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Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

2022
978-3-8233-9540-9
Gunter Narr Verlag 
Roger Schöntag
10.24053/9783823395409

Die sprachliche Verwandtschaft zwischen Latein und Italienisch waren im Mittelalter nur vage bekannt. Dies ändert sich mit einer Diskussion im Jahre 1435, an der maßgebliche Humanisten wie Leonardo Bruni und Flavio Biondo beteiligt sind, die sich im Geiste der Rückbesinnung auf die Antike fragen, welche Sprache, d.h. welche Art von Latein, die Römer einst gesprochen haben mögen. Hieraus entspinnt sich nun eine Debatte (bis 1601) zwischen Lateinhumanisten und Vulgärhumanisten, an deren Ende sich die Erkenntnis durchsetzt, dass sich das Italienische (und andere romanische Sprachen) aus dem gesprochenen Latein der Antike, dem Vulgärlatein, herleitet. Die sprachwissenschaftliche Aufarbeitung dieser Debatte im Rahmen der italienischen Sprachenfrage (questione della lingua) ist Ziel und Gegenstand vorliegender Abhandlung.

TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 581 Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601) Unter Berücksichtigung von Dante Alighieri und der mittelalterlichen Sprachphilosophie DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395409 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8540-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9540-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0348-0 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 1 11 1.1 11 1.2 15 1.3 18 1.4 19 2. 23 3. 29 3.1 29 3.1.1 29 3.1.2 46 3.1.3 65 3.2 78 4. 89 4.1 90 4.1.1 93 4.1.2 127 4.2 154 4.3 158 5. 163 Inhalt Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel . . . . . Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korpus und zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive . . . . . . . . . . Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varietätenlinguistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Architektur des Lateins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lingua viva: Latein in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Varietätenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. 183 6.1 183 6.1.1 183 6.1.2 193 6.1.3 207 6.1.4 214 6.1.5 220 6.2 247 6.2.1 247 6.2.2 248 6.2.3 276 6.2.4 330 6.2.5 353 6.2.6 372 6.2.7 392 6.2.8 414 6.2.9 442 6.2.10 470 6.2.11 480 6.2.12 504 6.2.13 525 6.2.14 545 6.2.15 568 6.2.16 591 6.2.17 617 6.2.18 650 7. 661 Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen der Antike in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rahmenbedingung: La questione della lingua . . . . . . . . . . Die questione vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzcharakteristik der questione della lingua: Fragestellungen und Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachauffassung im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Präliminarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unverzichtbare Vorläufer: Dante Alighieri . . . . . . Der Beginn der Diskussion zur antiken Sprachkonstellation (1435) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leon Battista Alberti (Leo Baptista Alberti) . . . . . . . . . . Guarino Veronese (Guarinus Veronensis) . . . . . . . . . . . . Poggio Bracciolini (Poggius Florentinus) . . . . . . . . . . . . Francesco Filelfo (Franciscus Philelphus) . . . . . . . . . . . . Lorenzo Valla (Laurentius Vallensis) . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Humanisten des 15. Jh. und die Tradierung der Debatte ins 16. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die prima generazione . . . . . . . . . . . . . . Pietro Bembo (Petrus Bembus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baldassare Castiglione (Balthassaris Castillionis) . . . . . Claudio Tolomei (Claudius Ptolemaeus) . . . . . . . . . . . . . Lodovico Castelvetro (Ludovicus Castelvetrus) . . . . . . . Benedetto Varchi (Benedictus Varchius) . . . . . . . . . . . . . Celso Cittadini (Celsus Cittadinus) . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Humanisten des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die seconda generazione . . . . . . . . . . . . Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 8. 689 689 700 759 761 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version der im Juli 2020 einge‐ reichten und im Juli 2021 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Ale‐ xander-Universität Erlangen-Nürnberg ( FAU ) angenommenen Habilitations‐ schrift zur Lehrbefähigung für das Fachgebiet Romanische Philologie, die vom Fakultätsrat mit dem Habilitationspreis der Philosphischen Fakultät ausge‐ zeichnet wurde. Es sei an dieser Stelle den Mitgliedern des Mentorats sowie den externen Gutachtern für die wertvollen Anregungen und konstruktiven Vorschläge zur Präzisierung von so manchem Einzelaspekt gedankt. Für einige kritische in‐ haltliche Anmerkungen und vor allem die vielen Etappen des mühevollen Lek‐ torats gilt ganz besonderer Dank Dr. Patricia Czezior. Erlangen im September 2021 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 1.1 Thematik Das im Titel angezeigte Thema vorliegender Arbeit, nämlich die Untersuchung des Verständnisses von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit, ist dahingehend zu präzisieren, daß bei einer Analyse mit dem Fokus ‚Vulgärlatein‘ insofern immer auch die gesamte Sprache Latein in die Betrachtung miteinbezogen werden muß, als Vulgärlatein aus aktueller linguistischer Perspektive ganz prinzipiell einen Teilaspekt der lateinischen Sprache darstellt. Das bis heute bestehende Problem einer einheitlichen Definition von ‚Vulgärlatein‘ gilt erst recht für die hier un‐ tersuchte Epoche sprachtheoretischer Reflexion, in der das Konzept dessen, was man ab dem 19. Jh. in der Sprachwissenschaft unter ‚Vulgärlatein‘ versteht (cf. Kap. 5), erst nach und nach an Kontur gewinnt, es also um die Vorgeschichte dieses Konzeptes und linguistischen Begriffes geht. Für diese Zwecke wird ein Begriff von Vulgärlatein zugrundegelegt, der unabhängig von den heutigen zahlreichen Einzeldefinitionen einen Minimalkonsens beinhaltet, und zwar im Sinne einer weitgehend zu rekonstruierenden Basis bzw. Ursprache der roman‐ ischen Sprachen, die im Gegensatz zum klassischen Latein auf der gesprochenen Sprache Roms bzw. des römischen Reiches (Westteil) beruht und die in einzelnen schriftlichen Texten zutage tritt (cf. Quellen des Vulgärlateins). Gegenstand der Untersuchung bilden ausgewählte Texte (v. infra) verschie‐ dener Autoren zur Sprachreflexion im Italien der Frühen Neuzeit. Diese Schriften, die je nach Präferenz des Verfassers auf Italienisch oder Latein abge‐ faßt wurden, dienen als Basis, um die einzelnen Vorstellungen jener Autoren von dem in der Antike gesprochenen (und geschriebenen) Latein zu rekonstru‐ ieren. Im Weiteren soll dann, anhand dieser unterschiedlichen Auffassungen, die Entwicklung bzw. der Wandel des Verständnisses des antiken Lateins und seines Varietätenraumes nachgezeichnet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch einer Rekonstruktion eines metasprachlichen Diskurses. Ein wich‐ tiger Aspekt dabei ist ebenfalls der im Untertitel der Arbeit angesprochene be‐ griffsgeschichtliche Teil der Untersuchung, denn im Zuge der Aufarbeitung der eben erläuterten frühneuzeitlichen Diskussion ist es auch möglich und zugleich notwendig, die Entstehung des Begriffes und Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zu skiz‐ zieren. Dabei wird auch der antike Ursprung (cf. sermo vulgaris) mitberücksich‐ 1 Latein war im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit nicht nur Schriftsprache, sondern fand auch im mündlichen Distanzbereich als internationale Verkehrssprache, Sprache der Wissenschaft, der Justiz, der Kirche und der Diplomatie entsprechende Verwendung. Der mündliche Nähebereich war durch die einzelnen Volkssprachen be‐ setzt, da das Lateinische keine native speaker mehr hatte. 2 Zu einzelnen Phasen der questione della lingua cf. Kap. 6.1.2. tigt. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Nach‐ zeichnung der angesprochenen humanistischen Debatte, in deren einzelnen Positionen sich diejenigen Vorstellungen zur Sprachkonstellation der Antike, d. h. vor allem bezüglich des schriftlichen Lateins und seiner mündlichen Vari‐ etät(en), abzeichnen, die letztlich Vorboten einer späteren sprachwissenschaft‐ lichen Differenzierung von Latein und Vulgärlatein darstellen. Den Rahmen für die vorliegende Untersuchung bildet die sogenannte ques‐ tione della lingua, die Sprachenfrage in Italien, eine Diskussion um die adäquate Literatursprache (d. h. um einen schriftlichen Standard) des Italienischen, die von zahlreichen Gelehrten mit unterschiedlichen Positionen über mehrere Jahr‐ hunderte hinweg intensiv geführt wurde (cf. Kap. 6.1). Den Höhepunkt dieser intellektuellen Auseinandersetzung kann man im We‐ sentlichen im 16. Jahrhundert ansetzen, doch reichen einerseits ihre Wurzeln weiter zurück, nämlich in letzter Konsequenz zum Beginn einer umfassenderen literarischen Produktion auf Italienisch (cf. Tre corone) und damit zum poten‐ tiellen Konflikt mit der bis dahin dominierenden Schriftsprache Italiens und ganz Europas, 1 dem Lateinischen. Ihren Abschluß findet die questione bekannt‐ lich erst im 19. Jahrhundert, als sich schließlich, nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, das in seinen Grundzügen bis heute gültige Modell durchsetzt, sondern mit der Schaffung des italienischen Nationalstaates auch die Voraussetzungen zu einer praktischen Umsetzung gegeben sind, wobei die Herausbildung und schließlich eine weitgehend flächendeckende Verbreitung eines Standarditalienischen im Bereich der mündlichen Kommunikation bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte. Die Sprachenfrage in Italien hat im Laufe der jahrhundertelangen Diskussion zahlreiche Facetten gezeitigt, 2 wobei man zwei Kernfragestellungen ausmachen kann: Zum einen gab es zunächst den Konflikt unter den Zeitgenossen, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, im volgare, also der Volkssprache, literarische Werke hervorzubringen, die den gleichen sprachlich-stilistischen, intellektu‐ ellen und künstlerischen Stellenwert und Anspruch haben konnten wie die auf Latein abgefaßten. Zum anderen stellte sich gerade in Italien daran anschließend die Frage, welche Varietät des Italienischen man gebrauchen sollte, wenn man 12 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 3 Diese Problematik war beispielsweise für das Französische kaum virulent, insofern sich spätestens im 13. und 14. Jahrhundert das Franzische (francien), die Sprache der Île-de-France, gegenüber anderen Varietäten durchgesetzt hatte. Auch das Kastilische hatte durch seine Kodifizierung als castellano drecho unter Alfons X. dem Weisen (1252-1284) bereits im Mittelalter eine frühe Standardisierung erfahren. Zum Französischen cf. z. B. Berschin / Felixberger / Goebl (2008: 203-211), insbesondere die Karte zur Ausbreitung des Franzischen / Französischen (ibid.: 208) und zum Kastili‐ schen cf. Fernández-Ordoñez (2005: 382-386). Auch für das Portugiesische erfolgte eine relative frühe Festlegung auf die Varietät um Lissabon durch das dortige Machtzentrum und Herrscher wie Dom Dinis (1279-1325), die für eine reiche und relativ einheitliche Verschriftlichung sorgten (cf. Schöntag 2012). 4 Zum „Durst nach Büchern“ dieser Generation von Gelehrten cf. Burke (1998: 46). Zum Einfluß der ciceronianischen Schriften auf die Vertreter der Frührenaissance cf. Classen (2003: 7-20). 5 Es sind Briefe Ciceros an Atticus, Quintus und Brutus. Diesen „Glücksfund“ beschreibt Schmidt (2000: 275) als „Krönung einer rastlosen Such- und Sammeltätigkeit“ Petrarcas. denn das Italienische dem Lateinischen als Schriftsprache vorzog. 3 Im politisch zersplitterten Italien standen sich einerseits verschiedene diatopische Varietäten und deren scriptae gegenüber, die an verschiedene Machtzentren gekoppelt waren, andererseits gab es mit dem Werk der Tre corone ein übermächtiges li‐ terarisches Vorbild, welches in sich wiederum sehr vielfältig war und im 15./ 16. Jh. bereits archaisch anmutete. Nachdem nach und nach das Italienische als adäquate Sprache für einige literarische Gattungen weitgehend akzeptiert worden war, konzentrierte sich die Diskussion der weiteren Jahrhunderte auf die Frage nach der diatopischen und zeitlichen Verortung einer idealen italie‐ nischen Literatursprache. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste Teil der italienischen Spra‐ chenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der ita‐ lienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde. Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d. h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike ange‐ regt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte. 4 Schon 1345 ent‐ deckte Francesco Petrarca (1304-1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Ve‐ rona Briefe Ciceros, 5 1392 stieß Coluccio Salutati (1331-1406) auf weitere Ci‐ cero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini 13 1.1 Thematik 6 So vor allem Ciceros Unterscheidung zwischen sermo urbanus, sermo rusticus und sermo vulgaris; cf. dazu ausführlich Kap. 5 vorliegender Arbeit sowie Müller (2001: 13). 7 Tatsächlich liegt eher eine triglossische Sprachsituation vor, insofern nach und nach die Volkssprache im Bereich der Schriftlichkeit immer mehr Domänen und Funktions‐ bereiche übernahm, die zuvor allein dem Lateinischen vorbehalten waren (cf. Krefeld 1988a: 313-314, 320-322). (1380-1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009: 150-157; Sandys 1915: 166-168). So konnte nicht nur der Kanon der latein‐ ischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese in‐ tensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Aus‐ einandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatur‐ sprache gestellt wird. Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten ver‐ stärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleich‐ zeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte. 6 Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des La‐ teinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind - wie die Un‐ tersuchung zeigen wird - die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety  7 und der italieni‐ schen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low va‐ riety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen ques‐ tione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation. Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen - eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde - und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volks‐ sprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere 14 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Li‐ teratursprache gesehen werden. Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnitt‐ punkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Lati‐ nistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht. 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen Die sich oft auch im mündlichen Streitgespräch herauskristallisierenden Posi‐ tionen sind uns vor allem durch eine reichhaltige Traktatsliteratur überliefert oder in Form von theoretischen Überlegungen in anderen literarischen Werken (z. B. literarischer Brief, humanistischer Dialog, Apologie). Dabei können auf‐ grund der Vielzahl der Texte, die sich entweder vorrangig mit dieser Thematik beschäftigen oder aus denen sich zumindest diesbezügliche Stellungnahmen herauslesen lassen, nicht alle Eingang in die Analyse finden, sondern es seien hier nur solche berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag in dieser Diskus‐ sion leisten. Die Selektion der Autoren und Texte richtet sich dabei im Wesent‐ lichen nach denen bereits in der Forschung kanonisierten und sowie danach, ob ein Autor bzw. Text maßgeblich in der zeitgenössichen Rezeption ist und / oder inhaltlich das Thema um neue Aspekte bereichert (cf. Kap. 6.2). Der zeitliche Untersuchungsrahmen ergibt sich aus den maßgeblichen Trak‐ taten, die den Umbruch in der Auffassung des Lateins bzw. der Volkssprache markieren. Aus diesem Grund läßt sich ein Beginn dieses neuen Bewußtseins durch Dante Alighieri (1265-1321) mit seiner Schrift De vulgari eloquentia (1303 / 4-1307 / 8) fixieren (cf. Kap. 6.2.1). Diese Abhandlung - obwohl zeitlich sehr viel früher gelegen als die eigentliche Diskussion - ist insofern von zent‐ ralem Interesse, als hier einerseits die mittelalterliche Auffassung von Latein als 15 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen 8 In der Forschungsliteratur wird der Begriff der prima generazione in diesem Zusam‐ menhang, falls er überhaupt verwendet wird, meist rein auf diejenigen angewandt, die entweder bei der mündlichen Diskussion von 1435 anwesend waren oder unmittelbar darauf reagierten bzw. der Begriff wird allgemein auf die erste Generation der Huma‐ nisten in Italien angewandt (cf. z. B. Canfora 2001: 33), allerdings in beiden Fällen ohne weitere Erklärungen oder Begriffsdefinitionen; d. h. jemand wie Lorenzo Valla wird schon zur zweiten Generation gezählt. Es erscheint jedoch angesichts der Tatsache, daß in vorliegender Untersuchung der Faden der Diskussion bis ins 16. Jh. bzw. Anfang des 17. Jh. weiter verfolgt wird, sinnvoll, auch die prima generazione entsprechend weiter zu fassen, zumal das Argument des unmittelbaren Kontaktes ein erhebliches objektives Gewicht hat. einer unveränderlichen gramatica nochmals synthetisiert wird, aber anderer‐ seits Dante hierbei auch der Volkssprache einen wichtigen Stellenwert zuer‐ kennt. Diese wiederum stellt er äußerst differenziert dar und bringt gleichzeitig die Idee der diasystematischen Diversität (Architektur) einer Sprache mit ins Spiel sowie den Gedanken der Wandelbarkeit einer Sprache. Der tatsächliche Beginn der Diskussion, die um die Frage der antiken Spra‐ chensituation kreist bzw. im Speziellen um die Frage, welche Sprache die Römer gesprochen hatten und wie daraus das Italienische entstehen konnte, ist hin‐ gegen durch Leonardo Bruni (1369 / 70-1444) und Flavio Biondo (1392-1462) markiert (cf. Kap. 6.2.2), die mit einem zunächst mündlich ausgetragenen Disput im Vorzimmer des Papstes letztlich die gesamte questione della lingua wenn nicht eröffneten, dann doch zumeist grundlegend anregten. Zudem werden in den dann bald darauf entstandenen Schriften - Bruni: An vulgus et literati eodem modo per Terentii Tuliique tempora Romae locuti sint (1435); Biondo: De verbis romanae locutionis (1435), Italia illustrata (1448-1458 / 1474) - zum ersten Mal einige wichtige Positionen dieser Diskussion fixiert, darunter auch das Argu‐ ment der Korrumpierung des Lateins, die als corruptio-These in der heutigen Forschung geführt wird (cf. Kap. 6.1.1). Im Folgenden werden dann zwei Perioden dieser Sprachdiskussion um die Antike unterschieden, und zwar mit Humanisten, die hier, in Anlehnung an bereits in der Forschung üblichen, 8 aber chronologisch leicht anders verwen‐ deten Begriffe, als prima generazione und als seconda generazione klassifiziert werden. Die erstere bezieht sich auf die Protagonisten des 15. Jhs., zu denen neben den Initiatoren der Debatte, Bruni und Biondo, Leon Battista Alberti (1404-1472), Guarino Veronese (1374-1460), Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380-1459), Francesco Filelfo (1398-1481) und Lorenzo Valla (1407-1457) ge‐ hören, denen je eigene Kapitel gewidmet sind (cf. Kap. 6.2.4-6.2.8). Diesen folgen in einer kürzeren synoptischen Darstellung einige Autoren, die das vorliegende Thema weniger ausführlich behandeln oder weniger innovative Beiträge in die 16 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 9 Zu einem kurzen Abriß der modernen Begriffsgeschichte ‚Vulgärlatein‘ cf. beispiels‐ weise Lüdtke (2005: 31-39), Müller-Lancé (2006: 58-63) sowie Kiesler (2008: 7-13). Zur Unterscheidung von Sprachwissenschaft (Linguistik) im eigentlich Sinne und einer Vorgeschichte der (romanischen) Sprachwissenschaft im Sinne einer Reflexion über Sprache aus philosophischem, theologischem oder historischem Impetus oder aber im Zuge einer „traditionellen“ Grammatik cf. Gauger / Oesterreicher / Windisch (1981: 30-31). Cf. dazu auch die Diskussion bei Gauger (1991: 20-30) zu den Termini ‚Vorgeschichte‘ und ‚Frühgeschichte‘ in Bezug auf die Zeit der Sprachbetrachtung in der Romanistik vor Friedrich Diez (1794-1876). Im Sinne einer Kontinuität der sprach‐ wissenschaftlichen Betrachtung wie sie auch bei Coseriu (2003: 5-6) formuliert wird, ist der Sammelband von Niederehe / Schlieben-Lange (1987) als Frühgeschichte betitelt, während Gauger (1991) und Gauger / Oesterreicher / Windisch (1981) von einem Bruch ausgehen. Debatte miteinbringen und die hier im Gegensatz zu den Protagonisten der De‐ batte, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist und die deshalb als auctores maiores klassifiziert werden, als auctores minores benannt werden (cf. Kap. 6.2.9). Die zweite Generation der Gelehrten im 16. Jh. ist durch die maßgeblichen Ver‐ treter Pietro Bembo (1470-1547), Baldassare Castiglione (1478-1529), Claudio Tolomei (ca. 1492-1556), Ludovico Castelvetro (1505-1571), Bendetto Varchi (1503-1565) und Celso Cittadini (1553-1627) repräsentiert. Neben diesen Pro‐ tagonisten, die durch ihren allgemeinen Wirkungsradius und / oder die neuen Details, die sie zur Diskussion beisteuerten, als solche für eigene Kapitel aus‐ gewählt wurden (cf. Kap. 6. 2. 11-6. 2. 16), folgt analog zur Übersicht des 15. Jhs. auch hier eine Zusammenstellung zu auctores minores in der vorliegenden De‐ batte (cf. Kap. 6. 2. 17). Den zeitlichen Schlußpunkt der Untersuchung markiert demzufolge Celso Cittadini, der in seinem Trattato della vera origine (1601) zum ersten Mal nicht nur eine konkrete Vorstellung von der Heterogenität des Latein formuliert, und zwar auch im Wandel der Zeit, sondern der auch versucht, dies anhand von epigraphischen und literarischen Quellen zu belegen. Die Variabilität der Volks‐ sprache ist zu diesem Zeitpunkt längst communis opinio, so daß er der heutigen Vorstellung vom ‚Vulgärlatein‘ in Bezug auf einige Aspekte schon ziemlich na‐ hekommt. Diese zeitliche Beschränkung ist insofern zu rechtfertigen, als einerseits mit Cittadini die Diskussion um die Sprachsituation in der Antike argumentativ zu einem Abschluß gebracht wurde und andererseits die weitere Geschichte des Begriffs ‚Vulgärlatein‘ Teil der modernen wissenschaftlichen Begriffsgeschichte darstellt, zu der eben jener wieder das Initium bilden würde. 9 17 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen 1.3 Untersuchungsebenen Zentrales Thema der vorliegenden Untersuchung ist die Vorstellung des Varie‐ tätenraumes des antiken Lateins, des Sprachwandels vom Lateinischen (bzw. Vulgärlateinischen) zu den romanischen Sprachen sowie allgemein der Kons‐ tellation der antiken Sprachen des römischen Imperiums in der Frühen Neuzeit im Spiegel zeitgenössischer Traktate. Die hier vorgenommen Analyse bedingt deshalb einerseits, daß auf das Latein der Antike Bezug genommen wird, also auf die historische Sprache in ihrer diasystematischen Heterogenität, anderer‐ seits auf das zeitgenössische Latein des 15./ 16. Jh. Da im Zuge der verschiedenen Einzelanalysen vielfache Relationen zwischen Objekt- und Metaebene auftreten, soll diese Beziehungen vorab noch einmal deutlich gemacht werden. Auf Objektebene ist die Sprache Latein sui generis anzusiedeln sowie ihre historische Entwicklung. Dazu gehören im Einzelnen die Frage nach der diasystematischen Vielfalt des Lateinischen (diatopische, diastratische und diapha‐ sische Variation), nach der Herausbildung einer lateinischen Schriftsprache und deren Entwicklung sowie nach der Entstehung einer klassischen Norm inner‐ halb dieser Schriftsprache und dem Verhältnis ‚Schriftsprache vs. gesprochene Sprache‘ im Laufe der Jahrhunderte. Darüberhinaus ist dazu auch die Frage nach der Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen aus dem gesprochenen La‐ tein hinzuzunehmen. Auf der Metaebene erscheinen verschiedene als synchron zu begreifende Ausschnitte der Betrachtung. Zentrale Fragestellung ist der Blick auf das antike Latein durch die an dieser Diskussion beteiligten Humanisten (Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘, cf. Kap. 6). Diese versuchten, die Architektur des Lateins in der Antike rekonstruieren, und zwar zum einen mit Hilfe des Vergleichs ihrer ei‐ genen Situation in Bezug auf das Verhältnis ‚Latein vs. Volkssprache‘ in Italien und zum anderen vor allem, indem sie Hinweise zur Diversität des Lateinischen und zum antiken Verhältnis ‚Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bei den überlie‐ ferten römischen Autoren nachgingen bzw. als bestimmte Stellen als solche in‐ terpretierten. Dies war möglich, da die römischen Autoren selbst sowohl Über‐ legungen zur Sprache ihrer eigenen Zeit als auch früherer (schriftloser) Zeiten angestellt hatten, also auch versuchten, die Entwicklung der eigenen Sprache vor ihrer Zeit zu verstehen (Synchronie ‚römische Antike‘, cf. Kap. 4). Wenn also aus heutiger Perspektive, wie in vorliegender Arbeit als Zielset‐ zung formuliert, die Vorstellung der Humanisten in Bezug auf das antike Latein rekonstruierten werden soll, und zwar mit den hier vorgestellten wissenschaft‐ lichen Methoden anhand des zugrundeliegenden Korpus (cf. Kap. 1.1, 1.2 und 1.4), muß berücksichtigt werden, daß die Untersuchungen der Gelehrten der 18 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel Frühen Neuzeit zum antiken Latein maßgeblich durch die metasprachlichen Kommentare der römischen Autoren zu deren eigener Zeit, aber auch zu frü‐ heren Epochen geprägt sind, wobei es nicht unerheblich ist, auf welches Korpus an Autoren und Texten jene frühneuzeitlichen Sprachtheoretiker sich dann im Einzelnen beziehen. Im Fokus der Betrachtung stehen hier also synchrone Ausschnitte der Be‐ trachtung (römische Antike, Frühe Neuzeit), und zwar einerseits auf der Meta‐ ebene (Sprachreflexion der Humanisten, Sprachreflexion der römischen Au‐ toren) und andererseits auf Objektebene, indem in vorliegender Arbeit versucht werden soll, diese beiden historischen Sprachsituationen (Latein in der Antike, Latein / Italienisch in der Frühen Neuzeit) mit aktuellen wissenschaftlichen Ka‐ tegorien zu erfassen. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch die dazwischenliegende metasprachliche Tradition, also die Kontinuität der Sprachreflexion von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, die das Denken und die Vorstellungswelt der untersuchten Humanisten mit beeinflußt hat. In diesem Sinne ist zudem zu berücksichtigen, daß die ausgewählten syn‐ chronen Ausschnitte ebenfalls wieder in sich eine historische Entwicklung der metasprachlichen Betrachtung beinhalten, also natürlich keine absoluten Syn‐ chronien bilden, sondern relative, die z. T. sehr unterschiedlich große Zeiträume umfassen (röm. Antike mind. 1000 Jahre, Frühe Neuzeit ca. 200 Jahre). So sei beispielsweise darauf verwiesen, daß Isidor v. Sevilla (560-636 n. Chr.) sich auf Livius (59 v.-17 n. Chr.) bezieht (beide innerhalb der Synchronie ‚römische An‐ tike‘) oder Cittadini (1601) Reflexionen von Dante (1303 / 4) aufgreift (beide Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘), so daß man bei einem Argument, welches Cittadini von Isidor übernimmt, der sich selbst wiederum auf Livius bezieht, eine mehr‐ fache Brechung der Perspektive berücksichtigen muß. 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel Um den bereits vorgestellten metasprachlichen Diskurs mit seinen verschie‐ denen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die Erfassung der gesprochene Sprache der römischen Antike und damit die Vorstellungswelt der Frühen Neu‐ zeit in Bezug auf das Latein in seiner Architektur rekonstruieren zu können, werden in der vorliegenden Untersuchung zwei unterschiedliche methodische Verfahren angewandt. Zum einen soll die zeitgenössische Traktatliteratur mit Hilfe des heutigen Instrumentariums varietäten- und soziolinguistischer Begrifflichkeit analysiert 19 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel 10 Zum Konzept der „Rekontextualisierung“ cf. Oesterreicher (1998) bzw. Kap. 3.2 der vor‐ liegenden Arbeit. (cf. Kap. 3.1) und somit unter dieser Perspektive untersucht werden, was an Einsichten in die Architektur des Lateinischen und in Bezug auf das Verhältnis von ,Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bereits vorhanden ist. Dabei werden in diesem Analyseschritt zunächst bewußt bestimmte kontextuelle historische Im‐ plikationen weitgehend ausgeblendet, d. h. die heutigen Begrifflichkeiten in ge‐ wisser Weise anachronistisch angewendet, um das Verständnis der Sprache bzw. Sprachsituation klarer herausarbeiten zu können. Das gilt beispielsweise für Begriffe wie Varietät, Diasystem (diatopisch, diastratisch, diaphasisch), Di‐ glossie und Ausbau genauso wie für Substrat, Superstrat und Adstrat. Zum anderen ist es dann wiederum nötig, die einzelnen Traktate auch zu „rekontextualisieren“, 10 also in dem entsprechenden zeitgeschichtlichen Diskurs zu verorten, d. h. die Texte ganz traditionell philologisch bzw. hermeneutisch zu interpretieren (cf. Kap. 3.2). Die beiden separat gewonnenen Erkenntnisstränge, die keinesfalls antogonistisch aufzufassen sind, sondern sich produktiv ergän‐ zend, sollen dann wiederum zu einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise sollen folgende konkrete Untersuchungsziele erreicht werden: 1. Die Vorstellungen der einzelnen Autoren der Frühen Neuzeit hinsichtlich des Lateins, insbesondere dessen, was heutzutage unter Vulgärlatein zu verstehen ist, sollen herauspräpariert werden (cf. Kap. 6.2), d. h. moderne, innovative einerseits und traditionelle Konzeptionen andererseits deut‐ lich gemacht werden, und zwar durch folgende Verfahren: a. durch die Gegenüberstellung und Vereinigung der modernen Lesart der Traktate (varietäten- und soziolinguistische Begriffe) mit einer traditionellen, also der Verortung der untersuchten Schriften im Kon‐ text der Zeit (‚Rekontextualisierung‘); b. durch die Gegenüberstellung des damaligen Kenntnisstandes (Frühe Neuzeit) über das Latein und seine Varietäten mit den heutigen. 2. Die Darstellung des Prozesses des Wandels dieser Sprachvorstellungen über die Antike in dem Zeitraum von Dante bzw. von Leonardo Bruni / Flavio Biondo bis Celso Cittadini bildet den zweiten Fokus dieser Arbeit (cf. Kap. 7). Da es sich mitunter um Autoren bzw. Schriften handelt, die im Rahmen der questione della lingua durchaus schon Gegenstand von Untersuchungen waren, soll eben genau dieser bisher eher vernachlässigte Aspekt zur Vorstellung über 20 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 11 Eine ältere Aufarbeitung mit dem Fokus ,Frankreich vs. Italien‘ liegt durch Strauss (1938) vor. Zum Forschungsstand cf. Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. die Sprachsituation der Antike fokussiert werden (nicht die gesamte questione) und gerade auch bei schon des Öfteren diskutierten Positionen sollen kritische Stellen besonders hervorgehoben werden. Dabei erlaubt es die hier dargelegte, doppelte Analyse-Perspektive, das Denken im Spannungsfeld zwischen Mittel‐ alter und Neuzeit adäquat darzustellen sowie Gemeinsamkeiten und Diskre‐ panzen zwischen frühneuzeitlichem und modernem Wissensstand präzise he‐ rauszuarbeiten. Das Desiderat des hier skizzierten Unterfangens ergibt sich nicht nur aus der bisher fehlenden Begriffsgeschichte zum Vulgärlatein (cf. Kiesler 2006: 8), son‐ dern auch aus einer bisher noch nicht in gebotenem Umfang vorliegenden Nachzeichnung dieser spezifischen frühneuzeitlichen Diskussion, 11 vor allem nicht unter dem dezidierten Blickwinkel moderner Erkenntnisse der Varietäten- und Soziolinguistik vor dem Hintergrund einer vertieften Forschung zur antiken Sprachsituation und der Entstehung der romanischen Sprachen. Die Vorgehensweise die gesamte Debatte durch die Behandlung der Positi‐ onen der einzelnen Humanisten zu strukturieren, richtet sich zum einen ganz pragmatisch nach der Mehrzahl bisheriger Forschungsarbeiten zu diesem Thema (cf. Kap. 2), zum anderen hat es den Vorteil, daß dadurch die gesamte Denkrichtung einzelner Protagonisten und der Kontext der Entstehung ein‐ zelner Ideen zu dieser Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können. Um hingegen den Verlauf der Debatte und bestimmte Entwicklungstendenzen sowie die entsprechenden einwirkenden Faktoren aufzeigen zu können, dienen die jeweiligen Zwischenresümees sowie das ausführliche Fazit am Schluß der Ar‐ beit. 21 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel 2. Forschungsstand Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2). Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik ( LRL ) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK , beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Hand‐ bücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti / Poli / Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich disku‐ tierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft. Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Varia‐ tion des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial ange‐ reicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch va‐ rietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [ 1 1926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prä‐ gend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra). Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie 12 Zu den aktuellen Kongressbänden zum latin vulgaire bzw. latin tardif sowie weiterer spezifisch vulgärlateinischer Forschung cf. Kap. 5 der vorliegenden Arbeit. Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphi‐ lologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Latein‐ ischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann / Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen. Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866-1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen ( 1 1963, 4 2002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema ini‐ tiiert hat. 12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Per‐ spektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu / Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics ( MRL ). Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersu‐ chungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissen‐ schaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissen‐ schaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersu‐ chungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973 / 1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Mono‐ graphien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Lein‐ 24 2. Forschungsstand 13 Zu ergänzen wären noch Arbeiten, die sprachwissenschaftliche und literaturwissen‐ schaftliche Aspekte zusammen behandeln, mit je unterschiedlicher Gewichtung, wie z. B. Marazzini (1993b). 14 Allein auf die Sprachenfrage im 20. Jahrhundert bezieht sich beispielsweise Parlangèli (1979 [1971]). kauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließ‐ lich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler / Münkler (2005). In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luz‐ zato (1893), Vivaldi (1894-1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), La‐ bande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [ 1 1960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsar‐ beiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vi‐ tale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016). 13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen. 14 Ausgewählte As‐ pekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugs‐ rahmen aufgegriffen wird. Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hin‐ tergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung her‐ stellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das 25 2. Forschungsstand 15 Hierbei sei auf gängige Monographien zur Sprachgeschichte wie in erster Linie die mehrbändigen Werke von Serianni / Trifone (1993-1994) und Bruni (1989-2003) sowie weiterhin beispielsweise auf Migliorini (2007 [1937, 1960]), Tavoni (1992), Trovato aufkommende volgare in der lateindominierten Literatur auf den Punkt bringt und in seiner Präzision in Bezug auf die sprachhistorischen Zusammenhänge unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwer‐ punkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973 / 1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua. Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Hu‐ manisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behan‐ delt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den huma‐ nistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu / Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, son‐ dern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig er‐ giebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino / Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüs‐ seltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte 15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in 26 2. Forschungsstand (1994), Migliorini / Baldelli (1994 [1966]), Tesi (2001), Michel (2005), Marazzini (1994, 2011 [2004]) oder Reutner / Schwarze (2011) verwiesen. 