sich zwischen den Polen eines sub‐ mersiven Modells des Unterrichts in der Regelklasse ohne spezifische Deutsch‐ förderung bis hin zu einem parallelen Modell mit Unterricht in speziell einge‐ richteten Klassen bewegen; zwischen diesen Polen gibt es stärker integrative Varianten von Regelklassen mit zusätzlicher Sprachförderung sowie teilinte‐ grative Varianten, in denen die Schüler*innen in eigenen Klassen beschult werden, aber anteilig bereits am Unterricht der Regelklasse teilnehmen (vgl. Massumi / von Dewitz 2015: 44). Inzwischen zielen alle schulorganisatorischen Modelle darauf ab, einen schnellstmöglichen Übergang in das Regelsystem zu ermöglichen. Wie die politischen Rahmenvorgaben der Länder zur Schulorga‐ nisation dann im Detail umgesetzt und konkretisiert werden, obliegt den Schulen (vgl. Massumi / von Dewitz 2015: 44). Die konkreten Rahmenbedin‐ gungen dafür unterscheiden sich je nach Bundesland und die tatsächliche prak‐ tische Umsetzung ist wiederum je nach Schule unterschiedlich. Die erste Sichtung von sprachenpolitisch relevanten Dokumenten zeigt, dass auf Baden-Württemberg bezogen die „Verwaltungsvorschrift des Kultusminis‐ teriums über die Grundsätze zum Unterricht für Kinder und Jugendliche mit 34 Satu Guhl / Daniel Rellstab nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutschkenntnissen an allge‐ mein bildenden und beruflichen Schulen“ vom 1. August 2017 eine zentrale Rolle in Sprachmanagement-Prozessen spielt. Sie bildet die rechtliche Grundlage für Sprachfördermaßnahmen, VKL (Vorbereitungsklassen) und VABO (Vorqualifi‐ zierungsjahr Arbeit / Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen) und konkretisiert die Rahmenbedingungen landesspezifisch. Die Vorgaben darin sind zunächst sehr offen: Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutsch‐ kenntnissen besuchen im Bereich der allgemein bildenden Schulen die ihrem Alter und ihrer Leistung entsprechende Klasse der in Betracht kommenden Schulart. Sofern dies aufgrund mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache nicht möglich ist, nehmen sie an besonderen Sprachfördermaßnahmen teil. Sprachförderung kann dabei stattfinden in eigens gebildeten Klassen (Vorbereitungsklassen), in einem Kurssystem oder durch sonstige organisatorische Maßnahmen (zum Beispiel Teilungsstunden, Förderunterricht) der Schule (Ministerium KJS 2017a: 4). Maßgebend „für die Einrichtung und Klassenbildung“ ist „der Organisationser‐ lass in der jeweiligen Fassung“: „Die Vorbereitungsklasse wird als Jahrgangs‐ klasse oder als jahrgangsübergreifende Klasse geführt“ (Ministerium KJS 2017a: 6). Der genannte Organisationserlass (Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport zur Unterrichtsorganisation und Eigenständigkeit der Schulen) weist für das Schuljahr 2020 / 2021 für Grundschulen z. B. folgende Punkte aus: Ab einer Mindestschüler*innenzahl von 4 können Sprachförder‐ kurse oder eine „nachgehende” Sprachförderung eingerichtet werden (Teiler bei 16), für diesen Kurs erhält die Schule „im Rahmen der zur Verfügung gestellten Stellen” je Gruppe bis zu vier Lehrerwochenstunden zugeteilt. Ab 10 Schüler*innen kann eine Vorbereitungsklasse gebildet werden (Teiler 24). Darüber hinaus erhalten die zuständigen Schulaufsichtsbehörden für jede ge‐ nehmigte Vorbereitungsklasse an Grundschulen zwei Lehrerwochenstunden, die sie den Grundschulen „bedarfsgerecht“ zuweisen können (vgl. Organisati‐ onserlass 20 / 21). Trotz der eingangs in der Verwaltungsvorschrift formulierten Offenheit zeigt eine genauere Analyse, dass der Schule bei einer Anzahl von Schüler*innen zwischen 10 und 20 durch die Einrichtung von Vorbereitungsklassen mehr Res‐ sourcen in Form von Unterrichtsstunden zugehen, als wenn sie Sprachförder‐ kurse bilden. Ob die Vorbereitungsklassen eher parallel oder stark teilintegrativ geführt werden, liegt in der Hand der Schulen bzw. der Schulleitung oder be‐ auftragten Lehrkraft. Aufgrund dieser spezifischen Zuteilung der Ressourcen ist es unter bestimmten Umständen für die Schulen lohnender, Vorbereitungs- 35 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen klassen zu bilden. Insgesamt wird die Arbeit in Vorbereitungsklassen durch das Fachportal Integration - Bildung - Migration des Landesbildungsservers deut‐ lich unterstützt: Die Dokumente, die die Rahmenbedingungen der Vorberei‐ tungsklassen genauer regeln oder die Anregungen für die Arbeit in diesen Klassen geben, sind in deutlich höherer Anzahl vorhanden als diejenigen zur integrativen Sprachförderung (vgl. Fachportal IBM : VKL / VABO 2021). Falls Vorbereitungsklassen gebildet werden, so regelt die „Verordnung des Kultusministeriums zur Regelung der Stundentafeln für die Vorbereitungsklassen allgemein bildender Schulen” (zum 06. 09. 2017 aktuellste verfügbare Fassung der Gesamtausgabe) die Anzahl der Stunden genauer und gibt Vorgaben zu den zu unterrichtenden Fächern, wobei Deutsch und Demokratiebildung verpflichtend sind. Zur Koordination der Sprachförder- und Integrationsmaß‐ nahmen erhält die Schule je gebildeter Vorbereitungsklasse eine Entlastungs‐ stunde (vgl. Ministerium KJS 2017b: 7). Decker-Ernst (2017) stellte bereits auf der Grundlage von Daten aus Baden-Württemberg aus den Schuljahren 2009 / 2010 (angestrebte Vollerhebung) fest, dass in Baden-Württemberg die Anzahl separat geführter Vorbereitungsklassen ( VKL -S) und integrativ geführter Vorbereitungsklassen ( VKL -I) ver‐ gleichbar ist, zahlenmäßig mit einem leichten Überhang von VKL -S (vgl. Decker-Ernst 2017: 223 f.). Dabei entspricht die Einteilung von Decker-Ernst in VKL -S den parallelen bis teilintegrativen Modellen von Massumi und von De‐ witz und die VKL -I eher den integrativen Modellen (vgl. Decker-Ernst 2017: 283), wobei die Einteilung von Massumi und von Dewitz die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Modelle deutlicher abbildet (vgl. Massumi / von Dewitz 2015: 45). Decker-Ernst stellte darüber hinaus fest, dass Schulleitungen teilweise erfinderisch sind, wenn es um die Zuteilung und den Einsatz von Ressourcen geht (vgl. Decker-Ernst 2017: 224 f.). So ist es nicht ausgeschlossen, dass Vorbe‐ reitungsklassen auf dem Papier mit den entsprechenden Ressourcen in der Praxis integrativ geführt werden oder aber, dass für Sprachförderung gedachte Unterrichtsstunden anderweitig verwendet werden, beispielsweise für die Krankheitsvertretung. Laut Decker-Ernst entscheiden ein Drittel der von ihr befragten VKL -Lehr‐ kräfte darüber hinaus selbst, welche Inhalte im Unterricht erarbeitet werden. Eine Vergleichbarkeit der Unterrichtsgrundlagen ist daher nicht gegeben (vgl. Decker-Ernst 2017: 239 f.). Bezogen auf die Lehrkräfte erfasst Decker-Ernst ein hohes Engagement bei der Entwicklung curricularer Grundlagen, Unterrichts‐ materialien oder auch von Sprachstandserhebungsverfahren; viele Lehrkräfte zeigten ebenfalls die Bereitschaft zur Übernahme sozialpädagogischer Aufgaben (vgl. Decker-Ernst 2017: 281). Zugleich zeigen ihre Ergebnisse aber auch, dass 36 Satu Guhl / Daniel Rellstab nur wenige Lehrkräfte über eine spezifische Qualifikation als Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache verfügen. Dieses Ergebnis erscheint besonders dann besorgniserregend, wenn keine übergreifenden Standards für Unterrichtsin‐ halte, Ziele und Kompetenzen für die VKL existieren, weil es die Qualität des Unterrichts in Frage stellt; Decker-Ernst weist zusätzlich darauf hin, dass Ver‐ netzungsstrukturen und Weiterbildungen für Lehrkräfte fehlen (vgl. De‐ cker-Ernst 2017: 281). Inzwischen ist in Baden-Württemberg nachgesteuert worden. Für die organisatorische Umsetzung sowie den Unterricht in VKL und VABO stehen unter „Orientierungsrahmen VKL “ und „ VABO “ spezifische Hin‐ weise, Erläuterungen und Materialien online zur Verfügung. Diese Materialien sind 2017 erarbeitet und 2019 überarbeitet und deutlich erweitert worden (vgl. Fachportal IBM : VKL / VABO 2021). Das Fachportal Integration - Bildung - Migration zeigt für Baden-Württemberg, dass auch der Aspekt der Fortbil‐ dungen und Veranstaltungen stärker berücksichtigt werden soll, allerdings ist die entsprechende Seite zu Veranstaltungen und Fortbildungen noch im Aufbau (vgl. Fachportal IBM : Fortbildungen 2021). An den Schulen, deren Lehrkräfte an unserer Erhebung teilgenommen haben, liegen unterschiedliche Ausgestaltungen der schulorganisatorischen Modelle vor; bei den für diesen Beitrag ausgewählten Schulen liegen verschiedene teil‐ integrative Modelle und ein eher paralleles Modell vor. Auch der von De‐ cker-Ernst (2017) angemerkte unterschiedliche und kreative Umgang der Schulen mit den vorgegebenen Ressourcen sowie das hohe Engagement der Lehrkräfte mit gleichzeitig sehr unterschiedlichen Qualifizierungen wurde exemplarisch sichtbar. 3 Sprachunterricht in der pandemiebedingten Krisensituation Die ausgewählten Interviews mit vier Lehrkräften, zwei davon unterrichten zurzeit in Vorbereitungsklassen an Grundschulen, zwei in Vorbereitungsklassen an weiterführenden Schulen, sind im Dezember 2020 und Anfang Januar 2021 entstanden. In einer der Grundschulen wird die VKL passend zum Schuljahr ein Jahr lang parallel geführt, in der anderen liegt ein teilintegratives Modell vor, in dem die Schüler*innen zwar in allen Fächern von der VKL -Lehrerin unterrichtet werden, im Bereich des Ganztagesangebots aber bereits frühzeitig integriert werden, indem sie z. B. am gemeinsamen Mittagessen und an Wahlangeboten am Nachmittag in altersbezogenen, klassenübergreifenden Gruppen teil‐ nehmen. In der Sekundarstufe liegen teilintegrative Modelle vor, wobei an einer Schule der Sprachunterricht in Anlehnung an die Didaktik von Deutsch als Fremdsprache sehr systematisch nach Lehrgangsprinzip durchgeführt wird. 37 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen Die Lehrkräfte blicken in den Interviews auf das Frühjahr 2020 zurück und planen für die kommende Schulschließung im Januar 2021. Zu allen Interviews wurden zunächst Inventarisierungen (vgl. Kruse 2015: 570 f.) erstellt, um alle Kernstellen herauszufiltern, in denen die Beschulung während der Pandemie thematisiert wird. So wurde deutlich, welche Themen von allen Lehrkräften angesprochen werden und welche nur von einzelnen. Alle Lehrkräfte berichten über die Organisation des Unterrichts im Frühjahr 2020 während der ersten Schulschließungen, die Durchführung des Wechselunterrichts und Pläne für neue Schulschließungen, das Management der Schulen und die Funktion der Schulleitungen, die Herausforderungen, die sich aus der teils fehlenden, teils erst ganz neu aufgebauten digitalen Infrastruktur der Schulen ergeben, die Or‐ ganisation der Kommunikation mit Kindern und Eltern. Thematisiert werden von einzelnen Lehrkräften auch die generellen Benachteiligungen der VKL und Auflösungen von VKL , was mit der pandemiebedingten Verschärfung des Lehr‐ kräftemangels in Verbindung gebracht wird. Für den vorliegenden Beitrag wurden zu den Themen Unterricht per Materi‐ alpaket, DaZ-Unterricht digital und VKL als schwächstes Glied der Kette exemp‐ larisch Kernstellen aus den Interviews ausgewählt und ggf. stark unterschied‐ liche Perspektiven kontrastiert. Diese Kernstellen wurden nach Kruse analysiert (vgl. Kruse 2015: 556). Im Vergleich wird sichtbar, wie die Lehrkräfte die bil‐ dungspolitischen Vorgaben unter Pandemiebedingungen umsetzen und wie sie verschiedene Ressourcen und Möglichkeiten, die vorhanden sind, nutzen. Wie die Lehrkräfte die ungewohnte Situation der geschlossenen Schulen oder Vari‐ anten von Wechselunterricht erleben, wie sie den Unterricht während dieser unterschiedlichen Phasen ausgestalten, auf welche Ressourcen sie dabei zu‐ rückgreifen und welche Rolle sie dabei den Schüler*innen zuschreiben, kon‐ trastiert teilweise stark. 3.1 Unterricht per Materialpaket Alle vier Lehrkräfte erzählen davon, dass und wie sie die Schüler*innen im Frühling 2020 mit Materialpaketen versorgten; zwei Lehrkräfte deponierten ihre Materialpakete in den Schulen und ließen sie dort auch wieder von den Eltern hinterlegen; zwei Lehrkräfte brachten die Materialpakete von Tür zu Tür. Eine Lehrkraft der Grundschule nutzte die Übergabe der Pakete zusätzlich, um Ge‐ spräche über die Lernprozesse der Kinder zu führen, was sehr zeitaufwändig war. Der Erfolg des Unterrichts mit Hilfe von Materialpaketen wird von den Lehrkräften sehr unterschiedlich bewertet. Eine Lehrkraft an der Sekundar‐ schule war damit sehr unzufrieden: „ UND (-) ich hab gewusst? so will ich NIE wieder unterrichten? […] mit ko PIER papier paketen ; “ (Lehrkraft C 38 Satu Guhl / Daniel Rellstab (1: 42: 50: 3-42: 56: 1)). Diese dezidiert aus einer subjektiven Perspektive formu‐ lierte Beurteilung kontrastiert mit der Perspektive der Grundschullehrkräfte, die den Unterricht mit Lernpaketen weniger negativ sehen. Rückblickend be‐ wertet die eine Lehrkraft diesen Unterricht als „ nicht wenig effek TI : V? also es war nicht so SCHLECHT ; “ (Lehrkraft A (0: 18: 19: 9-0: 18: 22: 4). Der folgende Ausschnitt zeigt, dass die andere Grundschullehrkraft ebenfalls sehr zufrieden war. Wie sie über den Unterricht mit Lernpaketen spricht und wie sie diese Unterrichtsorganisation auch legitimiert, wird im Folgenden genauer analysiert. In ihre Vorbereitungsklasse gehen zurzeit 13 Kinder. In der Organisation des Unterrichts orientierte sie sich am Vorgehen ihrer Kolleg*innen und ließ die Materialpakete in der Regel an der Schule abholen und wieder hinterlegen. In einzelnen Fällen übergab sie die Materialpakete auch an der Tür. Die Tür-und-Angel-Situation nutzte sie nicht für lernprozessbezogene Gespräche. Im folgenden Ausschnitt erzählt sie auf die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des ersten Lockdowns „untergegangen“ sei, eine Anekdote, die im Prinzip den Schwachpunkt ihrer Unterrichtsorganisation illustriert, der sich im Nachhinein ihres Erachtens aber als unproblematisch erwies: 39 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen Abb. 1: Interview mit Lehrkraft B, Grundschule (0: 11: 16: 0-0: 12: 11: 8) Die Frage der Interviewerin, ob denn ein Kind während des Lockdowns „unter‐ gegangen“ sei, verneint die Lehrkraft nachdrücklich: „ NE : .“ (Zeile 1) Die Bewer‐ tung dieses Sachverhalts bricht sie ab und verleiht dann ihrem Erstaunen Aus‐ druck darüber, wie „ TOLL “ (Zeile 5) der Unterricht mit Lernpaketen geklappt habe. Als Bestätigung und gleichzeitige Legitimation dieser Aussage erzählt sie nun, wie routiniert der Unterricht per Lernpaket funktionierte (Zeilen 8-9); die Pointe der Geschichte besteht aber gerade nicht im Nachweis der Routine und deren Erfolg, sondern in der Darstellung der Ausnahme, die sie erlebte. Die Einschränkung, dass zwar die allermeisten, aber doch nicht ganz alle die Lern‐ pakete abholten, bearbeiteten und wieder zurückbrachten, fungiert hier als Ein‐ leitung in die ausführliche Erzählung, in deren Zentrum das Kind, von dem „ irgendwie nie “ (Zeile 12) etwas kam, steht. Die Lehrkraft erzählt, auf das Stil‐ mittel der zitierten Gedankenrede zurückgreifend und damit das footing wech‐ selnd (vgl. Goffman 1981), wie sie selbst auf dieses Ausbleiben reagierte. Dieses 40 Satu Guhl / Daniel Rellstab erzählte Ich wird zuerst als pflichtbewusste Lehrkraft dargestellt, die sich Ge‐ danken darüber macht, wieso die Lernpakete des Kindes ausbleiben. Im Fort‐ gang der Geschichte zeigt sich jedoch, dass das erzählte Ich den Gedanken keine Taten folgen lässt, die während des Lockdowns etablierte Routine, nämlich die Lernpakete einfach in den Briefkasten zu werfen, nicht durchbricht und nicht anruft. Die Darstellung der Untätigkeit der Lehrkraft mag narrativ geschickt sein, denn damit steigert sie bei der Zuhörerin die Spannung auf die Auflösung des Problems. Sie enttäuscht aber so gleichzeitig die Erwartungen, welche die Zuhörerin an eine pflichtbewusste Lehrkraft stellt: Das erzählende Ich stellt das erzählte Ich in einem äußerst negativen Licht dar. Das face (vgl. Goffman 1981) des erzählten Ichs wird im Fortgang der Geschichte jedoch durch das Kind ge‐ rettet. Narrativ wird das Kind hier zur Heldin, denn es bringt wider Erwarten „ für ALL e wochen (-).h ! ALL ! es “ (Zeile 19) zurück: Der Unterricht per Lern‐ paket hat doch funktioniert, die Sorgen der Lehrkraft, dass das Kind nicht ar‐ beite, waren unbegründet, das Ausbleiben des Nachfragens nicht weiter tra‐ gisch. Das Lachen, welches die Auflösung der Erzählung begleitet, unterstreicht dies. Es kommentiert nicht nur das Handeln des Kindes und unterstreicht damit den inszenierten Erwartungskontrast. Es ist auch ein Lachen der Erleichterung, da selbst bei diesem Kind, der Ausnahme, der Unterricht mit Lernpaketen trotz der Untätigkeit der Lehrkraft nicht komplett missglückte. Das Kind rettet hier Lernsetting und Ansehen der Lehrkraft gleichermaßen. Aus dieser Erfahrung schöpft die Lehrkraft, wie die letzte Zeile (28) zeigt, die Hoffnung, dass der Un‐ terricht unter Pandemiebedingungen auch mit den neuen Schüler*innen wieder gut klappen wird. In und durch diese „small story“ (vgl. Bamberg / Georgakopoulou 2008) wird nicht nur der Einsatz von Materialpaketen trotz Schwierigkeiten legitimiert. Diese Geschichte illustriert auch eine der Einstellungen, welche die Lehrkräfte im Umgang mit der Komplexität der Situation in ihren Erzählungen sichtbar machen. Die Situation ist herausfordernd; die Lehrkräfte müssen neue Routinen entwickeln, deren Gelingensbedingungen sie nicht kennen. Die Lehrerin hier zeigt, dass der Zweifel, den sie hatte, unbegründet war, dass ihre Lernarrange‐ ments funktionieren und ihre Schüler*innen die Fähigkeit mitbringen, mit der herausfordernden Situation umzugehen, auch wenn die Lösungen, die sie ent‐ wickeln, nicht immer dem entsprechen, was die Lehrkraft erwartet. Die Lehr‐ kraft hier traut ihren Schüler*innen zu, auch in dieser schwierigen Situation erfolgreich handeln zu können. 41 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen 3.2 DaZ-Unterricht digital Der Ausgestaltung des Sprachenunterrichts unter Pandemiebedingungen sind enge Grenzen gesetzt; mit Hilfe digitaler Infrastrukturen lassen sich diese er‐ weitern. Digitale Medien wurden von den Lehrkräften schon während des ersten Lockdowns eingesetzt. Eine Lehrkraft (Grundschule) benutzte gleich zu Beginn der Pandemie erfolgreich WhatsApp als Medium der Kontaktaufnahme mit den Eltern und den Schüler*innen und produzierte selbst Lernvideos, die sie über WhatsApp verteilte. Dies animierte ihre Schüler*innen, selbständig und unauf‐ gefordert ebenfalls Videos zu produzieren, die sie in die gemeinsame Gruppe einstellten. Dieses Lehr-Lern-Arrangement, das laut Lehrkraft „ SU per funktioniert “ (Lehrkraft B (0: 06: 26: 9)) hat, durfte sie aufgrund von Datenschutzbe‐ stimmungen nicht mehr einsetzen; WhatsApp ist nicht DSGVO -konform und über den Einsatz wurde nur zu Beginn der Krisensituation hinweggesehen. Sehr enge und eng interpretierte Datenschutzbestimmungen und bürokratische Hürden sind nicht die einzigen Hürden, welche die erfolgreiche Durchführung des Unterrichts in den Vorbereitungsklassen behinderten. Wie sich in den In‐ terviews zeigt, erschwert auch das Fehlen digitaler Kompetenzen gepaart mit dem immer noch vorhandenen monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 1994) auf Seiten der Lehrkräfte das erfolgreiche Durchführen des Unterrichts im multi‐ lingualen Klassenzimmer. Dies zeigt sich in folgendem Ausschnitt aus dem In‐ terview mit einer Lehrkraft der Sekundarstufe. Sie kämpft damit, all ihrer 13 Schüler*innen am Unterricht zu beteiligen; nicht alle verfügen über Rechner oder Tablets, viele folgen dem Online-Unterricht auf einem Smartphone. Die Lehrkraft berichtet darüber, dass gegenwärtig der Unterricht in Moodle online stattfinden würde. Als „ ! ECHT ! SEHR seltsam “ empfindet sie, dass die Kom‐ munikation deswegen „ so schwierig “ (Lehrkraft D (0: 52: 18: 7)) sei. Einräumend stellt sie fest, dass es besser geworden sei, erzählt dann aber in einer längeren Passage, wie sie die ersten zwei Wochen erlebte. Diese Passage illustriert, dass diese Lehrkraft den digitalen Unterricht als Last empfindet: 42 Satu Guhl / Daniel Rellstab Abb. 2: Interview mit Lehrkraft D, Sekundarstufe (0: 52: 57: 8-0: 53: 05: 0) Die Lehrkraft beginnt ihre Erzählung der Anfangsschwierigkeiten, indem sie den Zeitraum, bevor der Online-Unterricht einigermaßen funktionierte, ab‐ steckt und gleichzeitig bewertet: es war „ SCHRE cklich “ (Zeile 1). Dann liefert sie der Interviewerin die Hintergrundinformation, welche ihr für das Ver‐ ständnis der Ereignisbeschreibung notwendig erscheint und mit welcher sie diese gleichzeitig rahmt: „ die ham ihre SMART phones nich auf deutsch “ (Zeile 2). Was dies für die Verständigung zwischen ihr und ihren Schüler*innen heißt, erzählt sie, indem sie ihre eigenen sprachlichen Handlungen für die Zu‐ hörerin reinszeniert: „ und dann: =sag ich denen, die und die funktion müsst ihr EIN schalten “ (Zeilen 5-6). Die Schüler*innen dagegen erhalten weder Gesicht noch Stimme. Die Lehrkraft berichtet bloß, was dann geschah: „ und dann ver STEHN die des nich “ (Zeile 9). Dass dies nicht nur einmal ge‐ schah, sondern wiederholt, zeigt sie, indem sie das Nichtverstehen ein zweites Mal in leicht abgewandelter Form inszeniert (Zeilen 10-12). Einschränkend konzediert sie, dass ihr zweites Beispiel nicht ganz stimmig sei: Das Icon für „Einstellungen“ am Smartphone ist sprachunabhängig. Wie ihr erstes Beispiel illustriert jedoch auch ihr zweites, dass nicht primär die Digitalität Verständi‐ gung erschwert, sondern die Kommunikation nicht funktioniert, weil Deutsch nicht die Alltagssprache der Kinder ist: „ und dann verstehn se nicht ! RÄD ! chen “ (Zeile 12). Dies fasst sie in der Coda der Erzählung noch einmal zusammen: „ aber des sind dann einfach ver STÄND nisprobleme “ (Zeile 14), die, wie sie in der Evaluation der Geschichte ausdrückt, „ SCHIER nicht zu (-) SCHIER nicht zu glauben “ seien (Zeile 16). 43 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen Zwischen der Intention der Lehrkraft zu erzählen, dass die Kommunikation auf Grund der digitalen Vermitteltheit nicht funktionierte, und der Inszenierung des Scheiterns der Kommunikation, besteht eine Diskrepanz. Denn in der Ge‐ schichte ist es nicht nur die digitale Vermitteltheit, welche Probleme bereitet, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Kinder ihr Handy nicht auf Deutsch eingestellt haben und den Begriff „Rädchen“ nicht verstehen. Dass eine Lehr‐ kraft, deren Aufgabe es ist, die Deutschkompetenz mehrsprachiger Kinder zu fördern, eine solche Geschichte erzählt und zum Schluss kommt, dass dies „schier nicht zu glauben sei“, mag erstaunen. Doch schon im üblichen VKL -Un‐ terricht kann es eine große Herausforderung sein, mit Schüler*innen zu kom‐ munizieren. Im Präsenzunterricht steht kompetenten Lehrpersonen eine Viel‐ zahl multimodaler Möglichkeiten der Verständigungssicherung zur Verfügung (vgl. Rellstab 2021); im Unterricht via Smartphone wird es schwieriger, mit Hilfe von Gestik, Mimik und der Ausnutzung des Verweisraums Instruktionen zu er‐ teilen. Andererseits würde das Smartphone neue Möglichkeiten eröffnen, die Verständigung herzustellen, auch über Sprachbarrieren hinweg. Dazu müssten die Lehrkräfte diese Möglichkeiten kennen und nutzen können. Doch dieser Lehrkraft hier fehlen zumindest zu Beginn des Online-Unterrichts entschei‐ dende digitale Kompetenzen, um den Unterricht unter Pandemie-Bedingungen bestmöglich gestalten zu können. Dass Lehrkräfte ungenügend digital kompetent sind, ist nicht erstaunlich, denn die Schulen selbst sind teilweise schlecht oder gar nicht digitalisiert, und bürokratische Hürden und unklare Zuständigkeiten verlangsamen oder verun‐ möglichen pragmatische Lösungen. Dies zeigt das Beispiel einer anderen Lehr‐ kraft der Sekundarstufe, die in der Digitalisierung eine große Chance gerade auch für den Unterricht in VKL sieht. Sie ergriff proaktiv bereits im Frühling 2020 die Initiative und beantragte Gelder bei einer Bildungsstiftung, gebunden an ihre Vorbereitungsklasse, um ihre Schüler*innen mit Tablets zu versorgen. Obwohl die Gelder bewilligt wurden, waren die Zuständigen der Schule nicht in der Lage, die Tablets vor der zweiten Schulschließung ein halbes Jahr später anzuschaffen. Die Lehrkraft ergriff erneut die Initiative und beschaffte über pri‐ vate Kontakte Tablets für ihre Klasse. Diese Initiative gründet in ihrer Überzeu‐ gung, dass Online-Unterricht für ihre Schüler*innen sinnvoll und produktiv sei. Wie sie im Interview berichtet, stellte sie sich schon im Winter 2020 auf Fern‐ unterricht ein, den sie gezielt vorbereitete und in welchen sie Online-Übungen verschiedener DaF / DaZ-Verlage einbinden wollte, um den Schüler*innen di‐ rektes Feedback geben zu können. Dabei ist der Lehrkraft durchaus bewusst, dass digitaler Unterricht aufwändiger ist; sie interpretiert diesen Mehraufwand jedoch wieder als Chance: „ ich hab ihnen erklärt dass wir einfach mehr 44 Satu Guhl / Daniel Rellstab ZEIT brauchen? wenn des über die dis TANZ geht; und (.) die waren alle total be GEIS tert; weil letzten Endes; die sitzen doch zuhause RUM und langweilen sich “ (Lehrkraft C (1: 49: 52: 9-1: 50: 03: 5)). Weiteren Schul‐ schließungen blickt sie gelassen entgegen, sie ist überzeugt, dass sie in der Lage ist, die von ihr geforderten Bildungsvorgaben trotz der Pandemie erfüllen zu können, wie sich in folgendem Ausschnitt zeigt: Abb. 3: Interview mit Lehrkraft C, Sekundarstufe (2: 01: 37: 2-2: 02: 02: 4) Diese Lehrkraft positioniert sich hier explizit in Relation zur Schulleitung, der „ cheffin “ (Zeile 3), der sie mitteilen kann, dass sie die von ihr verlangten Vor‐ gaben erfüllen wird: „ am FÜNF zehnten geb ich meine klasse ab “ (Zeile 5). Sie begründet dies damit, dass sie „ dann BE eins erreicht “ habe (Zeile 6). Durch die Verwendung dieser Synekdoche und der Bekräftigung, dass sie „ das durchzieht “, „ auch mit (.) mit covid “, konstruiert sie sich hier als Lehrkraft, die trotz der Beschränkungen das von ihr anvisierte Ziel stur verfolgt; die damit verbundene Implikation, dass dies auf Kosten der Schüler*innen passieren könnte - „sie“ hat B1 erreicht, „sie zieht das durch“ - bannt sie in zwei Schritten: Zuerst führt sie der Interviewerin vor Augen, dass sie die Möglichkeiten, Be‐ dürfnisse und Grenzen der Kinder im Blick hat, indem sie die „ klare AN sage “ an die Schüler*innen inszeniert und deutlich macht, dass bei ihr jede*r eine zweite Chance erhält (Zeilen 11-13). Sie macht dann auch klar, dass die Schüler*innen diese zweite Chance gar nicht wahrnehmen wollten, sondern den Ehrgeiz ihrer Lehrkraft übernahmen: „ jetzt ham se nämlich diesen EHR geiz auch? “ (Zeile 15). Ihre eigene Zielorientierung motivierte also auch ihre Schüler*innen. Damit begründet sie auch den Optimismus für den zukünftigen 45 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen Unterricht mit einer neuen Klasse: „ ich glaub das wird sehr GUT bei uns werden? DIE : arbeit online? “ (Zeilen 19-20). Diese Lehrkraft hier präsentiert sich als kompetent, engagiert und optimis‐ tisch und als jemand, der das Erreichen der Bildungsziele auch unter Pande‐ miebedingungen als bewältigbare Herausforderung darstellt. Diese Selbstprä‐ sentation und dieser Optimismus kontrastieren stark mit der Selbstdarstellung der Lehrkraft D (Abb. 2), deren Perspektive auf den Online-Unterricht negativ ist, die den digitalen Unterricht als Belastung empfindet und die offensichtlich auch nicht das Engagement aufbringen kann, das in dieser Situation notwendig wäre, um einen „sehr guten“ Unterricht leisten zu können. Dies kann und darf man jedoch nicht als Problem des Individuums auffassen, sondern muss in einem größeren Kontext gesehen werden. Um zumindest guten Unterricht leisten zu können, müssten Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen grundsätzlich entspre‐ chend geschult sein; das ist, wie Decker-Ernst verdeutlicht (vgl. Decker-Ernst 2017: 281), nicht immer der Fall. Es muss ebenfalls die Frage gestellt werden, ob es Aufgabe der Lehrkräfte sein kann, sich eigenständig digitale Kompetenzen anzueignen, die eigenen Vorbereitungsklassen mit Geld und Geräten zu ver‐ sorgen und Zugänge zur digitalen Infrastruktur herzustellen. Die Pandemiesi‐ tuation macht hier gravierende Versäumnisse der Bildungspolitik auf unter‐ schiedlichen Ebenen sichtbar - auch auf der Ebene der Bildungsträger. Das wird in den Interviews ebenfalls thematisiert: „ [und wenn] die gemeinde den schulen kein IN ternet zur verfügung stellt? dann kann die schule des BES te konzept haben, dann funktionierts einfach net .“ (Lehrkraft C, (1: 45: 11: 0-1: 45: 17: 9)). Ob Unterricht angemessen, zielorientiert und bedarfsge‐ recht ist, darf sich nicht am ungewöhnlichen und herausragenden Engagement sowie entsprechenden Kontakten einer Lehrkraft entscheiden. 3.3 Pandemie, Ressourcenknappheit und die VKL als das schwächste Glied in der Kette Der Handlungsspielraum der Lehrkräfte wird durch ihre Position in der Hie‐ rarchie des Bildungssystems und der oftmals nur impliziten Hierarchie in der Schule bestimmt; diese Hierarchien werden in der Pandemiesituation plötzlich explizit. So wird an einer Schule (Sekundarstufe) in der Phase der teilweisen Schulöffnungen vor dem bereits antizipierten zweiten Lockdown im Januar 2021 etwa der Zugang zum Computerraum plötzlich zur wertvollen Ressource, um die sich alle Klassen streiten. Denn aufgrund des an der Schule fehlenden WLAN s können die Klassen nur dort Verbindung zum Internet herstellen und daher auch nur dort mit Online-Unterricht vertraut gemacht und auf mögliche weitere Schulschließungen vorbereitet werden. Wie die Lehrkraft der VKL er‐ 46 Satu Guhl / Daniel Rellstab zählt, ist es für ihre Klasse jedoch sehr schwierig, Zugang zu diesem Raum und damit zur Möglichkeit, sich auf weitere Schulschließungen vorzubereiten, zu erhalten: Abb. 4: Interview mit Lehrkraft C, Sekundarstufe (1: 59: 36: 1-2: 00: 14: 1) Die Lehrkraft eröffnet ihre „small story“ (Bamberg / Georgakopoulou 2008) mit einer tautologischen Aussage, die hervorhebt, dass das zu Erzählende kein Ein‐ zelfall ist, sondern Teil eines größeren Problemkomplexes: „ (-) des is ja wieder DES ; “ (Zeile 1): Wenn sie den Computerraum nutzen wollte, dann „ mussten erst immer alle AN deren rein “ (Zeile 3). Sie und ihre Klassen wurden immer zurückgestellt. Durch die Verwendung des Modalverbs „müssen“ stellt sie dar, dass diese Praktik von den anderen nicht als etwas aufgefasst wird, das ihren eigenen Intentionen entspringt, sondern als zwingend erachtet wird. Mit dem Modalverb „müssen“ verweist sie auch darauf, dass ihr die Möglichkeit verwehrt ist, sich gegen diese Praktik zur Wehr zu setzen. Wie dieses Zurück‐ drängen auf den letzten Platz in der Reihe in ihrer Schule legitimiert wird, in‐ szeniert die Lehrkraft dann, das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), als di‐ rekte Rede derjenigen, die vor ihr in den Computerraum „müssen“: „ weil die vau ka el isch ja nich WICH tig “ (Zeile 4). In dieser Rede animiert sie die Aussagen der „anderen“ (vgl. Goffman 1981) und deckt sie als Ideologie auf, die sich an ihrer Schule etabliert hat. Diese Ideologie dekonstruiert sie nun schritt‐ weise, indem sie erstens eine andere Reihenfolge als notwendig postuliert, und 47 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen zweitens dreifach begründet, warum dieses Umkehren der Reihenfolge not‐ wendig ist. Erstens: Nur ein digitales Lernarrangement garantiert die Aufrecht‐ erhaltung des Unterrichts; dies korreliert mit ihrer Aussage an anderer Stelle, dass der Unterricht per Lernpakete für sie nie wieder in Frage kommt (vgl. Kap. 3.1). Zweitens: Ihre Schüler*innen bedürfen der intensiven Betreuung durch die Lehrkraft; ein Selbstmanagement der Schüler*innen kann nicht er‐ wartet werden, denn sonst „ machen die einfach ts drei wochen NIX . “ (Zeilen 13-14). Drittens: Der Lernprozess der Schüler*innen der VKL ist prekär, und eine dreiwöchige Pause wird alle Lernerfolge zunichtemachen, auch weil die Eltern nicht in der Lage sind, die Kinder zu unterstützen: „ der spricht dann den ganzen tag a RAB isch mit seiner mutter? “ (Zeilen 18-24). Jede einzelne der Begründungen wäre ihrerseits diskussionswürdig. Sie dienen im vorlie‐ genden Zusammenhang dazu, die Dringlichkeit der Umkehrung der Reihenfolge zu illustrieren und die von der Lehrkraft identifizierte Ideologie der Schule, die ihrer Klasse den Zugang zum Computerraum verwehrt, zu kritisieren. Das Ver‐ wehren des Zugangs zum Computerraum ist, wie die Lehrkraft schon zu Beginn der Erzählsequenz indiziert, Teil eines größeren Problemzusammenhangs, der sich im Kontext der Pandemie und der damit einhergehenden Dringlichkeit der Digitalisierung aller Klassen erneut zeigt: Die Schule nimmt die Verantwortung für ihre schwächsten Glieder nicht wahr, verkennt die spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen der VKL -Schüler*innen und verwehrt ihnen daher Res‐ sourcen, die für ihren Lernerfolg essentiell wären. Diese Lehrkraft hier war, wie sich im Verlauf des Interviews herausstellt, zwar dennoch in der Lage, ihre Schüler*innen auf den Online-Unterricht vorzubereiten. Dafür setzte sie nicht nur die eigentlich vorgesehene Schulzeit ein, sondern führte mit den Kindern teilweise mehrstündige Telefonate - auch am Wochenende. Während Lehrkraft C (Abb. 3 und dazu einleitender Text) die vorgegebenen Bildungsziele unter Pandemiebedingungen durch überdurchschnittlichen Ein‐ satz in der technischen Organisation und der Vorbereitung des Unterrichts und damit als Einzelkämpferin an ihrer Schule erreicht, versucht Lehrkraft A (Grundschule) die Bedingungen ihres Unterrichts zu beeinflussen, indem Sie sich ans Schulamt als untere Schulaufsichtsbehörde wendet. Sie thematisiert im Interview die prekäre Situation, in welcher sich die VKL generell befinden: VKL werden wegen Lehrkräftemangel aufgelöst, Lehrkräfte fallen aus, weil sie als Mitglieder von Risikogruppen nicht mehr in den Klassen unterrichten können, und kleinere Vorbereitungsklassen werden zusammengelegt, um die so frei werdenden Lehrkräfte in anderen Klassen einsetzen zu können. Dies wirkt sich auf ihre eigene Klasse aus, welcher während des Interviews 25 Kinder zugeteilt sind und damit mehr, als vom Kultusministerium erlaubt wäre. Die Entlastung 48 Satu Guhl / Daniel Rellstab durch eine weitere Lehrkraft, die stundenweise mit ihr den Unterricht gestaltete, fällt vollkommen weg, als diese Lehrkraft ausfällt: „ und da ist natürlich auch KEI ne (.) eh für das ganze SCHUL jahr, .hh keine ÄND erung in sicht. GIBTS einfach niemanden. “ (Lehrkraft A (0: 16: 40: 9-0: 16: 47: 2)) Sie fasst zu‐ sammen: „ also des is jetzt SO : (-) .hh am RAN de ne problematik die sich durch corona jetzt zUsätzlich einfach ergibt dass die: dass die RAH menbedingungen natürlich immer schlEchter werden. “ (Lehrkraft A (0: 16: 09: 6-0: 16: 18: 1)). Gegen die Verschlechterung der Rahmenbedingungen will sie sich zur Wehr setzen, wie in folgendem Ausschnitt sichtbar wird: Abb. 5: Interview mit Lehrkraft A, Grundschule (0: 15: 02: 7-0: 15: 28: 2) Dieser Ausschnitt illustriert nicht, wie eine geglückte Intervention von Seiten einer VKL -Lehrkraft aussieht, sondern ist eher die Darstellung eines Versuchs, die Bedingungen eines Systems zu ändern, das durch Instanzen gestaltet ist, die für die Lehrkräfte nicht greifbar werden und sich einer direkten Adressierung entziehen. Die Lehrkraft verortet sich hier explizit in der im Bildungssystem geltenden Hierarchie, und sie macht deutlich, dass sie hierarchiekonform han‐ delt. Sie geht mit ihrem Anliegen nicht auf die Straße, sie schaltet nicht die Presse ein, sondern sie gibt „ rückmeldung “ (Zeile 1) über den Dienstweg. Der nächst‐ höheren Instanz in dieser Hierarchie gibt sie noch ein Gesicht: Ihre direkte Vor‐ gesetzte, die Schulleiterin, bezeichnet sie etwas salopp als ihre „ CHE ffin “ (Zeile 1). Die Instanz, die sie mit ihrer Rückmeldung erreichen möchte, wird hingegen nicht personifiziert, sondern ist das „ SCHUL amt “ (Zeile 2). Die Entscheidungs‐ träger*innen dieser Institution bleiben anonym, ungreifbar: Sie sind „ die “ (Zeile 13), die die VKL schließen wollen. Die Unzugänglichkeit dieses Schulamts mar‐ kiert sie nicht nur mit Hilfe der Personenbezeichnung, sondern auch im Design ihrer Formulierung. Der Adressat ihrer Rückmeldung, das Schulamt, wird nicht als eigentlich zu erwartendes Dativkomplement, sondern als Direktivkomple‐ 49 Perspektiven auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen ment „ in richtung SCHUL amt “ (Zeile 2) realisiert. Damit beschreibt sie die Richtung der Rückmeldung; ob diese Rückmeldung aber da de facto ankommen wird, lässt sie so im Vagen. Dennoch zeigt ihr Handeln nicht nur ihren sprachideologischen Hintergrund, vor dem die Wichtigkeit und das Bestehenbleiben der Vorbereitungsklassen be‐ deutend ist, sondern auch Sprachmanagement-Initiative: Sie versucht auf die dargestellte Weise Einfluss zu nehmen und die Bedingungen für ihre Klasse zumindest zu erhalten. Sie ist damit vergleichbar mit Lehrkraft C, die durch ihr hohes persönliches Engagement die nötige technische Ausstattung für den ihrer Meinung nach für ihre Klasse optimalen Unterricht beschaffte. 4 Diskussion und Fazit Die Analysen zeigen, wie Lehrer*innen für neu zugewanderte Schüler*innen mit den pandemiebedingten Änderungen der Rahmenbedingungen, mit Vor‐ gaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen umgehen, mit wel‐ chen Auswirkungen auf institutionell-organisatorischer Ebene sie konfrontiert werden, wie sie ihre Praktiken anpassen und was aus ihrer Sicht besondere erwerbssowie lehr-lernbezogene Bedarfe von neu zugewanderten Schüler*innen unter diesen Bedingungen sind. Die Darstellungen der Lehrkräfte und die Legitimierungen ihrer Praktiken machen (Sprach-)Ideologien sichtbar, die über die pandemiebedingten Besonderheiten der Lage hinausgehen und grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Thema Bildung für neu zugewan‐ derte Schüler*innen aufschlussreich sind. Wenn selbst Lehrkräfte von Vorbe‐ reitungsklassen einem monolingualen Habitus verhaftet bleiben, kann dies für eine gezwungenermaßen mehrsprachige VKL nur problematisch sein; wenn in einer Schule gilt, dass VKL nicht wichtig sind, dann werden die Schüler*innen dieser Klassen auch nicht die notwendigen Ressourcen erhalten; wenn aber eine Lehrkraft der Ansicht ist, dass ihre Schüler*innen selbständig oder gut zu mo‐ tivieren sind, dann wird sich dies auch positiv auf die Lernprozesse auswirken können. Die von der Gemeinde oder den Schulen zur Verfügung gestellten Res‐ sourcen sind nicht ausreichend. Daher sind die Lehrkräfte gezwungen, auf ei‐ gene Ressourcen zurückzugreifen, die sie sehr unterschiedlich einsetzen, je auch in Abhängigkeit der Perspektive auf ihre Schüler*innen. In dieser schwierigen Situation, zwischen Zutrauen in sich und ihre Schüler*innen und Überforde‐ rung, versuchen sie, wie in allen Interviews sichtbar wird, ihr Bestes zu geben. Über die akute Krisensituation hinausgehend wird so erkennbar, welchen Einfluss Lehrkräfte bewusst oder unbewusst auf die Ausgestaltung von Language Education Policies haben, was bereits auf tieferliegende, grundsätzliche, 50 Satu Guhl / Daniel Rellstab teilweise versteckte Widersprüche, Konflikte und Spannungen zwischen impli‐ ziter und expliziter Language Education Policy verweist. An dieser Stelle bestä‐ tigt sich, dass pandemiebedingte Herausforderungen als Spiegel oder Brennglas für grundsätzliche Bedingungen von Sprachunterricht dienen: Die Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen in Vorbereitungsklassen scheint stark ab‐ hängig vom individuellen Engagement der Lehrkräfte zu sein, die mit der Situ‐ ation allein gelassen werden. Damit zeigt sich, dass die auch laut Kultusminis‐ terium zentrale Aufgabe der Sprachförderung durch ein auf die individuelle Lebens- und Lernwirklichkeit der Schüler*innen abgestimmtes Konzept (Mi‐ nisterium KJS a 2017: 3) von Bildungspolitik und Bildungsträgern nicht ausrei‐ chend unterstützt wird. Die Schüler*innen in den Vorbereitungsklassen und die Lehrkräfte dort sind nicht Teil höherer Prioritätsgruppen, obwohl die gesell‐ schaftliche und bildungspolitische Verantwortung an dieser Stelle besonders hoch ist. Literatur Bamberg, Michael / Georgakopoulou, Alexandra (2008): Small Stories as a New Perspec‐ tive in Narrative and Identity Analysis. Text and Talk 28 (3): 377-96. Budde, Angela Monika / Prüsmann, Franziska (Hrsg.) (2020): Vom Sprachkurs Deutsch als Zweitsprache zum Regelunterricht. Übergänge bewältigen, ermöglichen, gestalten. Deutsch als Zweitsprache - Positionen, Perspektiven, Potenziale. Münster, New York: Waxmann. 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Im vorliegenden Beitrag wird ein Einblick in die Unterrichtssituation zweier Vorbereitungsklassen während der ersten Schulschließung im März 2020 ge‐ geben. Dazu wurden problembasierte Leitfadeninterviews mit Schülerinnen und Schülern einer Vorbereitungsklasse sowie einer Vorbereitungsklasse mit Alphabetisierung aus Berlin und ihren Lehrkräften hinsichtlich ihrer Erfah‐ rungen durchgeführt. Die Interviewten beschreiben eine Situation, die sich für beide Klassen, insbesondere aber für die Alpha-Klassen, als besorgniser‐ regend herauskristallisiert hat. 1 Einleitung Der Umgang mit den durch die COVID -19-Pandemie bedingten Schulschlie‐ ßungen und deren Auswirkungen wurden nicht nur medial, sondern auch wis‐ senschaftlich vielfach besprochen (vgl. Huber et al. 2020; Fickermann / Edelstein 1 Bei der Verwendung des Begriffs ‚Jugendliche‘ sind junge Erwachsene, denen noch ein Zugang zum allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulsystem gewährt wird und die sich in einer ersten (Schul-)Ausbildung befinden, eingeschlossen. 2 Bildungsbenachteiligte Kinder weisen laut der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mindestens eines der folgenden Merkmale auf: niedriger sozioökonomischer Status des Elternhauses; lernungünstige, prekäre Wohnverhältnisse, Benachteiligung zusammenhängend mit Migrationshintergründen sowie Leben in alleinerziehenden Haushalten (vgl. bpb 2018: 1). 3 Die offizielle Bezeichnung für die in Berlin extra eingerichteten temporären Lern‐ gruppen (Klassen) für den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse zur Teilnahme am Re‐ 2020; Wildemann / Hosenfeld 2020). Dabei wurde besonders deutlich, welch wichtigen Stellenwert Schule generell für alle Kinder und Jugendlichen, 1 insbe‐ sondere für bildungsbenachteiligte, 2 für verschiedene Bereiche wie soziale Kon‐ takte, Bildungslaufbahn und Sprache hat. Hierunter zählen auch neu zugewan‐ derte Kinder und Jugendliche ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen, die vor der besonderen Herausforderung stehen, in relativ kurzer Zeit (ein bis zwei Jahre) ausreichende Sprachkenntnisse im Deutschen zu erwerben, um am Un‐ terricht der Regelklasse teilnehmen zu können und so ihre weitere Bildungs‐ laufbahn erfolgreich zu gestalten. Hierbei stellt die Schule für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler teils die einzige Möglichkeit dar, die dazu notwen‐ digen sprachlichen Kompetenzen im Deutschen zu erwerben. Sie ist gleichzeitig auch ein Ort des Ankommens (vgl. Fasse 2016: 25 f.) sowie sozialer Begegnung (vgl. Schubarth 2020: 33). Mit der Schließung der Schulen im März 2020 und dem Beginn des Distanzunterrichts brachen die mit diesem spezifischen Ort verbun‐ denen Aspekte weg und zeigten hierbei wie ein Brennglas Bedarfe auf, die oh‐ nehin schon bestanden. Die wenigen vorhandenen wissenschaftlichen Artikel, die speziell einen Blick auf die Gruppe neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler im Kontext der COVID -19-Pandemie werfen, sind meist theoriegeleitet oder aus Perspektive der Lehrpersonen (vgl. u. a. Gogolin 2020; Kara‐ kayalı / Heller 2020, Rude 2020). Bisher fehlen allerdings Studien, die vor allem dem Blick der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler und ihren Erleb‐ nissen und selbstgeäußerten Bedarfen einen Raum bieten. Welche Unterrichts‐ erfahrungen haben die Schülerinnen und Schüler gemacht? Welche Formate haben gut funktioniert, insbesondere im Hinblick auf sprachliche Lernfort‐ schritte und soziale Begleitumstände wie Wohnen oder gesellschaftliche Parti‐ zipation? Der vorliegende Beitrag will eben diese Schülergruppe und ihre spe‐ zifischen Bedarfe in dieser besonderen Zeit der Beschulung sichtbar machen, indem sie selbst zu Wort kommen. Dazu wurden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte einer Berliner Willkommensklasse (Wiko-Klasse) als auch einer Alphabetisierungsklasse (Alpha-Klasse) 3 auf Basis problemzentrierter, leit‐ 56 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell gelunterricht ist Willkommensklasse bzw. Alpha-Klasse, sofern ein zusätzlicher Bedarf an Alphabetisierung vorhanden ist (SenBJF 2018: 12 bzw. 22). Allgemeiner und bun‐ desweit verbreitet in Forschung und Medien für solche oder ähnliche Beschulungsmo‐ delle ist die Bezeichnung Vorbereitungsklasse als Oberbegriff, die auch im Folgenden als solcher genutzt wird. fadengestützter Interviews zu den Veränderungen des Unterrichts während der COVID -19-Pandemie befragt. Es zeigt sich in besonderem Maße, welch großen Stellenwert eine fortlaufende und angepasste Beschulung für diese Gruppe an‐ gesichts der in kürzester Zeit zu bewältigenden Aufgabe der sprachlichen und sozialen Integration in das Bildungssystem und der neuen Lebensumwelt hat. Nach einem kurzen Forschungsüberblick zu Bedingungen und Herausforde‐ rungen während der COVID -19-Pandemie für die Gruppe neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler mit einem Fokus auf die Rahmensituation in Berlin soll das Vorgehen bei der Erhebung der Interviewdaten sowie bei deren Analyse dargestellt werden. Nach Darlegung der Ergebnisse aus den Interviewdaten schließt sich ein Fazit an. 2 Schule und neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler in der Pandemie 2.1 Forschungsüberblick Mit dem zeitweiligen Aussetzen des Präsenzunterrichts an deutschen Schulen bedingt durch die Verordnungen des Bundes und der Länder zur Eindämmung der COVID -19-Pandemie seit dem 17. März 2020 wurden wesentliche Funkti‐ onen der Schule als Ort physischen Aufeinandertreffens ausgesetzt. Die Natio‐ nale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2020: 13) zählt hierzu u. a. die Strukturierung des Lernalltages, das durch den Austausch mit Schulkameraden und Lehrkräften unterstützte fachliche und soziale Lernen sowie qualifizierte Rückmeldungen zu Aufgaben und Übungen. In Vorbereitungsklassen haben diese Funktionen eine besondere und erweiterte Bedeutung: Neu zugewanderte und geflüchtete Jugendliche brauchen Raum, in dem sie nicht nur besondere Sprachförderung erhalten, sondern in dem sie mit ihren Biographien an‐ kommen und Fremdheitserfahrungen bearbeiten und abbauen können. Bevor sie in den Regelklassen lernen können, müssen sie die neue Umgebung kennen und sich in ihr sicher fühlen. (Fasse 2016: 25 f.) Die Institution Schule und allen voran die Lehrkräfte standen also im Frühjahr 2020 vor der Herausforderung, die dargestellten Funktionen von Schule in ein 57 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ 4 Bei Karakayalı / Heller 2020 sowie anderen wissenschaftlichen und journalistischen Quellen ist die terminologische Verwendung von Homeschooling gebräuchlich. Da mit diesem Begriff unterschiedliche Beschulungsmodelle assoziiert werden, wird in diesem Artikel auf die von der Berliner Schulbehörde empfohlene Bezeichnung ‚schulisch an‐ geleitetes Lernen zu Hause‘ (saLzH) zurückgegriffen. 5 Da bisher keine gesonderten Daten zu Ausstattung, Lebensumständen u. ä. flächende‐ ckend für Schülerinnen und Schüler aus Vorbereitungsklassen vorliegen, werden An‐ nahmen u. a. über Statistiken zu geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die einen nicht unerheblichen Teil der Schülerschaft in diesen Klassen ausmachen, mit herangezogen. 6 Auch thematiseren van Ackeren et al. (2020: 246) das in diesem Zusammenhang auf‐ tretende Problem der digital gap, wovon besonders Kinder aus benachteiligten Ver‐ hältnissen betroffen sind. Beschulungsmodell zu übertragen, das auf physische Distanz ausgerichtet war und das schulische Lernen in das zu Hause der Schülerinnen und Schüler ver‐ lagerte. Je nach digitaler Ausstattung und Vorerfahrung der Schule und der Lehrkräfte und Aufstellung der Klasse wurde der Unterricht im schulisch an‐ geleiteten Lernen zu Hause (saLzH) 4 sehr unterschiedlich umgesetzt. Lehrkräfte von Vorbereitungsklassen in Berlin gaben z. B. an, telefonisch, postalisch oder persönlich Aufgaben verteilt und den Kontakt mit den Schülerinnen und Schü‐ lern aufrecht erhalten zu haben, da nicht alle Kinder der Klassen über einen Zugang zu digitalen Endgeräten verfügten (vgl. Karakayalı / Heller 2020: 8). Die Problematik des fehlenden Zugangs zu einer für das Lernen adäquaten techni‐ schen Ausstattung und räumlichen Situation wird im Folgenden aufgezeigt. 2.1.1 Technische Ausstattung und räumliche Situation der Schülerinnen und Schüler Die Befragung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ( BAMF ) zur Wohnsituation geflüchteter Menschen 5 ergab, dass weniger als die Hälfte der Kinder einen PC bzw. ein Tablet zu Hause und weniger als ein Fünftel der be‐ fragten Kinder einen Computer ausschließlich zur eigenen Verfügung hat. Un‐ abhängig vom genutzten Endgerät haben etwa 95 % der Kinder, die in Privat‐ wohnungen leben, einen Internetzugang, in Sammelunterkünften sind es allerdings nur 56 % (vgl. Rude 2020: 49). „Einzelbefragungen von Lehrern zeigen, dass die geflüchteten Kinder teilweise schwer oder nicht erreichbar waren und über keine stabile Verbindung zum Internet verfügen“ (Rude 2020: 52). 6 Die räumliche Wohnsituation vieler Schülerinnen und Schüler aus Vorberei‐ tungsklassen bietet ebenfalls oft keine geeignete Umgebung zum ungestörten und konzentrierten Lernen. Laut der jährlich stattfindenden Befragung von Ge‐ flüchteten des BAMF haben nur 25 % der in Gemeinschaftsunterkünften und 37 % der in Privatwohnungen lebenden Kinder und Jugendlichen ein eigenes Zimmer (im Vergleich zu 88 % der Kinder ohne Migrationshintergrund) und 58 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell knapp zwei Drittel der geflüchteten Kinder verfügen zwar über einen eigenen Schreibtisch, jedoch nur knapp über ein Drittel in Sammelunterkünften (vgl. de Paiva Lareiro 2019: 5). Diese lernunförderlichen Wohnumstände führen zu viel Ablenkung und scheinen auch häufig im Zusammenhang mit Schwierigkeiten beim Deutschlernen zu stehen (vgl. Jasch 2017: 6). Insgesamt erschweren die Umstände der Wohnsituation und die Verfügbarkeit digitaler Lernausstattung diesen Schülerinnen und Schülern den Zugang zu saLzH und damit verbunden zu Bildung (vgl. Rude 2020: 52). 2.1.2 Kompetenzen im Distanzunterricht Neben den technischen und räumlichen Gegebenheiten waren und sind aber auch weitere Fähigkeiten, wie schriftsprachliche Kompetenzen, seitens der Schülerinnen und Schüler und / oder Lernunterstützung zu Hause relevant für den Erfolg oder Misserfolg von Unterrichtskonzepten in Distanz. Als eine große Herausforderung ist hierbei die Verständnissicherung der Aufgabenstellung und Unterstützung bei der Aufgabenbearbeitung zu sehen. Dies stellten Kara‐ kaylı / Heller (2020) durch eine Befragung von Lehrkräften fest, bei der die Lehr‐ kräfte vor allem bei Kindern mit geringen Deutschkenntnissen wenig Möglich‐ keiten der elterlichen Unterstützung und Schwierigkeiten bei der Bearbeitung schriftlicher Materialien ohne zusätzliche mündliche Erklärung konstatierten (vgl. Krakayalı / Heller 2020: 8). Der Bedarf eines direkten Kontaktes zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern erscheint daher zentral für das Lernen. Die Studie von Boeckmann et al. (2020) zu digitalem Distanzunterricht für Deutsch als Zweitsprache legt dar, dass sich ein synchroner Onlineunterricht besonders für Lernende ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten eignet. Der videogestützte Unterricht war die einzige Möglichkeit, mit den Schüler‐ innen und Schülern der Primarstufe, die noch nicht über ausreichend Lese- und Schreibkompetenzen zum Folgen asynchroner Online-Formate verfügten, in Kontakt zu treten (vgl. Boeckmann et al. 2020: 12). Dies zeigt, welche besondere Bedeutung schriftsprachliche Fähigkeiten, aber auch Medienkompetenz für das Lernen in Distanz haben, sofern der Unterricht digital (synchron und asynchron) erfolgt. 2.1.3 Soziales Miteinander und sprachliche Lernfortschritte Abgesehen von dem Kontakt zur Lehrkraft als sprachliches Vorbild und Lern‐ unterstützung hat der Kontakt zu Gleichaltrigen aus Deutschland für Kinder und Jugendliche ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen einen besonderen Stellenwert. Eine Befragung des BAMF ergab, dass 2017 ca. „75 % der befragten Kinder und Jugendlichen […] ihre Freizeit mindestens einmal pro Woche mit 59 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ Deutschen [verbrachten]“ (de Paiva Lareiro 2019: 8). Neben einem Einblick in Werte der Peer-Group und einem damit verbundenen Eintauchen in die Kultur bedeutet dieser soziale Austausch für die Schülerinnen und Schüler eine gute Möglichkeit, Deutsch zu nutzen. Mit dem Wegfall des Präsenzunterrichts in den Schulen und den gleichzeitigen Ausgangsbeschränkungen während des Lock‐ downs fielen die sozialen Kontakte in der Schule und bei der gemeinsamen Freizeitgestaltung weg (vgl. Rude 2020: 54). Für den Kontext Schule konnten Boeckmann et al. (2020) zeigen, dass generell synchroner Onlineunterricht im Vergleich zu asynchronen Formaten teilweise das Fehlen sozialer Kontakte aus‐ gleichen kann, aber auch, dass in diesem Format weniger Austausch zwischen den Schülerinnen und Schülern als im Präsenzunterricht stattfindet (vgl. Boeck‐ mann et al. 2020: 11 f.). Auch für die Nutzung des Deutschen zeigte sich ein geringerer Austausch zwischen den Lernenden, obwohl durch didaktische Me‐ thoden reproduzierende sowie eigenproduktive Sprechanlässe geschaffen wurden. Seitens der Lehrenden war ein hoher zielsprachlicher Input zu ver‐ zeichnen (vgl. Boeckmann et al. 2020: 39). Für den Spracherwerb und das sprachliche Lernen nimmt das soziale Miteinander und ein damit verbundenes kommunikatives Handeln einen wichtigen Stellenwert ein. So stellen Scheible / Rother (2017) bei ihrer Untersuchung des Unterrichtssettings Integrationskurs fest, dass neben Freude am Unterricht und einem ausgeprägten Interesse an deutscher Kultur und Sprache die frequente Nutzung des Deutschen kursintern als auch kursextern einen starken positiven Einfluss auf den sprachlichen Lernerfolg hat (vgl. Scheible / Rother 2017: 5): Der Erwerb der Landessprache stellt so gesehen nicht die Voraussetzung, sondern vielmehr das Ergebnis der erfolgreichen Teilhabe von MigrantInnen an Bildungs‐ prozessen und am Arbeitsmarkt dar. (Plutzar 2010: 126) Für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler kann somit Partizipation in der Institution Schule, also an Bildungsprozessen, einen hohen motivationalen Aspekt im Spracherwerbsverlauf und sprachlichen Lernprozess ausmachen, da dies einen gesicherten Raum zur Nutzung der deutschen Sprache darstellt. 2.1.4 Motivationale Aspekte während saLzH (Distanzunterricht) Der Aufrechterhaltung motivationaler Faktoren kommt für den Lernprozess bzw. deren Kompensation während des Lockdowns und des daraus resultierenden saLzH eine tiefere Bedeutung zu. Generell wirken sich Merkmale der Schülerinnen und Schüler selbst, der Lehrenden oder der Lernumgebung auf die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler aus (vgl. Huber / Helm 2020: 43). Sofern eine Motivierung durch das häusliche Umfeld aus unterschiedlichsten 60 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell Gründen, z. B. durch hohe Arbeitsbelastung, fachliche oder sprachliche Schwie‐ rigkeiten der Erziehungsberechtigten, eine zu hohe Herausforderung darstellt, kommt der Ausgestaltung des saLzH seitens der Schule eine umso höhere Re‐ levanz zu (vgl. u. a. Wildemann / Hosenfeld 2020: 9 f., Karakayalı / Heller 2020: 8). So identifizierten Huber und Helm (2020) zwei Schülergruppen, bei der die‐ jenige wenig lernmotiviert war, für die selbstorganisiertes und selbstständiges Lernen während der pandemiebedingten Schulschließung eine Herausforde‐ rung darstellte und die saLzH eher als Ferien wahrnahm (vgl. Huber / Helm 2020: 41). Lernunerfahrene Schülerinnen und Schüler werden solche Kompetenzen und Lernstrategien schwieriger zu nutzen wissen, da sie ihnen mangels Erfah‐ rung schlichtweg fehlen. 2.2 Neuzugewanderte in Berlin: Rahmenbedingungen in der Pandemie Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche besteht in Berlin altersunab‐ hängig eine allgemeine Schulbesuchspflicht, die mit Ablauf des zehnten Schul‐ besuchsjahres abgegolten ist (§ 42 Abs. 4 SchulG Berlin). Die temporären Lern‐ gruppen für Neuzugänge ohne oder mit geringen (deutschen) Sprachkenntnissen, auch Willkommensklassen, bilden eine vom Senat für Bil‐ dung, Jugend und Familie (Sen BJF ) errichtete, auf den Spracherwerb fokussierte Form der Schulerstintegration (vgl. Sen BJF 2018). Im Schuljahr 2019 / 2020 waren dies 5708 Schülerinnen und Schüler in 523 Wiko-Klassen. Ziel der Wiko-Klassen ist es, durch eine fokussierte Sprachvermittlung des Deutschen einen möglichst schnellen Übergang in eine Regelklasse zu bereiten. Ein kon‐ kretes Curriculum besteht bisher für allgemeinbildende Schulen nicht, lediglich für die beruflichen und zentral verwalteten Schulen (vgl. Gamper et al. 2020; Wiażewicz et al. 2017). Bei besonderen Bedarfen, wie einer (Erst-)Alphabetisie‐ rung, kann ein gesondert ausgerichteter Unterricht, z. B. in Alphabetisierungs‐ gruppen, angeboten werden (vgl. Sen BJF 2018: 15). Auch während der Pandemie bestanden diese Beschulungsmodelle und waren ebenso von den regulären pan‐ demiebedingten Maßnahmen im schulischen Bereich, wie Schließungen mit teils einhergehendem saLzH, Hybridunterricht u. ä. betroffen. Nach Aussagen der Berliner Integrationsbeauftragten Katarina Niewiedzial in der Süddeutschen Zeitung (vgl. SZ 2021) seien für neu zugewanderte Schü‐ lerinnen und Schüler „die Anforderungen des Homeschooling kaum zu bewäl‐ tigen“. Gestützt auf die Erfahrungen des ersten pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 finden sich bereits erste Anpassungsmaßnahmen seitens der Sen BJF Berlin hinsichtlich der Beschulung dieser Gruppe. Im Handlungsrahmen für das Schuljahr 2020 / 21 (Sen BJF 2020a) finden sich verschiedene Empfeh‐ lungen zur Konzeptentwicklung von Beschulungsmaßnahmen während der 61 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ Pandemie, auch im Falle erneuter (Teil-)Schließungen der Schulen, z. B. für die Verschränkung von saLzH und Präsenzunterricht, oder zur Leistungsfeststel‐ lung. Im Dezember 2020 wurde der Handlungsrahmen um ein weiteres Schreiben ergänzt, das u. a. gesonderte Bedarfe der Gruppe der neu zugewan‐ derten Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. So wird in den Ergänzungen zum Handlungsrahmen folgendes konstatiert: „Für Schülerinnen und Schüler mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen sind Lernfortschritte im schu‐ lisch angeleiteten Lernen zu Hause kaum oder gar nicht möglich“ (Sen BJF 2020b: 4), einhergehend mit der Empfehlung einer Gleichstellung zur Schülergruppe des Primarbereichs, mit einem Mindestumfang von drei Stunden täglich im Prä‐ senzunterricht. Auch wird eine Verlängerung eines möglichen Nachteilsausgleichs für ehemalige Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klassen, die im Übergang bzw. bereits in der Regelklasse sind, von zwei auf drei Jahre festgelegt. Dass eine Umstellung auf reinen Onlineunterricht den Bedarfen neu zugewan‐ derter Schülerinnen und Schüler nicht ganz entspricht, geht auch aus den we‐ nigen empirischen Studien (s. Kap. 2.1) hervor sowie aus der hier im Folgenden vorgestellten Untersuchung. 3 Methodik Wie dargestellt wurde, bilden die Schülerinnen und Schüler aus Vorbereitungsklassen eine besonders vulnerable Gruppe, da sie in der Bildungslandschaft hin‐ sichtlich ihres Bedarfs bisher häufig „übersehen“ wurden. Um den Fokus auf diese Gruppe zu lenken, wurden Schülerinnen und Schüler aus einer Wiko-Klasse und einer Alpha-Klasse sowie ihre Lehrkräfte hinsichtlich ihrer Erfahrungen und Einschätzungen zum Lernen in Distanz während der pande‐ miebedingten Schulschließungen interviewt. 3.1 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Am problemzentrierten Leitfadeninterview (vgl. Riemer 2016: 165) nahmen ins‐ gesamt zwölf Schülerinnen und Schüler sowie ihre Klassenlehrkräfte teil. Von den zwölf Schülerinnen und Schülern befanden sich zum Erhebungszeitpunkt neun Schülerinnen und Schüler in einer Wiko-Klasse und drei Schülerinnen und Schüler in einer Alpha-Klasse. Die Erhebung sprachbiografischer Daten der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ermöglicht einen Überblick über sprach- und lernbiografische Voraussetzungen der Klassen (s. Tab.1). So wurden 62 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell 7 Die Schülerinnen und Schüler in der Wiko-Klasse gaben nur oberflächlich ihre Sprach‐ kompetenzen an. 8 Unter L3 werden alle weiteren Sprachen, unabhängig der Intensität ihres tatsächlichen Gebrauchs, subsumiert. 9 Diese/ r Teilnehmer/ in lebte im Wechsel zwischen Deutschland und der Türkei. das Alter, das Herkunftsland sowie die Familiensprachen 7 und weitere erwor‐ bene Sprachen, die Beschulungserfahrungen und die bisherige Aufenthaltsdauer in Deutschland erhoben. Sprachbiografische Daten Wiko-Klasse (W) und Alpha-Klasse (A) Kennung Aufenthalt in Deutsch‐ land zum Er‐ hebungs‐ zeitpunkt ( Jahr; Monat) Alter zum Erhebungs‐ zeitpunkt Sprachen (L1, L2, L3 8 - Trenn‐ schärfe der Sprachzuordnung nicht immer klar gegeben) Her‐ kunfts‐ land W1 1; 0 16 Spanisch (L1), Englisch (L3) Kolum‐ bien W2 1; 6 14 Mandinka (L1), Englisch (L2) Gambia W3 7; 0 15 Arabisch (L1) Syrien W4 1; 0 15 Arabisch (L1), Englisch (L3) Jemen W5 2; 0 16 Türkisch (L1), Deutsch (L2), Eng‐ lisch (L3) Türkei 9 W6 1; 8 15 Wolof (L1), Englisch (L2) Gambia W7 2; 0 17 Maninka (L1), Fula (L1), Franzö‐ sisch (L2), Susu (L3), Englisch (L3) Guinea W8 2; 0 15 Türkisch (L1), Englisch (L3) Türkei W9 0; 6 15 Arabisch (L1), Französisch (L2), Englisch (L3) Algerien A1 1; 7 18 Kurmancî (L1), Arabisch (L1) Syrien A2 1; 4 19 Arabisch (L1) Syrien A3 2; 0 21 Arabisch (L1) Libanon Tab. 1: Sprachbiografische Daten Willkommens- und Alpha-Klasse 63 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ 10 Es ist zu bedenken, dass nur wenig bekannt ist über die genaue Art der Beschulung, d. h. welche Kompetenzen konkret im Laufe der Schulzeit erworben wurden. 11 Auf Anfrage bei den Autorinnen kann gern Einsicht in den Leitfaden genommen werden. Die befragten Schülerinnen und Schüler in der Wiko-Klasse (W1-W9) sind zum Erhebungszeitpunkt zwischen 14 und 17 Jahre alt und durchschnittlich seit 2 Jahren in Deutschland. Die Herkunft der Gruppe setzt sich sehr heterogen zusammen. Alle Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse haben vor ihrer Einreise nach Deutschland eine weitestgehend durchgängige Beschulung er‐ halten 10 . Von den neun interviewten Schülerinnen und Schülern der Wiko-Klasse wurden zwei Interviews nicht berücksichtigt, da bei den Teilneh‐ merinnen W6 und W8 die Verbindung unterbrochen wurde. Die drei Schüler‐ innen und Schüler der Alpha-Klasse (A1-A3) sind 18, 19 und 21 Jahre alt und stammen aus Syrien und dem Libanon. Die Schule im Herkunftsland haben alle unregelmäßig bis zur 3. bzw. 5. Klasse besucht. Entsprechend gering sind die Vorkenntnisse der Befragten im Schriftspracherwerb. Ein Alpha-Schüler / eine -Schülerin gibt an, das Lesen im Arabischen autodidaktisch erworben zu haben, ein anderer / eine andere kann ein wenig Arabisch schreiben, während der / die dritte Schüler / Schülerin im Deutschen zum ersten Mal Schreiben lernt. 3.2 Erhebungsinstrument Die Daten wurden mittels problemzentrierter Leitfadeninterviews erhoben, um eine stärkere Steuerung des Gesprächsverlaufs und damit einhergehend eine Fokussetzung seitens der interviewten Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte zu gewähren (vgl. Bortz / Döring 1995: 283). Bei den Interviews handelt es sich um eine qualitative ad hoc-Stichprobe und nicht um eine Zufallsstichprobe, die repräsentativ für die Grundgesamtheit aller befragten Personengruppen ist. Die Grundlage für die Leitfragen 11 bildete die theoretische Auseinanderset‐ zung, geleitet durch die in Kapitel 2 festgestellten Herausforderungen und Be‐ darfe für die Gruppe der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler während des saLzH. Dieses theoretische Fundament wurde in vier übergeordnete Be‐ reiche überführt: Veränderungen des Unterrichts, Verlagerung auf digitale For‐ mate, erlebter (sprachlicher) Lernfortschritt und der soziale Austausch und die damit verbundenen Kontaktmöglichkeiten. Das Interview mit den Lehrkräften fokussierte neben den genannten Bereichen den Umgang mit digitalen Me‐ thoden und den Aspekt des sozialen Miteinanders in der Klasse und diente vor‐ rangig dem Erheben von Hintergrundinformationen und -einschätzungen. 64 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell 3.3 Durchführung Die problemzentrierten Leitfadeninterviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie mit den Lehrkräften erfolgten in zwei Erhebungsformen - als Gruppenbzw. Einzelinterview. In der Wiko-Klasse wurde das Interview mit den Schü‐ lerinnen und Schülern als Gruppeninterview durchgeführt. Bei der Befragung der Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sowie bei der Befragung der beiden Lehrkräfte fand das Interview hingegen als Einzelgespräch statt. Das in Gruppeninterviews auftretende Phänomen der stillschweigenden Übereinkunft (vgl. Riemer 2016: 166) spiegelt sich auch in den vorliegenden Daten wider, weshalb aus den Antworthäufigkeiten (s. Tab. 3) keine Schlüsse über die Rele‐ vanz der einzelnen Themenbereiche in den jeweiligen Gruppen generell ge‐ zogen werden sollten. Sie dienen lediglich zur Veranschaulichung der Verteilung der verschiedenen Analysekategorien. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und den damit erschwerten Er‐ hebungsbedingungen wurden die Interviews mittels eines Cloud-basierten Web‐ konferenzsystems durchgeführt. Nach der Zustimmung der freiwilligen Teil‐ nahme aller anwesenden Schülerinnen und Schüler wurden die sprachbiografischen Daten (s. Tab. 1) abgefragt. Im weiteren Verlauf entwickelte sich entlang der Leitfragen eine Diskussion mit kurzen Erzählphasen der Schü‐ lerinnen und Schüler, die von Nachfragen und Zusammenfassungen der Inter‐ viewerinnen geprägt war (s. Kap. 4). Pandemiebedingt und aufgrund der geringen mündlichen und schriftsprach‐ lichen Kompetenzen im Deutschen einhergehend mit einer eingeschränkten Medienkompetenz hinsichtlich unbekannter digitaler Formate wurden die Fragen durch die Interviewerinnen an die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse über einen Instant-Messaging-Dienst auf Arabisch gestellt. Hierbei erfolgte die Erhebung asynchron, d. h. die Antworten der Schülerinnen und Schüler erfolgten teils mit zeitlichem Verzug. 3.4 Datenaufbereitung Die erhobenen Audio- und multimodalen Daten wurden in ein vereinheitlichtes schriftliches Format übertragen. Die Transkription der Sprachdaten erfolgte entlang der Vorgaben nach Dresing / Pehl (2015). Die Entscheidung für diese Transkriptionskonvention wird mit ihrem starken Fokus auf den Inhalt be‐ gründet. Bei der Übersetzung der Sprachdaten der Alpha-Klasse ins Deutsche wurde auf die Interlinearglossierung verzichtet, da die Schülerinnen und Schüler in einem arabischen Dialekt gesprochen haben, der in schriftlicher Form nicht existiert. Daher wird auf der Basis lateinischer Schrift, soweit für das Verständnis nicht hinderlich, wortgemäß übersetzt. 65 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ 3.5 Datenanalyse Zur Auswertung der erhobenen Daten wurde eine strukturierte qualitative In‐ haltsanalyse durchgeführt. Mithilfe der aus dem Interviewleitfaden entwi‐ ckelten deduktiven Kategorien wurde das Datenmaterial in einem ersten Schritt geordnet und strukturiert. Anschließend wurden diese bestehenden Hauptka‐ tegorien datenbasiert durch induktive Subkategorien spezifiziert, d. h. eine de‐ duktiv-induktive Kategorienbildung liegt vor (vgl. Kuckartz 2018: 95 f.). Tabelle 2 zeigt die deduktiv erstellten Hauptkategorien in Zusammenhang zu den the‐ oretischen Annahmen (s. Kap. 2) sowie zu den aus den Interviewdaten induktiv gebildeten Subkategorien. So bilden die aus den theoretischen Annahmen über die Verlagerung auf digitale Formate abgeleiteten Hauptkategorien einerseits die Vor- und Nachteile von saLzH sowie von Präsenzunterricht als auch die tech‐ nische Ausstattung und das soziale Miteinander im Klassenraum ab. Hierbei er‐ gaben sich aus den Antworten der Schülerinnen und Schüler wiederum z. B. zu der Hauptkategorie Vorteile Präsenzlehre / Nachteile saLzH u. a. die Subkatego‐ rien Verständnis der Inhalte, räumliche Situation und soziale Kontakte. Theoretische Annahmen (Deduktive) Hauptkategorien (Induktive) Subkategorien Veränderung des Unterrichts (s. 2.2) Vorgehensweise - Verlagerung auf di‐ gitale Formate (s. 2.1.1, 2.1.2, 2.1.4) saLzH Vorteile Synchrone Lernbegleitung Ökologischer Aspekt Soziale Kontakte in der Schule (z. B. Mobbing) Präsenzlehre Nachteile - Vorteile Präsenzlehre / Nachteile saLzH Verständnis der Inhalte Motivation Soziale Kontakte Extrinsische / intrinsische Ablenkung Räumliche Situation Technische Ausstattung Sprachkontakt Freude / Spaß 66 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell Theoretische Annahmen (Deduktive) Hauptkategorien (Induktive) Subkategorien Kein Feedback Technische Ausstattung Kein Computer vorhanden Computer vorhanden Erlebter (sprachli‐ cher) Lernfort‐ schritt (s. 2.1.3) Lernfortschritt er‐ schwert / nicht er‐ schwert Fehlender Kontakt zur deutschen Sprache Selbsteinschätzung zu sprachlichen (Teil-)Bereichen Soziale Teilhabe = Deutsche Sprache Sozialer Austausch und Kontaktmög‐ lichkeiten (s. 2.1.3) Kontakt zur deutschen Sprache Deutsch mit L1-Deutsch-Sprech‐ enden Deutsch mit anderen Lernenden Tab. 2: Deduktiv-induktives Kategoriensystem 4 Ergebnisse Die Interviewdaten wurden nach den in Tabelle 2 aufgezeigten Kategorien ana‐ lysiert und geclustert. Eine Übersicht zur Häufigkeit der in den Daten analy‐ sierten Codes zu den sieben Hauptkategorien lässt sich in Tabelle 3 nachvoll‐ ziehen. Sie zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler beider Gruppen in den Interviews am häufigsten über die Vor- und Nachteile von saLzH gegenüber Präsenzlehre sprachen. Nach Klasse differenziert betrachtet, trifft dies für die Vorteile von saLzH insbesondere auf die Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse zu. Die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sprachen auch häufig über die Wahrnehmung ihres Lernfortschritts und ihre Kontakte zur deutschen Sprache während der Schulschließung. Auch die Vorgehensweise wird häufiger von den Alpha-Schülerinnen und -Schülern thematisiert. Diese Unterschiede können auch auf die unterschiedliche Durchführung bei der Er‐ hebung zurückzuführen sein (s. Kap. 3.3). Im Folgenden werden die Ergebnisse aus den Interviewdaten unterteilt nach den Hauptkategorien genauer darge‐ stellt. 67 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ 12 Die folgendene Beschreibung zu saLzH entstammt dem Interview mit der Lehrkraft der Wiko-Klasse. 13 Die folgende Beschreibung zu saLzH entstammt dem Interview mit der Lehrkraft der Alpha-Klasse. Thematisierte Hauptkategorien Häufigkeit Wiko-Klasse Alpha-Klasse Vorgehensweise 11 2 9 saLzH Vorteile 11 10 1 Präsenzlehre Nachteile - - - Vorteile Präsenzlehre / Nachteile SaLzH 25 13 12 Technische Ausstattung und räumliche Situation 9 4 5 Lernfortschritt erschwert / nicht er‐ schwert 16 5 11 Kontakt zur deutschen Sprache 16 6 10 Tab. 3: Häufigkeitsverteilung der Kategorien nach Antworten 4.1 Vorgehensweise: Strukturierung des Lernalltags Das saLzH begann in der Wiko-Klasse zunächst in analoger Form. 12 Die Lehr‐ kraft erstellte einen Hefter mit Arbeitsaufträgen und Materialien, die die Schü‐ lerinnen und Schüler bearbeiten sollten. Während die Schülerinnen und Schüler die Arbeitsmaterialien in der ersten Woche persönlich mitnehmen konnten, wurden ihnen die Materialien für die folgenden Wochen per Post zugesandt. Schnell stellte sich aber heraus, dass das ausschließlich selbstständige Erarbeiten der Aufgaben für diese Klasse nicht funktionierte. Von den Schülerinnen und Schülern kam keinerlei Rückmeldung der Aufgabenlösungen, lediglich, dass die Arbeitsaufträge zu schwer seien. Im Anschluss an einen digital durchgeführten Ferienkurs wurde daher dieses Format für die Klasse übernommen, sodass syn‐ chroner Distanzunterricht per Web-Konferenzsystem stattfinden konnte, der fortan eine Lernbegleitung ermöglichte. Auch in der befragten Alpha-Klasse 13 wurden digitale und analoge Mittel ge‐ testet, um in erster Linie den Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern zu halten, sie zu informieren und die aktuelle Pandemielage mit ihren neuen „Re‐ geln“ zu erklären und den Schülerinnen und Schülern Sprechanlässe für das Deutsche zu geben. Erst im Anschluss daran konnte die Vermittlung des ei‐ 68 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell 14 Wenn im Folgenden von Lockdown gesprochen wird, dann beziehen sich die Inter‐ viewfragen primär auf den ersten bundesweiten Lockdown im März / April 2020. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich die Antworten der befragten Schülerinnen und Schüler auch auf weitere Zeiträume des Distanzunterrichts beziehen, da die Befragung im Januar 2021 stattgefunden hat, einer Zeit, zu der die Schülerinnen und Schüler die Schule bereits erneut nicht besuchen konnten. gentlichen Unterrichtsinhalts - die Alphabetisierung - im saLzH angegangen werden. Aufgrund fehlender Lese- und Schreibfertigkeiten der Schülerinnen und Schüler stellte der Zugang zu Videotools, die synchronen Onlineunterricht ermöglicht hätten, eine nicht zu überwindende Hürde dar. Anders als bei den von Boeckmann et al. (2020: 12) untersuchten Schülerinnen und Schülern der Primarstufe haben die Lernenden der Alpha-Klasse meist keine unterstützende Person, die ihnen beim Einrichten eines Videostreams o. Ä. behilflich ist, son‐ dern sind auf sich gestellt. Daher kristallisierte sich für die Alpha-Klasse schnell ein Messenger-Dienst als sinnvollstes Kommunikationsmittel heraus, den die Schülerinnen und Schüler auch privat und in ihrer Erstsprache nutzten. Dabei wurden von der Lehrkraft Sprachnachrichten mit Kommunikationsimpulsen gesendet, auf die die Schülerinnen und Schüler ebenfalls mit Sprachnachrichten antworteten. Die Alphabetisierung wurde von der Lehrkraft durch das Ver‐ senden selbsthergestellter Videos zu Schwungübungen und Buchstabenschrei‐ bungen angeleitet. Darüber hinaus waren die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse in dieser Zeit angehalten, ihren Deutscherwerb selbstständig durch Übungen in den bereitgestellten Kursbüchern voranzubringen. Die Lehr‐ kraft versuchte während des Lockdowns, die Schülerinnen und Schüler zu mo‐ tivieren, wenigstens sporadisch Deutsch zu sprechen oder zu schreiben. Die drei befragten Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse berichten auf die Eingangsfrage hin, was und wie sie in der Zeit des Lockdowns 14 gelernt haben, dass ihnen das Selbststudium schwerfiel, weil sie mit den gegebenen Möglichkeiten nicht zurecht kamen: (1) Selbststudium im Distanzunterricht A3: Hallo, (…) während der freien Tage saß ich zu Hause und habe Sachen übersetzt und mit dem Buch gelernt. Ich habe versucht online zu lernen, aber ich habe es nicht verstanden. Es war schwierig. Es war für uns alle schwierig online. […] ähm, online war es schwer für mich. Ich konnte nichts verstehen. Und als ich zur Schule gegangen bin, verstand ich alle Wörter. (husten) Online konnte ich die Wörter nicht gut ver‐ stehen und insbesondere am Telefon habe ich nichts verstanden. Auch die befragten Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse berichteten von Schwierigkeiten, ein konzentriertes Lernumfeld zu Hause zu schaffen: 69 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ (2) Strukturierung des Lernens W7: In der Schule kann sehr gut verstehen und ähm du kannst ein bisschen konzent‐ rieren, aber zu Hause ist anders. Du kannst nicht so einfach so sitzen und ja du kannst alles machen. Du kannst einfach so dein Handy dalegen und essen. So einfach so es passiert mal. Aber in der Schule man darf nicht das. Man darf nur in der Pause essen. Zu Hause ist es manchmal laut oder so. Wie gerade. Die Umstrukturierung des Lernalltags wirkte sich nicht nur auf die Arbeitsweise einiger Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf die Lehrkräfte aus, da durch das saLzH die Unterrichtszeiten neu verhandelt werden konnten. Im asyn‐ chronen Unterricht der Alpha-Klasse orientierte sich der Austausch zwischen der Lehrkraft und den Schülerinnen und Schülern am individuellen Arbeitsver‐ halten dieser, das sowohl im Umfang als auch den Arbeitszeiten sehr unter‐ schiedlich ausfiel. 4.2 Technische Ausstattung und räumliche Situation Wie Rude (2020) und die Befragung des BAMF zur Wohnsituation der geflüch‐ teten Menschen (vgl. de Paiva Lareiro 2019) gezeigt haben, ist die räumliche Situation und technische Ausstattung gerade dieser Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme an digitalem saLzH nicht selbstverständlich. Vier von sieben Schülerinnen und Schülern der Wiko-Klasse gaben an, einen Computer für den Unterricht zu nutzen. Eine Schülerin / ein Schüler berichtet, dass das Lernen zu Hause anfangs dadurch erschwert wurde, dass die Familie nach einem Umzug noch keine Stühle hatte und sie am Boden arbeiten musste. In der Alpha-Klasse erschwerten sowohl die räumliche Situation als auch eine fehlende technische Ausstattung eine lernförderliche Umgebung. So berichtete eine Schülerin / ein Schüler der Alpha-Klasse von beengten und ablenkungsreichen Wohnverhält‐ nissen: (3) Ablenkendes Wohnumfeld A3: Für mich hat sich vor allem geändert, dass ich nur noch zu Hause saß. Vor allem, dass ich mit meinem Vater in einem Zimmer saß. Da bin ich einfach nicht wirklich vorangekommen. Es lief ständig der Fernseher und ich hatte auch einfach keinen Platz, wo ich mich in Ruhe hätte hinsetzen können. Unsere Wohnung ist nur ein Raum. Das hat mich davon abgehalten irgendwas von der Sprache zu verstehen. Während knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse über einen Computer dem Unterricht folgen konnten, hatten die drei Befragten der Alpha-Klasse ausschließlich über ihr Telefon Zugang zum Lernen. Schü‐ lerin / Schüler A3 berichtete beispielsweise, dass ihre / seine Bemühungen einen Computer zu bekommen, scheiterten: 70 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell (4) Technische Ausstattung A3: Ich hatte nur mein Handy. Ich habe kein Laptop. Ich habe versucht eins zu bean‐ tragen, aber mein Antrag wurde abgelehnt. 4.3 Präferenzen der Unterrichtsformen Im Zusammenhang mit der Schilderung der veränderten Unterrichtssituation begannen die Schülerinnen und Schüler der befragten Klassen, ihre präferierte Unterrichtsform zu nennen und zu begründen. Dabei erfolgte meist ein gegen‐ seitiges Abwägen der einzelnen Formate zueinander. Im Folgenden werden nach der Darstellung der Vorteile des Online-Unterrichts dessen Nachteile und die Vorteile des Präsenzunterrichts aus Sicht der Schülerinnen und Schüler aufge‐ zeigt. 4.3.1 Vorteile begleiteten Online-Unterrichts Die Vorteile des Online-Unterrichts sahen die Schülerinnen und Schüler aus drei Perspektiven. Eine Schülerin / ein Schüler führte den ökologischen Aspekt an, da beim Online-Unterricht weniger Papier genutzt wird. Eine weitere Schü‐ lerin / ein weiterer Schüler berichtete von negativen Erfahrungen während der Pausen, die im Online-Unterricht wegfallen. Die Mehrheit stufte zwar den syn‐ chronen Online-Unterricht im Vergleich zu anderen Distanzformaten während des saLzH, wie zugesandte Arbeitsblätter, als besser ein, jedoch schlechter als den Präsenzunterricht in der Schule: (5) Vorteile Online-Unterricht W4: Aber online ist auch gut. I: Online ist auch gut? Also das heißt der Online-Unterricht ist auf jeden Fall besser dann als gar kein Unterricht, ne? W4: Ja. I: Oder die em Arbeitsblätter. Ihr habt ja am Anfang Arbeitsblätter bekommen, mit einem Brief, alles okay oder war das dann schwierig? W4: em es war bisschen schwierig für mich. Also mit online ist besser. Schülerin / Schüler W1 sieht die Gründe für die Schwierigkeiten, die sie / er mit dem anfänglichen analogen saLzH (Arbeitsblätter) hatte, in ihrem / seinen Sprachniveau im Deutschen begründet: (6) Fehlendes Sprachniveau zum Selbstlernen W1: Es war noch nicht so leicht wie jetzt. Ich habe noch nicht genug (niv? ) Sprach‐ niveau, um alles allein zu verstehen. Aber ich habe / ich habe ja versuchen vielleicht noch nicht / vielleicht nicht (zu? ) genug viel geübt ja. Ich glaube, dass wahrscheinlich 71 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ 15 Hier steht für das im Interview und den Unterricht genutzten Online-Web-Konferenz‐ system. in diesen zwei Monaten, dass ich hier zu Hause war / wenn ich / wenn ich in diesen zwei Monaten zu Hause mehr gelernt hätte oder ja ich kann wahrscheinlich könnte ich jetzt mehr sprechen. Auch die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sahen Vorteile im unmit‐ telbar durch die Lehrkraft begleiteten Distanzunterricht im Gegensatz zum Selbstlernen. So betonte Schülerin / Schüler A1, dass die Videoanweisungen der Lehrkraft per Messenger-Dienst hilfreicher waren als eine Alphabetisie‐ rungs-App, die die Klasse ausprobiert hatte: (7) Vorteil begleiteter Distanzlehre A1: Als ich mit dem Handy gelernt habe, mit dem neuen Programm, was sie mir gegeben haben, hatte ich das Gefühl, dass das nicht viel bringt. Nicht besonders doll. Aber es war ok. Zum Beispiel haben wir die Lehrerin über die Kamera gesehen. Das war nett. Ich kann nicht sagen, dass das schlecht war. Es war gut. 4.3.2 Vorteile Präsenz / Nachteile Online Alle befragten Schülerinnen und Schüler sahen im Präsenzunterricht in der Schule fast ausschließlich Vorteile. Demgegenüber wurden als Nachteile des Online-Unterrichts zwar selten die im Distanzunterricht fehlenden Kontakte, der geringere bzw. ausbleibende Kontakt zur deutschen Sprache und die im Distanzunterricht fehlende Motivation genannt. Noch seltener wurden der feh‐ lende Spaß, Ablenkung und die mangelhafte räumliche Situation zu Hause sowie mangelnde technische Ausstattung und fehlendes Feedback der Lehrkraft an‐ geführt. Am häufigsten wurde von den Schülerinnen und Schülern das bessere Verständnis der Unterrichtsinhalte als Vorteil des Präsenzunterrichts benannt: (8) Vorteile Präsenzunterricht W4: Also ich glaube in der Schule ist besser, weil man kann besser verstehen. (…) I: Findest du das in der Schule dass man dass das dann Sachen besser erklärt werden? W4: Ja. Weil hier 15 manchmal versteht man nichts. Also alles. (9) Vorteile Präsenzunterricht 2 A2: Es gibt einige Wörter / es gibt Wörter, die ich meistens falsch ausspreche und niemand ist da, um mich zu unterrichten. Ich war immer in der Schule. Es ist besser, meine ich. Es war sehr viel besser, weil ich schnell Sprechen und Schreiben gelernt habe. 72 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell Zudem wurde dem Präsenzunterricht in der Schule eine hohe motivierende Wirkung zugeschrieben: (10) Fehlende Motivation W9: Immer wenn wir zur Schule gehen, dann werde ich schon so motiviert so wach zu werden. Wenn ich hier bin, zu Hause, dann manchmal werde ich einschlafen und sowas. Hierbei stellte sich die häusliche (soziale) Umgebung als ein besonderer lern‐ hemmender Faktor heraus (s. Kap. 2.1.4, s. Bsp. 1, 2, 3). Alle Schülerinnen und Schüler bemängelten am Distanzunterricht, während des Lockdowns nicht mit ihren Klassenkameraden und Freunden interagieren zu können, wie Schülerin / Schüler W2 berichtete: (11) Soziales Miteinander in der Schule I: Also, was ist besser in der Schule als jetzt? Onlineunterricht. W2: In der Schule kann man mit Freunden rede. In der Pause oder im Unterricht ein bisschen quatschen. Also, man darf nicht in der Unterricht mit anderen reden. Man muss sich konzentrieren. I: Aber man macht das trotzdem, ja? W2: Ja. (lacht) Mit dem Wegfall dieser sozialen Kontakte im Unterricht gingen auch sinkende Sprechanlässe im Deutschen einher, die die befragten Schülerinnen und Schüler als entscheidend für ihren Lernfortschritt ansahen (s. Kap. 4.4 und 4.5). 4.4 Sozialer Austausch und Kontakt zur deutschen Sprache Die Kontaktbeschränkungen und pandemiebedingten Schließungen gesell‐ schaftlicher und sozialer Einrichtungen brachten für die Schülerinnen und Schüler in Vorbereitungsklassen starke Einschränkungen der sozialen Kontakte und insbesondere zur deutschen Sprache mit sich. Ihnen blieben wenige einzelne Kontakte zum Deutschen, die sich in der Häufigkeit des Austauschs, aber auch im Grad der Sprachbeherrschung stark unterschieden und auch abhängig von den Wohn- und Lebensumständen waren. Während eine Schülerin / ein Schüler mit einem Familienmitglied (L1: Deutsch) täglich Deutsch sprechen konnte, gaben drei andere Schülerinnen / Schüler an, während des Lockdowns lediglich mit anderen Lernenden (Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse, Freunde und Geschwister) Deutsch gesprochen zu haben (s. a. Bsp. 14). (12) Fehlende Kontakte zum Deutschen A2: Meine Freunde, also ich habe keine deutschen Freunde. Meine Freunde sind Syrer oder andere Araber. Deutsche Freunde habe ich nicht. Ich wollte mich bei einem 73 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ Sportverein anmelden, aber man muss sich für mindestens zwei Jahre anmelden und mein Aufenthaltstitel ist nur ein Jahr gültig. Ich brauche den permanenten Aufenthalt, damit ich mich registrieren kann. Ich spreche Deutsch mit jemandem im Bus oder mal mit einem Freund. Wo immer ich hingehe, spreche ich Deutsch mit den Leuten. Auch wenn ich zum Alexander Platz gehe. Ich meine, ich spreche Deutsch, wenn ich da jemanden treffe. Zwei der drei befragten Alpha-Schülerinnen und -Schüler haben sich in dieser Zeit selbst um das Aufrechterhalten von Kontakten zu Deutschsprechenden be‐ müht, wie folgendes Beispiel zeigt: (13) Soziale Kontakte zum Deutsch sprechen A3: Ich habe meistens mit einem Mädchen zu tun gehabt. Sie war eine Freundin von mir. Sprachlich hat mich das sehr weitergebracht. Ich habe versucht die Wörter von ihr aufzuschnappen. Sie spricht nur Deutsch. Sie spricht kein Arabisch. Sie war meine engste Freundin. Wir haben uns gut verstanden. Ich versuchte ihre Wörter zu ver‐ stehen und ich fragte sie nach Wörtern. Aber im Moment haben wir keinen Kontakt. Wir hatten einen Streit und ich weiß nicht/ . Ich habe keine Bezugsgruppe, um die Sprache zu lernen. Sie war wie / . Um die Sprache zu lernen, brauche ich jemanden, der die Sprache spricht, damit ich von ihm / ihr lernen kann. Aber ich habe niemanden hier. Meine Freunde sprechen alle Arabisch und ich lerne nichts von ihnen. Die befragten Schülerinnen und Schüler sahen den Verlust ihrer sozialen Kon‐ takte zur deutschen Gesellschaft vor allem in Zusammenhang mit verminderten Sprechanlässen und einem damit eingehendenden Verharren des Deutscher‐ werbs bzw. sogar Verlust von Kompetenzen im Deutschen. 4.5 Selbsteinschätzung von Lernfortschritten in Sprache und Schrift Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrkräfte empfanden die Umstellung und die damit verbundene Neukonzeption des Unterrichts als hem‐ mend für das Deutschlernen. Die Lehrkräfte berichteten, dass den Schülerinnen und Schülern die Selbstorganisation für den Unterricht schwerfiel oder gar nicht möglich war (s. Kap. 4.1), und die Schülerinnen und Schüler hatten ebenfalls das Gefühl, durch die Umstellung von Präsenzauf Distanzunterricht im Erwerb nicht bzw. sehr langsam vorangeschritten zu sein: (14) Lernhindernisse W1: […] wenn ich in diesen zwei Monaten zu Hause mehr gelernt hätte oder ja ich kann wahrscheinlich könnte ich jetzt mehr sprechen. Ja, weil hier allein zu Hause mit mein Familie soll ich meine / soll ich nicht Deutsch sprechen. So mein Vater ist der 74 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell Einzige, das richtig Deutsch kann und aber mit mein Schwester wir sprechen ja zu Hause soll ich nicht auf Deutsch sprechen ja. Von den insgesamt elf Äußerungen, die den Zusammenhang zwischen dem Lernfortschritt und den Kontakten zur deutschen Sprache herstellen, stammen acht von den Alpha-Schülerinnen und -Schülern und nur drei von den Schüler‐ innen und Schülern der Wiko-Klasse. Besonders deutlich wird der Effekt der verminderten Sprechanlässe im Deutschen auf den erlebten Lernfortschritt von den Schülerinnen und Schülern der Alpha-Klasse hervorgehoben. (15) Gefühl zurückzuentwickeln A3: Jetzt habe ich einfach niemanden mit dem ich sprechen kann. Jetzt ist mein Deutsch wieder schlechter geworden. Es gibt Wörter, die ich einfach vergessen habe. Manchmal verstehe ich sie auch was sie bedeuten. Aber ich beherrsche sie einfach nicht richtig. So ist es. Aber als ich angefangen habe zu lernen und einen Menschen gefunden hatte, der mit mir sprach und mir alles beigebracht hat, wurde alles für mich viel leichter und ich war froh. Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln. Nachdem die Schülerinnen und Schüler wieder in den Unterricht in die Schule kommen konnten, erlebte dieselbe Schülerin / derselbe Schüler einen Auf‐ schwung des eigenen Lernfortschritts: (16) Lernfortschritt in Schule A3: Als ich wieder in die Klasse gegangen bin, fühlte ich mich gut und ich verstand wieder mehr. Wir haben uns unterhalten und alle Schüler waren glücklich, dass wir zurück in der Klasse sind. Wir hatten zwei Klassen, am Morgen und am Nachmittag. Wir waren sehr glücklich und ich habe mich wohl gefühlt. Lediglich Schülerinnen und Schüler, die über die Möglichkeit verfügten, im häuslichen Umfeld oder im Freundeskreis in deutscher Sprache zu kommuni‐ zieren, erlebten die Erwerbsprogression auch während des Lockdowns als ten‐ denziell weniger problematisch. So berichteten zwei Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse, dass sie auch während des Lockdowns zu Hause Deutsch sprechen konnten und daher keine Stagnation ihres Lernfortschritts wahr‐ nahmen: 75 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ (17) zu Hause Deutsch sprechen I: Also, sprecht ihr Deutsch nur eigentlich dann in der Schule. W5: Wir reden auch manchmal zu Hause Deutsch. Weil mein Bruder und meine Schwester lernen auch. Deswegen sprechen auch zu Hause Deutsch. Es wurde jedoch auch gleichzeitig deutlich, dass das Deutschlernen für die meisten hauptsächlich in der Schule stattfindet oder durch die Schule induziert wird. Eine Alpha-Schülerin / ein -Schüler berichtete, wie sie / er sich während der Zeit des saLzH explizit zusätzliche Lernhilfe gesucht hat und diese intensiv nutzte, um nicht zu starke Lernrückschritte zu machen: (18) Hilfe beim Deutschlernen A1: Also, um mich zu unterstützen, die deutsche Sprache zu erlernen, öffne die Schule und hilf mir in der Schule. Lehre mich Lesen und Schreiben. Ich will nichts Anderes. Als ich zu Hause war und Hilfe brauchte, habe ich meinen Bruder angerufen oder ich bin zu ihnen gegangen und sie haben mir geholfen. Ähnlich problematisch für den Lernfortschritt im Deutschen sahen auch die Lehrkräfte beider Klassen den Lockdown. Diese gaben an, dass besonders das Schreiben in der Zeit des Lockdowns deutlich zu kurz kam. Es lässt sich aufgrund der Selbsteinschätzungen der betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Lehrkräften nur prognostizieren, welche Auswirkungen saLzH während des Lockdowns auf den weiteren schulischen Verlauf, Sprach‐ erwerb und Lernmotivation haben wird. (19) Lockdown und Zukunft A1: Was mich betrifft, wie soll ich es sagen, hat sich die Situation sehr, sehr doll auf meine Zukunft ausgewirkt. Ich bin seit zwei Jahren in Deutschland und ich beherrsche die Sprache noch nicht. Ich sollte in zwei Jahren die Sprache beherrschen. Aber jetzt will ich erstmal B1 machen und andere Sachen erreichen, wie das C1 Level. Ich habe so viele Sachen in Bezug auf die Sprache zu tun. Ich sollte die Sprache schon längst beherrschen. Also, Gott ist gnädig, das wird schon. 5 Fazit Die COVID -19-Pandemie und mit ihr in Verbindung stehende Auswirkungen haben neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler besonders hart getroffen, da sie durch die zeitweiligen Schließungen von Schulen und den damit verbun‐ denen Unterrichtsausfall das Gefühl hatten, in ihrem Lernen teils weit zurück‐ geworfen worden zu sein. Dies wurde auch in den Interviews deutlich. Die Schule und der Unterricht in Präsenz bedeuten für die neu zugewanderten 76 Lemke-Ghafir / Nazarenus / Schellhardt / Steinbock / Braunewell Schülerinnen und Schüler das Vorhandensein eines sozialen Raums, einer ge‐ schützten Lernumgebung und insbesondere eines Ortes des Spracherwerbs. Die Bedeutung der Schule scheint umso größer zu sein, je größer der Bedarf am Erwerb des Deutschen ist. Insbesondere für Alpha-Schülerinnen und -Schüler fungierte die Lehrkraft als Mittlerin für gesellschaftliche Ereignisse und Regeln, die während der Schulschließungen auftraten. Wie in der Theorie beschrieben und in den Interviewdaten, insbesondere bei den Alpha-Schülerinnen und -Schülern, aufgezeigt, ist für diese Gruppe Partizipation ein wichtiger, wenn nicht sogar der Weg zur Sprache. Ein fortschreitender Spracherwerb begünstigt wiederum die gesellschaftliche Partizipation. Dem kann saLzH im digitalen Modus nur bedingt nachkommen, da begrenzter technischer Zugang, eine un‐ günstig ausgestattete oder störanfällige Lernumgebung sowie fehlende soziale Interaktion abseits eines Präsenzunterrichts und die selbstständige Strukturie‐ rung des Lernalltages demotivierend wirken können oder gar ein Lernen ver‐ hindern. Auch darf der Erhalt von sprachlernförderlichen Bedingungen nicht ausschließlich vom persönlichen Engagement der einzelnen Schülerinnen und Schüler abhängen, da diese in einer extremen Abhängigkeit zur agierenden Umwelt stehen, wie z. B. bestehende Bereitschaft sozialer Kontakte, diese Auf‐ gabe zu übernehmen. Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler, die vor einem Übergang in eine Regelklasse stehen, werden vor diesem Hintergrund wohl kaum Chancen haben, diesen Zustand allein auszugleichen. Insbesondere hinsichtlich des zeitlichen Faktors stehen die Schülerinnen und Schüler unter hohem Druck, da sie angesichts ihres Alters und der rechtlichen Rahmenbedin‐ gungen zu Schulbesuch und berufsqualifizierenden Abschlussmöglichkeiten in kurzer Zeit hohe (sprachliche) Leistungen erbringen müssen. Dieser hat sich durch die pandemiebedingte Situation verschärft. Hier zeigt Berlin bereits erste Ansätze, diesen Druck durch bildungspolitische Vorgaben zu senken, indem die Gruppe priorisiert hinsichtlich der Rückkehr zu einem Präsenzunterricht be‐ handelt und mehr Zeit z. B. beim Nachteilsausgleich ( LISUM 2021) oder einem längeren Verweilen in Vorbereitungsklassen oder Klassenstufen gewährt wird. Inwiefern diese Maßnahmen ausreichend sind, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Dass die Schülerinnen und Schüler ihre Situation und Bedarfe reflektiert einschätzen können, zeigte sich in den Interviews deutlich. Politik, Verwaltung und Wissenschaft sollten daher darauf bedacht sein, diese Gruppe stärker ein‐ zubinden und zu Wort kommen zu lassen. 77 „Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln“ Literatur Ackeren, Isabell van / Endberg, Manuela / Locker-Grütjen, Oliver (2020): Chancenaus‐ gleich in der Corona-Krise. Die soziale Bildungsschere wieder schließen. In: Ficker‐ mann, Detlef / Edelstein, Benjamin (Hrsg.): „Langsam vermisse ich die Schule …“. Schule während und nach der Corona-Pandemie. Münster, New York: Waxmann, 245-248. Boeckmann, Klaus-Börge / Hopp, Carina / Linhofer, Susanne / Teufel, Martin / Vogl, Heiko (2020): „Dann drückst du auf OK …“. Ergebnisse einer Studie zum digitalen Distanz‐ unterricht für Deutsch als Zweitsprache. Graz: Pädagogische Hochschule Steiermark. 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Im Bei‐ trag erörtern wir anhand von Daten einer Schulethnographie einer Ham‐ burger Stadtteilschule, welche Ansprüche Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis bezüglich des veränderten Sprachunterrichts in IVK s aneinander formulieren. Mittels Stellungnahmen öffentlicher Bildungseinrichtungen, of‐ fizieller Verlautbarungen der Bildungspolitik und reflektierender Interviews mit einem Referatsleiter der Schulbehörde und IVK -Lehrkräften diskutieren wir diese diversen Ansprüche und die Herausforderungen, die in Bezug auf die Umstellung des Sprachunterrichts in der Corona-Pandemie entstanden sind. Im Beitrag relationieren wir die drei Perspektiven, die wir mittels der Reflexiven Grounded Theory nach Breuer et al. (2019) analysieren, und betten unsere Analysen in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit (Giesinger 2012) und die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu / Passeron 1971) ein. 1 Einführung The COVID-19 pandemic has created the largest disruption of education systems in history, affecting nearly 1.6 billion learners in more than 190 countries and all conti‐ nents. Closures of schools and other learning spaces have impacted 94 per cent of the world’s student population, up to 99 per cent in low and lower-middle income count‐ ries. (United Nations Policy Brief 2020) Die derzeitige Pandemie, die durch die weltweite Verbreitung von COVID -19 verursacht wurde, wird als beispiellose globale Krise beschrieben. In Zeiten von Corona zeigt sich für das deutsche Bildungssystem eine Verschärfung bestehender Probleme an Schulen. In diesem Zusammenhang ist Bildungsun‐ gleichheit im Kontext von sprachlicher und kultureller Vielfalt kein neues Thema, hat jedoch aufgrund der coronabedingten Schulschließungen deutlich an Brisanz gewonnen. Kinder, die aufgrund sprachlicher, sozialer und wirt‐ schaftlicher Ungleichheiten in alltäglicher Prekarität und Verwundbarkeit leben (wie in unserem Bespiel neu zugewanderte Schüler*innen), sind am schlimmsten von der Pandemie betroffen ( BERA 2020). In diesem Moment der Pandemiepo‐ litik, in der auf verschiedenen Ebenen der Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis um die Bewältigung und Lösung der Krise gekämpft wird, hat Fern‐ unterricht für politische Behörden, Schulen, Lehrkräfte und Schüler*innen neue Bedeutung erlangt. Wir erachten es als notwendig, die verschiedenen Perspek‐ tiven und Ansprüche der genannten Akteursgruppen aufeinander zu beziehen und zu vergleichen, um das Gemeinsame, aber auch Differenzen aufzuzeigen und produktiv für das Unterrichten (nicht nur) zu Pandemiezeiten fruchtbar zu machen (vgl. auch Piller 2020: 512). Daher erörtern wir im vorliegenden Beitrag, welche Ansprüche Wissen‐ schaft, Bildungspolitik und Schulpraxis bezüglich des Sprachunterrichts in In‐ ternationalen Vorbereitungsklassen ( IVK s) aneinander formulieren. In IVK s werden neu zugewanderte Schüler*innen in Hamburg für ein Jahr beschult, bevor sie ins Regelsystem übergehen. Im Rahmen des bundesweiten Lockdowns musste auch der IVK -Unterricht auf virtuelle Unterrichtsformate umgestellt werden. Die Corona-Pandemie hat nicht nur die Schul-, sondern auch unsere Forschungspraxis vor neue Herausforderungen gestellt. Anstelle von teilnehmenden Beobachtungen im Unterricht, die auf die didaktische Ausgestaltung des Sprachunterrichts fokussieren, mussten wir auf Formate der virtuellen Eth‐ nographie umsteigen (Hine 2017). Ausgehend von Interviews mit IVK -Lehre‐ rinnen wurde deutlich, dass zunächst eine praxisorientierte Diskussion über die strukturellen Bedingungen der Pandemie im IVK -Bereich geführt werden muss, um daran anschließend über didaktische Maßnahmen im Fernunterricht spre‐ chen zu können. Im Beitrag rekonstruieren wir anhand von reflektierenden Interviews mit IVK -Lehrerinnen die Herausforderungen, die sie in Bezug auf die Umstellung ihres Sprachunterrichts fokussieren. Mittels einer reflexiven institutionellen Ethnographie (Plöger / Barakos 2021), die wir digital durchführen mussten (vgl. Hine 2017), zeigen wir, dass die Lehrerinnen vor allem auf strukturelle Un‐ gleichheiten wie z. B. die Nichterreichbarkeit durch fehlende Endgeräte hin‐ 82 Elisabeth Barakos / Simone Plöger weisen. Die bildungspolitische Perspektive nehmen wir durch offizielle Ver‐ lautbarungen sowie anhand eines Interviews mit dem zuständigen Referatsleiter für die Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen in den Blick. Auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive problematisieren wir die Frage nach struktureller Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit (vgl. z. B. Div ER 2020), indem wir auf die Prekarität der digitalen Unterrichtssituation insbesondere für Neuzugewanderte, die die deutsche Sprache erst lernen, hinweisen (Plöger / Ba‐ rakos 2020). Im Beitrag relationieren wir die drei Perspektiven und betten unsere Analysen in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit (Giesinger 2012), die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu / Passeron 1971) und digitale Prekarität (Bourdieu 2004 [1997]) ein. Ausgehend von diesem theoretischen Rahmen zeigen wir auf, welche Ansprüche Schulpraxis, Bildungspolitik und Wissen‐ schaft mit Blick auf die Frage nach Bildungsgerechtigkeit von neu zugewan‐ derten Schüler*innen aneinander stellen und welche Implikationen sich daraus für Veränderungen auf institutionell-organisatorischer Ebene ergeben. 2 Theoretischer Rahmen Wir möchten im Folgenden die Themen Bildungsgerechtigkeit, Chancengleich‐ heit sowie digitale und sprachliche Prekarität im Kontext der coronabedingt verändernden Lernsituation neu zugewanderter Schüler*innen mit geringen Deutschkenntnissen einordnen. „Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls 1975, zitiert nach Giesinger 2012: 1). Nicht nur zu Pandemiezeiten stellt sich die Frage, in‐ wiefern Bildungsinstitutionen in Deutschland dieser Tugend nachkommen. In Zeiten von Schulschließungen wirft die These aber in besonderer Weise die Frage danach auf, wie Institutionen Gerechtigkeit nachkommen können, wenn doch das Konstitutive für Bildung in sozialen Institutionen die Interaktions‐ ebene des Unterrichts ist, die auf der Anwesenheit der Teilnehmenden beruht. Zunächst ist aufzeigen, wie wir Bildungsgerechtigkeit in Anlehnung an Gie‐ singer verstehen und auf die Frage nach der Verteilung von Bildung beziehen (vgl. Giesinger 2012). Giesinger, der sich auf Rawls Ausführungen stützt, führt an, „Gerechtigkeit habe stets mit der fairen Berücksichtigung individueller An‐ sprüche zu tun“ (2012: 2). Für den Unterricht mit neu zugewanderten Schüler*innen wirft das die Frage auf, wie ihre individuellen sprachlichen, so‐ zialen und kognitiven Ansprüche fair berücksichtigt werden können. Giesinger differenziert seine Konzeption des Begriffs Bildungsgerechtigkeit in drei Prin‐ zipien aus, die wir für unseren Blick auf die Ansprüche aus Wissenschaft, Bil‐ dungspolitik und Schulpraxis weiterdenken: 83 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten 1. „Grundbildung“ - Allen Schüler*innen soll ermöglicht werden, die Kennt‐ nisse zu erwerben, die „für das Leben als Staatsbürger mit vollwertigen [sic! ] Status nötig sind“ (Giesinger 2012: 17). Da diese Kenntnisse in der monolingualen Schule auf Deutsch vermittelt werden, muss es zu einer Grundbildung gehören, die Schüler*innen zunächst mit der Bildungs‐ sprache Deutsch auszustatten. 2. „Fairer Wettbewerb um soziale Positionen“ - Ein Zugang zu Bildung darf weder durch „finanzielle Hürden“ noch durch „Diskriminierung“ (Gie‐ singer 2012: 17) behindert werden. Beides ist insbesondere für neu zuge‐ wanderte Schüler*innen kritisch zu prüfen (vgl. zur institutionellen Dis‐ kriminierung und IVK s Plöger in Vorb.). 3. „Unterschiedsprinzip“ - Wenn Schüler*innen ungleich behandelt werden, müssen sich ungleiche Maßnahmen „zum Vorteil der am wenigsten Be‐ vorzugten auswirken“ (Giesinger 2012: 18). Mit Blick auf die Schulschlie‐ ßungen stellt sich hier die Frage danach, welche Klassen prioritär bei Schulöffnungen berücksichtigt werden sollten. Diese Prinzipien weisen auf soziale Ordnungen und Systemlogiken hin, die von Bildungssystemen reproduziert werden und sich in Ungleichheiten von Bil‐ dungschancen, insbesondere in Bildungsbiographien Neuzugewanderter mit keinen bis geringen Deutschkenntnissen manifestieren. In diesem Kontext weisen, unabhängig von globalen Krisenzeiten, Bourdieu und Passeron bereits in den 70er Jahren auf die „Illusion der Chancengleichheit“ im französischen Bildungssystem hin. Diese zeigt sich in der Reproduktion von Ungleichheiten innerhalb des Bildungssystems. Bezogen auf Sprache erreichen solche Lernende bessere Leistungen, die die Sprache der Schule bereits in ihrer familiären Umwelt erwerben, da die Schule zwar „ein bestimmtes sprachliches und kulturelles Kapital […] voraussetzt und anerkennt, ohne es je ausdrücklich zu verlangen oder methodisch zu vermitteln“ (Bourdieu / Passeron 1971: 157; vgl. für den deutschen Kontext in Bezug auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit auch Gogolin / Lange 2011; Tracy 2014). Bourdieu und Passeron sprechen von „sozialen Klassen“ und konstatieren, dass die „Beziehungen zwischen dem Bil‐ dungssystem und den sozialen Klassen als einfache Kommunikationsbezie‐ hungen“ (1971: 160) zu verstehen seien. Daraus ergibt sich, dass durch die Art und Weise der Kommunikation Ungleichheiten zwischen Schüler*innen repro‐ duziert werden. Dies gilt für alle Schüler*innen unabhängig ihrer sprachlichen Sozialisation; in besonderer Weise aber für solche, die mehrsprachig sozialisiert sind, worauf wir im Folgenden schauen. Prekarität ist überall, hat Bourdieu konstatiert. Bekannt geworden ist dieses Konzept vor allem in seinen soziologischen Arbeiten (Bourdieu 2004 [1997]). 84 Elisabeth Barakos / Simone Plöger Prekarität ist im 21. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff in der wissenschaft‐ lichen Forschung geworden, vorwiegend als Reaktion auf politische Mobilisie‐ rungen gegen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung (Kasmir 2018). Obwohl wir hier nicht auf die komplexe Begriffsgeschichte dieses Konzepts eingehen können (vgl. Spitzmüller et al. 2020), möchten wir den Begriff im Folgenden nach Bourdieu einordnen. Bourdieu rahmt Prekarität vor allem ökonomisch als Folge neoliberaler Wirt‐ schaftsordnungen und Gesellschaftsentwicklungen und als Kritik unsicherer Arbeits- und Lebensumstände. Für ihn bedeutet es „Teil einer neuartigen Herr‐ schaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand ge‐ wordenen Unsicherheit fußt“ (Bourdieu 2004 [1997]: 108, 111). Prekarität ist somit stark an Unsicherheit gekoppelt und findet sich im privaten als auch öf‐ fentlich Bereich wieder, z. B. in Beschäftigungsverhältnissen sowie dem Bil‐ dungswesen und dem Zugang zu und Umgang mit Medien. In Bezugnahme auf die Illusion der Chancengleichheit im Bildungsbereich Schule und vor allem der IVK s in Pandemiezeiten manifestiert sich Prekarität vor allem in zwei Feldern: einerseits die digitale Prekarität und andererseits die Prekarität der Mehrsprachigkeit. Digitale Prekarität drückt sich in der Umstel‐ lung auf Online- und digitale Bildungsformate als Folge der Massenschließung von Schulen (vgl. Williamson et al. 2020; Bremm / Racherbäumer 2020) aus. Wie wir in unserem Beitrag aufzeigen, äußert sich die digitale Prekarität der Unter‐ richtssituation für Neuzugewanderte vor allem in der Nicht-Erreichbarkeit der Schüler*innen durch fehlende Endgeräte, die fehlende Infrastruktur zuhause (Internetanschluss, Computer oder Druckgeräte) sowie das erschwerte Arbeiten mit digitalen Medien im Fernunterricht (vgl. Frohn 2020). Van Ackeren et al. (2020: 246) sprechen hier auch von einer „Facette des digital gap, der digitalen Kluft innerhalb unserer Gesellschaft“. IVK s-Klassen sind aber auch Orte prekärer Mehrsprachigkeit. Arabisch, Farsi, Kroatisch oder Kurdisch sind nur einige von vielen Herkunftssprachen neu zu‐ gewanderter Schüler*innen in Hamburg (vgl. Fürstenau et al. 2003 zu herkunfts‐ sprachlichem Unterricht in Hamburger Grundschulen). Das existierende sprachliche Repertoire wird gegenüber Deutsch (als Sprache der Integration) und anderen dominanten Sprachen Westeuropas (z. B. Englisch, Französisch oder Spanisch) stratifiziert und (de)valorisiert. Dies führt zu einer Hierarchie von Sprachen und Sprecher*innen im Sinne einer elitären oder einer prekären Art der Mehrsprachigkeit (Barakos / Selleck 2019), die Defizitperspektiven und breitere strukturelle Ungleichheiten im Zusammenhang mit Migration hervor‐ hebt und fördert. Neuzugewanderte befinden sich in gleichzeitigen Sprach- und Fachlernprozessen. Sie werden in getrennten Klassen unterrichtet, in denen sie 85 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten 1 „Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I. Eine qualitative Studie über sprachliche Bildung am Übergang von Vorbereitungsklassen zu Regel‐ klassen“, s. https: / / www.ew.uni-hamburg.de/ einrichtungen/ ew1/ vergleichende/ diver/ f orschung/ laufende-projekte/ sprabue.html [28. 07. 2021]. einen additiven Deutschunterricht erhalten, da das einsprachige reguläre Schul‐ system, vielfach unter dem monolingualen Habitus der Schule kritisiert (vgl. Gogolin 1994), noch immer nicht auf die (sprachliche) Vielfalt der Schüler*innen ausgerichtet ist. Panagiotopoulou und Rosen (2018: 394) sprechen von einer „Denied inclusion of migration-related multilingualism“, wo Herkunftssprachen im Unterricht weder berücksichtigt noch sozial wertgeschätzt werden (für Mög‐ lichkeiten eines wertschätzenden Umgangs vgl. Dlugaj / Fürstenau 2019). Solche „linguistic inequalities“ (Piller 2020) werden im Rahmen der COVID -19-Pan‐ demie besonders deutlich, wie wir noch zeigen werden. Diese hier skizzierten Ungleichheiten und Prekaritäten gelten in besonderem Maße für neu zugewanderte Schüler*innen mit geringen Deutschkenntnissen, die durch die Pandemie in ihrem Zweitspracherwerb verstärkt ausgebremst und benachteiligt werden. Wenngleich wir es ebenso wie Gamper et al. (2020) als problematisch erachten, dass Vorbereitungsklassen „als geschlossenes Klassen‐ system eine Homogenität der Schülerschaft suggerieren, die in der Realität kaum vorzufinden ist“, erachten wir es für notwendig, die Schüler*innen in diesem Kontext als eine Gruppe zu betrachten, die gleichermaßen von digitaler Prekarität und einer prekären Mehrsprachigkeit betroffen ist. 3 Methodologie Im Rahmen des DFG -geförderten Projekts Spra BÜ 1 (2020-2023) nutzen wir einen ethnographischen Forschungsansatz, um sprachliche Bildungsangebote und -prozesse am Übergang von Vorbereitungsin Regelklasse in drei Stadtteil‐ schulen Hamburgs zu rekonstruieren. In diesem Beitrag fokussieren wir uns auf Interviews mit IVK -Lehrkräften einer dieser Stadtteilschulen, die in der Stufe 7 / 8 unterrichten. Anhand einer Explorationsstudie (vgl. Plöger in Vorb.) haben wir einen institutionell ethnographisch-reflexiven Ansatz entwickelt (vgl. Plöger / Barakos 2021). Die hier befragten Lehrkräfte umfassen eine IVK -Klas‐ senlehrerin, die die Fächer Deutsch, Mathe und Gesellschaft unterrichtet, eine IVK -Bereichsleiterin und eine Englisch-Lehrkraft, mit denen insgesamt sechs Interviews an mehreren Zeitachsen während des Projekts durchgeführt wurden. In unserem Ansatz verstehen wir die Phasen der Datenerhebung und -aus‐ wertung als zyklisch und ineinandergreifend. Dabei orientieren wir uns wäh‐ rend der Datenerhebung, die teilnehmende Beobachtungen, informelle Ge‐ 86 Elisabeth Barakos / Simone Plöger spräche und qualitative Interviews umfasst, an der Institutionellen Ethnographie nach Smith (2005). Im Fokus stehen soziale Beziehungen zwischen Personen im Forschungsfeld sowie ihre Praktiken innerhalb der gegebenen in‐ stitutionellen Bedingungen. Ausgangspunkt der Forschung ist „the problematic“ (Smith 2005), die sich aus dem Forschungsfeld heraus ergibt und reelle, dring‐ liche Herausforderungen der Akteur*innen im Feld fokussiert. Als ‚the proble‐ matic‘ in unserer Forschung konnten wir anhand unserer Explorationsstudie die sprachliche Bildung am Übergang neu zugewanderter Schüler*innen von Vorbereitungsin Regelklasse definieren. Während der Pandemie zeigte sich, dass neue Herausforderungen auftraten - nämlich die Erreichbarkeit der Schüler*innen und die Realisierung eines Sprachunterrichts auf Distanz. Für die Datenauswertung stützen wir uns auf Methoden der Reflexiven Grounded Theory nach Breuer et al. (2019). Neben einem kleinschrittigen Ko‐ dierprozess steht hier die reflexive Haltung der Forscher*innen im Vordergrund, indem Vorannahmen und Präkonzepte produktiv in den Erhebungs- und Aus‐ wertungsprozess einbezogen werden. Dies scheint uns vor allem vor dem Hin‐ tergrund relevant, dass wir selbst als weiße, deutschsprachige Forscherinnen in gewisse hegemoniale Machtasymmetrien verstrickt sind, wenn wir mit neu zu‐ gewanderten Schüler*innen forschen. Aufgrund der Schulschließungen musste die geplante Explorationsphase in Formate der virtuellen Ethnographie (Hine 2017) überführt werden und unsere Forschungsmethoden mussten ad hoc und kreativ angepasst werden. Aufgrund der eingeschränkten persönlichen Kontakte zu Lehrkräften und Schüler*innen haben sich verändernde Anforderungen an unser Forschungsdesign ergeben. Viele Forscher*innen, die qualitative Forschung betreiben, stehen derzeit vor der Frage, wie zu sprachlichen und sozialen Ungleichheiten unter sozial distanzierten Bedingungen geforscht werden kann. Mittels sozial distanzierten Inter‐ views über Zoom, klassischen Telefonaten, Beobachtungen in Mes‐ senger-Diensten im IVK -Fernunterricht, sowie teilnehmenden Beobachtungen mit FFP 2-Maske im Unterricht zwischen den Schulschließungen konnten wir unsere ethnographische Forschung den Gegebenheiten anpassen und fort‐ setzen. Auf andere ursprünglich geplante Formen der Datenerhebung (regel‐ mäßige teilnehmende Beobachtung von Fallkindern im Unterricht; persönliche Gespräche und Interviews mit Kindern) haben wir aufgrund des Wechsels ins Digitale, dem Gebot der sozialen Distanzierung und der fehlenden Möglichkeit, eine Verbindung zu Fallkindern aufzubauen, soweit verzichten müssen. Unserer Erforschung der subjektiven Lebens- und Bildungswelt von neu zugewanderten Schüler*innen sind aufgrund Coronas Grenzen gesetzt, die nicht vollständig durch virtuelle Forschungsmethoden ausgeglichen werden können. 87 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten 2 Für ihre anregenden Perspektiven danken wir Dr. Javier Carnicer, Carolina Colmenares Díaz, Javed Mües und Sarah Volknant. 3 Alle Namen der Institution und der Interviewpartner*innen sind pseudonymisiert. Trotzdem möchten wir festhalten, dass die virtuelle Ethnographie als For‐ schungsansatz in Zeiten der Corona-Krise wichtiger denn je wird. „Wir nehmen hier andere Räume der Kommunikation mit unseren Forschungspartner*innen und digitale Wege der Datenerhebung in Anspruch. Unsere Forschung geht weiter und muss sich einfach an die neuen Gegebenheiten anpassen“ (Plöger / Barakos 2020). Auch die Datenauswertung haben wir an virtuelle For‐ mate angepasst. So verlief der Kodierprozess nach der Reflexiven Grounded Theory anhand von digitalen Datensitzungen im Projektteam. Nach einem ersten offenen und axialen Kodieren wurden die Kategorien „Ressourcen - Um‐ gang, Verantwortung und Bewertung“, „Sprachentwicklung und Distanzunter‐ richt“ sowie „Sprache und Medialisierung des IVK -Unterrichts“ induktiv aus dem Interviewmaterial heraus gebildet. Dadurch konnten Textpassagen selek‐ tiert werden, die im Rahmen eines Arbeitsgruppentreffens über Videokonfe‐ renzen gemeinsam rekonstruiert wurden 2 . 4 Daten und Analyse Ausgehend von diesen methodologischen Überlegungen stützen wir uns in diesem Beitrag auf qualitative Daten, die im Zuge des Spra BÜ -Projekts als Teil einer ethnographischen Fallstudie an einer Hamburger Stadtteilschule ( STS ) erhoben wurden. Wir benennen die Fallschule im Folgenden mit dem Pseu‐ donym STS Burg 3 . Im Beitrag rekonstruieren wir anhand von reflektierenden Interviews mit IVK -Lehrerinnen die Herausforderungen, die sie in Bezug auf die Umstellung ihres Sprachunterrichts fokussieren. Die Interviews wurden nach der ersten Schulschließung 2020 geführt und reflektieren dahingehend die sich verändernde Lehr- und Lernsituation an der Fallschule. Die bildungspoli‐ tische Perspektive nehmen wir durch offizielle Verlautbarungen der Schulbe‐ hörde, öffentliche Dokumente und Berichte sowie anhand eines Interviews mit dem zuständigen Referatsleiter für die Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen in den Blick. Die wissenschaftlichen Ansprüche rekonstruieren wir anhand ausgewählter Publikationen und Stellungnahmen öffentlicher Bil‐ dungseinrichtungen. Die Daten dieses Beitrags sind qualitativ-ethnographisch verortet, d. h. es werden und können keine Ansprüche auf Repräsentativität und Generalisierbarkeit gestellt werden. Vielmehr geht es bei der vorliegenden Un‐ tersuchung um eine überzeugende, eingehende Darstellung von subjektiven 88 Elisabeth Barakos / Simone Plöger Erfahrungswerten, Momentaufnahmen und Beschreibungen wichtiger situa‐ tiver Aspekte in Bezug auf Sprachunterricht in Pandemiezeiten. 4.1 Wissenschaftliche Ansprüche an Sprachunterricht Bisher liegen sehr wenige wissenschaftliche Erkenntnisse zu der schulischen Situation neu zugewanderter Schüler*innen während der Pandemie im Allge‐ meinen und zum Sprachunterricht im Spezifischen vor. Aber es wurden von Wissenschaftler*innen, die im Bereich Migration und Bildung forschen, erste Publikationen und Stellungnahmen veröffentlicht. Auf diese sekundären Daten beziehen wir uns im Folgenden und diskutieren die Ansprüche, die aus diesen Veröffentlichungen hervorgehen. Aus wissenschaftlicher Perspektive wird vor allem auf die „existenzielle Re‐ levanz“ (Div ER 2020: 1) von Einrichtungen der Bildung, Betreuung und Erzie‐ hung für Schüler*innen aus sozioökonomisch belasteten Familien hingewiesen, zu denen wir auch neu zugewanderte Schüler*innen und ihre Familien zählen. So wurde während des ersten Lockdowns ab März 2020 vermehrt auf die Be‐ deutung des Schulbesuchs unabhängig von Curricula und Bildungsabschlüssen aufmerksam gemacht. Wir möchten dies im Folgenden auf neu zugewanderte Schüler*innen in IVK s fokussieren. Für Kinder und Jugendliche in IVK s bedeutet der tägliche Schulbesuch zum einen das Erlernen der deutschen Sprache, um möglichst schnell am monolin‐ gual ausgerichteten Regelschulsystem teilhaben zu können. Zum anderen zeigen Studien aber auch, dass der Schulbesuch insbesondere für geflüchtete Schüler*innen einen strukturierten Tagesablauf sowie eine Unterstützung durch Lehrkräfte und Pädagog*innen bedeuten kann (Pagel et al. 2020). Die corona‐ bedingten Schulschließungen sind also aus wissenschaftlicher Perspektive auf zweierlei Weise prekär für neu zugewanderte Schüler*innen: Zum einen be‐ deuten sie, dass ein durch die Schule strukturierter und organisierter Tagesab‐ lauf wegfällt und zum anderen bedeuten sie die Einschränkung täglicher Kom‐ munikationsgelegenheiten auf Deutsch sowie einer strukturierten Unterstützung beim Erlernen der Sprache (Plöger / Barakos 2020). Das Erlernen einer Sprache ohne strukturierte Hilfestellungen sowie ohne Kommunikations‐ möglichkeiten erscheint kaum möglich. Mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit wird davor gewarnt, dass bestehende Bildungsungleichheiten durch die Schul‐ schließungen verstärkt werden, da Schüler*innen, die die Schul- und Bildungs‐ sprache Deutsch nicht primär zuhause sprechen, durch den Lockdown „schlech‐ tere Chancen haben, sich diese Fähigkeiten anzueignen“ (Div ER 2020: 2). Da die deutsche Bildungssprache aber als Voraussetzung für Schulerfolg gesehen wird, muss mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit auch gewährleistet werden, dass alle 89 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten Schüler*innen adäquate Möglichkeiten haben, sich diese anzueignen - auch neu zugewanderte Schüler*innen, auch in Pandemiezeiten. Dass der Distanzunter‐ richt dafür keine adäquate Möglichkeit darzustellen scheint, wird noch deutlich, wenn wir den Blick auf die schulpraktischen Ansprüche richten. Was also sind die wissenschaftlichen Ansprüche an Sprachunterricht zu Pan‐ demiezeiten? Es wird vor allem auf die Notwendigkeit hingewiesen, die „Durch‐ gängigkeit sprachlicher Bildung“ (vgl. hierzu z. B. Gogolin et al. 2020) aufrecht zu erhalten. Hierfür sei es bedeutsam, für die Schüler*innen auch in Zeiten von Homeschooling „dialogische Angebote“ und entsprechenden „Zugang zu Dia‐ logpartner*innen“ (Gogolin 2020: 179) zu gewährleisten - gerade in Familien, in denen potentielle Dialogpartner*innen nicht zwangsläufig bildungssprachli‐ ches Deutsch als tägliches Register verwenden. Zudem wird auf die Notwen‐ digkeit hingewiesen, den Lernenden Strategien zu vermitteln, mit denen sie selbstständig lernen können (Gogolin 2020: 180). Dies wird zentral mit Blick auf die strukturellen Probleme der Erreichbarkeit von Schüler*innen in IVK s (4.3 für schulpraktische Perspektiven). Um die Erreichbarkeit zu gewährleisten, wird mit Blick auf Bildungspolitik und Behörden gefordert, die Schüler*innen einer‐ seits mit der entsprechenden Hard- und Software auszustatten und darüber hi‐ naus auch ein „[d]igital literacy training“ (Livesey 2020) zu gewährleisten, da „Ausstattungsmängel“ (Bremm / Racherbäumer 2020: 205) nur einer von meh‐ reren Faktoren seien, die den Zugang zu digitaler Bildung verhindern würden. Auch wird es als sinnvoll erachtet, Strategien, „die an der Mehrsprachigkeit der Lernenden ansetzen und ihr Wissen über Sprache aktivieren“ (Gogolin 2020: 180) zu vermitteln und zu nutzen. Das ist besonders relevant vor dem Hinter‐ grund, dass Lernende in ihren Familien ggf. Unterstützung in den nicht-deut‐ schen Familiensprachen erhalten können. Wird die Nutzung anderer sprachli‐ cher Ressourcen als Deutsch aber nicht anerkannt, stellen sich hierdurch wieder Fragen nach Gerechtigkeit. 