16 Zur Geschichte und Problematik des Strata-Modells seit der linguistischen Prägung des Begriffs ‚Substrat‘ durch Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907), cf. Schöntag (2013: 281-283), Filipponio / Seidl (2015: 9-10) sowie Schöntag (2020b: 84-95). 17 Tavoni (1992: 61) verweist zwar mit Marazzini (1989) - auch bei Marazzini (1994: 17-19) - noch auf Scipione Maffei (1675-1755) und Ludovico Antonio Muratori (1672-1750), die im 18. Jh. diese Thematik aufgegriffen haben, jedoch kann man dabei nicht von einer Kontinuität der Debatte mit den enstprechenden Einzelaspekten wie in dem hier skizzierten Zeitraum (1435-1601) sprechen. Auch Marazzini (1989: 39), der die Geschichte der Sprachreflexion bis ins 19. Jh. nachzeichnet, spricht aber bezüglich Cit‐ tadini von einer „svolta filologica“. Selbstverständlich werden verschiedene Argumente weitertradiert - so läßt sich eben auch der Begriff ‚Vulgärlatein‘ mit Cittadini als einem Vordenker verknüpfen - dennoch bietet sich aus genannten Gründen an hier eine Zäsur zu sehen. seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat, 16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Ro‐ mantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorle‐ sungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vor‐ liegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018). Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d. h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der ein‐ zelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984: XII , XV ) und Mazzocco (1993: 192, 195, 199) allein den Terminus di‐ glossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino / Ammanati (2015) im‐ merhin neben diglossia (id. 2015: 23) auch diastratico (id. 2015: 25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu / Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische va‐ rietätenlinguistische Analyse. Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die An‐ fangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra), 17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435-1601) und somit auch mehr Hu‐ manisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können. 27 2. Forschungsstand Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachge‐ zeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas. 28 2. Forschungsstand 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive Wie bereits in der Einleitung angesprochen (cf. Kap. 1.3 Untersuchungsebenen) besteht die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit darin, eine Analyse auf zwei Ebenen vorzunehmen, um das Ziel, nämlich die Erfassung der Vorstel‐ lungen über das antike Latein in der Frühen Neuzeit und den Wandel dieses Verständnisses adäquat erschließen zu können (cf. Kap. 1.4 Untersuchungsme‐ thode- und Untersuchungsziel). Auf der ersten Analyseebene soll dabei versucht werden, die frühneuzeitli‐ chen Texte rein unter dem Blickwinkel moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Erkenntnisse und Begrifflichkeiten zu erfassen, um sie dann auf der zweiten Untersuchungsebene wieder zu rekontextualisieren, d. h. sie adäquat im Kontext der Zeit zu verorten. Durch die Gegenüberstellung von mo‐ derner, rein varietäten- und soziolinguistischer und traditioneller, gesamtphi‐ lologischer, historischer Perspektivierung sollen zum einen methodisch schärfer als bisher die beiden Herangehensweise voneinander getrennt werden und zum anderen sollen durch eben diese Trennung auf der Analyseebene die Ansätze moderner Forschung präziser von den zeitgeschichtlichen Implikationen abge‐ hoben werden. Im Folgenden sei nun deshalb zunächst ein Abriß zu den theoretischen Grundlagen gegeben, in dem Modelle und Begrifflichkeiten im Sinne eines wis‐ senschaftlichen Instrumentariums reflektiert werden sollen. 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 3.1.1 Varietätenlinguistische Perspektive Die im vorliegenden Fall gestellte Aufgabe an ein begriffliches Instrumentarium ist die Fähigkeit zu einer möglichst präzisen Erfassung von bestimmten histo‐ rischen Phänomenen und Konstellationen. Vorrangig geht es um die Beschreibung der Architektur des Lateins in der Antike sowie um die Situationen seiner Verwendung, auch im Verhältnis zu anderen Sprachen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Phasen der Ent‐ 18 Zu den Vorläufern cf. vor allem Gabelentz ( 1 1891) und seine Unterteilung Rede, Sprache, Sprachvermögen (cf. Gabelentz 1972: 3). Zur Abhängigkeit Saussures von Gabelentz, der diesen nie erwähnt, aber nachweislich in seiner Bibliothek hatte, sowie zu einer ge‐ meinsamen Grundströmung cf. Beuerle (2010: 48-49) sowie Coseriu (1972a: 32-34). 19 Zu einem komplexen Deutungsversuch der Relation einiger Begriffe bei Saussure und Coseriu mit Rückgriff auf Coserius Sprachphilosophie cf. Willems (1994: 286-287). wicklung des Lateins bis in die Frühe Neuzeit darzustellen sowie den situati‐ onsabhängigen Gebrauch von Latein und Italienisch in derselben Epoche. Dabei sollen sowohl die nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben ermittelbaren sprachlichen Phänomene und Situationen der Sprachverwendung beschrieben werden können, als auch deren Wiedergabe aus Sicht der antiken und humani‐ stischen Sprachreflexion. Zentrale Aspekte sind demnach die Vielfalt und Einheit von Sprachen, situ‐ ationsbedingter Gebrauch von Sprachen sowie Sprachwandel. Die beiden hier in Betracht zu ziehenden linguistischen Teildisziplinen Vari‐ etätenlinguistik und Soziolinguistik liefern jedoch Modelle, die in ihrer Mehr‐ heit, nicht nur, aber hauptsächlich, für synchron gegenwartsbezogene Phäno‐ mene konzipiert sind; nichtsdestoweniger sind sie hier primäre Referenz und sollen hier zunächst weitgehend unabhängig von ihrer Adäquatheit in Bezug auf die anvisierte historische Konstellation untersucht bzw. kritisch hinterfragt werden. Aus der hier im Vordergrund stehenden romanistischen Perspektive ist das prominenteste Modell zur Beschreibung der Heterogenität einer Sprache das von Coseriu entwickelte System der verschiedenen Dimensionen von Sprach‐ variation, das sogenannte Diasystem. Zur adäquaten Erfassung und Beschreibung der Coseriu’schen Theorie ge‐ hört zunächst seine grundlegende Unterteilung des Sprachlichen an sich. So differenziert er in Bezug auf die Tätigkeit des Sprechens drei Ebenen, nämlich die universelle Ebene, die historische Ebene und die individuelle (oder aktuelle) Ebene. Was prima facie wie eine Umbenennung der Saussure’schen Konzepte und Begrifflichkeiten langage, langue und parole aussieht (Saussure 1986: 23-35), birgt trotz aller unbestreitbarer Referenz an die prägende theoretische Diffe‐ renzierung des Begründers des Strukturalismus einige Spezifika, die eine direkte In-Bezug-Setzung dieser Begriffspaare nicht zulassen. 18 Zunächst einmal liegt der Trichotomie Coserius eine andere Perspektive zugrunde, insofern er durch seine Benennung die jeweilige Zuordnung und die Art der Abstraktion noch deutlicher in den Vordergrund stellt. Zudem weist Coseriu auf bestimmte Cha‐ rakteristika hin, die der jeweiligen Ebene zugehören, die bei Saussure so nicht in gleicher Weise explizit werden. 19 Dazu gehört u. a. die Tatsache, daß der uni‐ 30 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 20 Zum Verhältnis der Begriffe bei Saussure und Coseriu cf. auch Gipper (1978: 63-67). 21 Hier bezieht sich Coseriu auf sprachphilosophische Vorläufer (Aristoteles, Hegel), vor allem auf Humboldt, von dem er die aristotelischen Begriffe übernimmt: „Die S P R A C H E , in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke V O R Ü B E R G E H E N D E S . Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvoll‐ ständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein“ (Humboldt 1968: LVII). 22 Eine andere in der Folge auch kontroverse Unterteilung, geht auf Coseriu zurück, näm‐ lich seine Differenzierung der diatopischen Ebene der Sprache in primäre, sekundäre und tertiäre Dialekte (cf. Coseriu 1988: 26-27). Zu einer Kritik an dieser Differenzierung cf. Krefeld (2011a: 138-140) oder Sinner (2014: 68). versellen Ebene auch bestimmte sprachliche Phänomene zugeordnet werden können, Sprache also nicht nur eine unbestimmte Abstraktion oder eine reine faculté de langage (Saussure 1986: 25) ist, 20 oder, daß auf der Ebene der histori‐ schen Einzelsprache bestimmte Diskurstraditionen wirksam werden. Hinzu kommt, daß Coseriu dieses Konzept einerseits mit den von Humboldt abgelei‐ teten Merkmalen der menschlichen Sprache, nämlich ‚Tätigkeit‘ (energeia), ‚Wissen‘ (dynamos) und ‚Produkt‘ (ergon) korreliert (Coseriu 1958) 21 und ande‐ rerseits mit seiner Trichotomie ,System-Norm-Rede‘ (Coseriu 1952), wodurch die Saussure’sche Opposition langue vs. parole ergänzt werden soll. Auf der Ebene der historischen Einzelsprache, die hier von besonderem In‐ teresse ist, unterscheidet er aufgrund der Tatsache, daß diese für ihn keine Ein‐ heit darstellt, wiederum drei verschiedene Ebenen mit bestimmten Charakte‐ ristika: - Unterschiede der geographischen Ausdehnung einer Sprache, d. h. D I A T O P I S C H E Un‐ terschiede, die Lokaldialekte und Regionalsprachen konstituieren. […] 22 - Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten einer Sprache, d. h. D I A S ‐ T R A T I S C H E Unterschiede, die sprachliche Ebenen wie Hochsprache, gehobene Um‐ gangssprache, Volkssprache charakterisieren. […] - Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstilen, d. h. D I A P H A S I S C H E Unterschiede, die synphasische Ebenen wie gebräuchliche Umgangssprache, feierliche Sprache, fa‐ miliäre Sprache, Sprache der Männer, Sprache der Frauen, poetische Sprache, Prosa‐ sprache usw. voneinander unterscheiden. (Coseriu 1973: 38-39) Eine wichtige Ergänzung dazu sind seine darauffolgenden Erläuterungen, die deutlich machen, daß er sich die einzelnen Ebenen als sich überlagernde vor‐ stellt, so daß verschiedene Merkmale auch in Kombination auftreten können, wie er an dem Verb se dévorer erläutert, welches sowohl als ‚südfranzösisch‘ (diatopische Ebene) als auch als ‚familiär‘ (diaphasische Ebene) charakterisiert 31 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 23 Die Begriffe ‚diatopisch‘ und ‚diastratisch‘ gehen auf Flydal (1952: 245, 256) zurück, der Begriff ‚Diasystem‘ auf Weinreich (1954, 389-390), ‚diaphasisch‘ ist von Coseriu (1958, 1988: 50) selbst. Zur Entstehungsgeschichte der einzelnen dia-Begriffe cf. Schöntag (2014: 512-519) und Sinner (2014: 61-73). 24 Oesterreicher (1995: 4) setzt die beiden Begriffe ‚Architektur‘ und ‚Diasystem‘ als weit‐ gehend identisch an: „Damit ist auch verständlich, warum die Architektur einer Sprache auch Diasystematik genannt wird und warum alle genannten Unterschiede des Varie‐ tätenraums auch als diasystematisch bezeichnet werden.“ werden kann. Dies bringt ihm zum Ergebnis, daß „eine historische Sprache nie ein einziges Sprachsystem“ sein kann, „sondern immer ein D IA S Y S T E M , eine Summe verschiedener Sprachsysteme, die miteinander koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen und überlagern“ (Coseriu 1973: 40). 23 Eine weitere wichtige Unterscheidung, die er in diesem Kontext trifft, ist die zwischen Architektur und Struktur einer Sprache, wobei er unter Architektur die „inneren Unterschiede“ versteht, also nicht die Oppositionen im Saussure’schen Sinne, sondern die Verschiedenheiten, die sich zwischen den eben ausgeführten Ebenen manifestieren, während die Struktur sich gerade durch die Oppositi‐ onen, d. h. durch die Unterschiede auf einer Systemebene, also innerhalb einer funktionellen Sprache, konstituiert (Coseriu 1970: 32-34; 1973: 40). 24 Die in der Romanistik prominenteste Weiterentwicklung dieser diasystema‐ tischen Ebenengliederung der Sprache wurde nach einigen Vorarbeiten (z. B. Koch / Oesterreicher 1985; Koch 1985, 1986; Oesterreicher 1988) in einer Unter‐ suchung zum gesprochenen Französischen, Italienischen und Spanischen von Koch / Oesterreicher ( 1 1990) präsentiert. Im Zuge weiterer Publikationen (z. B. Koch / Oesterreicher 1994, 2001; Koch 1997, 1999; Oesterreicher 1993, 1995, 1997) und einer überarbeiteten spanischen Übersetzung (1997) sowie einer Neu‐ auflage der ersten Monographie (²2011) ist es inzwischen durchaus usus, vom Modell ,Koch / Oesterreicher‘ zu sprechen, wenn man eine bestimmte Betrach‐ tungsweise in der romanistischen Varietätenlinguistik meint. Dieses im Laufe der Zeit herausgearbeitete Modell ist durch viele moderne sprachwissenschaftliche Theorien und Konzepte inspiriert, dennoch kann man konstatieren, daß es bestimmte Grundpfeiler theoretischer Vorgänger-Modelle gibt, auf denen es ruht und die im Folgenden skizziert werden sollen. Eine der für Koch / Oesterreicher fundamentalen Differenzierungen im Hin‐ blick auf ihre Untersuchung zur gesprochenen Sprache ist die auf Söll ( 1 1974) zurückgehende Opposition von Konzeption und Medium. Ausgehend von der einfachen Feststellung, daß man Umgangssprache auch schreiben bzw. lesen kann und umgekehrt elaborierte Texte auch vorgelesen werden können und damit hörbar werden, trifft er zunächst die mediale Unterscheidung phonisch vs. 32 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 25 Söll (1985: 17, 19) rekurriert hier unzweifelhaft auf das Primat der Mündlichkeit bei Saussure (1986: 45). 26 Beispielhaft dafür sei nur auf das bei Söll (1985: 35) diskutierte Modell von Stourdzé (1969: 21) verwiesen, in dem die Interaktion von Stilregister und Mündlichkeit / Schrift‐ lichkeit dargestellt wird. 27 Die Opposition von frz. faut pas le dire vs. il ne faut pas le dire ist qualitativ wohl nicht die gleiche wie zwischen it. lui non ce l’aveva vs. egli non l’aveva, u. a. weil die Norm im Französischen (insbes. im geschriebenen Medium) erstere Äußerung völlig unmöglich machen würde, im Italienischen hingegen das erste Beispiel in der Schriftlichkeit höchstens leicht markiert wäre. graphisch mit dem Hinweis, daß erstere Kommunikationsform die primäre sei, 25 um dann noch eine konzeptionelle zwischen schriftlich und mündlich vorzu‐ nehmen (cf. Söll 1985: 19-20). Söll, der seine theoretischen Überlegungen zwar prinzipiell allgemein ver‐ standen haben will, aber diese rein anhand des Französischen konzipiert, stellt im Folgenden die sich überlagernden Differenzierungen zwischen code phonique vs. code graphique und code / langue parlé vs. code / langue écrit in einer Matrix dar. Bedingt durch den seit der Normierungsphase des 16./ 17. Jh. großen Norm‐ druck im Französischen und die dadurch historisch gewachsene große Diskre‐ panz zwischen konzeptionell gesprochener und konzeptionell geschriebener Sprache, lassen sich die Unterschiede im Modell besonders gut illustrieren. Koch / Oesterreicher (2011: 3) übernehmen von Söll - unter Auslassung zahl‐ reicher weiterer interessanter dort diskutierter Ansätze 26 - genau diesem Aspekt und betonen dabei vor allem die absolute Dichotomie der medialen Opposition im Sinne einer Entweder / Oder-Relation und das Kontinuum im Bereich der konzeptionellen Differenzierung von ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘. In der von Koch / Oesterreicher übernommenen Matrix von Söll, die sie je um ein italieni‐ sches und spanisches Beispiel ergänzen wird ein grundsätzliches Problem of‐ fenbar, nämlich, daß einerseits die Relation von konzeptioneller Mündlich‐ keit / Schriftlichkeit je Sprache eine andere ist und andererseits die mediale Repräsentation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. 27 So sollte nach Hun‐ nius (2012: 38-41) dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, grundsätzlich mehr Gewicht beigemessen werden, da die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Gerade in Bezug auf die neuere Kommunikation und ihre Formen (v. infra E-Mails, Chats, Online-Foren etc.) wird dies auch von Krefeld (2015a) kritisch gesehen und von Massicot (2015: 112, 149-150, 190-191) empirisch gestützt, die ebenfalls die größere Abhängigkeit vom Medium hervorhebt. Ein wesentlicher Verdienst von Koch / Oesterreicher ist es nun, mithilfe der Ergebnisse der bisherigen Forschung zu den je unterschiedlichen Implikationen 33 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 28 Cf. dazu auch die Forschungsergebnisse der Gesprächsanalyse (cf. z. B. Henne-Rehbock 1982) und den Überblick zum Forschungsprojekt Mündlichkeit / Schriftlichkeit in Raible (1998a). 29 Cf. dazu auch die Kritik von Ágel / Hennig (2010: 5), die zum einen darauf verweisen, daß es „keine allgemeingültige Nähe-Distanz-Modellierung geben kann“, sondern sie entsprechend der sprachsoziologischen und historischen Gegebenheiten zu adaptieren ist, und zum anderen eine exakte Verortung der Parameterwerte nicht begründbar sei. Zu einer weiteren kritischen Auseinandersetzung mit dem Nähe-Distanz-Modell cf. Selig (2017, 2018) und Gruber / Grübl / Scharinger (2021). von gesprochener und geschriebener Sprache sowie, damit zusammenhängend, bestimmten Kommunikationsmustern bzw. Versprachlichungsstrategien, 28 ein Modell entwickelt zu haben, welches das von Söll postulierte konzeptionelle Kontinuum in Bezug auf spezifische Faktoren näher erfaßbar machen soll. Um den Grad konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit einer Äußerung zu bestimmen, schlagen sie zehn Parameter vor, die die Kommunikationsbedin‐ gungen einer konkreten Äußerungssituation beschreiben sollen: Grad der Öf‐ fentlichkeit, Grad der Vertrautheit (der Kommunikationspartner), Grad der emotionalen Beteiligung, Grad der Situations- und Handlungseinbindung, Re‐ ferenzbezug (Bestimmung der Sprecher-origo), Grad der physischen Nähe (der Kommunikationspartner), Grad der Kooperation (Mitwirkungsmöglichkeiten), Grad der Dialogizität, Grad der Spontaneität, Grad der Themenfixierung (Koch / Oesterreicher 2011: 7). Mit Hilfe dieser Parameter ist nun für sie jede Äu‐ ßerung innerhalb des von ihnen so genannten Kontinuums zwischen kommu‐ nikativer Nähe und kommunikativer Distanz exakt zu verorten. 29 Nichtsdestoweniger wurden mit dieser Zusammenstellung wichtige Anhalts‐ punkte zur Einordnung von Gesprächssituationen geliefert, die dann die beiden Autoren in Korrelation zu bestimmten Versprachlichungsstrategien setzen, dar‐ gestellt in der inzwischen bekannten Graphik eines Parallelogramms, in der die mediale Differenzierung der Sprache (graphisch / phonisch) und das konzepti‐ onellen Nähe-Distanz-Kontinuum verknüpft werden. Der Grad von Nähe bzw. Distanz wird dabei durch die genannten Kommunikationsbedingungen deter‐ miniert und äußert sich in Form von bestimmten Sprachphänomenen und Ver‐ sprachlichungsstrategien in einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Sprache (cf. Nähesprechen vs. Distanzsprechen). Im Zuge dieser Korrelierung wird auch deutlich, daß es zwischen dem graphischen Code und der Distanz‐ sprache sowie zwischen dem phonische Code und der Nähesprache eine be‐ stimmte Affinität gibt (Koch / Oesterreicher 2011: 12). Hierbei sei noch darauf verwiesen, daß die Parameter der Versprachlichungsstrategien - aufgeführt sind nur Art der Kontextpräferenz, hoher / niedriger Planungsgrad, Vorläufig‐ keit / Endgültigkeit, Aggregation / Integration - noch kürzer als die Kommuni‐ 34 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 30 Zu den Grenzen des Koch / Oesterreicher-Modells bei modernen Kommunikations‐ formen wie chat, e-mail, sms, instant messaging etc. cf. Dürscheid (2003), Kailuweit (2009). Zu der heterogenen, schwer fassbaren Textsorte ,Forum-Kommentar‘ im In‐ ternet cf. Massicot (2015). Aus der Analyse letzterer läßt sich schlußfolgern, daß die z. B. im Modell bei Berruto (2005: 156) pauschal als CMC (computer mediated communica‐ tion) apostrophierten Kommunikationsformen der digitalen Welt keinesfalls eine ho‐ mogene Gesamtkategorie bilden, sondern je einer spezifischen Untersuchung bedürfen. 31 Nicht ganz schlüssig scheint bei Koch / Oesterreicher (2011) jedoch, wie exakt (an wel‐ cher Stelle) sie die Diskurstraditionen in ihrem Nähe-Distanz-Modell verortet sehen wollen bzw. dann weitergehend im Diasystem. kationsbedingungen abgehandelt werden (weitere Erläuterungen u. Parameter in Koch / Oesterreicher 1985: 21-23), obwohl angesichts der dort durchgeführten Anwendung auf die drei romanischen Sprachen eigentlich das Gegenteil der Fall sein müßte. 30 Indem Koch / Oesterreicher (2011: 14) noch auf den Begriff ‚Diskurstradition‘ rekurrieren und diesen ebenfalls zu einem wichtigen Pfeiler ihres Gesamtmo‐ dells machen, vervollständigen sie zum einen das Erklärungsmuster, wieso Mündlichkeit anderen Regeln unterworfen ist als Schriftlichkeit, und können zum anderen gleichzeitig argumentieren, inwiefern jedwede Äußerung be‐ stimmten Traditionen und Normen unterworfen ist. 31 Das Konzept der Diskurstradition geht prinzipiell auf Coseriu (1980) zurück, doch wurde es auch durch Arbeiten von Schlieben-Lange (1983) und anderen maßgeblich mitgeprägt, bis schließlich Koch (1988) den eigentlichen Begriff ‚Diskurstradition‘ einführte und näher bestimmte. Im Weiteren entstanden dann prägende Arbeiten von Koch (1997), Oesterreicher (1997) sowie Aschen‐ berg / Wilhelm (2003), Wilhelm (2001) und Kabatek (2011) zu diesem wichtigen Konzept, welches auch in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle einnehmen wird. Mit ‚Diskurstradition‘ wird ein wichtiger Aspekt des Coseriu’schen Diasys‐ tems charakterisiert, insofern eine historische Einzelsprache von bestimmten Traditionen des Sprechens bzw. Schreibens geprägt ist. Im Zuge seiner Textlin‐ guistik exemplifiziert Coseriu, wie die Produktion von (schriftlichen) Äuße‐ rungen nicht nur der Norm einer Sprache unterliegt, sondern auch gewissen historisch gewachsenen Traditionen der Versprachlichung: Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition („Sonett“, „Roman“) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten pro‐ duzieren. (Coseriu 1994: 46) Im Hinblick auf die Frage nach der Angemessenheit einer Äußerung bzw. eines Diskurses nimmt Koch die Coseriu’sche Frage nach einer spezifischen Norm für 35 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle einen Diskurs auf und beantwortet diese damit, daß hierbei gewisse Regeln wirksam werden, die zusätzlich zur allgemeinen Sprachnorm einer bestimmten Einzelsprache funktionieren. Doch orientiert sich die Angemessenheit nicht nur an den idiosynkratischen Para‐ metern des je individuellen Diskurses, sondern auch an den Traditionen, in denen er steht. Dies sind einerseits natürlich die Sprachnormen, und andererseits aber - ge‐ wissermaßen querliegend dazu - bestimmte Diskurstraditionen, die offensichtlich als Diskursnormen intersubjektiv gültig sind und den jeweiligen Sinn eines Diskurses mitkonstruieren: Textsorten, Gattungen, Stile etc. (Koch 1988: 341-342) Im Weiteren verweist Koch (1988: 342) auf bestimmte Diskursregeln, die zwar auf Sprachregeln basieren, aber nicht unbedingt einzelsprachlich gebunden sind; sie sind konventionell und historisch gewachsen und damit konstitutiv für eine bestimmte Art des Diskurses. Zu ergänzen ist dazu noch, daß Diskurstraditionen mehr sind als Textsorten, literarische Gattungen oder Stile, denn Diskurstraditionen sind nicht nur auf die Schriftlichkeit beschränkt, im Gegenteil, das gesamte Spektrum menschlicher Äußerungen, im Sinne eines Textes (in weitester Auslegung) bzw. Diskurses ist durch bestimmte historisch gewachsene Traditionen strukturiert. Das schließ‐ lich von Wilhelm (2001) synthetisierte Verständnis von Diskurstradition ist zentral für das von Koch / Oesterreicher entworfene Gesamt-Modell, denn ein‐ zelsprachliche Phänomene sind prinzipiell immer auch im Kontext ihrer dis‐ kurstraditionellen Verankerung zu untersuchen, damit sie varietätenlinguis‐ tisch zu verorten sind. Jeder Text / Diskurs steht in einer bestimmten Diskurstradition, er befolgt die Regeln einer bestimmten Textgattung. So wie der Sprecher für seinen Äußerungsakt eine bestimmte Einzelsprache oder ein einzelsprachliches Register auswählt […], so muß er sich auch für eine bestimmte Diskurstradition […] entscheiden. So wie es keine sprachliche Äußerung ‚außerhalb‘ einer historischen Einzelsprache geben kann […], so kann es auch kein Sprechen ‚außerhalb‘ einer bereits etablierten Diskurstradition geben: Unser Sprechen bedient sich notwendig der Form des Grußes, der Gedicht‐ sammlung, des Telephongesprächs, des Briefes usw. Jede Rede ist einzelsprachlich, und sie ist gattungshaft, diskurstraditionell geprägt (Wilhelm 2001: 467). Im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, sprachliche Variation und Varietäten adäquat beschreiben zu können, insbe‐ sondere im Bereich der Mündlichkeit, versuchen nun Koch / Oesterreicher aus den bisher beschriebenen Grundpfeiler - d. h. Konzeption / Medium (Söll), Dia‐ system (Coseriu), Diskurstraditionen (Koch et al.), Nähe / Distanz (Koch / Oes‐ 36 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 32 Coseriu (1988: 50) drückt die Möglichkeit der „Umfunktionierung“ einer Ebene folgen‐ dermaßen aus: „[…] [D]as Verhältnis zwischen Dialekt, Sprachniveau und Sprachstil [ist] ein orientiertes […]: Dialekt → Sprachniveau → Sprachstil. D. h. ein Dialekt kann evtl. als Sprachniveau, und ein Sprachniveau als Sprachstil funktionieren, nicht aber umgekehrt. So kann z. B. eine regionale Form der historischen Sprache, ein Dialekt, in einer Gegend zugleich als ‚volkstümliches‘ Niveau funktionieren (gegenüber z. B. der Gemeinsprache der übrigen Niveaus), und ein in diastratischer Hinsicht volkstümliches Sprachniveau kann zugleich in diaphasischer Hinsicht z. B. als ‚familiärer Stil‘ funkti‐ onieren.“ 33 Dies ist so zu verstehen, daß z. B. ein diatopisch markierter Ausdruck sekundär auch als diastratisch und dann evtl. auch als diaphasischer funktionieren bzw. in diese Ebenen einrücken kann, jedoch nicht umgekehrt, also ein diaphasischer nicht als diastratischer oder diatopischer interpretierbar ist (cf. auch Oesterreicher 1995: 4). Zur Problematik der Integration und Verschiebung von Entlehnungen innerhalb des Varietätenraumes cf. Schöntag (2009: 131) und Massicot (2022: 444-449). terreicher) - eine Synthese, indem sie die Parameter ,Mündlichkeit / Schriftlich‐ keit‘ und Nähe / Distanz in das Coseriu’sche Diasystem integrieren und dabei eine vierte Dimension erschaffen (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 16). In ihrem System des Varietätenraums gibt es - ganz analog zu Coseriu - die Dimensionen diatopisch, diastratisch, diaphasisch, die als markiert apostro‐ phiert werden und die Dimension der nicht-markierten Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Diese neue Ebene ,gesprochen / geschrieben‘ (im konzeption‐ ellen Sinn) verfügt nun über die Pole ‚Nähe‘ vs. ‚Distanz‘ und ist in sich wie‐ derum in zwei Ebenen gegliedert, wobei die erste innerhalb des Nähe-Dis‐ tanz-Kontinuums auf den universalen Aspekt rekurriert und die zweite auf spezifisch einzelsprachliche Phänomene Bezug nimmt. Die Strukturierung der einzelnen Ebenen des Varietätenraums ergibt sich aus dem von Coseriu ent‐ lehnten Konzept der Varietätenkette, 32 die in der Interpretation von Koch / Oes‐ terreicher (2011: 16) besagt, daß bestimmte sprachliche Phänomene im Zuge einer Veränderung ihrer Funktion innerhalb einer Sprache prinzipiell entlang der Dimensionen diatopisch → diastratisch → diaphasisch → unmarkierte Nähesprache / Distanzsprache aufrücken können, und zwar unidirektional al‐ lein in dieser Abfolge (und ggf. auf einer „Teilstrecke“ davon). 33 Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch / Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündli‐ cher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Di‐ chotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Dis‐ tanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwick‐ lung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur 37 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 34 Cf. dazu beispielsweise auch die Anwendung auf ältere Sprachstufen in Koch (1997). 35 Zur Bedeutung von medialem (und konzeptionellem) Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Herausbildung der romanischen Schriftsprachen cf. Wun‐ derli (1965) oder Raible (1998b). 36 Cf. z. B. auch Gadet (2007) in Frankreich oder López-Serena (2007) in Spanien. Zur Re‐ zeption in der Germanistik cf. Feilke / Hennig (2016) und die Rezension von Krefeld (2017), der sowohl die Problematik der Rezeptionsgeschichte darstellt als auch nochmal auf die einzelnen Angriffspunkte des Modells auflistet. 37 Albrecht (1990: 119) sieht die drei „klassischen“ Parameter, um die Variabilität einer Sprache zu erfassen, als völlig ausreichend an, die neu postulierte Dimension (gespro‐ chen vs. geschrieben) ließe sich entweder dort einordnen oder sei gar kein Teil der Sprachvariation, und auch Thun (1988: XIII) deutet an, daß die Diaphasik die angespro‐ chenen Merkmale auffangen könnte (ähnlich Kabatek 2000: 315); für Kiesler (1995: 399-400) wiederum ergibt sich aus seiner Analyse des Französischen, daß es keine neutralen Register oder gar neutrale Varietät geben kann, sondern nur neutrale sprach‐ liche Elemente bzw. neutrale Sprachregeln. 38 Koch / Oesterreicher (2011: 17) sind sich dieses Einwandes bewußt und argumentieren nichtsdestoweniger pro domo im Sinne ihres Modells (cf. z. B. auch Koch / Oesterreicher 1994: 595; Koch 1999: 158-161). Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituati‐ onen. 34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferpro‐ zesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Ver‐ schriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der kon‐ zeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993: 271-272; Koch / Oesterreicher 1993: 587; 2001: 587). 35 Das Koch / Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert, 36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003: 203-204), Schöntag (2014: 512-519) und Krefeld (2015a: 265-268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe / Dis‐ tanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen. 37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z. B. bei der He‐ rausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese - diamesischen Unter‐ schiede, wie es Mioni (1983: 508-509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt - nicht Teil der Diaphasik sind. 38 In der Kritik stehen auch 38 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 39 Zur Unidirektionalität cf. Krefeld (2004: 148), der darauf verweist, daß dies nur in Bezug auf synchrone Sprachsituationen anwendbar sei und zudem eine statische Sprachge‐ sellschaft voraussetzt. Auf den synchronen Aspekt weist Oesterreicher (1995: 4-5) schließlich - wohl aufgrund von diversen Einwänden - explizit hin: „Die Begriffe ‚Dy‐ namik‘ und ‚Einrücken‘ dürfen in diesem Zusammenhang allerdings nicht als diachro‐ nische Prozesse mißverstanden werden: bei der Varietätenkette handelt es sich um ein rein synchronisch zu fassendes Phänomen, also um ein das pure Funktionieren unserer Sprachen kennzeichnendes Faktum.“ Als Beispiele aus dem Italienischen nennen Koch / Oesterreicher (2011: 210) u. a. bestimmte morsphosyntaktischen Phänomene, die vom italiano popolare in die unmarkierte Mündlichkeit des Italienischen aufgerückt sind, wie z. B. noialtri für noi und voialtri für voi sowie c’è ohne Numeruskongruenz (z. B. c’era dei contadini); des weiteren Ausdrücke, die aus einem gergo (niedrige Diastratik) über die niedrig markierte Diaphasik in die allgemeine Position ‚gesprochen‘ wandern, wie z. B. mate für matematica aus dem gergo studentesco. Zur Kritik an dem Modell der Varietätenkette cf. z. B. Schmitt (2003: 403-404) und Krefeld (2004: 148). 40 Davon abhängig sind dann auch weitere Kategorisierung wie Substandard oder Super‐ standard und die Frage nach der Markierung aller davon abweichenden Varietäten und der sie konstituierenden sprachlichen Varianten. die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachli‐ chen Kriterien. 39 Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m. E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums inner‐ halb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark / schwach, diastratisch niedrig / hoch, diaphasisch niedrig / hoch) wird explizit die linke Seite des ge‐ samten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch / Rede noch dem Bereich der konzep‐ tionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen - man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z. B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe etc. zu registrieren. Eine damit verknüpfte Fragestellung ist die der Verankerung der Standard- oder Normvarietät einer Sprache in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät. 40 Wie Dufter (2018: 67-69) zu Recht festestellt ist es nicht un‐ problematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral / unmarkiert‘, diastra‐ tisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018: 67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen - das sind die meisten der Welt - oder pluri‐ zentrische Sprachen handelt. 39 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 41 Auch im Französischen ist das français populaire ja ursprünglich eine diastratische Va‐ rietät, die im Laufe der Geschichte in die Diaphasik aufgerückt ist. Cf. dazu Müller (1975: 194), der die Genese des français populaire mit dem Dritten Stand (unteres Bür‐ gertum, Unterschicht) im 17. Jh. in Zusammenhang bringt, als die langue du peuple als Opposition zur langue de la Cour begriffen wurde. Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der kon‐ kreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch / Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird. So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne, in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik: Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch / Oesterreicher 2011: 208) Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausfüh‐ rungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schich‐ tengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare, welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011: 208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire, welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin dias‐ tratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011: 2009) wären. Im Bereich der Mor‐ phosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011: 210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und dia‐ phasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare. Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Grup‐ pensprachen beschränkt (gerghi) (ibid. 2011: 211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspe‐ zifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diapha‐ sische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfol‐ gerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert. 41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe 40 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 42 „Recht vorläufig ist bislang der Begriffsapparat zur Benennung der italienischen Dia‐ phasik, wo als Bezeichnungen für niedrige Varietäten etwa italiano familiare / collo‐ quiale sowie registro informale / trascurato / basso in wenig klarer Relation zueinander stehen“ (Koch / Oesterreicher 2011: 209). 43 Zum Verhältnis von Stil cf. Felder (2016), der folgende Abgrenzung vornimmt: „Stil ist im Kontrast zu Register und Varietät in besonderem Maße handlungs- und akteursori‐ entiert. Stil wird einem Individuum oder einer Gruppierung bzw. Gruppe zuge‐ schrieben. Fragen des Stils lassen sich modellieren als auszuwählende Varianten inner‐ es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird eben‐ falls deutlich, daß innerhalb der Diastratik - von Gruppensprachen abgesehen - keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst einge‐ stehen. 42 Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d. h. die Dimen‐ sion der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011: 213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich je‐ doch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispiels‐ weise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differen‐ zierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik / Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch / Oes‐ terreicher (2011: 213-214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei. Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gespro‐ chener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Nor‐ mierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat. 43 Zudem 41 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle halb einer größeren Äußerungseinheit, die jeweils für sich genommen eine spezifische Wirkung auf den Hörer zu entfalten mögen […]. […] Der Terminus Register - als im Vergleich dazu abstrakterer Begriff - verdichtet situationstypische Kommunikations‐ formen hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten zu einer Kategorie, spiegelt sie mit Mög‐ lichkeiten individuellen Sprachhandels und nimmt damit eine induktive und deduktive Betrachtungsweise ein. […] Varietät ist dagegen ein genuin deduktiv ausgerichteter Begriff. Er schaut ,von oben‘ vom Standpunkt der Gesamtsprache auf strukturierte Subsysteme, die aus spezifischen, mehrfach systematisch auftretenden (kookkurier‐ enden) Variantenrealisierungen generiert werden.“ (Felder 2016: 50-51). 44 Zur unterschiedlichen Auslastung des Varietätenraums des Französischen, Italieni‐ schen und Spanischen cf. das Modell bei Oesterreicher (1995: 11) und zu den damit ver‐ bundenen Auswirkungen cf. Wesch (2005: 176-177). 45 Cf. dazu beispielsweise Dufter / Stark (2002: 88) die die Diaphasik als eine dimension pas comme les autres bezeichnen und anhand ihrer aufgezeigten Fällen feststellen: „Les exemples ci-dessus permettent déjà de douter qu’on puisse toujours séparer le diastra‐ tique du diaphasique.“ 46 Coseriu (1973: 39) ordnet diesen Bereich noch deutlich der Diaphasik zu (Sprache der Männer / der Frauen, Verwaltungssprache). Heutzutage ist eine andere Zuordnung üb‐ lich, wie beispielsweise im Lexikon der Romanistischen Linguistik, wo Prüß‐ mann-Zemper (1990: 832-835) unter die Diastratik neben Gruppensprachen wie dem hat sich das Französische - zumindest in Frankreich - zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt. 44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch / Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch / Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versu‐ chung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen. Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlin‐ guistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt. 45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesell‐ schaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen ver‐ schiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ so‐ wohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen. 46 Das mag unter Umständen 42 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive argot explizit auch alters- und geschlechterspezifische Varietäten faßt sowie Fachspra‐ chen und eben die traditionell schichtenspezifischen Varietäten. 47 „Der Begriff Diastratik greift insofern nicht trennscharf, als er unterschiedliche Register zusammenbindet, die mit variablen sozialen Merkmalen und differenten sprachlichen Oberflächen korrelieren“ (Meißner 2008: 92). 48 Das Modell von Schmidt-Radefeldt (1999) ist Grundlage des Einführungswerkes in die portugiesische Sprachwissenschaft von Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008) sowie auch des Sammelbandes Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013) mit den Akten des Lusita‐ nistentages - hier ziert es emblematisch sogar das Buchcover, so daß es doch eine ge‐ wisse Verbreitung erfuhr. 49 Schmidt-Radefeldt (1999: 21-23) begreift sein polysystematisches Modell, welches sich überschneidende Pfeile (in Referenz zu einem Standard und einer Gebrauchsnorm) ab‐ bildet, als ein interaktives, in dem die Dimensionen in verschiedenen Wechselwir‐ kungen zueinander stehen. vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen - zu be‐ stimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. - wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist. 47 Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus ge‐ ratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifi‐ zieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia-Begriff‐ lichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999) 48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia-Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell - das ja auch schon von An‐ fang an umstritten war - an die Grenzen seiner Belastbarkeit. 49 Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988: 51). In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind 43 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 50 Eine Norm im Sinne einer neutralen referentiellen Standard- oder Hochsprache ist eine Grundvoraussetzung um von einer Auffächerung des Varietätenraumes einer histori‐ schen Einzelsprache sprechen zu können. (cf. Coseriu 1988: 47-48 und noch deutlicher Oesterreicher 1995: 9). Zur Frage der Norm, auch im spezifischen Verständnis Coserius cf. ausführlich Koch (1988a). Krefeld (2011b: 104) definiert den Standard einer Sprache aus Sicht der Sprecher als Bezugsgröße bzw. als Abweichung von einer impliziten Norm. 51 Albrecht (1986: 79) definiert Varietät als „ein Gefüge aus ‚zusammengehörigen‘ Vari‐ anten variabler Elemente und Regeln der Gesamtsprache“, wobei die zugrundelie‐ genden Kriterien für die Zusammengehörigkeit schwer faßbar sind. Cf. dazu auch die Überlegungen von Krefeld (2010a: 60), der zurecht moniert, daß dazu zuverlässige Pa‐ rameter fehlen, ab wann es sinnvoll sei, von einer Varietät zu sprechen. 52 Eine linguistisch fundierte Abgrenzung sollte natürlich nicht rein auf der Perzeption der Sprecher beruhen, sondern Grundlage bleiben objektive Kategorien auf der Basis wissenschaftlich begründeter Kriterien im Sinne eines adäquaten theoretischen Be‐ schreibungsrahmens. Dieser gewinnt jedoch an Transparenz, bezieht man das Spre‐ cherbewußtsein mit ein (cf. Krefeld 2010a: 119). 53 Die in Nordwestitalien (Galloitalia) womöglich einst durch französischen Einfluß (z. T. herrschende Oberschicht) entstandene uvularen r-Artikulationen, mit trill [ʀ] oder fri‐ kativisch [ʁ, χ], sind besonders paradignatisch für das Westemilianische (Raum Parma), kommen aber auch im Piemont, im Valle d’Aosta und in der Lombardei vor. Dabei kann immer auch eine soziolektale Interpretation mitschwingen, weil das erre francese als snobistisch gilt. Abweichungen vom italienischen Standard-r, was umgangssprachlich auch als erre moscia bezeichnet wird und nicht selten als Sprachfehler wahrgenommen wird, kommen hingegen verstreut in ganz Italien in verschiedenen Schichten vor und umfassen phonetisch gesehen eine Vielzahl verschiedener Realisierung (inkl. r fran‐ cese) (cf. Romano 2013: 215-220). 54 Cf. dazu beispielsweise die wenigen Merkmale des zentralen Regionalfranzösischen bei Müller (1975: 118) oder die auf wenige lautliche Merkmale reduzierte Studie zur Per‐ zeption von Sobotta (2006: 210-212). nötig, 50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt? 51 Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein. 52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal zu verorten, weil es sich um ein salientes Merkmal einer bestimmten Region handelt (wenn auch nicht aus‐ schließlich) 53 - oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auf‐ fällig. 54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008: 222-226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als ei‐ gentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines his‐ torischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät 44 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 55 Bei Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 9) erscheint sogar zusätzlich noch der Begriff ‚di‐ apolitisch‘ - wenn auch in Anführungszeichen - und wird dabei explizit als Varietät apostrophiert, was nach üblichen Kriterien dessen, was unter einer Varietät zu ver‐ stehen ist - so schwierig eine präzise Definition auch sein mag - kaum haltbar ist. Weiterhin wird noch von einem „diaökonomischen Ansatz“ gesprochen (Merlan / Schmidt-Radefeldt 2013: 10), so das letztlich hier die Diasystematik Coserius ad absurdum geführt wird. subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension. 55 Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia-Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia-Proliferation sein kann? Coseriu (1958) Koch / Oester‐ reicher (1990) Hausmann (1979, 1989) Schmidt-Rade‐ feldt (1999) Thun (2000) diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diaphasisch diaphasisch diaphasisch diasexuell diasexuell Nähe-Distanz (diamesisch) diamedial diagenerationell diageneratio‐ nell diaevaluativ diaphasisch diaphasisch diatextuell diamedial dialingual diakonnotativ diakonzeptionell diatopisch-ki‐ netisch dianormativ diatechnisch diareferentiell diaintegrativ diasituativ diatechnisch diatextuell diafrequent diaevaluativ diachronisch diafrequentativ diaintegrativ dianormativ diaplanerisch Abb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen 45 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 56 In der Romanistik beispielsweise von Haensch tradiert, der in dem Überblickswerk La Lexicografía in Bezug auf die verschiedenen Arten der Wörterbücher und deren selektiv dargestellten, markierten Wortschatz von marcación diatópica, diastrática, diatécnica, diafásica, diaintegrativa, diafrecuente spricht (Haensch 1982: 140-158). Bei Schöntag (1998/ 2009: 97-98) und Schöntag (2014: 519-520) wird der Begriff ,diaintegrativ‘ der Terminologie von Hausmann durch ,diaxenisch‘ ersetzt, da die empfundene Fremdheit das ausschlaggebende Kriterium darstellt. 57 In der französischen lexikographischen Forschung erscheinen noch die Begriffe diaco‐ dique für ‚diamesisch‘ sowie diasectoriel für ‚diatechnisch‘ (cf. Chambon 1997: 23). In der varietätenlinguistischen nicht lexikographischen Betrachtung systematisiert beispiels‐ weise Gadet (2007: 23) die Dia-Ebenen nach der variation selon l’usager (diachronie, di‐ atopie, diastratie) und der variation selon l’usage (diaphasie, diamésie). 58 Zu Thuns Programm einer pluridimensionalen und referentiellen Dialektologie sowie zur Dimension ‚diareferentiell‘ cf. Thun (2004: 133-134). Für eine Beurteilung der hier dargestellten Begrifflichkeiten, auch im Hinblick auf die geplante Analyse in vorliegender Arbeit stellt sich zunächst die Frage cui bono? Wenn Hausmann (1979, 1989) anknüpfend an die zu dieser Zeit bereits be‐ stehenden Termini weitere prägt, 56 um im Sinne einer lexikographischen Be‐ schreibung die Struktur des in Wörterbüchern dargestellten Lexikons besser zu erfassen zu können, so ist das legitim und sinnvoll, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, daß es sich dabei um einen anderen Beschreibungsrahmen als den von Coseriu intendierten handelt (cf. dazu auch explizit Schöntag 1998 / 2009: 164). 57 Das gleiche gilt mutatis mutandis für eine Beschreibung im Zuge der sprachgeographischen Erfassung von Unterschieden, wie sie Thun (2000: 4-5) in seiner pluridimensionalen Dialektologie vornimmt. 58 Problema‐ tisch wird es nur, wenn wie bei Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008) man ei‐ nerseits weitgehend im ursprünglichen Varietätenmodell von Coseriu bleibt, also auf die Erfassung der Heterogenität der historischen Einzelsprache an sich abzielt, aber dann den Beschreibungsapparat womöglich überdehnt und damit auch den Unterschied von Varianz (bzw. Varianten) und Varietät verwischt. 3.1.2 Soziolinguistische Perspektive Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätenlinguistik wird oft als inklu‐ sives verstanden, insofern die Betrachtung der Varietäten als Teil einer weiteren Perspektive allgemeiner gesellschaftlicher und individueller Faktoren, die die Art des Sprechens mitbestimmen, gesehen wird. Mitunter werden beide Begriffe auch unterschiedslos verwendet, um die gleiche Disziplin zu bezeichnen, aber in der neueren Forschung werden sie meist als zwei getrennte eigenständige Teilbereiche der Sprachwissenschaft mit unterschiedlichen Schwerpunkten, 46 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 59 Zur Entstehungsgeschichte der Soziolinguistik cf. beispielsweise Elsen (2014: 157-166), Löffler (1994: 19-20) oder Dittmar (1997: 19-33; 2004: 698-720). Ebenfalls hybrid, wenn auch in anderer Weise als die deutsche Germanistik, ist die romanistische Tradition in Italien. So behandelt Berruto (1987) in seinem Überblicks‐ werk vorrangig varietätenlinguistische Fragestellung, das Ganze firmiert aber unter dem Label Sociolinguistica, ähnlich wird in dem großen Überblickswerk zu den italie‐ nischen Dialekten von Cortelazzo verfahren (I dialetti italiani), in dem das diasystema‐ tische Modell Coserius von Sornicola (2002: 43) im Rahmen des Kapitels Dialettologia sociologica abgehandelt wird. Konsequenterweise definieren Dardano / Trifone (1997: 69) Soziolinguistik auch so, daß die Varietätenlinguistik darin ein wichtiger Bau‐ stein ist: „La sociolinguistica studia particolarmente le diversità e le varietà della lingua […].“ 60 Einen Reflex davon zeigt beispielsweise die aus dem Englischen übersetzte Publikation von Barbour / Stevenson (1998) die den Titel Variation im Deutschen trägt, aber als Un‐ tertitel die Ergänzung Soziolinguistische Perspektiven. In der Germanistik ist eben zudem der anglophone-anglistische Einfluß spürbar, insofern in dieser Tradition die Variation und nicht die Varietät im Vordergrund steht. So gibt es im soziolinguistischen Grund‐ lagenbuch von Dittmar (1997) zwar ein Kapitel zur Variation, aber keines zu den Vari‐ etäten. Das Einführungswerk von Fasold / Connor-Linton (2006) der Cambridge Uni‐ versity Press macht die Situation deutlich: Hier gibt es ein Kapitel zu Dialect variation, worunter hauptsächlich sociolinguistics verstanden wird, da dialect hier als Synonym für Varietät an sich gebraucht wird: „a neutral label to refer to any variety of language“ (Schilling-Estes 2006: 312). Zur Abgrenzung von Variation, Varianten und Varietät cf. Krefeld (2015b: 395-396). aber großem Überschneidungsbereich, wahrgenommen (cf. Sinner 2014: 9-11). 59 Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätensowie Variationslinguistik ist vorwiegend an die Forschungstradition einzelner Fächer und Länder ge‐ bunden. Während in der deutschsprachigen romanistischen Wissenschaft, in der Nachfolge Coserius, die Varietätenlinguistik einen betont eigenständigen und prominenten Charakter aufweist, ist in germanistischer Tradition die Dif‐ ferenzierung oft nicht so eindeutig vorgenommen bzw. tendenziell die Varietä‐ tenlinguistik (hauptsächlich Dialektologie) oft in die Soziolinguistik inkorpo‐ riert (cf. z. B. bei Veith 2002). 60 Für vorliegende Untersuchung sind insbesondere diese Schnittstellen und Perspektivenwechsel von Interesse, denn gerade in der Entstehungsphase oben diskutierter Varietätenmodelle waren Erkenntnisse aus Untersuchungen von Belang, die traditionell der Soziolinguistik zugerechnet wurden. Begrifflichkeiten, die später auch indirekt im Varietätenmodell von Coseriu und Koch / Oesterreicher, aber vor allem im Konzept der Diskurstraditionen eine große Rolle spielen, sind die von Kloss (1952 / 1978) im Rahmen seiner Betrach‐ tung zur Entwicklung neuer germanischen Kultursprachen geprägten, von denen im vorliegenden Zusammenhang der des ‚sprachlichen Ausbaus‘ als wichtigster Terminus zur Beschreibung einer bestimmten Art von Funktions-, Anwen‐ 47 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 61 Lewandowski (1994 II: 419) definiert ‚Idiom‘ in seiner ersten von drei Grundbedeu‐ tungen folgendermaßen: „Sondergewohnheit, eigentümlicher Sprachgebrauch als In‐ dividualsprache oder Idiolekt, Mundart oder Dialekt, Gruppensprache oder Sozio‐ lekt […].“ 62 Die Tatsache, daß die Situierung von Dialekten bei ihm im Vordergrund steht, zeigt die spätere, präzisere Definition von ‚Ausbausprachen‘: „Als Ausbausprachen (AuS ) kann man Idiome bezeichnen, die als Dialekte einer ihr begrifflich übergeordneten Bezugs‐ sprache behandelt werden müßten, wenn sie nicht zu einem Ausdrucksmittel einer alle oder fast alle Aspekte des modernen Lebens einbeziehenden Kultur geworden wären, die in mancher oder jeder Richtung ausgestaltet wurden zu Werkzeugen all- oder doch vielseitiger literarischer Betätigung.“ (Kloss 1987: 302) dungs- und Prestigewandel einer Sprache herausragt. Im Zuge seines Versuchs, ‚Sprache‘ und ‚Dialekt‘ voneinander abzugrenzen, führt er anhand von Einzel‐ beispielen die Begriffe ‚Ausbausprache‘ und ‚Abstandsprache‘ ein: Manchen Sprachen wird ihr Rang zuerkannt auf Grund der Besonderheit ihrer Sub‐ stanz, des Sprachkörpers. Ein besonders klares Beispiel bietet in Europa das Baskische, aber für eine verhältnismäßig isoliert dastehende indogermanische Sprache wie Al‐ banisch liegt der Fall kaum minder eindeutig. Baskisch oder Albanisch würden auch als Sprachen bezeichnet werden, wenn in ihnen keine einzige gedruckte oder ge‐ schriebene Zeile vorläge. Wir können solche Idiome, die lediglich um ihres Abstandes von allen auch den nächstverwandten anderen Idiomen willen als Sprachen gelten, auch kurzweg als „Abstandsprachen“ bezeichnen. Wenn hingegen das Slowakische vom Tschechischen, das Weißruthenische vom Rus‐ sischen, das Katalanische vom Okzitanischen, vielleicht sogar das Letzeburgische vom Deutschen als besondere Sprache unterschieden werden, so liegt der Grund nicht in ihrer linguistischen Sonderstellung, sondern in ihrer soziologischen Verselbständi‐ gung, also insbesondere in dem Umfange und Grade ihres Ausbaus zur Kultursprache, so daß man hier auch kurzweg von „Ausbausprachen“ reden kann. (Kloss 1952: 17) In dieser eher impliziten Definition wird auch noch ein anderer Begriff quasi en passant in seinem weiteren Gebrauch in der Linguistik festgeschrieben, nämlich der des ‚Idioms‘, den Kloss zur neutralen Bezeichnung verwendet, solange noch nicht geklärt ist, ob es sich um einen Dialekt oder eine Sprache handelt, und den man heutzutage nützlicherweise als vorklassifikatorischen Terminus auf ver‐ schiedene Arten von Varietäten anwenden kann. 61 Was den Ausbau von Sprachen betrifft, so trägt Kloss (1952: 24-25) wichtige Parameter zusammen, anhand derer man einschätzen kann, wie weit der Aus‐ baugrad einer bestimmten Sprache oder eines Dialektes (Ausbaudialekt) fort‐ geschritten ist. 62 Der Ausbaugrad selbst wiederum wird in eine Vorphase und fünf weitere Phasen untergliedert, je nachdem wie weit der Anwendungsbereich 48 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 63 In seiner stark erweiterten Ausgabe von 1978 führt Kloss verschiedene Ausbauweisen nochmal sehr viel ausführlicher auf und bezieht auch Normierungsprozesse wie Ver‐ einheitlichung von Orthographie und Sprache mit ein sowie die Schaffung neuer Stil‐ mittel und vor allem neuer Anwendungsbereiche für die sich ausbauende Sprache. In Bezug auf die Literatur ist die dann ausführlich dargestellte Sachprosa einer von drei Großbereichen schriftlicher Anwendung von Hochsprachen: 1. Schöne Literatur (Bel‐ letristik, d. h. auch Dichtung, Erzählungen, Theaterstücke, Epen etc.), 2. Sachprosa, 3. Schlüsseltexte (cf. Kloss 1978: 37-38). 64 Ammon (2004: 182) weist zudem auf den nicht immer deutlich werdenden Unterschied von Einzelvarietät und Sprache hin. Denn eine Sprache kann aus einer Menge von Varietäten unter einem Dach oder aus mehreren gleichberechtigen Varietäten bestehen einer Sprache ist, gemessen hauptsächlich an der Möglichkeit, verschiedene Textsorten zu bedienen und damit einhergehend, wie lexikalisch, morpholo‐ gisch und syntaktisch elaboriert die Sprache ist (Kloss 1978: 52). Die zunächst auf sechs Merkmale festgesetzten Parameter zur Beurteilung des Ausbaugrades kondensiert er später (cf. Kloss 1987: 304) auf vier und ent‐ wickelt zudem eine Matrix der Entwicklungsstufen (cf. Kloss 1978: 48-49) an‐ hand einer Feingliederung der Sachprosa, die als wichtigster Indikator für den Ausbau anzusehen ist. Die Ausbau-Kriterien stützen sich dabei auf folgende regelmäßige Anwen‐ dungsbereiche des untersuchten Idioms: 1) in Zeitungen, 2) in übersetzten reli‐ giösen und weltanschaulichen Schlüsseltexten, 3) in nichtdichterischen Zuspra‐ chetexten (Vortragstexte), 4) in Belletristik, Forscherprosa, Gebrauchsprosa (Inserate, Inschriften, Tagebücher, Notizzettel, etc.). Dichtung und andere „hohe“ Literatur gehören als Gradmesser natürlich ebenfalls dazu, sind aber bei Kloss nicht in gleicher Weise in den Vordergrund gerückt, zum einen weil diese bis dato, vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft als die einzigen Faktoren für die Einschätzung als Kultursprache angesehen wurden, und zum anderen weil er dezidiert den Wert der Sachprosa über den der Literatur strictu sensu als Indikator stellt. 63 Die Sachprosa selbst wiederum splittet er in drei graduell ab‐ gestufte Bereiche, nämlich volkstümliche Prosa (V), gehobene Prosa (G) und Forscherprosa (F), sowie in drei themenbezogene Bereiche, gegliedert nach ei‐ genbezogene Themen (E), kulturkundlichen (K) und solchen der Naturwissen‐ schaft und Technologie (N), woraus sich oben erwähnte Matrix als Bemessungs‐ grundlage ergibt. Unabhängigkeit von der Tatsache, daß ein Parameter wie „Ausbreitung in Rundfunk und Fernsehen“ der Aktualisierung in Bezug auf die zahlreichen neuen Kommunikationsformen bedürfte und insgesamt sowohl die Bestimmung als auch die Korrelation der einzelnen Kriterien nicht immer unproblematisch sein dürften, 64 bleibt das Gesamtkonzept ein äußerst wichtiges Instrument zur 49 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle oder, wie in plurizentrischen Sprachen mehrere ausgebaute Varietäten (und nicht aus‐ gebaute) umfassen. 65 Cf. Oesterreicher (1997: 594): „Nicht zufällig bemißt Kloss […] den Ausbaugrad einer Sprache an diskurstraditionell gestaffelten Parametern.“ 66 Auch das standardisierte Ladin Dolomitan hat nicht den gleichen Ausbaugrad wie das Deutsche und Englische, da Wissenschaftsprosa in dieser Sprache höchstens marginal abgehandelt wird. Bestimmung von Funktions- und Anwendungsbereichen von Sprachen und deren Positionierung in der Gesellschaft. Dies ist nicht zuletzt daran ersichtlich, daß die Frage nach dem Ausbaugrad einer Sprache wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ‚Diskurstradition‘ ist bzw. nach heutigem Verständnis einzelne Dis‐ kurstraditionen maßgeblich zum Ausbau einer Sprache beitragen (z. B. Ge‐ brauchsprosa, Belletristik, etc.). 65 Der Ausbau einer Sprache korreliert zudem mit dem Prozeß der Standardi‐ sierung einer Sprache, wobei „Ausbau und Standardisierung […] weder iden‐ tisch noch disjunkt“ sind (Ammon 2004: 183), denn einerseits haben zwar aus‐ gebaute Varietäten in der Regel auch die Funktion eines Standards, andererseits sind Standardvarietäten bzw. Standardsprachen nicht immer im gleichen Aus‐ baugrad zu situieren (z. B. Ladinisch vs. Englisch). 66 Mit der Standardisierung wiederum in Zusammenhang steht die auf Kloss (1969) zurückgehende Unterscheidung von Korpusausbau und Statusausbau, wobei Status auf die Stellung einer Sprache in der zugehörigen Sprachgemein‐ schaft referiert, während Korpus auf Struktur und Wortschatz abhebt (cf. Ammon 1991: 280). Der heutzutage in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Terminus Mo‐ dernisierung wird oft mit unklarer Referenz verwendet, insofern meistens damit - weniger präzise - der Korpusausbau gemeint wird, dies nicht selten aber auch auf den Ausbau als solchen zielt, oder auch Statusfragen damit ver‐ knüpft werden, z. B. innerhalb des Bereiches der Fachsprachen oder jene im Verhältnis zur Gemeinsprache (cf. Ammon 1998: 222; Ammon 2004: 183). Eine weitere Ergänzung der Kloss’schen Terminologie liefern Koch / Oester‐ reicher (1994: 594), indem sie den Prozeß einer allmählichen Einschränkung des Anwendungsbereiches von bereits voll ausgebauten Nationalsprachen wie dem Niederländischen oder Ungarischen thematisieren, die in der Wissenschaft‐ sprosa zunehmend bzw. fast ausschließlich auf das Englische rekurrieren. Diese rückwärtsgerichtete Entwicklung definiert Oesterreicher im Folgenden als Rückbau einer Sprache, der letztlich auch bis zum Sprachtod reichen kann (cf. Oesterreicher 2004: 32 bzw. 2005: 100), wobei die Gefahr insbesondere bei bisher erst teilausgebauten Sprachen besteht, worunter er Sprachen versteht, die die 50 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 67 „Diesen Ausbaustatus im Bereich der Distanzsprachlichkeit erreichen bestimmte Idiome nie, andere immerhin fast, manche wenigstens teilweise; hier kann man von Teilausbau sprechen. Selbstverständlich kann eine voll ausgebaute oder eine teilaus‐ gebaute Sprache ihren Status, ihren Ausbaustand auch wieder verlieren, also auf eine niedrigere Ausbaustufe zurücksinken“ (Oesterreicher 2004: 31). 68 „Mit einem anderen Bilde könnte man auch von überdachten und dachlosen Mundarten reden“ (Kloss 1952: 21, FN 3). letzte Stufe des Ausbaus bei Kloss (1978: 52) nicht erreicht haben (5. Phase: Ver‐ wendung in Verwaltung, Medien, Forscherprosa). 67 Ein weiteres wichtiges Konzept in der Soziolinguistik, welches auf Kloss zu‐ rückgeht, ist das der Dachsprache. Den Terminus selbst hat Kloss nicht direkt geprägt, denn ihn interessierten zunächst die Ausnahmefälle, nämlich die Dach‐ losen Außenmundarten, wie ein Kapitel in der Zweitauflage seiner Monographie auch explizit heißt (Kloss 1978: 5). In der ersten Fassung von 1952 trifft er noch die grundlegende Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten, wobei erstere als Bezugsrahmen eine ihr verwandte Kultursprache besitzen, während letztere unter einem „fremden“ Dach existieren. Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten. Nor‐ malerweise wird eine Mundart gesprochen von einer Bevölkerung, die als Schrift‐ sprache die der Mundart linguistisch zugeordnete Kultursprache gebraucht. […] In all diesen Fällen entwickelt sich die Mundart gleichsam im Gehege der ihr linguistisch zugeordneten Schriftsprache. […] Die Lage einer wilden Mundart ist grundlegend anders. Ihr Sprecher gebraucht eine Schriftsprache, die mit der Mundart linguistisch wenig oder gar nicht verwandt ist. […] Alle solche wilden Mundarten, welche dem hegenden Einfluß der nächstverwandten Kultursprache entzogen sind, pflegen im Laufe der Zeit ein besonderes Gepräge an‐ zunehmen, das von dem der ihr zugehörigen Schriftsprache und der von ihr gehegten Mundarten abweicht. (Kloss 1952: 21-22) Diese dichotomischen Begriffe zur Verdeutlichung der Tatsache, daß die Ent‐ wicklung einer Varietät in einem sprachsoziologisch anderen Kontext mit einer anderen Schriftsprache als Referenz anders verläuft als unter „normalen“ Um‐ ständen, unter denen verschiedene diatoptische Varietäten als Bezugspunkt eine ausgebaute Standardvarietät gleichen Ursprungs haben, finden in der weiteren Forschung keine Forstsetzung, sondern gerade die nur in der zugehörigen Fuß‐ note als alternativ Benennungen zu „wild“ und „gehegt“ vorgeschlagenen. 68 Den eigentlichen Begriff ‚Dachsprache‘ hat dann Goebl mit Verweis auf die ursprüngliche Metaphorik bei Kloss in einer Untersuchung zur normannischen 51 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 69 Aufgrund der Zurückhaltung seitens Goebls, was die erstmalige Verwendung des Be‐ griffs ‚Dachsprache‘ in einer Publikation anbelangt, mutmaßt Muljačić, daß womöglich Kloss diesen (evtl. auch im Gespräch mit Goebl) nur mündlich verwendet hatte, aber doch der eigentliche Urheber des Terminus ist (Muljačić 1989: 260). 70 Goebl (1975 : 154) führt den Begriff im Hinblick auf das Verhältnis der verschiedenen scriptae-Normen in Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden diatopischen Varietäten ein: „Soit dit entre parenthèses que les niveaux scripturaires occupent - sociolinguistique‐ ment parlant - un rang supérieur à celui de leurs corollaires dialectaux, et qu’ils font - en quelques sorte - fonction de ‚toiture‘, fait auquel, sur notre croquis, nous avons fait allusion par le choix du symbole iconique du triangle.“ 71 Goossens führt den Ausdruck overkoepelend element (‚überdachendes Element‘) zu‐ nächst recht beiläufig ein: „Nadat in de 17e eeuw de Nederduitse schrijftaal een zachte dood was gestorven, waren de dialecten can Noordoost-Nederland en Noord-Duitsland geen elementen meer van een diasysteem met het Nederduits als overkoepelend ele‐ ment, maar wel voor een kleiner deel van het Nederlandse diasysteem en voor een groter vam het Hoogduitse, dat van dat ogenblik af kortweg ‚Duits‘ genoemed kan worden“ (Goossens 1968: 17). Das deutsche Substantiv ‚Überdachung‘ hat er dann wohl ausge‐ hend von der zugehörigen niederländischen Form overkoepeling (dort nicht belegt) ge‐ prägt und gebraucht es dann drei Jahre später in einem historischen Kontext in Bezug auf die Herausbildung der deutschen Hochsprache: „Unter der Annahme jedoch, daß bereits erste Ansätze zur Vereinheitlichung der Schriftsprache als Überdachung ge‐ nügen, fängt das Deutsche mit dem Mittelhochdeutschen an“ Goossens (1971: 20). 72 „Das Deutsche ist ein Diasystem mit einer Kultursprache als übergeordnetem und ver‐ bindendem Element. Solange es eine Schriftsprache - auch in Ansätzen - noch nicht gibt, gehören zu diesem Diasystem diejenigen kontinentalwestgermanischen Sprach‐ formen, die charakteristische Elemente dieser Kultursprache enthalten. Sobald eine - werdende - deutsche Schriftsprache vorhanden ist, gehören zum Diasystem alle kon‐ tinentalwestgermanischen Sprachformen, die von ihr ‚überdacht‘ werden“ (Goossens 1971: 19). scripta eingeführt, 69 zunächst auf Französisch als toiture (Goebl 1975: 154), dann auch auf Deutsch - Ironie der Forschungsgeschichte, wieder „nur“ in einer Fuß‐ note (Goebl 1975: 154, FN 20). 70 Weiterhin im Rahmen dieses Bild des Daches verankert, wurde im Folgenden durch den Begriff der ‚Überdachung‘ bei Goossens (1971: 20) noch die Prozeß‐ haftigkeit bei der Bildung eines Daches hervorgehoben, wie es im Zuge der Entwicklung und des Ausbaus von Varietäten zu Standardbzw. Hochsprachen zu beobachten ist bzw. das daraus resultierende Ergebnis. 71 Es ist wiederum Goossens, der die beiden Konzepte Diasystem und Dach‐ sprache - und hier sei auf eine wichtige Schnittstelle von varietätenlinguisti‐ scher und soziolinguistischer Perspektive hingewiesen - in Zusammenhang bringt und auf konkrete Sprachkonstellationen appliziert. 72 Im Weiteren sind es u. a. Wissenschaftler wie Kramer (z. B. 1980, 1984) und Muljačić (z. B. 1984, 52 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 73 Für Überdachungsprozesse im Mittelalter im Zuge des Ausbaus romanischer Varietäten zur Standardsprache cf. Selig (2015). 74 Hamers / Blanc (2000: 6) treffen die grundsätzliche begriffliche Unterscheidung zwi‐ schen ‚Bilingualität‘ und ‚Bilingualismus‘, insofern sie unter ‚Bilingualität‘ nur die in‐ dividuelle Zweisprachigkeit verstehen (psycholinguistische Perspektive), unter ‚Bilin‐ gualismus‘ jedoch sowohl die individuelle als auch die soziale (soziolinguistische Perspektive). Im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit wäre es wünschenswert konsequent die Unterscheidung individuell (Bilingualität, Polylingualität) und sozial (Bilingua‐ lismus, Polylinguismus) aufrecht zu erhalten. Zur Abgrenzung von Multilingualismus und Plurilingualismus cf. Boeckmann / Lasselsberger (2011: 80). 1989), die die Dachmetaphorik in ihrer ganzen Breite verwenden und das Kloss’‐ sche System auf vielfältige Szenarien anzuwenden versuchen. 73 Es gibt aber sicherlich Fälle, wo die Konzeption des ‚Daches‘ an ihre Grenzen stößt, sei es aufgrund des nicht geklärten Status der einzelnen Idiome (z. B. Aro‐ munisch im Verhältnis zu Dakorumänisch, Gaskognisch) oder unklarer sprach‐ soziologischer Zuordnungen (z. B. Subvarietäten des Ladinischen). Ein anderer Bereich, der mit den von Kloss angesprochen Sprachkonstellati‐ onen in Zusammenhang steht und der auch für die in dieser Arbeit einzuneh‐ mende Perspektive auf eine komplexe historische Situation - sowohl in Bezug auf die Antike, als auch die Renaissance - grundlegende Bedeutung hat, ist der der Mehrsprachigkeit. Prinzipiell ist es üblich zumindest zwischen individueller Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualität, Multilingualität) und sozialer Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualismus, Polylingualismus) zu unterscheiden. 74 In einer differenzierteren Sichtweise unterscheidet Lüdi (1996: 234) vier Arten der Mehrsprachigkeit, und zwar 1) individuelle, 2) territoriale, 3) soziale und 4) institutionelle. Unter territorialer Mehrsprachigkeit versteht er dabei das Ne‐ beneinander verschiedener Sprachen in einem bestimmten Gebiet und führt als Beispiel die Koexistenz von Niederländisch und Französisch in Brüssel an. Die soziale Mehrsprachigkeit liegt dann vor, wenn mehrere Sprachen mit unter‐ schiedlichen Funktionen in einer Gesellschaft in Gebrauch sind, also eine di- oder polyglossische Situation vorliegt, und institutionelle Mehrsprachigkeit findet sich in nationalen oder internationalen Verwaltungseinheiten wieder, wie beispielsweise der Europäischen Union. Eine entscheidende Frage, unabhängig von der Anzahl der Arten von Mehr‐ sprachigkeit ist, welche Kriterien dieser zugrundeliegen, d. h. ab wann ist ein Individuum oder eine Gesellschaft mehrsprachig und wie ist die Sprachkompe‐ tenz in den jeweiligen Sprachen? Lüdi plädiert dabei für eine weite Auslegung des Begriffes, der sich hier anzuschließen ist, da dies der Realität zahlreicher Gesellschaften am ehesten entspricht. 53 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 75 Lüdi (1996: 234) referiert hier auf Definitionen von individueller Zwei- oder Mehrspra‐ chigkeit, gemäß denen diese nur dann vorliegt, wenn die Sprachen in frühester Kindheit erworben wurden und in beiden auch zum Erhebungszeitpunkt eine nahezu identische Sprachkompetenz festzustellen ist. 76 Zur aktuellen, individuellen Mehrsprachigkeitsforschung cf. Müller / Ku‐ pisch / Schmitz / Cantone (2011), zur Migrationslinguistik cf. Krefeld (2004), zur Mehr‐ sprachigkeit im Mittelalter cf. Wilhelm (2007: 83) und zur Mehrsprachigkeit und Mig‐ ration in der Antike cf. Schöntag (2013: 301-302). Gegenüber diesen ‚engen‘ Mehrsprachigkeitsdefinitionen, 75 welche sich am idealen bilingualen Sprecher / Hörer als an einem theoretischen Konstrukt orientieren, hat sich heute in der Regel eine ‚weite‘ Definition durchgesetzt. Danach ist mehrsprachig, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die anderen wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen […]. (Lüdi 1996: 234) Ausgehend von der Tatsache, daß sowohl für die zeitgenössischen Gesell‐ schaften, als auch - und dies wird nicht selten idealisiert - für die historischen Gesellschaften, eine wie auch immer geartete Mehrsprachigkeit (unter Ein‐ schluß der Varietäten) den Normalfall darstellt, 76 erweist sich diese hier weit‐ gefaßte Auslegung des Begriffes gerade auch für vorliegende Untersuchung als brauchbar und sinnvoll. Eine spezifische Betrachtung innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung ver‐ dient der Begriff der ‚Diglossie‘, der allgemein als eine funktionale Zweispra‐ chigkeit verstanden wird und schon 1885 erstmals von zwei Gräzisten (Emma‐ nuil Roidis, Jean Psichari) verwendet wurde (cf. Kremnitz 1996: 246), aber dann erst 1928 Eingang in eine Publikation von Jean (Iannis) Psichari auf Französisch fand, die die Grundlage für seine weitere Verbreitung schuf. La diglossie - le fait pour la Grèce d’avoir deux langues - ne consiste pas seulement dans l’usage d’un double vocabulaire, qui veut qu’on appelle le pain de deux noms différents: artos, quand on est un homme instruit, psomi, quand on est peuple; la di‐ glossie porte sur le système grammatical tout entier. Il y a deux façons de prononcer; en un mot, il y a deux langues, la langue parlée et la langue écrite, comme qui dirait l’arabe vulgaire et l’arabe littéral. (Psichari 1928: 66) Psichari (1928: 65) bezieht sich hierbei auf die beiden Varietäten des Griechi‐ schen, nämlich Katharevousa, die im 19. Jahrhundert geschaffene, an das alt‐ griechische angelehnte Bildungssprache, und das Dimotiki, die Umgangssprache des Landes. Dabei erfaßt er zweifelsfrei, wie obiges Zitat deutlich macht, daß es 54 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 77 „Des pédants, en tourbillon, se sont abattus sur cette pauvre Grèce dont ils ont com‐ plètement obnubilé la claire vue. Ils ont créé la diglossie, nous verrons tout à l’heure dans quelles conditions précises et sous l’obsession de quels mirages. Sans doute les intentions étaient louables. Mais les esprits étaient mal préparés; ils manquaient de culture générale“ (Psichari 1928: 65-66). 78 Interessanterweise verweist Ferguson (1959: 325-326) zwar explizit auf Kloss in Bezug auf dessen Vorarbeiten zur Standardisierung, den Begriff ‚Diglossie‘ verortet er aber nur vage als ursprünglich französischen und Psichari erwähnt er nur als einen der Autoren zur Sprachenfrage des Griechischen. 79 Ferguson (1959: 330-336) macht das, was Kloss später als ‚höheren Ausbaugrad‘ be‐ zeichnen wird (cf. supra), an einer komplexeren Grammatik der H-Varietät fest, an einem anderen Lexikon und Lautsystem sowie der Tatsache, daß die literarische Pro‐ duktion in dieser Varietät erfolgt. sich um zwei unterschiedliche Varietäten handelt. Ohne daß er explizit von Funktionsteilung der Varietäten spricht, legt er aber durch seine Darstellung den Grundstein für die späteren Auffassungen von Diglossie, mit der Einschrän‐ kung, daß bei ihm noch eine wertende Konnotation mitschwingt. 