4.2 Bildungspolitische Ansprüche an Sprachunterricht Die bildungspolitischen Ansprüche an Sprachunterricht in den Ham‐ burger IVK s stellen wir anhand eines Interviews mit dem zuständigen Leiter des Referats für die Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen sowie anhand von Querverweisen auf öffentliche Dokumente und Berichte heraus. Das Ge‐ spräch wurde im Herbst 2020 geführt. Somit blickt der Referatsleiter auf die pandemiebedingten Geschehnisse zurück. In Übereinstimmung mit der Refle‐ xiven Grounded Theory (Breuer et al. 2019) war das Gespräch vor allem über unseren Gesprächspartner geleitet. Zunächst schauen wir auf die Frage nach 90 Elisabeth Barakos / Simone Plöger strukturellen Ressourcen für die Ermöglichung von Sprachunterricht und dann auf Forderungen nach der Ausgestaltung von ebendiesen. Ressourcen Um den Sprachunterricht während der Schulschließungen zu gewährleisten, stellt sich zunächst die Frage nach Ressourcen, um sowohl Schüler*innen als auch Lehrkräfte adäquat mit Hard- und Software sowie den erforderlichen Kenntnissen auszustatten, wie es nicht zuletzt auch aus wissenschaftlicher Per‐ spektive gefordert wird (vgl. 4.1.). Diesbezüglich verweist der Referatsleiter, Lucas Romano, immer wieder auf das Konzept der „Selbstverantworteten Schule“, das in Hamburg 2006 eingeführt wurde: „Die selbstverantwortete Schule übernimmt Aufgaben und Verantwor‐ tung vor allem im Hinblick auf den Unterricht, die Gestaltung des Schullebens insgesamt, die Finanzen und die Personalsteuerung“ ( BSB 2006: 5). Diese „Frei‐ heiten“ ( BSB 2006: 5), die die Schulen dadurch gewinnen, werden wiederum durch Qualitätskontrollen und Ergebnissicherungen seitens der Behörde über‐ prüft. Relevant für die Ermöglichung von (Sprach-)Unterricht für die IVK -Schüler*innen während der Schulschließungen ist vor allem der Umgang mit finanziellen Ressourcen innerhalb der Schule, um die Schüler*innen, die gerade in IVK s oftmals weder über die entsprechende Hard- und Software, noch über die notwendigen digitalen Kenntnisse verfügen (Stichwort: digitale Pre‐ karität), adäquat auszustatten. Die Behörde stattet die Schulen Hamburgs mit finanziellen Ressourcen aus, die sich nach dem Sozialindex der Schule richten. Damit reagiert die Bildungspolitik auf den „manifesten Zusammenhang zwi‐ schen der sozialen Herkunft und dem Kompetenzerwerb“ (Schulte et al. 2014: 67). Der Sozialindex wird in Anlehnung an Bourdieus Kapitaltheorie aus dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital der Schülerschaft sowie dem Anteil der Schüler*innen mit Migrationshintergrund konstruiert und mittels Schüler*innen- und Elternbefragungen erhoben (vgl. hierzu genauer Schulte et al. 2014). Anhand der Ergebnisse werden die Schulen in sechs „Belastungs‐ gruppen“ (Schulte et al. 2014: 77) eingeteilt, um ihnen differenziert finanzielle Ressourcen zuzuweisen. Dadurch soll eine „Verteilungsgerechtigkeit“ ( BSB o. J.) erreicht werden, da Schulen mit einer hohen „Belastung“ mehr Ressourcen er‐ halten. Durch das Konzept der Selbstverantworteten Schule kommt der Schul‐ leitung dann die Aufgabe zu, mit dem „eigenen Finanzbudget“ zu arbeiten, das sie „flexibel“ ( BSB 2006: 16) einsetzen können. Das bedeutet, dass z. B. Perso‐ nalmittel in bestimmten Fällen in Sachmittel umgewidmet werden können. 91 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten 4 Transkriptionsregeln: [1], [4] Zahlen in eckigen Klammern zeigen die Länge der Pause in Sekunden an. ‐ Trennstriche zeigen an, dass ein Sprecher sich selbst unterbricht / korrigiert. ( ) Leere Klammern zeigen an, dass ein Wort / Satz / Sprechsequenz nicht verstanden wurde. Wie eingangs erwähnt, betont Herr Romano die Selbstverantwortung der Schulen während des Interviews immer wieder mit Blick auf den Umgang mit Ressourcen während der Schulschließungen: (1) Da wurden ja sehr viele Bundesgelder zur Verfügung gestellt. Ähh die, die Behörde hat auch schneller als andere Behörden in Deutschland, ähh also haben wir die irgendwie gut, […] wurde das schnell abgerufen. (Interview, Lucas Romano) 4 Herr Romano betont hier, dass die Hamburger Behörde „schneller als andere“ die zur Verfügung gestellten Bundesgelder abgerufen hätte. Seines Erachtens seien die Schulen ausreichend mit Ressourcen ausgestattet, insbesondere auch durch die zusätzlichen Förderfonds für die technische Ausstattung während der Pandemie. Weiter erzählt er uns, dass dadurch im Sommer mit der Auslieferung von im Schnitt „eine[m] Laptop oder Tablet für vier Schüler“ (Interview, Lucas Romano) begonnen werden konnte. Er fokussiert damit auf materielle Res‐ sourcen, die den Schulen zur Verfügung gestellt wurden und für die Schulen keine eigenen finanziellen Ressourcen aufbringen mussten. Die schnelle Be‐ schaffung und Auslieferung der technischen Ausstattung betont auch der Ham‐ burger Schulsenator in einem Interview mit dem NDR : Dem Schulsenator zufolge hat die Stadt sei März rund 45 000 weitere Laptops und Tablets für die Schulen angeschafft. „Kein anderes Bundesland hat auch nur annä‐ hernd so viele Tablets und Laptops gekauft gemessen an der Schülerzahl.“ Mindestens 90 Prozent der insgesamt rund 62 000 Geräte würden seines Wissens nach derzeit auch eingesetzt. (NDR 12. 01. 2021) Die Hamburger Bildungspolitik und Behörde scheint ihre Aufgabe folglich vor allem in der Ausstattung mit materiellen Ressourcen zu sehen. Allein die Aus‐ stattung mit materiellen Ressourcen kann aber nur ein erster Schritt in der Er‐ möglichung von Sprachunterricht sein, da es zusätzlich Mittel braucht, um die Endgeräte internetfähig zu machen, die Schüler*innen einzuweisen und über eine faire Verteilung der Endgeräte zu entscheiden (62 000 Geräte bei 200 000 Schüler*innen). Denn eine „bedarfsgerechte Ressourcenallokation“ (Bremm / Racherbäumer 2020: 204), die dazu beitragen würde, Bildungsgerech‐ tigkeit herzustellen, geht aus den Aussagen nicht hervor. Für diese Aspekte ver‐ 92 Elisabeth Barakos / Simone Plöger fügten aber die Schulen aus Lucas Romanos Perspektive über genügend Res‐ sourcen, und Stimmen, die eine mangelnde Ressourcenausstattung der Schulen beklagten, entsprächen seines Erachtens nicht der Realität, wie er mit folgendem Zitat deutlich zum Ausdruck bringt: (2) Nur ähm, wenn wenn Sie jetzt irgendwie hören, ähh da da da gibt's keine keine Ressourcen und wenn das vielleicht sogar dann noch gepaart ist mit so 'ner, mit so 'ner, mit so 'ner ähh ähh Papi also die Schulbehörde hat uns nicht ordentlich ausgestattet - das ist meistens nicht die Realität. (Inter‐ view, Lucas Romano) Herr Romano geht hier auf die vermeintliche Diskrepanz zwischen der Wahr‐ nehmung der Öffentlichkeit und der tatsächlichen Ausstattung mit Ressourcen ein. Seines Erachtens seien Schulen „ordentlich“ ausgestattet. Er antizipiert, dass wir als Wissenschaftlerinnen gehört haben könnten, dass Schulen „keine Res‐ sourcen“ hätten. Dem stellt er gegenüber, dass die Schulbehörde, die er pater‐ nalistisch mit der Metapher des Vaters verknüpft, den Schulen aber ausreichend Mittel zur Verfügung stellt. Die Verantwortung, diese Ressourcen entsprechend einzusetzen, liegt nach dem Konzept der Selbstverantworteten Schule bei der Schulleitung: Solang die Schulen das Budget nicht ausschöpfen, ist die Behörde nicht zuständig. Der Referatsleiter rückt folglich die Möglichkeiten und Hand‐ lungsspielräume der Schulen in den Fokus, indem er auf die ausreichende Aus‐ stattung mit Ressourcen durch die Bildungspolitik und Behörde verweist. Das Problem liege in der Verwendung der Ressourcen, die er in der Verantwortung der Schulen sieht. Gleichzeitig ist sich Herr Romano der besonderen Heraus‐ forderungen des Fernunterrichts für Schüler*innen in IVK s bewusst, worauf wir im Folgenden schauen. Sprachentwicklung und Distanzunterricht Lucas Romano betont bezüglich des Unterrichts Neuzugewanderter, dass Prä‐ senzunterricht dem Distanzunterricht aufgrund der effektiveren Sprachent‐ wicklung vorzuziehen wäre. Präsenzunterricht sei gerade für die neu zugewan‐ derten Schüler*innen wichtig, wie er hier zum Ausdruck bringt: (3) also gerade bei der Sprachentwicklung kann ich natürlich ähh im Präsenz‐ unterricht ähh viele Sachen machen die ich im Distanzunterricht nicht machen kann also allein schon Sprachvorbilder zu sehen und so weiter […] aber man muss bei dieser Schülerschaft sozusagen schon einfach immer überlegen kann man es vielleicht auch in in Präsenz machen so wenn man sich entscheiden muss dann im Zweifelsfall lieber diese Schüler Präsenz unterrichten als ähh andere aus diesem Grund so und dann ist natürlich 93 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten aber auch das ne Geschichte wo man trotzdem parallel suchen kann wie kann man denn auch für diese Schüler also besonders für Neuzugewan‐ derte kann man ja [2] digital ähh auch ähh doch ähh ganz viel machen. (Interview, Lucas Romano) In diesem Ausschnitt stellt sich der bildungspolitische Ansatz eher zögerlich und unklar dar. Zwar vertritt Herr Romano die Meinung, dass Lernen in Präsenz „bei dieser Schülerschaft“ sinnvoller wäre, um z. B. „Sprachvorbilder zu sehen“. Seine Position wirkt aber wenig differenziert. Es ist einerseits unklar, wer genau hier Entscheidungsträger über Präsenz oder Distanz im IVK -Bereich ist („man muss einfach immer überlegen“; „im Zweifelsfall“). Im Laufe des Gesprächs betont Herr Romano wieder (wie auch schon in der Diskussion um die strukturellen Lernressourcen) die Eigenverantwortung der Schulen („überlegt doch, ob ihr nicht eure Neuzugewanderten in diese Notbetreuung reinkriegt“). Andererseits argumentiert er, dass man für Neuzugewanderte im digitalen Bereich „ganz viel machen kann“. Bildungspolitisch fehlt hier also eine klare Linie. Inwieweit sich der schulpraktische Alltag während der Corona-Pandemie den bildungspoliti‐ schen Ansprüchen anschließt, diskutieren wir im nächsten Abschnitt. 4.3 Schulpraktische Ansprüche an Sprachunterricht Die Verlagerung des Unterrichts ins Digitale hat sowohl für die Bildungspolitik als auch die Schulpolitik- und praxis die Ressourcenfrage, und die des IVK -Be‐ reichs im Besonderen, in den Mittelpunkt gestellt. Hier diskutieren wir Aus‐ schnitte aus Gesprächen mit IVK -Lehrkräften unserer Fallschule. In ihren Be‐ richten schilden sie uns Momentaufnahmen ihres Agierens und Reagierens auf die durch die Schulschließungen hervorgebrachten Herausforderungen im Sprachunterricht. Ressourcen Ein Blick auf die strukturelle Ausstattung der IVK -Schüler*innen in der Schul‐ praxis verdeutlicht die prekäre Lage, auf die sowohl aus wissenschaftlicher (vgl. 4.1.) als auch aus bildungspolitischer (vgl. 4.2.) Perspektive hingewiesen wurde: Die Schüler*innen sind mangelhaft mit Endgeräten ausgestattet und verfügen darüber hinaus nicht über notwendige Zugänge wie z. B. zu WLAN . Das Ausmaß der Prekarität wird im Interview mit Frau Hillebrand, Leiterin der IVK an der STS Burg, deutlich. An verschiedenen Stellen im Interview weist sie auf die fehlenden Ressourcen hin, die ihre Unterrichtspraxis erschweren, wie hier bei‐ spielhaft dargestellt wird. 94 Elisabeth Barakos / Simone Plöger (4) In der VK […] war es in meiner Klasse ähm so, dass eigentlich kein einziger Schüler ähm die Ausstattung hatte. Also ein einziger Schüler hatte einen hatte einen Computer, aber der war nicht internetfähig, aber er konnte immerhin tippen. (Interview, Jutta Hillebrand) Während in der Klasse von Frau Hillebrand nur ein Schüler einen nicht inter‐ netfähigen Computer besitzt, würden die restlichen Schüler*innen dem Unter‐ richt vor allem über Smartphones folgen; teilweise müssten sie sich diese aller‐ dings mit Geschwistern teilen, wie uns eine Kollegin, Frau Jansen, im Interview erzählt. Frau Jansen ist die Klassenlehrerin der IVK der STS Burg und weist langjährige Erfahrung im Unterricht sprachlich heterogener Lerngruppen auf. Die schlichtweg fehlende Ausstattung im Fernunterricht hebt die benachtei‐ ligten Arbeitsbedingungen für Kinder mit Migrationsgeschichte deutlich hervor (vgl. Livesey 2020). Wenn die Schüler*innen mit Endgeräten ausgestattet sind, liegt eine weitere strukturelle Hürde aber in dem für den Fernunterricht notwendigen Internet‐ zugang, wie Frau Hillebrands Kollegin Frau Hofmann erklärt, die Englisch in der IVK wie auch in den Regelklassen unterrichtet: (5) „Internetverbindungen sind zum Teil sehr schwach oder nicht vorhanden, nur über Kartenguthaben vorhanden, nicht über Verträge oder WLAN .“ (Interview, Dorothea Hofmann) Frau Hofmann verweist hier auf eine digitale Prekarität, die zwar nicht nur auf neu zugewanderte Schüler*innen, sondern auch auf andere Kinder und Jugend‐ liche zutrifft, die sich aber bei neu zugewanderten Familien noch verschärft, weil diese z. B. aufgrund ihres Aufenthaltsstatus rechtlich nicht dazu in der Lage sind, Verträge abzuschließen. Die Lehrkraft erklärt an einer weiteren Stelle unseres Gesprächs: „Abhängig vom Status dürfen die auch gar keine Festverträge haben mit den Handys“ (Interview, Dorothea Hofmann). Das zeigt auch, dass die Reaktion der Bildungspolitik, einen Teil der Schü‐ lerschaft mit Endgeräten auszustatten, nicht ausreichend ist, solange kein Zu‐ gang zum Internet besteht. Dies stellt sich sowohl bei den Schüler*innen zuhause als auch in den Schulen selbst als Herausforderung dar. Zu der Zeit, als die Tablets durch die Behörden ausgeliefert werden, unterrichtet Frau Hofmann die IVK in Präsenz. Die Auslieferung der Geräte betrachtet sie kritisch, weil sie diese in den Schulen ohnehin nicht nutzen könnten: „Dann haben wir die Endgeräte in den Klassen und dann liestauben die da ein und wir können Butterbrote drauf schmieren weil wir kein WLAN haben.“ (Interview, Dorothea Hofmann) 95 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten Der Vergleich mit einem Schneidebrettchen zeigt, dass Frau Hofmann keinen Mehrwert in den Endgeräten sieht, solang diese über keinen Internetzugang verfügten. Dies lässt sich möglicherweise damit in Zusammenhang bringen, dass die meisten (Lern-)Apps, aber auch Videoplattformen, Emails und Lern‐ plattformen nur mit Internet zu nutzen sind. Im Zuge unseres Gesprächs mit der IVK -Lehrkraft Antje Jansen hat sich weiter ergeben, dass sie jedoch sehr gerne ein mehrsprachiges digitales Lernportal genutzt hätte: (6) ich wollte dann auch was ausprobieren dieses mehrsprachige Lernportal und dann hat auch der Schulleiter es nicht unterschreiben wollen das hätte er unterschreiben müssen ist ein kostenloses Angebot wirklich ne hätte ihn nichts weiter und es war bis - war auch klar dass es dann ausläuft und keine Verpflichtungen verbunden und so aber er hat es nicht unter‐ schrieben mit der Begründung dass es irgendwie nicht gut findet wenn jetzt irgendwie jeder irgendwas macht. Rückbeziehend auf die Darstellung der bildungspolitischen Perspektive zeigt sich hier folglich eine erste Diskrepanz: Während sowohl Herr Romano als auch der Schulsenator positiv herausstellen, wie schnell die Hamburger Behörde mit der technischen Ausstattung auf die Pandemie reagiert habe, wird aus Perspek‐ tive der Schulpraxis deutlich, dass die Ausstattung mit Endgeräten keineswegs ausreichend ist. So reagiert Frau Hofmann kritisch auf unsere Frage zur Res‐ sourcenverteilung und der fehlenden Mobilisierung von Internetverbindungen für die Kinder im Distanzunterricht: (7) Wo sollen die [Schüler*innen, S. P.] das Geld hernehmen? Also und das sind auch Sachen, die die Behörde sich nicht überlegt. Die Behörde sagt: Hier sind jetzt iPads, wir sind fertig, check. (Interview, Dorothea Hofmann) Frau Hofmann weist mit ihrer Gegenfrage hier auf die fehlenden finanziellen Mittel vieler Schüler*innen aufgrund ihrer prekären Lebensbedingungen hin, was wiederum den klassischen ‚digital gap‘ (Van Ackeren et al. 2020) hervorhebt. Sie kritisiert auch offensiv das Handeln der Behörde und bewertet es als nicht ausreichend. Ihre Darstellung der Behördenhaltung durch die Worte „Wir sind fertig, check“ stimmt insofern mit den Rekonstruktionen der behördlichen Per‐ spektive überein, als dass auch Herr Romano betont, dass die Behörde ihre Auf‐ gabe in der Ausstattung mit technischen Ressourcen als erledigt erachtet. Die restliche Verantwortung würde bei den Schulen liegen - so eben auch die Aus‐ stattung mit WLAN . Frau Hofmann formuliert hier eine gewisse Kurzsichtigkeit der Behörde, die das Unterrichten der IVK in der Pandemie verunmögliche. Auch Frau Jansen verweist auf strukturelle Herausforderungen bezüglich der 96 Elisabeth Barakos / Simone Plöger finanziellen Ausstattung von Sprachunterricht in den IVK s, die sich nicht nur auf Pandemiezeiten beziehen. In diesem Gesprächsauszug reflektiert sie die prekäre Ressourcenlage der IVK : (8) Vor allem Deutsch als Zweitsprache […] Da gehen viele Ressourcen rein - also man kriegt da irgendwie so wirklich n Witz irgendwie so ne. Ich weiß nicht mehr, welche Ressourcen wir da gekriegt hätten von der Behörde, aber wirklich lächerlich wenig. Und die Schule muss sehr viel da reinste‐ cken. (Interview, Antje Jansen) Wie hier ersichtlich wird, klagt Frau Jansen offen die Behörde an, die die Schulen in Bezug auf das Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache mit „lächerlich wenig“ Ressourcen ausstatte - eine Perspektive, die der des Referatsleiters dia‐ metral entgegensteht. Aus Perspektive der beiden Lehrerinnen könnte die Be‐ hörde also deutlich mehr tun, da sich die vorliegende digitale Prekarität unmit‐ telbar auch auf die vorliegende Prekarität auf sprachlicher Ebene auswirkt. Sprache und Medialisierung des IVK-Unterrichts Die Auswirkungen der Corona-Pandemie finden sich unmittelbar in der Unter‐ richtspraxis der IVK wieder. In den folgenden Gesprächen mit Lehrkräften wird aufgezeigt, inwieweit der Fernunterricht eine besondere Herausforderung für die Sprachbildung der Schüler*innen darstellt, die ohnehin bereits vor erhebli‐ chen sprachlichen, soziokulturellen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde. Im folgenden Interview mit Antje Jansen, das wir am Ende des Schuljahres 2020 durchgeführt hatten, wird der Einsatz diverser Kommunikationskanäle während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 reflektiv skizziert. Primär gehe es laut Frau Jansen darum, die mehrsprachigen Lernenden sprachlich überhaupt zu erreichen. Sie betont, so viele Kanäle wie möglich anzuwenden (vom Telefon als direkte Form der Kommunikation zu Chats und Sprachnachrichten in Mes‐ senger-Diensten), um primär Kommunikation sicherzustellen und die Schüler*innen regelmäßig zu erreichen. In diesem Auszug erklärt die Lehrkraft näher, über welche Medien mit den Kindern im ersten Lockdown kommuniziert und unterrichtet wurde: (9) ja natürlich [Telefonate] das haben wir - ich hab das immer gemischt es gibt ja auch ähh Schüler die eben ganz große Probleme haben ähm dann mit dem Medium Lesen und Schreiben generell egal in welcher Sprache und dann natürlich in Deutsch erst recht [2] die haben dann ähm Sprach‐ nachrichten geschickt und ich hab auch meistens beides gemacht ähm etwas geschrieben und dann nochmal verbal erklärt mit einer Sprachnach‐ 97 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten richt weil ich dachte irgendein Kanal das bessere Chance dass es ankommt wenn es nur das Schrift - das Schriftliche auch wenn es nur kurze Sätze sind ist für einige eine echt große Hürde dann zu verstehen (Interview, Antje Jansen) Die Lehrkraft weist anfänglich auf die Lese- und Schreibschwierigkeiten hin, die in der Sprachbildung als besonders herausfordernd gelten (Gamper et al. 2020: 349) und im Distanzunterricht auf noch größere didaktische Hürden treffen. Um Kommunikationsprozesse und literale Kompetenzentwicklung zu‐ sammen zu stellen, verschickt Frau Jansen Nachrichten sowohl in schriftlicher Form, die, wie sie oben anführt, oft eine „große Hürde“ darstellen, als auch in mündlicher Form via Sprachnachrichten. Die Sprachnachricht dient somit als mächtigerer Präsenzersatz als die geschriebene Nachricht, die für viele Lernende oft nicht ausreicht. Das verbale Element der Sprachnachricht hat auch eine so‐ ziale Dimension, wenn Lerninhalte vermittelt werden: es geht einerseits darum, eine vertraute Stimme zu hören und den Sprachgebrauch der Lehrkraft als Mo‐ dell aktiv zu hören; andererseits geht es um eine Verkörperung dessen, was gesagt wird. Wie unten dargestellt, nutzt Frau Hofmann, die Englisch und Deutsch un‐ terrichtet, in ihrem Fernunterricht ebenso Sprachnachrichten als Ressource, um den Schüler*innen während des Distanz-Lehr-Settings zumindest die Möglich‐ keit zur Lektürearbeit, zum Vorlesen und Sprechen zu geben. Sie schildert uns hier exemplarisch ihre Handlungspraktiken: (10) ich hab mir dann von den Schülern auch Audios zugeschick-schicken lassen wo sie mir was vorgelesen haben wo sie mir ähm wo sie auf ne Frage die ich gespro-eingesprochen hatte ne Antwort geschickt haben also ich hab schon versucht sie auch zum Sprechen zu bringen. (Interview, Dorothea Hofmann) Frau Hofmann fordert somit das Gesprochene auch von ihren Schüler*innen ein. Ihre hier skizzierte didaktische Vorgehensweise weist auf die komplexen Kommunikationsabläufe im Distanzunterricht hin. Einen ähnlichen Einsatz di‐ verser Kommunikationskanäle schildert die IVK -Leiterin an der STS Burg, Frau Hillebrand. Für sie waren vor allem WhatsApp und das Telefon die wichtigsten Medien. (11) WhatsApp war für mich ähm Kommunikationsmedium innerhalb der Klasse Telefon Kommunikationsmedium ähm bilateral […] also die lernen ja überhaupt nichts wenn man das nicht korrigiert und dann war das sehr sehr aufwendig dann haben sie ihre Texte ähm oder ihre Arbeitsblätter 98 Elisabeth Barakos / Simone Plöger alle fotografiert und dann ähm per WhatsApp geschickt und dann hab ich das ausgedruckt und korrigiert und wieder fotografiert und wieder an die Schüler zurückgeschickt. (Interview, Jutta Hillebrand) Für Frau Hillebrand dient WhatsApp vor allem als Kommunikationsmedium innerhalb der Klasse, während sie direkte Telefonate als intensivste Form der Kommunikation mit den einzelnen Schüler*innen führt. Weiter betont sie hier, wie zeitaufwendig und arbeitsintensiv sich der Korrekturprozess von schriftli‐ chen Textaufgaben im Fernunterricht gestaltet. Ein kreatives Beispiel für den Einsatz sprachlicher Handlungswege wird im folgenden Beispiel aufgezeigt. Frau Hofmann schildert hier den Einsatz von Google Translate als Übersetzungshilfe für Schüler*innen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen. (12) wir haben zwei Schülerinnen eine ist türkisch bulgarisch sprachig eine ist ähm eine ist polnisch sprachig [1] da hat es nicht funktioniert [1] ( ) da kann ich keine Sprache vermitteln auf die Distanz ohne dass wir eine gemeinsame Sprache haben das geht nicht […] mit ihr kommunizier ich in der Regel darüber dass ich was in Google Translate reinschreibe [1] und Google Translate das auf Polnisch übersetzen lassen und die Schü‐ lerin antwortet mir dann Google Translate auf Polnisch und ich krieg dann und tatsächlich nutze ich da Englisch Polnisch weil Google Translate besser mit Englisch in andere Sprachen funktioniert. (Interview, Dorothea Hofmann) Frau Hofmann weist auf die Komplexität von sprachlich heterogenen Lern‐ gruppen im Fernunterricht hin. Ihrer Ansicht nach besteht eine hohe Sprach‐ barriere, die sich im Fehlen einer gemeinsamen Sprache manifestiert. Google Translate fungiert hier als mehrsprachiges Übersetzungsmedium und als pri‐ märes Hilfsmittel zum Sprachenlernen, das von der Lehrkraft und den Schüler*innen bedient wird. Für sie bietet dieses Medium die einzige Möglich‐ keit, die Lernenden aus der Distanz sprachlich handlungsfähig zu machen. Frau Hofmanns Handeln zeigt, wie Lehrkräfte Mehrsprachigkeit hier situativ ein‐ setzen, was auch mit Gogolins (2020) Forderung einhergeht, das mehrsprachige Repertoire der Schüler*innen anzuerkennen und einzusetzen. Die diskutierten Auszüge aus Gesprächen mit IVK -Lehrkräften liefern Anhaltspunkte dazu, wie die bestehenden Bedingungen des Distanzunterrichts für neu zugewanderte Schüler*innen andauernde Bildungsbenachteiligung und digitale und mehr‐ sprachige Prekaritäten in Pandemiezeiten zu verschärfen scheinen. Wie bereits 99 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten in 4.1. diskutiert, besteht auch hier in der wissenschaftlichen Fachdiskussion Einigkeit (vgl. auch BERA 2020; Div ER 2020; Gogolin 2020). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die in unserer Studie be‐ fragten Lehrkräfte der größte Aufwand im Distanzunterricht erst einmal darin besteht, die mediale Erreichbarkeit der Schüler*innen sicherzustellen und mit den vorherrschenden prekären Lehr- und Lernsituationen umzugehen. Wie auch Piller et al. (2020) argumentieren, liegt die sprachliche Herausforderung in Zeiten von Corona sehr stark am Herstellen von Beziehungen, und nicht nur am Informationsaustausch: „All this means that the language challenges of COVID -19 do not only relate to the dissemination of information but also to relationship building” (2020: 510; vgl. hierzu auch Bremm / Racherbäumer 2020: 212). Wie wir in diesem Beitrag aufgezeigt haben, dürfte die soziale Dimension der aufgezeigten Kommunikationshürden im (digitalen) Distanzunterricht die prekäre Situation noch verschärfen. 5 Diskussion und Ausblick In diesem Beitrag haben wir theoretische und empirische Erkenntnisse zu Sprachunterricht in Internationalen Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten am Beispiel einer Hamburger Stadtteilschule dargelegt. Im Speziellen sind wir der Frage nachgegangen, welche Ansprüche Schulpraxis, Bildungspolitik und Wissenschaft mit Blick auf die Frage nach Bildungsgerechtigkeit von neu zu‐ gewanderten Schüler*innen aneinander stellen und welche Implikationen sich daraus für Veränderungen auf institutionell-organisatorischer Ebene ergeben. In Einklang mit bisherigen ersten Befunden anderer Studien (Bremm 2021; Bremm / Racherbäumer 2020; Gogolin 2020; Livesey 2020) zeigen unsere Er‐ kenntnisse, dass Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrung aufgrund der Pandemie in ihren Lernchancen und Bildungszielen besonders stark aufgrund ihrer sprachlichen und technischen Ressourcenausstattung benachteiligt sind. Wenn auch nicht generalisierbar, bilden die in unserer Studie skizzierten Pre‐ karitätserfahrungen und geschilderten Perspektiven verschiedener Ak‐ teur*innen eine soziale Realität ab, die auf die Ressourcenknappheit im IVK -Sprachunterricht hinweist. Die diversen Erfahrungen und Perspektiven sind durchaus „ein Diagnosewerkzeug für Machtverhältnisse in symbolischen Ordnungen und legen Prozesse und Praktiken offen, die diese Ordnungen re‐ produzieren“ (Hassemer / Flubacher 2020: 171). Diese Machtverhältnisse spie‐ geln sich, wie in diesem Beitrag deutlich wird, im Zusammenspiel und Handeln bildungspolitischer, schulpraktischer und wissenschaftlicher Diskurse und Praktiken wider. Im Beitrag haben wir die Stellung der IVK s, wozu es bis dato 100 Elisabeth Barakos / Simone Plöger noch wenig Forschung gibt, herausgearbeitet. Die IVK stellt ein wichtiges Ge‐ lenk im Übergang Neuzugewanderter in Regelklassen und ihrer weiteren Bil‐ dungsverläufe und -aspirationen dar. Durch die Schulschließung der STS Burg wird die Fragilität und Ressourcenabhängigkeit von IVK s, die über das viel zi‐ tierte „Laptop-Problem“ hinausgeht, verschärft, die so nicht zu einer chancen‐ gleichen und bildungsgerechten Schule führen können. Wie Fürstenau (2015) bereits gefordert hat, können „Handlungsansätze mi‐ grationssensibler Schulentwicklung […] in die Breite getragen werden, wenn das Ziel gleichberechtigter Teilhabe bildungspolitischer Konsens ist“. Sowohl Wissenschaft und Schulvertretung hatten im ersten Lockdown eine bevorzugte Öffnung von IVK s für sozial benachteiligte Kinder und Jugendlichen gefordert: „Da ohnehin nicht alle Schüler*innen gleichzeitig in die Schule zurückkehren können, sollte zunächst vor allem denjenigen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch ermöglicht werden, die eine besondere Unterstützung benötigen“ (Offener Brief KMK 2020). Diesen Forderungen ist die Bildungspolitik jedoch nicht nachgekommen. Während Lucas Romano seitens der Schulbehörde in un‐ serer Studie zwar einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen formuliert und über Präsenzunterricht für IVK s nachdenkt, scheint er sich jedoch nicht in der Verantwortung zu sehen, eine Durchsetzung dieser zu gewährleisten. Stehen IVK s somit als Verlierer in dieser Krise da? Und welche Folgerungen lassen sich hieraus mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit ab‐ leiten? In der Krise scheinen sich Bildungsungleichheiten erneut zu reproduzieren: Während gut ausgestattete Schüler*innen den Zugang zu Bildung (zumindest weitgehend) aufrechterhalten konnten, haben wir in unserem Beitrag gezeigt, dass für neu zugewanderte Schüler*innen allein dieser Zugang eine nur schwer überwindbare Hürde darstellt. Die Grenzen von Ansprüchen der Wissenschaft, Bildungspolitik, Schulpraxis bündeln sich am Habitus IVK , wo es eine man‐ gelnde Ressourcenausstattung gibt und viele Schüler*innen aufgrund ihres feh‐ lenden Lernfortschritts in Deutsch erst später in die Regelklasse wechseln können. Durch die Schulschließung wird die Rolle von IVK s als Grenzort di‐ verser institutioneller Ansprüche hervorgehoben und die Fragilität und Res‐ sourcenabhängigkeit verschärft. Schüler*innen müssen sich an ein Bildungs‐ mandat anpassen, das nicht mit ihren Lernbedürfnissen und sozialen Lebenswelten vereinbar ist. Diese Umstände und Vorgehensweisen, vor allem das Agieren von Bildungspolitik und Re-Agieren von Schulpolitik, können nicht zu einer chancengleicheren und bildungsgerechteren Schulbildung für Neuzu‐ gewanderte führen. Wenn Bourdieu und Passeron (1971) also von der Illusion der Chancengleichheit sprechen, dann sehen wir diese Illusion allgegenwärtig 101 Ansprüche an Sprachunterricht in Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten und verkörpert durch die Benachteiligung neu zugewanderter Schüler*innen in IVK s. Wie kann nun ein zukunftsweisender Unterricht in IVK s gestaltet werden? Es braucht institutionalisierte Prozesse, die die adäquate und faire Verteilung von Bildungsressourcen - im Sinne Giesingers (2012) - steuern. Mit Giesinger müssten für eine faire Verteilung gerade die am „wenigsten privilegierten“ be‐ vorzugt berücksichtigt werden. Solang die Bildungspolitik ihre Aufgabe aber nur in der Verteilung von Endgeräten sieht und den Schulen, die ihrerseits überlastet sind, alle weiteren Schritte überlässt, scheint eine Auflösung dieser digitalen Prekarität nicht zu gelingen. Hieran hängt jedoch die von Giesinger geforderte „Grundbildung“, die neu zugewanderten Schüler*innen nicht zuteil‐ wird, solang sie schlicht keinen Zugang haben. Unsere Daten zeigen, „dass es gerade an Standorten mit Mehrfachbenachteiligungen nicht nur einzelschuli‐ scher Strategien der kontextspezifischen Schul- und Unterrichtsentwicklung, sondern einer entschlossenen auf Ungleichheitsabbau gerichteten Bildungssys‐ tementwicklung und Bildungssystementwicklungsforschung bedarf, um Bil‐ dungsungleichheiten flächendeckend und nachhaltig abzubauen“ (Bremm / Ra‐ cherbäumer 2020: 211). Weiter bedarf es eines kontinuierlichen Dialogs zwischen Schulpraxis und Bildungspolitik, um Ressourcen passgenauer einsetzen zu können. Sprachbil‐ dung für Neuzugewanderte ist immer an effektive Kommunikationsmöglich‐ keiten gebunden, die aktuelle Schulschließungen und Fernunterricht nicht kon‐ sequent ermöglichen. IVK s sollten daher bei der schrittweisen Öffnung der Schulen prioritär bevorzugt werden, nicht nur um eine durchgängige Sprach‐ entwicklung heterogener Lerner*innen zu ermöglichen, sondern auch um den Zugang zu Bildung sozial gerechter zu gestalten (vgl. Plöger / Barakos 2020). Literatur Ackeren, Isabell van / Endberg, Manuela / Locker-Grütjen, Oliver (2020): Chancenaus‐ gleich in der Corona-Krise. Die soziale Bildungsschere wieder schließen. Die Deutsche Schule 112 (2), 245-248. Barakos, Elisabeth / Selleck, Charlotte (2019): Elite multilingualism: Discourses, practices, and debates. Journal of Multilingual and Multicultural Development 40 (5), 361-374. BERA 2020: COVID-19 and schooling for uncertainty. https: / / www.bera.ac.uk/ blog/ cov id-19-and-schooling-for-uncertainty (02. 02. 2021). 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Dazu werden im Rahmen einer vergleich‐ enden Datenanalyse lese- und rechtschreibbezogene Daten aus standardi‐ sierten Testverfahren von neu zugewanderten Kindern verschiedener Ko‐ horten gegenübergestellt, die die erste Klasse jeweils unter regulären (Schuljahr 2018 / 2019) und pandemiebedingten Lehr-Lern-Settings (Schuljahr 2019 / 2020) besucht haben. Bezugnehmend auf die Daten wird aufgezeigt, ob sich Unterschiede in der Lernentwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten zwischen den beiden Ko‐ horten abbilden lassen und wenn ja, worin diese bestehen. Außerdem wird diskutiert, unter welchen Bedingungen sich die schriftsprachlichen Fähig‐ keiten von neu zugewanderten Kindern erfolgreich entwickeln können und welche Unterstützungsmechanismen gegebenenfalls benötigt werden. Aus den Ergebnissen werden abschließend Konsequenzen für organisatorische und didaktische Entscheidungen hinsichtlich der Sprachförderung und Di‐ agnose neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule abgeleitet und zur Diskussion gestellt, die über die pandemiebedingte Situa‐ tion hinausweisen. 1 vgl. zur Begriffsbestimmung Kapitel 2.1. 1 Einführung Die COVID -19-Pandemie bringt für unsere Gesellschaft ganz neue und unge‐ wohnte Herausforderungen mit sich. Die mit der Pandemie einhergehenden Veränderungen betreffen auch das Schulsystem und stellen sowohl Schüler‐ Innen als auch Lehrkräfte vor veränderte Lern- und Arbeitsbedingungen. Durch die zeitweise Verschiebung des Lernorts in das häusliche Umfeld verschärfen sich Ungleichheiten hinsichtlich der familiären Gegebenheiten, die unter regu‐ lären Lehr- und Lernbedingungen durch den schulischen Kontext teilweise auf‐ gefangen werden können. In diesem Zusammenhang rückt insbesondere die Gruppe der neu zugewanderten Kinder mit geringen Deutschkenntnissen 1 im Anfangsunterricht der Grundschule in den Fokus, da sich diese in einer beson‐ deren (sprachlichen) Ausgangssituation befindet. In diesem Beitrag soll die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule anhand einer vergleichenden Datenanalyse unter regulären und pandemiebedingten Lehr- und Lernsettings vergleichend betrachtet werden. Dazu werden zunächst die Besonderheiten der hier vorliegenden Zielgruppe näher spezifiziert, um an‐ schließend den Forschungsstand zum Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit zu skizzieren. Im dritten Kapitel erfolgt die Darlegung der empirischen Studie. Zu Beginn werden Forschungsfrage, Hypothese und Ziele der Untersuchung dargestellt. Anschließend erfolgt eine Beschreibung des Set‐ tings und der ProbandInnen sowie der Erhebungsinstrumente. Die Ergebnisse der Studie werden daraufhin sowohl unter einem quantitativen als auch unter einem qualitativen Blickwinkel analysiert. Der Beitrag schließt mit einer Zu‐ sammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. 2 Neu zugewanderte Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule Im ersten Schuljahr werden die Grundsteine für das gesamte schulische Lernen gelegt und die sich hier entwickelnden Lese- und Rechtschreibfähigkeiten gelten als entscheidende Determinanten des Schulerfolgs in allen Fächern. Dass in diesem Zusammenhang insbesondere soziale und migrationsbedingte Dispari‐ täten eine entscheidende Rolle einnehmen, wurde bereits in einigen Untersu‐ chungen thematisiert (vgl. z. B. Hußmann et al. 2017; Wendt / Schwippert 2017). Aus diesen Gründen ist die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten insbesondere bei dieser LernerInnengruppe von besonderer Bedeutung, um bil‐ 110 Jessica Lindner 2 An dieser Stelle sei allerdings darauf verwiesen, dass die Komplexität der einzelnen Spracherwerbsbiografien durch die Bildung von festen Spracherwerbstypen verkürzt dargestellt wird. Die vorgenommene Begrenzung ist zwar zur Beantwortung der For‐ schungsfrage und zur Auswertung und Interpretation der Daten notwendig, erfolgt aber mit dem Wissen über die verkürzte Darstellung der Wirklichkeit. dungsbezogene und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und einer lang‐ fristigen Benachteiligung entgegenzuwirken. 2.1 Spezifizierung der Zielgruppe Für die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe, neu zugewanderte Kinder mit geringen Deutschkenntnissen im Anfangsunterricht der Grundschule, liegt in der Forschung keine einheitliche Begriffsverwendung vor. Eine grundlegende Definition wurde beispielsweise von Massumi / von Dewitz (2015) formuliert: Die Bezeichnung neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne bzw. mit geringen Deutschkenntnissen in der Schule erfasst die Kinder und Jugendlichen, die im schul‐ pflichtigen Alter (sechs Jahre oder älter) nach Deutschland migrieren und zu diesem Zeitpunkt über keine oder nur geringe Deutschkenntnisse verfügen. Demnach trifft die Verwendung des Begriffs so lange auf Kinder und Jugendliche mit eigener Migra‐ tionserfahrung im schulpflichtigen Alter zu, wie ihre Deutschkenntnisse nicht als ausreichend angesehen werden, um erfolgreich am Unterricht in der Regelklasse an einer deutschen Schule teilzunehmen (vgl. Massumi / von Dewitz 2015: 13). Die hier vorliegende Definition trifft allerdings in zwei relevanten Punkten für die in dieser Untersuchung betrachtete Zielgruppe nicht zu. Zum einen sind die in diesem Beitrag fokussierten Kinder bereits kurz vor Schuleintritt nach Deutschland zugezogen und haben, wenn auch qualitativ und quantitativ stark eingeschränkt, in geringem Umfang Kontakt zur deutschen Sprache gehabt. Trotzdem muss aufgrund der geringen Kontaktzeit zum Deutschen, die in dieser Studie auf eine zeitliche Spanne von zwischen dem fünften Lebensjahr und Schulbeginn festgelegt wurde, 2 von geringen Deutschkenntnissen ausgegangen werden. Außerdem besuchen alle Kinder der vorliegenden Untersuchung eine Regelklasse, was allerdings nicht zwingend auf ausreichende Kenntnisse in der deutschen Sprache zurückzuführen ist, sondern auf die Tatsache, dass an der entsprechenden Schule für diese Kinder keine Deutschklasse (in anderen Re‐ gionen auch als Übergangsklasse oder Willkommensklasse bekannt) vorge‐ sehen ist. Inwiefern man von einer „erfolgreichen“ Teilnahme am Unterricht sprechen kann, bleibt allerdings offen und soll im Rahmen der empirischen Un‐ tersuchung und der Diskussion weiter verfolgt werden. 111 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder 3 vgl. verschiedene Modellschulversuche zur bilingualen Schulbildung (z. B. Berkemeier 1997; Gogolin et al. 2007). 4 Laut Massumi / von Dewitz (2015: 13) können die Begriffe SeiteneinsteigerInnen und Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne bzw. mit geringen Deutschkenntnissen sy‐ nonym verwendet werden. Einschränkend muss an dieser Stelle allerdings darauf ver‐ wiesen werden, dass im Sinn der ursprünglichen Definition Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter aufgrund der Alphabetisierung in ihrer Erstsprache eine andere Ausgangssituation aufweisen als die Zielgruppe der hier vorliegenden Untersuchung. 5 In jüngerer Zeit muss zusätzlich die Alphabetisierung von erwachsenen MigrantInnen als weiterer Erwerbskontext ergänzt werden (vgl. Schulte-Bunert 2015), da diese seit dem neuen Zuwanderungsgesetz vom 01. 01. 2005 sogenannte Integrationskurse - und in diesem Zusammenhang auch Alphabetisierungskurse - des Bundesamts für Migra‐ tion und Flüchtlinge (BAMF) besuchen können. 2.2 Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit Die vorliegende Untersuchung legt einen Schwerpunkt auf die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten, weshalb im Folgenden zunächst verschiedene Erwerbskontexte in Bezug auf Mehrsprachigkeit voneinander abgegrenzt und in Beziehung zur hier betrachteten Zielgruppe gesetzt werden. Beim Schriftspracherwerb im Kontext der Mehrsprachigkeit differenziert Belke (2007) zwischen fünf verschiedenen Erwerbskontexten, die mit jeweils spezifischen Erwerbsbedingungen verknüpft sind. Diese sind der Schriftsprach‐ erwerb in der Regelklasse, eine koordinierte zweisprachige Alphabetisierung, 3 der frühe Fremdsprachenunterricht ab dem ersten Schuljahr, der Schriftsprach‐ erwerb von SeiteneinsteigerInnen 4 sowie das traditionelle Fremdsprachen‐ lernen in der Sekundarstufe. 5 Im vorliegenden Beitrag steht die zuerst genannte Erwerbssituation - der Schriftspracherwerb in der Regelklasse im ersten Schul‐ jahr - im Zentrum, sodass dieser Kontext in den folgenden Ausführungen auf‐ gegriffen wird. 2.2.1 Zur besonderen Erwerbssituation von schriftsprachlichen Fähigkeiten bei neu zugewanderten Kindern Neu zugewanderte Kinder mit geringen Deutschkenntnissen meistern im An‐ fangsunterricht der Grundschule eine doppelte Erwerbsaufgabe. Sie lernen zum einen die mündlich gesprochene Sprache und zum anderen erwerben sie schrift‐ sprachliche Fähigkeiten in der ihnen meist noch wenig vertrauten Zweit‐ sprache. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die neu zugewan‐ derten Kinder insbesondere auf der Basis des bereits erlernten sprachlichen Systems ihrer Erstsprachen Lese- und Schreibkompetenzen in der deutschen Sprache aufbauen. Dies stellt einen grundsätzlichen Unterschied zu ihren ein‐ sprachig aufwachsenden MitschülerInnen dar, die aufbauend auf ihren alters‐ 112 Jessica Lindner 6 In diesem Zusammenhang kann auf Studien mit sprachentwicklungsgestörten Kindern verwiesen werden. In einer Studie von McArthur et al. (2000) konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass bei über der Hälfte der Kinder, die Schwierigkeiten im Le‐ seerwerb zeigen, eine spezifische Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert werden konnte. Auch wenn es sich bei sprachentwicklungsgestörten und zweisprachigen Kin‐ dern um zwei grundsätzlich verschiedene Erwerbskontexte handelt, kann dies darauf hinweisen, dass durch sprachentwicklungsbezogene Rückstände, die im Fall des Zweit‐ spracherwerbs aufgrund der kürzeren Kontaktdauer zum Deutschen entstehen, ein er‐ höhtes Risiko zur Ausbildung von geringen Lese- und Rechtschreibfähigkeiten besteht. gemäß erworbenen gesprochen-sprachlichen Fähigkeiten den Schriftspracher‐ werb in ihrer Erstsprache vollziehen. Betrachtet man den Schriftspracherwerb als Prozess, der auf lernergesteu‐ erten Aneignungsprozessen basiert und sowohl kognitive Fähigkeiten als auch sprachliche Ressourcen miteinbezieht, dann wird die besondere Situation der neu zugewanderten Kinder deutlich. Sie eignen sich die Schriftsprache in ihrer Zweitsprache Deutsch unter anderen Ausgangsbedingungen an als ihre mono‐ lingualen Altersgenossen. In diesem Zusammenhang sei auf die bereichsspezi‐ fischen Vorläuferfähigkeiten und Einflussfaktoren des Schriftspracherwerbs nach Marx (2007) verwiesen, der neben den Fähigkeiten der phonologischen Informationsbearbeitung auch die allgemeine Sprachentwicklung als entscheid‐ enden Prädiktor für die Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten an‐ nimmt. Sowohl ein geringer Wortschatz als auch ein Rückstand in der Beherr‐ schung grammatikalischer Strukturen in der Zielsprache Deutsch können zu Schwierigkeiten beim Lese- und Schreiberwerb führen. 6 Diese Annahmen gelten grundsätzlich für alle Kinder, im Fall der neu zugewanderten Kinder kann al‐ lerdings naturgemäß - aufgrund der geringeren Kontaktzeit zur deutschen Sprache - davon ausgegangen werden, dass phonologische, lexikalische, gram‐ matikalische und weitere sprachbezogene Fähigkeiten in der deutschen Sprache noch nicht gleichermaßen weit entwickelt sind wie bei Kindern, die seit längerer Zeit oder seit ihrer Geburt mit der deutschen Sprache vertraut sind. Neu zuge‐ wanderte Kinder verfügen entsprechend über qualitativ andere sprachliche Res‐ sourcen und über andere Zugriffsmöglichkeiten auf sprachliches Vorwissen. Da der Schriftspracherwerb entsprechend der gegenwärtigen Forschungs‐ diskussion als ein Prozess verstanden wird, der durch individuelle Hypothesen‐ bildung und Lösungsstrategien charakterisiert ist, die Kinder aufgrund ihrer sprachlichen Ressourcen entwickeln (vgl. Becker 2013: 19), ist für neu zuge‐ wanderte Kinder davon auszugehen, dass deutlich divergierende sprachliche Kompetenzprofile vorhanden sind und die Kinder möglicherweise andersartige Hypothesen und Lösungsstrategien anwenden. Trotzdem wird bislang davon ausgegangen, dass der Schriftspracherwerbsprozess zweitsprachlernender 113 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder 7 Ergänzend sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass bei Becker (2011, 2013) keine neu zugewanderten Kinder im Fokus ihrer Studie stehen. Aus diesem Grund müsste über‐ prüft werden, ob und inwiefern die Ergebnisse auch auf neu zugewanderte Kinder übertragbar sind. Kinder in Bezug auf die grundsätzliche Erwerbsprogression ähnlich verläuft wie bei einsprachigen Kindern (vgl. Becker 2013: 12 ff.), teilweise wird allerdings eine geringere Erwerbsdynamik beschrieben (vgl. Becker 2011: 81 f.), die mög‐ licherweise auf das komplexere Zusammenspiel der sprachlichen Ressourcen zurückzuführen ist (vgl. Becker 2013: 108). 7 Wie die obigen Überlegungen zeigen, ist es wichtig, verschiedene Erwerbs‐ kontexte voneinander abzugrenzen, da diese das sprachbezogene Wissen und damit den Schriftspracherwerbsprozess beeinflussen. Mit Blick auf den hier vorliegenden Beitrag kann festgehalten werden, dass in den bisher vorliegenden Kategorisierungen die spezifische Zielgruppe der kurz vor Schulbeginn neu zu‐ gewanderten Kinder mit geringen Deutschkenntnissen im Anfangsunterricht der Grundschule eine bislang untergeordnete Rolle einnehmen. 2.2.2 Skizze zum Forschungsstand Der Schriftspracherwerb einsprachiger Kinder und seine Vorläuferfähigkeiten - insbesondere die phonologische Bewusstheit (vgl. z. B. Schnitzler 2008) - wurden in den vergangenen Jahrzehnten vielfach beforscht. In jüngerer Zeit sind auch Forschungsbemühungen in Bezug auf zweitsprachlernende Schüler‐ Innen zu vermerken (vgl. z. B. Michalak / Kuchenreuther 2015). Die Betrachtung des Schriftspracherwerbs und seiner Vorläuferfähigkeiten im Kontext des Deut‐ schen als Zweitsprache blieb bislang allerdings weitestgehend aus, sodass Tabea Becker (2011: 11) entsprechend folgende Bilanz zieht: Der Schriftspracherwerb mehrsprachig aufwachsender Kinder stellt ein Forschungs‐ gebiet dar, das trotz der breiten und zunehmenden Relevanz des Forschungsgegen‐ standes bisher erstaunlich wenig Beachtung fand. Verantwortlich hierfür mag […] die Komplexität des zu untersuchenden Phänomens sein. Schließlich sind Schriftsprach‐ erwerb und Mehrsprachigkeit für sich genommen gerade in den letzten Jahrzehnten stark beforscht worden. Die Verknüpfung dieser beiden Bereiche steht jedoch noch in den Anfängen. Edeltraud Karajoli und Monika Nehr weisen bereits 1996 darauf hin, dass „pri‐ märer Schriftspracherwerb unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit […] ein eher vernachlässigtes Thema“ sei, das „bei uns bildungspolitisch und wis‐ senschaftlich noch ein Schattendasein“ fristet (Karajoli / Nehr 1996: 1191). Bil‐ dungspolitisch konnte zwar seit der Jahrtausendwende - nicht zuletzt aufgrund 114 Jessica Lindner der Ergebnisse verschiedener Schulleistungstests - Interesse geweckt werden, die Wissenschaft hat sich bislang jedoch verhältnismäßig wenig mit dem Thema auseinandergesetzt. So zieht Becker resümierend die Bilanz, dass die „For‐ schungslage mehr als dürftig“ sei (Becker 2011: 71). In letzter Zeit können zwar vereinzelte Veröffentlichungen zum Schrift‐ spracherwerb in mehrsprachigen Kontexten konstatiert werden (vgl. z. B. Be‐ cker 2011; Becker 2013; Benholz et al. 2016; Grießhaber / Kalkavan 2012; Incke‐ mann et al. 2019; Lindner 2019a, 2019b; McElvany et al. 2017; Schulte-Bunert 2015), die jedoch selten die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe der neu zugewanderten Kinder thematisieren. Das Forschungsfeld weist insgesamt betrachtet aufgrund der langjährigen „sträfliche[n] Vernachlässigung“ (Schramm / Schroeder 2009: 12) zahlreiche De‐ siderate in dem sehr komplexen Forschungsfeld des Schriftspracherwerbs im Kontext des Deutschen als Zweitsprache auf, was im Hinblick auf die hohe Re‐ levanz schriftsprachlicher Fähigkeiten für den schulischen und beruflichen Er‐ folg verwunderlich ist. Die vorausgegangene Skizze zum Forschungsstand konnte zeigen, dass der Schriftspracherwerb im Kontext des Deutschen als Zweitsprache ein grund‐ sätzlich noch sehr wenig bearbeitetes Forschungsfeld darstellt, dem erst in jün‐ gerer Zeit mehr Aufmerksamkeit zugekommen ist. Betrachtet man die in diesem Beitrag fokussierte Zielgruppe - neu zugewanderte Kinder, die erst kurz vor Schulpflichtbeginn mit dem Zweitspracherwerb beginnen - dann verschärft sich das Forschungsdesiderat. Insbesondere dann, wenn zusätzlich die pande‐ miebedingt veränderten Lehr- und Lernbedingungen einbezogen werden, liegen keine gesicherten Erkenntnisse zu Verläufen des Schriftspracherwerbs im An‐ fangsunterricht vor, sodass die Notwendigkeit der hier vorliegenden Studie darin ihre Begründung findet. 3 Empirische Untersuchung Die nachfolgende Untersuchung thematisiert anhand empirischer Daten die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder im An‐ fangsunterricht der Grundschule und stellt vergleichend ein reguläres und ein pandemiebedingtes Lehr- und Lernsetting gegenüber. 3.1 Forschungsfrage, Hypothese und Ziele der Untersuchung Die vorausgegangenen Ausführungen konnten zeigen, dass zum einen der in diesem Beitrag fokussierten LernerInnengruppe der neu zugewanderten Kinder bislang in den Forschungsbemühungen zum Schriftspracherwerb nur sehr 115 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder wenig Aufmerksamkeit zugekommen ist. Zum anderen wurde darauf ver‐ wiesen, dass sich diese Kinder in einer besonderen (sprachlichen) Ausgangssi‐ tuation befinden. Unter Hinzunahme der pandemiebedingten Änderungen im Lehr- und Lernsetting wird die Notwendigkeit für dieses Forschungsvorhaben begründet, da davon ausgegangen werden kann, dass sich soziale und migrati‐ onsbedingte Disparitäten durch die Pandemiesituation verschärfen. In diesem Beitrag soll deshalb folgender Forschungsfrage nachgegangen werden: Lassen sich Unterschiede in der Lese- und Rechtschreibentwicklung bei den neu zu‐ gewanderten Kindern am Ende des ersten Schuljahres zwischen der 1. Kohorte (re‐ guläre Beschulung) und der 2. Kohorte (pandemiebedingt verändertes Lehr-Lernset‐ ting) feststellen? Es wird angenommen, dass aufgrund der pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernsituation im Schuljahr 2019 / 2020 die Kinder der 2. Kohorte geringere Kompetenzen in den Lese- und Rechtschreibfähigkeiten aufweisen. Diese Annahme gründet darauf, dass neu zugewanderte Familien vermutlich weniger Wissensbestände in Bezug auf die Zweitsprache Deutsch aufweisen und ihnen die Lernkultur an deutschen Grundschulen ggf. weniger vertraut ist, sodass die geringere Aufenthaltsdauer in Deutschland zu weniger familienbe‐ zogenen Unterstützungsmöglichkeiten im Schriftspracherwerb der Kinder wäh‐ rend der Schulschließungen führen kann. Außerdem ist von weiteren ungüns‐ tigeren Erwerbsbedingungen auszugehen, die sich neben den geringeren Unterstützungsmöglichkeiten in der deutschen Sprache beispielsweise auch auf die psychische Gesundheit der Kinder bzw. der gesamten Familie, die Ausstat‐ tung mit benötigten (digitalen) Lernmaterialien, die Wohn- und Lebensverhält‐ nisse (u. a. Anzahl der in der Familie lebenden Personen, Größe und Ausstattung des Wohnraums) u. v. m. beziehen (vgl. Einleitung i. d. B.). Die Relevanz dieser weiteren Faktoren gewinnt insbesondere im Zusammenhang mit der Pande‐ miesituation an Bedeutung, da die Verschiebung der Beschulung in das häus‐ liche Umfeld eben diese Kontextfaktoren in den Vordergrund rückt (vgl. Danzer 2020). 3.2 Beschreibung des Settings und der ProbandInnen Um der aufgezeigten Forschungsfrage nachzugehen, die durch eine Gegenüber‐ stellung der beiden Kohorten im Hinblick auf die Lese- und Rechtschreibkom‐ petenzen am Ende der ersten Jahrgangsstufe beantwortet wird, sollen Daten von insgesamt 30 neu zugewanderten Kindern (s. Kap. 3.4.1) - davon zwei Fokus‐ 116 Jessica Lindner 8 Die Namen der Kinder wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert. 9 Die Daten stammen aus dem Dissertationsprojekt der Autorin des Beitrags. Insgesamt beteiligten sich 212 Kinder mit unterschiedlichen Spracherwerbshintergründen an der Untersuchung, bei der die Entwicklung spezifischer Vorläuferfähigkeiten und deren Einfluss auf den Schriftspracherwerb im Kontext des monolingualen und bilingualen Erstspracherwerbs sowie des Deutschen als Zweitsprache anhand einer empirischen Longitudinalstudie zweier Kohorten im Anfangsunterricht der Grundschule betrachtet werden. 10 Laut Statistischem Amt München beträgt der Anteil der Bevölkerung mit einem Mi‐ grationshintergrund im Kalenderjahr 2019 in diesem Stadtbezirk 51,6 %. Der Anteil für das gesamte Stadtgebiet München beträgt 45,1 %. 11 Für einen umfassenderen Einblick in die vorliegenden Daten siehe die Dissertations‐ schrift der Autorin (vgl. Lindner in Vorb.). kinder (Sena und Hassan 8 ; s. Kap. 3.4.2) - im Anfangsunterricht der Grundschule analysiert und verglichen werden. 9 In der ersten Kohorte (Schuljahr 2018 / 19) sind es 12 Kinder, die kurz vor ihrem Schulbeginn nach Deutschland migriert sind, und in der zweiten Kohorte (Schuljahr 2019 / 20) sind es entsprechend 18 Kinder, die nach oben beschriebener Zielgruppenspezifizierung (s. Kap. 2.1) als neu zugewandert gelten können. Die Kinder absolvierten ihr erstes Schuljahr an einer Münchner Grundschule, die sich in einem Stadtgebiet mit relativ hohem Migrationsanteil befindet. 10 In der vorliegenden Gesamtstichprobe (n=30) sind Mädchen und Jungen zu gleichen Anteilen vertreten. Insgesamt sind es 15 weibliche und 15 männliche ProbandInnen (allerdings ergeben sich Unterschiede hinsichtlich der Verteilung zwischen der ersten und zweiten Kohorte; erste Kohorte: 8 weiblich, 4 männlich; zweite Kohorte: 7 weiblich, 11 männlich). Zum hier beschriebenen Testzeitpunkt (jeweils Ende der ersten Klasse) waren die Kinder durchschnittlich 7; 4 Jahre alt, wobei das jüngste Kind der Stichprobe 6; 10 und das älteste Kind 7; 11 Jahre alt ist. In Bezug auf die Erstsprachen der Kinder, die auf der Grundlage von infor‐ mellen Fragebögen an die Eltern und unter Rückbezug auf die Lehrkräfte und die Kinder erfasst wurden, kann festgehalten werden, dass in der Gesamtstich‐ probe 19 verschiedene Erstsprachen vorhanden sind. Die am häufigsten vertre‐ tenen Erstsprachen sind mit jeweils vier Nennungen Albanisch, Arabisch und Kroatisch. Zusätzlich wurden auch weitere Hintergrundinformationen erfasst (u. a. schriftsprachspezifische Vorläuferfähigkeiten sowie biografische, fami‐ liäre, sprach- und lernbezogene Daten). 11 Zur besseren Vergleichbarkeit der Daten werden einige wenige ausgewählte Faktoren der beiden Kohorten in der nachfolgenden Tabelle vergleichend gegenübergestellt, die auch in der qualita‐ tiven Datenanalyse Beachtung (s. Kap. 3.4.2) finden. 117 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder 12 In alphabetischer Reihenfolge und mit der jeweiligen Anzahl der SprecherInnen in Klammern. Zu beachten ist, dass Mehrfachnennungen möglich waren: Fünf der dreißig Kinder sprechen mindestens zwei verschiedene nicht-deutsche Erstsprachen. 13 Die Anzahl der Nennungen befindet sich jeweils in Klammern. Kontextvariablen Kohorte 1 (n= 12) Kohorte 2 (n= 18) Geschlecht weiblich: 8; männlich: 4 weiblich: 7; männlich: 11 Biologisches Durch‐ schnittsalter 7; 4 7; 4 Durchschnittliche Kon‐ taktdauer zur deutschen Sprache zum Messzeit‐ punkt (Ende der 1. Klasse) 2; 10 3; 5 Erstsprachen 12 Albanisch (2) Arabisch (1), Armenisch (1), Benin (1), Dari (2), Englisch (1), Grie‐ chisch (1), Mazedonisch (1), Kroatisch (3) Persisch (1), Russisch (1) Albanisch (2) Arabisch (3), Bosnisch (1), Bulgarisch (1), Dari (1), Englisch (2), Italienisch (1), Mazedo‐ nisch (2), Nara (1), Kotokoli (1), Kroatisch (1) Persisch (2), Slowenisch (1), Tchamba (1), Türkisch (1) Höchster Bildungsabschluss der Mutter 13 kein Abschluss (1), Haupt‐ schule (2), Realschule (3), Ausbildung (3), Studium (2), keine Angaben (1) kein Abschluss (1), Haupt‐ schule (1), Realschule (2), Ausbildung (2), Studium (6), keine Angaben (6) Tab. 1: Gegenüberstellung der Kontextvariablen der ersten und zweiten Kohorte Die erste Kohorte besuchte die erste Klasse unter regulären Bedingungen, die Kinder der zweiten Kohorte waren aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie von den Schulschließungen im zweiten Halbjahr der ersten Klasse betroffen. Die Kinder waren ab dem 16. März bis zum 24. Mai nicht in der Schule, sondern lernten im häuslichen Umfeld durch die von der Klas‐ senleitung zur Verfügung gestellten Materialien. Dies umfasst einen Zeitraum von acht Schulwochen. Ab dem 25. Mai konnten die Kinder wieder in Klein‐ gruppen im wöchentlichen Rhythmus alternierend zur Schule gehen, was ab‐ züglich der Pfingstferien noch drei Wochen Unterricht an der Schule mit sich brachte. In einem regulären Schuljahr (bspw. im Schuljahr 2018 / 19) besuchten die Kinder abzüglich der Ferien insgesamt 38 Wochen die Schule. Im Schuljahr 2019 / 20 waren es hingegen nur 26 Schulwochen, was rund einem Drittel we‐ niger Lernzeit in der Institution Schule entspricht. 118 Jessica Lindner 14 Auf die Problematik des Einsatzes dieser für einsprachig aufwachsende Kinder nor‐ mierten Verfahren - gerade für die Zielgruppe der neu zugewanderten Kinder - kann an dieser Stelle nur kurz verwiesen werden (siehe für weitere Ausführungen Lindner 2019a). Die in diesem Beitrag relevanten empirischen Daten wurden am Ende des jeweils ersten Schuljahres erhoben. Die hierfür verwendeten Erhebungsinstru‐ mente werden im anschließenden Kapitel skizziert. 3.3 Erhebungsinstrumente Im Folgenden werden die einzelnen Testverfahren beschrieben, die in der vor‐ liegenden Untersuchung zur Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen wurden. 14 Zur Ermittlung der Lesegeschwindigkeit wurde die Würzburger Leise Lese‐ probe Revision ( WLLP -R; Schneider et al. 2011) als Gruppentest im Klassenver‐ band durchgeführt. Bei dem Diagnoseinstrument handelt es sich um einen stan‐ dardisierten und normierten Multiple-Choice-Test in einer Speed-Variante, was impliziert, dass in der vorgegebenen Zeit von 5 Minuten möglichst viele Auf‐ gaben gelöst werden müssen. Die Aufgaben sind so konzipiert, dass sich neben einem geschriebenen Wort jeweils vier Bildalternativen befinden. Das Kind muss das zum geschriebenen Wort passende Bild markieren. Insgesamt stehen in der ersten Jahrgangsstufe maximal 140 Wörter zur Bearbeitung bereit, wobei in der Regel durchschnittlich rund 45 Items in dieser Klassenstufe bearbeitet werden (n=571; Schneider et al. 2011: 21). Bei der Auswahl der Items wurde darauf geachtet, dass die Distraktoren nach einem spezifischen Prinzip ausge‐ wählt wurden. Unter den vier bildlich dargestellten Auswahlmöglichkeiten be‐ finden sich immer ein Distraktor, der mit dem Zielitem semantisch verknüpft ist (z. B. Knopf - Hose), und ein Distraktor, der dem Zielwort auf phonolo‐ gisch-orthografischer Ebene sehr ähnlich ist (z. B. Knopf - Kopf). Der Testroh‐ wert, der auch im vorliegenden Beitrag die Bezugsgröße darstellt, wird ermittelt, indem von der Gesamtzahl der bearbeiteten Aufgaben die Auslassungen und Fehler subtrahiert werden. Um das Leseverständnis der Kinder zu überprüfen, wurde das Diagnosein‐ strument ELFE II (Ein Leseverständnistest für Erstbis Siebtklässler - Version II ; Lenhard et al. 2018) als Gruppentest im Klassenverband herangezogen. Es han‐ delt sich um ein standardisiertes und normiertes Testverfahren, das das Lese‐ verständnis auf Wort-, Satz- und Textebene überprüft. Diese drei Subkategorien werden anhand verschiedener Untertests ermittelt, die ein unterschiedlich hohes Anforderungsniveau an die ProbandInnen stellen. Während der Untertest auf Wortebene basale Lesefertigkeiten (Dekodieren, Synthetisieren) erfordert, 119 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder sind bei den Subtests auf Satz- und Textebene höhere Leseprozesse beteiligt (sinnentnehmendes Lesen, syntaktische Fähigkeiten, lokale und globale Kohä‐ renzbildung). Beim Untertest Wortverständnis muss zu einem Bild aus vier schriftlich dargebotenen Wörtern das passende angestrichen werden. Die Wörter sind dabei so gewählt, dass die Distraktoren dem Zielwort graphisch und phonemisch ähneln. Das jeweils dargebotene Wortmaterial weist zusätzlich die gleiche Anzahl an Silben auf (z. B. Zielitem: Hund; Distraktoren: Mund, Hand, Kind). Beim Untertest zum Satzverständnis werden dem Kind unterschiedlich komplexe Sätze dargeboten, bei denen an einer Stelle ein passendes Wort aus fünf dargebotenen Alternativen ausgewählt und in den Satz eingefügt werden soll. Alle Alternativen einer Aufgabe entstammen der gleichen Wortart (Adjek‐ tive, Substantive, Verben, Konjunktionen oder Präpositionen). So lautet eine Testaufgabe: Ein Ball ist … krank / gesund / böse / klug / rund. Der Subtest zum Textverständnis ist aus kleineren Texten mit einer oder mehreren dazugehö‐ rigen Fragen zusammengesetzt. Ein Item besteht jeweils aus einer Frage und vier dazugehörigen Antwortalternativen, aus denen die passende identifiziert werden muss. Die Texte variieren dabei hinsichtlich ihres Genres (Erzähltext vs. Sachtext), der Komplexität der Informationsentnahme (sinngemäß vs. wörtlich) und der notwendigen Kohärenzbildung (global vs. lokal). Die Testdurchführung benötigt circa 30 Minuten, wobei die reine Bearbeitungszeit 13 Minuten beträgt (Wortverständnis: 3 Minuten; Satzverständnis: 3 Minuten; Textverständnis: 7 Minuten). Für alle drei Untertests kann jeweils ein Testrohwert ermittelt werden, der sich aus der Summe aller richtig gelösten Aufgaben ergibt. Zur Erhebung der Rechtschreibkompetenzen wurde die Hamburger Schreib-Probe 1 Plus ( HSP 1 + ; May et al. 2019) als Gruppentest herangezogen, die die Verschriftung von acht Einzelwörtern und einem Satz vorsieht. Die Wort‐ auswahl bildet ein breites Spektrum unterschiedlicher Schwierigkeitsniveaus ab, sodass den ProbandInnen ein sorgfältig bestimmter Ausschnitt ihres ortho‐ grafischen Wissens abverlangt wird. Die Bedeutung der Wörter und des Satzes wird durch Illustrationen veranschaulicht. Die Bilder dienen als Gedächtnis‐ stütze, sodass das Arbeitsgedächtnis entlastet ist. Die Auswertung der Tester‐ gebnisse erfolgt in der vorliegenden Untersuchung anhand der Graphemtreffer (Summe der richtig geschriebenen Grapheme), wodurch bei den Schreibanfän‐ gerInnen deutlich differenziertere Leistungen abgebildet werden können als bei einer binären Auswertung (richtig / falsch). Neben diesen standardisierten Testverfahren zur Erfassung der Lese- und Rechtschreibkompetenzen wurden außerdem anhand von informellen Frage‐ bögen an die Eltern und Lehrkräfte weitere (sprach-)biografische, familiäre und 120 Jessica Lindner lernbezogene Daten erhoben, die im Rahmen der Datenanalyse ebenfalls Be‐ rücksichtigung finden. 3.4 Ergebnisse Die Ergebnisse aus den empirischen Daten sollen zunächst unter einem quan‐ titativen und anschließend unter einem qualitativen Blickwinkel betrachtet werden. 3.4.1 Quantitative Datenanalyse Es lässt sich anhand der Daten herausstellen, dass die Lesegeschwindigkeit bei den neu zugewanderten Kindern der zweiten Kohorte im Vergleich zu den Kin‐ dern der ersten Kohorte deutlich geringer ist. Während die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte in dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen von 5 Mi‐ nuten durchschnittlich 34,25 Wörter ( SD : 8,67) erlasen, waren es bei der zweiten Kohorte nur 27,33 Wörter ( SD : 11,41), sodass eine Differenz von rund 7 Wörtern konstatiert werden kann. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Leseverständnis. In der Subkategorie Wort‐ verständnis erreichten die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte einen Mittelwert von 22,5 ( SD : 7,65). In der zweiten Kohorte wiesen die neu zuge‐ wanderten Kinder im Durchschnitt 18,22 Wörtern ( SD : 7,09) die korrekte Be‐ deutung zu. Für die Subkategorie Satzverständnis kann festgehalten werden, dass die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte einen Mittelwert von 5,75 ( SD : 3,05) korrekt gelöster Aufgaben erzielten, während die neu zugewan‐ derten Kinder der zweiten Kohorte durchschnittlich für 3,88 Sätze ( SD : 2,32) die korrekte Lösung identifizieren konnten. Die Aufgaben in der Subkategorie Text‐ verständnis sind für ErstklässlerInnen grundsätzlich herausfordernd. Trotzdem kann auch hier ein deutlicher Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kohorte ermittelt werden. Die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte konnten im Durchschnitt 2,5 textbasierte Aufgaben ( SD : 3,23) lösen, wohin‐ gegen die neu zugewanderten Kinder der zweiten Kohorte dies bei durch‐ schnittlich 1,6 Texten ( SD : 1,06) vermochten. Eine Differenz zwischen den Leistungen der beiden Kohorten, die in die gleiche Richtung weist, kann sich ebenfalls für die Rechtschreibkompetenzen abbilden lassen. Während die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte im Durchschnitt 50,33 Graphemtreffer erzielten, waren es bei den neu zugewan‐ derten Kindern der zweiten Kohorte 46,39 korrekt geschriebene Grapheme (ma‐ ximaler Gesamtrohwert: 61 Graphemtreffer). Abbildung 1 veranschaulicht die Differenzen zwischen den Mittelwerten der beiden Kohorten hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit, des Leseverständnisses 121 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder 15 Die im folgenden Teilkapitel dargestellten (sprach-)biografischen und familiären Daten wurden anhand von informellen Fragebögen an die Eltern und Lehrkräfte generiert. auf Wort-, Satz- und Textebene sowie der Rechtschreibkompetenzen (Graphem‐ treffer). Abb. 1: Gegenüberstellung der Mittelwerte der ersten und der zweiten Kohorte hinsicht‐ lich der Lese- und Rechtschreibkompetenzen 3.4.2 Qualitative Datenanalyse Nachfolgend werden die empirischen Sprachdaten unter einer qualitativen Per‐ spektive betrachtet. 15 Dazu wird eine vergleichende Fallanalyse zwischen einem Kind der ersten Kohorte (Sena) und einem Kind der zweiten Kohorte (Hassan) anhand der Kategorien Lesegeschwindigkeit, Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene sowie hinsichtlich der Rechtschreibfähigkeiten durchgeführt (vgl. auch Tab. 2). Die beiden Kinder, deren Lese- und Rechtschreibfähigkeiten am Ende der ersten Jahrgangsstufe vergleichend gegenübergestellt werden sollen, sind beide in Damaskus in Syrien geboren, sprechen Arabisch als Erstsprache und stehen 122 Jessica Lindner zum Testzeitpunkt ( Juli 2019 bzw. Juli 2020) jeweils seit einem Jahr und zehn Monaten im regelmäßigen Kontakt zur deutschen Sprache, da beide im Sep‐ tember im Jahr vor ihrer Einschulung (September 2017 bzw. September 2018) erstmalig eine Kindertageseinrichtung besuchten und Deutsch nicht in den Fa‐ milien gesprochen wird. Neben diesen sprachbiografischen Daten sind auch die familiären Gegeben‐ heiten vergleichbar. Sowohl Senas als auch Hassans Familie wohnen zum Test‐ zeitpunkt in einer Unterkunft für Geflüchtete. Die Mütter der beiden Kinder haben in Syrien jeweils ein Studium absolviert, sind in Deutschland zum Test‐ zeitpunkt in keinem Arbeitsverhältnis. Der Vater von Sena hat in Syrien eine Ausbildung zum Schneider absolviert, wohingegen der Vater von Hassan als Offizier gearbeitet hat. Über die berufliche Situation der Väter in Deutschland liegen keine weiteren Informationen vor. Eine vergleichbare Situation zeigt sich auch hinsichtlich der Kinderanzahl in der Familie. Sena hat zwei und Hassan drei Geschwister. Eine weitere Übereinstimmung liegt in der Selbsteinschätzung der Eltern in ihren Kompetenzen in der deutschen Sprache. Während die Väter beider Familien jeweils ihre deutschsprachigen Fähigkeiten mit ‚sehr gut’ be‐ werteten, gaben die Mütter der beiden Familien jeweils ‚gute’ Sprachkompe‐ tenzen an (vierstufige Ratingskala zur Selbsteinschätzung der Fähigkeiten in der deutschen Sprache im Eltern-Fragebogen: sehr gut / gut / in Ordnung / schlecht). Die beiden Kinder befinden sich somit in sehr ähnlichen sprachlichen, fami‐ liären und sozialen Verhältnissen, was einen Vergleich der Lese- und Recht‐ schreibfähigkeiten am Ende des ersten Schuljahres ermöglicht. Trotzdem sei an dieser Stelle zwingend darauf hingewiesen, dass es sich um zwei Individuen handelt, die auch spezifische, internale (z. B. Intelligenz, sprachliche Fähigkeiten in Erst- und Zweitsprache) sowie individuelle Umgebungsfaktoren (z. B. all‐ gemeiner Anregungsgehalt der Umwelt) aufweisen, sodass die Gegebenheiten nicht als identisch beschrieben werden können. Im Folgenden werden die empirischen Sprachdaten hinsichtlich der Lesege‐ schwindigkeit, des Leseverständnisses auf Wort-, Satz- und Textebene sowie der Rechtschreibkompetenzen der Kinder vergleichend gegenübergestellt. Sena konnte im Rahmen der WLLP -R (Schneider et al. 2011; s. Kap. 3.3) in der Zeit von 5 Minuten insgesamt 40 Wörter erlesen, wobei sie bei 34 Wörtern die korrekte Bildalternative identifizieren konnte, sodass insgesamt 6 Lesefehler vorliegen. Sie liegt mit den 34 erzielten Rohwertpunkten im durchschnittlichen Bereich ihrer Kohorte (M 1.Kohorte = 34,25; s. Kap. 3.4.1). Die ermittelten Lesefehler beziehen sich auf folgende Wörter: Fußball (Sena kreuzte hier das Bild eines ‚normalen’ Balls an), Zigarre (Sena kreuzte hier das Bild einer Tabakpfeife an), Pinsel (Sena kreuzte hier das Bild eines Stiftes an), Biene (Sena kreuzte hier das 123 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder Bild einer Birne an), Nagel (Sena kreuzte hier das Bild einer Nadel an), Zeh (Sena kreuzte hier das Bild eines Zahns an). Hassan bearbeitete insgesamt 38 Aufgaben und identifizierte bei 30 dieser Aufgaben das richtige Bild unter den vier Antwortmöglichkeiten. Damit liegt er im Vergleich zu seiner Kohorte (M 2.Kohorte = 27,33) zwar über dem Durchschnitt, erzielte aber 4 Rohwertpunkte weniger als Sena. Die ermittelten Lesefehler von Hassan beziehen sich auf folgende Wörter: Mond (Hassan kreuzte hier das Bild eines Mundes an), Schultüte (Hassan kreuzte hier das Bild eines Schulhefts an), Fußball (Hassan kreuzte hier - wie zuvor auch Sena - das Bild eines ‚normalen’ Balls an), Brot (Hassan kreuzte hier das Bild einer Wurst an), Nagel (Hassan kreuzte hier - wie zuvor auch Sena - das Bild einer Nadel an), Zahnweh (Hassan kreuzte hier das Bild einer Zahnpastatube an), Blumentopf (Hassan setzte hier kein Kreuz, sodass dieses Wort als Auslassung in die Bewertung einging), Zeh (Hassan kreuzte hier - wie zuvor auch Sena - das Bild eines Zahns an). Bei beiden Kindern sind zwei Fehlerschwerpunkte zu identifizieren. Der erste Fehlerschwerpunkt ist auf eine ähnliche Klangassoziation der Wörter und damit auf die phonologische Ebene zurückzuführen (z. B. Biene vs. Birne, Nagel vs. Nadel, Zeh vs. Zahn, Mond vs. Mund). Der zweite Fehlerschwerpunkt liegt in fehlendem (spezifizierendem) Wortschatz zur Lösung der Aufgabe (z. B. Zigarre, Schultüte, Fußball, Pinsel, Blumentopf, Zahnweh). Im Folgenden werden die Ergebnisse der beiden Kinder hinsichtlich des Le‐ severständnisses auf Wort-, Satz- und Textebene vergleichend gegenüberge‐ stellt, die anhand des Diagnoseinstruments ELFE II (Lenhard et al. 2018; s. Kap. 3.3) generiert wurden. Bei dem Untertest zum Wortverständnis bearbeitete Sena in der vorgege‐ benen Zeit von 3 Minuten insgesamt 17 Aufgabenstellungen, wobei ein Fehler (Kampf statt Kamm) identifiziert werden konnte, sodass 16 Rohwertpunkte in die Bewertung eingehen. Damit befindet sie sich unterhalb des Mittelwerts ihrer Kohorte, der bei diesem Subtest bei M=22,5 (s. Kap. 3.4.1) liegt. Hassan bearbei‐ tete insgesamt 21 Aufgaben fehlerfrei, sodass er in diesem Untertest besser als Sena und auch über dem durchschnittlichen Mittelwert seiner Kohorte (M=18,22) liegt. Für den Subtest zum Satzverständnis kann festgehalten werden, dass sowohl Sena als auch Hassan sechs Aufgabenstellungen in den vorgegebenen 3 Minuten bearbeiteten. Während Sena zwei Fehler machte, sind es bei Hassan drei Fehler, sodass Sena 4 und Hassan 3 Rohwertpunkte erzielten. Sena und Hassan liegen damit beide unterhalb des Mittelwerts ihrer jeweiligen Kohorte (M 1.Kohorte =5,75; M 2.Kohorte =3,88). Exemplarisch wird im Folgenden je ein Fehlerbeispiel der beiden Kinder aufgezeigt. Sena löste eine Aufgabe wie nachfolgend einsehbar: Bitte 124 Jessica Lindner *frage dich auf deinen Platz. (Antwortalternativen: frage, suche, setze, schreibe, lache). Hassan löste eine Aufgabe dieses Subtests folgendermaßen: Aus jeder *Pflanze wird einmal ein Schmetterling. (Antwortalternativen: Lupe, Katze, Raupe, Pflanze, Nase). Die beiden Beispiele verdeutlichen die hohe Komplexität der Aufgabe für Le‐ seanfängerInnen, insbesondere dann, wenn sie noch wenig mit der deutschen Sprache vertraut sind. Bei diesem Untertest sind nicht nur basale Lesefertig‐ keiten (Dekodieren, Synthetisieren) erforderlich, sondern auch zahlreiche wei‐ tere, meist sprachgebundene Fähigkeiten notwendig (u. a. Wortschatz, Syntax, sinnentnehmendes Lesen, Weltwissen), die insbesondere bei neu zugewan‐ derten Kindern in ihrer Zweitsprache Deutsch noch nicht entsprechend ausge‐ bildet sind. Die Komplexität der Aufgaben nimmt bei dem Subtest zum Textverständnis noch weiter zu. Abgesehen von den im vorausgehenden Absatz beschriebenen Fähigkeiten ist zusätzlich eine lokale und globale Kohärenzbildung erforderlich, um die Leseaufgaben zu lösen. Sena bearbeitete 6 Aufgaben, wovon 2 als falsch gewertet werden müssen, sodass ein Rohwert von 4 identifiziert werden kann. Damit befindet sie sich über dem durchschnittlichen Mittelwert ihrer Kohorte, der bei 2,5 Rohwertpunkten liegt. Hassan bearbeitete insgesamt 4 Aufgaben, konnte allerdings keine Aufgabe richtig lösen, sodass 0 Rohwertpunkte in die Beurteilung eingehen. Damit liegen seine Testergebnisse nicht nur deutlich hinter denen von Sena, sondern er schneidet damit auch schlechter ab als die Gesamtstichprobe der zweiten Kohorte, die einen Mittelwert von 1,6 richtig ge‐ lösten Aufgaben erzielte (s. Kap. 3.4.1). Die Rechtschreibfähigkeiten der beiden Kinder wurden mit dem Diagnose‐ instrument HSP 1 + (May et al. 2019; s. Kap. 3.3) erhoben. Insgesamt wurden acht Einzelwörter und ein Satz verschriftet, sodass ein maximaler Gesamtrohwert von 61 Graphemtreffern erreicht werden konnte. Sena erzielte insgesamt 48 Graphemtreffer, wohingegen Hassan 47 Treffer erreichte, sodass die Fähigkeiten unter einem quantitativen Blickwinkel als grundsätzlich ähnlich beschrieben werden können. Im Vergleich zur Gesamt‐ stichprobe der ersten Kohorte schneidet Sena unterdurchschnittlich ab (M 1.Ko‐ horte =50,33), wohingegen Hassans Testergebnis über dem durchschnittlichen Mittelwert der zweiten Kohorte (M 2.Kohorte = 46,29) liegt (s. Kap. 3.4.1). Nachfolgend werden die Leistungen der Kinder vergleichend gegenüberge‐ stellt und Fehlerschwerpunkte identifiziert. Sena und Hassan schreiben jeweils drei Wörter vollständig richtig (Sena: Baum, Telefon, Hund; Hassan: Baum, Te‐ lefon, Löwe). Betrachtete man die Fehlschreibungen von Hassan, fällt ein Feh‐ lerschwerpunkt deutlich ins Auge. Hassan verschriftet häufig den falschen 125 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder 16 vgl. für ein Basismodell zu den Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs (logo‐ grafische, alphabetische, orthografische Strategie) z. B. Schründer-Lenzen (2013: 66 ff.). Vokal (z. B. Hand statt Hund; Spegel statt Spiegel, Flege statt Fliege, flekt statt fliegt, Owe statt Uwe). Dieses Phänomen ist bereits aus anderen Forschungsergeb‐ nissen bei Sprachlernenden des Deutschen mit Arabisch als Erstsprache bekannt (vgl. z. B. Dahmen 2015) und ist auf die Phonologie der arabischen Sprache zu‐ rückzuführen, die zum einen nur drei Vokale (a, i und u) sowie zwei Diphthonge (ai, au) unterscheidet und zum anderen diese in der Regel nicht verschriftet (vgl. Bouras-Ostmann 2016). Dieses Phänomen ist bei Sena in ihren Verschriftlich‐ ungen nicht zu identifizieren. Sie scheint mit der Phonologie des Deutschen bereits vertrauter zu sein als Hassan. Ihre Fehlschreibungen können hauptsäch‐ lich auf die alphabetische Strategie 16 zurückgeführt werden, die zu Beginn des Schriftspracherwerbs bei allen Kindern vorherrscht (z. B. Moise, Schbigel, Farat, fligt). Bei beiden Kindern ist bereits eine Tendenz zum Übergang zur nächsthö‐ heren Entwicklungsstufe des Rechtschreibens zu erkennen. Es sind erste ortho‐ grafische Elemente zu identifizieren. Sena schreibt Hamer und verschriftet damit entgegen der alphabetischen Strategie, bei deren konsequenter Verwendung Hama (Hassan verschriftet es auf diese Weise) niedergeschrieben werden würde, das orthografische Element -er. Bei Hassan deutet die Verschriftlichung des Wortes Spegel auf eine erste Tendenz zum Übergang in die orthografische Phase hin. Eine rein alphabetisch orientierte Verschriftlichungsstrategie würde zu dem Schreibergebnis Schbigel kommen, so wie Sena das Wort niedergeschrieben hat. Tabelle 2 veranschaulicht das soeben Beschriebene im Überblick. Fähigkeitsbereich (Diagnoseinstrument) Sena (1. Kohorte, regulär be‐ schult) Hassan (2. Kohorte, Pandemiesituation) Lesegeschwindig‐ keit (WLLP-R; Scheider et al. 2011) 34 (40) Ball statt Fußball, Tabak‐ pfeife statt Zigarre, Stift statt Pinsel, Birne statt Biene, Nadel statt Nagel, Zahn statt Zeh 30 (38) Mund statt Mond, Schulheft statt Schultüte, Ball statt Fußball, Wurst statt Brot, Nadel statt Nagel, Zahnpastatube statt Zahnweh, Auslassung bei Blu‐ mentopf, Zahn statt Zeh Wortverständnis (ELFE II; Lenhard et al. 2018) 16 (17) Kampf statt Kamm 21 (21) Satzverständnis (ELFE II; Lenhard et al. 2018) 4 (6) Bitte *frage dich auf deinen Platz. (Antwortal‐ 3 (6) Aus jeder *Pflanze wird einmal ein Schmetterling. (Antwortalterna‐ 126 Jessica Lindner Fähigkeitsbereich (Diagnoseinstrument) Sena (1. Kohorte, regulär be‐ schult) Hassan (2. Kohorte, Pandemiesituation) ternativen: frage, suche, setze, schreibe, lache) tiven: Lupe, Katze, Raupe, Pflanze, Nase) Textverständnis (ELFE II; Lenhard et al. 2018) 4 (6) 0 (4) Rechtschreibfähig‐ keiten (HSP 1 + ; May et al. 2019) 48 (61) Moise statt Mäuse, Schbigel statt Spiegel, Farat statt Fahrrad, fligt statt fliegt 47 (61) Hand statt Hund; Spegel statt Spiegel; Flege statt Fliege; flekt statt fliegt; Owe statt Uwe Tab. 2: Übersicht zu allen getesteten Lese- und Rechtschreibfähigkeiten der beiden Fo‐ kuskinder Sena (1. Kohorte) und Hassan (2. Kohorte); fett gedruckt jeweils der erzielte Rohwert, in Klammern die insgesamt bearbeiteten Items Mit diesen Forschungsergebnissen kann die aufgestellte Hypothese, dass die neu zugewanderten Kinder der zweiten Kohorte schlechtere Lese- und Rechtschreib‐ fähigkeiten am Ende der ersten Jahrgangsstufe aufweisen als die Kinder der ersten Kohorte, für alle hier untersuchten Kategorien (Lesegeschwindigkeit, Leseverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene sowie Rechtschreibkompe‐ tenzen) unter einer quantitativen Perspektive als bestätigt gelten. Unter Ein‐ bezug der in Kapitel 3.2 dargelegten Kontextvariablen (s. Tab. 1) scheint sich dieses Ergebnis noch zu verschärfen. Zum einen weist die zweite Kohorte eine um durchschnittlich sieben Monate längere Kontaktzeit zum Deutschen auf (1. Kohorte: 2; 10 Jahre vs. 2. Kohorte: 3; 5 Jahre) und zum anderen geben die Mütter der zweiten Kohorte insgesamt betrachtet höhere Schulbzw. Bildungsab‐ schlüsse an als die Mütter der ersten Kohorte, sodass unter diesen Gesichts‐ punkten von besseren externen Bedingungen der zweiten Kohorte gesprochen werden kann. Hinsichtlich der qualitativen Datenanalyse konnte gezeigt werden, dass die basalen Lesefertigkeiten bei Sena und Hassan grundsätzlich ähnlich entwickelt sind. Während Sena bei den Aufgaben zur Lesegeschwindigkeit tendenziell besser abschnitt, erreichte Hassan bei den Aufgaben zum Wortverständnis einen höheren Punktewert. Im Hinblick auf Leseaufgaben mit größerem Anforde‐ rungscharakter (Leseversstehen auf Satz- und Textebene) schnitt Sena, das Mäd‐ chen, das unter regulären Lehr- und Lernbedingungen das erste Schuljahr ab‐ solvierte, deutlich besser ab als Hassan, der unter Corona-Bedingungen das erste 127 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder Schuljahr durchlief. In Bezug auf das Rechtschreiben sind insbesondere bei Hassan Interferenzfehler zu identifizieren, die auf die Phonologie der Erst‐ sprache zurückzuführen sind. Sena scheint das Lautinventar der deutschen Sprache bereits deutlicher wahrzunehmen, sodass die von ihr produzierten Fehlschreibungen hauptsächlich auf die Konventionen des deutschen Ortho‐ grafiesystems zurückzuführen sind. 4 Zusammenfassung und Diskussion Zusammenfassend kann unter einem quantitativen Blickwinkel festgehalten werden, dass die neu zugewanderten Kinder der zweiten Kohorte, die unter den pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernbedingungen das erste Schuljahr absolvierten, durchweg schlechtere Mittelwerte hinsichtlich aller in dieser Un‐ tersuchung betrachteten Lesefähigkeitsbereiche (Lesegeschwindigkeit, Lese‐ verstehen auf Wort-, Satz- und Textebene) und der Rechtschreibkompetenzen aufweisen als die neu zugewanderten Kinder der ersten Kohorte, die unter re‐ gulären Bedingungen die erste Klasse abschlossen. Diese Beobachtung kann auch unter einer qualitativen Perspektive bestätigt werden, wenn insbesondere Lesefähigkeiten mit einem höheren Anforderungscharakter (Leseverstehen auf Satz- und Textebene) sowie die interferenzbedingten Rechtschreibfehler be‐ trachtet werden. Aus diesen Ergebnissen sollen abschließend Konsequenzen für organisatori‐ sche und didaktische Entscheidungen hinsichtlich der Sprachförderung und Di‐ agnose neu zugewanderter Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule ab‐ geleitet werden, die über die pandemiebedingte Situation hinausweisen. Die Frage, welche Faktoren den Zweitspracherwerb - und damit auch den Schriftspracherwerb in der Zweitsprache - beeinflussen, ist nicht einfach zu beantworten, da sich zahlreiche Faktoren der direkten Beobachtung entziehen (vgl. Kniffka / Siebert-Ott 2012: 59) und oftmals nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sich vielmehr gegenseitig beeinflussen. Trotzdem soll im Fol‐ genden auf möglicherweise lernförderliche Umgebungsfaktoren hingewiesen werden, die sich insbesondere auf die hier im Fokus stehende LernerInnen‐ gruppe der neu zugewanderten Kinder im Anfangsunterricht der Grundschule beziehen. In Anlehnung an Jeuk (2015), der die Einflussfaktoren nach Klein (1992) in drei Grundkomponenten bündelt (Antrieb, Fähigkeiten und Zugang), ist es für den in diesem Beitrag zugrunde liegenden Kontext insbesondere der Faktor Zugang, auf den explizit verwiesen werden soll. Die Kinder der ersten Kohorte haben aufgrund der regulären Beschulungssituation deutlich mehr Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten zur deutschen Sprache als die 128 Jessica Lindner 17 In diesem Zusammenhang sei auf eine - zwar ältere, aber aktuell sehr relevante - Studie von Röhr-Sendlmeier (1985) verwiesen, die eine starke Korrelation zwischen dem sprachlichen Entwicklungsstand in der Zweitsprache Deutsch bei türkischsprachigen Kindern und den Kontaktmöglichkeiten zur Zielsprache Deutsch identifizierte. Kinder der zweiten Kohorte, die während der pandemiebedingten Schulschlie‐ ßungen in ihrem familiären Umfeld hauptsächlich ihre Herkunftssprachen nutzten, sodass die deutsche Sprache an lebensweltlicher Relevanz verlor. Zu‐ sätzlich ist die Konzeption des Unterrichts in den beiden hier vorliegenden Er‐ werbskontexten sehr unterschiedlich. Das (Sprach-)Lernen ist für die Kinder der zweiten Kohorte stark ins familiäre Umfeld verschoben, da durch die Maß‐ nahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht nur die Schulen ge‐ schlossen, sondern auch Kontexte der Freizeitgestaltung (z. B. soziale Kontakte in der Nachbarschaft, Besuche auf dem Spielplatz) stark eingeschränkt sind, so‐ dass auch weitere Sprachlerngelegenheiten des Zweitspracherwerbs weg‐ fallen. 17 Die Familie stellt grundsätzlich einen wichtigen - während der Schul‐ schließungen allerdings den primären - Bildungsort der Kinder dar. Entscheidende Bezugsgrößen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Familien‐ zusammensetzung, die Migrationsbiografie, die Familiensprache(n), die Bil‐ dungserfahrungen und -erwartungen der Eltern, die Wohn- und Arbeitssitua‐ tion sowie der sozioökonomische Status (vgl. Neuenschwander 2021). Neben diesen allgemein gehaltenen Einflussfaktoren sei auch auf spezifische Prädiktoren des Schriftspracherwerbs verwiesen. In diesem Zusammenhang und unter Einbezug der neu zugewanderten Kinder sei insbesondere auf die gesprochen-sprachlichen Fähigkeiten verwiesen. Crämer / Schumann (2002: 257) halten in Bezug auf die lautsprachliche Entwicklung fest: „Der Schrift‐ spracherwerb lässt sich als ein Teil des Spracherwerbs betrachten, er ist auch auf der Basis der bereits weitgehend entwickelten lautsprachlichen Fähigkeiten zu verstehen“. Die Bedeutung der gesprochen-sprachlichen Fähigkeiten ist im vorliegenden Beitrag insbesondere bei der qualitativen Analyse der empirischen Daten verdeutlicht worden (s. Kap. 3.4.2): Bei beiden Fokuskindern konnte die Bedeutung der phonologischen Wahrnehmung der Zweitsprache Deutsch so‐ wohl für das Lesen als auch das Rechtschreiben gezeigt werden, wobei insbe‐ sondere bei Hassan, dem Kind, bei dem aufgrund der pandemiebedingten Ein‐ schränkungen weniger Kontakt zur deutschen Sprache bestand, Rückgriffe auf die Phonologie der Erstsprache zu identifizieren sind. In Bezug auf den An‐ fangsunterricht der Grundschule ist es daher für die LernerInnengruppe der neu zugewanderten Kinder empfehlenswert, einen umfangreichen und gehaltvollen Input in der Zweitsprache Deutsch zu ermöglichen und sprachkontrastiv zu arbeiten, indem spielerisch Vergleiche zwischen den Lautsystemen der Erst- und 129 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten neu zugewanderter Kinder Zweitsprache vorgenommen werden. Eine weitere Möglichkeit sind gezielte Wahrnehmungs- und Aussprachetrainings, die beispielsweise über Minimal‐ paare die Klang- und Bedeutungsunterschiede der Vokale herausarbeiten. Zu‐ sätzlich kann die Wahrnehmung der unterschiedlichen Laute über den Einsatz von Lautgebärden unterstützt werden (vgl. z. B. Schäfer 2008). Da die Umsetzung dieser Vorschläge im Distanzunterricht nur schwer realisierbar ist, soll an dieser Stelle dafür plädiert werden, dass insbesondere Kinder, die im Elternhaus nur wenig Unterstützungsmöglichkeiten (in der Zweitsprache Deutsch) erhalten, priorisiert wieder am Präsenzunterricht teilnehmen dürfen sollten, sodass ihr Lernweg von Seiten der Institution Schule begleitet werden kann. Abschließend sei noch auf die Diagnosepraktiken im hier vorliegenden Kon‐ text hingewiesen. Im Deutsch-als-Zweitsprache-Kontext stellt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage nach einer passenden Bezugsnorm, die ein aussagekräftiges Testergebnis bedingt. Neben dem biologischen Alter, wel‐ ches im monolingualen Erwerb als primärer Vergleichsfaktor herangezogen wird, spielen auch das Alter bei Erwerbsbeginn, die Kontaktdauer zur deutschen Sprache und die (erst-)sprachlichen Fähigkeiten eine nicht zu vernachlässigende Einflussgröße. Damit können Verfahren, die für den Erwerb des Deutschen als Erstsprache konzipiert wurden, nicht einfach für die Abbildung des Zweitspra‐ cherwerbs herangezogen werden (vgl. Gogolin 2010: 1313). Da es nur wenige Diagnoseinstrumente gibt, die ein mehrsprachiges Aufwachsen explizit in ihrer Konzeption und in der zugrundeliegenden Bezugsnorm berücksichtigen, können die Ergebnisse in der Regel nicht präzise abgebildet werden. So spielen bei den in dieser Arbeit herangezogenen Testverfahren neben den zu überprüf‐ enden Merkmalen der Lesegeschwindigkeit, des Leseverständnisses und der Rechtschreibkompetenzen weitere sprachgebundene Fähigkeiten, wie beispiels‐ weise lexikalische und grammatikalische Kompetenzen in der Zweitsprache, eine große Rolle. In der Praxis bewährt es sich deshalb, eine individuelle Be‐ zugsnorm heranzuziehen und die Testergebnisse nur mit vorausgegangenen Ergebnissen derselben ProbandInnen zu vergleichen bzw. eine soziale Bezugs‐ norm nur zwischen Kindern mit vergleichbaren Erwerbsbedingungen anzu‐ legen. Es sollte im Rahmen dieses Beitrags deutlich geworden sein, dass auch über die pandemiebedingte Situation hinaus bestimmte Einflussfaktoren, Unterstüt‐ zungsmöglichkeiten und Diagnosepraktiken im Zusammenhang mit neu zuge‐ wanderten Kindern Berücksichtigung in der Konzeption des Anfangsunter‐ richts der Grundschule finden sollten, damit zukünftig mehr Chancengerechtigkeit auf Bildungserfolg und zur gesellschaftlichen Teilhabe 130 Jessica Lindner ermöglicht wird. Abschließend soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass gerade in diesem Kontext noch zahlreiche Forschungsdesiderata bestehen. 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Vielmehr wirken sich unterschiedliche Faktoren darauf aus, ob Lerner: innen den vor den Schulschließungen erreichten Erwerbsstand halten können, von Lernrückgängen betroffen sind oder auch Lernzuwächse verzeichnen können. Individuelle Faktoren und Lernbedingungen prägen mit, wie sich Schulschließungen auf den Sprachausbau niederschlagen. 1 Einführung Die durch die COVID -19-Pandemie bedingten Schulschließungen gehören mit Sicherheit zu den einschneidendsten Maßnahmen innerhalb des deutschen Bil‐ dungssystems der vergangenen Jahrzehnte. Bekannt ist hierbei inzwischen, dass nicht alle Schüler: innen gleichermaßen von Maßnahmen wie temporären Schul‐ schließungen und damit verbundenem Distanzlernen betroffen sind. Für einige Schüler: innen bedeutete dies bloß eine Verlagerung des Lernortes und der Lehr- 1 Je nach Bundesland kann die konkrete Bezeichnung dieser Beschulungsform variieren, vgl. für einen terminologischen Überblick Massumi / von Dewitz (2015). und Lernbedingungen, für andere jedoch eine potentielle Lernunterbrechung. Gerade neu zugewanderte Schüler: innen, die im Begriff sind, sich die Grund‐ lagen der deutschen Sprache anzueignen, stehen dabei vor ganz besonderen Herausforderungen. Der folgende Beitrag richtet den Blick deshalb auf neu zugewanderte Schüler: innen in Vorbereitungsklassen und geht der Frage nach, ob das mit den pandemiebedingten Schulschließungen einhergehende Distanzlernen für diese Schüler: innengruppe als Lernunterbrechung betrachtet werden kann und ob eine solch potentielle Unterbrechung sich in der sprachlichen Entwicklung nie‐ derschlägt. Im Fokus steht der Erwerb der Verbstellung, ein in der Zweitspra‐ cherwerbsforschung besonders gut dokumentierter Erwerbsgegenstand, der sich deshalb als Vergleichsfolie eignet, um potentielle Auswirkungen des Dis‐ tanzlernens sichtbar zu machen. Anhand eines Korpus von Schreibprodukten aus dem Unterricht zweier Vorbereitungsklassen werden mithilfe eines profila‐ nalytischen Auswertungsverfahrens Sprachstände vor den ersten Schulschlie‐ ßungen (März 2020) und nach Wiederaufnahme des eingeschränkten Regel‐ schulbetriebs (Sommer 2020) verglichen. Ziel ist es, ein möglichst genaues Bild zu der Frage zu erhalten, ob und wie sich das pandemie- und schulschließungs‐ bedingte Distanzlernen auf den Erwerb von Verbstellungsmustern in der Zweit‐ sprache Deutsch niederschlägt. In Abschnitt 2 wird dazu zunächst eine Verortung der Situation neu zuge‐ wanderter Schüler: innen im deutschen Bildungssystem vorgenommen, Ab‐ schnitt 3 nähert sich dann der Frage, ob sich für diese Schüler: innen Schul‐ schließungen als Lernunterbrechungen einordnen lassen. Ausgehend von dieser allgemeinen Verortung widmet sich Abschnitt 4 dem Untersuchungsgegenstand und dabei dem Erwerb von Verbstellungmustern. Abschnitt 5 enthält die Dar‐ stellung der korpusanalytischen Untersuchung, deren Ergebnisse in Abschnitt 6 präsentiert werden. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion und einem Aus‐ blick in Abschnitt 7. 2 Neu zugewanderte Schüler: innen in Vorbereitungsklassen: Merkmale und Lernbedingungen Bei neu zugewanderten Schüler: innen, deren Deutschkenntnisse als nicht aus‐ reichend für eine Teilnahme am Regelunterricht eingestuft werden, erfolgt die Beschulung in Deutschland häufig in sogenannten Vorbereitungsklassen. 1 In 136 Julia Schlauch / Jana Gamper diesen Klassen lernen Neuzugewanderte entweder separiert (bzw. parallel) zum oder in Form einer Teilintegration auch im Regelunterricht. Je nach Modell va‐ riiert der soziale und dadurch auch sprachliche Kontakt zwischen Neuzuge‐ wanderten und Regelschüler: innen (vgl. für einen Überblick zu Beschulungs‐ modellen Ahrenholz et al. 2016, Massumi / von Dewitz 2015). Vorbereitungsklassen sollen allen voran grundlegende Deutschkenntnisse auf- und ausbauen sowie schul- und idealerweise auch fachspezifisches Wissen vermit‐ teln. Der Besuch einer Vorbereitungsklasse ist in der Regel auf eine zeitliche Höchstdauer begrenzt (vgl. für einen Überblick Gamper / Schroeder 2021: 65). Vorbereitungsklassen zeichnen sich durch eine hochgradige Heterogenität auf unterschiedlichen Ebenen aus: Neben unterschiedlichen Beschulungsmodellen kommen lernerinterne und -externe Heterogenitätsfaktoren wie das Alter, ver‐ schiedene Herkunftssprachen oder der familiäre Bildungshintergrund hinzu, die das (Sprach-)Lernen maßgeblich beeinflussen können (vgl. für einen Überblick Gamper et al. 2020a). Lehrkräfte bringen unterschiedliche theoretische und praktische Erfahrungen im Umgang mit Zweitsprachlerner: innen mit, nicht immer werden sie im Unterricht durch weitere Fachkräfte unterstützt, nicht immer sind sie als vollwertige Mitglieder ins Kollegium eingebunden (vgl. Gamper et al. 2020b). Trotz dieser teils sehr herausfordernden Ausgangsbedingungen kommt Vor‐ bereitungsklassen eine Schlüsselrolle für eine erfolgreiche Integration neu zu‐ gewanderter Schüler: innen zu. Zentral ist dabei die Rolle der Lehrkraft, die oft‐ mals nicht nur ein wichtiges Sprachvorbild, sondern darüber hinaus oft die wichtigste Ansprechperson ist, wenn es um Unterstützung inner- und außerhalb der Schule geht. Auch in Hinblick auf den Ausbau sprachlicher Fertigkeiten im Deutschen nehmen Vorbereitungsklassen eine Schlüsselfunktion ein. Gerade in parallelen Modellen, wo der Kontakt zu deutschsprachigen Mitschüler: innen eingeschränkt ist, findet ein großer Teil des Sprachlernens in den Vorberei‐ tungsklassen selbst statt. Zusammengenommen können Vorbereitungsklassen als soziale Räume ver‐ standen werden, die sowohl den Spracherwerb als auch das soziale Miteinander unter neu zugewanderten Schüler: innen und ihren Lehrpersonen entscheidend mitprägen. Als solche besonderen Formen schulischen Sprachunterrichts standen und stehen Schüler: innen und Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen im Zuge der pandemiebedingten Schulschließungen auch vor besonderen Heraus‐ forderungen. 137 Unterbrochenes Lernen? 2 Auch wenn sich diese Angaben auf den ersten Lockdown (16. März bis 02. Juni 2020) beziehen und im Laufe des Jahres 2020 mehr Schüler: innen mit mobilen Endgeräten ausgestattet wurden, hat sich im Laufe eines Pandemiejahres keine grundlegende Ver‐ änderung dieser Lage abgezeichnet. 3 Pandemiebedingte Schulschließungen als Lernunterbrechungen Mit den am 16. März 2020 pandemiebedingt bundesweit eingeführten Schul‐ schließungen bzw. den Beschränkungen des Schulzugangs in Form von Notbetreuungsregelungen, musste auch für die meisten Schüler: innen aus Vorberei‐ tungsklassen das Sprachlernen und -lehren in den privaten Raum verlegt werden. Offen ist bisher, ob und wie sich die Verlagerung des Unterrichts in außerschulische Räume und damit einhergehende Veränderungen von Lehr‐ prozessen auf das Sprachlernen ausgewirkt hat. 3.1 Schulschließungen und ihre Folgen Im Allgemeinen lassen sich zunächst potentiell positive, jedoch auch einige ne‐ gative Auswirkungen formulieren, die aus der pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernsituation erwachsen. Als positive Effekte werden oftmals der Zwang zur Digitalisierung und ein damit einhergehender Zuwachs digitaler Kompetenzen bei Schüler: innen und Lehrkräften (vgl. Klein 2020, Eickelmann 2020), ein Zuwachs an Selbstständigkeit beim Lernen sowie eine bessere und effektivere Einbindung von Eltern in den schulischen Lernprozess (vgl. Klein 2020, Porsch / Porsch 2020, Tengler et al. 2020) benannt. Zugleich sind all diese potentiell positiven Effekte an Voraussetzungen wie den Zugang zu digitalen Geräten, die Existenz eines Arbeitsplatzes im privaten Umfeld sowie an ein Mi‐ nimum an sprachlichen und fachlichen Kompetenzen seitens der Schüler: innen und Erziehungsberechtigten geknüpft. Solch notwendige Ressourcen sind je‐ doch in hohem Maße abhängig von sozialen Faktoren: ‚Bildungsfernere‘ Fami‐ lien haben häufiger geringere Ressourcen als ‚bildungsnähere‘ (vgl. Bol 2020, Porsch / Porsch 2020), der familiäre Hintergrund beeinflusst auch den Grad der Selbstständigkeit beim Lernen (vgl. Huber / Helm 2020). Nur ein Fünftel der Lehrkräfte nutzte während der Schulschließungen Videochats oder ähnliche Formate für den gemeinsamen Online-Unterricht (Huebener et al. 2020, Eickel‐ mann / Drossel 2020). 2 Die meisten Schüler: innen mussten die auf anderem Wege (z. B. Mail, Messenger oder Post) übermittelten Aufgaben weitgehend selbst‐ ständig bearbeiten. Dabei zeichnet sich relativ deutlich ab, dass sich besonders bei leistungsschwächeren sowie Schüler: innen aus nicht-akademischen Fami‐ lien die Lernzeit insgesamt stark verringerte (vgl. Wößmann et al. 2020). 138 Julia Schlauch / Jana Gamper 3 Hierbei handelt es sich um von der Hamburger Schulbehörde finanzierte Ferienkurse, in denen Schüler: innen vermeintliche Lernrückstände aufholen können sollen (https: / / www.hamburg.de/ bsb/ pressemitteilungen/ 14955750/ 2021-03-10-bsb-lernferien-2021/ ). Erste empirische Studien zu der Frage, ob und wie Schulschließungen sich auf die Lernentwicklung von Schüler: innen niederschlagen, zeichnen ein in‐ konsistentes Bild. Während Engzell et al. (2021) für Schüler: innen der Primar‐ stufe in den Niederlanden basierend auf Ergebnissen von Schulvergleichsar‐ beiten aus den Jahren 2017 bis 2020 zum Befund kommen, dass besonders Schüler: innen aus sozial benachteiligten Milieus in allen Kernkompetenzen (Lesen, Sprechen, Mathematik) einen deutlichen Lernrückgang aufweisen, kann ein Lernstandsvergleich des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsent‐ wicklung (If BQ ) in Hamburg dies für die Jahrgangsstufen 4, 5 und 7 nur bedingt bestätigen (Depping et al. 2021). Zwar weisen Schüler: innen in sozial niedrigeren Milieus eine deutlich höhere Dropout-Quote in Lese- und Mathematiktests auf, die durchschnittlichen Leistungen verändern sich bei von Schulschlie‐ ßungen betroffenen Schüler: innen deshalb jedoch nicht. Depping et al. (2021) führen diese gemischten Befunde einerseits auf die veränderte Lernsituation und andererseits auf kompensatorische Maßnahmen wie die ‚Lernferien‘ in Hamburg 3 zurück, die u. U. einen starken Lernrückgang verhindert haben. Zusammengenommen machen nahezu alle Studien einen negativen Effekt des familiären Hintergrundes dahingehend aus, dass Schüler: innen aus bil‐ dungsbenachteiligten Milieus von Lernrückständen bedroht sind, wenn der Zu‐ gang zur Schule unterbrochen wird. Obwohl viele Lehrkräfte gerade bei leis‐ tungsschwächeren Schüler: innen aus prekären familiären Kontexten um eine intensive individuelle Betreuung bemüht sind (vgl. Bol 2020, Huber / Helm 2020), befürchtet Danzer (2020), dass sich familiär bedingte Unterschiede in einer zunehmenden Bildungsbenachteiligung niederschlagen. 3.2 Potentielle Folgen für neu zugewanderte Schüler: innen Welche Erkenntnisse sich aus den bisherigen Befunden für neu zugewanderte Schüler: innen ableiten lassen, lässt sich bisher nur hypothetisch beantworten bzw. ist an dieser Stelle nur unter Rückgriff auf den (problematischen, da ver‐ allgemeinernden) Begriff Migrationshintergrund zu konstruieren. Personen mit Migrationshintergrund, zu denen auch Neuzugewanderte zählen, sind in nied‐ rigeren sozio-ökonomischen Milieus überrepräsentiert (vgl. Lüde‐ mann / Schwerdt 2013, Kollender / Nimer 2020) und somit in besonderem Maße von den oben beschriebenen Negativfaktoren betroffen. Zugewanderte Schüler: innen mit eigener Migrationserfahrung bringen geringere digitale Kom‐ petenzen mit als ihre gleichaltrigen Mitschüler: innen (vgl. Eickelmann et al. 139 Unterbrochenes Lernen? 2019), haben deutlich seltener Zugang zu Computern oder Laptops (vgl. Emmer et al. 2016, Stapf 2017), ihre generellen Arbeitsbedingungen sind aufgrund be‐ engter Wohnverhältnisse und geringeren materiellen Ressourcen (vgl. Geis-Thöne 2020) erschwert. Hinzu kommt unter Umständen eine enorme psy‐ chische Belastung, teils aufgrund der Aussetzung des Familiennachzugs, teils aufgrund drohender Abschiebungen angesichts eines (pandemiebedingt zusätz‐ lich) erschwerten Zugangs zum Ausbildungsmarkt, der nach dem Schulab‐ schluss Voraussetzung für ein Bleiberecht ist (vgl. Kollender / Nimer 2020). Schüler: innen in Vorbereitungsklassen sind zudem in hohem Maße auf ein soziales Miteinander und aus den Vorbereitungsklassen heraus wachsende so‐ ziale Netzwerke angewiesen, die maßgeblich das sprachliche Lernen bedingen. All dies bricht genauso weg wie der für diese Schüler: innen so essentielle per‐ sönliche Kontakt zur Lehrkraft (vgl. Primdahl et al. 2020, Popyk 2020). Die be‐ schriebenen herausfordernden Faktoren werden bei dieser Lerner: innengruppe ganz besonders durch die Tatsache erschwert, dass sie sich mitten im elemen‐ tarsten Sprachlernprozess befinden. Ein Minimum an sprachlichen Kompe‐ tenzen ist jedoch Voraussetzung für (selbstständiges) Distanzlernen. Zusammengefasst lässt sich folgern, dass Distanzlernen angewiesen ist auf sprachliche, materielle und familiäre Ressourcen, die vor allem für neu zuge‐ wanderte Schüler: innen oft nicht verfügbar sind. Insgesamt haben neu zuge‐ wanderte Schüler: innen in Vorbereitungsklassen nach bisherigem Erkenntnis‐ stand denkbar ungünstige Voraussetzungen, um das Lernen im Allgemeinen und das für sie zentrale Sprachlernen im Besonderen trotz Schulschließungen aufrechtzuerhalten. Es lässt sich deshalb vermuten, dass für viele der Neuzuge‐ wanderten Schulschließungen eine Form der Lernunterbrechung darstellen, da die gewohnten lernförderlichen Strukturen und Rahmenbedingungen, die Sprachlernen überhaupt erst ermöglichen, wegbrechen. 3.3 Lernunterbrechungen im Kontext der sprachlichen Entwicklung Lernunterbrechungen sind per se keine Ausnahmeerscheinung. Bei Neuzuge‐ wanderten und hierbei besonders bei Geflüchteten findet (manchmal) eine mi‐ grationsbedingte Unterbrechung des schulischen Lernens statt. Man spricht in diesen Fällen von students with interrupted formal education ( SIFE ) bzw. von students with limited or interrupted formal education ( SLIFE ; vgl. z. B. Dooley 2009, Hos 2016, Miller et al. 2005) und damit von Lerner: innen, die über einen meist längeren Zeitraum keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen hatten, etwa weil sie in Flüchtlingsunterkünften untergebracht waren, ihr Bleiberecht unklar war und / oder sie in ihren Herkunftsländern keinen oder nur eingeschränkten Zugang zur Bildung erhalten haben. Diese Lerner: innen sind häufig in Hinblick 140 Julia Schlauch / Jana Gamper auf (schrift-)sprachliche Kompetenzen nicht ‚altersgemäß‘ entwickelt, wobei sich Abweichungen einer altersgemäßen Entwicklungen sowohl für die Erstals auch für die Zweitsprache ergeben. Bei SIFE / SLIFE hat eine Lernunterbre‐ chung damit bereits vor dem Eintritt in ein neues Schulsystem stattgefunden. Innerhalb des Schulsystems wird besonders bei längeren Ferien (d. h. v. a. im Sommer) ein sog. Ferieneffekt (auch: summer setback oder summer learning loss) ausgemacht. Ein ferienbedingter Lernrückgang (bspw. im Bereich des Lesens oder in Mathematik) oder eine Lernstagnation wird hierbei besonders bei sozial benachteiligten bzw. lernschwächeren Schüler: innen (vgl. z. B. Alexander et al. 2007, Menard / Wilson 2013) sowie bei Schüler: innen mit Migrationshintergrund (vgl. Becker et al. 2008) ausgemacht, wobei eine Interferenz beider Faktoren wahrscheinlich ist (vgl. Siewert 2013). Auch Faktoren wie Wohnort und dabei besonders spezifische Stadtteile (vgl. Siewert 2013) sowie der individuelle vor‐ herige Lernzuwachs (vgl. Kuhfeld 2019) können die Existenz sowie das Ausmaß eines Ferieneffekts beeinflussen. Zur Abmilderung von Ferieneffekten für be‐ troffene Schüler: innen haben sich Sommer-/ Ferienlernprogramme als hilfreich erwiesen (vgl. u. a. Stanat et al. 2005, Kowoll et al. 2013). Solche Sommerlernan‐ gebote wurden, teils gezielt für lernschwächere Schüler: innen oder solche mit geringen Deutschkenntnissen, in einigen Bundesländern im Sommer 2020 als Reaktion auf die pandemiebedingten Schulschließungen angeboten (z. B. in Berlin und Nordrhein-Westfalen). In den meisten Fällen basierte jedoch sowohl die Ausrichtung von Ferienprogrammen durch die Schulen als auch der Besuch entsprechender Kurse auf freiwilliger Basis, sodass auch hier vermutlich erneut familiäre und materielle Ressourcen die Teilnahme mit beeinflusst haben. Zusammengenommen können pandemiebedingte Schulschließungen zwar nicht pauschal als Formen der Lernunterbrechung verstanden werden, bei neu zugewanderten Schüler: innen kumulieren sich die Risikofaktoren jedoch inso‐ fern, als Schulschließungen auch (zeitweise) Lernunterbrechungen bedeuten. Sprachlernen hat somit u. U. für die Schüler: innen nicht oder nur stark einge‐ schränkt stattgefunden. Betrachtet man diese Annahme im Kontext von Lern‐ unterbrechungen im Allgemeinen, so drängt sich die Vermutung auf, dass die Unterbrechung gerade aufgrund der oben beschriebenen ungünstigen Aus‐ gangsbedingungen zu einem Lernrückgang oder einer Lernstagnation beige‐ tragen haben kann. Diese Annahme soll im Folgenden mithilfe einer Korpus‐ studie überprüfen werden. Wir konzentrieren uns dabei auf die Entwicklung von Verbstellungsmustern. 141 Unterbrochenes Lernen? 4 Verbstellungsmuster im Zweitspracherwerb Die Entwicklung von Verbstellungsmustern im Deutschen gehört in der Zweit‐ spracherwerbsforschung zu den am umfassendst beforschten Gegenständen. Grund dafür ist neben der Komplexität des Gegenstandes, also die im Deutschen je nach Satztyp variierende Position des Finitums, die Annahme, dass das Verb eine zentrale Funktion im Erwerb von Satz- und Wortstellungsmustern und in der gesamtsprachlichen Entwicklung einnimmt (vgl. Settinieri / Spaude 2014). Eine solche Stellvertreterfunktion des Verbs wird auch in inzwischen etablierten diagnostischen Verfahren wie der Profilanalyse nach Grießhaber (z. B. 2013) an‐ genommen, bei der die Verbstellung einen Indikator für bspw. Entwicklungs‐ verläufe im Bereich der Nominalflexion, des Wortschatzzuwachses oder des Gebrauchs kohäsionsstiftender Mittel im Bereich des Schreibens von Texten darstellt (vgl. Grießhaber 2005, 2013). Weitgehend gesichert in Hinblick auf die Entwicklung von Verbstellungs‐ mustern ist die Erkenntnis, dass sie in aufeinander aufbauenden (graduellen) Etappen erworben werden. In Tabelle 1 sind die Profilstufen, wie Grießhaber sie beschreibt, in erwerbskonzeptioneller Reihenfolge aufgeführt. Profil‐ stufen Beschreibung Verbstellungs‐ muster Beispiele 0 Bruchstücke - Aber die Biene nicht weg Der Wintersporttag (Überschrift) 1 Finitum SVX ASV(X) Er nimmt den Teller. Dann Vater war sehr sauer 2 Separation SVV SVXV Wir haben gegessen Der Zug ist um 12 Uhr gekommen 3 Inversion AVX(V) Morgen ist das Wetter kalt 4 Nebensatz CSVX CSXV(V) dass er muss seinen Kopf benutzen Wenn ich in New York wäre, … …, weil es sehr schön ist Tab. 1: Profilstufen nach Grießhaber (2018: 8), ergänzt um zugehörige Verbstellungs‐ muster und Beispiele aus dem Untersuchungskorpus; S = Subjekt; V = Verb; X = nominale oder präpositionale Konstituente; A = Adverbial; C = Konnektor (v. a. Konjunktionen) Ergänzt werden diese durch eine Darstellung der zugrunde liegenden Verbstel‐ lungsmuster sowie entsprechenden Lerner: innenäußerungen aus dem Unter‐ suchungskorpus, darunter v. a. Verbdrittsätze ( ASV (X)), nicht separierte Ver‐ 142 Julia Schlauch / Jana Gamper 4 VERA steht für VERgleichsArbeiten, deren Durchführung in den Jahrgangsstufen drei und acht bundesweit obligatorisch ist (s. https: / / www.iqb.hu-berlin.de/ vera [28. 06. 2021]). bklammern ( SVV ) oder Verbzweitstellung bei subordinierenden Nebensätzen ( CSVX ), die in Lerneräußerungen durchaus frequent sind, aber in der Profil‐ analyse nicht im Detail berücksichtigt werden, obwohl sie teils als eigenständige Erwerbsstufen betrachtet werden können (vgl. z. B. Czinglar 2014). Diese Erwerbsetappen scheinen weitgehend robust gegen Faktoren wie bei‐ spielsweise das Alter (vgl. Czinglar 2014), die Herkunftssprache (vgl. Haberzettl 2005) oder die Unterrichtsprogression zu sein (vgl. z. B. Ellis 1989). Während sich die Erwerbsetappen als ‚überindividuelle‘ Erwerbsmerkmale einordnen lassen (vgl. Dimroth 2019), finden sich teils deutliche individuelle Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit. Faktoren wie die Quantität und Qualität des deutsch‐ sprachigen Inputs sowie der familiäre Hintergrund und damit einhergehende Literalitätserfahrungen von Lerner: innen können einen starken Einfluss auf die Erwerbsgeschwindigkeit haben (vgl. Czinglar 2018). Für jugendliche Lerner: innen in Vorbereitungsklassen liegen u. W. bisher keine systematischen Erkenntnisse zur Sprachlernprogression im Allgemeinen sowie zum Erwerb von Wort- und Verbstellungsmustern im Besonderen vor. Erschwert werden entsprechende empirische Arbeiten durch die enorme Hete‐ rogenität der Lerngruppe (vgl. Gamper et al. 2020a), welche es außerdem er‐ schwert, potentielle Auswirkungen von Schulschließungen auf die Erwerbs‐ progression greifbar zu machen. 5 Korpusanalytische Untersuchung Bevor wir im Folgenden auf das empirische Untersuchungsdesign eingehen, müssen vorab einige grundsätzliche methodische Aspekte hinsichtlich der hier fokussierten Forschungsfrage dargelegt werden. Für Neuzugewanderte in Vor‐ bereitungsklassen liegen weder umfassende empirische Erkenntnisse zu Er‐ werbsverläufen noch Daten aus Vergleichsarbeiten (bspw. im Sinne von VERA 8) 4 vor. Es fehlt somit eine Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund sich eindeutig abschätzen lässt, ob pandemiebedingte Schulschließungen tatsächlich zu Lern‐ unterbrechungen und dabei zu Lernverzögerungen oder gar -rückschritten ge‐ führt haben. Dieser Umstand muss bei der Interpretation der Daten im Fol‐ genden entsprechend berücksichtigt werden. 143 Unterbrochenes Lernen? 5.1 Forschungsfragen Trotz der methodischen Hürden wird im Folgenden der Versuch unternommen, am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung nachzuvollziehen, ob die sprach‐ liche Entwicklung neu zugewanderter Schüler: innen von den pandemiebe‐ dingten Schulschließungen beeinflusst wird. Diese Frage wird mithilfe eines Lernertextkorpus angegangen, bei dem Texte zu zwei Messzeitpunkten vergli‐ chen wurden. Der erste Messzeitpunkt (T1) umfasst den Lernstand kurz vor den Schulschließungen (Februar / März 2020), der zweite (T2) den nach Wiederauf‐ nahme des (eingeschränkten) Regelbetriebs ( Juni / Juli 2021). Wir gehen dabei der Frage nach, ob sich am Beispiel der Verbstellung Unterschiede zwischen den beiden Messzeitpunkten zeigen. Denkbar sind dabei drei Szenarien: 1. In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 höhere Erwerbsstufen als in T1. Das Distanzlernen hätte damit keinen negativen Einfluss auf die Sprachentwicklung. 2. In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 niedrigere Erwerbsstufen als in T1. Das Distanzlernen hätte damit hypothetisch einen negativen Einfluss dahingehend, dass Lerner: innen ihren Lernstand nicht halten können. 3. In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 keine Un‐ terschiede zu T1. Eine solche Stagnation kann dabei entweder auf eine pandemiebedingt langsamere Entwicklung hindeuten oder aber in der individuellen Erwerbsgeschwindigkeit begründet liegen. Denkbar ist angesichts der großen Heterogenität der Lernvoraussetzungen, dass ein Nebeneinander aller drei Szenarien vorzufinden ist. Dabei ist Szenario (3) im Kontext einer Sprachentwicklungsperspektive grade aufgrund des Vorhan‐ denseins unterschiedlicher Erwerbsgeschwindigkeiten (vgl. Czinglar 2018) das‐ jenige, das mit Blick auf die Frage, ob und welche Auswirkungen das Distanz‐ lernen auf die Sprachentwicklung hat, am schwierigsten zu interpretieren ist. Langsamere Lerner: innen würden u. U. auch im Präsenzunterricht im Laufe von etwas drei bis vier Monaten, die zwischen T1 und T2 liegen, nicht zwangsweise eine höhere Stufe bei der Verbstellung erreichen. Umgekehrt ist das Erreichen einer höheren Stufe (also Szenario 1) per se ein Entwicklungserfolg, wenn man bedenkt, dass knapp drei Monate ein vergleichsweise kurzer Zeitraum sind. In jedem Fall offenbart sich für Szenario 3 die Problematik der fehlenden Ver‐ gleichsfolie, vor deren Hintergrund bspw. abschätzbar wäre, wie lange Lerner: innen im Schnitt zum Erreichen einer bestimmten Stufe benötigen und welche Lernvoraussetzungen den Lernprozess beschleunigen oder verlang‐ 144 Julia Schlauch / Jana Gamper 5 Auf Grundlage dieses Kriteriums wurden zunächst erhobene Texte von Schüler: innen aus einer weiteren Vorbereitungsklasse aus der Untersuchung ausgeschlossen. 6 Für eine Verteilung der Texte auf die beiden Messzeitpunkte s. Tab. 2. samen. In der folgenden Datenanalyse liegt der Fokus auf der detaillierten Be‐ trachtung individueller Profile für die beiden betreffenden Messzeitpunkte. 5.2 Textkorpus Das erhobene Textkorpus umfasst frei geschriebene Texte aus zwei Vorberei‐ tungsklassen in zwei Bundesländern. Lehrkräfte wurden gebeten, (weitgehend) frei geschriebene Texte zusammenzustellen, die im Unterrichtsverlauf kurz vor den Schulschließungen (Februar / März 2020 (T1)) und kurz nach Wiederauf‐ nahme des eingeschränkten Regelbetriebs ( Juni / Juli 2020 (T2)) geschrieben wurden. Nicht in Frage kamen schriftliche Übungen in Form von Lückentests, Satzbildungsaufgaben sowie Texte, die zuvor in Form von Wortschatz- oder Strukturübungen angeleitet und vorbereitet wurden. 5 Eine kontrollierte Erhe‐ bung von (ggf. auch mündlichen) Sprachdaten war für T1 aus offensichtlichen Gründen nicht möglich. Insgesamt konnten 45 Texte von 16 Schüler: innen gesammelt werden, 21 davon für T1 und 24 für T2. Die Texte variierten in Hinblick auf die Aufgaben‐ stellung sowohl zwischen den einzelnen Erhebungszeitpunkten als auch zwi‐ schen den Schulen. Neben Berichten zu schulischen Veranstaltungen (Turnier, Wintersporttag) finden sich Erzählungen auf Grundlage von Bildergeschichten (Fahrrad, Vater und Sohn), Beschreibungen (Meine Stadt, Einkaufstasche, Stutt‐ gart), Briefe (Bodensee, Umwelt) sowie Erzählungen zu individuellen Erlebnissen (Reise). Aufgrund der allgemeinen Ähnlichkeit der überwiegend erzählenden Textprodukte kann eine grundsätzliche Vergleichbarkeit der Texte ange‐ nommen werden. 6 Während aus Vorbereitungsklasse 1 (V1) nur drei Texttypen vorliegen, wurden in V2 insgesamt sieben verschiedene Texttypen gesammelt, wobei nicht jede: r Proband: in zu jeder Aufgabe einen Text verfasst hat (s. Tab. 2). Eine grundsätzliche Problematik des vorliegenden Korpus stellt die Vergleichbarkeit der beiden Erhebungszeiträume T1 und T2 dar. Eine idealerweise wiederholte Erhebung mit gleicher Aufgabenstellung bei T2 war jedoch aus organisatori‐ schen Gründen nicht möglich, da die Lehrkräfte den vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen Wiederaufnahme des eingeschränkten Regelbetriebs und den Sommerferien nutzten, um ‚im Stoff ‘ voranzukommen und keine Zusatzaufgaben im Unterricht einbinden konnten. 145 Unterbrochenes Lernen? 5.3 Proband: innen Das Korpus umfasst Texte von insgesamt 16 Schüler: innen, die sich in Bezug auf ihre Lernausgangsbedingungen teils sehr unterscheiden. Sprachbiographische Metadaten, wie Alter, Lerndauer, Sprachkenntnisse oder Beschulungsart, wurden mittels eines Fragebogens erfasst, der von der jeweiligen Lehrkraft aus‐ gefüllt wurde. Das Durchschnittsalter der Schüler: innen liegt bei 15,5 Jahren ( SD = 1,15; min. 14, max. 17), die durchschnittliche Kontaktdauer zum Deutschen bei 11,7 Kontaktmonaten ( SD = 5,28; min. 2, max. 22). 15 der 16 teilnehmenden Schüler: innen sind mehrsprachig, also entweder bilingual aufgewachsen oder sprachlernerfahren in mindestens einer weiteren Sprache außer Deutsch. Alle Schüler: innen sind zudem in ihrer / n Herkunftssprache / n alphabetisiert und weisen eine - weitgehend - normale Schulbesuchsdauer im Herkunftsland auf (s. Tab. 2). Die Lehrkräfte gaben in Bezug auf die Lernformate während des Distanzun‐ terrichts an, dass die Schüler: innen während der Schulschließung Pakete mit Lernmaterialien (in V1 digital, in V2 per Post) zum eigenständigen Arbeiten erhielten. In V1 unterstütze die Lehrkraft die Schüler: innen von Beginn der Schulschließungen an durch regelmäßige Videokonferenzen, sowohl in Form von Gruppenals auch Einzelvideoanrufen; in V2 wurde der persönliche Kon‐ takt via Messenger gehalten. Hinzu kommt in V1, dass die Schule bereits vor dem Lockdown mit einem schulinternen Lernserver gearbeitet hat, den auch die Schüler: innen in der Vorbereitungsklasse (sporadisch) nutzten. Die Arbeit mit digitalen Medien war dort somit nicht gänzlich neu. 5.4 Datenaufbereitung und -analyse Die erhobenen Texte wurden mithilfe des EXMAR a LDA -Partitur-Editors (vgl. Schmidt / Wörner 2014) nach modifizierter HIAT -Konvention (vgl. Rehbein et al. 2004) transkribiert und in satzwertige Äußerungseinheiten zerlegt, wobei Korrekturen berücksichtigt und kenntlich gemacht wurden. Das an Grießhaber (2013) angelehnte Vorgehen orientiert sich dabei nach Möglichkeit an der In‐ terpunktion der Schüler: innen. Anschließend wurden die Transkripte in Hin‐ blick auf die in Tabelle 1 dargestellten Verbstellungsmuster annotiert. Elliptische Strukturen werden dabei in Anlehnung an Grießhaber (2005: 12) analog zu voll‐ ständig verbalisierten Äußerungen annotiert, wenn die Äußerungen in dieser Form zielsprachlich waren. Diese Annotation ermöglicht zwei Formen der Auswertung: Zum einen kann für jeden Text im Sinne des profilanalytischen Vorgehens nach Grießhaber die jeweils erreichte Profilstufe ermittelt werden. Zum anderen kann ein Feinprofil des Textes mit der Häufigkeit einzelner Strukturmuster erstellt werden. Wäh‐ 146 Julia Schlauch / Jana Gamper rend Grießhaber ein Erwerbskriterium von mindestens drei Belegen für Ver‐ bstellungsmuster anwendet, um das Erreichen der entsprechenden Profilstufe zu attestieren (Grießhaber 2018: 13), erlauben die Feinprofile auch einen Blick auf die Anteile von Strukturen bzw. die Emergenz von Erwerbsstufen, die unter dem Erwerbskriterium bleiben. Diese in beiden Fällen möglichst deskriptive Annäherung an die schriftsprachliche Produktion von Verb- und Wortstellungs‐ mustern erfolgt im Folgenden jeweils individuell für die einzelnen Pro‐ band: innen. 6 Ergebnisse 6.1 Profilstufen vor und nach den Schulschließungen Zunächst erfolgte ein Vergleich der ermittelten Profilstufen ( PS ) aller Pro‐ band: innen für die Erhebungszeitpunkte T1 und T2. Tabelle 2 zeigt - neben den in Abschnitt 5.3 angesprochenen Metadaten - Anzahl und Typ der Textprodukte der einzelnen Proband: innen sowie eine Zuordnung zu den in Abschnitt 5.1 skizzierten Erwerbsszenarien. Liegen zu einem Erhebungszeitpunkt mehrere Texte eine: r Proband: in vor, die verschiedene Profilstufen aufweisen, wurde für den Vergleich jeweils der Text mit der höchsten Profilstufe zugrunde gelegt. Bereits auf Grundlage des Umstandes, dass für verschiedene Proband: innen zu einem Erhebungszeitpunkt Texte mit teils unterschiedlichen Profilstufen vorliegen, kommen Fragen nach der Reliabilität der Profilanalyse auf (vgl. zu Fragen der Testgütekriterien der Profilanalyse auch Ehl et al. 2018). Jenseits dieser grundsätzlichen diagnostischen Problematik finden wir eine große He‐ terogenität der Profile zum Zeitpunkt T1, die weder auf das Alter noch die Kon‐ taktdauer zurückgeführt werden kann. Exemplarisch zeigt sich dies bei den Proband: innen in V1 sowie durch den Vergleich der Proband: innen P5 und P14, die trotz jeweils gleicher Anzahl an Kontaktmonaten sehr unterschiedliche Pro‐ filstufen erreichen. Dieser Umstand zeigt u. E. deutlich, dass sich die eingangs skizzierte Heterogenität von Lerner: innen innerhalb einzelner Vorbereitungsklassen auch in unterschiedlichen sprachlichen Erwerbsständen niederschlagen kann. 147 Unterbrochenes Lernen? Tab. 2: Übersicht der Proband: innen und Ergebnisse des Profilstufenvergleichs zwischen T1 und T2; PS = Profilstufe; KM = Kontaktmonat (hier: Dauer des Schulbesuchs in Deutschland); ALB = Albanisch, BOS = Bosnisch, ENG = Englisch, GRE = Griechisch, HUN = Ungarisch, HRV = Kroatisch, ITA = Italienisch, KUR = Kurmancȋ, POL = Pol‐ nisch, SPA = Spanisch, SRP = Serbisch, THA = Thai, TUR = Türkisch, URD = Urdu 148 Julia Schlauch / Jana Gamper Mit Blick auf die Forschungsfrage und die daraus abgeleiteten drei Szenarien lässt sich durch den Vergleich der Gesamtprofilstufen in T1 und T2 kein klares Bild zeichnen: Bei neun Proband: innen findet sich kein Unterschied der Profil‐ stufen (Szenario 3), bei vier Proband: innen weisen die T2-Texte eine höhere Profilstufe auf als in T1 (Szenario 1) und bei drei Proband: innen findet sich in den T2-Texten eine niedrigere Profilstufe als in T1 (Szenario 2). Angesichts der beschriebenen großen Heterogenität der Proband: innen‐ gruppe ist es kaum überraschend, dass sich kein einheitliches Bild abzeichnet. In Bezug auf mögliche individuelle Einflussfaktoren zeigt sich jedoch, dass die Kontaktaufrechterhaltung während der Schulschließung einen möglichen Ein‐ fluss auf die sprachliche Entwicklung hat. Höhere Profilstufen bei T2 finden sich überwiegend in der Klasse V1. Über die Gründe hierfür lässt sich aufgrund der geringen Datenbasis nur spekulieren. In Frage kommt zum einen die Intensität des Kontakts, der in V1 durch regelmäßige und kontinuierliche Videokonfe‐ renzen von Beginn der Schulschließung an aufrechterhalten wurde. Ebenso denkbar sind individuelle Faktoren, hier insbesondere die Motivation der Schüler: innen: Alle drei Lerner: innen in V1 sollten nach den Sommerferien in eine Regelklasse wechseln und waren dadurch besonders motiviert, den An‐ schluss nicht zu verlieren. Denkbar ist auch, dass eine Mischung aus individu‐ ellen motivationalen Faktoren und einer intensiven Betreuung durch die Lehr‐ kraft eine potentielle Lernunterbrechung bei Schüler: innen der V1 eher verhindert hat. Einen starken Einfluss scheint die bei T1 bereits erreichte Profilstufe zu haben. Bei drei von vier Proband: innen, die in T1 eher niedrigere Stufen (Finitum, Sepa‐ ration) erreichen, zeigt sich in T2 eine höhere Profilstufe (P2, P3, P16). Bei Pro‐ band: innen, deren Texte bei T1 höhere Stufen erreichen (Inversion, Nebensatz mit Verbletztstellung), finden sich überwiegend keine Veränderungen in der Pro‐ filstufe in T2 (P1, P4, P6, P7, P9, P10, P11, P12, P13). Bei Proband: innen, deren Sprachstand bei T1 eher auf den niedrigeren Profilstufen (Stufen 1 oder 2) anzu‐ siedeln war, scheint eine Verbesserung wahrscheinlicher als bei denjenigen, die sich vor den Schulschließungen auf höheren Stufen (Stufen 3 oder 4) befanden. Eine oberflächlich erscheinende Stagnation bei letzteren Schüler: innen kann dabei auch auf eine grundsätzlich längere Verweildauer auf höheren Erwerbs‐ stufen zurückführbar sein. Generell ist es erstaunlich, dass grade diejenigen Lerner: innen, die einen eher niedrigen Sprachstand aufweisen, zu denjenigen zählen, die ihre Fähigkeiten trotz der veränderten und erschwerten Lernbedin‐ gungen ausbauen können. Der erste Analyseschritt hat gezeigt, dass sich mittels eines profilanalytischen Zugangs keine klare Antwort auf die Frage geben lässt, ob und wie das pande‐ 149 Unterbrochenes Lernen? miebedingte Distanzlernen die Sprachentwicklung (am Beispiel des Erwerbs der Verbstellungsmuster) beeinflusst. Dieser Umstand liegt dabei sowohl im ver‐ fügbaren Datenmaterial, in der Komplexität der Interpretation der Ergebnisse, aber auch im profilanalytischen Verfahren selbst begründet. So kann nicht aus‐ geschlossen werden, dass ein Teil der ermittelten Profilstufen das Gesamtbild verfälschen, weil die - in unserer Studie nicht kontrollierbaren - Aufgabenstel‐ lungen zu teils unterschiedlichen Ergebnissen führen. Hinzu kommt, dass das profilanalytische Kriterium des dreimaligen Vorkommens einer Struktur die re‐ lative Verteilung einzelner Strukturen ausblendet. Um somit ein umfassenderes Bild zu erhalten, betrachten wir im zweiten Schritt die Anteile einzelner Verbstellungsmuster im Verhältnis zueinander. 