77 Den Ausgangspunkt für die moderne Forschung bilden schließlich die Über‐ nahme des Begriffs ‚Diglossie‘ durch Ferguson (1959) und seine weiteren Aus‐ führungen, welche Sprachkonstellationen er darunter zu verstehen gedenkt. Er verwendet den Terminus zunächst mit Verweis auf den Kontext der Standardi‐ sierungsprozesse, wie sie bei Kloss geschildert sind, und bringt dann die Mehr‐ sprachigkeit ins Spiel, indem er als Untersuchungsgegenstand folgendes angibt: „[…] standardization, where two varieties of a language exist side by side throughout the community, with each having a definite role to play“ (Ferguson 1959: 325). Diesen Tatbestand der Funktionsdifferenzierung der beiden Varie‐ täten bezeichnet er dann als ‚Diglossie‘. 78 Neben der funktionalen Differenzie‐ rung der beiden Varietäten in einer Sprachgemeinschaft ist das unterschiedliche Prestige ein entscheidender Faktor. Ausgehend von diesem Kriterium be‐ zeichnet er daher die angesehenere Varietät, die dann meist auch die besser ausgebaute und standardisierte ist, 79 als high variety (H) und die weniger pres‐ tigereiche, die in der Regel hauptsächlich die Alltagskommunikation abdeckt, als low variety (L) bzw. insofern es sich um mehrere handelt als low varieties. For convenience of reference the superposed variety in diglossia will be called the H (‚high‘) variety or simply H, and the regional dialects will be called L (‚low‘) varieties or, collectively, simply L. (Ferguson 1959: 327) Die Beispiele, die er dazu aufführt, sind zum einen die schon bei Psichari gege‐ benen, also Griechisch (Katharevousa vs. Dimotiki) und Arabisch (klassisches Arabisch vs. regionale, arabische Umgangssprache) sowie die Sprachsituation 55 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 80 Heutzutage würde man bei dem französischbasierten, haitianische Kreol wohl eher von einer eigenen Sprache sprechen und nicht mehr - wie das Ferguson impliziert - von einer Varietät des Französischen. Insofern erscheint dieses Beispiel nach einigen Jahr‐ zehnten Forschung zur Kreolistik als nicht mehr so glücklich und dezidiert von einer anderen Qualität. 81 Entgegen den Ausführungen von Kremnitz (1996: 247-248) verwendet Gumperz den Begriff ‚Diglossie‘ selbst nicht (zumindest nicht in den dort angegebenen Studien), die dahinterstehende Idee scheint bei ihm jedoch relativ klar durch, zumal er auch auf Ferguson referiert, allerdings nicht in dem Umfang wie retrospektiv vielleicht anzu‐ nehmen wäre. Seinen Grundgedanken, der sicherlich Anleihen bei Ferguson hat, for‐ muliert er folgendermaßen: „In bilingual or bi-dialectal societies, however, choice bet‐ ween two dialects or two languages may fulfill social functions similar to stylistic alternation in monolingual societies“ (Gumperz 1971: 30). in der Schweiz mit Standarddeutsch und Schwyzerdeutsch und auf Haiti, wo neben dem français (standard) das créole haïtien gesprochen wird. 80 Für die Abgrenzung von einer „normalen“ Sprachgemeinschaft, die über einen ausgebauten Standard und dazugehörige Dialekte verfügt (stan‐ dard-with-dialects) führt Ferguson (1959: 338) drei Merkmale auf: 1. Es gibt eine nennenswerte Anzahl von kulturell wichtigen Schlüssel‐ texten, wobei diese Literatur in einer Varietät verfaßt wurde, die der Va‐ rietät, die die meisten sprechen, nahesteht, 2. Literalität ist in dieser Gesellschaft auf eine kleine Elite beschränkt, 3. es ist eine gewisse Zeit vergangen (ein paar Jahrhunderte), bis die in 1) und 2) geschilderte Konstellation eingetreten ist. Die aus diesen Merkmalen erwachsende Diglossie-Situation kann durchaus stabil sein und muß auch nicht als „Problem“ empfunden werden, dennoch ist es möglich, daß unter bestimmten Voraussetzungen (cf. Ferguson 1959: 338) eine Entwicklung in Richtung auf ein standard-with-dialects-Verhältnis in Gang kommt. Das von Ferguson (1959) mit den hier kurz skizzierten Grundprinzipien erar‐ beitete Konzept der ‚Diglossie‘ bildete das Referenzmodell für die weitere For‐ schung zu diesem Thema. Durch die Anwendung auf verschiedenen Sprach- und Varietätenkonstellationen ergaben sich dabei Adaptionen und Veränderungen, die dem ursprünglichen Gedanken nicht mehr ganz entspra‐ chen. So appliziert beispielsweise Gumperz (1962, 1964, 1971) das Diglossie-Kon‐ zept auf den Gebrauch von Varietäten, die zwar unterschiedliche Funktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft haben, aber nicht mehr nur wie bei Fer‐ guson rein diatopischer Natur sind und zudem bei den Sprechern nicht mehr als unterschiedliche Idiome wahrgenommen werden. 81 56 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 82 „Gumperz […] is primarily responsible for our current awareness that diglossia exists not only in multilingual societies which officially recognize several languages but, also, in societies which are multilingual in the sense that they employ separate dialects, registers or functionally differentiated language varieties of whatever kind“ (Fishman 1967: 30). 83 Fishman geht allerdings nicht darauf ein wie die Sprachkompetenz der native speaker des Spanischen - falls man in diesem Kontext eine einzelne Muttersprache überhaupt zuordnen kann - einzuschätzen ist, es scheint, als ob er diese implizit als monolingual ansieht, was aber ja nicht zwangsläufig so sein muß. Gemäß den Zahlen bei Ka‐ batek / Pusch (2011: 23) sprechen nur 5 % der Bevölkerung kein Spanisch, d. h. 95 % spre‐ chen Guaraní, aber auch 75 % Spanisch. Die prominenteste Modifizierung des Diglossie-Modells ist zweifellos die von Fishman (1967), dessen wichtigste Neuerung darin besteht, daß er die Notwen‐ digkeit der Verwandschaft der beiden im Fokus stehenden Varietäten ablehnt. Bei dieser Auffassung, die er nicht expliziert, die aber durch die Beispiele deut‐ lich werden, lehnt er sich an die Erweiterung von Gumperz an. 82 Fishman ver‐ sucht auch dahingehend eine weitere Differenzierung von mehrsprachigen Sprachgemeinschaften vorzunehmen, indem er eine Matrix entwirft, die fol‐ gende Fälle von koexistierenden Varietäten und Sprachen aufweist: 1) both di‐ glossia and bilingualism, 2) diglossia without bilingualism 3) bilingualism without diglossia, 4) neither diglossia, nor bilingualism (Fishman 1967: 30). Der erste Fall wird dabei u. a. an der Konstellation Spanisch und Guaraní in Paraguay exemp‐ lifiziert, insofern fast das ganze Land zweisprachig ist, aber die beiden Idiome funktional verschieden sind. Das prestigereiche Spanisch sei dabei für die Land‐ bevölkerung Bildungssprache, während die Guaraní-Sprecher, die vom Land in die hispanophone Stadt gezogen sind, ihr ursprüngliche Sprache weiterhin zur in-group-Kommunikation verwenden (cf. Fishman 1967: 31). 83 Das zweite Sze‐ nario wäre beispielsweise die Situation in weiten Teilen Europas vor dem 1. Weltkrieg, als die H-Varietät der Elite das Französische war (cf. Fishman 1967: 33). Zur Konstellation von ‚Bilingualismus ohne Diglossie‘ nennt Ferguson kein Beispiel, beschreibt allgemein historische Situationen wie die der modernen Industriegesellschaften, in denen durch Zuwanderung verschiedene Arten von Zweisprachigkeit auftreten, die aber bald zugunsten der Mehrheitssprache auf‐ gegeben wird, so daß hier eher ein Transitionsstadium vorläge (cf. Fishman 1967: 35). Die letzte Konstellation beschreibt den seltenen Fall einer isolierten Sprachgemeinschaft (ohne Sprachkontakt), welche im Lichte einer historischen Betrachtung meist nicht Bestand haben kann (cf. Fishman 1967: 36-37). Es bleibt diesbezüglich festzuhalten, daß das Schema von Ferguson bei der Anwendung auf zahlreiche Situationen verschiedener Sprachgemeinschaften, aktuelle wie historische, gewisser Differenzierungen bedarf, da die Konstellati‐ 57 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 84 Zu einer recht harschen Kritik cf. Dittmar (1973: 218-219): „Diese Klassifizierungen sind jedoch oberflächlich: sie erwecken den Schein, als sei die Sprache urwüchsig einmal bilingual, einmal diglossie-spezifisch ausgeprägt oder beides zugleich. Jedenfalls bleiben die Gründe für diese Ausprägung unreflektiert, obwohl sie im Falle der Diglossie sicherlich zu einem Teil auf die ökonomischen und Machtverhältnisse in Gesellschaften zurückzuführen sind.“ onen in ihrer Charakteristik zum Teil erheblich voneinander abweichen. Den‐ noch ist auch zu konstatieren, daß die Matrix von Fishman zum einen eine „Verwässerung“ des ursprünglichen Diglossiebegriffs nach sich zieht und zum anderen seine Unterscheidung nicht ganz widerspruchsfrei ist. 84 Auch Kloss (1976: 315-316) greift die wichtig gewordene Unterscheidung von Diglossie vs. Bilingualismus auf, und versucht dabei die Aporie zwischen der Auffassung von Ferguson und Fishman dahingehend zu lösen, daß er von ‚Bin‐ nendiglossie‘ (engl. in-diglossia) und ‚Außendiglossie‘ (engl. out-diglossia) spricht, indem er unter ersterer die Diglossie von verwandten Varietäten ver‐ steht und unter letzterer, die von unverwandten. Zudem weist er auf den Fall der Triglossie hin, wobei er einwendet, daß hier wiederum wie in der Konstel‐ lation in Luxembourg in der Regel verschiedene Diglossie-Situationen zugrun‐ deliegen würden, denn zwischen Letzeburgisch und Schriftdeutsch bestehe ein binnendiglossisches Verhältnis, zwischen Letzeburgisch und Französisch hin‐ gegen ein außendiglossisches (Kloss 1976: 322). Der Begriff ‚Diglossie‘, durch den ein wichtiger soziolinguistischer Aspekt in die Forschung zu bilingualen Gesellschaften eingebracht wurde, hat im Fol‐ genden Eingang in weitere Betrachtungen und Modelle gefunden, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (cf. dazu Kremnitz 1996: 249-254), die aber allgemein die Notwendigkeit unterstreichen, den Kerngedanken ‚Funk‐ tionsdifferenzierung‘ zu beachten, was auch für die in vorliegender Betrachtung zu behandelnden Sprachkonstellationen wichtig ist. Generell sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß bei einer Erweiterung und Modifizierung des ursprünglichen Konzeptes von Ferguson die Gefahr besteht, den Grundgedanken durch ein Zuviel an Nuancierungen zu schwächen und es womöglich ratsamer ist, auf die einzelne Nuancen dann in den konkreten Anwendungsfällen einzugehen, ohne unbedingt jeden anders gearteten Kasus zum Modell zu erheben. Eng verknüpft mit dem Bereich der Mehrsprachigkeit und der Diglossie ist ein weiteres wichtiges Konzept der Soziolinguistik, nämlich das der ‚Domäne‘. Die Tatsache, daß bestimmte Varietäten oder Sprachen in je unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens angewendet werden, war schon länger eine 58 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 85 „Andererseits wird man danach unterscheiden, welche Rolle jeweils jede der Sprachen spielt, ob sie im Haus, auf dem Kinderspielplatz, in der Schule, in der Kirche, in der Staatsverwaltung usw. gesprochen wird. Wichtig ist vor allem, ob eine Sprache nur Unterrichtsfach weniger Stunden ist, wie die Chemie, oder ob sie Unterrichtssprache in allen Fächern ist“ (Schmidt-Rohr 1932: 182). 86 Schmidt-Rohr (1932: 182-184) greift damit, ohne dies begrifflich entsprechen zu fassen, zweifellos dem Phänomen der Überdachung vor, nicht zuletzt weil er auch deutlich erkennt, daß das Prestige bei den Sprachkonstellationen eine Rolle spielt - bei ihm „Rang“ (Schmidt-Rohr 1932: 182) - und Unterscheidungen wie Großsprache vs. Klein‐ sprache trifft sowie die Art der Mundart in ihrem Verhältnis zur Hochsprache berück‐ sichtigt. 87 Fishman übersetzt die Kategorien Schmidt-Rohrs mehr oder weniger wörlich und legt damit den Grundstein für seine Domänen: „[…] the family, the playground and the street, the school (subdivided into language of instruction, subject of instruction, and language of recess and entertainment), the church, literature, the press, the military, the courts, and the governmental bureaucracy (‚Verwaltung‘)“ (Fishman 1964: 37). 88 Die Tatsache, daß diese hier angegebenen Domänen mutatis mutandis kanonisch ge‐ worden sind, zeigt sich beispielsweise an der Auflistung bei Veith (2005: 2002). Grunderkenntnis der Mehrsprachigkeitsforschung, bis sie schließlich von Fishman (1964) mit dem Begriff domain belegt wurde. That languages (or language variants) sometimes replace each other, among some speakers, particularly in certain types or domains of language behavior, under some conditions of intergroup contact, has long aroused curiosity and comment. (Fishman 1964: 32) Dabei beruft sich Fishman (1964: 37, FN 11) auf verschiedene ältere Vorarbeiten bekannter Kollegen der amerikanischen Forschung zu variation und sociolingu‐ istics (z. B. Haugen, Weinreich), aber auch auf eine vergleichsweise sehr frühe Untersuchung von Schmidt-Rohr (1932), der in seinem Kapitel zur Mehrspra‐ chigkeit Überlegungen zum wechselnden Gebrauch von (deutscher) Hoch‐ sprache und dazugehörigem oder fremdem Dialekt anstellt. In der darauffol‐ genden Tabelle, in der er u. a. auf die Sprachsituationen in der Schweiz, Südtirol und Belgien abhebt, gibt er dann folgende Bereiche der Sprachverwendung an, wobei der Schule eine besondere Stellung zukommt: 85 Familie, Spielplatz, Straße, Schule, Kirche, Literatur, Zeitung, Heer, Gericht, Verwaltung. 86 Dies gemahnt deutlich an die im Gefolge von Fishman (1965: 72-75) 87 schließ‐ lich bei Cooper (1969: 196) kanonisch geworden Domänen home (family), neigh‐ bourhood, church, school, work sphere. 88 In diesem Verständnis, d. h. der Abhängigkeit der Wahl einer bestimmten Va‐ rietät oder Sprache von Faktoren, die sich letztlich auf Situationen, Themen und Orte der Sprachverwendung gründen, ist auch folgende Definition im Handbuch 59 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 89 Zu Adaption an die aktuelle Gesellschaft cf. Schöntag (2009: 113-114), mit dem Hinweis auch die in den modernen Sprachgemeinschaften immer mehr Raum einnehmende Domäne ‚Freizeit‘ stärker bzw. überhaupt zu berücksichtigen, samt ihren einzelnen Teilfeldern (z. B. Sportarten, Musik, allgm. Jugendtrends mit in-group Charakter). In manchen Ländern Mittel- und Nordeuropas könnten hingegen die Domänen ‚Kirche‘ oder ‚Armee‘ (Abbau der Wehrpflicht) eine zunehmend geringere Rolle spielen. Was die Domäne ‚Nachbarschaft‘ anbelangt, so spielt diese unter Umständen in der Ano‐ nymität einer Großstadt und der allgemeinen Tendenz zur Individualität keine Rolle, kann aber durch einen Parameter wie Freundeskreis oder Bekanntenskreis ersetzt oder ggf. ergänzt werden. Soziolinguistik zu sehen, die die aktuelle Forschungsauffassung adäquat wider‐ gibt: Domänen (engl. domains) des Sprachgebrauchs oder der Sprachwahl sind definiert als abstrakte Konstrukte, die durch zueinander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind […]; sie bestimmen die Wahl einer Sprache oder einer Variante in einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft mit. Beispiele für Domänen sind Fa‐ milie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kirche und staatliche Verwaltung. Art und Anzahl der Domänen können je nach Sprachgemeinschaft und Kultur variieren. (Werlen 1996: 335) Neben der weitgehend unumstrittenen Kerndefinition sei hier die Aufmerk‐ samkeit vor allem auf die letzte Bemerkung zur möglichen Variation der Do‐ mänen gerichtet. Es erscheint grundlegend, daß zur adäquaten Beschreibung des Gebrauchs einer Sprache der jeweilige gesellschaftliche Kontext richtig er‐ faßt wird, d. h. daß a priori der Frage nachzugehen ist, welche Bereiche innerhalb einer Gesellschaft dominant und konstitutiv sind. Dabei werden Adaptionen der immer wieder genannten Grunddomänen nötig sein, und zwar im Hinblick so‐ wohl auf aktuelle, als auch historische Konstellationen sowie solchen, die nicht den hier zugrundegelegten westlichen Gesellschaftsformen entsprechen. Dementsprechend könnte eine Zusammenstellung von Domänen der Sprach‐ verwendung für moderne europäische Industriegesellschaften und ihren Ent‐ sprechungen folgendermaßen aussehen: Familie, Nachbarschaft bzw. Freundes- und Bekanntenkreis, Arbeitsplatz, Kirche bzw. religiöse Gemeinschaft, Schule, Universität bzw. Ausbildungsstätte, Militär, (staatliche) Verwaltung, Freizeit.  89 Wichtige Grundlagen der Soziolinguistik, die auch Auswirkungen auf die Varietätenlinguistik und ihre Betrachtungsweise hatten, wurden durch die Stu‐ dien von Labov (z. B. 1966, 1972, 2010) geschaffen. Labov, ein Schüler Weinreichs (1953), ergänzte dessen eher theoretische Analysen zur Mehrsprachigkeitsfor‐ schung sowie die traditionelle Dialektologie europäischer Provenienz um au‐ ßersprachliche, soziale Faktoren, denen er eine besondere Stellung beimaß. 60 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 90 Zur sogenannten Defizithypthese von Bernstein cf. Nabrings (1981: 91-93) sowie Sinner (2014: 12); zum Unterschied zwischen Differenzkonzeption und Defizitkonzeption cf. Schlieben-Lange (1978: 73-74). 91 Bernstein (1960: 271) spricht von verschiedenen modes des Sprechens, abhängig von der jeweiligen Gesellschaftsschicht sind. 92 Labov (1972: 259) ist sehr explizit in seinem Vorwurf: „[…] we will find some linguists who spend all their time analyzing their intuitions about language […].“ Er zielt damit u. a. auf die im Entstehen begriffene Generativistik (cf. Chomsky ab 1957/ ²2002), die vor allem in ihrer Anfangsphase soziale Bedingungen der Sprecher systematisch ausblendet (cf. Chomsky 1965: 3). 93 Auch in aktuellen Studien stellt er diese Priorität immer wieder heraus, die er auch als Grundlage zur Beobachtung von Sprachwandelprozessen bestimmt: „Chapter 3 [einer Untersuchung zu Aussprachegewohnheiten in Philadelphia] then yielded a profile of stable sociolinguistic variables across age, gender, social class and neighbourhood that will serve as the template against which change in progress can be measured“ (Labov 2010 II: 149). But linguistic theory can no more ignore the social behavior of speakers of a language than chemical theory can ignore the observed properties of the elements. (Labov 1972: 259) Was die Abhängigkeit von soziokulturellen Variablen anbelangt, so stützt sich Labov auf die Arbeiten Bernsteins, 90 der ab Ende der 1950er Jahre die social class als maßgeblichen Faktor in die Forschung einbringt, ohne daß er allerdings dessen sozialen Determinismus zu übernimmt. 91 Labov wendete sich mit dem von ihm vorsichtig formulierten social behaviour als Parameter explizit gegen die bis dahin vor allem (aber nicht nur) in der ame‐ rikanischen Forschung vorherrschende Tendenz, linguistische Theorien und Modelle auf reine Introspektion des Wissenschaftlers zu gründen. 92 Er betrieb demgemäß Feldstudien, wie auch schon europäische Linguisten, allerdings mit dem Fokus auf dem Sprachbenutzer und dessen gesellschaft‐ lichem Hintergrund, der zur Erklärung bestimmter sprachlicher Phänomene bzw. deren Verbreitung diente. Bekannt wurde vor allem seine Untersuchung zur Aussprache des r-Lautes in New York, dessen verschiedenen Varianten (in unterschiedlicher lautlicher Umgebung) Rückschlüsse auf die soziale Stratifi‐ kation zuließen, da die verschiedenen Aussprachevarianten an einen je unter‐ schiedlichen Grad von Prestige geknüpft sind (Labov 1966: 63-89). Mit diesem Schwerpunkt auf einzelnen Sprachphänomenen, in Korrelation mit der gesell‐ schaftlichen Verankerung der Sprecher, 93 begründete er die Variationslinguistik amerikanischer Prägung, die im Folgenden maßgeblichen Einfluß auf die euro‐ päische Sozio- und Varietätenlinguistik nahm. In der Tradition Labovs stehen auch große Teile der germanistischen For‐ schung, aus der heraus letztendlich wichtige Impulse zur Soziolinguistik und 61 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 94 Zu einer Übersicht weiterer hier nicht berücksichtigter Modelle, an denen auch gut das Ineinandergreifen von soziolinguistischen und varietätenlinguistischen Ansätzen deut‐ lich wird, cf. Sinner (2014: 39-90). 95 Die Rezeption des Ansatzes von Berruto in Italien ist vergleichbar mit demjenigen Koch / Oesterreichers in der deutschsprachigen Romanistik, was sich nicht nur durch die auch bei Berruto wiederholende Selbstreferenz zeigt (z. B. Berruto 2008), sondern auch durch die Aufnahme und Akzeptanz in anderen Handbüchern (Zur Architektur des Italienischen nach Berruto cf. beispielsweise Sobrero / Miglietta 2009: 57-60). Nicht zu vergessen ist dabei auch die gegenseitige Einflußnahme beider Modelle. 96 Dies wird damit begründet, daß die „differenziazione geografica abbia un ruolo ‚primi‐ tivo‘, a parte“ bzw. „la dimensione diatopica è stata messa sullo sfondo e considerata in un certo senso a priori“ (Berruto 1987: 20). Varietätenlinguistik entstanden, die dann auch für die romanistische Perspek‐ tive, insbesondere die varietätenlinguistische, d. h. vor allem in Bezug auf die Erweiterung und Präzisierung des Diasystems von Bedeutung sind (cf. z. B. Hammarström 1967; Nabrings 1981). Zum Abschluß des selektiven Überblicks zu einigen wichtigen Positionen und Grundkonzepten der Soziolinguistik, und zwar vor allem solchen, die in Zu‐ sammenhang mit denen der Varietätenlinguistik stehen und die im Folgenden von Belang sein werden, 94 sei auf die Arbeiten von Berruto (z. B. 1987, 2003, 2008) verwiesen. 95 Hier schließt sich der Kreis insofern, als Berruto unter dem label der sociolinguistica innovative Erklärungsansätze zur Strukturierung des Varietätenraumes bietet. Berruto (1987: 21) entwirft ein Modell des Varietäten‐ raumes, das zwar einerseits nur die Architektur des Italienischen abbilden soll (l’italiano contemporaneo), andererseits implizit doch einen allgemeinverbind‐ licheren Anspruch erhebt. Im Gegensatz zu Coseriu bzw. Koch / Oesterreicher ordnet er dabei die verschiedenen Dimensionen nicht übereinander an, sondern stellt die unmarkierte Standardvarietät (italiano standard / neo-standard) ins Zentrum seines Schaubildes, welche von diametralen Achsen der anderen Va‐ rietäten (diastratico, diafasico, diamesico) durchkreuzt wird. Dabei wird die di‐ atopische Dimension völlig ausgeklammert, 96 hinzu kommt jedoch die diame‐ sische nach Mioni, die bei Koch / Oesterreicher als unmarkierte Mündlichkeit / Schriftlichkeit inkorporiert ist (cf. supra). Über den Status der Diamesik ist sich Berruto jedoch selbst unsicher: Il riconoscimento dell’autonomia della dimensione diamesica non è del tutto chiarito in sede teorica. Indubbiamente, uso scritto e uso parlato rappresentano due grandi classi di situazioni d’impiego della lingua: e questo è un buon argomento per ritenere la diamesìa una sottocategoria della diafasìa. D’altra parte, è anche vero che l’oppo‐ sizione scritto-parlato taglia trasversalmente la diafasìa e le altre dimensioni, e non è riconducibile completamente all’opposizione formale-informale. (Berruto 1987: 22) 62 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 97 Zur Entstehung der Diamesik als eigene Dimension in der italienischen Linguistik - wohl aus der Diskussion um das italiano popolare und das italiano regionale sowie der zunehmenden Beschäftigung mit der Mündlichkeit im Italienischen (und Französi‐ schen) - cf. Pistolesi (2015: 27-28). Dabei ist zu beachten, daß in den italienischen Mo‐ dellen weder die Kategorien ‚Konzeption‘ und ‚Medium‘, noch ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ existieren, sofern sie sich nicht explizit darauf beziehen. 98 Das deckt sich mit der entsprechenden Feststellung bei Koch / Oesterreicher (2001: 605, cf. supra). 99 Krefeld (2010b: 68, FN 21) verweist bei dieser Art der Betrachtung auf eine italienische Tradition und verortet Berruto in dieser. 100 Zur Kritik am Modell Berrutos cf. beispielsweise Radtke (2003: 363), der ihm vorhält, „funktionale Variation“ und „mediale Kommunikationsbedingung“ zu vermischen, einen Vorwurf, den man auch Koch / Oesterreicher (2011) machen könnte, die ebenfalls Mündlichkeit / Schriftlichkeit in die Dimensionen der Varietäten integrieren. Zu wei‐ teren kritischen Stimmen, insbesondere in Bezug auf das Achsenmodell cf. Murelli (2011: 32-33) und die dort angegebenen Autoren. Murelli selbst kritisiert die fehlende Im Gegensatz zu dieser Aussage stellt Berruto (1987: 21) jedoch die diamesische Dimension in seiner Graphik als autonome Achse innerhalb der Architektur der Sprache dar. In einem späteren Modell (cf. Berruto 2008: 11) verwirklicht er dann seine offensichtliche Präferenz zur Sicht der Diamesik als Teilmenge der Dia‐ phasik, allerdings unter Beibehaltung seines alten Schaubildes (cf. Berruto 2008: 12). 97 Ohne die Gesamtkonzeption der Gliederung des Varietätenraumes bei Ber‐ ruto en detail besprechen zu können, sei aber hervorgehoben, daß die Idee einer zentralen Position des Standards etwas für sich hat, weil die Standardvarietät tatsächlich auch die Referenzvarietät für alle anderen Varietäten darstellt und damit auch im Bewußtsein der Sprecher eine zentrale Stellung einnimmt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist bei Berruto (1987: 22) auch der Hinweis, daß der Standard nicht im centro geometrico des Modells zu lokalisieren sei, sondern leicht in Richtung des „quadrante scritto, formale, alto“ verschoben ist. 98 Ein grundlegendes Problem bei Berruto ist die als a parte konzipierte Dia‐ topik, was zwar der schon bei Coseriu festgestellten Tatsache Rechnung trägt, daß allein der Dialekt ein komplett eigenständiges Sprachsystem ist (v. supra), während die anderen Varietäten sich nur durch ein gewisses Maß an markierten Elementen vom Standard unterscheiden (cf. Krefeld 2020: 241), aber dadurch fehlt die bei Coseriu und Koch / Oesterreicher hervorgehobene wichtige Inter‐ dependenz der diatopischen Ebene mit der diastratischen und diaphasischen (und diamesischen). 99 Dies vermittelt gerade für das Italienische, das im Gegen‐ satz zum Französischen sehr stark durch die Variation im Raum geprägt ist, trotz der impliziten Berücksichtigung (cf. italiano regionale popolare), ein schiefes Bild. 100 Merkwürdig erscheint auch die Zuordnung der Technik- und Wissen‐ 63 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle Abgrenzung des Standards vom Non-Standard in Bezug auf die Verortung desselben auf den Achsen der Varietäten, stellt aber vielleicht eine zu hohe Anforderung an ein graphisches Modell. 101 Berruto (1987: 21) diskutiert folgende neun Varietäten, die entlang seiner drei Achsen angesiedelt sind: 1. italiano standard letterario, italiano neo-standard (italiano regionale colto medio), 3. italiano parlato colloquiale, 4. italiano regionale popolare, 5. italiano for‐ male trascurato, 6. italiano gergale, 7. italiano formale aulico, 8. italiano tecnico-scientifico, 9. italiano burocratico. 102 Zum einen fragt man sich hier wieso vier oder (sic! ) fünf, zum anderen, ob dann wohl jede weitere Differenzierung obsolet wäre? Zu einer allgemeinen kritischen Einschät‐ zung des Modells von Berruto cf. Wunderli (2005: 72). schaftssprache (italiano technico-scientifico) sowie der Verwaltungssprache (ita‐ liano burocratico) zur diaphasischen Ebene, die in anderen Modellen meist als Gruppensprachen und nicht als reines Stilregister gesehen werden. Unabhängig von der Frage der Adäquatheit des Achsenmodelles fehlt hierbei weitgehend - und das kann man mutatis mutandis durchaus analog zum Modell Koch / Oes‐ terreicher sehen - eine dezidierte Ausarbeitung (bei Berruto wäre das zunächst nur für das Italienische zu leisten) der einzelnen Varietäten, ihrer Bezeichnungen und ihrer Merkmale sowie deren Zuordnung. Daß Berruto (1987: 26) unter im‐ pliziter Berufung auf das sogenannte Ockhamʼsche Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), welches er lapidar als allgemeines saggio principio vorstellt (cf. auch Kap. 6.1.5), seine neun Beispielvarietäten auf nur vier oder fünf reduzieren möchte, 101 ist gerade in diesem Falle wohl kaum im Sinne des Ökonomieprinzips des großen Scholastikers, sondern hier bestünde sehr wohl eine gewisse necessitas, Entitäten und Erklärungen folgen zu lassen. 102 Eine weitere bedenkenswerte Neuerung bei Berruto ist seine im Zuge der Rezeption der Modelle von Fishman, Ferguson und Kloss konzipierte Erweite‐ rung der verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit und deren Interaktion in verschiedenen Sprachgemeinschaften. Auch hier bezieht sich Berruto in erster Linie auf die Situation in Italien und entwirft eine Matrix mit folgenden Kate‐ gorien: bilinguismo sociale, diglossia, dilalia, bidialettismo (Berruto 2003: 206). Um diese Konzepte voneinander abzugrenzen, legt er 13 Faktoren zugrunde, die ihm als Kriterien dienen, um zu bestimmen, wie eine spezifische Art von Zusam‐ menspiel von mehreren Dialekten oder Sprachen in einer Gesellschaft funkti‐ onal miteinander interagieren (Berruto 2003: 205). Diese Faktoren bestehen im Wesentlichen aus Merkmalen, die er aus den Arbeiten jener drei oben genannten Forscher übernimmt und dann versucht weiter zu differenzieren (z. B. Prestige, Abstand- und Ausbausprachen, Kontinuum zwischen Varietäten, Standardisie‐ rung, literarische Tradition, etc.). Neu sind dabei die Begriffe ‚Dilalie‘ und ‚Bi‐ 64 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 103 Unter ‚Dilalie‘ versteht er dabei folgende Konstellation einer Sprachgemeinschaft: „La dilalia si differenzia fondamentalmente dalla diglossia perchè il codice A è usato, almeno da una parte della comunità, anche nel parlato conversazionale usuale, e perchè, pur essendo chiara la distinzione funzionale di ambiti di spettanza di A e di B rispettiva‐ mente, vi sono impieghi e domini in cui vengono usati di fatto, ed è normale usare, sia l’una che l’altra varietà, alternativamente o congiuntamente“ (Berruto 2003: 207).s dialektismus‘ (bzw. ‚Polydialektismus‘), die ein Kontinuum an Kategorien zum sozialen Bilingualismus und zur Diglossie schaffen sollen. 103 Im Prinzip liegt hier eine abgeschwächte Diglossie-Situation vor, insofern zwar eine grundsätzliche Funktionsteilung vorliegt, die L-variety hier jedoch mit ausreichend Prestige behaftet ist, so daß sie ebenfalls in zahlreichen Kom‐ munikationssituationen vertreten ist. Als Beispiel führt er das Plattdeutsche oder Bairische in Bezug auf das Hochdeutsche an sowie pauschal die Situationen der Romania. Letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Kons‐ tellation von einem Dialekt mit Prestige (in seinem Verbreitungsgebiet) vs. Hochsprache. Angesicht der Tatsache, daß es einerseits auch zahlreiche Kons‐ tellationen gibt, in denen der Dialekt dezidiert als abwertend betrachtet wird - und hier irrt m. E. Erachtens Berruto z. B. in Bezug auf die Situation in Frankreich (Stichwort: patois) - und andererseits es Forscher gibt, die eine Konstellation Basilekt vs. Hochsprache als Diglossie bezeichnen (und damit diesen Begriff aushöhlen), scheint die Idee einer begrifflichen Fassung einer solchen Situation nicht verkehrt. Unglücklich hingegen erscheint der bidialettismo bzw. polidia‐ lettismo, insofern er nach Berrutos (2003: 209, FN 98) eigenen Angaben nichts anderes ist als standard-with-dialect, also die Tatsache, daß Sprecher neben dem Standard über verschiedene varietà regionali e sociali verfügen. Hier wäre es womöglich geschickter, diese Kategorie dezidiert auf solche Fälle einzuengen, in denen tatsächlich zwei (oder mehrere) diatopische Varietäten zur Verfügung stehen - vorstellbar z. B. in Südtirol mit einer südbairische Varietät und einem dem Trentinischen nahestehenden Regiolekt. Die in den letzten beiden Kapiteln angestellten Überlegungen zu einigen wichtigen Begrifflichkeiten, Konzepten und Modellen der Varietäten- und So‐ ziolinguistik hatten zum Ziel, einige begriffliche Grundlagen für vorliegende Untersuchung zu erörtern und einen kurzen Überblick über den aktuellen For‐ schungsstand zu liefern. 3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums In einem Modell des Varietätenraums für vorliegende Untersuchung soll als Grundgerüst weiterhin auf das Diasystem rekurriert werden und trotz einiger 65 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 104 Hunnius (2013: 6) sieht die prinzipielle Differenzierung von einzelsprachlich und uni‐ versal zwar als grundlegend an, stellt jedoch die bei Koch / Oesterreicher postulierte eindeutige Trennung auf der Objektebene in Frage, da er hier, auch angesichts der dor‐ tigen Kapitelaufteilung, die Gefahr eines transitus ab intellectu ad rem vermutet. 105 „[…] the fact that the language we speak or write varies according to the type of situ‐ ation“ (Halliday 1978: 32). Diese Aussage ist eigentlich auf die register variation gemünzt, doch an anderer Stelle geht Halliday (1978: 34) auch darauf ein, daß die Wahl des dialects (hier im englischen Sinne diatopisch u. diastratisch) von dem context of situation ab‐ hängig sei. Der Hintergrund, warum Halliday nicht allgemein von der Situationsbe‐ dingheit der Varietäten spricht, ist wohl seinen Definitionen von dialect als variety ac‐ cording to the user und register als variety according to the use geschuldet (cf. Halliday 1978: 35, table 1). nicht von der Hand zu weisender Vorteile (z. B. Zentrum vs. Peripherie) der graphischen Umsetzung bei Berruto (1987) soll die Darstellung bei Koch / Oes‐ terreicher (2011) als Vorbild dienen. Nicht berücksichtigt werden soll hingen die vierte Dimension - zumindest nicht als eigene Ebene, da es berechtigte Zweifel gibt, ob die an sich wertvolle Konzeption des Nähe-Distanz-Kontinuums Teil des Diasystems sein sollte (cf. supra). Hinzu kommt die dort getroffene Unter‐ scheidung von universaler und einzelsprachlicher Ebene, die anhand der gelie‐ ferten empirischer Daten kaum aufrecht zu erhalten ist. 104 Die in die Nähe-Dis‐ tanz-Dimension bei Koch / Oesterreicher inkorporierte Unterscheidung von Söll (1974) in Bezug auf Konzeption vs. Medium soll ebenfalls einen Platz in einem neuen Gesamtmodell erhalten, jedoch außerhalb der eigentlichen Varietätendi‐ mensionen. Dabei soll berücksichtigt werden, daß dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, mehr Gewicht beigemessen werden sollte (cf. Hunnius 2012: 38-41; Massicot 2015: 190-191), und die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verquickung sozio- und vari‐ etätenlinguistischer Ansätze soll das hier neu konzipierte bzw. modifizierte Mo‐ dell des Varietätenraumes die Frage der Selektion einer Varietät mitberücksich‐ tigen. Trotz des Einbezugs dieses Aspektes sei betont, daß dabei nicht die Darstellung eines ganzheitlichen Kommunikationsmodelles (mit Rückkopplung Sprecher, Hörer, etc.) anvisiert wird, sondern lediglich die Sprechsituation eine adäquate Einbettung finden soll. Damit soll einerseits der bekannten, grundlegenden Fragestellung der Sozi‐ olinguistik von Fishman (1965), nämlich, wer spricht welche Sprache mit wem und wann (who speaks what language to whom and when,) Rechnung getragen werden und zum anderen die schon bei Halliday (1978) konstatierte Wahlmög‐ lichkeit des Sprechers aus verschiedenen Varietäten berücksichtigt werden. 105 66 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 106 „Exactly as in the reality of spoken or written languages, a word without linguistic context is a mere figment and stands for nothing by itself, so in the reality of a spoken living tongue, the utterance has no meaning except in the context of situation“ (Mali‐ nowski 1949: 307). Diese Wahl wiederum ist abhängig vom situationellen Kommunikationskon‐ text. Wie wichtig dieser situationelle Kontext ist, darauf verweist bereits Mali‐ nowski, bevor jener im Zuge des pragmatic turn größere Geltung gewinnt. 106 Der bei Malinowski noch im Sinne eines determinierenden Faktors für die Semantik einer Äußerung verstandene situationelle Kontext wird bei Halliday erweitert und zu einem allgemeinen context of situation, der, wie er sehr treffend beschreibt, verantwortlich ist für die Selektion des jeweiligen Sprachregisters. All language functions in contexts of situation, and is relatable to those contexts. The question is not what peculiarities of vocabulary, or grammar or pronunciation, can be directly accounted for by reference to the situation. It is which kinds of situational factor determine which kinds of selection in the linguistic system. (Halliday 1978: 32) Die Wahl einer Varietät - und in der Regel verfügt jeder Sprecher über mehrere Varietäten - so sei postuliert, hängt von der spezifischen Situation ab, und das gilt eben nicht nur für die diaphasische Dimension (bzw. registers bei Halliday), die Nabrings (1981: 140) auch treffend diasituative Dimension nennt, sondern eben in Bezug auf alle Varietäten, und im Falle einer Mehrsprachigkeit auch in Bezug auf die Wahl der adäquaten Sprache in einer bestimmten Kommunikati‐ onssituation. Auch wenn vielleicht nicht so intendiert, so suggeriert doch ein Modell, wie das von Koch / Oesterreicher (2011) oder auch Berruto (1987), daß die Situation nur in der Diaphasik zum Tragen kommt und dies entspricht wohl nicht der Kommunikationsrealität. Halliday macht das etwas polemisch deut‐ lich, wenn er die Situation zur conditio sine qua non einer Kommunikation er‐ hebt. We do not in fact, first decide what we want to say, independently of the setting, and then dress it up in a garb that is appropriate to it in the context, as some writers on language and language events seem to assume. (Halliday 1978: 33) Daraus folgt, daß der Situation eine weitaus prominentere Stellung innerhalb eines Modells gebührt als bisher verwirklicht und als der a priori determinie‐ rende Faktor anzusehen ist. Dieser Tatsache sei in folgendem Modell zu ‚Dia‐ system und Sprechsituation‘ Rechnung getragen: 67 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 107 Einige der Kommunikationsparameter des Modells von Koch / Oesterreicher (2011) sind sekundär dann sehr wohl mit den hier herauspräparierten Faktoren kombinierbar. So spielt beispielsweise der Grad der Vertrautheit zweifellos eine Rolle bei dem Verhältnis Sprecher-Hörer (Produzent-Rezipient), doch ist dies eben so zu verstehen, daß der Hörer hier der prominente Faktor ist, an dem natürlich im Sinne einer Höreridentität weitere Subfaktoren anzugliedern sind (cf. dazu auch die bei Massicot 2015: 185 aufgeführten Erweiterungsfaktoren des Modells von Koch / Oesterreicher). Abb. 2: Diasystem und Sprechsituation Den determinierenden Faktoren der Sprach- und Varietätenwahl liegen u. a. die Erkenntnisse von Nabrings (1981: 140-144) zugrunde, die - allerdings allein für die diasituative Dimension - folgende Parameter festgelegt hat: Gesprächs‐ partner, Medium, Ort der Kommunikation, Thema. Dies sind eindeutig Faktoren, die nicht auf einer Stufe mit den im Modell Koch / Oesterreicher (2011: 13) auf‐ gelisteten Kommunikationsbedingungen stehen können, die ja nach deren Kon‐ zept „nur“ den Grad der Nähe bzw. Distanz beeinflussen, sondern einen promi‐ nenteren Status einnehmen sollten. 