6.2 Anteil syntaktischer Strukturen vor und nach der Schulschließung (Feinprofile) Im zweiten Analyseschritt wurde zunächst ermittelt, zu welchen Anteilen ein‐ zelne Verbstellungsmuster in den Messzeitpunkten T1 und T2 über einzelne Proband: innen hinweg vorkommen. Darauf aufbauend wurden individuelle Anteile berechnet (vgl. dazu auch De Carlo / Gamper 2015), wobei hierbei auch Strukturen jenseits der Profilstufen betrachtet wurden (so z. B. Verbdrittsätze, nicht realisierte Separationen bei Verklammern, Verbzweitstellung in subordi‐ nierenden Nebensätzen, s. Tab. 1), um ein möglichst umfassendes Bild indivi‐ dueller Profile zu erhalten. Abbildung 1 zeigt zunächst, dass die größten Verän‐ derungen zwischen T1 und T2 bei allen Proband: innen beim Finitum (Stufe 1) und bei Inversionen (Stufe 3) zu finden sind. Bei Letzteren sinkt der Anteil von knapp 40 % auf 16 %, bei Ersteren steigt er von knapp 30 % auf gut 50 %. Abb. 1: Anteil der Profilstufen bei T1 vs T2 in allen Texten (n = 45) aller Proband: innen (n = 16) 150 Julia Schlauch / Jana Gamper Der Befund, dass der relative Anteil niedrigerer Stufen in T2 im Mittel deutlich steigt, bestätigt sich auch auf einer individuellen Ebene (s. Abb. 2), wobei im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht nach einzelnen Texten dif‐ ferenziert wird. Abb. 2: Individuelle Verteilung von Verbstellungsmustern in T1 zu T2; angelehnt an die Profilstufen nach Grießhaber (s. Tab. 1) unterscheiden wir für die Profilstufe 1: SVX und nicht zielsprachliche Verbdrittstrukturen (ASVX), für Stufe 2 Äußerungen mit kom‐ plexen Prädikaten, die nicht separiert (SVVX) oder separiert in Form der Satzklammer vorliegen (SVXV) und für eingeleitete Nebensätze Äußerungen mit Verbzweit- (CSVX) und Verbletztstellung (CSXV(V)). Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, findet sich die Tendenz, in T2 mehr Strukturen der niedrigeren Erwerbsstufen zu produzieren, bei einem Großteil der Pro‐ 151 Unterbrochenes Lernen? 7 Für P8 liegen für die Messzeitpunkte T1 und T2 teils identische Aufgaben vor. Die er‐ kennbare Verbesserung in T2 ist hier jedoch nicht auf einen Übungseffekt zurückzu‐ führen, da sich Nebensätze mit Verbletztstellung auch im Text zu Vater & Sohn finden, der ausschließlich in T2 produziert wurde. band: innen. Lediglich bei zwei Proband: innen (P1, P14) finden sich hinsichtlich der relativen Anteile nur geringfügige Veränderungen, bei drei weiteren (P2, P3 und P8) lässt sich eine Verbesserung dahingehend ausmachen, dass mehr Struk‐ turen höherer Stufen produziert werden als in T1. Auffällig ist auch hier, dass eine in etwa gleich bleibende Verteilung bzw. höhere Stufen besonders bei Pro‐ band: innen der Klasse V1 (P1-P3) auszumachen sind. Besonders deutlich ist dies bei P3: Während sich in T1 noch V3-Strukturen und damit Vorläuferstrukturen zur Inversion finden, produziert die Person in T2 systematisch Inversionen mit Verbzweitstellung sowie bereits Nebensätze mit Verbletztstellung. Letztere treten auch bei P8 erstmals in T2 auf. 7 Wie bei den Proband: innen in V1, handelt es sich auch bei Proband: in P8 um eine Person, die kurz vor dem Übergang von der Vorbereitungsin die Regelklasse stand und von der die Lehrkraft berichtete, dass sie besonders motiviert sei, diesen Übergang trotz Distanzlernens zu schaffen. Das Beispiel verdeutlicht u. E. eindrücklich, wie zentral individuelle Faktoren wie Motivation bei der Sprachentwicklung sein können. Bei denjenigen Proband: innen, bei denen sich eine teils deutliche Erhöhung niedrigerer Stufen in T2 abzeichnet, findet sich weiterhin die Tendenz, dass Strukturen, die in T1 korrekt realisiert wurden, in T2 nicht mehr korrekt ver‐ wendet werden. So finden sich bei P5 in T2 keine Verbletztsätze, obwohl diese in T1 einen hohen Anteil ausmachten. Stattdessen tauchen vereinzelte subor‐ dinierende Nebensätze mit Verbzweitstellung auf und damit eine als Vorläufer‐ struktur zur Verbletztstellung geltende Erwerbsstufe. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich für die Separation der Verbklammer bei Proband: in P12 sowie für die Inversion bei Proband: in P16. In allen drei Fällen ist somit eine Art Rückschritt zu einer vorhergehenden Erwerbsstufe auszumachen, was ein Hinweis darauf ist, dass die jeweilige Struktur in T1 noch nicht gefestigt war und ggf. durch das Distanzlernen ein (leichter) Rückschritt in der Entwicklung eintritt. Weitaus systematischer ist jedoch bei dem Großteil der Proband: innen der stark stei‐ gende Anteil einfacher Aussagesätze (Stufe 1), der sich dabei innerhalb der je‐ weiligen Messzeitpunkte auch über einzelne Texte hinweg findet. Der stärker deskriptiv angelegte Analyseschritt 2 lässt, mit aller Vorsicht, den Schluss zu, dass sich das Distanzlernen im Zuge der pandemiebedingten Schul‐ schließungen in dem Sinne auf die sprachliche Entwicklung auswirkt, dass eine Verschlechterung der Erwerbsstufen im Vergleich von Messzeitpunkt T1 zu T2 zu verzeichnen ist. Ein großer Teil der Proband: innen (11 von 16, v. a. aus der 152 Julia Schlauch / Jana Gamper Klasse V2) zeigt einen höheren Anteil früher und niedrigerer Erwerbsstufen in T2 als in T1, was für Szenario 2 spricht. Die Szenarien 1 und 3 greifen tendenziell unter spezifischen Bedingungen, wie der den Lehrkräften zur Verfügung ste‐ henden Mittel der Kontaktaufrechterhaltung sowie individuellen Lernfaktoren wie dem zentralen Faktor der intrinsischen Motivation. 7 Diskussion und Ausblick Ziel der vorliegenden korpusanalytischen Untersuchung war es, sich der Frage anzunähern, ob die pandemiebedingten Schulschließungen und damit einher‐ gehendes Distanzlernen die Sprachentwicklung neu zugewanderter Lerner: innen in Vorbereitungsklassen beeinflussen. Die zunächst dezidiert offen formulierte Frage und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen Szenarien (Ver‐ besserung, Verschlechterung oder Gleichbleiben der Erwerbsstufen) wurden mittels eines Textkorpus mit 45 Texten von 16 Proband: innen aus zwei unter‐ schiedlichen Vorbereitungsklassen am Beispiel der Entwicklung der Verbstel‐ lung untersucht. Ermittelt wurde dazu in Schritt 1 eine übergeordnete Profilstufe je Messzeitpunkt (T1 vs. T2), die mithilfe des profilanalytischen Kriteriums des dreimaligen Vorkommens einer Struktur erfasst wurde. Schritt 2 widmete sich der deskriptiven Darlegung individueller Feinprofile (für T1 und T2), wobei re‐ lative Anteile einzelner Profilstufen sowie weiterer Verbstellungsmuster ermit‐ telt wurden, die u. a. als Zwischen- oder Übergangsstufen fungieren. Die beiden Analyseschritte brachten unterschiedliche Ergebnisse hervor. Schritt 1 zeigt ein eher heterogenes Bild: Zwar zeigt sich bei einem Großteil der 16 Proband: innen (n = 9) keine Veränderung der Profilstufen zwischen T1 und T2 (Szenario 3), für vier Proband: innen lässt sich jedoch eine Verbesserung (Sze‐ nario 1) und für drei eine Verschlechterung (Szenario 2) ausmachen. Analyse‐ schritt 2 zeigt dagegen relativ deutlich, dass die meisten Proband: innen (n = 11) einen deutlichen Zuwachs niedrigerer Profilstufen (v. a. der Stufe 1) zeigen und zugleich in T1 systematisch verwendete Verbstellungsmuster ‚zugunsten‘ niedrigerer Stufen zu verlieren scheinen. Scheinbar überwundene Strukturen tauchen somit (wenn auch nicht bei allen Proband: innen) wieder auf. Während für Analyseschritt 1 mehrheitlich Szenario 3 und damit ein gleich bleibender Entwicklungsstand auszumachen ist, lässt sich für Analyseschritt 2 eher das Szenario 2 und damit eine (leichte) Verschlechterung der Leistungen identifi‐ zieren. Denkbar ist hier auch die Interpretation, dass die Lerner: innen sich nicht verschlechtern, sondern im veränderten Sprach(erwerbs)kontext auf Strukturen zurückgreifen, in denen sie sich ‚sicher fühlen‘. 153 Unterbrochenes Lernen? Für die zunächst widersprüchlichen Befunde lassen sich unterschiedliche Er‐ klärungen heranziehen. Zum einen kommt das diagnostische Prinzip der Pro‐ filanalyse als Erklärung in Betracht, da die Profilanalyse mithilfe eines festge‐ legten Erwerbskriteriums von mindestens drei Vorkommen einer Struktur das Verhältnis von Verb- und Wortstellungsmustern ausblendet. Dadurch ist es möglich, dass Lerner: innen aus profilanalytischer Sicht eine hohe Stufe errei‐ chen, Strukturen niedrigerer Stufen dabei dennoch dominieren. Die in Schritt zwei unternommene deskriptive Analyse von Lerner: innenprofile ermöglicht deshalb ein genaueres und aussagekräftigeres Bild. Zudem weist - wenn auch nur in leichter Tendenz - unsere Untersuchung darauf hin, dass besonders motivationale Aspekte die individuelle Lernentwick‐ lung entscheidend mit beeinflussen zu scheinen. Diejenigen Proband: innen, bei denen wir eine Verbesserung entlang der Erwerbsstufen feststellen können, sind zugleich mehrheitlich auch diejenigen, die kurz vor dem (vollständigen) Über‐ gang in die Regelklasse stehen. Es liegt nahe anzunehmen, dass dies das ‚Dran‐ bleiben‘ am Sprachlernen begünstigt. Ein weiterer, hier nicht systematisch un‐ tersuchbarer Faktor, ist der individuelle Kontakt zwischen Lehrkräften und Schüler: innen. So finden wir in V1 und damit dort, wo sich die Profile der Schüler: innen verbessern oder gleich bleiben, auch einen intensiveren direkten Kontakt zwischen Lehrkraft und Schüler: innen, der mittels regelmäßiger Gruppen- und Einzelvideokonferenzen hergestellt wurde, die wiederum eine Nachbildung schulischen Lernens eher erlaubt als asynchrones und weitgehend selbstständiges Lernen. Ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren (indivi‐ duelle Motivation, intensiver(er) Kontakt während der Schulschließungen), dies legen die Ergebnisse nahe, kann sich in der individuellen Erwerbsprogression niederschlagen. Nicht zuletzt ist das Datenmaterial als solches ein weiterer Faktor. Die ana‐ lysierten Texte sind hinsichtlich der Vergleichbarkeit eingeschränkt, eine solide Vergleichsfolie mit Erwerbsdaten, die sich individuellen Erwerbsgeschwindig‐ keiten widmen, oder Ergebnisse aus größeren Vergleichsarbeiten fehlen für un‐ sere Untersuchungsgruppe. Dies ist nicht nur ein Problem der vorliegenden Untersuchung, sondern auch ein grundsätzliches Problem bei der Beforschung von Sprachentwicklung unter Bedingungen der Neuzuwanderung im Kontext schulischer Bildung. Zusammenfassend lässt sich auf Grundlage der vorliegenden Studie in Hin‐ blick auf die Verbstellung im Spracherwerb ableiten, dass für den Großteil der hier untersuchten Schüler: innen die Schulschließungen eine Lernunterbre‐ chung darstellten. Insbesondere die Analyse individueller Feinprofile stützt die Vermutung, dass bereits die erste, knapp dreimonatige Schulschließung (März 154 Julia Schlauch / Jana Gamper bis Juni 2020) und der damit einhergehende Verlust des Lernorts Schule zu einer Rückentwicklung entlang der Erwerbsstufen im Bereich der Verbstellung ge‐ führt haben. Dort, wo eine solche Rückentwicklung nicht vorzufinden ist, finden wir ein Zusammenspiel positiver lernerinterner sowie -externer Faktoren, die eine Rückentwicklung scheinbar verhindern, wobei diese Faktoren weder aus‐ schließlich lernerintern (wie beispielsweise Motivation) noch durch äußere Um‐ stände (wie etwa die Erreichbarkeit der Schüler: innen im Distanzlernen) ab‐ leitbar sind. Sie liegen auch im Erwerbsgegenstand selbst und dem mit bestimmten Strukturen (wie etwa der Inversion) einhergehenden höheren Er‐ werbsaufwand begründet. Zu betonen ist, dass sich die vorliegende Untersu‐ chung auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum bezieht, wenn man bedenkt, dass im weiteren Pandemiegeschehen spätestens im November 2020 Schüler: innen über mehr als sechs Monate entweder nur eingeschränkten Zu‐ gang zur Schule erhielten (in Form von Wechselunterricht) oder vollständig in Form von Distanzlernen unterrichtet wurden. Es ist zu erwarten, dass die Lern‐ rückstände angesichts dieser zusätzlichen pandemiebedingten Maßnahmen eine weitere und weitaus massivere Lernunterbrechung mit entsprechenden Folgen für die Sprachentwicklung neu zugewanderter Schüler: innen bedeutet. Zu fragen bleibt, wie die hier ausgemachten sprachlichen Rückentwicklungen kompensiert werden können. Grundbedingung ist, dass sich politische Ent‐ scheidungsträger: innen der besonderen gesellschaftlichen Verantwortung, die mit der Beschulung neu zugewanderter Schüler: innen einhergeht, bewusst werden. Damit Integration gelingen kann, müssen diese Schüler: innen beson‐ ders intensiv unterstützt werden. Dass Vorbereitungsklassen wie Abschluss‐ klassen behandelt wurden, wie es bspw. in Hessen und Berlin (vgl. Lemke et al. i. d. B.) der Fall war, und damit besonders im Herbst 2020 und im Frühjahr 2021 in Präsenz beschult werden durfte, ist begrüßenswert, stellt jedoch nicht den Normalfall dar. Grade deshalb bedarf es eines auf diese Lerner: innen zuge‐ schnittenen Förderprogramms in Form von speziellen Ferienkursen und zusätz‐ lichen sprachlichen und vor allem sozial-integrierenden Förderangeboten. Zu‐ geschnitten müssen diese Programme deshalb sein, weil der Aufholbedarf im Bereich des Deutschlernens bei neu zugewanderten Schüler: innen deutlich grundlegender ist als bei Regelschüler: innen. Angesichts der für jede: n Lerner: in individuell ausgeprägten Lerneinflussfaktoren greifen u. E. auch pauschale For‐ derungen z. B. nach einer allgemeinen Verlängerung der Aufenthaltsdauer in der Vorbereitungsklasse zu kurz, wie sie in einigen Bundesländern analog zu der Frage, ob bestimmte Schüler: innen das vermeintlich verlorene Schuljahr wie‐ derholen müssten, diskutiert werden. Entscheidungen über solche Maßnahmen sollten vielmehr von individuellen Förderbedarfen und Prognosen abhängig ge‐ 155 Unterbrochenes Lernen? macht werden. Um solche jedoch an die Bedarfe der Schüler: innen anpassen zu können, wird einmal mehr ein großes Desiderat der Spracherwerbsforschung und in der Folge auch der Sprachdiagnostik sichtbar: Eine umfassende empiri‐ sche Datengrundlage, mit deren Hilfe sichere Erkenntnisse zu Erwerbsge‐ schwindigkeiten und potentiellen -schwierigkeiten sowie eine Identifizierung individueller Einflussfaktoren generiert werden könnten, fehlt. Auf Grundlage dieser wäre sowohl eine fundiertere Diagnostik einzelner Sprachstände als auch eine übergreifende Begleitung des schulischen Zweitspracherwerbs z. B. in Vor‐ bereitungsklassen möglich, die auch eine Bewertung des Einflusses und lang‐ fristiger Auswirkungen von Schulunterbrechungen ermöglichen würde, seien diese durch Sommerferien, Schulwechsel oder, wie im vorliegenden Fall, Schul‐ schließungen bedingt. Bis dahin sind für die betroffenen Schüler: innen vor allem zusätzliche Sprach‐ lernangebote wünschenswert, die eine (zusätzliche) Kompensation der verlo‐ renen Lernzeit ermöglichen. Die durch die Schulschließungen hervorgerufene Lernunterbrechung bedeuten für die betroffenen Schüler: innen nicht bloß eine Lernrückentwicklung, sondern im schlimmsten Fall ein langfristiges Ausge‐ bremstsein. Verursacht wird dies nicht nur durch die Unterbrechung von Lernen, sondern vor allem durch die Unterbrechung von Schule - und damit durch die Schaffung einer Distanz zu einem Lernort, der im Einzelfall maßgeb‐ lich für den Zugang zu deutschsprachigem Input und einer Infrastruktur des Lernens ist, die wesentlich für den Spracherwerb sind. Literatur Ahrenholz, Bernt / Fuchs, Isabel / Birnbaum, Theresa (2016): „… dann haben wir natürlich gemerkt, der Übergang ist der Knackpunkt …“. Modelle der Beschulung von Seiten‐ einsteigerinnen und Seiteneinsteigern in der Praxis. 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Teil III Digitale Lehr-Lern-Prozesse im Zweitspracherwerb erwachsener Lerner: innen @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz Der Corona-bedingte Lockdown im Frühjahr 2020 zwang Kursleitende und Träger von Sprachkursen in der Zweitsprache Deutsch erstmals zur längeren Pausierung ihrer Kurse. Gerade die vulnerabelsten Lerngruppen - neu zuge‐ wanderte und geflüchtete Menschen mit noch wenigen Deutschkenntnissen und geringen literalen Kompetenzen in der Zweitsprache - waren besonders stark von der Kursunterbrechung betroffen. Dieser Beitrag stellt die im Pro‐ jekt „Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz ( KASA )“ erfolgten Maßnahmen und Erfahrungen bei der Kursumstellung auf digitalen Fernun‐ terricht im Laufe des Jahres 2020 vor. Im Präsenzunterricht werden KASA -Lernende von bilingualen Lehrkräften mit sehr guten Kenntnissen in den entsprechenden Herkunftssprachen (Türkisch, Arabisch, Persisch) an vertrauten Lernorten (insbesondere Migrantenorganisationen, orientalische Kirchen, Moscheen) betreut. Beschrieben wird, wie diese Lernenden und Lehrenden die neuen Unterrichtsformate erlebten und welche Maßnahmen, Schwierigkeiten und Erfolge auf organisatorischer, technischer und metho‐ disch-didaktischer Ebene zu bewältigen waren. 1 Einführung Der Corona-bedingte Lockdown im Frühjahr des Jahres 2020 hat neben der schulischen Bildung auch die vielfältigen Angebote in der Erwachsenenbildung betroffen. Besonders schwierig stellte sich die Situation für Erwachsene dar, die nicht nur über geringe Zweitsprachkenntnisse allgemein, sondern auch kaum über Schriftsprachkenntnisse in der Zweitsprache verfügten. Viele geflüchtete und zugewanderte Erwachsene, die an sprachlichen Integrationsmaßnahmen teilnehmen, gelten im deutschsprachigen Kontext bezüglich ihrer literalen Kom‐ petenzen als Erst- oder Zweitschriftlernende und nehmen an entsprechend zu‐ geschnittenen Kursen teil - seien es staatlich geförderte Integrationskurse oder zusätzliche Kursangebote im Rahmen von Projekten. Insbesondere für Men‐ schen, die in den Herkunftsregionen keine oder nur sehr wenig schulische und literale Erfahrungen machen konnten, stellte der plötzliche Abbruch des Prä‐ senzunterrichts und die zunehmende Umstellung auf ein vielfach stark schrift‐ lich orientiertes eigenständiges Lernen im digital organisierten Fernunterricht eine große Herausforderung dar. Für die geflüchteten Kursteilnehmenden, von denen einige Traumatisierungen erfahren haben, bedeutete auch der Ausfall von vertrauten Routinen und der Rückzug aus dem Sozialleben der Lerngruppe ein großes Problem, verstärkt noch unter dem Eindruck der Bedrohung vor einer unbekannten Krankheit. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Lockdowns im ersten Halbjahr 2020 für den Unterricht mit erwachsenen Erst- und Zweit‐ schriftlernenden in der Zweitsprache Deutsch und diskutiert die Situation aus verschiedenen Perspektiven: der Sicht von Lernenden, von Lehrenden sowie von Kursträgern. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Erfahrungen des Projekts „Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz ( KASA )“. Abschnitt 2 beschreibt die allgemeinen Rahmenbedingungen sowie Aspekte, die während des ersten Lockdowns von vielen Akteuren im Bereich der DaZ-Sprachkursangebote für Erst- und Zweitschriftlernende festgestellt wurden, und berichtet über die geteilten Erfahrungen aus dieser Phase. Ab‐ schnitt 3 stellt das Projekt KASA und das spezifische Anliegen seiner Arbeit im Rahmen der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung vor. Die während des ersten Corona-bedingten Lockdowns entwickelten projekt‐ spezifischen Lernangebote und Kursumstellungen für KASA -Kursteilnehmende werden in Abschnitt 4 vorgestellt. Abschnitt 5 fasst die wichtigsten Erkenntnisse als Schlussbemerkungen zusammen. 2 Herausforderungen und Grenzen des Distanzunterrichts in Integrationssprachkursen Sprachunterricht in Deutsch als Zweitsprache ist heute für viele erwachsene Migrant: innen im Rahmen des sogenannten Integrationskurses möglich und teilweise verpflichtend. Denn im Rahmen des 2005 in Kraft getretenen Zuwan‐ derungsgesetzes wurde erstmals in der Einwanderungsgeschichte Deutschlands eine materiell verstärkte Integrationsförderung durch den Bund gesetzlich ver‐ ankert (Schneider 2007). Die für diesen Beitrag wichtigen Merkmale der sprach‐ 166 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 1 Vgl. https: / / www.bamf.de/ DE/ Themen/ Integration/ ZugewanderteTeilnehmende/ Integ rationskurse/ InhaltAblauf/ inhaltablauf-node.html [24. 06. 2021] und für die Erläute‐ rung aktueller Konzepte inkl. Umfang der verschiedenen Integrationskursarten https: / lichen Integrationsmaßnahmen und die Bedarfe der Lernenden werden im Fol‐ genden kurz vorgestellt. 2.1 Zum Integrationssprachkurs mit Alphabetisierung und zum Zweitschriftlernerkurs Die Integrationsmaßnahmen (Integrationskurse) umfassen einerseits einen Sprachkurs für den Erwerb der deutschen Sprache und andererseits einen so‐ genannten Orientierungskurs, in dem Grundlagen zu Staat und Gesellschaft in Deutschland vermittelt werden. Beide Komponenten werden durch skalierte Tests abgeschlossen - den „Deutsch-Test für Zuwanderer“ ( DTZ ) sowie „Leben in Deutschland“ (LiD), und die erfolgreich abgeschlossene Maßnahme wird mit dem „Zertifikat Integrationskurs“ bescheinigt (§ 17 der Integrationsverord‐ nung). Die Testergebnisse und das Zertifikat haben wichtige Funktionen für die Erteilung von Arbeitserlaubnis und Einbürgerungsmöglichkeit. Damit sind sie auch anfällig für die Nachteile solcher high-stakes-Tests, wie einer starken Prü‐ fungsfokussierung auf Seiten der Lernenden und Lehrenden (bekannt als tea‐ ching to the test-Phänomen und washback-Effekt (vgl. Feick 2018: 249). Zuständig für die Konzeption und Koordination dieser Integrationsmaß‐ nahmen ist das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat ( BMI ) gehörende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ( BAMF ). Die Kurse werden den Vorgaben entsprechend von verschiedenen Kursträgern durchgeführt, denen das BAMF die sogenannten Regionalkoordi‐ nator: innen als lokale Ansprechpartner: innen zur Seite stellt. Auch die Zulas‐ sung und Qualifizierung der Lehrkräfte der Integrationskurse erfolgt durch das Bundesamt. Das Ziel des Integrationskurses, dessen verbindliches Rahmencurriculum vom Goethe-Institut (Buhlmann et al. 2016) erstellt wurde, besteht darin, die Integration und gesellschaftliche Teilhabe von Zugewanderten zu fördern (Bun‐ desamt für Migration und Flüchtlinge 2017). Der Sprachkurs soll dabei die Teil‐ nehmenden im Allgemeinen zum Erreichen des Sprachniveaus B1 des Gemein‐ samen Europäischen Referenzrahmens führen, mindestens aber zum Niveau A2. Aktuell dauert der Sprachkurs im allgemeinen Integrationskurs insgesamt 600 Unterrichtseinheiten ( UE ), in speziellen Kursformaten von 400 bis zu 900 UE , dazu können bei Bedarf noch 300 UE als Wiederholungsstunden in An‐ spruch genommen werden. Den verschiedenen Integrationskursarten liegen spezifische Konzepte zugrunde. 1 167 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Integration/ Integrationskurse/ Kurstraeger/ K onzepteLeitfaeden/ konz-f-bundesw-ik-mit-alphabet.html [24. 06. 2021]. 2 In der Fachliteratur wird die völlige Schriftunkunde auch als primärer Analphabetismus oder totaler Analphabetismus bezeichnet und der sogenannte funktionale Analphabe‐ tismus bezeichnet eine Situation, in der eine Person die gesellschaftlich durchschnittlich erwarteten schriftsprachlichen Anforderungen nicht erfüllen kann (vgl. z. B. Dö‐ bert / Hubertus 2000). Da der Begriff „Analphabetismus“ und speziell der auf Personen bezogene Ausdruck „Analphabet: in“ stigmatisierend und defizitorientiert ist, wird er hier vermieden (vgl. zur Begrifflichkeit auch Ritter 2010: 1116 f.). Zu den speziellen Kursarten gehören u. a. der Integrationskurs mit Alphabe‐ tisierung (im Folgenden auch Alphabetisierungskurs genannt) und der Zweit‐ schriftlernerkurs. Beide Formate zielen auf Lernende, die beim Erwerb der Zweitsprache Deutsch erstmalig mit dem lateinischen Alphabet konfrontiert sind. Ein Teil der Zugewanderten hat bereits Schrifterfahrung mit einem nicht-lateinischen Schriftsystem. Diese Menschen können unter Umständen auf hohem Kompetenzniveau in Sprachen mit anderem Schriftsystem lesen und schreiben, jedoch nicht mit lateinischen Buchstaben. Sie lassen sich also auf‐ grund ihres Schriftsprachbedarfs in der Zweitsprache Deutsch als Zweitschrift‐ lernende bezeichnen. Als Erstschriftlernende oder auch Alphalernende (vgl. Förster / Reeps 2019: 62) stellen sich dagegen aus der Integrationskursperspek‐ tive diejenigen Teilnehmenden dar, die bisher über keine oder nur geringfügige Schriftsprachkompetenzen verfügen. 2 Viele dieser Menschen hatten in ihrer Kindheit keinen (ausreichenden) Zugang zu Schulbildung, sei es z. B., weil lokal keine Schulen existierten, die Lehrkräfte mangels adäquater Bezahlung kaum präsent waren oder weil ihnen der Schulbesuch aus anderen Gründen verwehrt blieb. Zu differenzieren sind daher die vorhandenen schriftlichen vs. mündli‐ chen Kenntnisse in der Erstsprache bzw. in anderen Sprachen. Dabei ist es auch wichtig, klar zwischen der Erstsprache und der Erstschriftsprache zu unter‐ scheiden, die nicht deckungsgleich sein müssen (Guerrero 2020: 5, 9). Dieser Unterschied kann sich z. B. relativ häufig in Staaten mit hoher gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ergeben, speziell, wenn die Erstsprache eine im Bildungs‐ system wenig beachtete Minderheitensprache oder eine nicht verschriftete Sprache ist (vgl. auch Riehl 2018: 209). So ist Neo-Aramäisch die Erstsprache einer der Autor: innen dieses Beitrags, Arabisch jedoch ihre Erstschriftsprache, d. h. die Sprache, in der sie erstmals schreiben gelernt hat. Der Schrifterwerb in der Zweitsprache im Erwachsenenalter ist im Vergleich zum kindlichen Schrifterwerb noch wenig untersucht (vgl. Feldmeier 2010: 31). Erschwerend kommt hinzu, dass die individuellen (Schrift-)Sprach- und Bil‐ dungsbiografien der erwachsenen Lernenden von beachtlicher Komplexität sein können. Entsprechend bedarf es für die verlässliche Feststellung der literalen 168 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 3 Wenngleich der Autor des Konzepts für den Integrationskurs mit Alphabetisierung die sogenannte kontrastive Alphabetisierung (als Individualprogramm) durchaus befür‐ wortet: das muttersprachliche Expertenwissen der Teilnehmenden solle im Kurs her‐ vorgehoben und nutzbar gemacht werden und der Transfer der neuen schriftsprachli‐ chen Kompetenzen in die Muttersprache ermöglicht werden (Feldmeier 2015: 110 ff.). 4 Auch hinsichtlich der in den letzten Jahren neu zugewanderten Schüler: innen bestehen vielfach Unklarheiten darüber, inwieweit sie in welcher Schrift und Sprache bereits alphabetisiert sind (vgl. Gamper et al. 2020: 349). Kompetenzen von Zugewanderten und Geflüchteten eines gewissen Auf‐ wandes, spezifischer Fachkenntnisse und Methoden (vgl. z. B. das Diagnosein‐ strument Lit-L1-L2, Schumacher 2020), denen die aktuellen Richtlinien und gän‐ gige Praxis nicht entsprechen. Guerrero (2020: 26) weist z. B. darauf hin, dass die Teilnahme am Zweitschriftlernerkurs dem Kurskonzept zufolge vom Vor‐ liegen einer mehrjährigen Schulerfahrung und / oder beruflichem Abschluss ab‐ hängig ist (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2018: 10), diese Bil‐ dungserfahrung jedoch kein Garant für eine ausgebildete Literalität sei. Wenn Erwachsene in Verbindung mit Deutsch als neuer Zweitsprache erst‐ malig lesen und schreiben lernen, also weder Deutschkenntnisse noch hinrei‐ chend Schrifterfahrung vorliegen, stellt sich der Erwerbsprozess besonders komplex dar (Berkemeier 2018: 283). Berkemeier (2018: 284) zufolge benötigen Schüler: innen und Erwachsene mit einem Zeitraum zwischen einigen Monaten bis zu zwei Jahren dafür ähnlich lange wie Erstklässler: innen in der Mutter‐ sprache. Bei Zweitschriftlernenden dagegen ist auch die schrifttypologische Distanz zwischen Erst- und Zweitschrift für den Erwerbsprozess relevant, wobei verschiedene Parameter (zugrundeliegende Schrift, Schrifttyp, Orthografietiefe, Schriftrichtung usw., vgl. u. a. Berkemeier 2018) zu berücksichtigen sind. Den Lernenden im Integrationskurs, die bereits eine lateinische Alphabetschrift mit einer flachen Orthografie beherrschen, wie z. B. im Fall der türkischen Schrift‐ sprache, fällt der Einstieg beispielsweise leichter als denjenigen, die zuvor eine nicht-latein-verwandte Alphabetschrift, wie Arabisch, mit einer tieferen Ortho‐ grafie gelernt haben (vgl. z. B. Berkemeier 2018: 284 und den Überblick bezüglich Studien zu mehrsprachigen Kindern am Schriftanfang in Noack / Weth 2012). Im Integrationskurssystem ist ein systematischer Einbezug relevanter sprach- und schriftsystembezogener Aspekte bei der Vermittlung der Zweitsprache aller‐ dings nicht vorgesehen 3 . Die Zusammensetzung der Lernergruppen ist bezüg‐ lich der Bildungs- und Schrifterfahrung i. d. R. sehr heterogen und die sorgfältige Erhebung der individuellen Bildungs-, Sprach- und Schriftbiografie gestaltet sich in der Praxis als schwierig 4 . So bleibt es der Lehrkraft überlassen, sich diese Informationen zu erarbeiten und durch Maßnahmen der Binnendifferenzierung 169 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: auf die individuellen Bedarfe der Lernenden im Schrifterwerbsprozess einzu‐ gehen. Im Alphabetisierungs- und Zweitschriftlernendenkurs werden wie in Integ‐ rationskursen ohne den Schrifterwerbsfokus alle vier Fertigkeiten in der Zweit‐ sprache vermittelt. V. a. in den Alphabetisierungskursen ist es hilfreich, zunächst phonologische Bewusstheit als Vorläuferfertigkeit aufzubauen (vgl. z. B. Schründer-Lenzen 2013: 86 ff.; Berkemeier 2018: 291). Voraussetzung für den Erwerb der Graphem-Phonem-Korrespondenzen im Deutschen ist es, dass die entsprechenden Laute wahrgenommen werden, was sich v. a. mithilfe von Dis‐ kriminierungsübungen fördern lässt. Sofern die Lernenden im Integrationskurs erstmalig alphabetisiert werden, kann Schrift nicht als Merkhilfe (etwa in der Erstsprache) beim Erlernen der Zweitsprache dienen. Der Anspruch an die Ge‐ dächtnisleistungen der Lernenden ist daher besonders hoch und kann durch den Einsatz audiovisueller Mittel entlastet werden (vgl. z. B. die Anregungen in Wright 1989). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Erstschriftlernende, die bisher wenig Kontakt mit hoch literalisierten Umgebungen hatten, nicht nur mehr Zeit für die Einführung in das deutsche Alphabet in Verbindung mit dem Zweitspracherwerb benötigen. Sie begegnen im Gegensatz zu Zweitschriftlern‐ enden auch neuen technischen Herausforderungen und entwickeln erstmals bestimmte basale Fähigkeiten, wie z. B. die für die Stifthaltung und das hand‐ schriftliche Schreiben erforderliche Feinmotorik (z. B. Albert et al. 2009: 51; Ro‐ kitzki et al. 2013; Teepker / Krauß 2016: 117). Erstschriftlernende sind im Alpha‐ betisierungskurs zumeist erstmalig mit literalen Praktiken wie der Heftführung, der Einpflegung von Arbeitsblättern in einen Ordner oder der Terminplanung mithilfe von Kalendereinträgen konfrontiert. Besonders wichtig für diese Lern‐ ergruppe ohne formale Unterrichtserfahrung ist auch die Vermittlung von Lern‐ strategien (vgl. z. B. Markov et al. 2015). Die sprachdidaktischen Implikationen für den digitalen Fernunterricht mit diesen Zielgruppen und insbesondere Erstschriftlernenden sind dementspre‐ chend anspruchsvoll. Den nicht oder gering literalisierten Lernenden stehen kaum Mittel für die kursinterne Kommunikation zur Verfügung und der Ausfall der direkten Interaktion erschwert die Kursdurchführung immens. Dennoch wäre es u. E. falsch, Teilnehmenden von Alphabetisierungskursen sämtliche Kompetenzen für E-Learning von vornherein abzusprechen und digitalen Fern‐ unterricht mit diesen Lernergruppen grundsätzlich abzulehnen. Die Ad‐ ressat: innen von Integrationskursen sind vielfach durchaus medienaffin und mit bestimmten Formen digitaler Kommunikation vertraut und das gilt unserer Er‐ fahrung nach auch für viele Teilnehmende von Alphabetisierungskursen. Das Mobiltelefon und soziale Medien wie Messengerdienste und soziale Plattformen 170 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz stellen für Geflüchtete und Migrant: innen wichtige Kommunikationsmöglich‐ keiten mit Familie und Freunden in anderen Teilen der Welt dar. Andererseits verfügen nach unserer Erfahrung Integrationskursteilnehmende seltener über eigene E-Mail-Konten oder Praxiskenntnis mit digitalen Instrumenten (z. B. Skype), in denen stärker konzeptionell schriftlich agiert wird oder die primär der (schriftlich niedergelegten) Informationsbeschaffung dienen. Bei der Aus‐ wahl der Kommunikationsmittel im Fernunterricht sollten daher die Vorkennt‐ nisse der Zielgruppen berücksichtigt und schrittweise weiter ausgebaut werden. Auch die Tatsache, dass die Kursteilnehmenden von Alphabetisierungs- und Zweitsprachlernerkursen noch nicht schriftlich auf Deutsch kommunizieren können, stellt u. E. kein grundsätzliches Problem für einen digitalen Fernunter‐ richt dar. Sprachtechnologie und mehrsprachige digitale Instrumente bieten vielmehr großes Potential für die mehrsprachige Kommunikation im Internet (Danet / Herring 2003, 2007; Lee 2016). So ist es mittlerweile möglich, selbst mit Partner: innen, mit denen man keine gemeinsame Sprache teilt, zu kommuni‐ zieren, denn maschinelle Übersetzungen sind blitzschnell in zahlreichen Spra‐ chen verfügbar. Am hilfreichsten sind Übersetzungshilfen, die in beide Rich‐ tungen auch akustisch unterstützt werden (z. B. die im iPhone integrierte App, Google Übersetzer oder kostenpflichtige Angebote wie iTranslate), nicht zuletzt bei Sprachen mit unterschiedlichen Schriftsystemen. Das digitale Lernangebot hat sich längst auch in unterschiedlich ausgereiften Apps für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf und zum Zweitsprach- und Zweitschriftlernen für das Mobiltelefon niedergeschlagen, die sich v. a. als digi‐ tale Zusatzangebote zum Präsenzunterricht eignen (vgl. Kalkan et al. 2016). Dazu gehört beispielsweise die Lese- und Schreiblern-App IRM - GARD (www.a ppirmgard.de), die nicht nur von gering literalisierten Menschen mit Erst‐ sprache Deutsch, sondern bei bereits vorhandenen guten mündlichen Deutsch‐ kenntnissen und entsprechender Lernbegleitung auch von Lernenden anderer Herkunftssprachen genutzt werden kann. Distanzunterricht mit Erst- und Zweitschriftlernenden ist auch aus Sicht des methodisch-didaktischen Vorgehens und der Beziehungsarbeit im Kurs heraus‐ fordernd, wie im Folgenden kurz skizziert wird. So ist es gerade für An‐ fänger: innen im Sprachunterricht von größter Bedeutung, der Zielsprache nicht nur isoliert als sprachliches oder gar rein schriftliches Medium zu begegnen, sondern den Sprachgebrauch im Unterrichtsgeschehen auch multimodal er‐ fassen und interpretieren zu können (vgl. Deppermann 2018). Wie unterstützen Körper, Gestik und Mimik das Gesagte? Habe ich die Aussage des Gesprächs‐ partners richtig interpretiert? Wie ist die Reaktion auf meinen Redebeitrag? Wie wird intoniert und artikuliert? Für den Schrifterwerb ist es zudem erforderlich, 171 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: 5 Vgl. auch allgemeine Hinweise zum traumasensiblen Online-Lernen, wie sie seit Beginn der Pandemie insbesondere für Schüler: innen als Zielgruppe entstanden sind (z. B. Baez et al. 2020). ein vertieftes Verständnis über die Verhältnisse von Laut und Schrift in der Zweitsprache zu entwickeln (vgl. z. B. Ritter 2010: 1121). Es ist daher unerläss‐ lich, dass Lernende nicht nur dem Schriftbild, sondern auch den akustischen Informationen in der Zielsprache regelmäßig begegnen. Für Lernende in Kursen mit Alphabetisierung ist folglich die multimodale, audiovisuelle Kommunika‐ tion in hoher technischer Qualität schon aufgrund der Lerninhalte von aller‐ größter Bedeutung. Bezüglich der Lehrer-Lerner-Interaktion ist zu berücksichtigen, dass die Kommunikation über digitale Medien anfälliger ist für Missverständnisse und Fehlinterpretationen als die face-to-face-Interaktion. Dementsprechend sollte bei Arbeitsaufträgen, Rückmeldungen zum Lernfortschritt usw. auf eine beson‐ ders klare und regelmäßig nachfragende Kommunikation geachtet werden (vgl. z. B. Huesmann 2020: 3). Eine vorsichtige, traumasensible Ansprache ist dort zu verfolgen, wo unter den Lernenden auch von Traumatisierungen betroffene Personen sein könnten, damit sich die Zunahme von asynchroner Kommuni‐ kation nicht zum zusätzlichen Stressor entwickelt und ein Gefühl von Kontroll‐ verlust bei diesen Lernenden verursacht. 5 Nach diesem Überblick über das Integrationskurssystem, die Situation im Alphabetisierungs- und Zweitschriftlernerkurs und verschiedene erwartbare Herausforderungen für die Umstellung auf digitalen Fernunterricht lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Distanzlehre mit geeigneten informati‐ onstechnologischen Vorbereitungen, pädagogischen und sprachdidaktischen Anpassungen selbst für Alphabetisierungskurse realisierbar sein sollte, zumin‐ dest für eine gewisse Zeit. Im folgenden Abschnitt wird nun dargestellt, wie sich der erste Lockdown auf das Integrationskurssystem ausgewirkt hat und wie die veränderten Kursbedingungen von verschiedenen Akteur: innen beurteilt wurden. 2.2 Integrationssprachkurse im ersten Lockdown Der erste Lockdown hat nicht nur die Schulbildung in Deutschland aufgrund der schlechten Vorbereitung von Distanzunterricht weitgehend unvorbereitet getroffen (vgl. Kerres 2020), sondern auch die Integrationsmaßnahmen für ge‐ flüchtete und zugewanderte Erwachsene, darunter die Integrationssprachkurse. Die Entwicklung bezüglich letzterer wird im Folgenden anskizziert. Gegen Ende Januar 2020 wurde das Coronavirus offiziell auch in Deutschland bestätigt (Robert Koch-Institut: COVID -19-Lagebericht vom 05. 03. 2020). Am 172 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 6 Die Trägerrundschreiben können auf der Webseite des BAMF https: / / www.bamf.de z. B. unter https: / / www.bamf.de/ DE/ Themen/ Integration/ TraegerLehrFachkraefte/ Traeger Integrationskurse/ Organisatorisches/ organisatorisches-node.html [24. 06. 2021] einge‐ sehen werden. 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation den Ausbruch des Co‐ ronavirus zur Pandemie, Mitte des Monats war die Europäische Region der WHO zum Epizentrum der Pandemie geworden (Weltgesundheitsorganisation Regionalbüro für Europa, o. D.). Nun begannen Regierung und Bildungsinstitu‐ tionen in Deutschland mit ersten Eindämmungsmaßnahmen zu reagieren. Auch das BAMF entwickelte im Angesicht der neuen Situation verschiedene Richtli‐ nien und Anpassungen für die Integrations- und Berufssprachkurse. Auf der Grundlage der Trägerrundschreiben des BAMF 6 lassen sich die wichtigsten Meilensteine dazu kurz vorstellen: In der zweiten Märzhälfte 2020 erging die dringende Empfehlung, von der Fortführung und dem Beginn neuer Kurse abzusehen. Prüfungen und Einbür‐ gerungstests wurden nach und nach ausgesetzt. Finanzierungsfragen und die entsprechende Gesetzeslage („Sozialdienstleiter-Einsatzgesetz“) standen im Mittelpunkt der Kommunikation an die Träger (zur Relevanz vgl. Kohl / Denzl 2020). Ende März wurde die mögliche Förderung der Nutzung von digitalen Lernangeboten kommuniziert. Damit sollten der sich abzeichnenden länger‐ fristigen Unterbrechung der Kurse Alternativen entgegengesetzt und dem völ‐ ligen Abbruch der Lernprogression bei den Kursteilnehmenden entgegenge‐ wirkt werden. Als befristetes Überbrückungsangebot wurde das digitale vhs-lernportal zugänglich gemacht, das u. a. für Zweitsprachler: innen Deutsch‐ kurse für alle Niveaustufen des Integrationskurses bereitstellt. Lehrkräfte konnten in den durchstrukturierten Kursen die Funktion von Tutor: innen über‐ nehmen und erhielten bei Interesse eine Online-Schulung. Andere digitale Por‐ tale und Formate bedurften dagegen einer Einzelfallprüfung. Die Vorgaben wurden später aktualisiert (vgl. Trägerrundschreiben 4 / 20 bis 9 / 20, 15 / 20 und Anlagen). Ab Mitte Mai erfolgte die schrittweise Wiederöffnung nach den pandemie‐ bedingten Schließungen nach Maßgabe der länderspezifischen Vorgaben. Gleichzeitig wurde die Angebotsbreite für digitalen Unterricht ausgeweitet und flexibilisiert. Ab Juli 2020 standen nun neben dem Präsenzunterricht zusätzlich vier digitale Unterrichtsmodelle für den geförderten Sprachunterricht zur Aus‐ wahl (vgl. Trägerrundschreiben 14 / 20 für Integrationskurse, Aktualisierung 22 / 20). Außerdem konnten Online-Tutorien unter bestimmten Bedingungen weiter gefördert werden. Das Unterrichtsmodell 1 steht für den Vollzeit-Prä‐ senzunterricht unter Pandemie-Bedingungen, d. h. mit Mindestabstand von 173 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: 7 Ein Wechsel von Präsenzunterricht und Unterricht im virtuellen Klassenzimmer für die gesamte Lerngruppe ist inzwischen möglich (vgl. die FAQ des BAMF zur Durchführung von Integrations- und Berufssprachkursen unter Pandemiebedingungen für Träger der Integrations- und der Berufssprachkurse, Stand 01. 06. 2021: 8 (https: / / www.bamf.de/ Sh aredDocs/ Anlagen/ DE/ Integration/ Integrationskurse/ faq-integrations-berufssprachk urse-corona-pandemiebedingungen.pdf [24. 06. 2021]). 1,5 Metern zwischen den Teilnehmenden und Beachtung der geltenden Hygie‐ nemaßnahmen. Dies ist aus Sicht des BAMF die qualitativ beste Option. Modell 2 ist dazu das rein virtuelle Pendant, bei dem alle Kursteilnehmenden gleich‐ zeitig im virtuellen Klassenzimmer für maximal vier Unterrichtseinheiten täg‐ lich unter Zuhilfenahme eines Videokonferenzsystems lernen. Insbesondere für Alphabetisierungskurse wird allerdings empfohlen, möglichst den Präsenzun‐ terricht oder Modelle mit Präsenzphasen zu nutzen. Die restlichen Modelle be‐ ruhen auf einer Gruppenteilung, deren Lernmodi nach bestimmten Vorgaben wechseln. In Modell 3 erfolgt in einem Kursraum Präsenzunterricht, der per Livestream in einen zweiten Kursraum übertragen wird, in Modell 4 nimmt eine Gruppe vor Ort beim Träger am Präsenzunterricht teil, während die anderen Teilnehmenden zu Hause über einen Livestream dem Unterricht folgen (vor‐ teilhaft bei Selbstisolierungs- und Quarantäne-Auflagen), und in Modell 5 un‐ terrichtet eine Lehrkraft in zwei räumlich nah gelegenen Kursräumen im Prä‐ senzunterricht. Im Kursraum, in dem sich die Lehrkraft aktuell nicht aufhält, lernt die Gruppe - ggfs. auch unter Aufsicht einer Assistenz - beispielsweise nach einem vorgegebenen Aufgabenplan. Echte Blended Learning-Konzepte mit einer systematischen Verzahnung von Online- und Präsenzphasen ließen sich während des ersten Lockdowns nicht durchführen. 7 Aufgrund der didak‐ tisch-methodischen und technischen Mehraufwände werden Pandemie-Zu‐ lagen gewährt und für die Zielgruppe der zu Alphabetisierenden u. a. die Min‐ destteilnehmendenzahl für die spezielle Garantievergütung abgesenkt (Anlage 2 zum Trägerrundschreiben Integrationskurse 14 / 20). Im zweiten Halbjahr 2020 erfolgten auf Seiten des Bundesamts einige Aktu‐ alisierungen, z. B. Vereinfachungen der Anforderungen an die im virtuellen Klassenzimmer in Integrationskursen eingesetzte Hard- und Software (Träger‐ rundschreiben 22 / 20). Gleichzeitig rüsteten die Lehrwerksverlage ihre Lern‐ managementsysteme und das Lernumfeld ihrer digitalen Lehrwerksvarianten den geförderten BAMF -Modellen entsprechend auf und passten auch die Fort‐ bildungsangebote für Lehrkräfte an diese an. Unter den geschilderten Rahmenbedingungen gelang die Umstellung vom Präsenzin Distanzunterricht in Integrationssprachkursen während des ersten Lockdowns 2020 in Abhängigkeit von den konkreten Umständen und Kursen, 174 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz den Trägern, Lehrkräften und den Teilnehmenden unterschiedlich gut. Im Fol‐ genden wird kurz dargestellt, welche Herausforderungen und Potenziale des Distanzunterrichts uns beim Erfahrungsaustausch mit Kolleg: innen häufig be‐ gegnet sind. Zudem beziehen wir uns auch auf unsere eigenen Lehrerfahrungen in Integrationssprachkursen. Auf der Digitalkonferenz „@lphabetisierung - Digital Lernen und Lehren“ des Projekts KASA anlässlich des Weltalphatags am 8. September 2020 bot sich für verschiedene Akteur: innen der Alphabetisierung und Grundbildung in der Erst- oder Zweitsprache und ähnlicher Angebote in der Erwachsenenbildung Gelegenheit des Austauschs über ihre digitalen Unterrichtserfahrungen. Wenig überraschend wiesen verschiedene individuelle Erfahrungsberichte (vgl. KASA 2020) darauf hin, dass es nicht nur Lernenden, sondern auch vielen Lehrenden und Trägern noch an der notwendigen technischen Infrastruktur und Ausstat‐ tung mangelte. Die meisten der Konferenzteilnehmenden (Träger und Lehr‐ kräfte) hatten vor der Pandemie in Integrationskursen mit Alphabetisierung und anderen niederschwelligen Angeboten der Erwachsenenbildung gänzlich auf digitale Lernumgebungen verzichtet. An vielen Lernorten stellten die in trag‐ baren Geräten abspielbaren Audio- CD s in Unterrichtsräumen ohne Internet, eine interaktive Tafel, Computer oder Beamer das einzige im Präsenzunterricht zusätzlich genutzte technische Medium dar. Auch die Bundesregierung konsta‐ tiert rückblickend: „viele Lehrkräfte hatten in den vergangenen Monaten zum ersten Mal Kontakt mit digitalen Unterrichtsformen und erarbeiteten sich neue digitale Kompetenzen“ ( BT Drucksache 19 / 27 757, 2021: 14). Quellen zum Be‐ stand der digitalen Ausstattung der Kursräume und gar ihrer Nutzung vor der Pandemie stehen unserer Kenntnis nach nicht zur Verfügung. Auf der KASA -Digitalkonferenz wurde die Möglichkeit des Einsatzes elekt‐ ronischer Medien und digitaler Werkzeuge im Unterricht insgesamt begrüßt, und es wurden die Vorteile gesehen, die sich für Lernende bei der eigenverant‐ wortlichen Nutzung digitaler Lernangebote ergeben. Gleichzeitig betonten viele Stimmen die Bedeutung des physischen Kontakts für den Aufbau von Vertrauen und die sozialen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden und unter‐ einander. Hingewiesen wurde auch auf die Notwendigkeit, neue pädagogische und didaktische Konzepte für den digitalen Unterricht und hybride Modelle zu entwickeln, in denen Präsenz- und Online-Phasen sinnvoll miteinander ver‐ zahnt werden können (vgl. KASA 2020). Im informellen Austausch unter Lehrkräften von Integrationskursen wurde häufig von verloren gegangenen Kursteilnehmenden berichtet. Unseren eigenen Beobachtungen zufolge sind dafür nicht nur technische, sondern auch soziale Gründe verantwortlich, denn den Kursteilnehmenden fehlen zu Hause häufig 175 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: die notwendigen Rückzugsmöglichkeiten für das Lernen. Dies gilt insbesondere für Lernende, die in Erstunterkünften und Gemeinschaftsunterkünften für Ge‐ flüchtete mit räumlich und technisch unzureichender Ausstattung leben. Kann digitaler Fernunterricht in Integrationskursen mit Alphabetisierung oder in Kursen für Zweitschriftlernende also überhaupt gelingen? Bevor diese Frage in den Abschnitten 4 und 5 wieder aufgenommen wird, hier eine Samm‐ lung einiger praktischer Vorteile des synchronen Distanzunterrichts in Pande‐ miezeiten. In informellen Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden wurde po‐ sitiv vermerkt, dass: - artikulatorische Übungen und Erläuterungen vor der Kamera wieder ohne Maske durchgeführt werden können; - Partner-, Gruppen- und Stationsarbeit in Coronazeiten sicherer und besser im Breakout Room gelingt als im Klassenraum mit Distanzgebot; - Realia und das eigene Umfeld sprachlich direkt und einfach in den Un‐ terricht einbezogen werden können, indem sie vor die Kamera geholt werden; - einander besser zugehört wird und man einander mehr aussprechen lässt (da die Mikrofone der anderen stummgeschaltet sind); - alle Beteiligten mehr Zeit haben, da Wege entfallen; - man auch in Situationen am Kurs teilnehmen kann, in denen es im Prä‐ senzkurs nicht möglich wäre (beispielsweise, wenn das erkrankte Kind nebenan schläft oder malt). Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass digitaler Fernunterricht in Sprachkursen mit Alphabetisierung bzw. Zweitschrifterwerb besonders hohen Ansprüchen genügen muss und bestimmte Aspekte des Präsenzunter‐ richts nicht ersetzen kann. Nach diesem Überblick zur Lehr- und Lernsituation in Integrationskursen mit Alphabetisierung bzw. Zweitschriftlernen und zu den Auswirkungen des ersten Lockdowns geht es im Folgenden um das Lernen vor und während der Pandemie in Sprachkursen, die sich zwar in vielen Aspekten an den Integrationskursen orientieren, gleichzeitig aber auch neue Wege ein‐ schlagen. 3 Das Projekt „Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz (KASA)“ Das Projekt „Kontrastive Alphabetisierung im Situationsansatz ( KASA )“ hat das Ziel, zur Verbesserung der literalen Kompetenzen unter der migrantischen Be‐ völkerung beizutragen und verfolgt dafür einen innovativen Ansatz, der bun‐ 176 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 8 Das Projekt baut auf dem Vorgängerprojekt ABCami auf und wird von 9 / 2018 bis 8 / 2021 sowie in geringerem Umfang bis 07 / 2022 unter dem Förderkennzeichen W1451KASA vom BAMF gefördert. 9 SuRe steht für Subjektive Relevanz und wird über das Online-Portal https: / / sure.giz.ber lin/ home [24. 06. 2021] durchgeführt. desweit erprobt und weiterentwickelt wird 8 . Die Zielgruppe sind erwachsene arabisch-, persisch- und türkischsprachige Migrant: innen und Geflüchtete und in besonderem Maße die noch nicht alphabetisierten Menschen unter ihnen. Die Aufenthaltsdauer dieser Erst- oder Zweitschriftlernenden in Deutschland ist di‐ vers. Im Unterricht lernen Neuzugewanderte zusammen mit seit langem in Deutschland lebenden Menschen, die bisher für die bestehenden Alphabetisie‐ rungskurse schwierig zu motivieren waren oder die wegen Arbeit und familiärer Gründe bisher keine Chance oder Zeit hatten, einen Kurs zu besuchen. Viele der Teilnehmenden sind schulunerfahren (vgl. Seyfried 2017). Das Projekt geht aufsuchend vor und bietet v. a. in Moscheen, orientalischen Kirchen und Migrantenselbstorganisationen in acht Bundesländern Alphabeti‐ sierungskurse an. Diese Lernorte stellen vertraute Orte für die Lernenden dar und tragen zur Niederschwelligkeit des Angebots bei. Das motiviert auch Lern‐ ende mit negativen Lernerfahrungen. Bei einer Befragung zu seinen Lernerfah‐ rungen und der Motivation zum Lernen antwortet ein Kursteilnehmer auf die Frage „Was war für Sie hilfreich? “: „Zum einen fand der Kurs in unserer Kirche statt. Zum anderen war der Kurs in der Nähe meines Zuhauses.“ (Teilnehmer, 66 Jahre, KASA -Kurs in Berlin). Die Kurse sind kostenlos und mit dem Alltag von Berufstätigen und familiär ausgelasteten Personen gut vereinbar: Sie finden für die Dauer von 24 Monaten zweimal in der Woche à drei Unterrichtsstunden statt. Der Unterricht wird möglichst von Personen durchgeführt, die aus den Part‐ nerorganisationen stammen. Sie müssen über einen Hochschulabschluss in Pä‐ dagogik oder Linguistik verfügen oder entsprechende Berufserfahrung nach‐ weisen können. Diese Lokalkoordinator: innen werden über die gesamte Kurslaufzeit hinweg von Mitgliedern des KASA -Teams, den Regionalkoordi‐ nator: innen, begleitet und fortgebildet. Die acht regionalen Koordinator: innen koordinieren den Unterricht in insgesamt 42 Kursen in acht Bundesländern und sichern die Qualität des Angebotes. Sie sind Ansprechpartner: innen für die Lehrkräfte vor Ort, hospitieren u. a. einmal monatlich im Unterricht und führen die kollegiale Fallberatung im Online-Portal SuRe  9 gemeinsam mit den Lehr‐ enden durch. Um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten, wird den Lokalkoordi‐ nator: innen während ihrer Kurslaufzeit fakultativ eine Weiterbildung zur In‐ tegrationskurslehrkraft finanziert (Konzept des Projekts KASA 2018). 177 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: 10 Unter https: / / abc.giz.berlin/ home [24. 06. 2021] sind kostenlose Zusatzmaterialien zu den Lehrwerken einschließlich Anlauttabellen, Lehrkommentaren, Bildkarten, Glos‐ saren, Fotogeschichten und andere Übungen und Vorlagen sowie kontrastive Lernma‐ terialien zu den Themen Gesundheit und Verbraucherschutz zu finden. Methodisch-didaktisch und pädagogisch verfolgt das Projekt einen beson‐ deren Weg. Zum einen werden die erstbzw. herkunftssprachlichen Kompe‐ tenzen der Lernenden von Anfang an systematisch in den Unterricht und das Lernen miteinbezogen. Das erleichtert und motiviert beim Erwerb von Sprache und Schrift der Zweitsprache. Begonnen wird mit den Gemeinsamkeiten beider Sprachen bezüglicher ihrer Laut- und Schriftsysteme. Die Unterschiede werden dann schrittweise explizit thematisiert und geübt. Die Aussage einer Lernerin auf die Frage „Was war für Sie hilfreich? “ im Rahmen einer Befragung illustriert die Bedeutung dieses Ansatzes: „Was mir hilft, ist die Tatsache, dass die Lehrerin, die mir Deutsch vermittelt, meine Muttersprache spricht.“ (Teilnehmerin, 35 Jahre, KASA -Kurs in Borken). Ein Teilnehmer aus demselben Kurs erläutert es in der Einzelbefragung ähnlich: „Die wichtigste Sache im Kurs war, dass die Lehrerin uns die Themen in der Sprache erklärt hat, die wir verstehen.“ (Teil‐ nehmer, 53 Jahre, KASA -Kurs in Borken). Pädagogisch orientiert sich das Projekt am Situationsansatz, der ursprünglich im Bereich der Kleinkindpädagogik entwickelt wurde und unabhängig von Alter und Institution eingesetzt werden kann (Marschke et al. 2013). Dem Ansatz ent‐ sprechend analysieren die Lehrenden, über welche Kompetenzen und Fähig‐ keiten die Lernenden verfügen und was sie lernen und erfahren wollen. Im Pro‐ jekt KASA wird auf diese Weise das Ziel verfolgt, Lerneinheiten nach den Bedürfnissen und Interessen der Lernenden zu erstellen. Die pädagogische Ar‐ beit geht von den sozialen und kulturellen Lebenssituationen der Lernenden aus. Nach diesem Ansatz werden im Projekt auch neue Lernmaterialien entwickelt und erprobt. Die drei Lehrwerke „Mit Türkisch Deutsch lernen“ (Bektaş et al. 2019), „Mit Persisch Deutsch lernen“ (Alizadeh et al. 2019) und „Mit Arabisch Deutsch lernen“ (Matta et al. 2019) 10 führen Lernende in die Zweitsprache Deutsch und Schrift ein und zielen auf das Niveau A1.1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen ( GER ) ab. Die Lektionen werden von Fotogeschichten eingeleitet (abrufbar unter abc.giz.berlin/ home), berück‐ sichtigen die vier Fertigkeiten Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben und grundlegende grammatische Themen sowie einfache numerische Übungen und werden multimedial durch Videos der Deutschen Welle und Audiodateien des Projekts begleitet. Lernstrategien und Medienkompetenzen bezüglich des Mo‐ biltelefons werden explizit vermittelt. 178 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 11 https: / / abc.giz.berlin/ static/ resources/ Tuerkisch_Zusatzmaterialien/ 1_3_Anlauttabelle .pdf (Anlauttabelle Deutsch-Türkisch); https: / / abc.giz.berlin/ static/ resources/ Arabisch _Zusatzmaterialien/ 1_3_Anlauttabelle.pdf (Anlauttabelle Deutsch-Arabisch); https: / / a bc.giz.berlin/ static/ resources/ Persisch_Zusatzmaterialien/ 1_3_%20Anlauttabelle.pdf (Anlauttabelle Deutsch-Persisch) [jeweils 24. 06. 2021] 12 Im Original sind die herkunftssprachlichen Grapheme und Rahmungen der Abbil‐ dungen farbig, in der Printausgabe jedoch in Graustufen dargestellt. Zentral für den Unterricht mit Anfänger: innen ist die Anlauttabelle in jedem Lehrwerk, 11 die jeweils zwei Seiten umfasst: Auf der ersten Seite (vordere In‐ nenseite des Buchdeckels) sind diejenigen Anlaute in Bild und Schrift (Ortho‐ grafie) aufgeführt, die in beiden Sprachen vorhanden sind. Zeichnungen helfen dabei, sich den Anlaut zu erschließen und zu memorieren. Sie stehen für Be‐ griffe, die in beiden Sprachen mit dem gleichen oder sehr ähnlichen Laut be‐ ginnen und die gleiche Bedeutung haben (vgl. Abb. 1). So wird für die Einfüh‐ rung des Buchstabens D im Lehrwerk mit türkischer Ausgangssprache ein Dach verwendet, das im Türkischen dam heißt, für die Einführung von L wird im deutsch-arabischen Lehrwerk auf die Lampe verwiesen, die auf Arabisch lamba ([ˈlɑmbɑ]) lautet, und für den Buchstaben M im deutsch-persischen Lehrwerk die Zeichnung einer Mutter, die auf Persisch madar ([mɑːˈdaɾ]) heißt. Abb. 1: Ausschnitte aus den Anlauttabellen der KASA-Lehrwerke (Alizadeh et al. 2019, Bektaş et al. 2019, Matta et al. 2019), Seite „Gemeinsamkeiten“ 12 Auf der zweiten Seite der Anlauttabellen (hintere Innenseite des Bucheinbandes) werden diejenigen Buchstaben der Zweitsprache Deutsch eingeführt, die ent‐ weder keine Lautentsprechung in der Erstbzw. Herkunftssprache haben oder die - nur im Fall der ebenfalls mit dem lateinischen Alphabet geschriebenen türkischen Sprache - dort eine andere Verschriftung haben. Abbildung 2 illust‐ riert dies für das komplexe Graphem <sch>. Das türkische Wort şemsiye (Schirm) lautet zwar auch mit einem stimmlosen postalveolaren Frikativ [ʃ] an, dieser wird jedoch durch einen einfachen Buchstaben mit diakritischem Zeichen ver‐ schriftet. 179 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: Abb. 2: Ausschnitt aus der deutsch-türkischen Anlauttabelle (Bektaş et al. 2019), Seite „Unterschiede“. Das Format der KASA -Kurse wird fortlaufend dokumentiert und untersucht. Dabei wird das Projekt von Karen Schramm (Fremd- und Zweitsprache und Fremdsprachendidaktik, Universität Wien) und Clemens Seyfried (Lernpsycho‐ logie und Kompetenzentwicklung, Private Pädagogische Hochschule der Diö‐ zese Linz) wissenschaftlich begleitet. Sie beraten das Team u. a. hinsichtlich der didaktisch-methodischen Weiterentwicklung der kontrastiven Alphabetisie‐ rung (Schramm), konzipieren Befragungsstudien und die kollegiale Fallberatung über das Online-Portal SuRe (sure.giz.berlin) (Seyfried). Im Projekt entsteht ein Kursleiterhandbuch zur kontrastiven Alphabetisierung. Seit Mai 2020 evaluiert das am Lehrstuhl für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Fried‐ rich-Schiller-Universität Jena angesiedelte dreijährige Projekt „ ELIKASA - Ent‐ wicklung literaler Kompetenzen durch kontrastive Alphabetisierung im Situa‐ tionsansatz“ unter Leitung von Christine Czinglar den Projektansatz von KASA . 4 Digitaler Fernunterricht im Projekt KASA Seit Beginn der Unterrichtsunterbrechung am 23. März 2020 hat das KASA -Pro‐ jekt den Auf- und Ausbau digitaler Angebote im Bereich des KASA -Alphabeti‐ sierungskursangebots vorangetrieben. Dabei konnten die bestehenden multi‐ medialen Komponenten der KASA -Lehrwerke genutzt werden, es war jedoch notwendig, darüber hinaus weitere Instrumente für die Verlagerung des ge‐ samten Unterrichts in den Distanzmodus zu bestimmen und geeignete Maß‐ nahmen für die Umsetzung zu implementieren. Da sich die Teilnehmenden und Lehrkräfte der insgesamt 42 KASA -Kurse zum Lockdownbeginn in ihrem Lern‐ stand, ihren spezifischen Lernzielen, Interessen, ihren (schrift)sprachlichen und digitalen Kompetenzen sehr unterschieden, war klar, dass es nicht eine einzige passende Lösung für alle geben konnte. Ziel war es daher, in der Anfangsphase des Lockdowns einfache Minimalstrategien für den Fernunterricht zu entwi‐ ckeln, die für viele Beteiligte realisierbar waren und darüber hinaus auch Frei‐ raum für kursspezifische Anpassungen zu schaffen. 180 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz 4.1 Umstellung auf digitalen Fernunterricht und erste Erprobungsphase Die erste Fragestellung betraf die Wahl eines oder mehrerer geeigneter digitaler Instrumente und Plattformen für den Fernunterricht. Dabei waren verschiedene Kriterien zu berücksichtigen. Wichtig waren eine gute Bild- und Tonqualität, um alle vier Fertigkeiten im Unterricht zu behandeln, sowie eine einfache Technik und niedrigschwellige Software, die möglichst intuitiv auch von digital unerfahrenen Nutzer: innen verwendet werden kann, die leicht verfügbar und mit verschiedenen Hardware-Konstellationen kompatibel ist. Die Teilnehmen‐ denzahl durfte keinen starken Beschränkungen unterliegen, der Datenschutz musste genauso gewährleistet sein wie die kostenfreie Nutzung für die Lern‐ enden. Die Wahl des primären Fernunterrichtkanals fiel schließlich auf einen verbreiteten und einfachen Messenger-Dienst, die Telegram-App. Diese App ließ sich von allen Beteiligten auf ihre Mobiltelefone - auch älteren Datums - he‐ runterladen und ohne weitere Registrierungsschritte sofort benutzen. Der Ver‐ sand von Bild- und Audioaufnahmen ist möglich. Obgleich es sich um eine ein‐ fache Anwendung handelt, stellte sich heraus, dass viele Teilnehmende bei der Einrichtung und ersten Nutzung viel Unterstützung benötigten. Dies wurde durch die Regionalkoordinator: innen bzw. die Lehrkräfte des Projekts geleistet. Sie gingen mit den Teilnehmenden die Installation und Anwendung Schritt für Schritt durch und erklärten die Details bei Bedarf auch in einer der drei im KASA -Projekt berücksichtigten Herkunftssprachen (Arabisch, Türkisch, Per‐ sisch). Auf organisatorischer Seite wurden von den Regionalkoordinator: innen zudem Listen mit den Telegram-relevanten Kontaktdaten aller Beteiligten er‐ stellt und Informationen zur individuellen technischen Ausrüstung und digi‐ talen Affinität der Beteiligten eruiert. Im Ergebnis wurden die Kurse im Frühjahr 2020 in drei Telegramgruppen nach den drei Herkunftssprachen im KASA -Projekt aufgeteilt, die zunächst von den Regionalkoordinator: innen des Projekts in Zusammenarbeit mit ausge‐ wählten Lokalkoordinator: innen betreut wurden. Denn wenngleich sich einige Lehrkräfte mit großem Engagement und viel Eigeninitiative für den Fernunter‐ richt einsetzten und sich auch selbst mit verschiedenen digitalen Möglichkeiten beschäftigten und entsprechend aufrüsteten, waren nicht alle Lokalkoordi‐ nator: innen bereit dazu. Adhoc nicht von allen zu lösen waren z. B. die eigene technische Ausstattung zu Hause oder fehlende digitale Lehrkompetenzen. Nach Abschluss dieser Vorbereitungen wurde in der Einstiegsphase, als die Teilnehmenden für den Unterricht erstmals online gingen, vielfach nur mit Te‐ legram gearbeitet, in einzelnen Kursen aber auch ein Unterricht mit Videokon‐ ferenztools wie Zoom erprobt. 181 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: 13 Im Original wurden die Arbeitsblätter farbig verschickt, sie werden in der Printversion in Graustufen dargestellt. Dies gilt für alle folgenden Abbildungen (Screenshots etc.) ebenso. In den Telegram-Gruppen stellte sich die Lehrkraft zuerst allen Gruppenteil‐ nehmenden vor und erläuterte das Vorgehen des Fernunterrichts, bei Bedarf auch in der Herkunftssprache. In Gesprächen zwischen Regional- und Lokal‐ koordinator: innen und in regelmäßigen Online-Hospitationen wurde versucht, den Sprachstand und die literalen Kompetenzen der Lernenden in der Zweit- und in der Herkunftssprache zu berücksichtigen, so dass die Vorstellung bei Bedarf auch in der Herkunftssprache schriftlich oder mündlich in der Form einer Audio-Sprachnachricht erfolgte. Statt sich wie zuvor zweimal wöchentlich an einem gemeinsamen Lernort zusammenzufinden, bekamen die Lernenden nun zweimal wöchentlich um neun Uhr ein Arbeitsblatt (als Fotodatei oder PDF ) mit Aufgaben zugeschickt (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Beispielaufgabe aus einem digital verschickten Aufgabenblatt 13 Das Lernen erfolgte individuell und asynchron. Die Aufgaben waren bis 16 Uhr zu beantworten und an die Lehrkraft zurückzuschicken (vgl. Abb. 4). Sie wurden mit den Namen der Teilnehmenden und Datum für die Kursdokumentation ge‐ speichert. Um 17 Uhr schickte die Lehrkraft ein allgemeines Lösungsblatt an die gesamte Gruppe und gab den einzelnen Teilnehmenden im privaten Chat indi‐ viduelles Feedback. 182 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz Abb. 4: Beispiele für Lernerrückmeldungen per Telegram (Sprachnachricht und Fotos der handschriftlichen Produkte) Die Aufgabenblätter für die Teilnehmenden mussten in den Telegramgruppen meist binnendifferenziert erstellt und individuell zugewiesen werden. Bereits am ersten Tag gab es sehr positive Rückmeldungen, obwohl es manchen Lern‐ enden zunächst schwer fiel, die technischen Hürden zu überwinden und zu Hause zu lernen. Die intensive Betreuung und die Einbeziehung der Herkunfts‐ sprachen in die Unterrichtskommunikation, z. B. beim Formulieren der digitalen Arbeitsanweisungen, ermöglichten es vielen Teilnehmenden, am Unterricht über Telegram aktiv teilzunehmen. Zudem wurden die Lernenden darin bekräf‐ tigt, Fragen bezüglich der Aufgaben bei Bedarf auch in ihren Muttersprachen zu stellen. Vorteilhaft war für die Lernenden die Tatsache, dass sie selbst wie bisher mit der Hand auf Papier schreiben konnten und dann erst ihr Produkt digital versendeten, indem sie es fotografierten und an die Lehrperson schickten. Viele Teilnehmende nutzten im Rahmen des KASA -Fernunterrichts auch die On‐ line-Lernangebote der Deutschen Welle (vgl. Abb. 5). Sie wurden als Zusatzma‐ terial angewendet und mit einem entsprechenden Link an die Lernenden ver‐ schickt. Hier waren die technischen Ausstattungen und Bedingungen allerdings manchmal unzureichend, beispielsweise gab es je nach Wohnlage keine ausrei‐ chende Internetgeschwindigkeit oder es fehlte ein Drucker zu Hause. Teilneh‐ mende mit sehr geringen literalen und digitalen Kompetenzen benötigten am Anfang sehr viel Geduld, bis sie die Vorgehensweise zum Bearbeiten von On‐ line-Aufgaben verstanden hatten. Selbst äußerst benutzerfreundliche Aufgaben- und Übungsformate können für Lernende ohne Schulerfahrungen schwer durchschaubar sein. Zwar gab es Lernende, die schnell neue Lerngewohnheiten entwickelten (z. B. das elektronische Ausfüllen eines Arbeitsblattes, Antworten ankreuzen und Antworten ergänzen), viele brauchten aber eine tägliche Be‐ treuung und wiederkehrende Erläuterungen zur Vorgehensweise. 183 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: Abb. 5: Beispiele zur Ergebnisübermittlung aus digitalen Lernangeboten der Deutschen Welle inkl. individueller Rückmeldungen durch die KASA-Regionalkoordination, März 2020 Bei allen Umstellungsschwierigkeiten waren die Teilnehmenden froh, ihren Lernprozess, den sie in den freiwillig besuchten KASA -Kursen beschritten hatten, nicht völlig unterbrechen zu müssen. Sie befürchteten, bei einer voll‐ ständigen Kursunterbrechung vieles zu vergessen. Auch die Partizipation an den Lerngruppen im Fernunterricht wurde angesichts der bedrohlichen Krise von ihnen als wichtig betrachtet, selbst dann, wenn sich die Gruppenzusammenset‐ zung und die Lehrkraft in einigen Kursen im Fernunterricht geändert hatte. Der Unterricht vor Ort mit vertrauten, persönlichen Kontakten und direktem sozi‐ alen Austausch kann sicher durch nichts ersetzt werden. Aber zumindest ein wenig Austausch und gemeinsames Lernen war so weiterhin möglich. In einzelnen KASA -Kursen wurde während der Erprobungsphase auch ver‐ sucht, im Fernunterricht auf das bekannte gemeinsame, synchrone Lernen von Angesicht zu Angesicht nicht ganz zu verzichten. Ein KASA -Frauensprachkurs für Lernende mit arabischer Herkunftsbzw. Erstsprache, der im Präsenzunter‐ richt an einer Berliner Moschee verortet ist, erprobte nun erstmalig den Unter‐ richt mit einem Videokonferenztool (Zoom). Nach einer zeitaufwändigen tech‐ nischen Einarbeitung und Beratung der Lernenden durch die engagierte Lokalkoordinatorin funktionierte der von ihr durchgeführte Online-Unterricht schließlich sehr gut. Lehrkraft und Lernende nutzten neben dem Lehrwerk und 184 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz ihren Heften auch kleine Tafeln, die sie bereits im Präsenzunterricht eingesetzt hatten und die sie sich nun auch vor der Kamera und dem Bildschirm gegenseitig präsentieren konnten. So ließen sich technische Komplikationen mit einem di‐ gitalen Online-Whiteboard vermeiden und das manuelle Schreiben, das für das Schreibenlernen so wichtig ist (vgl. Speck-Hamdam et al. 2016), gut in den di‐ gitalen Unterricht integrieren. Abbildung 6 zeigt ein Tafelbild der Lehrkraft, wie es während des digitalen synchronen Unterrichts mit den Lernenden geteilt wurde. Thema ist das Graphem <s> der deutschen Sprache und seine Gra‐ phem-Phonem-Korrespondenzen. Mithilfe der arabischen Schriftzeichen zeigt die Lehrkraft den Lernenden an, wann (Position in der Silbe, Doppelkonsonan‐ tenschreibung) der neue Buchstabe wie gesprochen wird: das arabische Schrift‐ zeichen س steht für den Laut / s/ und ز für / z/ . Abb. 6: Sprachkontrastives Unterrichtsbeispiel der Tafel einer Lehrkraft, geteilt per Vi‐ deokonferenz (KASA-Kurs, Berlin) Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass auch Lernende der Zweitsprache Deutsch mit erstmaliger Alphabetisierung die auf sie zugeschnittenen Aufga‐ benformate im KASA -Projekt bearbeiten konnten. Gewisse technisch-digitale 185 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: Schwierigkeiten (z. B. einen Link zu einem Video aufzurufen oder eine Audio‐ datei anzuhören und eine schriftliche Aufgabe dazu zu lösen) traten bei manchen Teilnehmenden auf, konnten aber durch die Betreuung durch die Lehrenden und die Hilfeleistung von Familienmitgliedern behoben werden. Wiederholte Er‐ probungsversuche per ‚Trial and Error‘ scheinen vielen Lernenden schließlich positive Erfolgserlebnisse beschert zu haben. 4.2 Ausweitung des digitalen Fernunterrichts für KASA-Kurse Die Erfahrungen aus der Erprobungsphase des Fernunterrichts während des ersten Lockdowns haben gezeigt, dass die Umstellung gelingen kann, auch wenn einige Lehrkräfte und Lernende dafür mehr Zeit und Unterstützung brauchen als andere. Unübersehbar zeigte sich auch die Bedeutung des Kontakts und des Austauschs zwischen den Lokalkoordinator: innen und den Lernenden, auch untereinander. Viele Lernende äußerten den Wunsch nach einem (synchronen) Digitalunterricht in der vertrauten Runde anstelle des Versands von Mitteil‐ ungen und Aufgaben in einer großen, (über)regionalen Telegram-Runde. Daher wurde es von Projektseite sehr begrüßt, dass die Mittelgeber einem Online-Un‐ terricht während der Pandemie durch die regulären Lehrkräfte der KASA -Al‐ phabetisierungskurse, die Lokalkoordinator: innen, zustimmten. Diejenigen Lo‐ kalkoordinator: innen, die keinen Online-Unterricht durchführen konnten oder wollten, konnten bei Beginn der ersten Lockerungen unter Beachtung der re‐ gionalen Hygienevorschriften auch mit dem Präsenzunterricht weitermachen. 4.2.1 Formate und Richtlinien des ausgeweiteten KASA-Fernunterrichts Seit Oktober 2020 können aufgrund der Pandemie alle Lokalkoordinator: innen ihren Unterricht mit ihren Teilnehmenden ihrer ursprünglichen Präsenzkurse vorübergehend als Fernunterricht durchführen. Dafür wurden im Projekt nun genauere Richtlinien erstellt. Wie der Präsenzunterricht findet auch der On‐ line-Unterricht in den üblichen Lerngruppen zweimal wöchentlich mit je drei Unterrichtseinheiten statt. Als grundlegendes Kommunikationsmittel dient der Messengerdienst Telegram. Hier können, wie schon in der Erprobungsphase geschehen, Aufgaben und Nachrichten in der Gruppe und / oder individuell aus‐ getauscht werden. Mindestens zweimal im Monat trifft sich die Lehrkraft mit den Lernenden nach Möglichkeit auch per Video. Die Auswahl der dafür emp‐ fohlenen Software fiel auf das Konferenztool Jitsi, das mit Jitsi Meet auch eine einfach bedienbare App für das Smartphone zur Verfügung stellt. Der Unterricht per Video-App findet zu den üblichen Unterrichtszeiten im Umfang von drei Unterrichtseinheiten pro Sitzung statt. 186 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz Der Unterricht im ausgeweiteten KASA -Fernunterricht verläuft nach der folgenden Routine, die sich in der ersten Phase des Fernunterrichts bewährt hatte: Zu Unterrichtsanfang wird die Lerngruppe mit einer Nachricht begrüßt und die Aufgabenstellungen für den Tag werden genau erklärt, dann erfolgt der Versand der Aufgaben an die Teilnehmenden. Die Arbeitsergebnisse der Teil‐ nehmenden werden von ihnen abfotografiert und bis zum festgelegten Zeit‐ punkt der Gruppe oder der Lehrkraft als Privatnachricht geschickt. Es erfolgt eine Rückmeldung bzw. Korrektur zu den eingeschickten Aufgaben. Damit auch phonologische Bewusstheit, Hörverstehen und Aussprache (durch Nachspre‐ chen) im Messenger-gestützten Fernunterricht nicht zu kurz kommen, erhalten die Lernenden pro Unterrichtstermin den Zugang zu mindestens einer ent‐ sprechenden Multimediadatei in Form eines KASA - QR -Codes zugeschickt (vgl. Abb. 7). Die Lehrkräfte sind angehalten, jeden Teilnehmenden persönlich an‐ zusprechen und regelmäßig mit ihnen Kontakt zu halten. Das bedeutet auch, dass sie während der Unterrichtszeit telefonisch für Rückfragen erreichbar sind. Abb. 7: Aufgabenbeispiel mit zweisprachigen Instruktionen und QR-Code zu den Medi‐ endateien für einen Kurs mit arabischsprachigen Teilnehmenden Die Regionalkoordinator: innen begleiten und beraten die Lehrkräfte der KASA -Kurse. Sie sind Mitglieder der Telegram-Gruppen und hospitieren online in den Konferenztreffen der von ihnen betreuten Kurse. Auswertungsgespräche und Beratung finden nun online im Anschluss an den Unterricht statt. Darüber 187 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: hinaus wird einmal im Monat eine verbindliche Videokonferenz von den Regi‐ onalkoordinator: innen mit ihren Lokalkoordinator: innen abgehalten, bei der Fragen zum Unterricht geklärt werden. Die Lehrkräfte nehmen zudem an On‐ line-Schulungen des Projekts und Inputveranstaltungen durch die wissenschaft‐ liche Begleitung teil. Für die meisten Lehrkräfte war der Online-Unterricht etwas vollkommen Neues. Im ersten Lockdown und mit der anschließenden Ausweitung des KASA -Fernunterrichts wurden viele erstmalig dazu gezwungen, sich mit den Herausforderungen und Möglichkeiten des On‐ line-Unterrichts auseinanderzusetzen. Dadurch haben sie viel gelernt. 4.2.2 Dokumentation und Qualitätssicherung des ausgeweiteten Fernunterrichts Die Erfassung der Teilnehmenden erfolgt durch Teilnahmelisten, die von den Kursleitenden geführt werden. Das Unterrichtsgeschehen wird durch Monats‐ berichte zu den Kursinhalten und -themen und eine im Projekt erstellte Check‐ liste zur Qualität des Fernunterrichts dokumentiert. Die Lokalkoordinator: innen dokumentieren darin u. a. auch die Rückmeldungen der Lernenden zu den neuen Unterrichtsformaten. Darüber hinaus können die Lehrkräfte nun in der kolle‐ gialen Fallberatung SuRe auch konkret Stellung zum Online-Unterricht nehmen. Die Reflexionen und die erhaltenen Handlungsempfehlungen tragen zur Kom‐ petenzentwicklung von ganz verschiedenen Facetten des Fernunterrichts (von der technischen Ausstattung über die Kommunikation bis hin zur Motivation im digitalen Unterricht) entschieden bei. 4.2.3 Resonanz und Schwierigkeiten auf Seiten der KASA-Kursteilnehmenden Bei aller positiven Resonanz auf das digitale Fernunterrichtsangebot der KASA -Kurse (vgl. Seyfried 2020 auf Basis einer KASA -internen Telefonbefra‐ gung von Teilnehmenden) sehnen sich die Lernenden wieder danach, im Prä‐ senzunterricht zu lernen. Eine befragte Kursteilnehmerin drückt das in ihrer Erstsprache folgendermaßen aus: Immer wenn wir in der Moschee waren und dort Deutsch im Kurs gelernt haben, war es besser. Im Online-Unterricht geben wir unser Bestens und die Lehrerin gibt auch ihr Bestens. Die Lehrerin wartet, bis alle Teilnehmenden die Lösungen per Telegram schicken und dann korrigiert sie die Aufgaben. Einige kennen sich mit Telegram nicht gut aus. Sie schicken dann die Lösungen per WhatsApp. Die Lehrerin muss hin und her. Es gibt mehr Druck auf die Lehrerin. Der Aufwand wird verdoppelt. Das On‐ line-Lernen ist nicht schlecht, aber es ist nicht so gut wie der Unterricht in der Mo‐ schee, wo man vor Ort ist und die Lehrerin da ist. Die Wissensvermittlung braucht online mehr Zeit. (Teilnehmerin, 64 Jahre, KASA-Kurs in Berlin, Übersetzung ins Deutsche) 188 Ahmed Ezzat Ragab Hassan / Mary Matta / Anne Schwarz Zu den größten Hürden für den KASA -Online-Unterricht gehörten bei vielen Teilnehmenden die Stabilität ihrer Internetverbindung und das sehr begrenzte, ihnen zur Verfügung stehende Datenvolumen. Die schlechte Hardware- und Infrastrukturausstattung führte zu Bedienungsschwierigkeiten und zu häufigen Störungen etwa durch Hintergrundgeräusche und -gespräche während des On‐ line-Unterrichts. Zudem sind besonders bei Familien die Räumlichkeiten zum Lernen am Laptop, Tablet oder Handy stark beschränkt. Einige lernten im Bad oder in der Küche wegen ihrer Kinder, die selbst ebenfalls am Online-Unterricht ihrer Schulen teilnahmen. Manche Kursteilnehmenden hatten sich entschieden, ihren KASA -Kurs zugunsten des Online-Unterrichts ihrer Schulkinder abzu‐ brechen, obwohl sie gerne weitergelernt hätten. Manche Kursteilnehmenden wünschten sich die Ausweitung des wöchentlichen Umfangs des Fernunter‐ richts, da die Lerninhalte online insgesamt nur langsam vermittelt wurden. Sie wollten noch mehr lernen, als es im Fernunterricht möglich war. 5 Schlussbemerkungen Digitale Instrumente werden seit langem in oder begleitend zu einem Sprach‐ kurs eingesetzt und lassen sich im Bedarfsfall auch kurstragend erweitern. Di‐ gitaler Fernunterricht stellt in Pandemiezeiten eine unersetzliche Alternative zum ansonsten drohenden Kursabbruch dar. Dies bestätigen auch die meisten Teilnehmenden von KASA -Kursen mit Alphabetisierung vehement (vgl. Sey‐ fried 2020). Dabei ist es von großer Bedeutung, die gegebenen digitalen und multimedialen Kompetenzen der Teilnehmenden zu berücksichtigen und mit angemessener Begleitung zu erweitern. Dies erfordert eine entsprechende di‐ gitale Infrastruktur und mehrsprachige Ressourcen. Zugewanderte Menschen, die digitale Medien im Alltag bereits nutzen oder im Zuge des Fernunterrichts nutzen lernen, können ihr Lernen zunehmend selbst in die Hand nehmen, etwa indem sie selbstständig ihren Wortschatz mithilfe von Übersetzungs-Apps er‐ weitern oder sich mittels YouTube-Videos zu Deutschfragen informieren. Das Lernen mit digitalen Elementen fördert daher auch entscheidend die Lernerau‐ tonomie, ein zentraler Aspekt für lebenslanges Lernen. Die Erfahrungen im Projekt KASA haben gezeigt, dass sich Kurse auch mit Teilnehmenden ohne (viel) literale Kompetenzen als digitaler Fernunterricht durchführen lassen. Der Erfolg ist sehr stark von der Motivation und den An‐ strengungen aller Akteure abhängig, sowohl von den Kursteilnehmenden, für die der unmittelbare soziale Kontakt zu den Mitlernenden und der Lehrperson entfällt, von den Lehrkräften, die unter Umständen zum ersten Mal ihre analoge Komfortzone beim Unterrichten verlassen, als auch von den Partnerorganisati‐ 189 @lphabetisierung unter Lockdown-Bedingungen: onen und Trägern, die die räumliche und technische Infrastruktur stellen bzw. den regulatorischen Rahmen (mit)bestimmen. Lernende müssen technisch aus‐ gestattet werden, Lehrkräfte kontinuierlich für den sich schnell entwickelnden Markt für Digitalunterricht fortgebildet werden und Institutionen und Lernorte flexibel und schnell reagieren dürfen. Deutlich wurden aber auch die Grenzen für digitalen Fernunterricht unter den gegebenen Bedingungen. Auch Kursan‐ gebote, die wie im KASA -Projekt spezifische Kursformate erproben und fle‐ xibler als Integrationskursanbieter auf die Bedarfe von Lernenden und Lehr‐ kräften eingehen können, sehen sich allgemeinen Schwierigkeiten wie der unzureichenden digitalen Infrastruktur und den räumlichen Einschränkungen vieler Teilnehmender hilflos gegenüber. Sehr viele Lehrkräfte und Lernende stellten fest, dass Online-Unterricht zeit‐ aufwändiger als Präsenzunterricht ist und die Progression langsamer verläuft. Die Kommunikation benötigt viel mehr Zeit, da der Bedarf für Rückversiche‐ rungen und Wiederholungen angesichts fehlender non-verbaler Hilfsmittel und technischer Einschränkungen groß ist. Dementsprechend sollte für diejenigen Teilnehmenden, die große Schwierigkeiten mit dem digitalen Lernformat hatten, bei Bedarf das Stundenkontingent aufgestockt werden. So nützlich digitale Werkzeuge als Ergänzung zum Präsenzunterricht im Un‐ terricht in allen literalen und sprachlichen Niveaustufen sind, können sie ihn dennoch nicht ersetzen. In den ersten Stunden eines Alphabetisierungskurses ist es besonders schwierig online zu unterrichten, da die Lehrperson kaum sehen kann, wie die Kursteilnehmenden schreiben. Die Schreibrichtung und die Stift‐ haltung spielen als Grundlage für das Schreiben eine wichtige Rolle. Aber mit steigenden literalen Grundfähigkeiten, beispielsweise Graphemerkennung, Strategien zur Leserichtung und Silbenerkennung, werden hybride Lehr-Lern-Formate für gering literalisierte Menschen eine realistische Alterna‐ tive - in Zeiten mit oder ohne Pandemie. Literatur Albert, Ruth / Roder, Anne / Rokitzki, Christiane / Teepker, Frauke (2009): Alphabetisie‐ rung von erwachsenen Einwanderern. Methodische Vorgehen bei der Evaluation von Lehrmethoden. Report. 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Die vorliegende Untersuchung erkundet, inwiefern das bislang präsenzba‐ sierte Projekt Sprachbegleitung Geflüchteter pandemiebedingt auch digital vermittelte Zugänge zu Interaktions- und Sprachlerngelegenheiten schaffen und so die Auswirkungen der gesellschaftlichen und bildungsbezogenen Iso‐ lation für Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften abmildern kann. Auf‐ bauend auf einer Fragebogenuntersuchung werden dazu die Erfahrungen und Sichtweisen drei afghanischer bzw. iranischer Geflüchteter mittels episodi‐ scher Interviews elizitiert und im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Damit wird explorativ erforscht, welche Grenzen und Chancen digitaler Zugänge zu Interaktion und kommunikativer Praxis sich skizzieren lassen und welche Konsequenzen sich für die Gestaltung von Sprachlern- und Partizipationsmöglichkeiten für Geflüchtete ableiten lassen. 1 Einführung Im Zusammenhang mit der steigenden Zahl schutzsuchender Menschen, die insbesondere seit dem Jahr 2015 aus Kriegs- und Krisenregionen nach Deutsch‐ land kommen (vgl. BAMF 2016: 9), steht ein zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete: Oft sind es Ehrenamtliche, die die Geflüchteten durch infor‐ melle Helferkreise, Sprachpatenschaften oder weitere Angebote maßgeblich unterstützen (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2017: 6). Dabei zeigen gerade niederschwellige Pat*innen-Modelle eine besondere Wirksamkeit, da diese die Herstellung unmittelbarer persönlicher Kontakte und Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen und auf die individuellen Bedürfnisse der Geflüch‐ teten ausgerichtet werden können (vgl. Roß 2020: 374). In diesem Kontext ist das Projekt Sprachbegleitung Geflüchteter zu verorten, das seit 2016 an der Universität Paderborn durchgeführt wird. Aufgrund der Tatsache, dass Geflüchtete Sprache so schnell wie möglich brauchen (vgl. Krumm 2015), bis zum Zugang zu einem regulären Sprachkurs jedoch viel Zeit vergeht, werden in diesem Projekt sprachliche Begegnungen zwischen ihnen und Studierenden des Lehramts geschaffen, die die persönlichen, sozialen oder (aus-)bildungsbezogenen Bedürfnisse der Geflüchteten fokussieren. Aufgrund des COVID -19-bedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 musste dieses Projekt auf virtuelle Räume ausweichen. Statt des gemeinsamen Handelns in authentischen Lebenssituationen mussten nun Anlässe zur Auseinanderset‐ zung mit der soziokulturellen Umgebung geschaffen werden, die digital umge‐ setzt werden konnten. Dieser Beitrag fokussiert die Fragestellungen, inwiefern in virtuellen Räumen Zugänge zu kommunikativer Praxis in der zu lernenden Sprache Deutsch ge‐ schaffen werden können und wie digitale Interaktionsgelegenheiten aus Sicht der Geflüchteten die Aneignung sprachlicher Kompetenzen unterstützen und soziale sowie bildungsbezogene Teilhabe ermöglichen. Hierfür wurden zunächst 23 iranische und afghanische Geflüchtete mittels Fragebögen und im Anschluss drei der Teilnehmenden mittels Interviews befragt. Auf der Basis der Interview‐ daten erkundet diese Studie explorativ, welche Grenzen und Chancen digitaler Sprachbegleitung sich für Geflüchtete mit eingeschränktem Zugang zu kom‐ munikativer Praxis skizzieren lassen. 2 Verortung und Beschreibung des Projekts Sprachbegleitung Geflüchteter 2.1 Theoretische Rahmung und empirische Grundlagen des Projekts Darauf, wie gut und wie schnell Menschen eine Zweit- oder Fremdsprache lernen, nehmen zahlreiche Faktoren Einfluss. Ein Faktor, der von hoher Bedeu‐ tung für die Aneignung einer neuen Sprache ist, ist der Zugang zu kommuni‐ kativer Praxis (vgl. Ohm 2015) bzw. das Vorhandensein von Angeboten zur Be‐ teiligung an zielsprachlicher Kommunikation. Diesen Aspekt betont vor allem auch der soziokulturelle Ansatz, der verdeutlicht, dass die sprachliche, kognitive und soziale Entwicklung von Lernenden in der Interaktion mit der soziokultu‐ rellen Umgebung stattfindet (vgl. Vygotsky 1978; Lantolf / Thorne 2006). Dabei ist die Aneignung von Sprache nicht nur ein angestrebtes Resultat der Interak‐ 196 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus tion mit der Umgebung, sondern gleichzeitig auch Voraussetzung für eine wachsende gesellschaftliche Teilhabe, denn „Sprache ist der hauptsächliche Träger des sozialen Handelns, mit ihr werden komplexe Handlungen gesteuert, sie ermöglicht Verständigung und Kooperation“ (Lüdi 2006: 11). Erst die Be‐ herrschung von Sprache ermöglicht es, „,eine Stimme zu haben‘ und die eigene Position bzw. Meinung ‚vertreten‘ zu können“ (Walther 2020: 172). Gleichzeitig kann Sprache aber auch als Instrument der Ausgrenzung dienen bzw. „Sprach‐ ohnmacht“ (Lüdi 2006: 10) und „Sprachlosigkeit“ (Plutzar 2016: 118 f.) hervor‐ rufen. Da sprachliches Lernen in und durch die Partizipation an sozialen Praktiken stattfindet (Lantolf 2011: 25), ist davon auszugehen, dass die Zugriffsmöglich‐ keiten Geflüchteter zu sozialen Praktiken und kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache maßgeblichen Einfluss auf ihre Sprachaneignung und damit auf Teilhabemöglichkeiten ausüben. Diese Zugriffsmöglichkeiten stehen jedoch nicht immer in ausreichendem Umfang zur Verfügung: „Migration ist vielge‐ staltig, eröffnet Opportunitäten, geht aber häufig mit einem Verlust ökonomi‐ schen, kulturellen und sozialen Kapitals einher. Dies gilt besonders bei unfrei‐ williger Fluchtmigration.“ ( Jungk / Morrin 2020: 274 f.) Empirisch bestätigt wird diese Annahme durch Daten des Mikrozensus‘, die zeigen, dass für Zugewanderte der Zugang zu sozialen Kontakten mit Deutsch Sprechenden und gesellschaftliche Partizipation aufgrund von Verständigungs‐ schwierigkeiten und fehlenden Begegnungsmöglichkeiten häufig erschwert sind (vgl. Rühl / Babka von Gostomski 2012: 33 ff.). Ähnliches bestätigen auch Atanasoka / Proyer (2018) anhand von Interviews mit (jungen) Geflüchteten: Die nach Österreich Zugewanderten berichten, dass sie selbst und häufig auch ihre Eltern nicht durchgängig Zugang zu Sprachlernangeboten haben. In der Schule werden sie aufgrund ihrer Teilnahme am Deutschunterricht für Ge‐ flüchtete von „österreichischen“ Schüler*innen separiert, sodass es für sie schwierig ist, Teil der Klasse zu sein und Mitschüler*innen kennenzulernen (vgl. Atanasoka / Proyer 2018: 280). Die Auswertung zeigt des Weiteren, dass die Bil‐ dungsmöglichkeiten der geflüchteten Schüler*innen häufig mit zufälligen Ge‐ gebenheiten sowie auch dem Schultyp zusammenhängen, den sie besuchen (vgl. Atanasoka / Proyer 2018: 282). Auch bei nicht mehr schulpflichtigen Jugendli‐ chen hängt die weiterführende Bildung von Zufällen ab. Ferner zeigen die Daten, dass junge Geflüchtete häufig institutionelle Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren (vgl. Atanasoka / Proyer 2018: 285). Darauf, dass sich diese Situation der eingeschränkten Teilhabe Geflüchteter in Deutschland ähnlich gestaltet, weisen Interviewdaten von Havkic et al. (2018) mit geflüchteten Schüler*innen beruflicher Schulen hin. 197 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen 1 Zu den Inhalten und der Umsetzung des Begleitseminars siehe Havkic (2019). Mit Blick auf die Situation geflüchteter Kinder, die während der COVID -19-Pandemie in Sammelunterkünften leben, zeigt Rude (2020), dass ihre Teilhabe stark eingeschränkt ist; sie verfügen über weniger digitale Ausstattung, werden teilweise nicht von der Schulpflicht erfasst und der Zugang zu sowohl ehrenamtlichen als auch psychosozialen Angeboten ist erschwert. Rude (2020) stellt des Weiteren fest, dass das Leben in Sammelunterkünften zu Isolation führt. 2.2 Projektkonzept und Zielsetzung Das Projekt Sprachbegleitung Geflüchteter wurde im September 2016 an der Universität Paderborn mit zwei Hauptzielen aufgesetzt: Einerseits sollen mit dem Angebot Geflüchtete in der Region in ihren individuellen Belangen und ihrer Sprachaneignung unterstützt werden. Andererseits zielt das Projekt auf die Professionalisierung im Lehramtsstudium. Mit dem Projekt werden insbesondere Schutzsuchende unterstützt, die wäh‐ rend ihres Asylverfahrens bzw. aufgrund ihres Aufenthaltsstatus‘ (noch) keinen Zugang zu Integrationskursen oder Maßnahmen zur Arbeitsförderung haben, sowie geflüchtete Personen, die sich neben oder nach einem regulären Sprach‐ kurs mehr Sprachpraxis wünschen. Die Sprachbegleitung Geflüchteter bietet eine vielfältige und auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Unterstützung an. Dazu gehören beispielsweise die Begleitung bei Behördengängen, Hilfeleistung bei Fragen zum Bildungs- und Gesundheitssystem oder Erstorientierung und Ken‐ nenlernen der örtlichen Freizeitangebote. Gleichzeitig werden sie bei der An‐ eignung der deutschen Sprache und in der Stärkung ihrer Lernendenautonomie unterstützt. Die gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten wird somit gestärkt, indem durch „Sprachbegegnungen“ (Krumm 2015: 5) Zugänge zu kommunika‐ tiver Praxis und zum gesellschaftlichen Leben in der Region geschaffen werden. Mit Blick auf die Professionalisierung im Lehramtsstudium kommt die Sprachbegleitung dem generellen Wunsch der Lehramtsstudierenden nach mehr reflektierter Praxiserfahrung im Studium nach (vgl. Martensen 2019: 9). Das Projekt bietet Studierenden die Möglichkeit, Erfahrungen im Umgang mit sprachlicher und multiethnischer Vielfalt in Schulen und in der Gesellschaft zu sammeln, um eine professionelle und wertschätzende Haltung zu entwickeln (vgl. HRK / KMK 2015). Die Studierenden erwerben in einem Begleitseminar Wissen über die spezifische Lebenssituation Geflüchteter, ihre Unterstützungs‐ bedarfe, aber auch ihre Ressourcen. Darüber hinaus erhalten sie Einblicke in die Didaktik des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache 1 . Die praktische Tätigkeit 198 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus 2 https: / / www.vhs-lernportal.de/ als Sprachbegleiter*in umfasst die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen und erfolgt entweder individuell, in Familien oder Klein‐ gruppen, an Schulen oder in Unterkünften für Geflüchtete sowie seit Beginn der Pandemie im digitalen Raum. Die sprachbegleitenden Treffen finden i. d. R. ein bis zwei Mal pro Woche für etwa ein bis zwei Stunden statt. Je nach Bedürfnissen der Geflüchteten dient die Sprachbegleitung dazu, Sprache in kommunikativen Situationen zu verwenden und zu üben oder beispielsweise Unterstützung bei schulischen oder sprachkursbezogenen Aufgaben zu erhalten. An dem Projekt nehmen pro Semester durchschnittlich 15 bis 25 Studierende im Rahmen ihres Berufsfeldpraktikums ( BFP ) oder ehrenamtlich teil. Sie be‐ gleiten pro Semester etwa 20 bis 35 geflüchtete Personen. 2.3 Veränderung der Sprachbegleitung unter COVID-19-Bedingungen Infolge des ersten COVID -19-Lockdowns im Frühjahr 2020 mussten Bildungs‐ einrichtungen ihre Lernangebote kurzfristig umstellen, sodass viele Bildungs‐ angebote in den digitalen Raum verlagert und Sprachkurse für Geflüchtete ab‐ rupt abgebrochen wurden. Vor diesem Hintergrund wurde die Sprachbegleitung Geflüchteter neu ausgerichtet. Während vor dem Ausbruch der Pandemie Stu‐ dierende ihre Sprachpartner*innen beispielsweise beim Einkaufen begleiteten, sie in Präsenztreffen bei der Aufbereitung schulbezogener Inhalte unterstützten oder gemeinsam gekocht wurde, waren solche Aktivitäten im Lockdown nicht mehr möglich. Stattdessen wurden nun Video- und Telefongespräche genutzt, um beispielsweise alltagsrelevante Themen (wie Wohnungs- und Arbeitssuche, Bus- und Bahnverkehr) zu besprechen, das Führen von Gesprächen im Rahmen von Arztbesuchen zu üben oder gemeinsam rezipierte Filme und Hörbücher zu diskutieren. Neben diesen synchronen wöchentlich stattfindenden Videocalls erfolgten auch asynchrone Aktivitäten. Hier wurden v. a. E-Mails und Whats- App-Nachrichten ausgetauscht. Des Weiteren probierten Studierende und Sprachpartner*innen gemeinsam digitale Sprachlernmöglichkeiten aus (z. B. das VHS -Lernportal  2 ). Damit verfolgte das Projekt trotz der veränderten Bedingungen weiterhin das Ziel, den Geflüchteten je nach individuellen Bedürfnissen Sprachbegegnungen und Zugänge zur Sprachaneignung zu ermöglichen. Da einige Geflüchtete deut‐ lich den Wunsch nach Deutschunterricht äußerten, entwickelten manche Stu‐ dierende neben den individuellen sprachbegleitenden Konzepten auch sprach‐ unterrichtsähnliche Ansätze, obwohl sie sich v. a. aufgrund ihrer Teilnahme am Begleitseminar darüber bewusst waren, dass sie keine professionellen Sprach‐ 199 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen 3 Im Rahmen dieses Beitrags wird von den Autorinnen der Begriff „Flüchtling“ und das Konzept „Integration“ aus migrationspädagogischer Perspektive durchaus kritisch be‐ trachtet, in wörtlichen Zitaten aber beibehalten (zu einer kritischen Kommentierung des Integrationsdiskurses vgl. Lingen-Ali & Mecheril 2020). lehrkräfte sind und dass Sprachunterricht für Geflüchtete eigentlich nicht de‐ professionalisiert werden darf. Die Studierenden sowie die Projektleitung be‐ fanden und befinden sich somit in einem Konflikt, der immer wieder zum Thema des Begleitseminars gemacht und reflektiert wird. An der Sprachbegleitung im Sommersemester 2020 nahmen insgesamt 31 Geflüchtete teil, von denen viele aufgrund des Lockdowns einen gerade be‐ gonnenen Deutschkurs unterbrechen mussten und aufgrund ihrer Unterbrin‐ gung in Gemeinschaftsunterkünften vom Zugang zur deutschsprachigen Ge‐ sellschaft weitgehend abgeschnitten waren. Begleitet wurden sie von insgesamt 14 Lehramtsstudierenden unterschiedlicher Schulformen und -fächer; jede*r der Studierenden begleitete zwei oder drei Personen. Die Sprachbegleitung im Sommersemester 2020 fand überwiegend digital statt. Gegen Ende des Semesters wurde das Kontaktverbot aufgehoben, sodass es in einigen Fällen auch zu persönlichen Treffen zwischen den Studierenden und Geflüchteten kam. 3 Forschungsstand zu (digitalen) sprach(lern)begleitenden Projekten 3.1 Sprachbegleitung als Brücke zwischen Ehrenamt und institutionellem Lernen Da Geflüchtete häufig Ausgrenzung erfahren und nicht immer Zugang zu kom‐ munikativer Praxis haben (siehe Abschnitt 2), soll die (digitale) Sprachbeglei‐ tung ebensolche Zugänge ermöglichen. Obwohl in den letzten Jahren ein be‐ merkenswerter Anstieg ehrenamtlichen Engagements in der sog. „Flüchtlingshilfe“ 3 zu verzeichnen ist (vgl. Schiffauer et al. 2017) und sich der größte Teil dieser ehrenamtlichen Tätigkeiten auf den Sprachunterricht Ge‐ flüchteter bezieht (vgl. Kleist 2017: 27; Stein / Weingraber 2019: 8), ist der Bereich der (digitalen) Sprachbegleitung als Brücke zwischen Ehrenamt und instituti‐ onellen Deutschlern-Angeboten bisher wenig erforscht. Insbesondere zum Kon‐ text des vorliegenden Projekts, der Sprachbegleitung Geflüchteter durch Stu‐ dierende, die einerseits keine professionellen Sprachlehrkräfte sind, andererseits aber im Rahmen des Begleitseminars auf diese Tätigkeit vorbereitet 200 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus 4 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ehrenamtlich Tätige i. d. R. keine profes‐ sionellen DaZ / DaF-Lehrkräfte sind und deren Tätigkeiten aus Sicht der Autorinnen mit Blick auf eine mögliche Deprofessionalisierung von DaZ / DaF-Unterricht eher nicht als Sprachunterricht bezeichnet werden sollten, was jedoch in der Literatur häufig der Fall ist (z. B. Kleist 2017 oder Stein / Weingraber 2019). und begleitet werden und damit keine ausschließlich ehrenamtlich Tätigen sind, liegt nur in sehr eingeschränktem Umfang Forschung vor. Zu erwähnen ist in diesem Kontext die Studie von Massumi (2016), die die Bedeutung eines BFP für die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden untersucht, die „Sprachförderung“ für geflüchtete Kinder und Jugendliche ge‐ stalten, die sich in Notunterkünften befinden und keinen Schulzugang haben. Während dieses BFP ähnlich konzipiert ist wie das hier untersuchte Projekt, so liegt der Fokus jener Analyse jedoch auf der Lehrer*innenbildung: Die Analyse der E-Portfolios der Studierenden zeigt, dass die reflexive Auseinandersetzung mit ihrer Tätigkeit vor allem die „eigene Sensibilisierung für das Thema Flücht‐ linge sowie die Bedeutung ihrer Erfahrungen im BFP für ihre Rolle als zukünf‐ tige Lehrkraft“ (Massumi 2016: 207) betrifft. Somit bleiben die Perspektiven der Geflüchteten und das Potenzial des Pro‐ jekts für ihre Teilhabe und den Zugang zu kommunikativer Praxis bislang un‐ erforscht. Um die Sprachbegleitung durch Studierende trotz der einge‐ schränkten Forschungslage greifbar zu machen, weiten wir den Blick im Folgenden auf die Bereiche Ehrenamt und Patenschaften aus, die vielfache Be‐ rührungspunkte mit dem vorliegenden Projekt aufweisen. Denn im Gegensatz zum Themenfeld der Sprachbegleitung Geflüchteter durch Studierende liegen zu den Potenzialen und Wirkungen ehrenamtlicher Tätigkeit im Bereich von sog. Sprachunterricht  4 zumindest einige wenige Erkenntnisse, Erfahrungsbe‐ richte und Empfehlungen vor, die herangezogen werden können. Eine empirische Studie zu den Potenzialen und Wirkungen ehrenamtlicher Arbeit mit Geflüchteten stellt Kleist (2017) zur Verfügung, in der er die Ergeb‐ nisse einer Online-Befragung von mehr als 4000 ehrenamtlich Tätigen präsen‐ tiert. Mit seiner Befragung will er Einblicke in die soziodemografische Zusam‐ mensetzung der Gruppe der ehrenamtlich Tätigen gewinnen und „Faktoren und Motive des ehrenamtlichen Engagements für Flüchtlinge“ (Kleist 2017: 28) un‐ tersuchen. Seine Ergebnisse zeigen, dass unterrichtliche Angebote, insbeson‐ dere in Form von Sprachunterricht, eine der häufigsten Tätigkeiten von Ehren‐ amtlichen sind. Darüber hinaus zeigt er, dass Ehrenamtliche erwachsene und junge Geflüchtete mit Sprachunterricht, Integrationskursen und Nachhilfeun‐ terricht auf ein „partizipatives Zusammenleben mit der aufnehmenden Gesell‐ schaft vor[bereiten]“, „soziale Beziehungen […] bereit[…]stellen“ und damit so‐ 201 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen ziales Kapital produzieren können, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe am Bildungssystem ist (Kleist 2017: 30). Er schlussfolgert, dass eh‐ renamtliches Engagement „Zugänge zur Gesellschaft schafft und Institutionen dazu bringt, sich für Neuankommende zu öffnen“ (Kleist 2017: 30). Eine spezifische Form der ehrenamtlichen Tätigkeit stellen Patenschaften dar. Diese zeichnen sich gerade auch durch ihre Orientierungsfunktion sowie da‐ durch aus, dass sie Zugänge zu Bildungs- und Freizeitangeboten schaffen, die auf Stärkung von Selbsthilfe und Empowerment abzielen (vgl. Huth 2017: 11). Die Beziehung in der Patenschaft ist konzeptionell kooperativ und ‚auf Augen‐ höhe‘ angelegt. Dabei unterstützen Pat*innen zugewanderte Personen in ihrem Alltag durch persönliche Beratung, Begleitung und konkrete Hilfestellung (vgl. Huth 2017: 10) und fungieren so als Sprach- und Kulturmittler*innen. Somit können Pat*innen „eine einzigartige Beziehung zu Flüchtlingen aufbauen, indem sie gezielt auf Menschen zugehen, persönliche Berührungspunkte her‐ stellen und mit den Flüchtlingen eine ganzheitliche Begegnung erleben“ (vgl. Han-Broich 2015: 45). Gleichzeitig unterstützen Pat*innen Geflüchtete dabei, eigenständige Bewältigungsformen in ihrem neuen Lebensumfeld zu entwi‐ ckeln und diese neue Umgebung aktiv mitzugestalten (vgl. Häseler-Bestmann et al. 2019: 169 ff.). Auch wenn bislang generell nur wenige wissenschaftliche Studien zu Lotsen-, Patenschafts- und Mentoring-Projekten vorliegen (vgl. Gesemann et al. 2020: 9), kann somit festgehalten werden, dass ehrenamtliche Projekte im Allge‐ meinen und Patenprojekte im Besonderen einen Beitrag zur Partizipation leisten, insbesondere wenn es um Sprachaneignung und (Aus-/ Weiter-)Bildung geht (vgl. Heckmann 2015: 16). Die Charakteristiken und Zielsetzungen von ehrenamtlichen bzw. Patenprojekten greift auch die Sprachbegleitung Geflüch‐ teter auf, wobei das besondere Augenmerk auf der Frage liegt, inwiefern das digitale Format Zugänge zu kommunikativer Praxis und gesellschaftlicher Teil‐ habe schaffen kann. 3.2 Sprachvermittlung und -begleitung im digitalen Raum Während der Bereich der digitalen Sprachbegleitung bisher kaum erforscht ist, so wird das Unterrichten von Fremd- und Zweitsprachen mittels digitaler Me‐ dien im Rahmen der Computerbzw. Mobile-Assisted-Language-Learning-For‐ schung intensiv untersucht (vgl. Falk 2019: 21 ff.). Sowohl im Bereich der For‐ schung als auch der Bildungspolitik wird in diesem Kontext der Einbindung (mobiler) Technologien, sozialer Netzwerke und Anwendungen (Apps) aus dem Alltag der Lernenden in den Sprachunterricht schon seit einiger Zeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Falk 2019: 26 ff.; Schiefner-Rohs 2017). Auch im 202 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus Rahmen eher informell gestalteter Lernprozesse, wie sie im hier betrachteten Projekt stattfinden, kommt dem Einbezug der alltäglichen Mediennutzung der Lernenden eine bedeutende Rolle zu, da sie Sozialisierungsprozesse und soziale Teilhabe unterstützt und so nicht nur hohe alltagsweltliche, sondern auch lern‐ bezogene Relevanz besitzt. Auffällig ist dabei, dass die Einbindung digitaler Me‐ dien in den Sprachunterricht vorrangig in fremdsprachlichen Kontexten unter‐ sucht wird und hierbei vor allem der Einbezug textbasierter Formen der computergestützten Kommunikation (z. B. E-Mails, Blogs, Chats) in den tradi‐ tionellen Präsenzunterricht fokussiert wird (vgl. Drumm et al. im Druck). Zudem wird betont, dass trotz des vielfach attestierten Mehrwerts digitaler Medien im Sprachunterricht der didaktisch-methodischen Vorbereitung und Begleitung der digitalen Mediennutzung durch die Lehrkraft eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Zink 2019: 30). Der vorliegende Untersuchungskontext weicht jedoch in mehrfacher Hin‐ sicht von der aktuellen Studienlage ab: Wir betrachten nicht nur die außerun‐ terrichtliche, eher informelle Unterstützung von Zweitspracherwerb und Parti‐ zipation, sondern bewegen uns aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen im Bereich der audio-/ videogestützten Interaktions- und Lernkontexte. Einige der grundsätzlichen Vorteile dieser Interaktionsform um‐ fassen: die Möglichkeit, die dynamische Face-to-Face-Interaktion über große Distanzen hinweg simulieren (vgl. Milojković 2019: 99) sowie diverse Medien, Lernmaterialien und Informationsquellen einbinden zu können; die Unterstüt‐ zung des selbstregulierten und -engagierten Lernens (vgl. Sama / Wu 2019: 92); und eine zumeist positive Einstellung der Lernenden gegenüber videogestützten Lernformen (vgl. Drumm et al. im Druck; Yanguas 2012: 523). Zudem zeigen Hoshii und Schumacher (2016, 2020), dass Videokonferenzen die interaktionale Kompetenz bei Lernenden und angehenden Lehrenden fördern können und die Akteur*innen die videogestützte Kommunikation als authentisch und motivie‐ rend empfinden. Zugleich erweisen sich diese Lernkontexte als problematisch hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen auf Seiten der Lernenden und Lehrenden, die nicht nur über entsprechende Kompetenzen im Umgang mit di‐ gitalen Medien, sondern auch über (stabilen) Internetzugang und eine techni‐ sche Ausstattung verfügen müssen (vgl. Giglio 2019: 25; Steininger 2020: 70). Als Herausforderung erweist sich außerdem die Schaffung von informellen In‐ teraktionsmöglichkeiten (vgl. Drumm et al. im Druck), die gerade im Rahmen von sozialer Teilhabe von großer Bedeutung für die Sprachlernenden sind. An ebendieser Stelle setzen Projekte wie die Sprachbegleitung Geflüchteter und weitere Angebote im Bereich Deutsch als Zweitsprache an, von denen zwei exemplarisch beleuchtet werden sollen. Zum einen ist der Live Online Sprachkurs 203 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen 5 Vgl. dazu: https: / / www.uni-augsburg.de/ de/ campusleben/ neuigkeiten/ 2020/ 07/ 13/ 2466 6 Vgl. dazu: https: / / plaz.uni-paderborn.de/ lehrerbildung/ professionalisierung-im-lehram t/ projekt-vielfalt-staerken/ 4 Deutsch für Geflüchtete, ein Kooperationsprojekt der Leuphana-Universität Lü‐ neburg, zu nennen, der sich an geflüchtete Studieninteressierte und v. a. solche mit unsicherem Aufenthaltsstatus und aus dem ländlichen Raum richtet (vgl. Janca 2019: 151). Dozierende von Partnerhochschulen vermitteln theoretische Grundlagen ausgewählter Studienrichtungen auf Englisch, während parallel synchron geführte Online-Sprachkurse für Deutsch aller Niveaustufen ange‐ boten werden. Als Herausforderungen des Programms erweisen sich v. a. tech‐ nische Aspekte hinsichtlich Ausstattung und Umgang sowie unterschiedliche Erwartungen von Lernenden und Lehrenden bzgl. der Lerninhalte. Die Lernenden empfinden jedoch gerade das angebotene Konversationstraining als Vorteil des Programms gegenüber traditionellen digitalen Selbstlernangeboten (vgl. Janca 2019: 162 f.). Ein zweites digitales Projekt, das sich speziell an ju‐ gendliche Geflüchtete im Raum Bremen richtet, ist die Entwicklung der mobilen App Moin, „that enables and motivates both local and migrant teenagers to meet for social events and provides some assistance with contextual language learning“ (vgl. Ngan et al. 2016: 522). Mittels dieser App können Nutzer*innen Events erstellen oder an diesen teilnehmen, um so andere Nutzer*innen mit ähnlichen Interessen zu finden und Gelegenheiten zum informellen Sprachenlernen und sozialer Teilhabe zu nutzen. Zusätzlich bietet die App Wortschatzübungen an, die sich an möglichen Events, Aktivitäten und kulturellen Besonderheiten in Bremen ausrichten. Erste Nutzertests zeigen dabei, dass die Geflüchteten eher Probleme mit der Nutzung der App berichten als die nicht-geflüchteten Nutzer*innen (vgl. Ngan et al. 2016: 524), was abermals Herausforderungen bzgl. Technik und Teilhabe unterstreicht. Auch wenn die Daten- und Studienlage hinsichtlich der hier vorgestellten Projekte und in diesem Forschungsbereich allgemein eher gering ist, so zeigt sich, dass schon vor dem pandemiebedingten Ausfall von Präsenzangeboten die Notwendigkeit erkannt wurde, die traditionellen Sprachlern-, Bildungs- und Teilhabeangebote für Geflüchtete durch digitale Optionen zu ergänzen, um As‐ pekte der Benachteiligung auszugleichen und die Mediennutzungsgewohn‐ heiten der Zielgruppe(n) einzubeziehen. Überdies sind gerade im Zuge der COVID -19-Pandemie weitere Angebote entstanden, zu denen z. B. das vom Stif‐ terverband ausgezeichnete Projekt DaZ-Buddies: Kau mir ein Ohr ab! zählt, das sich speziell an Schulkinder richtet und von der Universität Augsburg durch‐ geführt wird 5 . Auch das ebenfalls vom Stifterverband ausgezeichnete Projekt Vielfalt stärken - Sprachbildung digital der Universität Paderborn 6 zählt zu 204 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus diesen Projekten. Des Weiteren ist das Projekt digitaler Sprachpatenschaften der Tür an Tür Integrationsprojekte gGmbH in Augsburg anzuführen, bei dem eh‐ renamtliche Dozierende gering literalisierte und lernungewohnte Geflüchtete durch videobasierten Sprachunterricht unterstützen (vgl. Waggershauser / Lier 2021). Waggershauser und Lier (2021) zeigen dabei die Bedeutung von digitalen Medien auf und veranschaulichen anhand empirischer Beispiele digitale Prak‐ tiken von Kursteilnehmenden. Die Erforschung dieses besonderen Lernkon‐ textes im Rahmen der Ermöglichung von Zweitspracherwerb und sozialer Teil‐ habe ist somit besonders dringlich. 4 Forschungsdesign In einem ersten Schritt wurden 18 iranische und fünf afghanische Geflüchtete mittels Fragebögen befragt, um erste Erkenntnisse über ihre (Sprachlern-)Bio‐ grafien, technischen Rahmenbedingungen, Erfahrungen mit der digitalen Sprachbegleitung, Interaktion mit den Sprachbegleitenden und ihr Deutsch‐ lernen in Lerngruppen zu erhalten. Der Fragebogen wurde in den Erstsprachen (Dari / Farsi) der Geflüchteten verfasst und ausgefüllt. Wie hierbei ermittelt werden konnte, nahmen viele der Geflüchteten mithilfe ihres Mobiltelefons an der Sprachbegleitung teil; nur wenigen stand ein Tablet oder Computer zur Verfügung. Die Teilnehmenden hatten sich mehrheitlich für das Projekt ent‐ schieden, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, Deutsch zu lernen und weit‐ gehend von Teilhabe am gesellschaftlichen und Arbeitsleben abgeschnitten waren. Die Auswertung der Fragebögen stellte die Grundlage für die Auswahl der drei Proband*innen dar, die an den Interviews teilnahmen. Die Auswahl richtete sich nach der Strategie der maximalen Variation (vgl. Flick 2011: 165), um ein möglichst breites Spektrum an (sprachlern-)biografischen Hintergründen und Erfahrungen mit dem Projekt abzudecken, wobei neben der Einbindung in so‐ ziale und bildungsbezogene Strukturen auch das Alter, der (Aus-)Bildungsstatus, Sprachlernerfahrungen und die allgemeine Lebenssituation als Kriterien heran‐ gezogen wurden. Bei dem Interview handelte es sich um ein semi-strukturiertes Leitfaden-In‐ terview, das in Anlehnung an das episodische Interview konzipiert wurde. Hierbei werden mittels gezielter Erzählaufforderungen und Fragen narrative und argumentative Elemente elizitiert, um so bedeutsame Situationen und Er‐ fahrungen, aber auch Generalisierungen, Abstraktionen und Zusammenhänge aus Sicht der Teilnehmenden zu beleuchten (vgl. Flick 2011: 270 f.; Lamnek 2005: 362). So wurden die Teilnehmenden fortlaufend zu ausführlichen Erzählungen 205 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen 7 Die Namen der Teilnehmenden wurden durch Pseudonyme ersetzt. aufgefordert; zugleich wurden mittels zielgerichteter Nachfragen allgemeinere Zusammenhänge thematisiert. Um möglichst dichte Narrationen zu erhalten, wurden die Interviews von einer Muttersprachlerin auf Dari / Farsi geführt und anschließend transkribiert (soweit möglich nach CHAT -Konventionen, vgl. MacWhinney 2021) und ins Deutsche übersetzt. Die Interviews variierten in der Länge zwischen ca. 45 und 80 Minuten und wurden im Februar und März 2021 mittels Videokonferenz durchgeführt und aufgezeichnet. Für zwei der Inter‐ viewten (Amira 7 , Saeeda) lag die Teilnahme an der Sprachbegleitung zum Zeit‐ punkt des Interviews ca. 6 Monate zurück (Teilnahmezeitraum: 04-07 / 2020); der dritte Interviewte (Sami) nahm weiterhin an der Sprachbegleitung teil (Teil‐ nahmezeitraum: 04-07 / 2020 sowie 10 / 2020-02 / 2021). Das Interview fokussierte die Partizipationserfahrungen und -möglichkeiten im Alltag sowie an Bildung, die Wahrnehmung der Projektteilnahme allgemein und hinsichtlich der digitalen Umsetzung, die Interaktion mit den Sprachbeg‐ leitenden sowie die Sprachlernsituation vor und nach der Projektteilnahme. Die Auswertung der Interviewdaten richtete sich nach den Prinzipien der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010). Dabei wurden die Interview‐ texte induktiv nach den folgenden Hauptkategorien strukturiert: 1) Alltag und soziale Teilhabe der Teilnehmenden, 2) ihre Sprachverwendung und ihr (Spra‐ chen-)Lernen sowie 3) ihre Erfahrungen und Bewertungen hinsichtlich der Sprachbegleitung Geflüchteter. Innerhalb dieser Hauptkategorien wurden Un‐ terkategorien gebildet, die sich einzelnen Teilaspekten widmeten; z. B. bestand Hauptkategorie 2 aus den Unterkategorien: Sprachverwendung im Alltag; ak‐ tuelle Sprachlernsituation; Einschätzung der Sprachaneignung; Erfahrungen mit institutionellem Lernen; Lernziele. Um die Lebenssituation und Erfahrungen in Breite und Tiefe erfassen zu können, wurden anschließend Darstellungen zu jedem Teilnehmenden erarbeitet (siehe Abschnitt 5). Zum Schluss wurden die wichtigsten Ergebnisse innerhalb der Hauptkategorien übergreifend zusam‐ mengefasst und diskutiert (siehe Abschnitt 6). 5 Ergebnisse der Untersuchung 5.1 Sami Sami ist zur Zeit des Interviews 19 Jahre alt. Als Teil der (sprach-)lernbiogra‐ phischen Informationen gab er im Fragebogen an, dass er etwa 6 Jahre zuvor als unbegleiteter Minderjähriger aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist. Seine Erstsprache ist Dari. Er spricht auch Farsi und Usbekisch. In seiner Heimat 206 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus hat er keine Schule besucht und als Bauer gearbeitet. In Deutschland ange‐ kommen, besuchte er zuerst eine Hauptschule, die in der Region ausschließlich für neu zugewanderte Schüler*innen eingerichtet wurde. Die Schüler*innen werden dort ca. zwei Jahre beschult und anschließend an andere Schulen ver‐ wiesen. Anschließend absolvierte er an einer beruflichen Schule einen Haupt‐ schulabschluss. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich im ersten Jahr einer beruflichen Ausbildung und lebt im Umland der Stadt Paderborn in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. Seine Wohneinheit teilt er sich mit einer weiteren Person. Er kann aufgrund seines Aufenthaltstitels seinen Wohnort nicht frei wählen. In Bezug auf die Verhältnisse, die sein Leben bestimmen, äußert Sami wäh‐ rend des Interviews, dass er mittlerweile sein Leben selbstständig bewältigen kann, worauf er stolz ist: (1) Aber ich schaffe es alleine und mache alles selbstständig, ohne Vater, Mutter. (.) Ich bin endlich ein Mann geworden (Sami, Z. 281-283). Als weniger positiv bewertet er seine Wohnsituation und technische Ausstat‐ tung; er hat nur ein geliehenes Laptop. Bedingt durch die COVID -19-Pandemie ist Sami zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit zwei Monaten im Home‐ schooling und empfindet Monotonie, Langeweile und Einsamkeit. Vor der Pandemie bestehen seine Zugänge zu sozialen Praktiken darin, dass er Sport in diversen Sporteinrichtungen treibt und Unternehmungen in der Stadt macht. Seit der Pandemie ist das Sporttreiben in Sportstätten, das ihm sehr wichtig ist, nicht möglich, sodass er nicht nur von seinem Hobby, sondern auch von seinen (Deutsch sprechenden) Sport-Freunden abgeschnitten ist. Sami sucht daher Kontakt zu anderen geflüchteten Jugendlichen in seiner Unterkunft, die aber seine Interessen nicht teilen und deren mangelnde Deutschkenntnisse er als Barriere wahrnimmt. Er fühlt sich in seiner sozialen Teilhabe eingeschränkt und stellt fest, dass ein Auto oder eine Wohnung in Paderborn (statt im Umkreis) diese Einschränkungen verringern würden. In Bezug auf seine Bildungsteilhabe berichtet er, dass es für ihn schwierig ist, am berufsschulischen Fernunterricht teilzuhaben, dass er sich bei Fragen und Problemen aber an seine Lehrer*innen wenden kann, wenn auch pandemiebe‐ dingt nur über Anrufe. Insgesamt empfindet Sami das Lernen in der beruflichen Schule als recht unpersönlich und als wenig auf seine individuellen Bedürfnisse ausgerichtet. Eng verwoben mit der sozialen und Bildungsteilhabe ist der Zugang zu kom‐ munikativer Praxis. Sami berichtet, viel und häufig mit seinen Freunden auf Deutsch zu sprechen und zu schreiben. 207 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen Mittlerweile beherrscht Sami die deutsche Sprache aus seiner Sicht so gut, dass er auch herausfordernde Situationen gut bewältigen kann. Er strengt sich darüber hinaus an, seine Kompetenzen auch weiterhin zu verbessern, worauf er stolz ist. Als Ziele seines (weiteren) Deutschlernens beschreibt Sami, dass er seine Ausbildung erfolgreich abschließen möchte. Sami nimmt zum Zeitpunkt des Interviews bereits im zweiten Semester an der Sprachbegleitung Geflüchteter teil. Im ersten Semester, in dem die Sprach‐ begleitung digital beginnt und gegen Ende der Sprachbegleitung in Präsenz stattfindet, ist ein etwa gleichaltriger Student sein Sprachbegleiter, der Wirt‐ schaftswissenschaften und Deutsch für das Lehramt an beruflichen Schulen studiert. Im zweiten Semester findet die Sprachbegleitung ausschließlich digital statt und seine Sprachbegleiterin ist eine Studentin. Samis Äußerungen zur Sprachbegleitung beziehen sich überwiegend auf seine Teilnahme im ersten Se‐ mester, möglicherweise aufgrund der engen Beziehung, die er zu dem ebenfalls männlichen Sprachbegleiter aufbauen kann (vgl. Zitat 6), mit dem er ein Inte‐ resse für Sport teilt. Durch die Sprachbegleitung wird Samis Zugang zu kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache gestärkt, es werden Möglichkeiten für deutschspra‐ chige Interaktionen geschaffen: (2) Ich habe noch jemanden kennengelernt (.) das war auch gut (.) ein neuer Mensch (Sami, Z. 96-97). Im Rahmen der Sprachbegleitung hat er die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Sprachbegleiter im digitalen Austausch seine Bewerbungen zu schreiben und schlussfolgert: (3) Er hat mir geholfen, sonst hätte ich keine Ausbildung finden können (.) mit seiner Hilfe habe ich eine Ausbildung gefunden (Sami, Z. 115-116). Des Weiteren unterstützt der Sprachbegleiter ihn bei seinen Hausaufgaben und dem Lernen für die berufliche Schule sowie in Bezug auf den Umgang mit dem Computer: (4) Denn meine Lehrer geben mir Hausaufgaben. Sie sagen mir aber nicht, wie ich sie machen soll (.) das kann ich wiederum mit dem Sprachbegleiter üben. […] Mir hat geholfen, wie ich mit dem Computer umgehe (.) die technischen Sachen hat er mir beigebracht (.) zum Beispiel konnte ich keine E-Mail oder Bewerbung schreiben […] (Sami, Z. 185-203). 208 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus Dabei äußert er das Ziel, dass er seine Hausaufgaben gern selbstständig bear‐ beiten können möchte, aber nicht gern allein lernt. Systematisches Deutschlernen findet im Rahmen der Sprachbegleitung nicht statt, nur punktuell gibt der Sprachbegleiter Hilfe bei sprachlichen Problemen, indem er Sami beim Formulieren von Sätzen hilft und Aussprache mit ihm übt. Dennoch berichtet er, dass sich seine Deutschkompetenzen durch die Sprach‐ begleitung verbessern. Seine Interaktion mit dem Sprachbegleiter beschreibt er als offenes und vertrautes Miteinandersprechen, obwohl die Sprachbegleitung überwiegend digital stattfindet: (5) Der erste war ein Junge, ich bin auch ein Junge, also haben wir sehr frei gesprochen. Jetzt ist es auch kein Problem (Sami, Z. 214-215). Sami beschreibt die Sprachbegleitung als verlässlich und auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Nachdem er seinen Sprachbegleiter zunächst als Lehrer wahrge‐ nommen und auch so angesprochen hat, nimmt er ihn nach und nach eher als Freund und Unterstützer wahr, der Hilfe im Alltag, beim Lernen für die beruf‐ liche Schule und der Ausbildungssuche leistet und Zugang zu kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache schafft. Sein Sprachbegleiter ist ein Peer, mit dem man außerdem gemeinsam Dinge unternehmen kann. Das beste Erlebnis im Rahmen der Sprachbegleitung ist für Sami ein gemeinsames Grillen am Ende des Semesters. Als Vorteile dieser digitalen Sprachbegleitung betrachtet Sami es, dass keine umständliche Anreise aus seinem abgelegenen Wohnort erforderlich ist und dass es einfacher ist, pünktlich zu sein. Er empfindet den Zugang zu den Ge‐ sprächen als einfach und effizient. Die Nachteile der digitalen Sprachbegleitung bestehen für ihn darin, dass die Sprachbegleiterin ihm beispielsweise beim Lernen oder bei technischen Problemen nicht schnell und unmittelbar helfen kann, weil sie nicht neben ihm sitzt. Sami beschreibt des Weiteren, dass das digitale Kennenlernen des Gegenübers als Person schwierig ist, weil man nur einen kleinen Ausschnitt der Person sieht und die physische Präsenz fehlt: (6) Man konnte nicht verstehen, was für ein Mensch er ist, wie er tickt. […] Man konnte nur sein Gesicht sehen (.) das störte wieder etwas (Sami, Z. 139-141). Außerdem sind in der digitalen Sprachbegleitung keine spontanen Aktivitäten mit den Sprachbegleitenden möglich. Zudem erwähnt Sami die schlechte In‐ ternet-Verbindung und Ablenkung durch sein Handy als Nachteile der digitalen Sprachbegleitung. 