107 Wie wichtig der oder die Gesprächspartner bei einer Kommunikation im Allgemeinen und in Bezug auf 68 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 108 „Diese Gemeinsamkeit der Voraussetzungen, im Verein mit der Einwirkung, die der Redner durch den Angeredeten erfährt, bedingt es, daß die Rede in hohem Maße als das Ergebnis zweier Größen erscheint: nicht lediglich aus dem Haupte des Redenden entsp‐ rungen, sondern gemeinsames Erzeugnis des Sprechenden und des Hörers“ (Behagel 1927: 15). 109 Dieser Kommunikationskontext wiederum überschneidet sich mit den zuvor genannten Faktoren wie Gesprächspartner, Ort, Thema etc. Damit soll ausgedrückt werden, daß die Kontextfaktoren ganz allgemein sowohl a priori determinierend sind, als auch immer wieder die folgenden einzelnen Selektionsprozesse mitbestimmen. die Wahl der adäquaten Varietät sind, wird schon bei Behagel deutlich. 108 Aus den Ausführungen Behagels geht aber auch der wie bei Nabrings und auch sonst nicht selten als sous-entendu verstandene Sprecher bzw. Produzent der Äuße‐ rung als wichtiger Determinant der Kommunikation hervor. Dies bestätigt auch - um hier einmal den größtmöglichsten zeitlichen Sprung machen - die Untersuchung von Massicot (2014), die als wichtige Faktoren neben dem Thema und dem Medium die Sprecheridentität aufführt. Die Tatsache, daß auch das Kommunikationsziel ein beeinflussender Faktor bei der Wahl der Varietät sein kann, läßt sich aus den bekannten Kommunikationsmodellen bei Bühler (1934: 28) und Jakobson (1979: 88) ableiten. Dies sei dahingehend interpretiert, daß nicht allein das Gegenüber ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern unter Umständen eben auch relevant für das, was der Sprecher erreichen möchte, welche Varietät die dafür angemessene ist. Determinierend sind außerdem die gewählte oder vorgegebene Diskurstra‐ dition sowie der soziale und situative Kommunikationskontext (cf. field, tenor, mode) im Sinne Hallidays (cf. Martin / Williams 2004: 121) (v. supra). 109 Diese Pa‐ rameter beeinflussen alle Selektionsvorgänge entscheidend mit. Die erste Selektion, die dann getroffen wird, und zwar aufgrund der deter‐ minierenden Faktoren der Sprechsituation, ist die bezüglich des Mediums. Damit soll hervorgehoben werden, daß das Medium hier nicht irgendein Teil‐ aspekt des Diasystems ist, sondern diesem sozusagen vorgeschaltet, denn zuerst wählt der Sprecher das Medium (code phonique oder code graphique), sofern es nicht durch eine Kommunikationssituation vorgegeben ist, dann die Sprache und die Varietät. Die Versprachlichung der konzeptionellen Nähe bzw. Distanz, ist dabei als sekundär einzustufen, d. h. sie erfolgt unter den Bedingungen der Kommunikationssituation. Eine diamesische Ebene überlagert sozusagen alle weiteren Varietätendimensionen, insofern es sowohl bezüglich des Standards eine mündliche und schriftliche (medial und konzpetionell) Ebene gibt als auch bezüglich aller weiteren Non-Standard-Ebenen, also der Dialekte, Situolekte, Soziolekte etc. (z. B. mündlich vs. schriftlicher Dialektgebrauch). 69 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 110 Dabei ist zu bedenken, daß kein Sprecher über alle hier vorgestellten bzw. denkbaren Varietäten verfügt, sondern immer nur über ein begrenztes Inventar, welches je nach Kompetenz größer oder kleiner sein kann. 111 Mit Betonung auf der diatopischen Abstufung ist diese Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Varietäten bereits bei Hermann Paul dokumentiert (cf. Paul 1886: 357). In Kommunikationssituationen, die mehr oder weniger das Medium vor‐ geben, also z. B. bei einem Telefongespräch, einem Vortrag oder ein Bewer‐ bungsschreiben, liegt hier natürlich keine Wahl mehr im eigentliche Sinne vor, doch es bleibt zunächst die Situation (z. B. Wunsch / Pflicht, jmd. zurückzurufen, einen Vortrag zu halten; Notwendigkeit sich zu bewerben), die das Medium de‐ terminiert und womöglich auch die Varietät (z. B. das Stilregister für ein Be‐ werbungsschreiben qua Diskurstradition). Falls es sich nun um eine Kommunikationssituation handelt, bei der nicht bereits eine Sprache bereits a priori feststeht, und in der der Sprecher über meh‐ rere Sprachen verfügt - und dies muß nicht nur im Sinne eines bilingualen Sprechers zu verstehen sein -, aus denen er wählen kann (L 1 , L 2 , L 3 - L x ), un‐ abhängig von der Kompetenz in der jeweiligen Sprache, dann wäre diese Se‐ lektion vom Sprecher vor der Frage nach einer bestimmten Varietät einer Sprache zu treffen. Erst im Folgenden stellt sich für ihn die Wahl, sofern seine Kompetenz in der bestimmten Sprache dies überhaupt zuläßt, ob er sich im un‐ markierten Standard verständigt oder sich für eine wie auch immer markierte Varietät entscheidet. Dies kann jedoch durch Medium oder Diskurstradition auch bereits vorgegeben sein (z. B. in der Schriftsprache eher kein Dialekt, je nach Textsorte ein bestimmtes Stilregister). 110 Die determinierende Sprechsituation ist dabei immer die gleiche, also die Ausgangssituation (cf. determinierende Faktoren), denn die im Modell darge‐ stellten Abfolgen von Selektionen sind in Wirklichkeit Entscheidungen, die der Sprecher aufgrund der einen gegebenen Situation innerhalb eines gesamten Entscheidungsprozesses zur in dieser Kommunikationssituation adäquaten Art des Sprechens trifft. 111 Wichtig erscheint im Folgenden noch einmal zu betonen, daß die Situation, in der sich ein Sprecher befindet - und dies soll bei obigem Modell deutlich werden - nicht nur die Wahl des Stilregisters, also die diaphasische Ebene de‐ terminiert, sondern im gleichen Maße die Frage bestimmt, ob ein Dialekt oder Soziolekt etc. in der nämlichen Situation adäquat ist oder eben nicht. Ändert sich die Sprechsituation insgesamt oder auch nur einzelne Komponenten dieser Situation, so wird unter Umständen wieder aufs Neue nachjustiert. Die Anordnung der determinierenden Faktoren für die Varietätenwahl in obigem Modell ist nicht zufällig, sondern folgt der Rangfolge einer postulierten 70 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 112 Cf. vor allem supra, aber auch nochmal explizit Schlieben-Lange (1978: 75): „Ebenso ist es möglich, daß die niedrigen Soziolekte in der Sprache der höheren Schichten die un‐ gezwungenere Stilebene repräsentieren. (Überschneidung diastratisch - diaphasisch)“. Cf. dazu auch die Varietätenkette nach Koch / Oesterreicher supra. 113 Auch heute kann man die Dialekte noch als eigenständige Sprachsysteme mit innerer Variation sehen, sie sind aber zum einen oftmals von der Standardsprache beeinflusst oder überformt und zum anderen in das Diasystem der Gesamtsprache eingegliedert, mit einem deutlichen Bezug zu einer übergeordneten Standardsprache. 114 Cf. dazu Löffler (2003: 56), der diesen Terminus geprägt hat: „Sprachvergleich zwischen mehreren Sprechergruppen ist Soziolinguistik oder diasozialer (diastratischer) System‐ Dominanz, d. h. der wichtigste Faktor ist der der Situation (formell vs. informell, offiziell vs. privat, etc.), gefolgt vom Gesprächspartner (mit Parametern wie be‐ kannt vs. unbekannt, Dialektsprecher vs. Standardsprecher, etc.) und dem Ort der Kommunikation (in Abgrenzung zur Situation rein regional zur verstehen). In nicht so eindeutiger Hierarchisierung stehen folgen schließlich noch die Fak‐ toren Thema (des Gesprächs), der Sprecher selbst (individuelle Disposition) und das Kommunikationsziel. Die Faktoren sind dabei in Bezug auf ihre Prominenz in einer bestimmten Kommunikationssituation als interagierend und interde‐ pendent anzusehen. Was nun die Erfassung des Varietätenraumes mit Hilfe des Diasystems an‐ belangt, so muß man wohl mit bestimmten Aporien leben. Dazu gehört zum einen die, aufgrund der in der sprachlichen Realität engen Verquickung dieser beiden Aspekte, oft unscharfe oder gar unmögliche Trennung von diaphasischer und diastratischer Dimension 112 sowie die Frage, welche Bereiche unter die Di‐ astratik fallen, da ja letztendlich fast alle sprachliche Variation an größere oder kleinere soziale Gruppen gebunden ist (schichtenspezifisches Sprechen, alters‐ spezifisches, berufsspezifisches, etc.). Die diatopische Ebene bleibt zudem eine besondere, da es sich hierbei um historisch gewachsene (Regional-)Sprachen handelt, die einst, in Epochen vor der Herausbildung und Verbreitung einer nationalen Standardsprache, in sich geschlossene vollständige Sprachsysteme bildeten 113 (mit entsprechender Variationsbreite auf allen Dia-Ebenen) und für alle Sprecher, bzw. noch lange für viele, das einzige Kommunikationsidiom dar‐ stellten. So kann auch heute noch die diatopische Ebene für manche Sprecher die Basis der mündlichen Verständigung bilden und ist situationsbedingt nicht zwingend auf gleiche Weise auszublenden bzw. abrufbar wie Varietäten der Di‐ astratik oder der Diaphasik. Für vorliegendes Modell wurde aus diesen Gründen neben der unstrittigen diatopischen Ebene, weiterhin die Unterscheidung von diastratischer und dia‐ phasischer Ebene beibehalten, allerdings mit der Einschränkung, daß anstelle von ‚diastratisch‘ hier der Begriff ‚diasozial‘ bevorzugt wird. 114 Dies sei damit 71 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle vergleich“. begründet, daß aufgrund seiner etymologischen Herleitung sowie aufgrund seiner häufigen Verwendung im Kontext mit schichtenspezifischem Sprechen dieser Terminus eine zu geringe Extension suggeriert, insofern das in den mo‐ dernen Gesellschaften - und nicht nur dort - dominierende gruppenspezifische Sprechen hier als sekundäres und nicht primäres Verständnis konnotiert wird. Mit ‚diasozial‘ ist demnach also ganz allgemein und neutral das an eine spezi‐ fische soziale Gruppe gebundene Sprechen gemeint - und dies kann natürlich auch ein schichtenspezifisches sein. Deshalb soll im weiteren der Begriff ‚dias‐ tratisch‘ rein auf die Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Schichten und Klassen appliziert werden. Für das gruppenspezifische Sprechen hingegen sei in Anlehnung an die homogene griechische Prägung der anderen Begriffe ‚diakoinonisch‘ (zu griech. κοινωνία ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ bzw. κοινός ‚Teil‐ nehmer, Genosse‘) vorgeschlagen. Beide Begriffe sollen demnach Teilbereiche der diasozialen Dimensionen konstituieren. Alternativ müsste man zur Ver‐ deutlichung von ‚diastratisch im weiteren Sinne‘ (also schichten- und gruppen‐ spezifisch) und ‚diastratisch im engeren Sinne‘ (also nur schichtenspezifisch) sprechen, wobei dann trotzdem eine terminologische Lücke für die rein grup‐ pensprachlichen Varietäten bliebe. Die grundsätzliche Frage, ob es legitim ist, über das Coseriu’sche Dreier-Schema hinaus weitere dia-Dimensionen anzunehmen, sei dahingehend salomonisch beantwortet, daß dies davon abhängt, ob man weitere Varietäten identifizieren kann. Das Problem sei also auf die bereits gestellte Problematik (v. supra), wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät zu sprechen, verla‐ gert. Das extreme Beispiel einer Proliferation von dia-Ebenen war das Modell von Schmidt-Radefeldt, der quasi 1: 1 die metalexikographische dia-Kategori‐ sierung (wie z. B. bei Hausmann 1979) auf die Beschreibung des Varietäten‐ raumes übertragen hat. Wo ist hier also eine Grenze zu ziehen bzw. gibt es eine? Das Grundkriterium ist dabei m. E. nicht die Frage nach der Anzahl der sprachlichen Varianten, die nötig sind, um eine eigenständige Varietät zu pos‐ tulieren, sondern, ob es eine soziale Gruppe gibt, der eine oder mehrere Vari‐ anten klar attribuiert werden kann. Es sei also definiert, daß man von einer Varietät sprechen kann (und nicht nur allge‐ mein von sprachlicher Variation), wenn ein oder mehrere zusammenhängende, spe‐ zifische (markierte) Varianten eindeutig und stabil (über einer längeren Zeitraum) einer bestimmten abgrenzbaren sozialen Gruppe von Sprechern zuzuordnen sind oder eindeutig und stabil in einer bestimmten Sprechsituation zum Tragen kommen. Eine 72 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 115 Dies setzt ein strukturalistisch inspiriertes Verständnis von Sprache als Sprachsystem voraus. Cf. dazu Coseriu (1973: 32): „In diesem Sinne ist eine historische Sprache niemals ein einziges ‚Sprachsystem‘, sondern ein Diasystem: eine Summe von Sprachsys‐ temen […].“ 116 Cf. dazu auch das bei Krefeld (2020: 238-239) angesprochene Problem der Einordnung einer hybriden Varietät in das Schema von Koch / Oestrereicher (2011). 117 Gleiches gilt mutatis mutandis für dianormativ, diasituativ, diatextuell etc. 118 Nabrings (1981: 110, FN 111) sieht in der Zuordnung der Fachsprachen zur diastratischen Ebene eine gewisse Willkür - in der Romanistik so etabliert z. B. durch Schlieben-Lange (1978: 73) - da sie sowohl typisch für die sie tragenden sozialen Gruppen sind, also auch für die Situationen und Bereiche in denen sie gebraucht werden (diasituative bzw. di‐ aphasische Ebene). Dies sei aber damit zu rechtfertigen ist, daß viele Varietäten inner‐ halb mehrerer Dimensionen beschreibbar seien und eine rigide Abgrenzung ohnehin nicht durchführbar. Für vorliegende Entscheidung die diatechnische Ebene aus der Di‐ astratik auszugliedern wäre dies aber genau das entscheidende Argument, nämlich die unklare Zuordnung und der sehr eigene stark diversifizierte Bereich der zahlreichen existierenden Fach- und Berufssprachen. Varietät ist dabei immer als ein Teilsystem einer bestimmten Sprache zu verstehen, die durch einen mehrdimensionalen Varietätenraum konstituiert ist. 115 In diesem Sinne ist es zwar nach wie vor der Normalfall, daß eine bestimmte Anzahl von spezifischen sprachlichen Varianten eine Varietät ausmacht, im äu‐ ßersten Fall kann aber eben auch ein Merkmal konstitutiv sein. 116 So wäre dies der Fall der r-Ausprache in den Untersuchungen Labovs (1966), wo allein durch diese Abweichung von der Norm eine soziale Gruppe identifiziert werden kann (hier diastratisch bzw. diasozial zu verstehen) oder die norditalienischen Aus‐ sprache des r-Lautes (uvular), die eine diatopische Zuordnung erlaubt. Aus diesem Grunde sind Bezeichnungen wie ‚diafrequent‘ oder ‚diaplanerisch‘ un‐ passend, da hier zwar auf eine bestimmte Art der Variation innerhalb einer Sprache abgehoben wird, aber die Tatsache, daß bestimmte Lexeme, die allge‐ mein häufiger oder seltener gebraucht werden, oder eben solche, die durch be‐ stimmte Normierungsversuche in die Sprache gelangen, nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden können. 117 Auf diese Weise kann auch die Existenz einer diatechnischen, diasexuellen sowie diagenerationellen Ebene be‐ gründet werden, d. h. als Varietäten einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei ist zu beachten, daß alle drei Ebenen prinzipiell auch als Subebenen der dias‐ tratischen bzw. diasozialen (genauer: diakoinonischen) Ebene gesehen werden könnten. Aber gerade der Bereich der Fachsprachen nimmt sowohl in der sprachlichen Realität der heutigen Gesellschaft als auch in der sprachwissen‐ schaftlichen Forschung einen sehr breiten Raum ein, so daß eine eigene Ebene durchaus vertretbar erscheint. 118 Die beiden weiteren Ebenen (diasexuell und diagenerationell) sind hingegen womöglich nicht in jeder Sprachgemeinschaft 73 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 119 Dittmar (1997: 180-181), versteht ‚Lekt‘ und ‚Varietät‘ als Synonyme und sieht in der Unterscheidung ein rein nominalistisches Problem. Dies sei hier jedoch differenzierter betrachtet, und zwar insofern, als mit ‚Varietät‘ ganz dezidiert zum einen auf die vari‐ etätenlinguistische Perspektive (cf. eigene Definition supra) und die konstitutiven dia-Dimensionen verwiesen sei und damit eine Referenz zu einer historischen Sprache im Sinne Coserius einhergeht, während mit ‚Lekt‘ auf die Definition von Löffler re‐ kurriert wird und darunter allgemein auf eine „Art des Sprechens“ bzw. auf „bestimmte Bereiche des Sprechens“ verstanden werden soll, d. h. auch, daß es Lekte gibt, wie z. B. Xenolekte, Idiolekte etc., die keine Varietät konstituieren - beide Begriffe haben also Überschneidungsbereiche, sind aber nicht synonym. 120 Zu einer Kritik cf. Veith (2005: 75-77). Hinzuweisen wäre zusätzlich noch auf die Son‐ derstellung des Idiolektes, der eigentlich nicht wirklich in dieses Schema paßt, da In‐ dividuen und ihre spezifische Sprechweise ja an alle anderen Arten des Sprechens ebenfalls immer beteiligt sind. Zu einer profunden Auseinandersetzung mit dem Phä‐ nomen des Idiolektes und zu verschiedenen Definitionen cf. Blum (2013: 22-24). klar abgrenzbar oder identifizierbar; sofern dies jedoch möglich ist und ausrei‐ chend Merkmale ermittelbar sind, sind sie als eigenständige Varietätenebenen etablierbar. Schließlich soll in vorliegendem Modell auch der Erkenntnis der vorherigen beiden Kapitel zur Genese und Interaktion sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze Rechnung getragen werden, und zwar dahingehend, daß die aus der anglistischen (variationslinguistischen) und germanistischen (soziolinguisti‐ schen) Tradition stammenden Begrifflichkeiten der Lekte konsequenter als bisher, den dia-Begrifflichkeiten gegenübergestellt werden. 119 Löffler ( 1 1985, ²1994: 86) entwickelt dazu ein diversifiziertes Modell, in dem er „Großbereiche des Sprechens“ (Lekte) annimt, die sich überlagern, und zwar in Form von Mediolekten (nach Medium), Funktiolekten (nach Funktion), Dialekte (nach arealer Verteilung), Soziolekten (nach sozialer Gruppe), Sexolekten / Genderlekten (nach Geschlecht), Situolekten (nach Situation / Interaktionstyp) und Idiolekten (nach Individuum). Das Modell macht zweifellos die Vielfalt der Arten des Sprechens deutlich, über die ein Individuum verfügen kann, jedoch fehlt eine gewisse Systematik. 120 Auf der Ebene der Diatopik, gibt es nun neben dem traditionellen Dialekt-Be‐ griff, der im Verständnis Coserius zunächst vor allem primäre Dialekte be‐ zeichnet und terminologischer Ausgangspunkt aller weiteren Lekte ist, den sehr nützlichen Begriff des Regiolektes. Hiermit wird üblicherweise auf die bei Co‐ seriu als tertiärer Dialekt bezeichnete Varietät referiert, die zwischen Standard‐ varietät und primärem Dialekt angesiedelt ist. Dabei ist der Begriff des Regio‐ lektes hier sehr viel eindeutiger und transparenter als die Coseriu’sche Denomination. Was die Abgrenzung großvs. kleinräumig angeht, kann man entsprechend dem in der strukturellen Areallinguistik üblichen 74 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 121 Der Begriff ‚Lokolekt‘ geht auf Staib (1980: 85) zurück: „Das Ideal struktureller Sprach‐ betrachtung ist deshalb der homogene, funktionelle Lokolekt, der weder diastratische noch diaphasische Unterschiede aufweist. […] Im Hinblick auf größere regionale Spracheinheiten stellt sich somit die Frage, wie sich dieser Lokolekt nach oben in Rich‐ tung auf den (Regional-)Dialekt und nach unten in Richtung auf den sogenannten ‚Idi‐ olekt‘ abgrenzt.“ In der Romanistik wurde der Begriff beispielsweise von Lang (1982: 148) aufgegriffen und tradiert. 122 Stadtsprachen (Urbanolekte) haben eine eigene Dynamik, insofern sie sich meist durch Migration entwickelt haben; sie sind zwar in erster Linie diatopisch geprägt, haben aber auch eine diastratische Komponente. Die städtischen Zentren bilden einen wichtigen Bezugspunkt, insofern die dortige Varietät sowohl als Ausgleichsidiom für den ihr zu‐ gehörigen Dialektraum funktioniert und zur Standardisierung des entsprechenden Di‐ alektes beitragen kann, andererseits sind diese Kulturzentren meist auch Orte, in denen ein Ausgleichsprozeß zwischen dem hochsprachlichen Standard und der regionalen Umgangssprache stattfindet (Dittmar 1997: 193-195). Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 7) bringen noch den Begriff ‚Dorflekt‘ ins Spiel - keine sehr glückliche Prägung. 123 Der Begriff des sociolects or social dialects wurde in den 1960er Jahren in der amerika‐ nischen Variationslinguistik entwickelt, unter maßgeblicher Beteiligung der Studien von Labov (1966, 1972), aufgegriffen u. a. von Hammarström (1967) und Nabrings (1981). bottom-to-top-Konzept zwischen den Gradationsstufen Standardlekt - Dialekt - Regiolekt - Lokolekt unterscheiden (cf. Ebneter 1989: 872). 121 Mit Urbanolekt (cf. Dittmar 1997: 193) wird hingegen eher eine spezifische diatopische Situation von Metropolen oder größeren städtischen Zentren beschrieben. 122 Was die Ebene der Diaphasik angeht, so ist festzustellen, daß die bisherigen Begrifflichkeiten eher schwankend sind, und zwar insofern als hier von Stilre‐ gistern, Stilen, Registern oder Sprachregistern gesprochen wird, so daß mit Situolekt (cf. Dittmar 1997: 206) eine gewisse Einheitlichkeit möglich wäre, zumal auch dieser Begriff relativ transparent ist. Die inzwischen recht übliche Bezeichnung Soziolekt (cf. Dittmar 1997: 189) im Bereich der diastratischen Ebene, erscheint eine recht gute Lösung, um glei‐ chermaßen neutral sowohl gruppenspezifisches als auch schichtenspezifisches Sprechen zu umreißen. 123 Hinzu kommt, daß man hier eine sehr transparente begriffliche Parallele zu diasozial ziehen kann. Das gleiche Argument wäre be‐ züglich des Technolekts vorzubringen, mit der Ergänzung und Präzisierung, daß hierbei nicht allein auf Sprachvariation im Bereich der Technik abgehoben wird, sondern jegliches berufs- und wissenschaftsspezifisches Sprechen miteinbe‐ zogen werden soll. Bei dem noch neueren Feld der diagenerationellen Differenzierung sind auch die Begrifflichkeiten noch recht schwankend und zum Teil wenig etabliert. Am ehesten untersucht ist in der Regel die Jugendsprache, die beispielsweise bei Michel (2011: 194) als Juventulekt bezeichnet wird; eher selten zum Tragen kommt die Sprache der älteren Generation, die mitunter als Gerontolekt (cf. 75 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 124 Der Überbegriff ‚Helikialekt‘ erscheint deshalb notwendig, um solchem ambigen und etymologisch auch nicht sehr sinnigen Gebrauch wie bei Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 7) vorzubeugen, die unter ‚Gerontolekt‘ Kinder- und Jugendsprache sowie Al‐ tersprechweisen verstehen. 125 Veith (2005: 157) differenziert zwischen der Sprache der Frauen / Männer in Bezug auf das natürliche Geschlecht (Sexolekt) und den sprachlichen Abweichungen in Bezug auf das soziale Geschlecht (Genderlekt). Ob man das jedoch sinnvoll unterscheiden kann, erscheint mehr als fraglich, denn sprachliche Variation, die nicht an eine bestimmte Sozialisation gebunden ist, wird es wohl kaum geben. Abgesehen von der Tatsache, ob man diese Art der Markiertheit nicht eher der Diaphasik zurechnen sollte - wie es Veith vorschlägt, sei hier dem Begriff des Sexolektes der Vorzug gegeben, und zwar aufgrund seiner Eindeutigkeit, Transparenz und seiner Parallelität zu diasexuell. Es soll eben auf ein je unterschiedliches Sprachverhalten je nach Geschlecht abgehoben werden (wel‐ ches sich unweigerlich durch soziale Prägung ergibt), ohne deshalb jedoch deshalb Genderlinguistik strictu sensu betreiben zu wollen. 126 Einige Lekte, die im Modell von Löffler (1994: 86) zum Tragen kommen, wurden hier nicht beachtet, und zwar aufgrund der Tatsache, daß die primäre Perspektive hier eine varietätenlinguistische sein soll, also die Ermittlung von Varietäten im Vordergrund steht. Entsprechend der oben gegeben Definition von Varietäten fallen werden be‐ stimmte Lekte hier nicht als Varietäten identifiziert: Idiolekte sind an Individuen ge‐ bunden, nicht an soziale Gruppen, Funktiolekte sind teils der Diaphasik, teils der Dia‐ technik oder Teil eines Spektrums von Textsorten und Diskurstraditionen; Mediolekten wiederum fehlt jegliche spezifische Zuordnung zu einer Gruppe oder Situation. Den bei Dittmar (1997: 216) besprochenen Xenolekten fehlt in der Regel der Faktor der Stabilität. Dittmar 1997: 229-231) oder Gerolekt (Veith 2005: 173) benannt wird. Diesbezüg‐ lich sollte man eine gewisse Konsequenz und Kohärenz in Bezug auf die Be‐ zeichnungen einführen, weshalb hier der Vorschlag sowohl eines neutralen Hy‐ peronyms notwendig erscheint, als auch einer homogenen griechischen Denomination. Aus diesem Grund sollte man sinnvollerweise von Helikialekten (zu griech. ʿηλικία ‚Lebensalter‘), also altersbedingten Sprachunterschieden sprechen, die man in Gerontolekte (griech. γέρων ‚alter Mann‘, ‚alt‘) und Neoto‐ lekte (zu griech. νεότης ‚Jugend‘) differenzieren könnte. 124 Analog zu diesem Vorschlag wären auch die Begrifflichkeiten im Bereich der diasexuellen Ebene zu gestalten, so daß hier neben dem bereits etablierten, neutralen Sexolekt (cf. Dittmar 1997: 228-229) zwischen Androlekt (zu griech. ʾανδρός ‚Mann‘) und Gynaikolekt (zu griech. γυναικός ‚Frau‘) unterschieden werden sollte. 125 Unabhängig von den einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer etymologischen Transparenz und Adäquatheit, geht es vor allem darum, mit der Koppelung des Spektrums der Lekte-Denominationen den Termini, die mit der Konzeption des Diasystems einhergehen, ein Begriffsinventar zur Seite zu stellen, das die Vari‐ ation im Varietätenraum einer Sprache so präzise wie möglich zu erfassen hilft. 126 Ziel ist es ja letztlich, die Architektur einer Sprache so exakt wie möglich 76 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 127 Da bei der Beschreibung des Lateinischen als Sprache hier nicht einzelne Dokumente analysiert werden, reduziert sich das Modell auf die Darstellung des Varietätenraumes. In Bezug auf die sprachtheoretischen Traktate des 15./ 16. Jh. jedoch, wird im Zuge der Rekontextualisierung durchaus auf determinierende Faktoren wie ‚Diskurstraditionen‘ zurückgegriffen, um die Art der Darstellung herauszuarbeiten. in der gesamten Bandbreiten ihrer Heterogenität beschreiben zu können, dabei die Kategorisierung aber nur so weit zu treiben, als den einzelnen Kategorien dann auch ihnen attribuierbare sprachliche Realitäten gegenüberstehen, die - soweit möglich - klar voneinander abgrenzbar sind. Mit vorliegendem Modell soll also versucht werden, die Gesamtheit des Va‐ rietätenraumes zu erfassen, um auf diese Weise das Verständnis für die sprach‐ liche Realität zu schärfen. Ein Anliegen des Modells war es dabei, deutlich zu machen, daß auch bei einer Darstellung mit dem Fokus auf den Varietäten, die Sprechsituation, d. h. die konstitutiven Faktoren bei der Wahl einer Varietät mehr Raum einnehmen müßten bzw. vielmehr ohne diese zusätzliche Perspek‐ tive die Beschreibung defizitär bleibt. Dies bedeutet auch, daß sowohl dem Spre‐ cher als auch dem Hörer sowie der sozialen Gruppe mehr Gewicht in der Be‐ trachtung einer varietätenlinguistischen Untersuchung zukommen müßte. Diese Überlegungen zu Sprechsituation gelten in erster Linie für zeitgenös‐ sische synchrone Kommunikationssituationen, da nur in diesen die Determi‐ niertheit des Sprechers (und Hörers) adäquat eingeschätzt werden kann. Für eine historische Kommunikationssituation, bei der man auf rein schriftliche Dokumente angewiesen ist, fällt der erste Bereich (‚schriftlich / mündlich‘) der Selektion in obigem Modell weg. Es bleiben dennoch determinierende Faktoren bei der Sprach- und Varietätenwahl, vor allem die Diskurstraditionen, allerdings sind manche Faktoren ungleich schwerer zu ermitteln. Die vorgeschlagene Er‐ weiterung bzw. Präzisierung des Varietätenraumes mit Rückgriff auf die ver‐ schiedenen Terminologien der dia- und der lekte-Begriffe ist hingegen prinzi‐ piell auch in einem historischen Kontext anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung soll daher dieses Begriffssystem auch bei der Beschreibung des Lateinischen verwendet werden (cf. Kap. 4). 127 Wie ausdifferenziert dies dabei möglich ist, hängt grundsätzlich von der Dokumentationslage bezüglich der einzelnen sprachlichen Phänomene ab. Was den metasprachlichen Diskurs des 15. und 16. Jh. anbelangt (cf. Kap. 6), so wird diese hier vorgestellte Begriffssystem nicht vollständig zum Tragen kommen können. Dies liegt vor allem darin begründet, daß die Beschreibung des antiken Lateins durch die Humanisten nicht mit gleicher Präzision geleistet werden konnte, wie das heutzutage möglich ist. Die Möglichkeiten, die von den damaligen Gelehrten beschriebenen Phänomene des antiken Lateins im Sinne 77 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle einer modernen Interpretation in einer sozio- und varietätenlinguistische Ter‐ minologie darzustellen, sind daher begrenzt und nur vereinzelt wird es sich an‐ bieten, begrifflich weiter zu differenzieren. In diesem Teil wird deshalb im We‐ sentlichen auf „traditionelle“ Begrifflichkeiten wie ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘ etc. rekurriert. 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung Die methodische Vorgehensweise zur Analyse der frühneuzeitlichen Traktate, die sich mit der Frage nach der Art des Lateins in der Antike auseinandersetzen, soll in vorliegender Arbeit zwei Facetten umfassen (cf. Kap. 1.4). In den vorhe‐ rigen Kapiteln wurde dazu das Inventar der aktuellen varietätenlinguistischen und soziolinguistischen Begrifflichkeiten vorgestellt und diskutiert, mit deren Hilfe die zu untersuchenden Texte aus einem modernen sprachwissenschaftli‐ chen Blickwinkel heraus analysiert werden, zum Teil unter bewußter Ausblen‐ dung zeitgenössischer Implikationen der jeweiligen Epoche (cf. Kap. 3.1.1- 3.1.3). In vorliegendem Kapitel soll hingegen die zweite Perspektive näher dargelegt werden, die dazu dient, die zuvor durch die Applikation moderner Termini und Konzepte entkontextualisierten Traktate dann in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu rekontextualisieren. Ziel ist es also, im Rahmen einer tradi‐ tionellen philologischen Analyse die literarischen, geschichtlichen und philo‐ sophischen Bezüge, die den einzelnen Texten immanent sind, in Bezug auf die hier relevante Fragestellung adäquat herauszuarbeiten. Dies ist vor dem Hin‐ tergrund zu sehen, daß nur eine möglichst exakte Verortung eines Textes in seinem geistes- und ideengeschichtlichen Kontext die Möglichkeit eröffnet, die im vorliegenden Fall angestrebte Nachzeichnung einer sich verändernden Vor‐ stellung über das Latein der Antike angemessen zu erfassen. Die Kontrastierung mit der modernen sprachwissenschaftlichen Perspektive dient dabei der Schär‐ fung des Blicks auf die untersuchte Fragestellung, so daß auf diese Weise die Ursprünge und frühen Ansätze aktueller sprachgeschichtlicher Erkenntnisse besser herauspräpariert werden können. Im Rahmen dieser zweiten Sichtweise auf die hier zu untersuchenden Trak‐ tate, in der wie eben dargelegt der Text in seinen historischen Bedeutungszu‐ sammenhang eingebettet werden soll, sind die Verfahren der Hermeneutik ein wesentlicher Bestandteil. Dabei sei Hermeneutik ganz allgemein als „Theorie 78 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 128 Zu aktuellen Tendenzen der hermeneutischen Forschung cf. beispielsweise Geisenhanslüke (2004: 67-68), Rusterholz (2005b: 157-177), Joisten (2009: 197-210) oder Jung (2012: 136-155). 129 Birus (1982: 19) sieht Schleiermacher nicht nur als „Klassiker“ der Hermeneutik, sondern auch ganz dezidiert als jemanden, der insofern einen Neuanfang begründet, als er die (mittelalterliche, frühneuzeitliche) Lehre vom mehrfachen Schriftsinn überwindet und zugleich dem Autor und seiner Intention eine zentrale Bedeutung beimißt. 130 „Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende nötig findet, den Gedanken sich selbst zu fixieren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des ursprünglichen [sic! ], und wird hernach auch Auslegung nötig“ (Schleiermacher 1977: 76). und Methodik […] des Verstehens, Interpretierens und Anwendens von Texten“ (Zabka 2007: 313) verstanden. Ziel der Erkenntnis ist es, einen kohärenten Bedeutungszusammenhang des Inter‐ pretationsgegenstands zu bestimmen oder das Fehlen eines solchen Zusammenhangs kohärent zu erklären. […] Als eine Theorie und Methodik des historischen Fremdverstehens zielt die Herme‐ neutik auf die Rekonstruktion jener Bedeutungen, die einem Text im Kontext seiner Entstehung zukamen. (Zabka 2007: 313) In dieser Definition des hermeneutischen Grundgedankens ist für vorliegende Zielsetzung vor allem der zweite Teil relevant, insofern das Anliegen der Un‐ tersuchung die Rekonstruktion einer geistesgeschichtlichen Entwicklung dar‐ stellt, die anhand ausgewählter frühneuzeitlicher Traktate sichtbar gemacht werden soll. Im Folgenden seien einige Aspekte traditioneller Modelle und Konzepte der Hermeneutik, die für das hier angestrebte Vorgehen von Relevanz sind, heraus‐ gegriffen und vorgestellt. 128 Der Ausgangspunkt der modernen Textanalyse- und interpretation ist der heutigen communis opinio folgend die Hermeneutik Fried‐ rich Schleiermachers (1768-1834), die in Bezug auf die zuvor von der herme‐ neutica sacra und der hermeneutica profana geprägten Zweiteilung der theolo‐ gischen und juristischen Perspektive einen Neuanfang markierte. 129 Dabei war der Ansatz Schleiermachers insofern neu, als er das Verstehen an sich sowie die Auslegung als Dreh- und Angelpunkte eines Textverständnisses formulierte und problematisierte (cf. Geisenhanslüke 2004: 44; Rusterholz 2005a: 113). 130 Für die hier vorzunehmende Textanalyse bedeutet dies, daß die Kunst des Verstehens darin liegt, die zur Verfügung stehenden Schriftzeugnisse hinsichtlich ihrer sprachlichen Eigenart, ihrer Zielsetzung und ihrer geistesgeschichtlichen Verankerung entsprechend einzuordnen und nur vor diesem Hintergrund vor‐ 79 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung 131 „Darin liegt die unermeßliche Bedeutung der Literatur für unser Verständnis des geis‐ tigen Lebens und der Geschichte, daß in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet. Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpre‐ tation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins“ (Dilthey 1990: 319). 132 Das reine Verstehen ist auch bei Heidegger wichtigster Bestandteil des hermeneuti‐ schen Verständnisses: „Alle Auslegung gründet im Verstehen. Das in der Auslegung Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als Gliederbares Vorgezeichnete ist der Sinn“ (Heidegger 1957: 153). sichtige Schlüsse über das darin ausgedrückte Denken zu ziehen bzw. die da‐ hinterstehenden Ideen und Vorstellungswelten zu rekonstruieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich des vorliegenden Anliegens findet sich in den Schriften Wilhelm Diltheys (1833-1911). Die von Dilthey entwickelte Hermeneutik basiert zunächst auf den theoretischen Ausführungen Schleier‐ machers, geht aber darüber hinaus. Er erweitert beispielweise die „Kunst des Verstehens“ zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie, zu einer „methodischen Auseinandersetzung mit Gegenständen der Kultur“ (Rusterholz 2005a: 119). In Bezug auf schriftliche Äußerungen, die ein Teil davon sind, präzisiert er seine Vorstellung eines methodisch angelegten Erkenntnisprozesses als „kunstmä‐ ßige[s] Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen“, welches er wie‐ derum als „Auslegung oder Interpretation“ (Dilthey 1990: 319) benannt haben möchte. Diese schriftlich fixierten Äußerungen, vornehmlich in Form von Li‐ teratur (aber nicht nur), sind Ausdruck des menschlichen Seins und Schaffens; der Zugang erfolgt dabei über die Sprache. 