209 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen 5.2 Amira Amira ist zum Zeitpunkt des Interviews 28 Jahre alt und wohnt in einer Ge‐ meinschaftsunterkunft für Geflüchtete. Sie gibt im Fragebogen an, dass sie im Iran geboren ist. Amira verfügt über einen Bachelorabschluss in der Fachrich‐ tung IT und war im Iran als Englischlehrerin tätig. Zum Zeitpunkt des Inter‐ views lebt sie seit einem Jahr in Deutschland und lernt seit ca. zehn Monaten Deutsch, indem sie die Maßnahme „Erstorientierungskurse für Asylbewerber mit unklarer Bleibeperspektive“ in ihrer Unterkunft und dann ca. zwei Wochen lang einen Sprachkurs an einer VHS besucht. Sie würde gerne eine B1-Prüfung Deutsch absolvieren. In Bezug auf ihre Lebensverhältnisse äußert Amira im Interview, dass ihr aktueller Alltag langweilig ist und ihre Handlungsmöglichkeiten aufgrund ihres Aufenthaltsstatus‘ sehr eingeschränkt sind. So verfügt sie nicht über Geld, das sie u. a. für Übersetzungen von Unterlagen für die Anerkennung ihrer berufli‐ chen Qualifikationen benötigt. Sie hat außerdem keine feste Adresse und besitzt keine Bankkarte, wodurch ihr Alltag durch zahlreiche Umstände und Sorgen geprägt ist. Zusätzlich berichtet Amira, dass sie Angst hat, aufgrund der COVID -19-Pandemie keine Kontakte aufbauen zu können. Amira hat zwar engen Kontakt zu einer nahestehenden Person, mit der sie nach Deutschland gekommen ist, dennoch nimmt sie ihre soziale Teilhabe be‐ reits vor der Pandemie als stark eingeschränkt wahr. Als eine Ursache hierfür benennt sie eigene sprachliche Probleme. Vor der Pandemie konnte sie aber immerhin an einem Musik-Workshop, welcher in ihrer Einrichtung von Ex‐ ternen angeboten wurde, teilnehmen: (7) Und das war wirklich sehr [! ] gut. Das war eine vollkommen [! ] unterschiedliche Atmosphäre. Auf Deutsch […] Und ich habe es wirklich [! ] genossen (Amira, Z. 47-50). Seit der Pandemie ist sie von gesellschaftlicher Teilhabe und Kontakten zu Deutsch sprechenden Personen jedoch weitgehend abgeschnitten. In ihrer Un‐ terkunft hat Amira zwar Kontakt zu anderen Geflüchteten aus Afghanistan und dem Iran, aber ihre einzige Möglichkeit, Kontakte zu Deutsch Sprechenden zu knüpfen, sind Gespräche mit Mitarbeiter*innen der Unterkunft: (8) Auch die Kontaktaufnahme mit den anderen Menschen (.) diejenigen, die wir kennen, sind halt Mitarbeiter*innen vom Flüchtlingsheim […]. Daher kann hier keine Freundschaft aufgebaut werden (.) mit uns (.) und das ist ein Gesetz (Amira, Z. 54-57). Neben sozialer Teilhabe fehlt Samira auch die Möglichkeit zur Teilhabe an Bil‐ dung; insbesondere fehlt ihr ein Zugang zu Sprachkursen. Sie bemüht sich zwar, 210 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus Deutsch autodidaktisch zu lernen, doch erhofft sie sich, dass im Rahmen der Sprachbegleitung Deutschunterricht stattfindet und sie damit einen Zugang zum Deutschlernen erhält. Die Beherrschung der deutschen Sprache bewertet sie als immens wichtig, da man „taub und stumm“ (Amira, Z. 18-19) ist, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Sie nimmt wahr, dass von ihr erwartet wird, dass sich aufgrund ihres Wohnorts ihre Deutschkenntnisse verbessern, muss sich aber gleichzeitig damit abfinden, dass dies aufgrund des mangelnden Zugangs zu kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache kaum möglich ist: (9) Die Vorstellung der Anderen ist, dass unser Deutsch besser werden soll, weil wir in einer deutschsprachigen Umgebung leben. Aber die Wahrheit ist, dass wir außer mit uns und unseren Landsleuten mit niemandem wirklich in Kontakt sind (Amira, Z. 122-124). Als Ziele ihres Deutschlernens gibt Amira an, dass sie innerhalb von fünf Jahren ein hohes Sprachniveau erreichen möchte. Sie möchte ein Masterstudium oder eine Ausbildung im IT -Bereich absolvieren und danach im IT -Bereich arbeiten. Sie möchte zur Gesellschaft dazugehören. Die Sprachbegleitung nimmt Amira weniger als Begleitung, sondern viel‐ mehr als Unterricht wahr. So äußert sie, dass ihr ein durch die Studentin ange‐ botener Einstufungstest bei der Einschätzung ihres Sprachstands geholfen hat. In Bezug auf ihr Deutschlernen berichtet sie, dass sich ihr Hörverstehen ver‐ bessert hat, sie neue Wörter und Redewendungen gelernt hat, dass sich durch die Gespräche ihre mündlichen produktiven Kompetenzen verbessert haben und sie Unterstützung beim Schreiben von Texten erhält. Außerdem hat die Sprachbegleitung bewirkt, dass sie in Bezug auf das Sprechen mit „Mutter‐ sprachler*innen“ (Amira, Z. 100) selbstbewusster ist, was ihr ein beruhigendes Gefühl vermittelt. Darüber hinaus hilft ihr die Sprachbegleitung, ihren Tag zu strukturieren und ihre Motivation zum Deutschlernen aufrechtzuerhalten: (10) <Mit Sicherheit> [! ] profitieren wir davon. […] man hat ein Ziel. […] Stimmt, dass man autodidaktisch lernt, aber wenn man weiß, dass jemand da ist und auf deine Aufgaben wartet, strengt man sich an und hat eine Motivation zu üben. Das war und ist wirklich sehr wirkungsvoll. […] Deine Zeit ist geplant (Amira, Z. 206-213). Die Sprachbegleitung stärkt zudem Amiras Selbstkonzept und ihre Selbstwirk‐ samkeit, sie traut sich nun zu, für andere Geflüchtete zu übersetzen. Die Vorteile der digitalen Sprachbegleitung sieht Amira darin, dass diese be‐ quemer und zeitlich effizienter ist als eine Sprachbegleitung in Präsenz. Als Nachteile sieht sie Probleme mit der Internetverbindung, dass sie Zusammen‐ 211 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen hänge nicht immer versteht, sie digital eher darauf verzichtet, Fragen zu stellen und das Klären von Fragen erschwert ist. Außerdem sind für sie (Gram‐ matik-)Erklärungen schwieriger zu verstehen und unmittelbare Korrekturen von Geschriebenem seitens des „Lehrer[s]“ (Amira, Z. 129) erschwert. Sie fühlt sich durch die digitale Sprachbegleitung nicht gut auf eine Sprachprüfung vor‐ bereitet. Ihren Sprachbegleiter nimmt Amira jedoch nicht nur als Lehrer, sondern auch als Freund wahr, der ihr zwar nicht bei der Anbahnung weiterer Kontakte helfen kann, jedoch über das Projektende hinaus für Fragen zur Verfügung steht. Die Interaktion mit dem Sprachbegleiter beschreibt Amira als gewinnbringend und sehr interessant. Des Weiteren zeigen ihre Reflexionen, dass sie durchaus einen Unterschied zwischen der Sprachbegleitung und einem Sprachkurs sieht, was vor allem an der persönlichen Unterstützung und Erreichbarkeit der Sprach‐ begleitenden liegt. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Amira zu ihrem Sprach‐ begleiter keinen Kontakt mehr, wünscht sich aber, dauerhaft an der Sprachbe‐ gleitung teilnehmen zu können, da diese für sie einen Hoffnungsschimmer darstellt. In Bezug auf die Zukunft wünscht sich Amira, ihrer Situation, die durch „Verwirrung und Ratlosigkeit“ (Amira, Z. 63) geprägt ist, zu entkommen. 5.3 Saeeda Die aus Afghanistan stammende Saeeda ist zur Zeit der Befragung 21 Jahre alt und lebt seit einem Jahr in Deutschland. Im Fragebogen gibt sie an, dass sie neben ihrer Erstsprache Dari auch Englisch spricht. Sie hat in ihrer Heimat die Schule bis zum 14. Lebensjahr besucht. Nachdem sie die Schule ohne Schulab‐ schluss verlassen hat, hat sie in ihrer Heimat nicht gearbeitet. Sie lebt in der‐ selben Unterkunft wie Amira. Am Projekt der Sprachbegleitung nahm sie gleichzeitig mit Amira für die Dauer eines Semesters teil. Aus Saeedas Sicht läuft zum Zeitpunkt des Interviews nichts gut. Ihr Alltag in Deutschland ist durch diverse Hindernisse bestimmt, sie ist von Informati‐ onen abgeschnitten und fühlt sich verloren und fremdbestimmt. So hat sie Pro‐ bleme mit dem Zugang zu Internet und Mobiltelefon, weil sie aufgrund eines fehlenden Ausweises keinen eigenen Vertrag abschließen kann. Zudem wurde der Deutschkurs, an dem sie teilnahm, aufgrund der COVID -19-Pandemie nach zwei Wochen abgebrochen. Saeeda versucht jedoch, ihre Situation zu verbessern. Sie betrachtet Sprache als Schlüssel zu sozialer Teilhabe und sucht den Kontakt zu Deutsch Sprech‐ enden. Für ihre Bemühungen hierbei und beim Deutschlernen wünscht sie sich die Wertschätzung der Gesellschaft sowie Bildungsteilhabe: 212 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus (11) So wie wir uns bemüht haben, zu lernen und sprechen zu können, habe ich in meiner Umgebung nicht gesehen. Ich sage nur, wenn wir so bemüht und wissbegierig sind, erwarten wir von der Gesellschaft in Deutschland zumindest, unser Interesse wertzuschätzen und dass es die Möglichkeit gibt, die Sprache schneller lernen zu können (Saeeda, Z. 192-196). Nach dem Abbruch ihres Sprachkurses ist Saeeda trotz intensiver Bemühungen der Zugang zu weiteren Sprachkursen nicht gelungen. Die Unterkunft stellt diesbezüglich keine Unterstützung dar, was Saeeda frustriert, denn sie hätte das Jahr in Deutschland sehr gern zum Lernen der Sprache genutzt. Sie hat Bekannte im Blick, die bereits das B1- oder B2-Niveau erreicht haben, weil sie Sprachkurse wahrnehmen können. Saeeda hingegen muss sich mit dem Deutschlernen mit‐ tels Wortschatz-App begnügen und tauscht sich mit anderen Geflüchteten über unbekannte Wörter aus. Sie lernt allein, um sich auf eine Sprachprüfung vor‐ zubereiten, die teuer ist und die sie bestehen möchte. Ihr Ziel ist es, die Sprache sehr gut zu lernen, da sie dies als Voraussetzung für ein Leben und Studium in Deutschland, also für Teilhabe am gesellschaftlichen sowie Arbeitsleben sieht: (12) In fünf Jahren (.) will ich richtig gut Hochdeutsch sprechen können und einen sehr guten Job haben. Entweder studiere ich an der Uni oder mache eine Ausbildung. Dann werde ich berufstätig sein, wahrscheinlich. […] Weil ich jetzt z. B. etwas unter‐ nehmen möchte, was aber nicht geht, meine Hände sind gebunden. Aber dann kann mich keiner aufhalten (Saeeda, Z. 39-44). Sie beschreibt, nahezu keinen Zugang zu kommunikativer Praxis in der deut‐ schen Sprache zu haben, nutzt aber die wenigen Möglichkeiten, die sich im Alltag bieten: (13) Neben Hochdeutsch würde ich auch gerne Straßendeutsch lernen. Ich versuche das von den Kindern und den Jugendlichen zum Beispiel im Bus zu lernen (Saeeda, Z. 183-185). Ihre Fähigkeiten in der deutschen Sprache schätzt Saeeda als gering ein. Sie hätte nach eigenem Anspruch im Jahr des Interviews das Niveau B2 des GER errei‐ chen sollen, kennt jedoch ihr eigenes Niveau nicht, da sie bisher an keiner Sprachprüfung teilnehmen konnte. Die Sprachbegleitung stellt nach Saeedas Aussagen die einzige Möglichkeit zum Deutschlernen dar. Sie unterstützt sie dabei, ihre Sprechfertigkeit und ihre Grammatikkenntnisse zu verbessern und gibt ihr Selbstbewusstsein. Diskussi‐ onen mit der Sprachbegleiterin ermöglichen Saeeda darüber hinaus Einblicke in kulturelle Praktiken und eine Auseinandersetzung mit Nachrichten und Filmen. Die Sprachbegleitung motiviert sie, sich neue Inhalte und Themen zu erarbeiten 213 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen und ihren Wortschatz auszubauen. Saeeda äußert, dass sie dank der Sprachbe‐ gleitung ihren Alltag sprachlich jetzt besser bewältigen und für andere Ge‐ flüchtete übersetzen kann, was ihr ein gutes Gefühl vermittelt. Die Vorteile der digitalen Sprachbegleitung sieht Saeeda in einem bequemen und zeitsparenden Unterricht von Zuhause aus. Nachteile bestehen darin, dass sie sich noch nicht an das digitale Format gewöhnen konnte und in Präsenz besser lernen kann. Während eine „Lehrerin“ (Saeeda, Z. 97) in Präsenz Pro‐ bleme bemerkt, ohne dass Saeeda darauf hinweisen muss, verzichtet sie in der digitalen Sprachbegleitung darauf, Fragen zu stellen. Außerdem berichtet sie, dass man im Einzel-Online-Unterricht, im Vergleich zu regulären Sprachkursen, nicht von den Fragen anderer profitieren kann. Insgesamt bewertet Saeeda die Sprachbegleitung als sehr wichtig für die Kompensation des Mangels an Sprachkursen. Sie ist damit sehr zufrieden, hat viel gelernt und sich auf das Online-Format der Sprachbegleitung eingestellt. Sie hätte sich aber mehr Aufgaben und Übungen zum Deutschlernen, vor allem zur Grammatik, gewünscht sowie mehr Erklärungen bei der Bearbeitung von Grammatikaufgaben. Zudem stellt sie fest, dass die Interaktion mit der Sprach‐ begleiterin nicht über den Projektzeitraum hinaus reicht, obwohl diese das anbot. Saeeda möchte aber weiterhin an der Sprachbegleitung teilnehmen. 6 Diskussion der Daten Bezüglich ihrer Interaktions- und Teilhabemöglichkeiten zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Sami einerseits und Amira und Saeeda andererseits: So ist Sami aufgrund seines Alters und längeren Aufenthalts in Deutschland insti‐ tutionell durch die Ausbildung eingebunden und verbringt - zumindest vor der Pandemie - seine Freizeit oft in Sportstätten. Er hat somit Zugang zu kommu‐ nikativen Praktiken in der deutschen Sprache sowie zur Teilhabe am gesell‐ schaftlichen, bildungs- und arbeitsbezogenen Leben. Amira und Saeeda hin‐ gegen konnten zwar vor der Pandemie an Sprachkursen teilnehmen, seit der Pandemie haben sie jedoch nahezu keinen Zugang zu kommunikativen Prak‐ tiken in der deutschen Sprache und sind von der Teilhabe an sozialen, bildungs- und arbeitsbezogenen Bereichen abgeschnitten. Sie berichten von einer hohen Aspiration in Bezug auf das Deutschlernen und Teilhabe, finden aber keine Möglichkeit des Zugangs. Die digitale Sprachbegleitung scheint für die Interviewten somit unterschied‐ liche Funktionen zu erfüllen: Sami betrachtet sie eher als Alltagshilfe im Sinne einer Patenschaft, wohingegen Amira und Saeeda, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland sind und nicht nur, aber vor allem pandemiebedingt keinen Zugang 214 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus zu Sprachkursen haben, die Sprachbegleitung in den Interviews vorrangig als Unterricht konstruieren. In Bezug auf die Fragestellungen dieses Beitrags, inwiefern durch die digitale Sprachbegleitung Zugänge zu kommunikativer Praxis in der zu lernenden Sprache Deutsch geschaffen, Kompetenzen ausgebaut und soziale sowie Bil‐ dungs-Teilhabe ermöglicht werden können, ist aus den dargestellten Daten Fol‐ gendes zu schlussfolgern: Wie in Abschnitt 3 herausgearbeitet wurde, spielen in Patenschaften einer‐ seits zwischenmenschliche und informelle Interaktionen eine zentrale Rolle, andererseits ist jedoch die Schaffung solcher Interaktionsmöglichkeiten im di‐ gitalen Raum schwierig. Dies belegen auch die Interviewdaten. So kann die di‐ gitale Sprachbegleitung Geflüchteten in der Pandemie durchaus Interaktionen ermöglichen, Zugänge schaffen und Teilhabe stärken, allerdings nur in einge‐ schränktem Maße. Tatsächliche Begegnungsangebote und informelle Interak‐ tionen, wie sie im Rahmen von Ausflügen in die Stadtbibliothek oder dem ge‐ meinsamen Einkaufen ermöglicht werden können, sind in digitalen Räumen nur schwer herzustellen. Dennoch schafft es die digitale Sprachbegleitung aber durchaus, „Sprachohnmacht“ (Lüdi 2006: 10) und „Sprachlosigkeit“ (Plutzar 2016: 118 f.) zu verringern: So bestätigen alle Befragten, dass sie durch die Sprachbegleitung ihre sprachlichen Kompetenzen und Einblicke in kulturelle Praktiken deutlich ausbauen konnten, was das wahrgenommene Ausmaß an Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit erhöhte (Huth 2017: 11). Darüber hinaus hilft die Sprachbegleitung die Motivation für das Sprachenlernen aufrechtzuerhalten, indem Lernziele aufgebaut und Tagesab‐ läufe strukturiert werden. Zudem entsteht eine persönliche Verbindung zur deutschsprachigen Gesell‐ schaft, die auf Austausch auf Augenhöhe basiert. Die Studierenden im Projekt verfügen zwar (noch) nicht über ausgeprägtes Professionswissen sowie über ausgeprägte professionelle Handlungskompetenz im Bereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, jedoch richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der Geflüchteten aus und versuchen diese zu erfüllen, sei es durch Verfassen von Bewerbungsschreiben oder den Ausgleich des weggebrochenen Sprachun‐ terrichts. Unter Aufgreifen der Mediennutzungsgewohnheiten und -möglich‐ keiten der Teilnehmenden können unterschiedliche Mittel der digitalen Inter‐ aktion ausprobiert werden, um synchron und asynchron Austausch, Lernmöglichkeiten und Orientierung im Alltag zu ermöglichen. Aufgrund der individuellen Betreuung können auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der Teilnehmenden angepasste Lerninhalte und Unterstützungsformen gemeinsam 215 Digitale Zugänge zu kommunikativer Praxis schaffen ermittelt und Aktivitäten gestaltet werden, was die Teilnehmenden als deutli‐ chen Vorteil gegenüber regulärem Sprachunterricht wahrnehmen. Obwohl die Sprachbegleitung - insbesondere im Pandemiealltag und trotz des digitalen Kontextes - somit wichtige Funktionen im Leben der Teilnehm‐ enden erfüllt, lassen sich gleichzeitig auch Grenzen skizzieren: Zum einen zeigen insbesondere Saeedas und Amiras Reflexionen, dass die Sprachbegleitung aufgrund ihres Wunsches nach Sprachunterricht in ihrer Aus‐ richtung und Zielstellung in Teilen reduziert wurde. Zwar konnten auch per‐ sönliche Gespräche geführt und kulturelle Einblicke ermöglicht werden, doch bestand die Sprachbegleitung in diesen Fällen hauptsächlich aus unterrichts‐ ähnlichen Elementen, was auch die evaluativen Aussagen der beiden Teilneh‐ merinnen zeigen: Die Nachteile der digitalen Sprachbegleitung ergeben sich v. a. aus dem Vergleich zum Sprachunterricht in Präsenz, in dem das Verstehen des Lernstoffes, Klären von Fragen, unmittelbare Korrigieren und Vorbereiten auf Sprachprüfungen aus Amiras und Saeedas Sicht besser gelinge. Somit hat die Sprachbegleitung zwar die pandemiebedingte soziale und bildungsbezogene Isolation dieser Teilnehmerinnen durchbrochen, sich aber in ihrer Ausrichtung in den Bereich des Sprachunterrichts verlagert, für den Sprachbegleitende nicht ausreichend ausgebildet und zuständig sind (vgl. auch Abschnitt 2.3). Zum anderen zeigen die Daten, dass die Schaffung von Teilhabe- und infor‐ mellen Interaktionsmöglichkeiten im digitalen Kontext bisher nur beschränkt gelungen und möglich ist. Vor allem Sami, der den Nutzen der Sprachbegleitung besonders im Bereich der ausbildungsbezogenen Unterstützung und dem Knüpfen von Freundschaften mit den Sprachbegleitenden sieht, fehlen der per‐ sönliche Bezug und die gemeinsamen Unternehmungen. Somit lässt sich ver‐ muten, dass die Sprachbegleitung in Präsenz stärker zum Aufbau von Sozialka‐ pital, emotionaler Stabilität und einem Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft (vgl. Riemer 2016: 293) beitragen kann und den Geflüchteten bessere Möglich‐ keiten bietet, „Ängste für einen Moment zu vergessen, sich außerhalb der Er‐ staufnahmeeinrichtung ( EA ) oder Gemeinschaftsunterkunft ( GU ) aufzuhalten, soziale Kontakte aufzubauen und ein Gefühl des Angenommen- und Angekom‐ menseins zu entwickeln“ (Riemer 2016: 293). Wie bereits im Abschnitt 3 he‐ rausgearbeitet, kommen auch im vorliegenden Projekt technische Schwierig‐ keiten hinzu, die alle Beteiligten in ihrem Handlungsspielraum zum Teil einengen, Anpassung an neue Gegebenheiten erfordern und das Ausprobieren digitaler Lösungen verlangen (vgl. auch Abschnitt 2.3). 216 Magdalena Can / Mareike Müller / Constanze Niederhaus 7 Fazit Die Auswertung der Daten zeigt insgesamt deutlich, wie wichtig die Sprachbe‐ gleitung nicht nur, aber im Besonderen während der COVID -19-Pandemie ist, wenn es darum geht, die zum Teil verzweifelte und isolierte Lage der Geflüch‐ teten zu verbessern. Besonders diejenigen, die vor der Pandemie nur geringfügig institutionell eingebunden waren, wurden durch den Lockdown hart getroffen. Um dem Anspruch des Projekts, sich auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden auszurichten, gerecht zu werden, ist ein hohes Maß an Flexibilität bzw. das Zu‐ lassen von Veränderungen in der Projektausrichtung notwendig. So musste die Sprachbegleitung in manchen Fällen dem primären Bedürfnis nach Sprachun‐ terricht nachkommen. Unter diesen Umständen muss im Projekt entgegen Krumms (2015) und den eigenen Ansprüchen auch akzeptiert werden, dass durch die Studierenden kein professioneller Sprachunterricht geleistet werden kann. Zugleich ist zu betonen, dass gerade diese Offenheit der Sprachbegleitung, sich auf neue Situationen einzustellen, neue Möglichkeiten für Sprachlernakti‐ vitäten auszuprobieren und damit auch Zuversicht und Unterstützung zu sig‐ nalisieren, eine besondere Stärke dieser Projekte ist. Somit unterstreichen die vorliegenden Daten einerseits die dringende Not‐ wendigkeit, Geflüchtete auch in pandemiegeprägten Zeiten nicht von professi‐ onellem Sprachunterricht abzuschneiden, sondern digitale Lösungen zu bieten, die sie in soziale Lernprozesse einbinden, die Entwicklung der sprachlichen Vo‐ raussetzungen für Teilhabe befördern und so den Teilnehmenden ermöglichen, den wahrgenommenen Erwartungen der Gesellschaft bzgl. der Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse nachzukommen. Andererseits ergibt sich aber auch der Auftrag, sprachbegleitende Projekte neu zu konzipieren und authentische In‐ teraktions- und Begegnungsmöglichkeiten, die im digitalen Raum durchführbar sind, zu entwickeln. Statt gemeinsamer Einkäufe und Behördengänge kann bei‐ spielsweise digital gemeinsam gekocht oder es können virtuell Museen besucht werden. 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Die Auswertung der Daten konzentriert sich auf die Vielfalt der verwendeten Werkzeuge, die unterschiedlichen Ansichten des Unter‐ richts auf den Bildschirmen der Beteiligten und auf die daraus folgenden di‐ daktischen Konsequenzen sowie auf die Einschätzungen des virtuellen Un‐ terrichts durch die Lernenden und Lehrkräfte. Eingebettet wird diese Analyse in die Forschung zum Deutschlernen von studieninteressierten Geflüchteten und zum Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien, besonders im Hinblick auf die Frage, wie sich die Erfahrungen mit dem zwangsdigitalisierten Un‐ terricht der Pandemiezeit auf die zukünftige Bestimmung der Rolle digitaler Medien beim Deutschlernen junger Erwachsener innerhalb des deutschspra‐ chigen Raums auswirken werden. 1 Einleitung Die Anwesenheitspflicht und die Sichtbarkeit der Studierenden in Seminaren waren im universitären Kontext vor der Pandemie emotional engagiert disku‐ tierte Themen. Corona hat dies geändert: Gerechtfertigt sowohl technologisch mit Verweis auf begrenzte digitale Kapazitäten als auch durch das Schutzbe‐ dürfnis für die private Umgebung der Teilnehmenden, ist die Kommunikation mit sog. Kacheln salonfähig geworden. 1 2 Diese Analyse erfolgt im Rahmen eines vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Projekts zum Deutscherwerb geflüchteter Studieninteressierter. Vgl. zu einem anderen Schwerpunkt dieses Projekts, der sich mit erfolgreichen Deutsch‐ lernenden innerhalb dieser Gruppe befasst, Rösler / Zeyer (2020) und Zeyer / Rösler (im Dr.). 3 Zu weiteren Aspekten des Unterrichts im virtuellen Raum wie Verständnissicherung, Fehlerkorrektur, Stillarbeitsphasen und inhaltlich selbstbestimmte Kommunikation vgl. Rösler / Zeyer (2021). Die Diskussion um Lernen in Pandemiezeiten hatte 2020 zwei Schwerpunkte: vor allem das Lernen von Kindern und Jugendlichen an Schulen (vgl. z. B. Bünd‐ gens-Kosten / Schildhauer 2021 und Huber et al. 2020), aber auch das Studium von zumeist jungen Erwachsenen an Universitäten (vgl. z. B. Dittler / Kreidl 2021 und Beiträge im Hochschulforum Digitalisierung). In diesem Beitrag befassen wir uns zwar auch mit dem Lernen von jungen Erwachsenen im universitären Kon‐ text, aber nicht mit der dort geführten Diskussion zum Wissenserwerb in Vor‐ lesungen und Seminaren, sondern mit einer klar definierten kleinen Lernen‐ dengruppe, mit studieninteressierten Geflüchteten, und mit einem Bereich, der sich von den Diskussionen um das Lernen in Proseminaren o. ä. dadurch unter‐ scheidet, dass die für die Interaktionen in Seminaren notwendigen sprachlichen Kompetenzen nur zum Teil entwickelt sind, mit dem Deutscherwerb dieser Lernenden. Die in diesem Beitrag analysierten Daten 2 stammen aus Online-Unterricht für studieninteressierte Geflüchtete an der Universität Gießen. Es handelt sich um als Präsenzunterricht geplanten Unterricht, der aufgrund der Pandemie kurzfristig im virtuellen Modus durchgeführt werden musste. Das Besondere an diesen Daten ist, dass Unterrichtsaufzeichnungen sowohl der Bildschirme der Lernenden als auch der Lehrenden vorliegen und dass sowohl Lernende als auch Lehrende in Interviews Ausschnitte aus diesen Aufzeichnungen kommentiert haben, sodass sowohl Situationen, in denen das Bildschirmgeschehen sich für die Akteure gleich, als auch solche, in denen es sich für sie unterschiedlich ge‐ staltete, analysiert werden konnten. Im Folgenden wird zunächst auf die Kontexte ‚Leben und Deutschlernen von studieninteressierten Geflüchteten‘ und ‚Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien‘ eingegangen, danach wird das Forschungsdesign vorgestellt. Bei der Analyse der Daten musste aus der Fülle möglicher Themen eine Auswahl ge‐ troffen werden. Wir konzentrieren uns in diesem Beitrag 3 auf die Fragen, wie die Lehrkräfte und die Lernenden den unfreiwilligen und abrupten Übergang von Präsenzveranstaltung zu digitalisiertem Unterricht einschätzen, welche Werkzeuge wie zum Einsatz kommen und welche Auswirkungen die Tatsache haben kann, dass im digitalisierten Unterricht nicht nur die soziale Nähe fehlt, 224 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler 4 Becker / Kampmann (2021: 4) referieren in ihrem Artikel in der FAZ einen für Integra‐ tionskurse verantwortlichen Mitarbeiter des BAMF: „Manche Flüchtlinge hätten zu Hause nicht die Voraussetzungen, um an einem Fernkurs teilzunehmen. Und wenn Geflüchtete erst Lesen und Schreiben lernen müssten, sei ein Online-Kurs ohnehin kaum machbar. Auch die geringe Kontinuität der Angebote bereitet Beckmann Sorgen […] Außerdem berge der Lockdown die Gefahr, dass die Teilnehmer das Erlernte schnell wieder vergäßen. Der Arbeitsmarkt bliebe ihnen damit für längere Zeit ver‐ schlossen.“ 5 Pressemitteilungen machen deutlich, dass gerade Deutschlernende, die die sprachlichen Voraussetzungen für ihre berufliche Qualifizierung anstreben, viele Herausforde‐ rungen zu bewältigen haben (vgl. Hagedorn 2021). 6 Bereits vor der Pandemie fanden Versuche statt, digitale Medien für den Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung einzusetzen. Dafür wurde techni‐ sche Ausstattung für Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünfte beschafft, um sondern dass auch Lehrkräfte und die einzelnen Lernenden auf ihren Bild‐ schirmen nicht dasselbe sehen. 2 Leben und Deutschlernen studieninteressierter Geflüchteter unter Pandemiebedingungen Im Rahmen unserer Studie zur Rolle digitaler Medien für den Erfolg beim Deutscherwerb von Geflüchteten (vgl. Rösler / Zeyer 2020) betonten die For‐ schungsteilnehmenden, wie wichtig für sie der Sprachkontakt in ihrer sozialen Umgebung sei (vgl. Rösler / Zeyer 2020: 296). Die Pandemie-Beschränkungen führten jedoch zur Minimierung aller Kontakte und bedeuteten für viele Ge‐ flüchtete eine kommunikative Isolation. Die Beiträge in den ersten beiden Ab‐ schnitten dieses Sammelbandes verdeutlichen die Auswirkungen auf den Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen und zeigen, wie die Schule evtl. als einzige Brücke zur deutschen Sprache übrigbleibt. Für Erwachsene bedeuten die Beschränkungen im Extremfall nicht nur den Ausfall von Sprachkursen, sondern eventuell von jeglichen Kontakten mit der deutschen Sprache. Durch dadurch entstehende Verzögerungen der sprachlichen und damit verbundenen beruflichen Integration 4 steigt der Druck auf die Lernenden. 5 Beim schnellen Wechsel von Präsenzunterricht zu Online-Kursen wurde in den meisten Fällen die technische Ausstattung den Lernenden selbst überlassen. Abhängig von finanziellen Möglichkeiten ‚besuchen‘ Lernende einen Sprach‐ kurs mit einem mobilen Gerät oder einem PC bzw. Laptop mit einem größeren Bildschirm und einer Kamera. Eine stabile Internetverbindung ist für manche Lernende keine Selbstverständlichkeit: Insbesondere Erstaufnahmeeinrich‐ tungen und Notunterkünfte sowie Wohnungen in ländlichen Orten verfügen manchmal nicht über eine ausreichende Verbindung. 6 Der Wechsel zu mobilem 225 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene Deutschlernende mittels Videokonferenzen beim Lernen zu unterstützen. Digitalem Lernen wurde eine den Sprachunterricht ergänzende Rolle zugewiesen (vgl. dpa 2016). Der Bericht weist auf technische Schwachstellen hin, gibt jedoch keine Auskunft über das didaktische Konzept. 7 Die Interviews wurden mit f4 mit inhaltlich-semantischem Regelsystem transkribiert. Angewandte Transkriptionskonventionen: Elena: = Interviewte Person in anonymisierter Form Linda LK: = Interviewte Lehrkraft in anonymisierter Form (.)/ (..)/ (…) = kurze / mittlere / längere Pause Unterstreichung = auffällige Betonung : = Dehnung / / = Sprecherüberlappungen (lacht) = Beschreibung para- und nonverbaler Mittel Internet ist teilweise kostspielig und in Bezug auf die Stabilität auch nicht un‐ bedingt besser. Eine besondere Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass die Verschie‐ bung des Unterrichts aus einem Sprachkurs in die häusliche Umgebung zur Überlappung des Privaten und Öffentlichen führt. Diese Überlappung hat eine materielle Seite: Fehlende Kinderbetreuung kann dazu führen, dass man abge‐ lenkt wird oder nur ein Elternteil sich auf das Lernen konzentrieren kann. Nicht jeder oder jedem Lernenden steht ein Zimmer oder ein eigener Laptop für die Unterrichtszeit zur Verfügung. Unter den Teilnehmenden des hier analysierten Unterrichts befindet sich z. B. ein Paar, das sich ein Endgerät teilt. Dies könnte entweder dazu führen, dass die beiden die Aufgaben gemeinsam bearbeiten und sich dabei gegenseitig helfen, dazu, dass einer der beiden ein weiteres Gerät, z. B. ein Smartphone, hinzuzieht oder eben auch, dass z. B. in einer Stillarbeitsphase nur eine der beiden Personen arbeitet. Im Interview sagt eine Teilnehmerin, die mit ihrem Ehemann den Sprachkurs besuchte: (1) Marlene: nein Igor ist eine sehr Prinzip ähm Mann er muss / / alle alleine machen ich sage ach komm zusammen machen aber dann kommt zu‐ sammen und er sagt nein er möchte kein Handy benutzen kein Google nur mit seinem Kopf (lacht) 7 Das Eindringen des Öffentlichen in den privaten Raum stellt unterschiedlich stark auch die Frage danach, wie man sich in der digitalen Öffentlichkeit prä‐ sentiert. Für manche Personen ist die Frage, welche Bekleidung oder welches Make-up man wählt, wenn man ‚auf Sendung‘ geht, vielleicht eine Herausfor‐ derung, für andere nicht. Auch wer auf Instagram und Co. bereitwillig sein Leben mit Freunden teilt, präferiert im Unterricht per Videokonferenz vielleicht die ihre oder seine Privatsphäre schützende Kachel mit Standbild oder Namens‐ kürzel, weil er oder sie bewusst einen Unterschied zwischen der Anwesenheit 226 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler 8 Das ist aber hier nicht das Thema, vgl. dazu ausführlicher Rösler (2020). 9 Eine frühe Zusammenfassung der bis dahin aktuellen Forschung zum Fremdsprachen‐ lernen mit digitalen Medien findet sich bereits in Rösler (2004). Seither wird die sich ausdifferenzierende Forschung zu computer assisted language learning und computer mediated communication im Fremdsprachenunterricht immer wieder durch zusam‐ menfassende Darstellungen begleitet. Vgl. zu digitalen Kooperationsprojekten z. B. in einem Klassenzimmer, das digitalisiert ist, und dem Transport tatsächlich privater Erlebnisse machen möchte. 3 Lernen in Präsenz und virtuell - Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die durch Digitalisierung möglichen Disruptionen können das Fremdsprachen‐ lernen grundsätzlich infrage stellen oder radikal verändern: Sprachassistenz‐ systeme werden die Bewältigung des elementaren kommunikativen Alltags in einer fremden Sprache, die man nicht gelernt hat, ermöglichen; die Dominanz des - sehr teuren - Lernens in Bildungsinstitutionen kann durch die Ausweitung der Möglichkeiten des informellen Lernens untergraben werden. Die institutio‐ nelle Fremdsprachenvermittlung, egal ob als Schulfach oder in speziellen Sprachschulen, wird sich mit diesen Herausforderungen in einer Weise ausei‐ nandersetzen müssen, die zu einer radikalen Änderung des bisherigen Fremd‐ sprachenunterrichts führen wird. 8 Ein Unterricht wie der hier analysierte, und wie die meisten im Jahr 2020 durchgeführten digitalisierten Unterrichtsstunden, hingegen bleibt Unterricht, er wird halt nur in digitalisierter Form durchgeführt: Es gibt weiterhin Interak‐ tionen von Lehrenden und Lernenden und zwischen den Lernenden, es gibt weiterhin individuelles Arbeiten und Arbeiten in der Gruppe, es gibt Lehrma‐ terial, digitales ebenso wie gedrucktes, es gibt Stundenpläne, es gibt Lernziele und Prüfungsvorgaben usw. Einfach gesagt: Mitreißender, langweiliger, inhalt‐ lich passender oder unangemessener Unterricht usw. wird nicht automatisch besser oder schlechter dadurch, dass er digital stattfindet. Wer diesen Unterricht erforscht, befasst sich also weiterhin mit Unterricht. Es ist deshalb zunächst festzuhalten, dass im Gegensatz z. B. zu einer Analyse des Lernprozesses von Personen, die außerhalb des Klassenzimmers als Selbst‐ lernende mit einem Programm wie Duolingo eine Fremdsprache lernen (vgl. Bui 2021), oder von Selbstlernern, die mit einer interaktiven animierten Grammatik arbeiten (vgl. Zeyer 2018), eine Analyse des digitalisierten Fremdsprachenun‐ terrichts Teil einer langen Tradition der Analyse von Fremdsprachenunterricht ist. 9 Und zu hoffen ist, dass, wenn die vielen auf die Pandemiesituation reagie- 227 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene Dooly / O'Dowd (2018), zur Aufgabenorientierung Biebighäuser et al. (2012), zur Inter‐ aktivität Zeyer et al. (2016), als aktuellsten Sammelband Biebighäuser / Feick (2020) und als Einführungstext Rösler / Würffel (2020). 10 Der fehlende Bezug zur Fachspezifik - in den Anfangszeiten der Diskussion um das Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien, als mit Referenzen auf die Arbeiten von Rolf Schulmeister und Michael Kerres (vgl. Schulmeister 2002 und 2003 und Kerres 1998 und 2013) gefüllte Artikel die Diskussion bestimmten, eine Notwendigkeit - wird zum Ärgernis, wenn die Tradierung allgemeiner medienpädagogischer Argumente heute noch den Blick auf Fachspezifika verstellt. Vgl. zur Kritik an der oft fehlenden Fach‐ spezifik der Diskussion um das Lernen mit digitalen Medien Oswalt und Rösler (2021). 11 Vgl. zu einer differenzierteren Beschreibung des Blended Learning im Fremdsprachen‐ unterricht, die zumindest Sozialformen, Lernorte, die Unterscheidung von Synchronizität und Asynchronizität und den Grad der Virtualität in den Blick nehmen muss, Rösler / Würffel (2020: 159). 12 Mit Feick / Alm (2021) liegt inzwischen auch eine erste empirische Studie zur Bedeutung von Breakout-Groups für das Fremdsprachenlernen vor. renden Forschungsprojekte einmal alle ausgewertet sind, dann Ergebnisse vor‐ handen sind, die sich tatsächlich auf das Lernen von Fremdsprachen - und möglichst sogar auf das Lernen einer bestimmten Sprache - beziehen, so dass nicht wie bisher oft in der Diskussion um das Lernen mit digitalen Medien all‐ gemeine Argumente aus der Medienpädagogik die Diskussion bestimmen. 10 Unterricht in analogen Zeiten bestand häufig aus gemeinsamer Arbeit von Lehrenden und Lernenden im Klassenzimmer und individueller Nacharbeit - seltener vorbereitender Arbeit - in Form von Hausaufgaben. Die mit der Digi‐ talisierung aufkommende Idee des Blended Learning behielt überwiegend diese Arbeitsteilung von gemeinsamer Arbeit und individueller Übung bei, termino‐ logisch neu war, dass der Unterricht nun Präsenzunterricht hieß, um den Kon‐ trast zur individuellen Arbeit mit digitalem Material herauszustellen. Diese simple Gegenüberstellung 11 würde dazu führen, dass es seit Pandemiebeginn plötzlich kein Blended Learning mehr gäbe, weil Präsenzunterricht nicht möglich ist. In vielen Fällen ist jedoch nicht mehr geschehen als eine Digitalisierung des Präsenzunterrichts. Der Unterricht findet weiterhin synchron statt, Zeit und Ort sind von den Bildungsinstitutionen vorgegeben, die gewählte Sozialform ist weiterhin die des gemeinsamen Arbeitens in der Gruppe, aus der heraus Klein‐ gruppen gebildet werden können 12 und in die individuelle Stillarbeit integriert werden kann. Und Hausarbeiten, egal ob digital oder nicht, können weiterhin aufgegeben und gemacht werden. Geändert hat sich also nur der Lernort: Das Klassenzimmer befindet sich nicht mehr im Gebäude der Bildungsinstitutionen, es ist in den privaten Raum der Lernenden eingedrungen. Bestimmte Rahmenbedingungen ändern sich also beim bloßen Wechsel von Präsenzunterricht in digitalisierten Unterricht nicht: die den Unterricht anbie‐ 228 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler 13 Unter der Kachel wird das viereckige Fenster im Videokonferenzsystem verstanden, in dem bei der nicht-aktivierten Kamera nur der Name der angemeldeten Person angezeigt wird. 14 Indirekt weisen einzelne Veröffentlichungen in diese Richtung. Umfragen über das di‐ gitale Sommersemester zeigten, dass Studierenden der Austausch mit ihren Mitstu‐ dierenden fehlte (vgl. Deimann et al. 2020: 14). Grein (2020) weist zudem auf starke Einschränkungen der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden und von Lernenden untereinander im virtuellen Raum hin. 15 https: / / kahoot.com/ 16 https: / / www.mentimeter.com/ 17 https: / / www.mindmapping.com/ de/ 18 https: / / flinga.fi/ tende Bildungsinstitution, die dort vorhandenen Lehrpläne und Prüfungsorien‐ tierungen und meist auch die Festlegungen von Zeit und Ort des Unterrichts. Stark verändert sind hingegen Aspekte der Interaktion: Die Körpersprache der Anwesenden ist kaum wahrnehmbar, eine Lehrkraft, die viel mit ihren Händen kommuniziert, stellt fest, dass diese entweder nicht oder zu groß im Bild sind, ungewohnt oder sogar verunsichernd ist, dass man sich selbst sehen kann, und natürlich: Manchmal oder immer sind manche Teilnehmenden gar nicht sichtbar, sie werden durch eine Kachel 13 repräsentiert. Es scheint die Einschätzung, wenn auch noch keine quantitative Absicherung für diese Einschätzung aus Forschungsprojekten 14 vorliegt, zu geben, dass mit digitalisiertem Unterricht eine Tendenz zu vermehrtem Frontalunterricht ein‐ hergeht. Das mag mehr mit der abrupten Umstellung auf digitalisierten Unter‐ richt und dem für die Lehrkräfte damit verbundenen Zwang, sich neu in einen bisher fremden Bereich einzuarbeiten, zu tun haben, als mit der Tatsache, dass der Unterricht digitalisiert stattfindet. Schließlich existiert auch digital eine Vielfalt von Möglichkeiten des kooperativen und individualisierenden Arbei‐ tens, die Lehrkräfte sich nach und nach erschließen können. Dabei kann der Unterricht mit Umfrage-Tools wie Kahoot  15 , Mentimeter  16 o. ä., die sich an Inte‐ ressen und Bedürfnisse der Lernenden anpassen lassen, ergänzt werden. Mit Mindmapping  17 oder Flinga  18 läuft ein Brainstorming zum Thema dynamisch und strukturiert. Die Einbindung von Audios und Videos in BlinkLearning er‐ möglicht eine einfache Handhabung des Lehrwerks im Online-Unterricht. Die folgende Analyse der Unterrichtsaufnahmen und Interviews wird eine erstaunliche Menge unterschiedlicher Lernmaterialien und Werkzeuge zeigen, die in‐ nerhalb des Unterrichts benutzt wurden. 229 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene 19 Es handelt sich um einen Teil des Welcome-Programms des DAAD zur Unterstützung studierfähiger Geflüchteter (vgl. https: / / www.daad.de/ de/ infos-services-fuer-hochschu len/ weiterfuehrende-infos-zu-daad-foerderprogrammen/ welcome/ [11. 06. 21]). 4 Forschungsdesign und Besonderheiten der Datenerhebung Der von uns begleitete Sprachkurs für studieninteressierte Geflüchtete fand dreimal in der Woche mit je zwei Unterrichtseinheiten im Zeitraum Mitte Mai 2020 bis Mitte August 2020 am Akademischen Auslandsamt der Universität Gießen statt. Die Kursteilnehmenden kamen aus Afghanistan, dem Iran, Paläs‐ tina, Syrien und der Türkei. Am Kurs nahmen sechs Frauen und fünf Männer teil, darunter war ein Ehepaar, das sich mit einem Gerät gemeinsam in die On‐ line-Meetings einloggte. Teilnahmevoraussetzung war ein Sprachzertifikat auf B1-Niveau (wie z. B. Deutsch-Test für Zuwanderer ( DTZ )). Die Teilnehmenden im Kurs sollten B1+ bzw. die Sprachstufe B1 im akademischen Kontext erreichen und mit einer institutsinternen Prüfung abschließen. Der untersuchte Kurs stellt ein gesondertes Angebot der Universität dar 19 und sollte studieninteressierten Geflüchteten den Einstieg ins akademische System ermöglichen, da die Lernenden davor Sprachkenntnisse entweder selbstständig und / oder in Integrati‐ onskursen erworben hatten. Im Falle eines erfolgreichen Abschlusses können sich Lernende für die Förderung eines intensiven studienvorbereitenden Deutschkurses für internationale Studienbewerberinnen und -bewerber im Akademischen Auslandsamt bewerben, nach dessen Abschluss sie die sprach‐ liche Voraussetzung für das Studium durch eine TestDaF oder DSH -Prüfung er‐ füllen. Die Erfahrungen der Teilnehmenden mit dem Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien waren unterschiedlich, jedoch gaben alle zu Kursbeginn an, noch nie einen Sprachkurs via Videokonferenz besucht zu haben. Das Unterrichten des gesamten Kurses teilten sich zwei Lehrkräfte, die bereits Unterrichtserfahrung im Präsenzformat, aber noch nicht im digitalen Unterricht hatten und die noch relativ am Anfang ihrer Karriere standen. Die Umstellung auf ein digitales Format wurde als positiv empfunden, wobei sie sich im Laufe des Kurses in viele für sie teilweise neue digitale Tools einarbeiten mussten. Darüber hinaus leisteten sie den Lernenden auch technische Unterstützung, indem sie z. B. Lernenden bei der Anmeldung sowie Nutzung von BlinkLearning halfen. Der Kurs fand mit dem Videokonferenztool Cisco Webex statt. Das Forschungsteam war schon vor der eigentlichen Datenerhebung sowohl bei den einzelnen Unterrichtssitzungen als auch bei den Lehrkräftetreffen an‐ wesend. Die teilnehmende Beobachtung diente der Vorbereitung der videoba‐ sierten Datenerhebung. Einerseits ermöglichte sie die Beobachtung der Lern‐ prozesse während des digitalen Umbruchs. Andererseits konnten sich die 230 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler 20 Zur Bedeutung von Abschlussbefragungen von introspektiven Verbalisationsverfahren vgl. Knorr (2015: 178). 21 Das Forschungsdesign ähnelt der ursprünglichen Idee des Projektes digi.DaZ (vgl. Boeckmann 2020: 120), das allerdings einen evaluativen Charakter hat. Dort nahmen die Lernenden auch nicht von zu Hause aus am Distanzunterricht teil. Lernenden und die Lehrkräfte an die Begleitung gewöhnen; sie erklärten sich anschließend bereit, einen genaueren Einblick in den Unterricht aus ihren Per‐ spektiven zu geben. Die Studie war explorativer Natur und sollte die Reaktion der Beteiligten auf die rasche Umstellung des Unterrichts ins digitale Format erfassen. Es sollte untersucht werden, wie Lehrende und Lernende im virtuellen Unterricht interagieren, wie der Lernprozess organisiert wird, welche Materia‐ lien und Werkzeuge wie eingesetzt werden, wie Lehrende und Lernende den Deutschunterricht im virtuellen Raum einschätzen. Es wurden zwei Unterrichtseinheiten (je 90 Minuten) aufgezeichnet. Mithilfe diverser Aufzeichnungsprogramme wurde alles, was auf dem Bildschirm wäh‐ rend des Unterrichts geschah (angeklickt, getippt, gesprochen, recherchiert etc.), dokumentiert. Dabei zeichneten sowohl die Lehrkräfte als auch die Lernenden und die Forscherinnen das Unterrichtsgeschehen per Ton und Bild auf. Es folgten Video-Stimulated Recall-Interviews: Aus den Aufzeichnungen des Un‐ terrichts wurden bestimmte Sequenzen ausgewählt, die anschließend den Lehrenden und den Lernenden mit der Bitte gezeigt wurden, sie zu kommentieren. Der Entscheidung für die Erhebung introspektiver Daten mithilfe von Stimuli liegt die Überlegung zugrunde, den Erinnerungsprozess zwecks Erhöhung der Datenvalidität zu erleichtern (vgl. Aguado 2019: 81). Die Auswahl der Video‐ schnitte für die Interviews erfolgte unter der Berücksichtigung der oben ge‐ nannten Forschungsfragen (vgl. Knorr / Schramm 2012: 195), insbesondere mit dem Fokus auf die Interaktionsprozesse im virtuellen Unterricht. Im abschließ‐ enden Interviewteil wurden allgemeine Fragen zur Nutzung unterschiedlicher digitaler Werkzeuge, zur Organisation des Unterrichts im virtuellen Raum und zu Chancen und Herausforderungen an die Lehrkräfte und die Lernenden ge‐ stellt. 20 Somit wird der Einblick in den Online-Unterricht aus unterschiedlichen Perspektiven - der Lernenden, der Lehrkraft sowie des Forschungsteams - er‐ möglicht. Die Aufzeichnungen und die Interviews waren freiwillig. Zur ersten Unterrichtseinheit liegen Daten von der Lehrkraft sowie von zwei Lernenden vor. Nach der zweiten Unterrichtseinheit wurden die beiden Lernenden erneut interviewt, zusätzlich stellten noch drei weitere Lernende und die zweite Lehr‐ kraft ihre Perspektiven dar. 21 231 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene 22 VERBI Software: MAXQDA 2018. Sozialforschung, Berlin: VERBI Software Consult, www.maxqda.com. 23 Zu den Ergebnissen der Untersuchung bezüglich der Interaktionsprozesse im virtuellen Raum vgl. Rösler / Zeyer (2021). Die erhobenen Daten wurden transkribiert und anschließend mittels MAXQDA   22 kodiert, um die Einflussfaktoren der Interaktionsprozesse sowie Intentionen und Handlungsprozesse der einzelnen Personen im Online-Unter‐ richt systematisch zu erfassen. Im Folgenden werden exemplarisch ausgewählte Erkenntnisse aus der Studie zu den im Unterricht benutzten Materialien und Tools, zur Rolle der Geräte, mit deren Hilfe die Teilnahme am Unterrichtsge‐ schehen ermöglicht wird, sowie zur Einschätzung des Unterrichts via Video‐ konferenz seitens der Lernenden und Lehrkräfte dargestellt. 23 5 Vielfalt in 90 Minuten: die verwendeten Werkzeuge Die Beobachtungsprotokolle, die Bildschirmaufzeichnungen und die Interviews liefern einen umfassenden Überblick über Materialien, digitale Werkzeuge sowie Funktionen des Konferenztools, die im Laufe des Kurses im Einsatz waren. In den Sitzungen nutzten die Lehrkräfte die digitale Version eines Lehrwerks (Netzwerk, vgl. Dengler et al. 2017), die über BlinkLearning abrufbar ist. Die zusätzlichen Materialien aus dem dazugehörigen Intensivtrainer sowie aus wei‐ teren Grammatikbüchern und Lehrwerken wurden gescannt und den Lernenden per Bildschirmfreigabe zugänglich gemacht. In der digitalen Lehrwerk‐ version via BlinkLearning kann man multimediale Komponenten (Audio und Video) abspielen, Vokabeln markieren, mit einem virtuellen Stift Wörter oder Satzteile verbinden und mithilfe der Textfunktion Stellen auf digitalen Seiten kommentieren. Im Webkonferenzraum nutzten die Lehrkräfte intensiv die Freigabefunktion zur Lernstoffpräsentation, im Chat wurden Lösungen festgehalten und für Lernende neue Vokabeln bzw. Synonyme eingegeben. Außerhalb des virtuellen Klassenzimmers nutzten die beiden Lehrerinnen auch Google zur Recherche und verschickten Aufgaben an Lernende via WhatsApp. Im WhatsApp-Gruppenchat wurden organisatorische Fragen geklärt und die technische Unterstützung ge‐ währleistet. Neben digitalen Tools und Materialien verwendeten die Lehrkräfte noch Notizen auf Papier, Stifte und analoge Lehrwerke. Die beiden Lehrkräfte unterrichteten am Laptop. Bei den Lernenden unter‐ scheiden sich die Geräte und somit haben sie auch verschiedene Ansichten, ins‐ besondere wenn die Lehrkraft die Freigabefunktion aktiviert (vgl. Abschnitt 6). Dann verkleinert sich die Ansicht der Teilnehmenden. Der Chat wird nicht au‐ 232 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler 24 Vgl. dazu ausführlicher Rösler / Zeyer (2021). tomatisch angezeigt, auch wenn bereits Beiträge vorhanden sind. Die Kursteil‐ nehmenden reagierten auf die Nutzung des Chats durch die Lehrkräfte unter‐ schiedlich. Während einige das Aufschreiben von Vokabeln im Chat als sehr hilfreich empfanden und sie ins Heft abschrieben, machten andere Lernende Screenshots vom Chat, arbeiteten jedoch damit nicht mehr weiter. 24 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines Lernenden, dass er zunächst durch den Einsatz ein- und zweisprachiger Online-Wörterbücher überprüft, ob etwas für ihn wichtig genug ist, um es aufzuschreiben. Diese sinn‐ volle Einschätzung gilt natürlich für Präsenzunterricht ebenso wie für digitali‐ sierten Unterricht, die Frage ist, ob die technologische Dimension dieses Un‐ terrichts ein derartiges Vorgehen nahelegt, wie es in dieser Aussage der Fall zu sein scheint: (2) Maximilian: ja also ich hab mein Handy dabei und: ich guck mal ob das Wort ist wichtig oder nicht Die Arbeit mit der digitalen Version des Lehrwerks fanden viele Lernende un‐ problematisch, allerdings war ein gedrucktes Buch auf dem Tisch während des Online-Unterrichts sehr erwünscht. Zum Aufschreiben und Notieren nutzten die Lernenden hauptsächlich Stifte und Hefte statt digitaler Werkzeuge, auch wenn die Kopierfunktion von ihnen als praktikabel eingeschätzt wurde. Die bereits erwähnte Problematik instabiler Internetverbindung oder leistungs‐ schwächerer Technik wurde häufig durch die gleichzeitige Nutzung zweier Ge‐ räte gelöst: Beim Ausschalten der Kamera konnte man dem Unterricht folgen, um nicht nur mit einer Kachel am Bildschirm zu erscheinen, wurde beim Ein‐ loggen im Konferenzraum mit zwei Geräten an einem die Kamera aktiviert und am zweiten das Mikrofon. 6 Die Bildschirme der Lehrenden, die Bildschirme der Lernenden Lehrkräften ist manchmal nicht klar, dass das, was sie auf ihrem Bildschirm sehen, sich von dem unterscheiden kann, was die Teilnehmenden an ihrem Kurs auf deren Bildschirmen sehen. Die Analyse der Daten zeigt deutlich, dass sowohl die vorhandenen Endgeräte als auch die Interessen der handelnden Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt Einfluss darauf haben, wie ähnlich oder unter‐ schiedlich die Bildschirme der Lehrkräfte und der Lernenden aussehen. Ein einfaches Beispiel für den Einfluss des Endgerätes: Haben die Lernenden den Chat geöffnet, sehen sie einen geschriebenen Text der Lehrkraft, sobald 233 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene dieser geschrieben ist. Ist er nicht geöffnet, sehen sie auf dem Chat-Symbol nur einen roten Punkt. Zu fragen ist, ob die Lernenden überhaupt wissen, dass dieser rote Punkt bedeutet, dass im Chat ein Eintrag vorhanden ist. Falls ja, stellt sich die Frage, ob sie diese Verschriftlichung aufrufen. Falls ja: Führt ein zeitlich versetztes Aufrufen des Chats dazu, dass man sich eventuell gar nicht mehr daran erinnert, wozu man diese Textpassage braucht, und / oder führt die zeitlich versetzte Lektüre dazu, dass man etwas nicht mitbekommt, was behandelt wird, während man sich auf den Chat konzentriert? Eine Lehrkraft, die den Chat als Kommunikationskanal nutzt, sollte ihre Lernenden also möglichst ermutigen, den Chat geöffnet zu halten, falls die Größe ihres Bildschirms dies zulässt. Zwei zum gleichen Zeitpunkt aufgenommene, sehr unterschiedliche Bild‐ schirmansichten sind in den Abbildungen 1 und 2 wiedergegeben. Abbildung 1 zeigt den Bildschirm einer Lehrkraft, die ihren Bildschirm mit Vokabeln freigibt, um das Vorwissen der Lernenden zum Unterrichtsthema zu aktivieren. Sie sieht oben rechts vier der elf anwesenden Personen, eine hat ihre Kamera nicht ein‐ geschaltet und ist daher nur als Kachel zu sehen. Die Lehrkraft hat auch das Chatfenster geöffnet, das zu diesem frühen Zeitpunkt im Unterricht allerdings noch leer ist. Abb. 1: Ansicht der Lehrkraft bei der Freigabe ihres Bildschirms Abbildung 2 zeigt die Ansicht eines Lernenden, der am Online-Unterricht mit seinem Smartphone teilnimmt. Er sieht die freigegebene Datei; um sie lesen zu 234 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler können, zoomt er. Die gerade sprechende Person kann er nur hören und ihren Namen lesen „Es spricht: …“. Den Chat könnte der Lernende technisch nutzen, das würde aber die Freigabe überdecken. In der Aufzeichnung ist dokumentiert, wie der Lerner z. B. recherchiert, dafür muss er die abgebildete Ansicht zur Seite wischen. Abb. 2: Ansicht des Lerners am Smartphone Während bei einem anderen Lernenden mit einem großen Bildschirm sowohl der freigegebene Text als auch die anderen Lernenden gut zu sehen sind, ist auf dem Bildschirm dieses Lerners die Gruppe der Lernenden in diesem Augenblick nicht mehr zu sehen, bei dieser Momentaufnahme könnte es sich auch um Ein‐ zelunterricht handeln. Diese Reduktion ist relativ unproblematisch, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Stillarbeit stattfindet, die fehlende Sicht auf die gesamte Gruppe wird jedoch zum Problem, wenn der Unterricht interaktive Elemente enthält. In diesem Fall können also, ebenso wie bei Verschriftlichungen im Chat, wenn sie nicht in einem geöffneten Chat-Fenster zu sehen sind, sondern nur durch einen leicht zu übersehenden kleinen roten Punkt indiziert werden, unter‐ 235 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene schiedlich große und individuell unterschiedlich gestaltete Bildschirme Einfluss auf individuelle Lernprozesse und Interaktionen in der Gruppe der Lernenden haben. Für Lehrkräfte bedeutet dies eine zusätzliche Belastung: Sie müssen an‐ tizipieren, welche ihrer didaktischen Intentionen mit welchen Bildschirmkons‐ tellationen realisierbar sind, und sie müssen die Lernenden auf die Auswir‐ kungen ihrer Bildschirmgestaltung aufmerksam machen. 7 Einschätzungen des virtuellen Unterrichts durch die Lernenden und Lehrenden 7.1 Vor- und Nachteile aus der Sicht der Lernenden In den Interviews zeigt sich, dass die Teilnehmenden den Präsenzunterricht be‐ vorzugen, sie sehen allerdings in Anbetracht der Pandemiesituation den virtu‐ ellen Unterricht als eine Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, das sei besser als nichts (vgl. Bsp. 3-4). (3) Marlene: normalerweise ähm normalerweise bevorzuge ich Unterricht face-to-face-Unterricht […] aber ähm wir haben kein andere Gelegenheit Chance (4) Maximilian: aber hier zuhause habe ich Probleme aber (.) ja: (lacht) eigent‐ lich äh würde ich gerne: die face-to-face-Unterricht nehmen (.) abe: r wegen Corona (..) kann man nicht äh (.) etwas machen also das ist (.) besser als nichts (.) (lacht) Klar wird in den Interviews benannt, welche Aspekte des Online-Unterrichts für sie problematisch sind. Für Elena sind die angeschalteten Kameras wichtig, um auch im virtuellen Unterricht die Gesichter der anderen Lernenden zu sehen, aber auch wenn Teilnehmende ihre Kameras einschalten, sind nicht alle zu sehen, wenn die Lehrkraft gerade ihren Bildschirm freigibt (vgl. Bsp. 5). (5) Elena: ja das einfacher vielleicht in Onlinekurs (.) und auch das Problem ist, wenn etwas auf Bildschirm ähm gibt, wir sehen nicht die andere Schüler […] dann ähm wir sehen nur (.) den Lehrer oder (räuspert sich) jemand der spricht Nicht nur fehlen manchmal die Gesichter, die fehlende räumliche Nähe macht bestimmte Formen des Kooperierens unmöglich (vgl. Bsp. 6). (6) Elena: virtuelle Kommunikation ja ähm (.) hat viel Probleme z. B. wir können nicht wie ein Präsenzkurs / / nebeneinandersitzen und: vielleicht unseres Bücher und Hefter ein anderes Beispiel ähm geben und be‐ 236 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler kommen […] weißt du wir können nicht uns im Präsenzkurs wir können uns einfach unterhalten mit andere Leute: (.) das sind die Vorteile von einem Präsenzkurs […] aber im Onlinekurs gibt es keinen diese kein diese Sache […] und ich denke das istdas ist besser, wenn wir uns gegenseitig sehen können. Probleme bereitet der Lernort Privatwohnung, im Gegensatz zum Klassen‐ zimmer in der Bildungsinstitution gibt es dort Erwachsene und kindliche Mit‐ bewohner, deren Hintergrundgeräusche stören (vgl. Bsp. 7-8). (7) Elena: manchmal das: stört mich sehr viel ich muss ähm konzentrieren und zuhören (.) aber (.) ja: d' Kinde: r oder schreien so weinen (.) ich denke ja die (lacht) Schüler oder die Leute muss in diese Situation Mikrofon aus‐ machen aber manchmal machen sie nicht (.) das ist eigentlich ein Problem ja ich hab auch ein Kind aber ich immer organisiere ja: diedasmein Kind mit sein Bruder (.) ähm bleiben oder mit ein Bekannte: ja das ist nicht einfach ich verstehe (.) mit Kinder hat immergibt immer dieses Problem aber (.) mmh ja ich finde es nicht so gut (8) Maximilian: also wenn man ähm im Zimmer alleine ähm ist also kann man einfach sich konzentrieren aber (.) also hier ich bin mit mein Freund in gleichem Zimmer und: manchmal vergisst er ähm dass ich ähm zu Unter‐ richt (lachend) bin und fragt mir und ja sagtich muss antworten (lacht) Dabei wird durchaus gesehen, dass diese Nachteile durch Vorteile wie die feh‐ lende Anreise zum Präsenzunterrichtsort ausgeglichen werden können (vgl. Bsp. 9). (9) Maximilian: genau ähm also gibt es Vorteile und Nachteile Vorteile man kann das ähm zuhause machen und nicht so viele Zeit mit ähm Verkehrs‐ mittel verlieren (lacht) es ist ja und: was- und man kann viel Information in weniger Zeit haben wie jawie: face-to-face-Unterricht Die Möglichkeiten, die Lernhilfen auf dem Smartphone und auf dem Computer bieten, werden differenziert wahrgenommen. Digitale Nachschlagemöglich‐ keiten werden als Helfer in der Not akzeptiert (vgl. Bsp. 10). (10) Marlene: aber eine Vorteil von Onlineunterricht ich kann sehr schnell in meinem Handy recherchieren Linda LK (lacht) sieht das nicht / / und im Wörterbuch und ich kann auch Googletranslate benutzen wenn mein Stimme aus ist (lacht) 237 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene Doch dass die Technik Fehler, die man macht, manchmal sehr schnell korrigiert, wird als Lernverhinderung gesehen (vgl. Bsp. 11). (11) Maximilian: aber das Problem ist heutzutage diese Smartphone sind sehr smart und sie korrigieren die Wörter selbst (lacht) also ich kann das schneller schreiben aber mit lernen ich glaube es ist ein eher man kann nicht ähm richtig lernen Wie sehr sich die Einschätzung wandeln kann, zeigt der Interviewausschnitt in Bsp. (12), der die eigene kritische Einschätzung am Anfang mit einer zu einem späteren Zeitpunkt vergleicht. (12) Elena: wenn jemand mich gefragt hat (.) ah Elena wie findest du: Online‐ unterricht? ich sagte immer ach nicht so gut (.) ich finde es (.) ja: viele Leute: zusammen arbeiten / / und (.) ja das warich denke das war unge‐ wöhnlich aber jetzt (.) ich möchte lieber auch B2 Kurs online machen (lacht) Durch die Unterrichtsbeobachtung im Verlauf des Kurses ließ sich die Entwick‐ lung der Gruppendynamik dokumentieren. Die Lernenden, die einander im re‐ alen Leben bisher noch nicht getroffen hatten, unterstützten sich gegenseitig, wenn es im Unterricht technische Probleme gab, und zeigten Verständnis und Empathie, wenn sich jemand im Unterricht durch Störungen zu Hause nicht konzentrieren konnte. Die ausgewählten Interviewausschnitte zeigen auch, wie reflektiert die Lernenden beim Lernen vorgehen, die Chance digitalen Unter‐ richts erkennen und benennen können, welche Aspekte vermisst werden. Die Anfangsskepsis, so Elena in dem in Bsp. (12) wiedergegebenen Ausschnitt aus dem Stimulated Recall-Interview, verliert sich im Laufe des Kurses, für sie ist der digitale Unterricht nicht mehr nur eine Notlösung, sie möchte den Folgekurs jetzt auch gern online machen. 7.2 Vor- und Nachteile aus der Sicht der Lehrenden Die von den Lernenden angesprochenen Probleme mit der Sichtbarkeit der Teil‐ nehmenden werden auch von den Lehrkräften als Herausforderung gesehen (vgl. Bsp. 13). (13) Amalia LK : für ein paar Stunden und sonst größte Herausforderung ja diese z. B. dass man die (.) Teilnehmer nicht so in real sehen kann wie ich schon gesagt habe dass man einfach gucken kann wie weit sind die wenn man eine Stillarbeit gibt ob die jetzt (.) es verstanden haben fertig sind oder schnell sind oder (..) überhaupt da sind wenn die Kamera aus ist (lachend) (..) und ja und auch diese Störungen das hat man vielleicht auch 238 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler im - in einem normalen Klassenraum (.) dass ständig Leute raus und äh reingehen und so Die folgende Passage in Bsp. (14) spricht gleich eine Reihe von Herausforde‐ rungen an. Im Präsenzunterricht wird das schnelle Einschieben einer Aktivität wie hier ein Wortschatzspiel als einfacher durchführbar gesehen als in der di‐ gitalisierten Unterrichtsstunde. Diese erfordere mehr Vorbereitung. Auch die Initiation von Gesprächen wird als schwierig empfunden, aber die Tatsache, dass die Lernenden in dem auch für sie ungewohnten Online-Unterricht sehr ko‐ operationswillig sind, führt zum Gelingen. (14) Linda LK : ich find's schwierig irgendwelche Spiele oder sowas zu machen (..) was ja eigentlich doch (.) oft ganz cool im Unterricht ist dass du einfach mal schnell ein Spiel dazwischen schiebst um keine Ahnung irgendwelche Vokabeln zu festigen oder sowas (.) oder zu wiederholen das finde ich schwierig das bedarf schon irgendwie eine andere Vorbereitung und auch meistens halt dann noch irgendwie WhatsApp nebenbei damit du denen was zuschicken kannst / / und ansonsten hätte - hatte ich am Anfang (.) A: ngst (.) dass es schwierig wird Gespräche aufzubauen in diese kommu‐ nikativen Situationen zu kommen (.) das ist mir aufgefallen das ist ei‐ gentlich gar nicht so schwer jedenfalls nicht mit der Gruppe weil die sich alle darauf einlassen und auch wollen (..) ähm ich find tatsächlich das schreiben üben (.) schwierig also Die Ambivalenz in der Einschätzung zeigt sich auch in der folgenden Inter‐ view-Passage (vgl. Bsp. 15): Die Nachteile des fehlenden Kontakts werden an‐ erkannt, es wird aber auch auf die Chancen hingewiesen, die mit neuen Werk‐ zeugen wie BlinkLearning Einzug ins digitalisierte Klassenzimmer halten: (15) Linda LK : ich denke es sollte also der Online-Unterricht generell sollte als Chance gesehen werden eher ähm (..) was glaube ich bei vielen noch nicht so der Fall ist und alle sehnen sich danach wieder richtigen Unterricht zu haben (..) natürlich ist es schöner die Leute wirklich zu sehen und ich freue mich auch immer wenn es irgendein Treffen gibt das real ist (..) aber: ich finde man sollte nicht vergessen dass es auch Chancen gibt das ist - das sind nicht nur Vorteile und wir müssen wahrscheinlich noch viel dran arbeiten dass also (.) wir Lehrer (.) rinnen aber auch ähm hm (..) die Lehr‐ buchverlage und so ähm (.) aber ich finde es spannend jetzt z. B. wie du gesagt hast das auszutesten das mit BlinkLearning das (..) hätte man ja sonst wahrscheinlich nicht gemacht ähm (.) oder jetzt auch Amalia testet von Cornelsen / / 239 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene Die Online-Situation erlaubt es einer Lehrkraft, zusätzliches Material zu liefern und bei konkret anfallenden Fragen selbst nachzuschauen (vgl. Bsp. 16). (16) Amalia LK : ja den Vorteil hat man dass dass man vielleicht (.) äh wenn die irgendwas dann fragen dass man (..) die gucken nicht dann gleich lieber im Handy dann nachschauen […] s: onst andere Vorteile (..) ja dass man auch flexibel ist also was (.) ähm man kann viele Sachen auch (..) abfotografieren und zeigen oder auch wie ich das vorhin gemacht habe (.) aufschreiben und denen dann so mit denen gemeinsam was machen also und direkt aufschreiben auch diese Chatfunktion finde ich gut (.) ja es gibt auch Vorteile Die Vorteile der Technik sind, entgegen einer oft verbreiteten Meinung, nicht nur für die Präsentation, also für Frontalunterricht, von Bedeutung, sie können auch Kooperation dadurch stärken, dass die Lernenden selbst Gefundenes in den Unterricht einbringen und so ein Gesprächsthema selbst wählen (vgl. Bsp. 17). (17) Linda LK : da ist echt auch cool ja und auch die Teilnehmenden äh suchen manchmal schnell einfach noch irgendne Information raus das ist auch ganz cool (.) dann hat man irgendwie mehr: - noch mehr Gesprächsstoff und mehr Anlass zu Gesprächen (leise) (…) ja mit Videos finde ich auch einfacher als wenn du jetzt im Kursraum bist in nem richtigen und erstmal alles anschließen musst (lachend) um dann ein fünf Minuten Video zu zeigen oder so Die Lehrkräfte hatten keine Möglichkeit, in einer Vorbereitungszeit ein didak‐ tisches Konzept für digitalisierten Unterricht zu erproben und anzupassen, stattdessen reagierten sie rasch auf die plötzliche Umstellung, arbeiteten sich in viele für sie teilweise neue Werkzeuge ein und unterstützen auch noch ihre Lernenden bei technischen Schwierigkeiten und Fragen. Obwohl die Umstel‐ lung auf das Digitale die Lehrkräfte herausforderte, einen enormen Arbeits‐ aufwand erforderte und das Zusammenkommen im Klassenzimmer vermisst wurde, nannten die beiden Lehrkräfte auch positive Aspekte digitalen Unter‐ richts, die von der Praktikabilität des digitalen Lehrwerks bis zur Weiterent‐ wicklung eigener mediendidaktischer Kompetenz reichten. Bei dem hier analysierten Kurs handelt es sich nur um einen einzigen Kurs, dafür aber um einen, der in ‚Echtzeit‘ in der Pandemie durchgeführt wurde. Da hatte man keine Zeit zum Überlegen, man hat gehandelt, und wir als Forscher konnten es miterleben. Die Ergebnisse sind auf dieser Datenbasis nicht zu ver‐ allgemeinern, bestimmte Eindrücke wie unsere Einschätzung, dass die Lernenden mehr über Themen aus der eigenen Welt gesprochen hätten als in frü‐ 240 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler heren Präsenzkursen, die wir besucht hatten, sind halt nur das: Eindrücke. Und unsere Vermutung, dass das daran liegen könnte, dass das Klassenzimmer ihrer privaten Welt nun sehr nahegekommen ist, ist nur das, eine Vermutung. Aber der Einblick in die Daten zeigt, wie in Krisensituationen mit Schwierigkeiten umgegangen wird, und daraus lassen sich auch Konsequenzen für die Zukunft nach dem Notfall ziehen. 