131 Es soll nun eine letzte Anleihe bei der „klassischen“ Hermeneutik vorge‐ nommen und diesbezüglich einige Überlegungen aus den Schriften Hans-Georg Gadamers (1900-2002) dargelegt werden. Gadamers Blick auf das Verstehen von Texten bzw. von Äußerungen im Allgemeinen ist von einem auf Martin Hei‐ degger (1889-1976) zurückgehenden Wahrheitsanspruch geprägt, d. h. Anliegen ist es, „eine Erfahrung von Wahrheit auszumachen, die speziell in der Kunst zutage tritt“ (Geisenhanslüke 2004: 54), um so die Geisteswissenschaften im Ver‐ gleich mit den Naturwissenschaften entsprechend aufzuwerten. Schlüssel für das Verstehen ist dabei wiederum die Sprache, wobei es ihm vorrangig nicht rein um das Verstehen geht, sondern um Verständigung. 132 Basis ist deshalb in erster Linie die lebendige Rede, die schriftlichen Erzeugnisse müssen deshalb sozusagen erst wieder zum Sprechen gebracht werden, denn die „Urszene des Verstehens ist das Gespräch“ (Watzka 2014: 213). Zentraler Punkt der Herme‐ neutik Gadamers ist der Aspekt der Historizität im Verstehen (cf. Gander 80 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 133 „Eine Überlieferung verstehen, verlangt also gewiß historischen Horizont. Aber es kann sich nicht darum handeln, daß man diesen Horizont gewinnt, indem man sich in eine historische Situation versetzt. Man muß vielmehr immer schon Horizont haben, um sich dergestalt in eine Situation versetzen zu können“ (Gadamer 2010: 309-310). 134 Weitere wichtige Elemente der vielfältigen Betrachtungen Gadamers zur Hermeneutik in diesem Kontext, wären beispielsweise das „kritisch reflektierte Verstehen“, die „in‐ haltlichen Vormeinungen“ oder die beiden Arten von „Vorurteilen“ („persönliche“ und „undurchschaute“), die es bei der Textinterpretation zu überwinden gilt; cf. dazu Gander (2011: 94-97). 135 Bezüglich Gadamer weist Koselleck daraufhin, daß dieser die Hermeneutik umfas‐ sender versteht: „Gadamers Hermeneutik enthält implizit, teils explizit, den Anspruch, die Historik zu umgreifen“ (Koselleck 1987: 10). Koselleck (1987: 11) selbst möchte jedoch die Historik, d. h. die Theorie der Geschichte, nicht als Unterkategorie der Hermeneutik verstanden wissen. 2011: 93). 133 Dabei ist hervorzuheben, daß die von ihm angesprochenen Hori‐ zonte nicht im eigentlichen Sinne verschmelzen, sondern daß es unter Berück‐ sichtigung von Traditionsprozessen darum geht, einen Gegenwartshorizont von anderen historischen Horizonten zu isolieren. Dieser kann jedoch nicht für sich bestehen, sondern nur im Kontext der anderen bzw. aller, die es als Rezipient immer wieder neu zu bestimmen gilt (cf. Rusterholz 2005a: 126). 134 Aus den bisher angeführten Ausführungen Schleiermachers, Diltheys und Gadamers sind deshalb folgende hier zentrale Elemente herauszugreifen: Aus‐ gangspunkt der Untersuchung bilden schriftliche Zeugnisse, die wiederum Ge‐ dankengänge ihrer Autoren widerspiegeln. Um nun wie für vorliegende Unter‐ suchung erstrebt, die Vorstellungswelt einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren, ist es nötig, bei der Untersuchung der zur Verfügung stehenden Texte die historischen Implikationen der Epoche zu berücksichtigen und bei der Interpretation und Auslegung die Schlüsselfunktion der Sprache dahingehend in Betracht zu ziehen, daß die Diskrepanz zwischen je unterschiedlich ver‐ sprachlichtem Text und daraus ableitbaren Gedankengängen bzw. erschließ‐ baren Vorstellungen und Konzepten berücksichtigt wird. Dies bedeutet letzt‐ endlich vor allem Vorsicht bei den interpretatorischen Schlußfolgerungen aus dem vorhandenen Textmaterial obwalten zu lassen und dabei alle zeitgeschicht‐ lichen Implikationen möglichst adäquat einzubeziehen. An diesem Punkt trifft die Hermeneutik, die nicht selten literarische Texte im Fokus hat, also Texte mit einem ästhetischen Anspruch und einer entsprech‐ enden, dezidierten Wirkungsabsicht, auch auf die Geschichtswissenschaft, die ebenfalls an der Auslegung von Schriftzeugnissen interessiert ist. 135 Historio‐ graphische Texte dienen zwar dazu, historische Ereignisse und Abläufe ent‐ sprechend der Wahrheit darzustellen (Simon 1996: 277), so der grundsätzliche Anspruch, nichtsdestoweniger ist es auch möglich, diese als literarische Er‐ 81 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung 136 Zum narrativen Element in der Geschichtsschreibung cf. Stempel (1973), der auch der Frage des Verhältnisses von Historiographie und Literatur nachgeht (1973: 344). 137 Die Verschränkung von Hermeneutik und Geschichtswissenschaft geht bereits auf Jo‐ hann Gustav Droysen (1808-1884) zurück, der den Umgang mit den historischen Quellen in drei methodische Schritte einteilt, nämlich die Heuristik (Festlegung eines Themas und Formulierung einer Fragestellung), die Kritik (methodische Vorüberlegung für ein Verstehen bzw. Ergebnis) und schließlich die Interpretation (Lehre vom Ver‐ stehen). Insbesondere die letzten beiden Arbeitsschritte sind dabei stark von der zeit‐ genössischen und älteren Hermeneutik inspiriert (cf. Jordan 2013: 48-49). Die herme‐ neutischen Methoden bleiben jedoch auch in den moderneren Strömungen der historischen Untersuchungsansätze präsent (cf. Jordan 2013: 107, 120-122). 138 Daß die Hermeneutik am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen anzusiedeln ist, zeigt sich schon allein an den bisher aufgeführten Wissenschaftlern, die daraus gewinnbrin‐ gende Anleihen für ihr eigenes Fach reklamieren - z. B. Schleiermacher (Philologie), Gadamer (Philosophie), Koselleck (Historik, Historiographie), Stempel (Sprachwissen‐ schaft) - zugleich aber auch koproduktiv arbeiten. zeugnisse im weiteren Sinne (d. h. Schriftzeugnisse mit spezifischen Inszenie‐ rungsstrategien und Kommunikationsabsichten) mit hermeneutischen Me‐ thoden zu beleuchten oder wie es Simon (1996: 277) prägnant formuliert: „Historiographie ist Literatur, also der Literaturgeschichte und -kritik zugäng‐ lich […].“ 136 Die Wechselwirkung zwischen literaturwissenschaftlichen herme‐ neutischen Methoden und der Perspektive des Historikers besteht demnach darin, daß der zu untersuchende Text einerseits als sprachliches und damit in sensu largo literarisches Produkt zu sehen ist, und andererseits als ein geistes‐ geschichtliches, welches in einen entsprechenden Diskurs eingebunden ist, der wiederum den Zugang zu historischen Fakten ermöglicht (soweit objekti‐ vierbar). 137 Dies ist für vorliegende Untersuchung insofern relevant, da aus den Traktaten des Korpus, die ja mit je unterschiedlichen Zielsetzungen (literaturtheoretische, historiographische, sprachtheoretische, etc.) konzipiert wurden und keine lite‐ rarischen Produkte im engsten Sinne sind, der jeweilige Kenntnisstand in der Debatte um das antike Latein herausgelesen werden soll, d. h. als historische Fakten eines Diskurses zu rekonstruieren ist. Anschließend an diese kursorischen Ausführungen zur Hermeneutik, die in erster Linie dem Traditionsstrang der traditionell verstandenen Philologie zu‐ zurechnen ist, aber auch in anderen Disziplinen gewinnbringend Anwendung findet, 138 sollen nun die disiecta membra der Literatur- und Sprachwissenschaft wieder zusammengeführt werden und zusätzlich Aspekte der Nützlichkeit 82 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 139 Einige moderne Ansätze, die sich die angesprochenen Konvergenzen zu Nutze machen, für vorliegende Belange aber überwiegend nicht zentral sein können, finden sich bei‐ spielsweise in dem Sammelband von Hermanns / Holly (2010). 140 Spitzer selbst führt seinen „Zirkel“ auf Dilthey bzw. Schleiermacher zurück: „Und der Zirkel […] ist auch kein circulus vitiosus, sondern stellt ganz im Gegenteil das Grund‐ verfahren der Geisteswissenschaften dar: den Zirkel des Verstehens hat Dilthey die Ent‐ deckung des romantischen Gelehrten und Theologen Schleiermacher genannt, daß Er‐ kenntnis in der Philologie nicht nur durch das allmähliche Fortschreiten von Detail zu Detail erreicht wird, sondern auch durch das ahnende Begreifen des Ganzen […]“ (Spitzer 1969: 24-25). Zu weiteren Aspekten von Spitzers ganzheitlicher Perspektive cf. Huszai (2007: 141-147); zu den verschiedenen Arten der Bedeutungen und damit zu‐ gleich Problemstellungen oder Dilemmata des hermeneutischen Zirkels im Allge‐ meinen cf. Stegmüller (2008: 198). dieser Vorgehensweise auch für die linguistische Analyse herausgestellt werden. 139 Auf bestimmte Konvergenzen beider Fachdisziplinen hat auch Leo Spitzer (1887-1960) hingewiesen, der sich in seinen Schriften oft sowohl mit literatur‐ wissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat als auch mit solchen der schwer einzuordnenden Stilistik. In seinem erstmals auf Englisch erschienen Buch Linguistics and Literary History (1948) gibt er in seinem einleitenden Aufsatz einige wichtige, eher praxisorientierte Leitge‐ danken zum Umgang mit literarischen Texten. Warum behaupte ich so nachdrücklich, daß es unmöglich ist, dem Leser eine schritt‐ weise Anleitung zum Verständnis eines Kunstwerks an die Hand zu geben? In erster Linie, weil der erste Schritt, von dem alles abhängen kann, nie im Vorhinein geplant werden kann: er muß schon stattgefunden haben. (Spitzer 1969: 31) Im Weiteren präzisiert Spitzer (1969: 31) diesen ersten Schritt, der darin bestehen sollte, daß man über ein bestimmtes Detail eine Erkenntnis gewinnt, sodann diese mit dem gesamten literarischen (Kunst)Werk in Relation setzt, dazu eine Theorie konzipiert und aus dieser Konstellation heraus eine bestimmte Frage‐ stellung an den Text heranträgt. Voraussetzung ist dabei nicht nur eine gewisse Erfahrung, Begabung und ein methodisches Vorgehen, sondern auch ein wie‐ derholtes Lesen. Die Untersuchung eines Textes ist dabei von einer gewissen Zirkularität geprägt, denn erst wenn für einen bereits einen Zugang besteht, kann man weiteren bzw. tieferen Zugang erlangen, was er tautologisch dahin‐ gehend synthetisiert, „daß Lesen wirklich bedeutet, gelesen zu haben, und daß Verstehen bedeutet, verstanden zu haben“ (Spitzer 1969: 32). 140 Ein anderer wichtiger Hinweis Spitzers in Bezug auf das hermeneutische Vorgehen ist in der Mahnung zur Vorsicht bei der Analyse verschiedener Kunst‐ 83 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung 141 Für eine exaktere Relation zwischen der Rekontextualisierung Oesterreichers und der recontextualization Fleischmans cf. auch Schöntag (2017b: 113). 142 Hierbei sei auf die besondere Problematik auf die in der Frühen Neuzeit nicht selten auftretende Form der dialoghaften Abhandlung verwiesen, die im Rahmen einer Dis‐ kurstradition des ‚platonischen Dialogs‘ und der fingierten Mündlichkeit zu sehen ist. werke zu sehen, da die Verschlüsselung durch die Sprache eine je spezifische darstellt. Der Grund dafür, daß der Schlüssel zum Verständnis nicht mechanisch von einem Kunstwerk auf das andere übertragen werden kann, liegt in der künstlerischen Aus‐ drucksweise selbst. (Spitzer 1969: 33) Dieser Gedanke ist insofern von Belang, als bei einer Analyse jeder Text und vor allem Texte verschiedener Produzenten immer wieder auf die Art ihrer Zu‐ gänglichkeit hin befragt werden müssen oder konkreter ausgedrückt: Ist die applizierte Methode in vorliegendem Fall noch valide oder womöglich zu vari‐ ieren? Spitzers Ausführungen sind dabei unabhängig davon zu sehen, ob die Frage einen eher literaturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Hinter‐ grund hat, und somit für vorliegende Untersuchung in jedem Fall von Relevanz. Die Erarbeitung einer Fragestellung, die nicht ohne vorheriges Sich-Ausei‐ nander-Setzen mit dem schriftlichen, künstlerischen Produkt - dazu zählt auch ein Traktat - möglich ist, soll hier genauso Beachtung finden wie die Berück‐ sichtigung der sprachlichen (bzw. stilistischen) Implikationen der je einzelnen Texte, die unter Umständen eine andere Herangehensweise erfordern könnten. Zuletzt sei nun auf den bereits mehrfach formulierten (cf. Kap. 1) zentralen Aspekt der hier geplanten analytischen Methode eingegangen, nämlich auf die Rekontextualisierung. Diesen Terminus verwendet Oesterreicher (1998: 21-22) mit Rückgriff auf Fleischman (1990: 37) als Schlüsselbegriff, 141 um auf die Be‐ deutung der notwendigen Rekonstruktion des Kommunikationsraumes (bzw. des Produktions- und Rezeptionskontextes), in dem ein historischer Text einst funktionierte, hinzuweisen. Seine Herangehensweise ist vor dem Hintergrund des von ihm mitentwickelten Konzeptes von Nähe-Distanz zu sehen (cf. Koch / Oesterreicher 2011), so daß für ihn die zentrale Frage zunächst lautet, welche Kommunikationsbedingungen bei einem bestimmten Text anzusetzen sind (cf. Kap. 3.1.1). Jeder Diskurs und jeder Text ist eingebettet in einen be‐ stimmten Handlungszusammenhang mit wiederum spezifischen Kommunika‐ tionsbedingungen wie ‚Grad der Öffentlichkeit‘, ‚Grad der Vertrautheit der Partner‘, ‚Grad der emotionalen Beteiligung‘ und ’physischen Nähe der Kom‐ munikationspartner‘, ‚Grad der Kooperation‘, ‚Grad der Dialogizität‘ 142 oder 84 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 143 Zur vollständigen Liste der Kommunikationsbedingungen und weiteren Explikationen sowie der damit zusammenhängenden Problematik cf. Koch / Oesterreicher (2011: 7-10) sowie Kap. 3.1.1. 144 Auch Watzka (2014: 211) weist auf die scheinbar triviale Tatsache hin, daß das Verstehen von Texten im Gegensatz zu mündlichen Sprechakten u. a. dadurch erschwert wird, daß keine Rückfragen an den Autor möglich sind, zudem man - und dies gilt insbesondere bei literarischen Texten - die Intention des Autors und den transportierten Textsinn nicht als identisch annehmen sollte. Dies liegt vor allem an der komplexen Struktur eines schriftlichen Textes, dessen Charakteristika er treffend beschreibt: „Ein Text ist mehr als eine Verkettung von Sätzen, er ist ein durchgearbeitetes Ganzes (Werk, Kom‐ position), er exemplifiziert eine oder mehrere Formen und Gattungen, er besitzt indi‐ viduelle oder epochenspezifische Stilmerkmale, er verweist auf frühere oder spätere Texte, er entfaltet eine Wirkungsgeschichte, er ist in einer fremden oder nicht mehr gebräuchlichen Sprache geschrieben, usw.“ (Watzka 2014: 211). ‚Grad der Themenfixierung‘. 143 Während (mündliche) Nähediskurse im Allge‐ meinen stark von einer außersprachlichen Situations- und Handlungseinbet‐ tung gekennzeichnet sind, so daß deren Bedeutung nur unter Kenntnis dieses Kotextes rekonstruierbar ist, sind (schriftliche) Distanzdiskurse prinzipiell mit expliziteren Referenzbezügen ausgestattet. Handelt es sich jedoch um Schrift‐ produkte, deren Entstehungszeit nicht mehr ohne weiteres mit den aktuellen Parametern bestimmt werden kann, so kann sich die adäquate Einordnung - insbesondere von literarischen Texten, aber auch von juristischen, historiogra‐ phischen, theologischen und anderen komplexen Gebrauchstexten - deutlich schwieriger gestalten. 144 Dies liegt unter anderem daran, daß vor allem bei his‐ torisch weiter zurückliegenden Kommunikationssituationen, in denen einst ein bestimmter Text eingebettet war, die Beleglage für die Zeit womöglich lücken‐ haft ist - sicherlich jedoch in irgendeiner Weise defizitär. Ganz prinzipiell ist es jedoch auch der Tatsache geschuldet, daß es bei schriftlich niedergelegten Dis‐ kursen immer zu einer, wie es Oesterreicher (1998: 22) nennt, „raum-zeitliche[n] Entkoppelung der Kommunikationssituation“ kommt oder, wie es Ehlich (2010: 542) ausdrückt, zu einer „zerdehnten Sprechsituation“. Aus dieser Kons‐ tellation heraus plädiert Oesterreicher für eine umso größere Notwendigkeit, diachrone Schriftzeugnisse in ihre ursprüngliche Kommunikationssituation zu rekontextualisieren: Die texthermeneutische Frage stellt sich jedoch insofern verschärft, als sich unter Umständen keine oder nur unvollständige oder einfach zu wenig historische Infor‐ mationen zum jeweiligen kommunikativen Geschehen beibringen lassen. Trotzdem sind diese Texte grundsätzlich daraufhin zu befragen, wie sich ihre uns vorliegende schriftlich fixierte Form zu einem originären kommunikativen Geschehen verhält, das in der Regel zumindest in seiner Grundstruktur rekonstruiert werden kann. Den all‐ 85 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung 145 Zu den Begrifflichkeiten und Konzepten ‚Diskurstradition‘, ‚Verschriftung‘ und ‚Ver‐ schriftlichung‘ cf. Kap. 3.1.1. 146 „Der Betrachter ist gezwungen, hier grundsätzlich von einer De-Kontextualisierung, einer De-Inszenierung und einer Reduktion der vielfältigen semiotischen Modi des ur‐ sprünglichen kommunikativen Geschehens auszugehen“ (Oesterreicher 1998: 24). gemein hermeneutisch zu konzipierenden Prozeß dieser Rekonstruktion der ver‐ schiedenen semiotischen Bezüge der Texte durch den Betrachter bezeichne ich im folgenden als Rekontextualisierung, die teilweise auch als eine Re-Inszenierung von Texten verstanden werden kann. (Oesterreicher 1998: 22-23) Im Zuge dieses hermeneutischen Vorgehens sind sowohl Implikationen, die aus der jeweiligen diskurstraditionellen Verankerung eines Textes resultieren, zu berücksichtigen, als auch solche, die sich durch den Verschriftungs- und Ver‐ schriftlichungsprozeß ergeben. 145 Ziel ist es dabei, letztendlich die „Verluste“ des kommunikativen Rahmens einer historischen Konstellation soweit als möglich auszugleichen und die einstige „diskursive Einbettung“ wiederherzustellen (Oesterreicher 1998: 24). 146 Im Zuge seiner Überlegungen zur Problematik historischer Schrifterzeug‐ nisse führt Oesterreicher (1998: 26-27) noch einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Textzentrierung. Darunter versteht er einen „schriftkulturelle[n] Prozeß, bei dem die ‚Ausblendung‘ der mit Diskursen ursprünglich verbundenen Vielfalt semiotischer Ausdrucksmodalitäten sich historisch sukzessive fixieren und dis‐ kurstraditionell festschreiben kann“ (Oesterreicher 1988: 26). Dabei geht es vor allem um die beispielsweise in der mittelalterlichen Dichtung sichtbar werd‐ enden Verfahren bei der Herausbildung von schriftlichen Diskurstraditionen, die zum Teil auf mündlichen Vorläufern basieren. In diesem Prozeß der Neu‐ konstituierung treten bestimmte semiotische Verfahren eines Nähediskurses in den Hintergrund, während andererseits Textualitätsanteile zunehmen (Oester‐ reicher 1998: 27). Ohne prinzipiell diesen Prozeß und die damit verbundenen Veränderungen in der Kommunikation in Abrede stellen zu wollen, erscheint doch der wesent‐ lichere Aspekt dieser beiden, die Oesterreicher (1998: 27) „wohlunterschieden“ wissen möchte, derjenige der Rekontextualisierung zu sein. Aus diesem Grund soll dieses Prinzip, welches wichtige hermeneutische Verfahren impliziert, auch in vorliegender Untersuchung zentraler Bestandteil sein und als „Gegenge‐ wicht“ zu einer rein nach modernen linguistischen Termini ausgerichteten Tex‐ tinterpretation (cf. Kap. 3.1) fungieren. Im Rahmen der in der einleitenden Zielsetzung beschriebenen Methodik des Vorgehens in Bezug auf die Analyse der frühneuzeitlichen Texte (cf. Kap. 1.4) 86 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 147 Zu einer Art modernen Variante der hermeneutischen Analyse aus Sicht der Kommu‐ nikations- und Sozialforschung cf. Mayring, der seinen Ansatz folgendermaßen cha‐ rakterisiert: „Der Grundgedanke des hier vorgestellten Ansatzes ist dabei, die Vorteile der in den Kommunikationswissenschaften entwickelten quantitativen Inhaltsanalyse zu bewahren und auf qualitativ-interpretative Auswertungsschritte zu übertragen und weiter zu entwickeln“ (Mayring 2000: § 2). bildet die Herangehensweise mittels aktueller varietätenlinguistischer und so‐ ziolinguistischer Begrifflichkeiten, deren Grundlagen bereits erläutert wurden (cf. Kap. 3.1), den Fokus vorliegender Untersuchung. Eine rein auf dieser Me‐ thode fußende Analyse würde jedoch Gefahr laufen, voreilige oder ganz allge‐ mein zu kurz greifende Ergebnisse zu folgern, vor allem im Hinblick auf eine womöglich überinterpretierte Modernität - im Sinne eines aktuellen linguisti‐ schen Verständnisses - der untersuchten Texte. Daher ist die hier vorgestellte Rekontextualisierung, im Sinne einer adäquaten zeitgeschichtlichen Veror‐ tung - und diese impliziert allgemein historische Epochenbezüge genauso wie spezifisch literarische -, unabdingbar, um eine geistesgeschichtliche Entwick‐ lung, wie hier geplant, nachzuzeichnen. Diese Rekontextualisierung, wie sie von Oesterreicher (1998) im Hinblick auf eine sprachwissenschaftliche Nutzbarkeit hin konzipiert wurde, ist dabei nicht denkbar ohne die Tradition der klassischen Hermeneutik, spricht er doch selbst von der „Hermeneutik der Rekontextuali‐ sierung“ (Oesterreicher 1998: 21). 147 Unabhängig von den bei Oesterreicher nur kursorisch angesprochenen Be‐ zügen zu dieser Disziplin, schien es daher notwendig, einige entscheidende As‐ pekte der hermeneutischen Analyse aufzugreifen. Dabei ging es nicht darum, sich dezidiert einem der großen Klassiker (Schleiermacher et al.) anzuschließen, sondern Überlegungen herauszustellen, die ganz konkreten Nutzen für die vor‐ liegende diachrone Konstellation der Textinterpretation haben und als metho‐ dische Grundpfeiler fungieren können. Die Arbeit mit Texten einer vergangenen Epoche zwingt einen somit unter Beachtung grundlegender hermeneutischer Prinzipien dazu, Relationen wie Vorstellungen bzw. Denkprozesse, Schriftzeugnisse, sprachliche Realisierung und zeitgenössischen Diskurs nur mit äußerster Vorsicht in Bezug zueinander zu setzen bzw. immer wieder neu zu überdenken und zu hinterfragen. Dieser Versuch einer Verankerung und Verortung der Korpustexte soll aus diesem Grund den zweiten methodischen Pfeiler vorliegender Untersuchung bilden und unter dem Schlagwort der Rekontextualisierung figurieren. Das konkrete Vorgehen im Einzelnen ist dabei natürlich abhängig von der Art des Textes, seiner Strukturierung, seiner Intentionalität und seiner Bedeu‐ tung innerhalb des Diskurses. Ganz allgemein besteht das Ziel darin, jeden Text 87 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung des Korpus in seinem zeitgeschichtlichen Kontext adäquat zu verorten. Bei dieser Vorgehensweise, die eine exakte Lektüre und eine umsichtige, aber den‐ noch dezidierte Interpretation beinhaltet, sollen die vorgestellten hermeneuti‐ schen Verfahren eine methodisch wichtige Grundlage bilden. Es geht letztend‐ lich darum, den gegebenen Text so zu interpretieren, daß alle für die vorliegende Fragestellung relevanten Bezüge aufgedeckt werden, d. h. das untersuchte Traktat ist daraufhin zu bestimmen, welchen Platz es in der geschilderten De‐ batte um das Latein der Antike einnimmt, in welcher Relation es zu den anderen an diesem Disput involvierten Texten (und Autoren) steht, welche historische gesellschaftspolitische Implikationen hierbei zum Tragen kommen, welche grundlegende Zielsetzung bzw. Intentionalität ermittelt werden kann, im Rahmen welcher Diskurstradition es verfaßt wurde bzw. welche Textsorte oder Textgattung vorliegt und welche Versprachlichungsstrategien damit verbunden sind bzw. welcher stilistische Duktus damit einhergeht. Dies sei nur beispielhaft dafür angeführt, was es zu beachten gilt, wenn es darum geht, die Aufgabe der Rekontextualisierung durchzuführen. Dabei soll allerdings nicht eine Analyse der aufgezeigten Aspekte in vollem Umfang angestrebt, also z. B. alle intra- und intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden, sondern nur solche die für die Be‐ antwortung der vorliegenden Fragestellung von Relevanz sind und die dabei helfen, den untersuchten Text in seiner Entstehungszeit und seinen historischen Kommunikationsraum angemessen einzuordnen und ihn damit so zu verstehen, wie er intendiert wurde. 88 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive 148 Zur internen Sprachentwicklung des Lateinischen anhand einzelner Merkmale cf. z. B. Kramer (1997: 129-151), Steinbauer (2003: 509-514) oder Willms (2013: 227-249). 149 Zu der Metapher der „toten“ Sprache cf. Lüdtke (2005: 21-29) sowie Kap. 4.2 der vor‐ liegenden Arbeit. 4. Die Architektur des Lateins Nachdem im vorherigen Kapitel zur Methodik der Vorgehensweise die beiden Untersuchungsebenen für die vorliegende Analyse der frühneuzeitlichen Trak‐ tatliteratur vorgestellt wurden (cf. Kap. 3) und dabei im Rahmen der varietäten- und soziolinguistischen Theorie auch ein Entwurf für ein allgemein applizier‐ bares diasystematisches Beschreibungsmodell ausgearbeitet wurde (Kap. 3.1.3), soll nun im Folgenden eine Bestandsaufnahme der Architektur des Lateins ge‐ leistet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch, die Varietätenvielfalt des Lateins in der Antike aus moderner linguistischer Perspektive so adäquat wie möglich zu erfassen und zu beschreiben. Der Fokus sei dabei auf das Latein der Antike gerichtet, also aus soziolingu‐ istischer Perspektive auf seine Entwicklung bezüglich des Ausbaus als lingua viva und sein Verhältnis zu den Kontaktsprachen (Diglossie, Mehrsprachigkeit) sowie aus varietätenlinguistischer Perspektive auf seine Architektur. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht wie in der Literaturgeschichte auf der Zeit des Klassi‐ schen und Nachklassischen Lateins, sondern auf der Entstehungsphase, in der die Herausbildung von bestimmten schriftsprachlichen Diskurstraditionen und der damit zusammenhängende erste Ausbau der Sprache stattfindet (cf. Kap. 4.1). 148 Weieterhin soll aber auch ein Ausblick gegeben werden auf die weitere Ge‐ schichte - d. h. in erster Linie externe - des Lateinischen im Mittelalter, seinen Übergang von einer lebendigen Sprache zu einer immer weiter erstarrenden, d. h. seine Transformation von einer lingua viva in eine lingua morta viva bzw. später in eine lingua morta (cf. Kap. 4.2). 149 Im Rahmen dieses Versuches, die aktuellen sprachwissenschaftlichen Er‐ kenntnisse zur Frage der Differenziertheit des Lateins auf verschiedenen diasystematischen Ebenen zu synthetisieren, soll schließlich zur Verdeutlichung der zuvor entworfene Beschreibungsrahmen, der auf der Basis der Modelle von Coseriu und Koch / Oesterreicher beruht (cf. Kap. 3.1.3), auf die Situation des antiken Lateins angewandt werden (cf. Kap. 4.3). 150 Die genetische Zuordnung des Venetischen ist umstritten (cf. Meier-Brügger 2002: 34, E430; Haarmann 2004: 206; cf. Steinbauer 2006: 506). 151 Exemplarisch sei zu den Inschriften der italischen Sprachen auf das Wörterbuch des Oskisch-Umbrischen von Untermann (2000) verwiesen sowie auf die Sabellischen Texte von Rix (2002); weitere Spezialliteratur findet sich bei Knobloch (1996: 29-31) und Meier-Brügger (2002: 32-34). 152 Zu folgenden italischen Sprachen cf. Baldi (2002: 118-142) mit je einer Kurzcharakte‐ ristik und Sprachbeispielen aus Inschriften: Äquisch, Faliskisch, Latein, Marrukinisch, Marsisch, Oskisch, Pälignisch, Sabinisch, Südpikenisch, Umbrisch, Vestinisch und Vols‐ kisch; zu weiteren nicht-italischen Sprachen wie Ligurisch, Messapisch, Nordpikenisch, Rätisch, Sikulisch und Venetisch cf. Baldi (2002: 149-160). 153 Die Frage, ob das Ethnonym (und damit auch das Glottonym) das Toponym bedingt oder umgekehrt, ist nicht eindeutig zu klären. Schmidt beispielsweise (1996: 1) gibt an, daß die Sprache nach der Landschaft benannt wurde. Coseriu (2008: 5) hingegen sug‐ geriert, daß Latium nach den dort eingewanderten Latinern benannt wurde. 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike Die lateinische Sprache ist Teil des italischen Sprachzweigs der indogermani‐ schen Sprachfamilie, der sich weiter in eine latino-faliskische und eine osko-um‐ brische (sabellische) Untergruppe aufgliedern läßt. Die Sprachen der Italiker, die im Zuge der sukzessiven Landnahme der Indoeuropäer den geographischen Raum der italienischen Halbinsel besiedelten und die bereits bestehenden alt‐ mediterranen Sprachen und Kulturen marginalisierten, differenzierten sich ver‐ mutlich zwischen dem 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. aus (cf. Haarmann 2010: 65), werden aber erst durch ihre ersten schriftlichen Zeugnisse wirklich faßbar und kategorisierbar: Das Venetische ist ab dem 6. Jh. v. Chr. in Inschriften dokumen‐ tiert, 150 das Oskische ab dem 3. Jh. v. Chr, das Umbrische ab dem 3.-2. Jh. v. Chr, das Südpikenische ab dem 6. Jh. v. Chr., das Faliskische ebenso wie das Latein in gleicher Weise ab dem 6. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002: 32-34; E 427-430). 151 Alle weiteren italischen Sprachen und Varietäten bleiben (weitgehend) schriftlos. 152 Das Lateinische hat zu Beginn seiner für uns faßbaren Sprachgeschichte eine äußerst begrenzte Reichweite, fungiert es doch im Wesentlichen allein als Mut‐ tersprache einer relativ kleinen Sprechergruppe, den Latinern (lat. Latini), die den Namen der ihnen zugehörigen Landschaft Latium tragen, 153 doch diese nur zu einem Teil besiedeln. Im Süden sind sie begrenzt durch die Rutiler (lat. Ru‐ tili), Volsker (lat. Volsci) und Aurunker (lat. Aurunci), dahinter im Südosten durch die Samniten (lat. Samnites), im Osten durch die Sabiner (lat. Sabini), Äquer (lat. Aequi), Marser (lat. Marsi) und Herniker (lat. Hernici), im Norden durch die Fa‐ lisker (lat. Falisci) und vor allem die Etrusker (lat. Etrusci, Tusci), die militärisch 90 4. Die Architektur des Lateins 154 Die Ethnogenese der Etrusker (Selbstbezeichnung *Tursa-, cf. griech. Τυρσηνοί) ist um‐ stritten, d. h. ob autochthon oder durch Migration im 12./ 11. Jh. aus dem kleinasiatischen Raum oder aber durch eine Symbiose beider Elemente entstanden (cf. Knobloch 1996: 26-27). Zu Inschriften cf. Meiser / Rix (2010). 155 In der Forschung stehen sich eine Gründungsthese, mit der ein gewollter politischer Zusammenschluß (Synoikismus) favorisiert wird und eine Stadtwerdungsthese gegen‐ über, die eher ein langsames Zusammenwachsen beeinhaltet (cf. Kolb 2002: 54-61). 156 Zur administrativen Gliederung des römischen Reiches auf dem Höhepunkt seiner Macht cf. die Karte bei Christ (2002: 310-311) mit den zugehörigen Datierungen. wie kulturell in Mittelitalien dominierend waren (8.-4. Jh. v. Chr.) und bei der Stadtwerdung von Rom (etrusk. Ruma) einen entscheidenden Anteil hatten. 154 Im Zentrum des Interesses soll hier jedoch nicht die Diskussion um die An‐ fänge des Lateinischen oder die Datierung einer Ausgliederung aus dem Indo‐ germanischen stehen, sondern es soll damit vielmehr auf die ungeheure Dy‐ namik des Lateinischen verwiesen werden, welches sich von einer begrenzten Lokalvarietät weniger Sprecher zu einer vollausgebauten Schriftsprache entwi‐ ckelt hat, zu einer Herrschaftssprache, die im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche andere Sprachen und Varietäten überdacht hat und nach der koiné des Griechi‐ schen zur wichtigsten lingua franca des sogenannten klassischen Altertums wurde. Neben der Entwicklung hinsichtlich ihres Ausbaugrades und der Zu‐ nahme der Sprecher - sowohl der native speakers als auch solcher, die es als Verkehrssprache verwendeten - sei auch auf den Zeitraum des Aufstiegs ver‐ wiesen. Dabei deckt sich die sprachliche Entwicklungszeitspanne weitgehend mit der politischen, ganz nach dem Diktum Nebrijas (2011: 3) „que siempre la lengua fue compañera del imperio“: Fundiert man das mythische Gründungsdatum Roms (753 v. Chr.) archäolo‐ gisch, so bekommt man ein ab urbe condita, welches ca. im 8./ 7. Jh. v. Chr. an‐ zusetzen ist; 155 die Expansion beginnt ab dem 5. Jh. v. Chr. und ist bis ins 3./ 2. Jh. v. Chr. zunächst auf Italien beschränkt, bevor dann vor allem auf Herr‐ schaftsgebiete rund um das spätere mare nostrum ausgegriffen wird. Die größte Ausdehnung erreicht das Imperium Romanum in den Jahren 115-117 n. Chr. unter Trajan (Nerva Traianus Augustus, 98-117 n. Chr.), der durch weitreichende Eroberungen die Provinzen Dacia (106), Arabia (106), Armenia (114-117), Me‐ soptomia (115-117) und Assyria (115-117) einrichten konnte. 156 Wichtige Etappen bzgl. sozio-politischer Veränderungen sind im Folgenden vor allem die Reichsreform (Tetrarchie, Dominat) unter Diokletian (Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, 284-305 n. Chr.) und Konstantin (Flavius Valerius Aurelius Constantinus, 306-337 n. Chr.) sowie die Reichsteilung nach Theodosius (Flavius Theodosius, 379-395 n. Chr.) im Jahre 395 n. Chr. mit je entsprechender neuer Provinzialordnung. Sein formales Ende findet das weströmische, lateinisch ge‐ 91 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 157 Die Latinisierung der Sabiner, Äquer und Herniker war wohl bis zum 3. Jh. v. Chr. er‐ reicht, die der Volsker, Falisker, Marser sowie der Landschaften Umbrien, Ligurien, Ve‐ netien und Oberitaliens (Gallia cisalpina) im 2. Jh. v. Chr. und die der Paligner, Marru‐ kiner und Südetruriens ca. im 1. Jh. v. Chr. Nach den Auseinandersetzungen im Zuge des Bundesgenossenkrieges (bellum sociale, 90 / 91-88 v. Chr.) und der Verleihung des römischen Bürgerrechts an die socii (Lex Plautia Papiria und Lex Pompeia de Transpa‐ danis, 89 v. Chr) wurde Latein dann auch offizielle Sprache Italiens (cf. Irmscher 1986: 84). 158 In manchen Regionen des römischen Reiches erfolgte entweder keine (vollständige) Latinisierung, wie z. B. im Baskenland, oder sie wurde in den folgenden Jahrhunderten wieder rückgängig gemacht, weil andere Völker ihre Sprache durchsetzen konnten. Diese Gebiete rechnet man üblicherweise zur Romania submersa (Rätien, Teile Germa‐ niens, Teile Nordafrikas, Noricum, Pannonien, Moesien, Illyricum, Britannien), wobei streng genommen eigentlich eine Latinitas submersa (z. B. Nordafrika) von einer Ro‐ manitas submersa (z. B. Moselromania, Dalmatien) unterschieden werden müßte (zu dieser Unterteilung cf. Kramer 2008: 131). 159 Nur hier würde, wenn überhaupt, in einer groben Vereinfachung der Ausspruch Meil‐ lets (1928: 222) zutreffen: „Mais ces variations ne vont pas loin: le latin est une langue une, sans dialectes, sans passé.“ prägte Reich, welches ab dem 3./ 4. Jh. n. Chr. der beginnenden Völkerwande‐ rung und zunehmenden innenpolitischen Wirren ausgesetzt ist, schließlich im Jahre 476 n. Chr. mit der Abdankung des letzten Kaisers Romulus Augustulus (475-476 n. Chr.). Die sprachliche Parallele besteht darin, daß die ersten schriftlichen Zeugnisse bereits kurze Zeit nach der Stadtgründung auftreten (7./ 6. Jh. v. Chr.), erste län‐ gere Inschriften ab dem 5./ 4. Jh. v. Chr., literarische Texte ab dem 3. Jh. v. Chr. und das Latein seinen vermutlich größten Ausbaugrad in der klassischen und nachklassischen Periode der lateinischen Literatur erreichte (ca. 1. Jh. v. Chr.-2. Jh. n. Chr.). Der Prozeß der Romanisierung und Latinisierung, also die kulturelle und sprachliche Durchdringung der eroberten Gesellschaften, der in Italien selbst bis ins 1. Jh. v. Chr. dauerte, 157 intensivierte sich in den an‐ deren Provinzen oft erst ab dem 2./ 3. Jh. und war in manchen Regionen hingegen erst gegen Ende des Imperium abgeschlossen ist (3.-5. Jh.). 158 Hiermit soll deutlich gemacht werden, daß man der internen Variabilität und der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Lateins der Antike nicht gerecht würde, es als eine synchrone Einheit darzustellen - dies wäre höchstens in Bezug auf das klassische Latein denkbar, welches sich innerhalb einer relativ kurzen Periode zu einer Norm- und Standardsprache entwickelte (ca. 100 Jahre). 159 Das Lateinische umfaßt schließlich eine Zeitspanne von wenigstens 1200 Jahren, in der sich die Sprache sowohl in Bezug auf ihre Natur (Struktur, Lexikon, Strati‐ fikation) als auch hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft maßgeblich ge‐ wandelt hat. 92 4. Die Architektur des Lateins 160 Nicht selten wird die Epoche des Frühlateins zusammen mit der des Altlateins als ‚Ar‐ chaisches Latein‘ bezeichnet (cf. Meiser 2010: 2, § 2), doch Steinbauer (2003: 511-512) wendet zurecht ein, daß mit ‚archaisch‘ oft ein sehr relativer Zeitbezug ausgedrückt wird, was zu vermeiden sei. 4.1.1 Die Periodisierung Bevor nun die hier zentrale Frage nach den Varietätendimensionen des Lateins aufgegriffen wird, sei zuvor noch kurz ein Überblick über die Periodisierung der Sprache in historischer Zeit gegeben und damit auch gleichzeitig die historische Dimension des Lateinischen hervorgehoben. Die verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte seien mit geringen Abweichungen im Wesentli‐ chen nach dem verbreiteten Periodisierungsmodell von Meiser (2010: 2, § 2) dar‐ gestellt (cf. Steinbauer 2003: 509-514; Michel 2005: 183-184; Müller-Lancé 2006; 21-45; Willms 2013: 223), welches zwar vor allem auf syntaktischen und stilis‐ tischen Veränderungen basiert (cf. Willms 2013: 223), sich damit aber auch mit den traditionellen literarischen Epochen in Einklang befindet, so daß hier ka‐ noniserte Periodisierung mit einigen linguistischen Fakten untermauert wird. Bei anderen mehr oder weniger stark davon abweichenden Modellen ist meist insbesondere die Periode des klassischen Lateins zeitlich divergierend verortet, d. h. über das augusteische Zeitalter hinaus bis ins 3./ 4. Jh. n. Chr. (cf. Weiss 2009: 23) oder gar bis um 400 n. Chr. (cf. Dietrich / Geckeler 2007: 130 bzw. Coseriu 1987: 264) ausgedehnt. Die Frage, ab wann das Spätlatein einerseits in das Romanische und ande‐ rerseits ins Mittellatein überging, ist wiederum eher Gegenstand einer anderen Diskussion, die vornehmlich die Romanistik und Vulgärlateinforschung be‐ schäftigt (cf. Kap. 4.2). 