8 Was bleibt, wenn der Notfall vorbei ist? Wenn der Notfall vorbei ist, werden sich alle Beteiligten freuen, dass er vorbei ist und ihre gemeinsame Anwesenheit im Raum bejubeln. Die spannende Frage ist, was danach geschieht. Diese Frage bezieht sich natürlich nicht nur auf das Fremdsprachenlernen oder auf Interaktionen in Bildungsinstitutionen, sie gilt auf allen Ebenen: Ökologisch-ökonomisch wird die entscheidende Frage sein, wie man Treffen in Präsenz mit den damit verbundenen Reisen und Treffen per Videokonferenz funktional so ausdifferenziert, dass Treffen wie z. B. Erstkon‐ takte, gemeinsame Feiern und solche, bei denen das informelle Interagieren in den Pausen fast wichtiger ist als das offizielle Reden, klar unterschieden werden können von Treffen, deren Besprechungsgegenstände ohne Qualitätsverlust per Videokonferenz behandelt werden können. Auf der Ebene des Lernens in deutschen Bildungsinstitutionen ist zu hoffen, dass der Schock über die unterschiedlichen, auch noch im Jahre 2020 defizitären Ausstattungen so groß ist, dass endlich die elementaren materiellen Bedin‐ gungen (schneller Zugang zum Internet, kompetente Wartung usw.) und damit Chancengleichheit für alle Lernenden hergestellt werden. Dass die aktuellen politischen Diskussionen zur Digitalisierung z. B. im Rahmen der Initiative Digitale Bildung (vgl. BMBF ) nicht nur endlich zur Be‐ schaffung der materiellen Basis, sondern vor allem auch zu sinnvollen didakti‐ schen Konzepten und erweiterter mediendidaktischer Kompetenz führt, ist die Voraussetzung dafür, dass auch beim Fremdsprachenlernen und -lehren eine funktionale Ausdifferenzierung von Präsenz und Arbeit mit digitalen Medien erfolgt. Diese könnte dazu führen, dass zukünftige Generationen von Lehr‐ kräften einmal kopfschüttelnd auf das Fremdsprachenlernen um die Jahrtau‐ sendwende zurückblicken und sich wundern, warum damals jemand glaubte, Fremdsprachen lerne man am besten in wenigen, über eine Woche verteilten 45-minütigen Einheiten, zu denen sich individualisierte Nachbereitungen durch Hausaufgaben gesellten. Voraussetzung dafür ist eine Lehrendenbildung, die überbordende Begeiste‐ rung für die ebenso wie generelle Skepsis gegenüber der Arbeit mit digitalen 241 Mit Kacheln reden: Deutschunterricht für junge Erwachsene 25 „Filme, Fernsehen und Serien nutzen zahlreiche Teilnehmende, um z. B. ihr Hörver‐ stehen oder ihren Wortschatz zu trainieren […], ein Teil nutzt das Material auch, um das Sprechen zu verbessern“ (Müller-Karabil / Harsch 2019: 49). 26 „Ebenso werden Grammatik-Tutorien auf der Videoplattform you tube [sic! ] (auf Deutsch oder Arabisch) oder grammatische Lernchannels von deutschen Lehr‐ Medien im Fremdsprachenunterricht ausbremst und ersetzt durch eine souve‐ räne Auseinandersetzung mit deren Funktionalität für bestimmte Lernziele und Lerngegenstände. Und die parallel dazu die Entwicklung eines Bewusstseins von Lernenden über ihre Mediennutzung voranbringt, das es ihnen erlaubt, Ange‐ bote in Bildungsinstitutionen und individualisierte Online-Angebote im Internet im Hinblick auf ihre Qualität einzuschätzen und für ihre jeweiligen Bedürfnisse zu verwenden (oder auch nicht). Für die Weiterentwicklung des Fremdsprachenlernens in Bildungsinstituti‐ onen, wenn es nicht von den informellen Angeboten im Netz oder dem Service von sich immer weiter entwickelnden Sprachassistenzsystemen verdrängt werden möchte, ist wichtig, dass aus diesem unfreiwilligen Großexperiment zur Digitalisierung des Lernens Schlüsse gezogen werden, die sich nicht auf der generellen Ebene des Pro oder Kontra Digitalisierung bewegen, sondern die systematisch und kleinteilig analysieren, für welche Lernenden mit welchen Lernvoraussetzungen und welchen Lernzielen bei welchen Lerngegenständen ein individualisiertes oder gemeinsames Lernen, in Präsenz oder virtuell, sinn‐ voll ist. Eine kleinteilige Analyse des Lehrens und Lernens der neuen Umgebungs‐ sprache Deutsch ist auch für die in diesem Beitrag behandelte Gruppe von jungen studieninteressierten Erwachsenen notwendig, die sich von scheinbar ähnlichen Lernendengruppen unterscheidet. Von anderen internationalen Stu‐ dierenden unterscheiden diese Lernenden sich dadurch, dass im Gegensatz zu diesen bei ihnen nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie sich sprachlich und kulturell auf einen Studienaufenthalt in Deutschland vorbereitet haben oder vorbereiten konnten. Von anderen gleichaltrigen Geflüchteten können sie sich z. B. im Hinblick auf ihr erreichtes (formales) Bildungsniveau, eventuell auch auf den Grad der Alphabetisierung, unterscheiden, was Konsequenzen für die Art des Lehrens und Lernens der neuen Sprache Deutsch haben kann. Im Hinblick auf die Verwendung von Medien ist zunächst festzuhalten, dass alle beteiligten Lehrkräfte und Lernenden in der Lage waren, mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln den abrupten Übergang von Präsenz zu digitalisiertem Unterricht zu bewerkstelligen. Diese Beobachtung bestätigt die Ergebnisse von Müller-Karabil und Harsch (2019), die zeigten, dass der Um‐ gang mit analogen 25 und digitalen 26 Medien für die von ihnen befragten Ge‐ 242 Tamara Zeyer / Dietmar Rösler enden […] als unterstützend im Lernprozess wahrgenommen […] Wortschatzarbeit mithilfe von Apps bezeichnen Befragte als zielgerichtet […] andere üben mit Quiz-Shows im Fernsehen […] Weiterhin spielen soziale Netzwerke eine Rolle im Lern‐ prozess einiger Teilnehmer […] Der Messengerdienst WhatsApp wird für Lerngruppen oder die schnelle Kommunikation mit Bekannten genutzt, über die Plattform facebook interagieren Lernende, verfolgen und kommentieren Diskussionen oder knüpfen neue Kontakte zu Deutschen“ (Müller-Karabil / Harsch 2019: 49) flüchteten in Vorbereitungskursen an der Universität eine wichtige Rolle spielten. Man wird also bei dieser Gruppe von Lernenden davon ausgehen können, dass ihre Mitglieder die technische Medienkompetenz mitbringen, die Voraussetzung für ein digitales Lernen ist. Auf dieser Basis aufzubauen ist ein Umgang mit digitalen Medien, der über die Verwendung digitaler Ressourcen als Helfer in kommunikativer Not hinausgeht. Ein Nachdenken über und ein Ausprobieren von einem sinnvollen Einsatz von Sprachassistenzsystemen muss deshalb ebenso Teil eines Deutschunterrichts für diese Lernendengruppe sein wie die Arbeit mit digitalen didaktischen Hilfsmitteln zum Wortschatzerwerb, zur Grammatikvermittlung, zum Verstehen zielkultureller Phänomene usw. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich, wie bei der hier analysierten Lernsitu‐ ation, um zwangsdigitalisierten Unterricht handelt, oder um Präsenzunterricht, dessen Veranstalter in Zukunft hoffentlich so viel aus der Pandemiesituation gelernt haben werden, dass sie den Umgang mit digitalen Medien, sowohl auf der Ebene der Reflexion als auch auf den Ebenen der Assistenz von realer Kom‐ munikation und der didaktischen Unterstützung des Sprachenlernens, als selbst‐ verständlichen Bestandteil des Unterrichts begreifen. Literatur Aguado, Karin (2019): Zur Vielfalt qualitativer Datenerhebungsverfahren. In: Wilden, Eva / Rossa, Henning (Hrsg.): Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Projekt. Berlin: Peter Lang, 67-85. Becker, Kim Björn / Kampmann, David (2021): Willkommen im Lockdown. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März 2021, 4. Biebighäuser, Katrin / Feick, Diana (Hrsg.) (2020): Digitale Medien in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 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Im Zentrum steht dabei die Frage, wie der Forderung nach einem hohen Praxisanteil in solchen Kursen in Zeiten rein digitaler Kursdurchführung begegnet werden kann. Dabei werden so‐ wohl Fragen danach, wie eine Aneignung des Deutschen als Zweitsprache für den Beruf in digitaler Distanz möglich ist, als auch welche Möglichkeiten sich durch digitale Formate unter Umständen auch nach der Rückkehr in den Präsenzunterricht ergeben, berücksichtigt. 1 Einführung In Texten zur Aneignung und Vermittlung von Kenntnissen der Zweitsprache Deutsch für den Arbeitsmarkt im Allgemeinen und bestimmte Berufe oder Ar‐ beitsfelder im Speziellen von / für erwachsene/ n Migrant*innen - kurz berufs‐ bezogenes Deutsch oder Deutsch für den Beruf genannt - hat sich als Grundlage das Verständnis von Sprache als sozialer Praxis (vgl. Grünhage-Monetti / Klepp 2004) sowie von Sprachaneignung als Sozialisationsprozess in communities of practice (vgl. Wenger 2008) durchgesetzt. Institutionelle Angebote sollten somit möglichst früh den Sprachlernort Arbeitsplatz einbeziehen oder diesen zumin‐ dest simulierend oder erprobend in den Klassenraum holen, wie dies z. B. die 1 So werden in der aktuellen Konzipierung und Finanzierung die Kurse genannt, die auf‐ bauend auf den Integrationskursen neu zugewanderte und bereits länger in Deutsch‐ land lebende erwachsene Migrant*innen und Geflüchtete auf den Arbeitsmarkt vorbe‐ reiten sollen. Nachdem vergleichbare Kurse früher projektorientiert oder über EU-Mittel finanziert durchgeführt wurden, sind sie seit 2016 in die nationale Finanzie‐ rung übergegangen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) un‐ terstellt (vgl. Daase 2021a; 2021b). Es gibt sowohl allgemein auf den Arbeitsmark vor‐ bereitende Basissprachkurse als auch Spezialkurse mit fachspezifischen Inhalten oder als Bestandteil im Anerkennungsverfahren zu akademischen Heilberufen und Gesund‐ heitsfachberufen. Szenariomethode (vgl. Sass / Eilert-Ebke 2014) in Ansätzen ermöglicht. Die neuen Berufssprachkurse 1 haben mit ihrer Prüfungsfokussierung sowie dem weitgehenden Ausschluss des Lernortes Arbeitsplatz durch Streichung von Praktika zu einem diesbezüglichen Rückschritt geführt. Die pandemiebedingte Unterbrechung von Kursen und ihre Fortsetzung in digitalen Formaten stellt eine weitere Herausforderung dar. Dies betrifft insbesondere die Gruppe neu‐ zugewanderter Personen, die durch fehlende Kontakte in der ersten Zeit in der neuen Heimat sowieso schon wenig Zugang zu deutschsprachigem Input bzw. zielsprachigen Praktiken haben, was sich in Zeiten sozialer Distanz noch po‐ tenziert. In diesem Beitrag wird auf der Grundlage eines Verständnisses von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis und der daraus resultierenden Wich‐ tigkeit von Materialität und Körperlichkeit und dem mit ihr verbundenen im‐ pliziten Wissen für einen möglichst hohen Praxisanteil in berufsbezogenen DaZ-Kursen bzw. einem möglichst frühen Zugang zu und Teilhabe an berufli‐ chen Praktiken plädiert. Darauf basierend gehen wir der Frage nach, wie dieser Forderung in Zeiten pandemiebedingten digitalen Lernens und Unterrichtens begegnet werden kann. Dafür werden zunächst Qualitätskriterien für digitales Lernen und Lehren von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF / DaZ) dar‐ gelegt und mit dem Praxisbegriff in Beziehung gesetzt, bevor folgende Unter‐ fragen behandelt werden: Inwieweit kann in die sozialen Praktiken am Arbeits‐ platz oder allgemein im Berufsleben eingeführt oder auf sie vorbereitet werden? Um welche sozialen Praktiken handelt es sich beim Distanzlernen? Worauf kann zurückgegriffen werden? Welche Ressourcen können genutzt werden? Wo sind Grenzen? Die dafür exemplarisch vorgestellten Ideen und Erfahrungen aus berufsbe‐ zogenen DaZ-Kursen zur Begegnung dieser Herausforderungen werden hin‐ sichtlich ihrer Bedeutung und Annäherung an oder Ermöglichung von der An‐ eignung des Deutschen für den Beruf als soziale Praxis in Zeiten der sozialen Distanz kritisch diskutiert und auf Möglichkeiten einer diesbezüglichen Erwei‐ 248 Andrea Daase / Eliška Dunowski 2 Für eine Übersicht über die unterschiedlichen Ansätze der Soziokulturellen Theorien im engeren Sinne siehe Lantolf / Thorne (2006), im weiteren Sinne siehe Daase (2018). terung hin untersucht. Zudem soll ihr Mehrwert für die Rückkehr in den Prä‐ senzunterricht untersucht werden. 2 Sprache und Sprachaneignung als soziale Praxis Im Arbeitsgebiet des Unterrichts Berufsbezogenes Deutsch oder Deutsch für den Beruf waren es insbesondere EU -Projekte um die Jahrtausendwende, die auf der Grundauffassung von Sprache als sozialer Praxis basierten und den Begriff für diesen Bereich prägten (vgl. u. a. Grünhage-Monetti / Klepp 2004). Dabei legten sie ein pragmalinguistisches und handlungsorientiertes Verständnis von Sprache zugrunde, erweiterten dies aber durch den Rückgriff auf Wengers Ver‐ ständnis von practice: „The concept of practice connotes doing, but not just doing in and of itself. It is doing in a historical und social context that gives structure and meaning to what we do. In this sense, practice is always social practice.“ (Wenger 2005: 47). Zudem hoben sie den Beziehungsaspekt von Sprache hervor, da Menschen in und durch sprachliche/ r Interaktion gleichermaßen auch ihre wechselseitigen Beziehungen zu- und miteinander definieren und regeln (Grün‐ hage-Monetti 2005: 13). Des Weiteren standen Machtaspekte im Zentrum der Projektarbeiten: […] how power shapes language and is shaped by language, what does it mean to communicate in hierarchical contexts like the workplace, what is the role of language teachers, what can be the aims but also the limits of language provision. (Grün‐ hage-Monetti 2005: 21) Damit gingen sie bereits damals über einen handlungsorientierten Ansatz hi‐ naus, der in aktuellen Konzepten und Curricula nach wie vor leitend ist, und verwiesen auf die Grenzen der Vermittlung und Aneignung berufsbezogener Sprachkenntnisse im Rahmen von Kursen sowie auf die Bedeutung des Lern‐ ortes Arbeitsplatz. Im wissenschaftlichen Fachgebiet Deutsch als Zweitsprache hat das Ver‐ ständnis von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis nicht zuletzt mit der Ausbreitung Soziokultureller Theorien ( SCT ) (vgl. u. a. Daase 2018; Skintey 2020; Wernicke 2020; Falkenstern / Ohm i. Dr.) an Bedeutung und Schärfung ge‐ wonnen. Diese Ansätze eint trotz unterschiedlicher Verortungen in diversen wissenschaftlichen Disziplinen und damit variierender Foki 2 die Auffassung, dass Sprache und Spracheignung nicht isoliert von den sie konstituierenden 249 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen 3 Dies soll keine grundsätzliche Kritik an der Einführung des Praktikenbegriffs in den genannten Diskurs darstellen - ganz im Gegenteil, wird damit doch der Verdinglichung von Sprache und der Annahme, Bildungssprache stelle ein klar abgrenzbares Register sozio-historischen und sozio-kulturellen Kontexten verstanden werden können. Sie gelten nicht als rein kognitive Phänomene, sondern vielmehr als komplexe soziale Praxis, was einem prozessim Gegensatz zu einem produktorientierten Verständnis entspricht. Statt der klassischen Unterscheidung von Lernen und Anwendung von Sprache (und entsprechenden Kategorien für die Bezeichnung der jeweils involvierten Individuen) gehen sie von Partizipation als beide Be‐ reiche vereinende Metapher aus (vgl. Sfard 1998). In jüngster Zeit sind Soziokulturelle Theorien um Praxistheorien erweitert worden (vgl. Daase 2021a; Falkenstern / Ohm i. Dr.; Ohm i. Dr.). Im Folgenden werden nun das diesem Beitrag zugrundeliegende Praxisverständnis sowie die daraus resultierende Auffassung von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis und Implikationen aus diesen für den Anwendungskontext Deutsch für den Beruf in der hier gebotenen Kürze aufgezeigt. 2.1 Praxis und die sie herstellenden Praktiken Ähnlich wie Sprache oder Lernen stellt Praxis einen eingebürgerten („naturalized“) Begriff dar, wie Street (2000: 17) unter Rückgriff auf Fairclough (1992) für die literacy practices konstatiert. Praxis wird in vielen unterschiedlichen Kon‐ texten ohne Explikation und Präzisierung verwendet, da vermeintlich voraus‐ gesetzt werden kann, was allgemein darunter zu verstehen ist. Nicht selten wird aber auch in wissenschaftlichen und fachlichen Kontexten ein Alltagsver‐ ständnis von Praxis zugrunde gelegt, das in Abgrenzung zu Wissenschaft ver‐ wendet wird und außer Acht lässt, dass es auch eine wissenschaftliche Praxis bzw. wissenschaftliche Praktiken gibt. Im aktuellen Diskurs zu bildungssprachlichen Anforderungen bzw. Kompe‐ tenzentwicklungen in schulischen Kontexten wird zurzeit vermehrt der Begriff der bildungssprachlichen Praktiken (u. a. Morek / Heller 2012; 2019) verwendet, welcher in der ethnomethodologisch fundierten Gesprächs- und Textlinguistik verortet ist. Als Alternative zum Registerbegriff soll damit der Herstellung von Kommunikationskontexten durch den Vollzug dieser Praktiken Rechnung ge‐ tragen werden (vgl. Morek / Heller 2019). Allerdings ist die gegenseitige Her‐ stellung von Register und Kontext bereits im Registerbegriff der Funktionalen Grammatik angelegt (vgl. u. a. Hasan 2005: 68), zudem verbleibt dieses Prakti‐ kenverständnis aufgrund seiner fachwissenschaftlichen Verortung beim situ‐ ierten symbolischen Handeln und damit hinter dem nun dargestellten Prakti‐ kenbegriff zurück. 3 250 Andrea Daase / Eliška Dunowski dar, entgegengewirkt. Ein solches Verständnis ist anschlussfähig an die Funktionale Grammatik und die Genredidaktik der Sydney School (vgl. u. a. Rose / Martin 2012) wie auch die im deutschsprachigen Raum bekanntere Didaktik der Textprozeduren (vgl. u. a. Bachmann / Feilke 2014). Wir beziehen uns auf die sich in der letzten Zeit in den Sozialwissenschaften aus diversen Disziplinen formierenden Praxistheorien, wobei deren Praxisbe‐ griff kein neuer ist, als dieser auf Aristoteles´ Unterscheidung von Praxis und Poeisis zurückgeht: Während ersteres eine „auf einer vernünftigen Lebensge‐ staltung ausgerichteten Tätigkeit“ meint, ist zweiteres „das Bewirken, Her‐ stellen und Hervorbringen, dessen Zweck im Hergestellten liegt“ (Schmidt 2017: 335), was gemeinhin mit unserem Begriff des Handelns gefasst wird. Verdeut‐ licht werden kann der Unterschied zwischen Praxis bzw. Praktiken und Hand‐ lungen / Handeln anhand der englischen Verben doing und making: „doing sports“ oder „doing business“ hat nicht das Ziel etwas Bestimmtes herzustellen (wie z. B. „making lunch“), sondern das Ziel liegt in einem „doing things well“ (Nicolini 2012: 26). Handlungen werden nicht als individuelle intentionale Akte, sondern als Bestandteile der übergreifenden Gepflo‐ genheiten, Auf- und Ausführungsmuster und Sinnzusammenhänge sozialer Prak‐ tiken, die wiederum im Kontext von Kultur- und Lebensformen verortet werden (Schmidt 2017: 337), verstanden. Praxis und Praktiken sind den Handlungen somit vorgängig. Wäh‐ rend man bei Handlungen nach dem Wozu fragt, geht es bei Praktiken um das Wie (vgl. Hirschauer 2004: 73). Für den Gegenstand dieses Beitrages ist vor allem die Grundannahme der Materialität oder Körperlichkeit des Sozialen und damit von Praxis von besonderem Interesse sowie die den Praktiken zugrundliegenden impliziten Wissensordnungen, ihre Routinisiertheit, aber auch die Transforma‐ tion sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2000: 572; 2003: 290; Schmidt 2017: 337). Mit dem Begriff Praxis wird auf den „kontingenten Ablauf aller möglichen Lebenstätigkeiten“ verwiesen (Alkemeyer / Buschmann 2017: 271). Praktiken als die kleinste Einheit des Sozialen (vgl. Reckwitz 2003: 290) hingegen sind „typi‐ sierte, historisch und sozial formatierte und somit unterscheidbare Bündel ver‐ baler und nonverbaler Aktivitäten“ (Alkemeyer / Buschmann 2017: 271), „mea‐ ning-making, identity-forming and order-producing activities“ (Nicolini 2012: 7). Sie verfügen über eine Doppelstruktur von Körperlichkeit und Symbolhaftem (vgl. Reckwitz 2000: 558), womit deutlich wird, dass sie über Sprechakte in der linguistischen Pragmatik hinausgehen, vielmehr „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doing and saying“ (Schatzki 1996: 89) darstellen. Dabei wird den doings im Sinne von Bewegungen und Hervorbringungen und 251 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen somit der Körperlichkeit und Materialität ein zentraler Stellenwert zuge‐ schrieben (vgl. Hillebrandt 2014: 59): Der Vollzug von Praktiken ist nur in ihrer Körperlichkeit denkbar. Dies gilt auch für vermeintlich rein mentale Praktiken: Es gilt für jede beobachtbare Praxis, weil selbst das Lesen von Büchern, die Internet‐ nutzung, das Schreiben und Lesen von SMS-Kurznachrichten, die Video-Konferenz und andere, oft als Beispiele für körperlose Sozialität genannte Praxisformen nicht ohne den menschlichen Körper und seine Sinnesorgane auskommen. Menschliche Körper sind folglich Teil der Materialität aller Praxis. (Hillebrandt 2014: 61) Das Mentale wird also nicht getrennt vom Körperlichen verstanden, sondern es manifestiert sich in den Praktiken, welche von kompetenten Körpern ausgeführt werden (vgl. Schatzki 1996: 87). Damit wird ein Verständnis von Wissen als knowing how im Gegensatz zum knowing that zugrunde gelegt. Es wird als praktisches Wissen verstanden, als ein „Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ,Sich auf etwas verstehen‘“ (Reckwitz 2003: 289), das lokal und historisch spezifisch ist und Raum und Zeit verbindet. Auf‐ grund seiner Implizitheit kann es in traditionellen Unterrichtskontexten nicht vermittelt werden. 2.2 Sprache als soziale Praxis Ein Verständnis von Sprache als sozialer Praxis ist in der Sprachwissenschaft nicht neu, so z. B. bei Maas (2010: 37) zu finden als Praxis, „in die jedes Kind hineinsozialisiert wird - als Sprache der Anderen“. Vorhandene biologische Grundlagen werden in diesem Prozess ausgebaut. In Arbeiten zur Zweitsprachaneigung, die sich in den bereits erwähnten Soziokulturellen Theorien verorten, geht ein solches Verständnis über die sprachliche Interaktion einzelner Individuen hinaus, da ihrer situativen Einbettung, ihrer Verwicklungen in In‐ stitutionen sowie ihrer Einbettung in herrschenden Diskursen grundlegende Bedeutung beigemessen wird. Sprache kann nicht von ihrem sie konstituie‐ renden kontextuellen Entstehungsort losgelöst betrachtet werden, den sie wie‐ derum gestaltet: „Language acquires life and historically evolves here, in concrete verbal communication, and not in the abstract linguistic system of lang‐ uage forms, nor in the individual psyche of speakers.“ (Vološinov 1973: 95) Damit ist sowohl mediale Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit gemeint. Die in einer bestimmten Situation in einem größeren Kontext eingebettete jeweilige berufs‐ sprachliche Varietät stellt eine komplexe soziale und situierte Praxis dar, die dynamisch, interaktional und kontextabhängig ist (vgl. Bourdieu 2005; Norton 2001) und deren Performanz immer an die der Körper gebunden ist und der 252 Andrea Daase / Eliška Dunowski „handlungsermöglichenden, -initierenden und -leitenden Funktion der Dinge“ (Bedorf 2015: 135) bedarf. Der Prozess der Bedeutungskonstitution vollzieht sich unter Beteiligung aller Akteur*innen und ist maßgeblich von den expliziten und impliziten Regeln der jeweiligen community of practice (cop) bedingt, worunter Menschen verstanden werden, die durch einen längerfristigen Diskurs- und Praxiszusammenhang und ein gemeinsames Handlungsziel miteinander verbunden sind (in Situationen vor Ort, wie z. B. am Arbeitsplatz oder in einem weiteren Sinne wie dies z. B. in einer Forschungsgemeinschaft der Fall ist) und dadurch ein gemeinsames Repertoire an Praktiken und Werten sowie ein spezifisches Machtgefüge herausgebildet haben (vgl. Lave / Wenger 2009: 98; Wenger 2008: 47) 2.3 Sprachaneignung als soziale Praxis Ein praxistheoretisches Verständnis von Lernen wird […] als sukzessive praktische Aneignung eines Repertoires disparater Dispositionen oder Gewohnheiten (habits) […], die Bewegungen, Körpertechniken und Geschick‐ lichkeiten ebenso umfassen wie Einstellungen, Neigungen, Bereitschaften, Vorlieben und Wünsche […] (Alkemeyer / Buschmann 2017: 286 f., Hervorh. i. Orig.) verstanden. Ausgehend von einem Verständnis von Sprache als sozialer Praxis kann auch Sprachaneignung nur als soziale Praxis konzeptualisiert werden. Als anschlussfähig erweisen sich die auf anthropologischen Arbeiten und der Eth‐ nografie der Kommunikation basierenden Konzepte der language socialization, des situated learning in cop und der legitimate peripheral participation, wie sie im Rahmen der SCT auch für DaZ diskutiert werden (vgl. Daase 2018; Skintey 2020; Wernicke 2020). Im situated learning Ansatz wird Lernen im Allgemeinen nicht als Erwerb eines abgegrenzten Umfangs an Wissen, sondern als fortschreitende Partizipa‐ tion an den Praktiken einer cop verstanden. Neuankömmlinge werden von Be‐ ginn an als legitime Mitglieder einer cop betrachtet, ohne sich diesen Status im Vorfeld durch einen Deutschkurs bzw. ausreichende Deutschkenntnisse ver‐ dienen zu müssen. Sie eignen sich die notwendigen Fähigkeiten zur Ausübung dieser Praktiken handelnd an, sind dabei bereits Teil der cop und gestalten diese durch die Teilhabe an deren Praktiken mit (Lave / Wenger 2009: 33). Dabei wird ihnen ein Status als Lernende auf dem Weg zur vollen Partizipation zugestanden. Lernen wird in diesem Ansatz dementsprechend als legitimate peripheral parti‐ cipation verstanden, „involving the whole person“ (Lave / Wenger 2009: 33). Während sich in Deutschland aufgrund des nach wie vor wirkmächtigen Diskurses Integration durch Sprache Zugewanderte in Kursen in einer rein kog‐ 253 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen nitiven Sicht die Sprache aneignen sollen, um dann in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz handlungsfähig zu werden, sieht ein praxeologisches Verständnis kompetente Körper nicht nur als Voraussetzung, sondern gleichermaßen als „Resultate des Vollzugs sozialer Praktiken“ an, da „Praktiken eine die Körper sozialisierende Funktion haben“ (Schmidt 2017: 340). Eine Aneignung von Prak‐ tiken außerhalb dieser, das heißt ohne Zugang zu ihnen, ist mithin nicht denkbar. 2.4 Implikationen für Angebote der zweitsprachlichen Aneignung Deutsch für den Beruf und Arbeitsplatz Bezogen auf die Aneignung des Deutschen als Zweitsprache für den Beruf oder eine Arbeitstätigkeit heißt das dargestellte Verständnis, dass berufliche Prak‐ tiken, in denen Sprachliches verankert, aber nicht von ihnen abgespalten werden kann, nicht bzw. nur in einem gewissen Ausmaß in dafür eingerichteten Kursen angeeignet werden kann. Dort haben die Lernenden keinen Zugang zu den Praktiken, in die sie sich einsozialisieren wollen und müssen. Statt doing work wie etwa Kinder in der Kita für die Draußenzeit fertigzumachen oder eine Wunde versorgen stellen die dort ausgeführten Praktiken vielmehr ein doing training, das Üben sprachlicher Handlungen, die - je nach der sich entfaltenden Situation - zu den jeweiligen Praktiken gehören können, dar. Dieses Üben erfolgt - im optimalen Fall - in möglichst realistischen Situati‐ onen, wie dies z. B. mit der Szenariomethode möglich ist. Bei Szenarien handelt es sich um […] eine Kette von fiktiven, handlungsbezogenen Aufgaben mit einem realistischen Hintergrund. Die Rollen und die einzelnen in dem jeweiligen Szenario vorkommenden mündlichen oder schriftlichen Kommunikationssituationen sind zuvor festgelegt und knüpfen stets an die Arbeits- und Lebenswelt der Kursteilnehmenden an. Ziel ist es, in eine realitätsnahe Situation einzutauchen, um ganz konkrete, auf den eigenen Ar‐ beitsplatz bezogene Sprachhandlungen zu simulieren, wie z. B. mit Kunden telefo‐ nieren, Besprechungen durchführen und Informationen dokumentieren. Im Gegen‐ satz zu einem Rollenspiel besteht ein Szenario immer aus mehreren aufeinander aufbauenden Kommunikationssituationen […]. (Sass / Eilert-Ebke 2014: 6) Zwar ist auch hier viel von Handlungen die Rede, diese erhalten aber durch ihre Einbettung in ein größeres Ganzes ihren praktischen Sinn und werden nicht nur als Sprachhandlungen, also rein symbolisch, sondern im besten Falle auch in entsprechend mit allen notwendigen Artefakten inszenierten Situationen kör‐ perlich und materiell vollzogen. Artefakte sind in diesem Kontext „Partizipanden sozialer Prozesse“ (Hirschauer 2004: 74, Hervorh. i. Orig.), nicht im Sinne von 254 Andrea Daase / Eliška Dunowski 4 In Bremen wird aktuell eine szenarienbasierte Prüfung für pädagogische Fachkräfte sowie ausländische Lehrkräfte in der Anpassungsqualifizierung erprobt. Akteuren, sondern „alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind“ (Hirschauer 2004: 75). Noch besser aber erfolgt die Einsozialisierung in Praktiken wie auch das (vorbereitende) Üben der ihr untergeordneten (sprachlichen) Handlungen ein‐ gebettet in den Arbeitsalltag, um den Lernort Arbeitsplatz einzubeziehen und Partizipation zu ermöglichen, wie dies z. B. Stallbaum und Thomas (2020) ein‐ drucksvoll auch für Menschen mit einem noch geringen Deutschniveau be‐ schreiben. Die Unterrichtsszenarien finden im alltäglichen Arbeitsgeschehen und damit unter Einbezug aller notwendigen und sinngebenden Entitäten statt. Die Lernenden erhalten Zugang zu den Praktiken, indem sie Teil der entsprechenden cop sind. In reinen Sprachkursen für den Beruf hingegen sind sie Teil der cop Kursgemeinschaft, die sicher auch ihre Funktion und Wichtigkeit hat, gerade in der Anfangszeit der Sprachaneignung von Neuzugewanderten, aber letztlich doch eine Zweckgemeinschaft ist und nicht die angestrebte cop dar‐ stellt. Dies ist DaZ-Lernenden durchaus bewusst und wird von ihnen auch kri‐ tisch gesehen (vgl. Norton 2001; Daase 2018; 2021c). Problematisch in der aktuellen Organisation der über das BAMF organisierten Berufssprachkurse ist allerdings - neben der Abschaffung der Praxisan‐ teile, die vor dem Hintergrund dieses Kapitels nicht weiter kommentiert werden muss - die verpflichtende Sprachprüfung am Ende der Kurse, welche lediglich sprachliche Handlungen abprüft, ohne einbettende Kontexte, wie dies z. B. mit Szenarienprüfungen möglich wäre. 4 Damit stellt sich die Frage, ob aus dem kontextfreien Üben solcher Praktiken nicht im Laufe des Kurses eher ein doing language certification wird, was üblicherweise mit teaching to the test bezeichnet wird. Nach der Darstellung unserer theoretischen Verortung und ihrer Bedeutung für den präpandemischen Berufsbezogenen DaZ-Unterricht werden nun die be‐ sonderen Herausforderungen digitaler Formate in den Blick genommen. 3 Digitales Lernen in Berufsbezogenen Deutschkursen Distanzlernen, E-Learning, digitales Lernen, online Lernen etc. werden - im Gegensatz zu anderen Bildungsbereichen - erst seit März 2020 im Arbeitsfeld Berufsbezogener DaZ-Unterricht thematisiert. Die bis dahin ausschließlich in Präsenz mit rund 20 Teilnehmenden durchgeführten Kurse wurden zunächst ausgesetzt und dann in digitaler Form ohne ausreichende Vorbereitung sowie 255 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen 5 Die Literatur für eine digitale Durchführung von (berufsbezogenem) DaZ-Unterricht ist aus den genannten Gründen noch sehr überschaubar. Schulung von Lehrkräften fortgesetzt. Im Folgenden soll es nun darum gehen, wie der pandemiebedingten digitalen Wende in Berufsbezogenen DaZ-Kursen nach Maßgabe der dafür zur Verfügung stehenden Fachliteratur begegnet werden soll. Dafür werden didaktische Prinzipien und Qualitätskriterien für den digitalen Berufsbezogenen DaZ-Unterricht 5 dargestellt und mit der Auffassung von Sprachaneignung als sozialer Praxis in Beziehung gesetzt. Für den Berufsbezogenen DaZ-Unterricht wurden vor zehn Jahren Quali‐ tätskriterien formuliert (vgl. Beckmann-Schulz / Kleiner 2011), die in einem Qualitätsrahmen für Integriertes Fach- und Sprachlernen (vgl. Laxczko‐ wiak / Scheerer-Papp 2018) fortgeschrieben wurden. Diese werden auch für das Lernen mit digitalen Medien im Berufsbezogenen Deutsch herangezogen (vgl. Ransberger 2019) und bestehen aus drei Teilen: 1. Qualitätskriterien für den berufsbezogenen Deutschunterricht (Hand‐ lungsorientierung, Bedarfsorientierung, Teilnehmendenorientierung), 2. didaktisch-methodische Prinzipien des Unterrichtens mit digitalen Me‐ dien (Handlungsorientierung, Interaktionsorientierung, interkulturelle Orientierung, Lerneraktivierung und Lernerautonomie), 3. Kriterien für die Nutzung eines Tools (Anpassungsfähigkeit, Förderung der Reflexionsfähigkeit, Ermöglichen von Kooperation, Ermöglichen von Authentizität und Bedienerfreundlichkeit). Dass die Qualitätskriterien mit den drei didaktischen Prinzipien zu kurz greifen, wurde für Präsenzkurse insbesondere hinsichtlich der Handlungs- und Teilneh‐ mendenorientierung bereits diskutiert (vgl. Daase 2021b), was in diesem Sinne für digitale Kursumsetzungen gleichermaßen gilt. Dass die Ausrichtung der Kurse über Handlungsorientierung hinausgehen muss, ist im vorherigen Kapitel ebenfalls deutlich geworden. Die didaktisch-methodischen Prinzipien, die den Qualitätsrahmen zum Ein‐ satz von digitalen Medien bilden, übernimmt Ransberger (2019) in unverän‐ derter, lediglich gekürzter Form von Brash und Pfeil (2017), die didaktische Prinzipien für den Deutsch als Fremdsprache (DaF)-Unterricht mit digitalen Medien festlegen. Diese Prinzipien wiederum werden in Auswahl dem analogen DaF-Unterricht entnommen (vgl. z. B. Funk 2010; Funk et al. 2014: 17-22). Der Transfer vom Analogen ins Digitale wird allerdings auch dort nicht ausreichend berücksichtigt. Grundlegend gilt, dass in einschlägiger Literatur in der Fremd- und Zweitsprachendidaktik des Deutschen das digitale Lernen als - um in der 256 Andrea Daase / Eliška Dunowski Wortwahl digitaler Anwendungen zu bleiben - Add-on zum analog stattfindenden Sprachkurs betrachtet wird (vgl. Brash / Pfeil 2017; Meister / Shalaby 2014; Rösler / Würffel 2014; Strasser 2014). Eine Ausnahme bildet Ransberger (2019), die konkrete Unterrichtsvorschläge für ausschließlich digitale Kurs‐ durchführung für Berufsbezogenes Deutsch vorstellt, sich jedoch an den didak‐ tisch-methodischen Prinzipien eines als Add-on verstandenen digitalen Unter‐ richts orientiert. Damit wird zum einen die unzureichende Beachtung des Grundverständnisses von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis (vgl. Daase 2021a, 2021c) fortgeschrieben, zum andern führt der Transfer der unver‐ änderten Prinzipien aus dem Analogen ins Digitale zu möglichen Widersprü‐ chen in den Unterrichtsvorschlägen. Dies soll nun anhand einer Kurzvorstellung der Prinzipien veranschaulicht werden. Wie im vorherigen Kapitel bereits hervorgehoben, gilt Handlungsorientierung als eines der drei grundlegenden Prinzipien des Berufsbezogenen Deutschun‐ terrichts (vgl. Beckmann-Schulz / Kleiner 2011). Auch in dessen digitaler Um‐ setzung werden die Lernenden als sozial und kommunikativ Handelnde gesehen (vgl. Brash / Pfeil 2017: 46), was das Verständnis von Sprache als Handlungs‐ mittel voraussetzt sowie die Möglichkeit eröffnet, diese Handlung in sozialer Praxis anwenden zu können. Im Kontext der Berufsbezogenen DaZ-Kurse be‐ deutet das, dass der Unterricht arbeitsweltnahe Situationen sprachlich vermit‐ teln soll und die Aufgaben so gestaltet werden sollen, dass sie sich an realen berufssprachlichen Anforderungen orientieren (vgl. Ransberger 2019: 8). Somit werden „mit Intentionen verknüpfte Aktivität[en]“ (Hirschauer 2004: 73) in den Blick genommen, also nur ein Ausschnitt von Praktiken, und diese in erster Linie sprachlich verstanden. Die Materialität und Körperlichkeit wird damit ebenso außen vorgelassen wie die Inszenierung implizierter Wissensformen. Hand‐ lungsorientierter Berufsbezogener DaZ-Unterricht - sowohl im Präsenzunter‐ richt als auch in digitalen Formaten - kann lediglich das knowing that vermitteln, auf denen sprachliche Handlungen basieren, ermöglicht aber keine Einsoziali‐ sierung in das knowing how. Im digitalen Unterricht ergibt sich eine weitere Herausforderung: Es stellt sich die Frage, ob die jeweils fokussierten Berufsbereiche, Arbeitsplätze oder spezifischen beruflichen Tätigkeiten in digitaler Form funktionieren können und welche nicht. Die Arbeitswelt hat sich mit dem Beginn der Pandemie in fast allen Berufsbereichen verändert. Vor allem (aber nicht ausschließlich) im Bil‐ dungsbereich fand und findet nicht zuletzt durch die veränderte Materialität mit der Verlagerung in den digitalen Raum eine Transformation der Praktiken statt. In anderen Bereichen (z. B. Pflege, Betreuung im Elementarbereich) kann zwar sicher auch eine Veränderung von Praktiken konstatiert werden, diese finden 257 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen aber nach wie vor ausschließlich analog statt, so dass ihre (sprachliche) Vorbe‐ reitung in digitalen Formaten eine besondere Herausforderung für einen reali‐ tätsnahen Unterricht darstellt. Generell ist zu sagen, dass eine digitale Umsetzung der Handlungsorientie‐ rung für die Vorbereitung auf Arbeitstätigkeiten in Präsenz nur in Grenzen um‐ setzbar ist. Letztlich ist dies aber ein weiterer Aspekt der Erkenntnis, dass ein Verständnis von Sprache als sozialer Praxis der aktuellen Kursorganisation wi‐ derspricht und dort nicht realisierbar ist: „Berufssprachliches Lernen fern vom Arbeitsplatz in dafür vorgesehenen Kursen und damit isoliert von den berufli‐ chen Praktiken“ (Daase 2021a: 122) kann - auch im Präsenzunterricht - lediglich eine sprachliche Annäherung darstellen, durch den fehlenden Zugang zu den Praktiken können diese nicht angeeignet werden. Aus diesem Grund stellt z. B. der Unterrichtsvorschlag von Ransberger (2019: 14-21) zum Verbandswechsel aus dem Pflegebereich nur eine Annäherung an Handlungsorientierung dar. Für diese konkrete sprachliche Handlung ist jedoch die Körperlichkeit und Leib‐ lichkeit für den Sprachaneignungsprozess notwendig, sodass der Unterrichts‐ vorschlag für den digitalen Raum eine sehr realitätsferne und wenig authenti‐ sche sprachliche Annäherung an eine berufliche Handlung darstellt. Dies gilt für viele weitere Berufsbereiche bzw. Berufstätigkeiten, auf die in den Berufs‐ sprachkursen vorbereitet wird. Für jegliches sprachliche Handeln ist der sozio-historische und soziokultu‐ relle Kontext konstitutiv. Fachliche und kommunikative Handlungen am Ar‐ beitsplatz sind arbeits- und betriebskulturell zu verstehen (vgl. Ransberger 2019: 10). Für die digitale Kursumsetzung gilt diesbezüglich das bereits zur Hand‐ lungsorientierung Dargelegte: Wenn im jeweiligen realen beruflichen Bereich Praktiken herrschen, die digital mehr oder weniger realisierbar sind bzw. ei‐ genständige digitale Praktiken darstellen, kann auch die digitale Umsetzung des berufsbezogenen Deutschkurses diesem Prinzip zumindest tendenziell gerecht werden. Digitale Kursformate könnten im Vergleich zu analogen sogar profi‐ tieren, wenn in dem jeweiligen Beruf oder für den einzelnen beruflichen Tätig‐ keitsbereich z. B. Teamgespräche nun aufgrund der Pandemie auch in der be‐ ruflichen Praxis digital erfolgen. Letztendlich gilt aber auch hier, dass man in eine Betriebskultur nur einsozialisiert werden kann, wenn der Zugang zu dieser über die Teilhabe an den Praktiken vorhanden ist. Ein weiteres didaktisches Prinzip im digitalen DaF-/ DaZ-Unterricht ist laut Ransberger (2019) und Brash / Pfeil (2017) die Lernendenaktivierung, die direkt mit der Handlungsorientierung verbunden ist (vgl. Ransberger 2019: 10). Lern‐ endenaktivierung zielt darauf ab, dass die Lernenden sich mit dem Lerngegen‐ 258 Andrea Daase / Eliška Dunowski 6 Lernendenaktivierung wird häufig auch mit Lernendenorientierung gleichgesetzt. Das hier dargestellte Verständnis basiert unseres Erachtens auf einem reduzierten und sta‐ tischen Lernendenverständnis sowie einem autonomen Subjekt (vgl. auch die Lernen‐ denautonomie) und lässt die kontextuelle und historisch-biographische Verfasstheit sowie ihre Subjektivität, die weit über die von Deutschlernenden hinausgeht, außer acht. Diese beiden Kriterien sollen von daher kritisch diskutiert werden, was aber auf‐ grund des Umfangs und des Ziels dieses Beitrages hier nicht erfolgen kann. Siehe dazu auch Daase (2021b). stand aktiv auseinandersetzen und dadurch effektiver lernen. 6 Eine zentrale Rolle spielt bei diesem Prinzip auch die Reflexion der eigenen Lernprozesse (vgl. Brash / Pfeil 2017: 38). Es handelt sich ebenso wie bei der Interaktionsorientie‐ rung (s. u.) um ein Prinzip aus dem analogen Unterricht. Zentral ist hier die Frage nach dem Lerngegenstand, mit dem sich die Lernenden aktiv auseinandersetzen sollen. Im digitalen DaZ-Unterricht kann die Medien- und digitale Kompetenz bei einigen Lernenden schnell zum alleinigen Lerngegenstand werden. Brash und Pfeil (2017: 40) benennen dieses Problem nur implizit und schlagen zwei mögliche Lösungswege vor: den Ansatz use to learn statt learn to use oder den Ansatz Bring Your Own Device. Beide mögen im Blended-Learning-Format gut funktionieren, da die Lehrkraft und die Lernenden zumindest teilweise physisch im Unterricht anwesend sind. Sie kommunizieren über weitere Kanäle als nur verbal oder paraverbal, können auf ihre Körperlichkeit und weitere Artefakte zurückgreifen. Sie gestalten gemeinsam ein Raumklima, das alle Beteiligten durch ihre physische Anwesenheit wahrnehmen. Dies ist in einem ausschließ‐ lich digital organisierten DaZ-Unterricht, wie er aktuell in Pandemie-Zeiten durchgeführt werden muss, nicht möglich. Wenn die Sprachhandlungskompe‐ tenz noch nicht ausreichend vorhanden ist und die Kommunikation zwischen Lehrkraft und Lernenden auf Kamera und Mikrofon reduziert wird (oft auch nur eins davon, wie uns Lehrende in diesen Kursen berichteten), werden sowohl die Medienals auch die digitalen Kompetenzen zum einzigen Lerngegenstand, der sprachlich sehr eingeschränkt (bis gar nicht) zu begleiten ist. Damit wäre zwar Lerneraktivierung als Prinzip vorhanden - die Lernenden setzen sich mit dem Lerngegenstand aktiv auseinander -, jedoch ist der Lerngegenstand ein anderer als in den Konzeptionen für (Berufsbezogene) DaZ-Kurse vorgesehen. Medien- und digitale Kompetenz stellen also eine entscheidende Voraussetzung dar, um an solchen Kursen teilnehmen zu können, die weiterhin dem Ausbau der be‐ rufssprachlichen Handlungskompetenz dienen sollen. Ein sehr gutes Beispiel für das dargestellte Problem ist bei Ransberger (2019: 18 f.) zu finden: In ihrem Unterrichtsvorschlag aus dem Pflegebereich soll die Unterrichtssequenz mit der Aktivität des Wortschatzsammelns begonnen werden - ein klassisches Beispiel aus dem Präsenzunterricht. In der digitalen 259 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen Umsetzung schlägt Ransberger vor, dies mit dem Tool LearningApps und der Funktion Pinnwand durchzuführen. Damit kann - solange eine ausreichende Medien- und digitale Kompetenz aller Lernenden vorhanden ist - das Prinzip der Lernendenaktivierung umgesetzt werden, der Lerngegenstand ist in diesem Fall der (Fach-)Wortschatz zum in dieser Unterrichtseinheit behandelten Thema. Sollte die für diese Aktivität notwendige Medien- oder digitale Kompetenz der Lernenden nicht vorhanden sein (und dies von der Lehrkraft ggf. nicht erkannt oder nicht beachtet werden), wird diese im digitalen Kurs zum Lerngegenstand, mit dem sich die Lernenden aktiv auseinandersetzen sollen. Unter Interaktionsorientierung wird verstanden, dass die Lernenden durch die Aufgabenstellung dazu angeregt werden, miteinander zu kooperieren, etwas auszuhandeln und zu erklären, andere zu verstehen und sich selbst verständlich zu machen. Zentral für dieses Prinzip ist der Prozess der Ko-Konstruktion: Durch den Austausch der Interaktionsbeteiligten, die das eigene Wissen unter‐ einander aus- und verhandeln, werden neue Bedeutungen ko-konstruiert (vgl. Brash / Pfeil 2017: 30 f.; Ransberger 2019: 10). In den Unterrichtsvorschlägen (vgl. Brash / Pfeil 2017; Hirsch 2020; Ransberger 2019) wird jedoch Interaktion mit Kooperation und Kollaboration gleichgesetzt bzw. das Verständnis von Koope‐ ration und Kollaboration, welches digitalen Anwendungen zugrunde liegt, un‐ terscheidet sich von jenem in der Zweitsprachendidaktik, insbesondere im Scaf‐ folding (s. u.). Man könnte demnach entnehmen, dass Interaktion im Unterricht durch die Verwendung eines kollaborativen Tools gedeckt ist, da es Kooperation unter den Lernenden ermöglicht. Dabei muss nicht nur, aber vor allem im digi‐ talen Raum die Aufgabenstellung oder eine Abfolge von Aufgaben im Sinne eines Szenarios sicherstellen, dass die Lernenden miteinander in einen dialogischen Austausch treten, der sich aus differenten Wissensbeständen oder Rollen ergibt - es ergeben sich also mindestens dieselben Anforderungen an die Gestaltung effektiver Gruppenarbeit wie generell im Unterricht (vgl. Litt‐ leton / Mercer 2013; Sato / Ballinger 2016). Ein kollaboratives Tool im digitalen Unterricht stellt lediglich eine Möglichkeit für Interaktion dar, es sichert jedoch nicht selbstredend die Ko-Konstruktion von Wissen. Diese muss vor allem durch eine gut durchdachte Aufgabenformulierung gewährleistet, also nicht nur er‐ möglicht, sondern von den Lernenden gefordert werden. Die verwendeten Begriffe Interaktion, kooperieren und kollaboratives Tool (vgl. Ransberger 2019, 23-27; 31-35) sind somit irreführend. Damit werden ge‐ meinhin drei unterschiedliche Kommunikationsstränge im Fremd- oder Zweit‐ sprachenunterricht gekennzeichnet (vgl. Oxford 1997) bzw. sie sind im Sinne von Scaffolding (vgl. Hammond / Gibbons 2005; Salmon 2016) hierarchisch zu verstehen. Nach Oxford (1997: 444) zeichnet sich kooperatives Lernen durch 260 Andrea Daase / Eliška Dunowski 7 Die ZPD stellt die lerntheoretische Grundlage des Scaffolding dar und beschreibt die „distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers“ (Vygotsky 1978: 86). einen hohen Grad der Aufgabenstrukturierung aus und ist „much more then just small-group work“. Im Zentrum des kooperativen Lernens steht die gesamte Lerner*innengruppe und nicht nur der*die individuelle Lernende, wie es der Fall beim kollaborativen Lernen ist (vgl. Oxford 1997: 445-448). Kollaboratives Lernen ist im Vergleich zum kooperativen Lernen theoretisch und epistemolo‐ gisch fundierter und bietet einen hohen Grad an Flexibilität für die Aufgaben‐ stellung (Oxford 1997: 449). So wie im Scaffolding (vgl. Hammond / Gibbons 2005) soll dadurch Lernen in der Zone of Proximal Development  7 (vgl. Vygotsky 1978) stattfinden (vgl. Oxford 1997: 448). Letztendlich gilt, was als Voraussetzung guter - im Sinne von effektiver - Gruppenarbeit gilt: es muss reasoning sichtbar werden (vgl. Littleton / Mercer 2013). Um dem Interaktionsprinzip auch im di‐ gitalen DaZ-Unterricht gerecht zu werden, müssen kollaborative Tools entspre‐ chend dem kooperativen Lernen eingesetzt werden, damit Interaktion und Kol‐ laboration auch im Sinne von Peer-Scaffolding bzw. Collaborative Dialogue (vgl. Swain 2000) umgesetzt werden können und die falsche Gleichung im Sinne von „Interaktion im digitalen FSU = Einsatz von kollaborativen Tools“ vermieden wird. Das Prinzip der Lernendenautonomie gehört auch außerhalb des digitalen Lernens zu einem höchst umstrittenen und sehr divers ausgelegten Begriff und Prinzip der Fremd- und Zweitsprachendidaktik (vgl. Schmenk 2010). Die Lernendenautonomie wird oft als allgemeines Erziehungsziel im Unterricht ver‐ standen (vgl. Feld-Knapp 2010: 21), in dem Sinne, dass Lernende ihre Lernziele und -prozesse eigenverantwortlich bestimmen (vgl. Schmenk 2010: 12). Die mehr oder weniger körperliche Isoliertheit im ausschließlich digitalen Lernen führt dazu, dass diese situative und technizistische Assoziation dieses Prinzips oft mit digitalem Lernen verbunden wird (vgl. Schmenk 2010: 13 f.). Als didak‐ tisches Prinzip im digitalen DaF / DaZ-Unterricht wird von Brash und Pfeil (vgl. 2017: 61) insbesondere die Bedeutung der Reflexion eigener Lernprozesse, -vo‐ raussetzungen und -ressourcen hervorgehoben. Zu diskutieren wäre, warum der Begriff für einen Reflexionsprozess verwendet wird und ob dieses Prinzip nicht passender als Reflexionsförderung (eins der didaktischen Prinzipien von Funk 2010: 943) zu bezeichnen wäre. Die dritte Dimension der Qualitätskriterien bezieht sich auf die Nutzung der digitalen Tools. Anpassungsfähigkeit, Förderung der Reflexionsfähigkeit und Be‐ 261 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen dienerfreundlichkeit zielen auf das Prinzip der Lernenden- und Bedürfnisorien‐ tierung sowie der Lerneraktivierung. Das Prinzip des Ermöglichens von Koope‐ ration stößt aus unserer Sicht auf das bei der Interaktionsorientierung diskutierte Problem, bzw. vertieft noch die kritisierte Vereinfachung dieses Prin‐ zips in der Unterrichtsumsetzung. Hinsichtlich des Ermöglichens von Authenti‐ zität kommt die Kritik der Handlungsorientierung und Interkulturalität erneut zur Geltung. Bislang nicht ausreichend diskutiert wurde die Verzahnung der einzelnen Prinzipien: Wenn ein Unterrichtsvorschlag oder eine Unterrichtssituation einem der Prinzipien nicht gerecht werden kann, beeinträchtig dies zwangsläufig auch die Umsetzung der anderen Prinzipien. Im Folgenden werden nun die dargelegten Grundlagen und Erkenntnisse aufeinander bezogen bzw. weitergedacht und die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines digitalen Unterrichts Deutsch für den Beruf anhand ausge‐ wählter Beispiele diskutiert. 4 Deutsch für den Beruf in / aus der Distanz? - Möglichkeiten und Grenzen aus praxistheoretischer Sicht Die große Herausforderung des aktuellen Distanzlernen im digitalen Raum ist sicher die Reduktion der Körperlichkeit bzw. die Veränderung der Materialität, was wiederum - da „sich Praktiken an den Körpern vollziehen“ (Bedorf 2015: 130, Herv. i. Orig.) - eine Transformation der Praktiken nach sich zieht. Dies lässt sich nicht nur grundsätzlich für alle Aneignungsprozesse konstatieren, sondern ist aktuell für unsere gesamte Lebensgestaltung deutlich erlebbar. Zwar ermöglichen vielfältige technische und digitale Anwendungen eine Kommuni‐ kation von Menschen über Räume hinweg, sobald aber mehr als zwei Leute an der digitalen Kommunikation im Videochat beteiligt sind, wird bereits deutlich, dass der für die mündliche Kommunikation so wichtige Augenkontakt nicht mehr gegeben ist. Zwar erlaubt es die Technik aus unserer subjektiven Sicht, unserem Gegenüber in die Augen zu schauen, für eine gelingende Kommuni‐ kation fehlt aber das bilaterale körperliche Erleben, die körperliche Resonanz. Unsere Gesprächspartner*innen können also nicht körperlich erleben, ob wir gerade sie oder jemand anderen anschauen und somit ansprechen. Dieses kör‐ perliche Erleben muss in Zeiten distanter digitaler Kommunikation symbolisch manifestiert werden („Ich schaue jetzt mal xy an.“), was die meisten von uns sicher erst lernen mussten. Hier haben also Irritationen stattgefunden, die zu einer Veränderung, einer Transformation der Praktik geführt haben. 262 Andrea Daase / Eliška Dunowski Wie im vorherigen Kapitel bereits angedeutet, muss stark zwischen Berufs‐ bereichen unterschieden werden. So lassen sich Praktiken wie die Wundversor‐ gung oder die Kinder für die Draußenzeit fertigmachen nur schwer im digitalen Raum behandeln, zumal gerade letztere je nach expliziten und impliziten Wis‐ sensorientierungen in den einzelnen Kitas sehr unterschiedlich verstanden und umgesetzt wird. Die Vorbereitung und Moderation einer (digitalen) Sitzung im Management oder der Fallbericht in der Medizin sind dagegen sehr viel besser behandelbar. Dennoch gilt, dass die Szenariendidaktik bei aller o. g. Einschrän‐ kung das Mittel der Wahl bleibt. Durch die eigene Erstellung eines entsprechenden Szenarios durch die Lernenden kann zudem herausgearbeitet werden, welche Schritte und Handlungen der jeweiligen Praktik unterstellt sind. Zudem kann zur Veranschaulichung eine Anreicherung durch Videos erfolgen, deren Einsatz sich im digitalen Unterricht oft einfacher gestaltet als in der analogen Form, wenn man die technische Ausstattung mancher Unterrichtsräume be‐ denkt. Zu den Vorteilen des Distanzlernens gehört die Möglichkeit, Kurse unab‐ hängig von den Wohnorten der Teilnehmenden und vielmehr nach ihren be‐ ruflichen Erfahrungen und Zielen, aber auch nach ihren deutschsprachlichen Kompetenzen zusammenzusetzen. Je nach zeitlicher Durchführung und der Nutzung sowohl synchroner als auch asynchroner Durchführungsmodalitäten besteht zudem die Möglichkeit, dass die Kurse nicht nur von arbeitslosen Men‐ schen besucht werden können, sondern dass Lernangebote stärker mit einer bereits bestehenden Arbeitstätigkeit verbunden werden können. Damit kann der Arbeitsplatz als Lernort genutzt und einbezogen werden, was wiederum dem Konzept des Lernens als sozialer Praxis bzw. dem situated learning im Sinne einer legitimate peripheral participation entspricht, sofern der Arbeitsplatz bzw. Vor‐ gesetzte und Kolleg*innen entsprechend mit einbezogen werden und die legiti‐ mate peripheral participation ermöglichen und unterstützen. Gäste aus der be‐ ruflichen Praxis für einen Besuch im Kurs zu gewinnen, erweist sich in der digitalen Umsetzung als einfacher, da für diese mit weniger Aufwand umzu‐ setzen. So kann z. B. das Szenario Bewerbung durch ein reales oder simulierendes Gespräch mit einer Personalleiterin an Authentizität gewinnen oder gar den Zugang zur entsprechenden Praktik bedeuten, was in analogen Kursen nicht möglich ist. In Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden zu ihren Erfahrungen wird zudem hervorgehoben, dass der sprachlichen Heterogenität der Lernenden besser begegnet werden kann, da der asynchrone Kursteil insbesondere für Dif‐ ferenzierung verwendet werden kann und die Lernenden selbst entscheiden 263 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen können, wie oft sie sich z. B. ein Video einer Situation am Arbeitsplatz ansehen möchten. Die grundlegende Herausforderung und Gefahr digitalen DaZ-Unterrichts im Allgemeinen und berufsbezogenem im Besonderen liegt jedoch darin, die Iso‐ lierung von den Praktiken noch zu verstärken. Dies stellt insbesondere für neu zugewanderte Personen ein Problem dar, deren außerunterrichtlichen Möglich‐ keiten des Zugangs zu deutschsprachlichem Input, der Verwendung der Ziel‐ sprache und eben zu Praktiken durch die soziale Distanz deutlich eingeschränkt waren. Brisant ist dies zudem dadurch, dass Neuzugewanderte unter dem Druck stehen, sich in kurzer Zeit Deutschkenntnisse auf vorab definierten Niveaus anzueignen. Es muss darauf geachtet werden, dass sich viele Anwendungen zum Üben berufssprachlicher Handlungen eignen, nicht aber zum Einsozialisieren in Prak‐ tiken. Bei der grundlegenden Problematik, die sich aus der zurzeit geltenden Kursorganisation des BAMF ergibt, gilt dies allerdings auch für den Präsenz‐ unterricht. Die für dieses Format erstellte Szenariomethode sollte demnach auch im digitalen Unterricht in den synchronen Kurszeiten umfänglich Einsatz finden - auch wenn damit nicht allen Praktiken in analogen Kontexten begegnet werden kann. Die Lernzeit könnte durch die gezielte Nutzung digitaler Medien erhöht werden (vgl. Brasch / Pfeil 2017: 23) - dies steht allerdings im Wider‐ spruch zu der digitalen Lernrealität, in der viel synchrone und asynchrone (Lern-)zeit mit organisatorischen Kursaspekten, technischen Schwierigkeiten oder dem Aneignen digitaler Kompetenz oder der Anwendung neuer Tools ver‐ wendet wird. Zudem gilt in den Berufssprachkursen nur synchroner Unterricht als (finanzierte) Kurszeit, wodurch diese Vorteile des digitalen Lernens nicht genutzt werden können. Hier ergibt sich aber auch ein wichtiger Aspekt für die Rückkehr in den Prä‐ senzunterricht. Dieser könnte mehr als zuvor für Szenarien und Exkursionen sowie deren Vorbereitung verwendet werden. Online zur Verfügung stehende oder in Moodle o. ä. bereitgestellte Videos und digitale Recherchen könnten dies sinnvoll ergänzen. Übungszeit für sprachliche Grundlagen könnte stärker in die individuelle Arbeitszeit ausgegliedert und durch die Lehrenden tutoriert werden. Dies müsste aber in Kurskonzepten entsprechend finanziert werden, was eine generelle Überarbeitung der bisherigen Gestaltung der Kurse bedeutet, aber ein großer Gewinn wäre. 264 Andrea Daase / Eliška Dunowski 5 Fazit und Ausblick Die mittlerweile seit über einem Jahr andauernde und unser Leben in erheb‐ lichem Maße beeinflussende, in allen sozialen Aspekten und Belangen des menschlichen Lebens vor allem einschränkende und uns in unserer Lebensge‐ staltung und damit unserer Praxis herausfordernde Pandemie hat den gesamten Bildungsbereich hochgradig irritiert. Ob bzw. mit welchem Ergebnis diese Irri‐ tation zu Lernen und Weiterentwicklung (doing things well) geführt hat, ver‐ mögen wir aktuell noch nicht zu konstatieren. Allgemein anerkannt scheint aber zu sein, dass die Heraus- und vor allem Aufforderung dazu offensichtlich ist - zumal wir nach heutigem Wissen davon ausgehen können, dass das Coronavirus nicht so schnell verschwinden wird, wie wir uns das wünschen, und dies nicht die letzte Pandemie war, mit der wir uns konfrontiert sehen werden, so dass ein Aussitzen keine Option darstellt. Zudem sind durch diese - nun bereits seit längerem unsere neue Normalität darstellende - Ausnahmesituation Schwach‐ stellen des Bildungssystems zutage getreten, die auch in vorpandemischen Zeiten vorhanden waren, aber besser ignoriert werden konnten. Im fachlichen und medialen Diskurs steht dabei - nachvollziehbar - die Schule und die Bildung von Kindern und Jugendlichen im Zentrum, das (Zweitsprach-)Lernen von (neu zugewanderten) Erwachsenen darf dabei nicht vergessen werden. Ausgehend von einem sich in der Fachwissenschaft aktuell langsam durch‐ setzenden Verständnis von Sprache und Sprachaneignung als soziale Praxis und deren Implikationen für Angebote der Aneignung des Deutschen als Zweit‐ sprache für den Beruf haben wir gängige didaktische Prinzipien für das digitale Sprachlernen im Allgemeinen und für Berufsbezogenes Deutsch im Besonderen kritisch diskutiert und exemplarisch Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt. Somit ist es uns hoffentlich gelungen, die Herausforderungen deutlich zu ma‐ chen. Gefragt ist u. E. nicht nur die Didaktik, und Lehrkräftequalifizierung, son‐ dern auch die Forschung. Die letzte Sprachbedarfserhebung für den beruflichen Bereich ist über zehn Jahre alt (vgl. Grünhage-Monetti 2010) und bezog nur einen kleinen Teil der Arbeitswelt ein. Diese hat sich nicht erst seit der Pandemie grundlegend verändert und diversifiziert. Es ist also an der Zeit, eine (bzw. meh‐ rere spezifische) umfassende Bedarfserhebungen in Auftrag zu geben, die nicht nur sprachliche Handlungen, sondern die Praktiken an den Arbeitsplätzen un‐ tersuchen. Mit ihrer - durchaus auch kritisch zu sehenden - Offenheit stellt das Forschungsprogramm der Praxistheorien dafür eine gute Grundlage dar. 265 Berufsbezogener DaZ-Unterricht unter Pandemiebedingungen Literatur Alkemeyer, Thomas / Buschmann, Nikolaus (2017): Praxistheoretische Überlegungen zur Subjektivierung von Mitspielfähigkeit. In: Rieger-Ladich, Markus / Grabau, Christian (Hrsg.): Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 271-297. Bachmann, Thomas / Feilke, Helmuth (Hrsg.) (2014): Werkzeuge des Schreibens. Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. Stuttgart: Fillibach bei Klett. Beckmann-Schulz, Iris / Kleiner, Bettina (2011): Qualitätskriterien interaktiv. Leitfaden zur Umsetzung von berufsbezogenem Unterricht Deutsch als Zweitsprache. 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