4.1.1.1 Frühlatein Die erste Phase der lateinischen Sprachgeschichte wird meistens als ‚Frühla‐ tein‘ 160 bezeichnet und umfaßt die Zeit von den ersten schriftlichen Zeugnissen bis zum Beginn der literarischen Textproduktion, woraus sich eine Datierung vom ca. 7./ 6. Jh. - 240 v. Chr. ergibt. Voraussetzung für die Verschriftung des Lateins war die Übernahme der Alphabetschrift von den Etruskern, deren Schriftsystem wiederum auf ein westgriechisches zurückgeht, nämlich das eu‐ böisch-chalkidische (cf. Aigner-Foresti 2003: 18; Haarmann 2004: 66). Die Über‐ nahme des etruskischen Alphabets durch die Römer und dessen Weiterentwick‐ lung auch unter direktem griechischen Einfluß (cf. Brekle 1994: 185) zu einem eigenen lateinischen Alphabet, welches der zu verschriftenden Sprache mög‐ lichst gerecht wird, ist dabei eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung für 93 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 161 Die Echtheit dieses Artefakts ist umstritten, es galt lange Zeit als Fälschung, was bisher aber nicht nachgewiesen wurde. Die heutige Tendenz geht dahin, die Fibula Praenestina (nach dem Fundort des römischen Praeneste, heute: Palestrina) als echt zu werten (cf. Schmidt 1996: 3; Eck 1997: 100; Steinbauer 2003: 504). Eine äußerst ausführliche Darstel‐ lung aller bisherigen Positionen seit ihrer Entdeckung 1887, zudem eine detaillierte (naturwissenschaftliche) Analyse des Materials, den Nachweis einer womöglich un‐ sachgemäßen Restaurierung des Objekts sowie eine graphologische Untersuchung lie‐ fert Hartmann (2005: 69-106), der trotz diverser Widersprüche bzgl. der Fundumstände dafür plädiert, die Echtheit anzunehmen, solange es keinen stichhaltigen Fälschungs‐ beweis gebe. 162 Die Inschrift befindet sich in Wirklichkeit auf einer Stele (lat. cippus), die man unter einer schwarzen Marmorplatte gefunden hat. Es handelt sich dabei um ein Kultgesetz, welches nur fragmentarisch erhalten ist. Die Schrift, welche noch boustrophedon ver‐ läuft, weist archaische Elemente auf, d. h. griechische bzw. etruskische Buchstaben (cf. Kolb 2002: 79). 163 Unter Einbeziehung möglichst zahlreicher Positionen gibt Hartmann (2005: 68, 107, 112, 129, 132, 139) für folgende frühlateinische Inschriften die maximale Spannbreite in der Datierung an: Duenos-Inschrift (7. Jh.-Mitte 3. Jh. v. Chr.), Forum-Inschrift bzw. Lapis Niger (7. Jh.-390 v. Chr.), Sockel v. Tibur (6. Jh.-4. Jh. v. Chr.), Lapis Satricanus (725-5. Jh. v. Chr.), Fibula Praenestina (Mitte 8. Jh.-6. Jh. v. Chr.), Madonetta v. Lavinium (6.-5. Jh. v. Chr.). Zusätzlich führt er noch die Vetusia-Inschrift aus Praeneste an, die normalerweise als etruskisch klassifiziert wird, die er aber als frühlateinisch einordnet (ibid. 39-40). Anhand derartiger Zweifelsfälle sieht man sehr deutlich, wie die ver‐ schiedenen Schrifttypen (griechisch, etruskisch, lateinisch) voneinander abhängen und in ihrer historischen Entwicklung ineinander übergehen (v. supra auch zum Lapis Niger). die westliche Welt, wenn man aus einer ex post-Perspektive die heutige Ver‐ breitung dieser Alphabetschrift und die damit geschaffene Literatur und ihre Verwendung bei Gebrauchstexten betrachtet. Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua, links- oder rechtsläufig, verfaßt - manche auch boustrophedon - und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d. h. z. B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klas‐ sifizieren sind (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 191-192; Brekle 1994: 185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Ma‐ nios-Spange (Fibula Praenestina, 7. Jh. v. Chr.), 161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.), 162 die Cista Ficoroni (cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996: 3; Meiser 2010: 2-9, § 2-5). 163 94 4. Die Architektur des Lateins 164 Das Priesterkollegium der salii (Tanzpriester; cf. ab salitando ‚vom Tanzen‘) bestand aus den 12 Mitgliedern der salii Palatini im Dienste des Mars und den 12 Mitgliedern der salii Collini im Dienste des Quirinus mit je eigener curia sowie eigenem Vorsteher (magister), Vorsänger (vates) und Vortänzer (praesul) der jeweiligen sodalitas (cf. Neue Pauly X: 1249-1250). Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz (Leges duodecim tabularum), der erste längere zusammenhän‐ gende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne (rostra) vor dem Senatsgebäude (curia) am Forum Ro‐ manum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkata‐ strophe (dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpas‐ sagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros (Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr.; De re publica, De legibus) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d. h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990: 67; Steinbauer 2003: 511). Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina sa‐ linaria und des carmen arvale. Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Pries‐ terkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV : 1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I: 180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in ver‐ schiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z. B. Varro, De ling. lat. VII , 26, 27; 1958 I: 292-294). 164 Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Ge‐ sellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der falis‐ kischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt ent‐ wickelt: 95 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 165 Die frühen Fundorte von Schriftzeugnissen auf dem Boden der italienischen Halbinsel hängen womöglich mit den Orakelstätten zusammen. So sind die Inschriften (ca. 7. Jh. v. Chr.) aus Cumae (Griechisch), Caere (Etruskisch), Falerii (Faliskisch), Tibur und Praeneste (Latein) in Zusammenhang mit dem dort praktizierten kleromantischen Ora‐ kelkult zu sehen, da bei den Losorakeln (sortes) die Schrift einen wichtigen Bestandteil darstellt (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 183-184). 166 Zum Einfluß des sabellischen Substrates auf das Lateinische cf. Seidl (2015). 167 Die Sabiner stehen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis mit den Samniten (Teil der Osker), d. h. sie sind sprachlich als sabellisch bzw. oskisch-umbrisch zu klassifizieren und waren vornehmlich in der Region Latium beheimatet. Da sie in nächster Umgebung zu Rom bzw. später auch dort selbst siedelten, wird unter ‚sabinisch‘ oft allgemein das indigene, vorrömische-italische Element in der Forschung verstanden. Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti / Poli / Santini 2005: 65) Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latini‐ schem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum), als auch lateinische (Tita Vendia-Vase in Caere) und altitalische (Setums-Krater in Tolfa) auf etrus‐ kischem Territorium sowie griechische (Gabii) und phönizische (Caere-Pyrgi) in beiden Regionen. 165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z. B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius) der stadtrömischen Ge‐ schichte (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 64-68). Die wie Meier-Brügger (2002: 32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um pluri‐ linguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme. 166 Poccetti / Poli / Santini (2005: 66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom so‐ wohl eine sabinische 167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkultu‐ rationsprozessen, wie z. B. der Alphabetisierung (ibid.: 76). Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen In‐ terferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und 96 4. Die Architektur des Lateins 168 Einer imperativischen Apodosis folgt eine Protasis, die durch eine Verneinung (nei) eingeleitet wird sowie eine Protasis mit der Konjunktion as(t) ‚und wenn‘, die eine Verneinung *noinosio ‚keiner‘ enthält (cf. Steinbauer 1996: 510). 169 Es ist anzunehmen, daß Steinbauer (1996: 511) mit der etwas unklaren Formulierung der „vorhistorisch einsetzenden […] Fähigkeit“ eine mündliche Diskurstradition von Rechtsformeln meint. im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standard‐ sprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius ( IX , 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 67). Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen Modells von Ferguson (1959) und Fishman (1967) zu er‐ fassen, so ergeben sich mehrere low-varieties mit dem wohl mehrheitlich ver‐ wendeten Latein sowie weiteren italischen Sprachen (Faliskisch, Sabinisch bevor sie vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Et‐ ruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „in‐ ternationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach ver‐ schriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literari‐ schen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann. Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996: 510-511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert, 168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „ver‐ blüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit, 169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken. Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch relativ klar nachzeichnen, daß die ersten Schriftprodukte des Lateinischen im Rahmen von verschiedenen bereits etablierten Diskurstraditionen entstanden sind, es sich dabei jedoch um eine 97 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 170 Die ersten Kolonien auf dem Boden der italienischen Halbinsel waren vermutlich 770 v. Chr. Pythekoussai (Πιθηκούσσαι) auf Ischia und 750 v. Chr. Cumae (Κύμη) bei Ne‐ apel. 171 Die Kalokagathia war Teil des griechischen Ideals der Arete (ἀρετή). Verschiebung der Sprache und / oder von der Mündlichkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit vollzogen hat. Die wichtigsten Diskurstraditionen werden dabei von der im östlichen Mit‐ telmeer und Vorderen Orient dominierenden griechischen Kultur übernommen, und zwar bereits vor der Zeit des Hellenismus, in der griechische Staaten poli‐ tische Großmächte wurden. Es scheint wohl kein Zufall, daß der Beginn der griechischen Kolonisation (ab ca. 750 v. Chr.) mit dem Beginn der Schriftlichkeit in Italien zusammenfällt, denn der daraus entstehende Kultur- und Sprachkon‐ takt ist in dieser Hinsicht entscheidend. Im Bewußtsein der Römer sind die Griechen nicht nur Nachbarn in der Magna Graecia (Μεγάλη ʾΕλλάς), 170 sondern übergeordnete Referenzkultur mit dem Zentrum in Griechenland selbst; aber auch die Griechen selbst vereinnahmen Rom als πόλις ʾΕλληνίς (Herakleides Pontikos, Fr. 102) und sehen die Völker Italiens als Teil ihres Kosmos. Die Übernahme von Diskurstraditionen durch die Römer bzw. Latiner sei dabei zunächst anhand von zwei Beispielen der frühesten Schriftlichkeit illust‐ riert: So zeitigt ein Tonkrug (Ende 7. Jh. v. Chr.) aus der latinischen Stadt Gabii die lateinische Inschrift salvetod Tita (‚zum Wohl / auf das Wohl von Tita‘), was im Zuge eines convivium wohl als an eine Frau gerichtetes Hochzeitsgeschenk zu interpretieren ist. Der Brauch des wohlmeinenden Grußes auf einem Trink‐ gefäß ist auch durch ähnliche griechische Funde in Lavinium und Rom doku‐ mentiert, wobei die Aufschrift hier χαῖρε (‚seid gegrüßt‘) lautet. Auch wenn hier die Diskurstradition in ihrer konkreten sprachlichen Realisierung nur aus ein bis zwei Lexemen besteht, ist sie doch als eine solche anzusehen, da hier eine gewisse nicht zufällige Formelhaftigkeit im Sinne einer Wiedergebrauchsrede dokumentiert ist. Auch im Text der Inschrift des Duenos-Gefäßes, eines der ältesten Dokumente des Lateinischen, finden sich sprachliche Elemente, die auf eine griechische Vorlage deuten, und zwar gemahnt einerseits das duenos (lat. bonus) an die grie‐ chische Formel 171 καλός καὶ ἀγαθός und die Zweigliedrigkeit der Konstruktion mit duenos …duenoi entspricht Verschriftungen auf griechischen Gefäßen mit καλός …καλῷ, und andererseits ist auch die Schlußformel ne med malos tatod an eine ähnliche apotropäische bei griechischen Funden angelehnt (zu den Exempla cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 97-98). Bezüglich des ersten längeren und bereits elaborierten Text, des Zwölftafel‐ gesetzes, verweist die römische Tradition der Entstehung selbst explizit darauf, 98 4. Die Architektur des Lateins 172 Die Verschmelzung der Kulturen bzw. der Vorbildcharakter der griechischen zeigt sich auch an den nicht erhaltenen Sibyllinischen Büchern (libri Sibyllini), die der Überliefe‐ rung zufolge (Laktanz, Div. Inst. I, 6, 6-17 (22-25); 2009: 23-28) die mythische Seherin Sibylle von Cumae dem römischen König Tarquinius Priscus verkauft haben soll, die in der Folge von den decemviri sacris faciundis für staatliche Sühnerituale benutzt wurden oder auf Senatsbeschluß hin befragt bzw. eingesehen wurde. Diese geheimen Schriften waren auf Griechisch abgefaßt (Hexameter), wurden aber beim Brand des Jupiter-Tem‐ pels auf dem Kapitol 83 v. Chr. vernichtet, woraufhin man neue Sprüche aus der grie‐ chischen Welt zusammentrug, die aber dann im 4. Jh. n. Chr. verloren gingen (cf. Neue Pauly XI: 501). Das Griechische übernahm in diesem Kontext somit die Funktion einer hermetischen Geheimsprache mit kultischer Funktion. daß man sich bei der Konzeption von Gesetzestexten verschiedener griechischer poleis hat inspirieren lassen, insbesondere von denen Solons in Athen, zu wel‐ chem Zweck vom Senat eine Zehnmännerkollegium (decemviri) ausgesandt wurde. Auch sprachlicher Einfluß wie die lexikalischen Entlehnungen dolus (δόλος) oder poena (ποινή) sowie syntaktische Übereinstimmungen dokumen‐ tieren das diskurstraditionelle Vorbildmodell im griechischen Kulturraum. Da es sich bei den genannten Beispielen, auch denen aus den frühen In‐ schriften, keinesfalls um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, sondern um tragende Versprachlichungsstrategien bestimmter Kommunikati‐ onsformen (cf. die Exempla supra), ist es hier durchaus legitim, von der Über‐ nahme von Diskurstraditionen zu sprechen. Der dafür notwendige Kultur- und Sprachkontakt im Sinne einer Prämisse für die Tradierung von Diskurstraditi‐ onen läßt sich insofern belegen, als das Griechische nicht nur an sich früher verschriftet (und verschriftlicht) wurde, sondern auch in Latium die griechi‐ schen Schriftzeugnisse vor den lateinischen nachweisbar sind, so z. B. in Gabii (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) und auch in Rom selbst (7. Jh. v. Chr.), aber auch rein sprachlich gesehen an den Gräzismen, die schon in der ersten lateinischen Do‐ kumenten auftreten (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 98-99). 172 Ein anderer Entstehungsstrang der frühen lateinischen Zeugnisse ist auf ita‐ lische bzw. italisch-etruskische Diskurstraditionen zurückzuführen. Für den Be‐ reich des Rechts, der erstmals in den genannten 12 leges seinen Niederschlag fand, ist eine von Rechtsformeln- und -verfahren bestimmte mündliche Dis‐ kurstradition zu konstatieren, die lateinischen bzw. italischen Ursprung hat. Dies ist u. a. an der Etymologie und Verwendungsweise einzelner Fachtermini ersichtlich. Das mündliche Element der lateinischen Rechtsprechung schwingt in Lexemen und Ausdrücken wie ius dicere, testamentum nuncupare, provocatio, appellatio oder advocatus mit sowie in solchen, die die Gestik zum Gegenstand haben, wie z. B. manu missio. Diese „versteckte“ Mündlichkeit läßt auf eine Rechtstradition mit festgelegten Verfahren und sprachlichen Formeln schließen, 99 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 173 Albrecht (2012 I: 37) spricht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hierbei von „feierlicher Mündlichkeit“ und gibt als Beispiel u. a. das carmen an. 174 Zu diesem Bereich sind auch die sogenannten tabellae defixionum zu nennen (cf. Kropp 2018), Malediktionstexte, die sowohl in der Magna Graecia nachgewiesen sind (ab 6. Jh. v. Chr.) als auch im italischen Kulturkreis (ab 4. Jh.), als römische Praxis sich aber erst sehr viel später etablierte (auf Latein ab 1. Jh. v. Chr.), dann aber in der Kaiserzeit weite Verbreitung fand (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 219). 175 Es handelt sich dabei um Bronzetafeln aus Gubbio, von denen die ältesten in umbrischer Sprache abgefaßt sind, die jüngeren ab dem 2. Jh. v. Chr. auf Latein (cf. Meiser 2010: 11, § 8). 176 Inwieweit die nicht mehr erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen des etruskischen Kultus (disciplina etrusca), d. h. solche bzgl. der Blitzlehre (Libri fulgurales), der Leberbzw. Eingeweideschau (Libri haruspicini) und die Ritualbücher (Libri rituales), sich auf die römische Religionspraxis und damit auch auf evtl. diskurstraditionell relevante Formen ausgewirkt haben, ist nicht ganz eindeutig, insofern einerseits grundsätzliche Abweichungen in der religio der beiden Kulturen bestanden, andererseits aber durchaus gegenseitiger Einfluß nachweisbar ist. Zum etruskischen Kult sowie zur Frage nach dem Ursprung des auspicium cf. Prayon (2010: 63). die bereits vor der Schriftlichkeit existiert haben, dann aber in den Verschrift‐ lichungsprozeß miteingeflossen sind (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 205-206). Eine weitere Art der diskurstraditionellen origo der lateinischen Schriftlich‐ keit ist im religiös-rituellen Bereich der italischen Kultur zu verorten, und zwar im carmen. Diese Art des Gebets besteht üblicherweise aus einem rezi‐ tativ-rhythmischen Gesang, der mit einer Prozession oder Tanzdarbietung ein‐ hergeht. Auch hier liegen die Wurzeln in der Mündlichkeit, wobei hier von einer „distanzsprachlichen, elaborierten Mündlichkeit“ (Koch / Oesterreicher 1985: 31) auszugehen ist, 173 die einerseits fortgeführt wird, andererseits aber auch der schriftlichen Fixierung unterliegen kann (cf. carmen Arvale, carmina salinaria, carmen von Livius Andronicus an Iuno regina, v. infra) (cf. Gärtner 1990: 101; Poccetti / Poli / Santini 2005: 215-217). 174 Ebenfalls im religiösen Bereich anzusiedeln ist der im etruskischen, samniti‐ schen und römischen Umfeld anzutreffende Brauch der libri lintei (nicht er‐ halten), listenartige Zusammenstellungen der Amtspersonen sowie weitere kurze Ausführungen, die die Grundlage der späteren Annalistik bildeten. Die tabulae Iguvinae (6.-1. Jh. v. Chr.) 175 enthalten Sühne- und Reinigungsformeln, stehen also auch in einem Kontext einer etruskisch-italischen Diskurstradition bezüglich religiöser, ritualisierter Texte, die zunächst mündlich (z. B. pompa fu‐ nebris), später schriftlich konzeptionalisiert wurden (zu den Exempla cf. Poc‐ cetti / Poli / Santini 2005: 219; Albrecht 2012 I: 314-315). 176 Resümiert man nun noch einmal die Frage nach dem Ausbau des Frühlateins, so ist festzustellen, daß die ersten Zeugnisse zum einen nur bestimmte Bereiche mit spezifischen Textsorten abdecken ( Jus: Gesetztestexte; Religion: Weihege‐ 100 4. Die Architektur des Lateins schenke, Grabinschriften, Kultlieder), andererseits dort aber partiell bereits einen gewissen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, der sich auf der Über‐ nahme von schon vorhandenen Diskurstraditionen gründet, und zwar mündli‐ chen wie schriftlichen, etruskisch-italischen und auch griechischen. Charakteristisch für die Frühzeit ist also parallel zu den Prozessen die Koch / Oesterreicher (2011: 136) in Anlehnung an Kloss für die romanischen Sprachen herausgearbeitet haben, die Erarbeitung erster Distanzdiskurstraditi‐ onen im Rahmen eines extensiven Ausbaus der Sprache und dem damit ver‐ bundenen intensiven Ausbau, d. h. der Erweiterung der Ausdrucksmittel. Be‐ züglich des Ausbaugrades ist zunächst noch von einem insgesamt eher niedrigen auszugehen, auch wenn bereits gewisse Ansätze sprachlicher Elaboriertheit in bestimmten Kontexten auftreten. In Anlehnung an die bei Krefeld (1988: 749-750) beschriebene „Vorausbaustufe“ und die bei Kloss (1987: 304) für die deutschen Varietäten beschriebenen Phasen muß man das Lateinische dieser Epoche entsprechend der Art der auftretenden Schriftlichkeit zwischen zu‐ nächst Vorausbau und dann erster Ausbauphase situieren. 4.1.1.2 Altlatein Der Beginn der zweite Periode, die des Altlateins (240 v. Chr-80 v. Chr.), wird durch die Konfrontation mit der auf literarischem Gebiet bis dahin dominier‐ enden griechischen Kultur markiert, und zwar insofern für das „Epochenjahr“ (Albrecht 2012 I: 45) 240 v. Chr. anläßlich der ludi Romani die erste Aufführung eines Dramas in lateinischer Sprache nachgewiesen ist, welches auf einer grie‐ chischen Vorlage beruhte, die durch den ersten namentlich bekannten latein‐ ischen Dichter Livius (Livius Andronicus, 3./ 2. Jh. v. Chr.) umgearbeitet wurde. Vermutlich als griechischer Kriegsgefangener im Zuge des Krieges gegen Ta‐ rent nach Rom verschleppt, wirkte Livius zunächst als grammaticus, hatte somit im Haus seines Herrn die Aufgabe, die griechischen Literatur zu übersetzen und zu erläutern (interpretari) sowie vorzutragen (praelegere). Als Dichter schuf er unter anderem eine lateinische Adaption der homerischen Odyssee (Odusia), das wohl erste römische Epos, wobei er die griechischen Hexameter in das Versmaß des Saturnier übertrug, dazu Tragödien - vor allem Cothurnatae, aber auch Palliatae - (z. B. Danae, Equos Troianus, Achilles, Aegisthus) und zumindest eine Komödie (Gladiolus) sowie ein nicht erhaltenes carmen (207 v. Chr.) zu Ehren der Iuno Regina. Hervorzuheben ist in diesem Kontext, daß die Aufführung des Theaterstückes (fabula) in lateinischer Sprache auf eine staatliche Anordnung eines römischen Magistrats (Ädil) zurückgeht. Hintergrund ist die Tatsache, daß Rom als auf‐ strebende Herrschaftsmacht nach dem Gewinn des 1. Punischen Krieges 101 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 177 Um der antirömischen Kriegspropaganda entgegenzuwirken, verfaßte Quintus Fabius Pictor (3./ 2. Jh. v. Chr.) die erste römische Geschichte, und zwar auf Griechisch. Die Wahl der Sprache ergab sich dabei nicht nur aus der Tatsache, daß Griechisch für (Süd)Italien die high-variety war, sondern auch aus Gründen der Propaganda, d. h. das anvisierte Zielpublikum waren die (publizistischen) Gegner der hellenistischen Staaten, aber auch, weil das Lateinische zu diesem Zeitpunkt in dieser Gattung noch nicht er‐ probt war, es eine lateinischsprachige Diskurstradition ‚Geschichtsschreibung‘ noch nicht gab - die Schriftlichkeit überhaupt erst am Beginn stand (cf. Baier 2010: 7-8). 178 Dabei zeugt es nicht unbedingt von Qualität, wenn die Nachahmung zu nah am Original bleibt, wie es bei Terenz bezeugt ist, der dies als eine Art diligentia obscura mißbilligt (Andria, 21) (cf. Baier 2010: 48). (264-241 v. Chr.) und der Einrichtung der ersten Provinzen (Sicilia, 241 v. Chr; Corsica et Sardinia, 238 v. Chr.) als neuer politischer Machtfaktor beargwöhnt wurde und man den Römern vor allem von Seiten der hellenistischen Staaten‐ welt kulturelle Rückständigkeit vorwarf (cf. Baier 2010: 7-11). 177 Diesen Vorwurf zu entkräften war Teil einer Staatspolitik, die damit auch gleichzeitig sprachpolitische Implikationen hatte. Modell und Maßstab mußte dabei das Griechische sein, zum einen um die Gleichwertigkeit nachzuweisen, zum anderen weil keine andere Sprache in diesem Kulturraum ein vergleich‐ bares Spektrum an literarischen Gattungen und Diskurstraditionen bot und damit auch die entsprechende sprachliche Elaboriertheit bzw. den hohen Grad an Ausbau. Die römische Literatur ist demgemäß von der griechischen inspiriert, wobei - wie Baier (2010: 8) hervorhebt - die römische Originalität jedoch nicht der mo‐ dernen Vorstellung einer absoluten Neuschöpfung verpflichtet ist, sondern unter dem Leitgedanken einer interpretatio Romana funktioniert. Hierbei gelten die Prinzipien der imitatio (‚Nachahmung‘) und aemulatio (‚wettbewerbsmäßige Nacheiferung‘), d. h. der zugrundeliegende Gedanke besteht darin, es dem Vor‐ bild gleichzutun bzw. es eventuell sogar zu übertreffen. 178 Übersetzungen bzw. mehr oder weniger freie Übertragungen spielen zu Be‐ ginn der Verschriftlichungsphase bzw. in der literarischen Frühphase einer Sprache ganz typischerweise eine wichtige Rolle, geht es doch meist darum, die in einer Modellsprache bereits abgefaßten Texte mit etablierten Diskurstraditi‐ onen zu übernehmen und den eigenen sprachlichen Ausbau mit Hilfe eben dieser Prestige-Sprache voranzutreiben, wobei dies sowohl bewußt im Sinne einer Sprachpolitik geschehen kann als auch eher unbewußt mangels Alterna‐ tiven bzw. vor dem Hintergrund des in diesem Kulturraum einzig funktionier‐ enden und anerkannten Modells. Man vergleiche dazu beispielsweise auch ähnliche Prozesse bei der Heraus‐ bildung von literarischen Diskurstraditionen in den romanischen Sprachen. 102 4. Die Architektur des Lateins 179 Aus den Fragmenten der Komödien des Titinius ist ersichtlich, daß er italische Elemente miteinfließen ließ und dabei eine Präferenz für das Volskische hatte (cf. Kleine Pauly 1975 V: 872). Man spricht auch von „vertikaler“ Übersetzung, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als descensus verstanden, d. h. vom Lateinischen (und später Griechi‐ schen) in die jeweiligen Volkssprachen. In Bezug auf das Italienische spricht man von volgarizzamento, d. h. die Übersetzung bzw. Übertragung lateinischer Texte (wissenschaftliche, sakrale, literarische) in die italienische Volkssprache (vol‐ gare), im Spanischen von romanceamiento, d. h. von einer Übersetzung ins ro‐ mance (hispánico) und im Französischen von vulgarisation (cf. Giovanardi 2006: 2198-2199; Endruschat / Schäfer-Prieß / Schöntag 2006: 1416-1419; Alb‐ recht / Plack 2018: 43). In diesem Sinne der oben angesprochenen imitatio ist auch die Nachdichtung der Römer in Bezug auf die griechische Tragödie zu werten und die Charakte‐ risierung Ciceros („non verba sed vim“, Ac. post. I, 10) ein schönes Dokument für diesen Prozeß sowie der reflektierten Selbstwahrnehmung. Als weitere frühe Vertreter der lateinischen Literatur sind der Dichter Nae‐ vius (Gnaeus Naevius, 3. Jh.-nach 204 v. Chr.), dessen Werk - Komödien (z. B. Tarentilla, Hariolus), Tragödien (z. B. Lycurgus), Praetextae (Clastidium / Mar‐ cellus, Romulus / Lupus) und ein Epos (Bellum Poenicum) - allerdings nur in we‐ nigen Fragmenten überliefert ist, sowie die Komödiendichter Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250-184 v. Chr.) und Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195 / 185-159 v. Chr.) zu nennen. Von beiden letzteren sind zahlreiche Theater‐ stücke erhalten (von Plautus 21: z. B. Aulularia, Bacchides, Stichus, Mercator, Amphitruo, Miles Gloriosus (tragicocomoedia), Asinaria, Menaechmi; von Terenz 6: Hecyra, Andria, Adelphoi, Phormio, Eunuchus, Heautontimorumenos), die zudem eine wichtige Quelle des zeitgenössischen Lateins darstellen, da sie gat‐ tungsbedingt auch viele Elemente eines niedrigen Registers enthalten und sie somit im Spiegel einer fingierten Mündlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf die mutmaßlich gesprochenen Varietäten der Zeit zulassen. Während Plautus und Terenz die römische Komödie in griechischem Gewand pflegten, die Palliata (fabula palliata), transponierten ihre Epigonen Titinius 179 (2. Jh. v. Chr.) und Af‐ ranius (Lucius Afranius, 2./ 1. Jh. v. Chr.) die Handlung ins römische Milieu und schufen die Togata (fabula togata) (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 309-310; Baier 2010: 47-54). Prägend für die frühe lateinische Literatur und damit auch wichtige Prota‐ gonisten im Prozeß des Sprachausbaus sind Ennius (Quintus Ennius, 103 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 180 Der Vorbildcharakter der griechischen Literatur (bzw. Kultur im Allgemeinen) kommt bei Ennius dadurch zum Ausdruck, daß er soweit geht, sich als alter Homerus zu be‐ zeichnen (cf. Fuhrmann 1999: 100). 239-169 v. Chr.), 180 der, fragmentarisch überliefert, zwanzig Tragödien (z. B. Eu‐ menides, Achilles, Andromacha aechmalotis, Iphigenia, Medea exul), Satiren (Sa‐ turae), zwei Prätextae (Sabinae, Ambracia) und ein Geschichtsepos (Annales) hinterlassen hat, sowie Cato d. Ä. (Marcus Porcius Cato Censorius, 234-149 v. Chr.), bekannt als prägender Staatsmann, Historiker (Origines) und Verfasser einer Abhandlung zur Landwirtschaft (De agri cultura) (Baier 2010: 40-43, 119). Insbesondere Cato ist hierzu als wegweisend zu betrachten, insofern er als Begründer der römischen Prosaliteratur gilt und bereits zahlreiche Textgat‐ tungen bedient, und zwar neben der Rhetorik und Geschichtsschreibung eine Reihe weiterer fachwissenschaftlicher Subdisziplinen erstmals auf Latein be‐ handelt (cf. Fuhrmann 1999: 100-102). In die altlateinische Periode fallen auch noch einige Inschriften, die norma‐ lerweise im Zuge der ersten schriftlichen Zeugnisse genannt werden (cf. z. B. Meiser 2010: 5, § 4), die aber aufgrund ihrer Sprachlichkeit nicht mehr zum Früh‐ latein zu rechnen sind, so z. B. der Senatus Consultum de Bacchanalibus (Bron‐ zetafel, 186 v. Chr.), der im Zuge des sog. Bacchanalienskandals entstand. Betrachtet man nun die sprachliche Situation in Rom und auf der italienischen Halbinsel in dieser Epoche, so ist ein tiefgreifender Wandel festzustellen. Zu Beginn der altlateinischen Zeit war die Eroberung bis zur Grenze des Po zwar abgeschlossen, doch eine tiefgreifende Romanisierung und damit einherge‐ hende Latinisierung setzte erst in den folgenden Jahrhunderten ein. Aus dem Stadtstaat Rom wird dabei kein Flächenstaat, aber eine polis mit einem ausge‐ dehnten Territorium, welches zunächst Italien und seine Inseln umfaßt, bis zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. dann schließlich auch weitere Mittelmeerregionen in Ost und West vereinnahmt (Gallia Cisalpina, 222-197 v. Chr.; Hispania citerior, Hispania ulterior, 197 v. Chr; Macedonia, Illyricum, 168 v. Chr.; Achaia, Asia Minor, 146 v. Chr.; Gallia Narbonensis, 121 v. Chr.). Diese politische Expansion bleibt nicht ohne Auswirkung auf Sprache und Gesellschaft. Aus dem Stadtdi‐ alekt einer Kleinstadt in Latium wird eine internationale Verkehrssprache und es wird nach und nach die Muttersprache zahlreicher bis dato anderssprachiger Ethnien. Die Akkulturation und Latinisierung vollzieht sich in den verschie‐ denen Regionen unterschiedlich schnell, auch abhängig vom Grad der Ver‐ wandtschaft der jeweils betroffenen Sprache sowie von ihrem Prestige und der reinen Anzahl der Sprecher. 104 4. Die Architektur des Lateins 181 Inschriften des Faliskischen gibt es vom 7./ 6.-2. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002: 33; Meiser 2010: 9-10), so daß anzunehmen ist, daß bald danach die Sprache ausstarb. 182 Die Zuordnung des Sabinischen, von dem nur wenige Wörter überliefert sind, ist nicht gesichert und schwankt in der Forschung zwischen Oskisch, Oskisch-Umbrisch (bzw. Sabellisch) oder allgemein Italisch (v. supra). Cf. dazu der Neue Pauly (1979 IV: 1482, s. v. Săbīni): „Die Sprache der S[abiner] ähnelt der oskischen […].“ Daher wird das Sa‐ binische hier auch getrennt vom Oskischen im engeren Sinn aufgeführt. 183 Da Ennius in Rudiae in Messapien (heute: Salento, Kalabrien) geboren wurde, kann davon ausgegangen werden, daß er auch noch messapisch (wohl eine illyrische Sprache) gesprochen hat (cf. Radtke 2002: 14), also de facto sogar viersprachig war. Auch sein Name ist - davon ist auszugehen - messapischen Ursprungs (cf. Knoche 1982: 11). 184 Ab dem 2. Jh. v. Chr. wird die etruskische Oberschicht zunehmend in die römische Ge‐ sellschaft integriert, es finden sich Etrusker im Senat und das Lateinische nimmt mehr Raum ein. Zweisprachige Grabinschriften zeigen den Bilingualismus der Zeit, aber So ist das am nächsten verwandte Faliskische relativ bald ausgestorben (ca. 2.-1. Jh. v. Chr.) bzw. nicht mehr vom Latein zu differenzieren. 181 Auch das kaum dokumentierte Sabinische, welches in Rom und vor den Toren Roms gesprochen wurde und maßgeblichen Einfluß ausübte, hörte vermutlich im 2.-1. Jh. v. Chr. auf zu existieren bzw. wurde zunehmend latinisiert (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 67). 182 Ähnlich erging es anderen angrenzenden Völkern wie den Volskern, Äquern oder Aurunkern. Für diese Nachbarn kann man eine Phase des Bilin‐ gualismus postulieren, der zumindest teilweise diglossischen Charakter hatte, insofern Latein mit zunehmenden Prestige als high-variety funktionierte. Ein wenig anders gelagert ist die Situation für das Oskische, welches ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Kultursprache war (z. B. Atellane, v. infra). So sind Inschriften aus Pompeji und Herculaneum belegt, woraus man eine Vitalität der Sprache zumindestens bis ins 1. Jh. n. Chr. postulieren kann. Von Ennius ist überliefert, daß er Oskisch, Latein und Griechisch sprach (cf. Knobloch 1996: 25). 183 In Süditalien waren dabei alle drei Idiome beheimatet und damit auch Sprachen des täglichen Gebrauchs, wobei schriftsprachlich Griechisch zusätz‐ lich als high-variety einzustufen ist, und zwar deshalb, weil sie als Sprache des Handels, der Kultur sowie allgemein als meist verbreitete Schriftsprache fun‐ gierte. Eine Kultursprache war auch das Etruskische, welches in der Frühphase Roms aufgrund seiner politischen und kulturellen Dominanz ein wichtiges Element in der römischen Kultur wurde und auch sprachlich vielfältige Spuren (Lexikon, Akzentsetzung) im Lateinischen hinterlassen hat (cf. Knobloch 1996: 27). Nichts‐ destoweniger wurde das Etruskische durch das Lateinische abgelöst, in Resten existierte es wohl bis ins 1. Jh. n. Chr. (cf. Willms 2013: 212) - letzte Inschriften ca. 1. Jh. v. Chr. (cf. Haarmann 2004: 66) -, so daß eine relativ lange Phase der Zweisprachigkeit anzusetzen ist. 184 Das Etruskische weist zwar nachweislich 105 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike auch, daß das Etruskische immer noch Prestigesprache war, welches erst nach der lex Iulia (90 v. Chr.) als Amtssprache abgelöst wurde (cf. Prayon 2004: 63). 185 Poccetti / Poli / Santini (2005: 67) sprechen explizit von einer Diglossie zwischen Latein und Sabinisch und einem Bilingualismus zwischen Latein und Etruskisch. 186 Krefeld (2008: 558) sieht das Gallische in dieser Position, Poccetti / Poli / Santini (2005: 65-66) bleiben diesbezüglich hingegen unklar, insofern sie zwar die maßgeblichen indigenen Idiome Mittelitaliens (Latein, Sabinisch, Etruskisch) in einem Diasystem ver‐ orten, andererseits aber die Alterität des Etruskischen (mit Recht) hervorheben (v. supra), sowie wiederum an anderer Stelle (ibid.: 68-69) Kontakt- und Konvergenzphä‐ nomene innerhalb der italischen Sprachen betonen. einige Entlehnungen aus dem Griechischen auf und die Übernahme der Schrift deutet auf eine zumindest in der Oberschicht verbreitete Kenntnis des Griechi‐ schen; es scheint aber zweifelhaft, ob die gleiche Art der Diglossie wie für die Kontaktkonstellation Latein-Griechisch anzusetzen ist. 185 Die anderen Sprachen Italiens wie das Keltische, das Umbrische, das Messa‐ pische oder das Venetische sterben wohl im 1. Jh. v. Chr. aus. Auch für diese Substratsprachen ist eine gewisse Phase des Bilingualismus anzunehmen, bis sich der Sprachwechsel zum Latein vollzogen hat; wie dieser im Detail verlaufen ist, läßt sich mangels Belegen jedoch nur schwer nachvollziehen. Dabei besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den italischen Substrat‐ sprachen und den vorindogermanischen Substraten. Insbesondere das nah ver‐ wandte Faliskisch, aber auch die relativ nah verwandten Sprachen Oskisch, Umbrisch oder Sabinisch wurden in den Varietätenraum des Lateinischen in‐ tegriert, d. h. dialektisiert. Inwieweit das auf entfernter verwandte indogerma‐ nische Sprachen wie Keltisch, Venetisch oder Messapisch zutreffen würde, sei dahingestellt (cf. Krefeld 2003: 558). 186 Sicherlich nicht möglich ist diese Form der sprachlichen Vereinnahmung beim Etruskischen, Ligurischen oder anderen alt‐ mediterranen Sprachen. Die Phase des Altlateins ist auch die Periode, in der das Latein nach und nach zur high-variety wird, zumindest für weite Teile der Bevölkerung Italiens. Dieser Status ist zunächst vor allem auf die politische Expansion zurückzuführen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Dominanz der römischen Verwal‐ tung und Kultur. Im Bereich der Schriftlichkeit mußte sich das Latein erst nach und nach den Status einer Ausbau- und Literatursprache erarbeiten und war in der Anfangs‐ phase stark vom übermächtigen griechischen Vorbild abhängig. Erst allmählich zeitigte der Ausbau des Lateinischen Wirkung und das Lateinische konnte sich zumindest partiell emanzipieren, brachte eigene Diskurstraditionen hervor bzw. deckte zunehmend verschiedene Bereiche der distanzsprachlichen Kommuni‐ kation (schriftlich wie mündlich) ab. 106 4. Die Architektur des Lateins 187 Überliefert ist zumindest, daß man in der Frühzeit etruskische Schauspieler (histriones) engagierte, um die Aufführungen zu professionalisieren (cf. Baier 2010: 39). 188 Kramer (2011), der eine kurzen Abriß des Ablöseprozesses bezüglich der Sprachwahl bei spezifischen Textsorten und Textgattungen gibt, faßt die Tendenz in der Frühzeit Am Beginn der lateinischen Literatur im engeren Sinne stand der Wille, sich aus staats- und kulturpolitischer Räson zu positionieren, und so griff man auf das prestigereichste Vorbild zurück und dies war zu jener Zeit die griechische Literatur. Was die Textgattung anbelangt, so wählte man zunächst das Genus mit der höchsten Dignität, nämlich das Epos, und formte es nach eigenen Zwe‐ cken um (v. supra Livius Andronicus). Die nicht viel minder geschätzte Tragödie wurde nach dem gleichen Prinzip vereinnahmt (v. supra Livius Andronicus, Naevius, Ennius), findet jedoch insbesondere in der Form der Prätexta (fabula praetexta), in der die eigene römische Historie thematisiert wird, ihre eigene Ausprägung. Die Gattung der Komödie (cf. Caecilius Statius († 168), Plautus, Terenz) hingegen speist sich aus verschiedenen Vorläufern. Neben der klassi‐ schen griechischen Komödie (z. B. Aristophanes) und vor allem der Neuen Ko‐ mödie, der Néa (cf. Menander, Μένανδρος, 342 / 341-290 v. Chr.), die in ihrer spezifisch römischen Ausformung, aber mit griechischem Bezug, zur Palliata führte, standen der aus der dorischen Volksposse entstandene sizilische Mimus mit Stegreifscherzen (paígnia) Pate sowie in Unteritalien die Phylakenposse (Götterburlesken, Mythentravestien) und die oskische Atellane (fabula Atel‐ lana, cf. Atella bei Neapel). Aus diesen komödiantischen Elementen sowie aus Spottliedern bei Triumphzügen (carmina triumphalia) aus heimischen Scherz- und Scheltreden (iocularia fundere), aus obszönen falisikischen Wechselge‐ sängen (fescennina, cf. Fescennium in Etrurien), die ebenfalls zur Entstehung der Komödie, teilweise auch des Dramas beitrugen, begründet sich aber auch die bei den Römern hochgeschätzte Satire (satura), wie sie in der Frühzeit Lucilius (Gaius Lucilius, 180 / 157-103 / 102 v. Chr.) vertritt (cf. Baier 2010: 37-39, 45-47). Hebt man nun diese Anfänge römischer Literaturproduktion auf die dis‐ kurstraditionelle Ebene, so ist deutlich nachzuvollziehen, wie das Lateinische in für diese Sprache neue Diskurstraditionen vordringt, diese besetzt und dabei variiert bzw. auch neue ausbildet (z. B. Satire, Palliata). Neben den dominier‐ enden griechischen Diskurstraditionen tragen dabei auch indigen latinische, fa‐ liskische, oskische und womöglich auch etruskische 187 dazu bei (v. supra), daß bestimmte römische Genera entstehen und das Lateinische dort wie auch in den bereits für andere Sprachen etablierten seinen Platz findet. Durch die Über‐ nahme dieser Diskurstraditionen und die steigende Textproduktion im Rahmen derselben wird zweifelsohne auch der sprachliche Ausbau vorangetrieben, da es gilt, neue Formen und Inhalte zu versprachlichen. 188 107 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike der römischen Literatur wie folgt zusammen: „Lateinisch zu formulieren wäre alles, was weite Bevölkerungskreise ansprach (Theater), fremde und vor allem eigene Tra‐ ditionen poetisch verabeitet (Epos) oder Rechtsverhältnisse ausdrückte (Gesetze), hin‐ gegen könnte man alles, was sich sowieso primär an eine sprachkundige Elite richtete, auf Griechisch ausdrücken (Fachschriftstellerei), was den Vorteil gehabt hätte, dass man für einen auf exakte Formulierungen angewiesenen Bereich keine neue lateinische Terminologie hätte entwerfen müssen“ (Kramer 2011: 195). 189 Ein typisches Element, welches die römische Geschichtsschreibung prägt, ist die Klage des Sittenverfalls, die zunehmende Mißachtung der mos maiorum (cf. Flach 1985: 72-75). Eine weitere Diskurstradition, in der das Lateinische Fuß faßt, ist die der Geschichtsschreibung. Hierbei sind im Wesentlichen zwei Entstehungsstränge auszumachen, und zwar einerseits die ca. ab dem 4. Jh. in Rom übliche Praxis, daß der pontifex maximus die wichtigsten Ereignisse (z. B. Amtsinhaber, Prodi‐ gien, Getreidepreis, Mondu. Sonnenfinsternis) jahreschronologisch auf‐ zeichnen ließ und auf Tafeln in der regia ausstellte sowie andererseits die bereits in vielen Facetten etablierte griechischen Historiographie. Aus der Tradition der Annales entstand somit die annalistische Geschichtsschreibung, deren Werke nach Amtsjahren der einzelnen Konsuln von Beginn der Stadtgründung bis zur Abfassungszeit geordnet war (cf. Ogilivie 1983: 18-19; Brodersen / Zimmermann 2000: 33). Die Umsetzung der römischen Chronologie - gesammelt als 80 Bücher in den Annales Maximi bis 133 v. Chr. - in ein Geschichtswerk wurde jedoch zu Beginn auf Griechisch geleistet, um einen größeren Leserkreis zu erreichen, so beim ersten Annalisten Fabius Pictor (Quintus Fabius Pictor, ca. 254-201 v. Chr.) in seinem Werk Rhomaíon Práxeis. Erst danach setzt sich in der sogenannten Älteren Annalistik das Lateinische durch und wird wie bei C. Hemina (Lucius Cassius Hemina, 2. Jh. v. Chr., Annales), Cn. Gellius (Gnaeus Gellius, 2. Jh. v. Chr.), Calpurnius Piso (Lucius Calpurnius Piso Frugi, 2. Jh. Chr.), Asellio (Sempronius Asellio), Coelius Antipater (Lucius Coelius Antipater, ca. 180-120 v. Chr., Bellum Punicum) oder C. Sisenna (Lucius Cornelius Sisenna, 118-67 v. Chr., Historiae) zur Sprache der Historiographie. Eine andere Art von Geschichtsschreibung wird das erste Mal auf Latein von Cato d. Ä. praktiziert (cf. brevitas Catonis), der mit seinen Origines an die hellenistische Textgattung der Gründungssage (κτίσεις) anknüpft (cf. Flach 1985: 56-79; Baier 2010: 81-84; Albrecht 2012 I: 307). Mit dem Vorrücken in diese neuen diskurstraditionellen Bereiche wird auch ein wesent‐ licher Beitrag zum Ausbau der lateinischen Prosa erbracht, insofern die Varia‐ tionsbreite und Anzahl der auf Latein verfaßten Texte zunimmt. 189 Dies gilt auch für einen Bereich, den man heutzutage der wissenschaftlichen Literatur zuordnen würde. Während die ersten Textgattungen Epos und Tra‐ gödie in Versen gedichtet wurden, ist mit De agri cultura Catos das erste voll‐ 108 4. Die Architektur des Lateins 190 Der Begriff der res publica grenzt sich innerhalb des römischen Rechts- und Politik‐ verständnisses in erster Linie von der res privata ab. Das politische Verständnis der Republik als eine „Sache des Volkes“ bzw. der römischen Bürger und ihrer Vertreter (cf. senatus populusque romanus) ist dabei auch abzugrenzen gegenüber demjenigen in der benachbarten hellenistischen Staatenwelt, denn im Seleukidenreich beispielsweise war der Staat eine Angelegenheit (τὰ πράγματα) des Herrschers (cf. Heinen 2003: 76). Dies ist insofern wichtig, weil innerhalb eines solchen Staatswesens mit öffentlicher Dis‐ kussion der Rhetorik ein ganz anderer Stellenwert zukommt (cf. infra). 191 „Das Griechische war ohnehin ein dem lateinischen nahezu gleichberechtigtes Ver‐ ständigungsmittel in der Oberschicht“ (Baier 2010: 105). 192 Man vergleiche auch die Gegenüberstellung von Philosophie als vere loqui, der Rhetorik als recte loqui und von Grammatik als correcte loqui (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 402). 193 Die Rhetorik hatte nicht nur als ars ihren Ursprung in der griechischen Kultur, sondern auch ihre politische Anwendung ist im Rahmen griechischer Staatswesen zum Tragen gekommen - es sei dabei nicht nur auf berühmte Redner wie Demosthenes (Δημοσθένης, 384-322 v. Chr.) verwiesen, sondern auch auf Staatsmänner wie Perikles (Περικλῆς, ca. 490-429 v. Chr.), die gezielt ihre rhetorische Ausbildung entsprechend einsetzten, bis hin zu dem Phänomen des Demagogen, womit bezeichnenderweise zu Beginn (z. B. bei Perikles) noch keine negative Konnotierung einherging. Dennoch sei hier festgehalten, daß im römischen Kontext die Rhetorik insgesamt und à la longue durée gesehen tiefer im Staatswesen verankert war, während in Griechenland sie schon aufgrund der poli‐ tischen Heterogenität der einzelnen πόλεις nicht in gleichem Maße Wirkung entfalten konnte. ständige in Prosa verfaßte Werk überliefert und damit ein Grundstein für wei‐ tere Schriften und die wachsende Elaboriertheit der Sprache gelegt. Der Ausbau des Lateinischen wurde in der altlateinischen Epoche auch in Bezug auf die mündliche Distanzsprache vorangetrieben. Hierbei ist insbeson‐ dere der in der römischen res publica wichtige Bereich der Rhetorik zu nennen. 190 Im 2. Jh. v. Chr., als Rom auch vermehrt ins östliche Mittelmeer ausgriff, ergab sich allgemein eine vermehrte Rezeption griechischer Literatur, Philosophie und weiterer Wissenschaftsbereiche. Die Rhetorik, traditionell in der philosophi‐ schen Kontroverse zwischen den einzelnen Schulen (Stoa, Akademie, Peripatos) verortet, fand durch griechische Lehrer in der römischen Oberschicht Verbrei‐ tung, in der Griechisch alltägliche Bildungssprache war. 191 Dabei ist die Rhetorik zwischen der Auseinandersetzung um den logos und der in der ars grammatica fixierten richtigen Sprechweise (recte loqui) bzw. der ‚korrekten‘ Sprache (lati‐ nitas bzw. ̔ Ελληισμός) anzusiedeln (cf. Baier 2010: 105; Poccetti / Poli / Santini 2005: 389-390). 192 Im römischen Kontext erreicht die Rhetorik dann vor allem im öffentlichen Leben der republikanischen Institutionen einen wichtigen Stellen‐ wert und wurde ein geradezu konstitutiver Bestandteil der res publica. 193 Be‐ stimmte herausrragende Redner (cf. z. B. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor, 185-129 v. Chr.; Tiberius Sempronius Gracchus, 162-133 v. Chr.; 109 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 194 Man unterschied beispielsweise die Rede im Senat (dicere sententiam in senatu), vor der Volksversammlung (contio) und vor dem Heer (allocutio) sowie wie weitere Arten im öffentlichen Kontext wie z. B. die laudatio funebris (cf. Albrecht 2012 I: 412). Gaius Sempronius Gracchus, 153-121 v. Chr.) genossen daher ein hohes Prestige in der Gesellschaft (cf. Albrecht 2012 I: 413-414). 194 Die schriftliche Niederlegung der auf diese Weise neu ausgeformten Diskurstradition der öffentlichen Rede beginnt erst im Übergang zur folgenden Epoche (cf. Rhetorica ad Herennium, Cicero), genauso wie die der sich daran anschließenden Grammatik (cf. Varro). Insgesamt ist demzufolge für die Periode der altlateinischen Sprachgeschichte eine wichtiger Wendepunkt dahingehend festzustellen, daß der Ausbau des La‐ teinischen maßgeblich vorangetrieben wurde. Durch die Übernahme von Dis‐ kurstraditionen aus dem griechisch-hellenistischen Raum, aber auch aus dem italischen Kontext sowie aufgrund von deren Weiterentwicklung rückt das La‐ tein in dieser Epoche in immer mehr Bereiche der mündlichen, aber vor allem schriftlichen Kommunikation vor und wird zu einer vollfunktionsfähigen Dis‐ tanzsprache. Der maximale Ausbaugrad wird zwar erst in der nächsten Phase erreicht, doch sind bereits zahlreiche Grundsteine gelegt. Der Aufstieg des La‐ teinischen zur überregionalen und dann internationalen Prestigesprache be‐ dingt auf der anderen Seite auch einen Rückgang zahlreicher einheimischer Sprachen, so daß die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. weitestgehend vollzogen ist. Aus der einstigen Vielsprachigkeit bleibt für nicht wenige Teile der Bevölkerung Einsprachigkeit übrig, für die Oberschicht Di‐ glossie mit dem Griechischen. 4.1.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein In der Literaturgeschichte wird nicht selten der Beginn der Epoche des Klassi‐ schen Lateins mit der ersten Rede Cicero präzise im Jahre 81 / 80 v. Chr. verortet und man folgt dann der stark wertenden Feingliederung in „goldene“ (80 v. Chr.-14 n. Chr.) und „silberne“ (14-117 n. Chr.) Latinität (cf. Meiser 2010: 2, § 2) nach Maßgabe einer traditionell verankerten Beurteilung der Qualität der literarischen Produktion. Sprachwissenschaftlich gesehen ist es eher sinnvoll, den Beginn dieser Periode, die auch sprachliche Neuerungen zeitigt, gröber ins 1. Jh. v. Chr. zu datieren. Müller-Lancé (2006: 32) datiert die Epoche des „nachklassischen Lateins“ analog zu Meiser (2010: 2; § 2), der diese Zeit jedoch „archaisierende Periode“ nennt und ebenso exakt vom Tode Trajans (117 n. Chr.) bis zum Tode Marc Au‐ rels (180 n. Chr.) andauern läßt. In Anlehnung an die Datierung von Steinbauer (2003: 513), der diese Zeit durch eine an vorciceronianische Vorbilder anknüp‐ fende Literatur zwischen 120-200 n. Chr. verortet, sei hier diesem folgend, 110 4. Die Architektur des Lateins 195 Zum möglichen Einfluß einheimischer, römischer mündlicher Diskurstraditionen wie Kultlieder oder Volksgesänge auf die Herausbildung der lateinischen Lyrik cf. Albrecht (2012 I: 275). gröber ein Ende an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. postuliert. Klassisches und Nachklassisches Latein seien hier zusammengefaßt, da es einerseits in der nachklassischen Zeit keine signifikanten sprachlichen Änderungen im Ver‐ gleich zur klassischen Epoche gab und andererseits aus der hier fokussierten Perspektive von Ausbau, Diskurstraditionen und Sprachkonstellationen kein wirklicher Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist. Es ist in diesem Rahmen weder möglich, noch notwendig den Umfang und die Breite der Literatur dieser Periode zu behandeln, sondern es soll sinnvoller‐ weise auf die wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die diskurstraditionelle Perspektive eingegangen werden sowie den damit einhergehenden sprachlichen Ausbau, der zu dieser Zeit weitestgehend vollendet wird. Das bereits in altla‐ teinischer Zeit wichtige Modell der griechischen Textgattungen und Diskurstraditionen erfüllt diese Funktion auch weiterhin und zeitigt in der römischen Literatur neue Formen. Dabei sind die Griechen nicht nur Vorbild, sondern gleichzeitig Maßstab des zu Erreichenden, an dem sich die Römer in einer Art kulturellen ἀγών abarbeiten und dies ist nicht nur objektiv als Prozeß zu kon‐ statieren, sondern durchaus Teil der römischen Selbstreflexion wie bei Quinti‐ lian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35-96 n. Chr.) dokumentiert: Elegia quoque Graecos prorocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. (Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93; 2001 IV: 302) Tatsächlich wird erst in klassischer Zeit der ganze Bereich der Lyrik vom La‐ teinischen erschlossen, der zuvor nur ansatzweise in religiösen carmina ver‐ treten war. 195 Eine Textgattung, die bei den Griechen schon im 7. v. Chr. mit Mimnermos von Kolophon bzw. Smyrna (Μίμνερμος, 6. Jh. v. Chr.) den ersten Vertreter zeit‐ igte und bis in den Hellenismus gepflegt wurde, in der Kallimachos von Kyrene (Καλλίμαχος ὁ Κυρηναῖος, ca. 310-249 v. Chr.) mit seinen mythologischen Ur‐ sprungsgedichten, den αἰτία, hervorsticht, ist die der Elegie, die sich formal durch das elegische Distichon (alternierende Hexameter und Pentameter) ab‐ grenzt und inhaltlich durch mythologische Themen, allgemeine Reflexionen, Spott, Klage, Erotik oder persönliche Anliegen charakterisiert ist (cf. Bur‐ dorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 183-184). Im römischen Bereich wird die Form übernommen und inhaltlich oft Mythologisches mit Autobiographischem kombiniert, wie es uns in dem ersten elegischen Gedicht des Neoterikers Catull 111 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 196 Die Ars amatoria nimmt wie viele der Werke Ovids eine Zwischenstellung ein, insofern sie formal eine Elegie ist, inhaltlich aber dem Lehrgedicht zuzuordnen ist. 197 Die sogenannte „goldene Latinität“ ist in ihrem Höhepunkt eng an die Regierungsjahre (31 v. Chr.-14 n. Chr.) des Kaisers Augustus (Gaius Octavius, 63 v. Chr.-14 n. Chr.) und seine pax romana gebunden, auch deshalb, weil nach dessen Tod die „silberne Latinität“ beginnt, die bis zum Tode Trajans (117 n. Chr.) reicht. Zu einer Zuordnung der einzelnen Schriftsteller und ihrer Werke streng nach diesen traditionellen Kriterien der Klassi‐ schen Philologie cf. z. B. auch Müller-Lancé (2006: 29-32). 198 Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Realisierung des Versmaßes in dieser Text‐ gattung (z. B. jambischer Trimeter mit jambischen Dimeter oder mit Elegiambus) cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff (2007: 200). 199 Zur literarische Nachwirkung bzw. Rezeptionsgeschichte in der europäischen Literatur cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff (2007: 678). (Gaius Valerius Catullus, 84-54 v. Chr.), der Allius-Elegie (carmen, Nr. 68) entge‐ gentritt. Neben Catull bedienen sich dieser Gedichtform mit thematischer Va‐ riation vor allem Gallus (Gaius Cornelius Gallus, 70 / 69-27 / 26 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus, ca. 50-19 v. Chr., Corpus Tibullianum), Properz (Sextus Proper‐ tius ca. 47-15 v. Chr., Monóbiblos) und Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n. Chr., Ars amatoria,  196 Remedia amoris, Tristia, Epistulae ex Ponto), die auch insgesamt zu den maßgeblichen Vertretern der römischen Lyrik gehören (cf. Baier 2010: 59-77). Indem er in seinen Heroides die literarische Gattung des Briefes und die lyri‐ sche Form der Elegie miteinander verschmilzt sowie zusätzlich Elemente der Rhetorik miteinfließen läßt (Ethopoiie bzw. sermocinatio), beschreitet Ovid ganz selbstbewußt (ars 3, 346) neue Pfade in seinem Schaffen und der römischen Li‐ teratur (cf. Baier 2010: 71). Weitere Arten der Lyrik in lateinischer Sprache sind dem wie Ovid und Properz zum Kreis des Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas, ca. 70-8 v. Chr.) ge‐ hörenden Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65-8 v. Chr.) zu verdanken, einem der wichtigsten Dichter der augusteischen Ära. 197 Nach dem Vorbild der grie‐ chischen Dichtung des Archilochos (Ἀρχίλοχος, ca. 680-645 v. Chr.) führt er durch seine Iambi die Textgattung der Epoden 198 - Distichon mit einem langen und einem kurzen Vers - erstmals in die lateinische Literatur ein. Seine Inno‐ vation ist ihm dabei durchaus bewußt (epist. I, 9, 19-25), genauso wie die erst‐ malige interpretatio Romana der Ode in den carmina, bei der er sich an berühmte Vorläufer wie Pindar (Πίνδαρος, 518-440 v. Chr.) oder Alkaios (Ἀλκαῖος, ca. 630-580 v. Chr.) anlehnt (cf. alkäische Dichtung) (cf. Baier 2010: 72-77). 199 Eine andere lyrische Textgattung, die in dieser Epoche Eingang in die römi‐ sche Literatur findet, ist das Epigramm, welches seinen Ursprung in Inschriften hat (v. supra. z. B. Grabinschrift der Scipionen), literarisch jedoch traditionell auf Simonides von Keos (Σιμωνίδης, 557 / 556-468 / 467 v. Chr.) zurückgeführt wird 112 4. Die Architektur des Lateins 200 Weitere mögliche Versmaße im römischen Epigramm sind Hexameter, Hendekasyl‐ labos, Jambus, Hinkiambus, Saturnier (cf. Albrecht 2012 I: 281). und auf Latein erstmals von Catull gepflegt wird, dann aber vor allem bei Martial in seinem Epigrámmaton liber (Liber spectaculorum) variantenreich zur Geltung gebracht wird. In dieser Kurzform, die ursprünglich als elegisches Distichon realisiert wird, bei Martial aber auch metrisch variieren kann, 200 wird auf eine Pointe abgezielt, die alle Bereiche der conditio humana mal spöttisch, mal kri‐ tisch geistreich auf den Punkt bringt (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 194-195; Albrecht 2012 I: 281-282). Nach dem Vorbild der eidýllia (aus dem Corpus Theocriteum) des sizilianischen Dichters Theokrit (Θεόκριτος, 1. Hälfte 3. Jh. v. Chr.) bringt der in Bezug auf seine Nachwirkung womöglich bedeutendste Dichter der römischen Antike, Vergil (Publius Vergilius Maro, 70-19 v. Chr.), in seinen in Hexameter gedichteten Bu‐ colica (Eclogae) die bukolische Lyrik in die römische Literatur. Ein Epigone Ver‐ gils in späterer Zeit ist beispielsweise Calpurnius Siculus (Titus Calpurnius Si‐ culus, 1. Jh. n. Chr.) mit den von ihm verfaßten Eklogen, wobei bei ihm teilweise Hirtenpoesie und Herrscherpanegyrik vermischt werden (cf. Kleine Pauly 1964 I: 1026). Eine lyrische Sammlung mit Gedichten zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form stellen die Silvae des Statius (Publius Papinius Statius, 40 / 50-95 n. Chr.) dar. Die auch als „Gelegenheitsgedichte“ apostrophierten Verse thematisieren öffentliche (Panegyrikon) wie private Anlässe (Hochzeit, Trauer, Trost, Geburtstag) oder enthalten Kunst- und Baubeschreibungen (Ekphrasis) (cf. Baier 2010: 77-78). An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie ist das Lehrgedicht anzusiedeln, welches zwar mit den Ἒργα καὶ Ἡμέραι Hesiods (Ἡσίοδος, ca. * 700 v. Chr.) einen fernen Vorläufer hat, aber erst im Hellenismus seine eigent‐ liche Form findet, die dann vor allem durch Lukrez (Titus Lucretius Carus, 96-53 v. Chr.) in seinem sechs Bücher umfassenden Werk De rerum natura erst‐ mals in lateinischer Sprache ausgearbeitet wurde (in Hexametern). Ähnlich wie Horaz ist sich Lukrez bewußt, daß er mit seinem physikalischen Lehrgedicht, in dem er auch zum Vermittler epikureischer Philosophie in Rom wird, neue Wege beschreitet, ganz im Sinne der neoterischen Bewegung (I, 926-927). Dabei weist er explizit auf die sprachliche Armut des Lateins hin, welches im Vergleich zum Griechischen eigentlich noch nicht ausgebaut genug ist, um ein derartiges Un‐ terfangen möglich zu machen - insofern ist es also eine Pionierleistung. Un‐ zweifelhaft an Hesiod knüpft die Georgica Vergils an, in der der Dichter seine Sicht des idealen Lebens in moralischer Hinsicht (labor improbus) und ganz 113 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 201 Der Begriff des ‚Romans‘ wird erst in der mittelalterlichen europäischen Literatur he‐ rausbildet, insofern ist seine Übertragung auf die Erzählprosa der Antike anachronis‐ tisch, aber trotzdem gerechtfertigt, da inhaltlich und formal hier Übereinstimmungen festgestellt werden können. konkret in Bezug auf das gelobte Landleben (Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung) in hexametrischer Form ausbreitet (cf. Baier 2010: 27-36). Eine Mischung aus klassischem griechischem Epos, der Kurzform des Epyl‐ lion und der des Lehrgedichtes sind die Werke Ovids. In seinen Metamorphoses greift er sowohl auf die Tradition der ätiologischen Dichtung zurück (v. supra) als auch auf die der Verwandlungssagen wie in den Ἑτεροιούμενα Nikanders von Kolophon (Νίκανδρος ὁ Κολοφώνιος, 3./ 2. Jh. v. Chr.), während er in den Fasti die Ereignisse des römischen Festtagkalenders literarisch überhöht (cf. Bur‐ dorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 194-195; Baier 2010: 34-35). Neu in der Klassischen Periode ist außer dem Aufkommen der verschiedenen Formen der Lyrik auch die Textgattung des Romans 201 bzw. der längeren, kom‐ plexen Prosaerzählung, die in dieser Zeit erstmals in lateinischer Sprache auf‐ tritt. Romanhafte Vorstufen sind in der Ἀνάβασις Xenophons (Ξενοφῶν, ca. 430-350 v. Chr.) oder den Berichten des Ktesias (Κτησίας, ca. um 400 v. Chr.), der Περσικά oder der Ἰνδικά, zu sehen, doch erst in hellenistischer Zeit bildet sich diese Erzählgattung im griechischen Raum vollständig heraus, so beispielsweise bei Iambulos (Ἰαμβοῦλος, 3. Jh. v. Chr.) oder Chariton von Aphrodisias (Χαρίτων Ἀφροδισεύς, 1./ 2. Jh. n. Chr.). Römische Adaptionen gibt es nur wenige, doch haben sie allesamt eine nicht unbedeutende Nachwirkung entfaltet. Dabei sind vor allem aus sprachlicher Sicht als wichtige Quelle substandardlichen Lateins die Satyricon libri des Petron (Gaius / Titus Petronius Arbiter, † 66 n. Chr.) zu nennen, und zwar insbesondere der dort enthaltene Part des Gastmahl des Tri‐ malchio (cena Trimalchionis). Hier knüpft der Autor explizit an seine hellenisti‐ schen Vorläufer an, insofern er einerseits griechische Reiseromane parodiert und andererseits formal an die Menippeische Satire anknüpft, indem er sowohl Vers als auch Prosapassagen verwendet (prosimetrum). Ebenfalls in die Reihe der romanhaften Darstellungen gehört der Eselsroman (Metamorphoseon libri XI ) des Apuleius (ca. 125-170 n. Chr.), der in sich wiederum verschiedene Ele‐ mente anderer Gattungen wie die des Märchens (Amor und Psyche) oder der Milesischen Novelle enthält sowie Aspekte der platonischen Philosophie. An‐ knüpfend an den populären Stoff der Eroberungsfeldzüge Alexander d. Großen (336-323 v. Chr.) verfaßte Curtius Rufus (Quintus Curtius Rufus, 1. Jh. v. Chr.) eine Alexandergeschichte (Historiae Alexandri Magni Macedonis), basierend u. a. auf den sogenannten Alexanderhistorikern Ptolemaios (Πτολεμαῖος, 114 4. Die Architektur des Lateins 202 Briefe konnten jedoch ursprünglich auch privater Natur sein und dann erst nachträglich für die Publikation umgearbeitet worden sein. 366-283 v. Chr.) und Kleitarch (Κλείταρχος, 4. Jh. v. Chr.), mit teilweise moral‐ isierendem Unterton - Alexander als Gegenbild römischer Tugenden, der ge‐ trieben von Affekten und mit Maßlosigkeit agiert (cf. Baier 2010: 96-101). Eine andere neue Textgattung, die in der klassischen Zeit erstmals für das Lateinische erschlossen wird und damit das Spektrum des diskurstraditionellen Ausbaus vergrößert, ist der Brief, nicht so sehr als Gebrauchstext, sondern viel‐ mehr als literarische, für die öffentliche Rezeption bestimmte Form. 202 Auch hier gibt es griechische Vorbilder wie die Lehrbriefe Epikurs (Ἐπίκουρος, 342 / 341-271 / 270 v. Chr.) als spezifische Ausformung der Gattung, an die Se‐ neca (Lucius Annaeus Seneca, ca. 1-65 n. Chr.) mit seinen Epistulae morales ad Lucilium anknüpft. Frühester römischer Gebrauch ist jedoch bei Cornelia, der Mutter der berühmten Volksstribunen Tiberius und Gaius Gracchus bezeugt (Quint. I, 1, 6). Die wichtigsten Korpora von Briefen, die literarisch über die Antike hinausgewirkt haben, sind diejenigen von Cicero (Ad familiares, Ad At‐ ticum, Ad Quintum fratrem) und von Plinius d. J. (Gaius Plinius Secundus, 61 / 62-112 / 113 n. Chr.), die auch sprachlich insofern bemerkenswert sind, als die ciceronischen mitunter stilistisch stark von seinem sonstigen elaborierten Duktus abweichen und als Quelle für vulgärlateinische Phänomene gelten, während die Episteln des Plinius eine elaborierte Kunstform in verschiedenster Ausprägung darstellen (Ekphrasis, Essay, Panegyrikon) und als einzige die For‐ derungen nach der brevitas und der Monothematizität weitgehend einlösen. Während diese beiden Autoren die Briefe in Prosa abfaßten, waren die Epistulae des Horaz, in denen auch die Ars poetica enthalten ist, in hexametrischen Versen abgefaßt und demnach ab ovo für die Publikation bestimmt (cf. Baier 2010: 101-104; Albrecht 2012 I: 430-435). Die römische Literatur wird hierbei um eine neue Gattung bereichert, indem auf verschiedene Spielarten einer Textsorte zurückgegriffen wird (Privatbrief, Lehrbrief, öffentlicher Brief, essayistischer Brief etc.), der partiell zwar in der griechischen Literatur (und auch in anderen Kulturkreisen) bereits vorgegeben ist. Von den Römern wurde sie aber weiter ausdifferenziert und zu einem festen neu interpretierten Bestandteil der literarischen Ausdrucksmöglichkeiten wurde, wobei aus diskurstraditioneller Perspektive das Lateinische in einen weiteren Bereich vorrückt, der Ausbau der Sprache durch die neuen Arten der Versprachlichung vorangetrieben wird. Die bereits in altlateinischer Zeit sich herausbildende Tradition der Rhetorik bzw. der öffentlichen Rede bei den Römern wurde in der klassischen Periode 115 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike nun auch schriftlich fixiert, und zwar sowohl in Form von Lehrbüchern bzw. Anleitungen zur richtigen Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel und Ver‐ haltensweisen als auch durch konkret gehaltene oder zu haltende Reden. Dies‐ bezüglich ist vor allem Cicero zu nennen, der nach der ersten - ihm nur zuge‐ schriebenen - Rhetorik Auctor ad Herennium die Werke De oratore, Brutus und Orator verfaßte. An konkreten Reden seien auswahlweise nur Pro Sexto Roscio Amerino, Divinatio in Q. Caecilium, Pro Marcello, Pro Ligario und Pro rege Deio‐ taro, genannt. Wegweisend im Bereich der Rhetorik ist außerdem Quintilian, der mit seiner Institutio oratoria ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf spätere Grammatikwerke ausübte (v. infra Varro et al.). (cf. Baier 2010: 107-114). Eine Textgattung, die bei den Römern nicht zur Literatur sensu strictu gehörte, die Fabel, wurde von Phaedrus (Φαῖδρος, 1. Jh. n. Chr.), einem Freigelassenen griechischer Herkunft, erstmals in lateinischer Sprache etabliert. Vorbild für die von Phaedrus im der Komödie nahestehenden altertümlichen Versmaß des Se‐ naren nachgedichteten, sich durch ihre brevitas auszeichnenden Tierparabeln mit gesellschaftskritischen Unterton und bisweilen moralisierender Tendenz (cf. Promythien, Epimythien) sind die Fabeln von Äsop (Αἴσωπος, 6. Jh. v. Chr.) (cf. Baier 2010: 79-80). Im Zuge der aemulatio entfernt sich Phaedrus dabei zuneh‐ mend von seinem Modellautor und übernimmt nach und nach weniger Motive und programmatische Schlußfolgerungen (cf. Kleine Pauly 1964 I: 199). Auch wenn innerhalb der römischen Literatur die Rezeption eher verhalten ist und eine Nachwirkung erst in neuzeitlichem europäischen Kontext einsetzt (La Fon‐ taine, Lessing), ist die Erweiterung der lateinischen Prosa um ein weiteres Genre sprachwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als hier neue diskurstraditio‐ nelle Bereiche mit bestimmten Versprachlichungsstrategien (d. h. unterschied‐ lichen stilistischen Mitteln) erschlossen werden (cf. Baier 2010: 79-80). Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf verwiesen, daß alle bisher aufgezählten Textgattungen in der römischen Literatur bisher nicht zum Tragen kamen, also neue Formen und Inhalte mit der lateinischen Sprache ausgedrückt wurden. In der Periode des klassischen Lateins wurden aber auch in Ansätzen bereits existierende Textgattungen weiter ausgebaut. Dies gilt beispielsweise für das Epos als die literarische Form mit dem größten Prestige, welches durch die Aeneis von Vergil ihren unbestreitbaren Höhepunkt erfuhr. Aus einer ex post Perspektive läßt sich konstatieren, daß der größte römische Dichter den größten griechischen zum Vorbild nahm. Ganz im Sinne der interpretatio Romana gibt Vergil den Römern ein Identifikationswerk in geschliffenen Hexametern mit Elementen der Ilias (Ἰλιάς) und Odysee (Ὀδύσσεια) von Homer ( Ὅμηρος, ca. 7./ 8. Jh. v. Chr.). In der Nachfolge von Vergil dichten Lukan (Marcus Annaeus Lucanus, 39-65 n. Chr.), der neben kleineren Dichtungen (Iliaca, Orpheus, 116 4. Die Architektur des Lateins 203 Zur Gattung der Biographie in der römischen Literatur, die im griechischen Raum vor allem durch Plutarch (Πλούταρχος, 45-125 n. Chr.) und seine βίοι παράλληλοι (Vitae parallelae) geprägt wurde, cf. Albrecht (2012: 392-396). Silvae), das Epos Pharsalia (bellum civile) über den Bürgerkrieg schreibt, unter anderem Silius Italicus (Tiberius Catius Asconius Silius Italicus, ca. 25-100 n. Chr., Punica) und Statius, der mit seiner Thebais antithetisch an die Aeneis anknüpft (cf. Baier 2010: 17-27). Die Satire, die bereits in altlateinischer Zeit von Lucilius gepflegt wurde (v. supra), erfährt mit den saturae des Horaz ihre sprachliche und literarische Voll‐ endung. Auch wenn er auf ein römisches Vorbild zurückgreifen kann, bleibt der Rekurs auf die griechische Tradition bestehen - so knüpft er beispielsweise an die kynische Diatribe im Stile des Bion von Borythenes (Βίων Βορυσθενίτης, ca. 335-252 v. Chr.) an. Satirendichtung betreiben im Folgenden auch Persius Flaccus (Aulus Persius Flaccus, 34-62 n. Chr.) und Juvenal (Decimus Iunius Iuve‐ nalis, ca. 67-127 n. Chr.), wobei insbesondere letzterem nicht zuletzt durch ei‐ nige bonmots (z. B. panem et circenses, 10, 81; mens sana in corpore sano, 10, 356; difficile est satiram non scribere, I, 30) eine nicht unerhebliche Nachwirkung be‐ schieden war. Eine dezidierte Anknüpfung an die Menippeische Satire, mit der sich schon Varro (Marcus Terentius Varro, 116-27 v. Chr.) beschäftigt hat (De compositione saturarum), findet sich dann bei Seneca (d. J.) in seiner Apocolo‐ cyntosis Divi Claudii. Auch wenn die Textgattung der Satire keine „Erfindung“ der Römer war, bekam sie in der lateinischen Sprache und Literaturtradition doch eine ganz eigene Ausformung und Prägung, so daß Quintilian sie schließ‐ lich pointiert ganz vereinnahmen kann: „Satura quidem tota nostra est […]“ (Inst. orat. X, 1, 93; 2001 IV : 302) (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 677-679; Baier 2010: 56-58). In den Bereichen, die man im weiten Sinne der Wissenschaft zuordnen kann und die in der Periode des Altalteins bereits Werke in lateinischer Sprache ge‐ zeitigt haben, ist für die Epoche des Klassischen Lateins ein weiterer intensiver Ausbau dieser Diskurstraditionen zu konstatieren. So erlebt die Geschichtsschreibung eine Blüte mit zentralen Autoren wie Sal‐ lust (Gaius Sallustius Crispus, 86-35 v. Chr., Bellum Catilinae, Bellum Iugur‐ thinum, Historiae) Livius (Titus Livius, 64 / 59 v. Chr.-12 / 17 n. Chr., Ab urbe con‐ dita libri), Tacitus (Publius Cornelius Tacitus, ca. 56-120 n. Chr., Annales, Historiae) und Sueton (Cornelius Suetonius Tranquillus, ca. 70-140 n. Chr., De vita Caesarum, De viris illustribus). Letzterer steht hierbei zwischen Historio‐ graphie und biographischer Literatur. 203 Neue, sozusagen römische Wege be‐ schreitet hierbei Caesar (Gaius Iulius Caesar, 100-44 v. Chr.), der mit seinen commentarii eine ganz eigene Art von Hybridwerk zwischen militärischem Be‐ 117 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 204 Man kann in der Historiographie folgende Subgenera unterscheiden: annales, histo‐ riae, res gestae, historische Monographien, Universalgeschichten, Epitome und com‐ mentarii (cf. Albrecht 2012 I: 305-307). 205 Weiteren Fachdisziplinen, in denen römische Literatur fortgesetzt wird bzw. entsteht, wäre beispielsweise Landwirtschaft durch Columella (Lucius Iunius Moderatus Colu‐ mella, 1. Jh. n. Chr.) mit De re rustica und Varro (De re rustica), Architektur durch Frontin (Sextus Iulius Frontinus, ca. 35-103 n. Chr.) mit De aquaeductu urbis Romae, Geographie durch Varro (Antiquitates rerum humanarum) oder wie Feldmeßkunst ebenfalls durch Varro (De mensuris) sowie Frontin (De arte mensoria). Zu einer umfangreicheren Auf‐ schlüsselung und Charakterisierung der einzelnen Wissenschaftszweige cf. Albrecht (2012 I: 473-479). richt, historischer Darstellung und autobiographischer 204 Rechtfertigung schafft, auch mit einem sehr eigenen spezifischen sprachlichen Duktus (cf. Baier 2010: 93-94). Die Rechtsprechung zeitigt wichtige Werke von Autoren wie Gaius (ca. 120-180 n. Chr.) mit seinen Institutiones oder Papinian (Aemilius Papinianus, 142-212 n. Chr.) mit den Quaestiones, um nur eine Auswahl zu nennen (cf. Alb‐ recht 2012 II : 1294). Gerade in diesem Wissenschaftsbereich, der eng an eine Praxis geknüpft ist, beginnt in der Kaiserzeit eine Diskurstradition sich voll‐ ständig zu konstituieren, die dann über die Spätantike eine enorme Nachwir‐ kung in Europa erlebt. Im Bereich der Philosophie sind vor allem Cicero mit zahlreichen Schriften (Hortensius, Academici libri, De finibus bonorum et malorum, De officiis, Tuscu‐ lanae Disputationes), auch zur Religion (De natura deorum, De divinatione), und Seneca (Dialogi, Ad Marciam de consolatione, De vita beata, De providentia, De beneficiis) zu nennen (cf. Baier 2010: 85-92, 111-116). Ein Universalgelehrter war Varro, der als Diskurstradition die Grammatikographie neu für die lateinische Sprache erschloß (De lingua latina). In den von ihm postulierten Kategorien blieb er eng angelehnt an die erste Grammatik des europäischen Kulturkreises von Dionysios Thrax (Διονύσιος ὁ Θρᾷξ, ca. 180 / 170-90 v. Chr., Τέχνη γραμματική). Einen neuen Wissenschaftsbereich erschloß Vitruv (Marcus Vitrvius Pollio, 1. Jh. v. Chr.) mit seinem Opus De architectura, welches vor allem in der Renais‐ sance ein breite Rezeption (und Umsetzung) erfuhr. Die Naturwissenschaft er‐ lebt in der Naturalis historia des älteren Plinius (Gaius Plinius Secundus, 23 / 24-79 n. Chr.) eine umfangreiche Darstellung zahlreicher Subdisziplinen in lateinischer Sprache (cf. Baier 2010: 120-122). 205 Aus soziolinguistischem Blickwinkel ist die Frage nach dem Ausbau der Sprache hier zentral und damit eng zusammenhängend nach dem Vorrücken in verschiedene diskurstraditionelle Bereiche. Literarische Textgattungen sind wie andere Textsorten auch (z. B. Gebrauchstexte), Teil des Spektrums der schriftli‐ 118 4. Die Architektur des Lateins 206 Zur Sprache der einzelnen Textgattungen und Autoren cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: passim: z. B. Die Sprache der fabula palliata (Plautus und Terenz) (ibid.: 298-308), Die Sprache der nichtepischen Dichtung (ibid.: 311-320), Die Prosa von der Mitte des II. bis ins I. Jahrhundert v. Chr. (ibid.: 323-325), Die Sprache des Romans (ibid.: 346-356), Die Sprache der Wissenschaft und der Technik (ibid.: 358-376). Zu den spezifisch sprachlichen Charakteristika des Klassischen Lateins im Allgemeinen cf. Kramer (1997: 136-146). chen Diskurstraditionen und damit ein Indikator für den sprachlichen Ausbau. In diesem Sinne ist das Erschließen von neuen diskurstraditionellen Bereichen für das Lateinische (cf. zahlreiche lyrische Formen, fachwissenschaftliche Teil‐ gebiete), indem vor allem auf bereits existierende griechische Modelle rekurriert wurde, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vollausgebauten Sprache. Dieser Status ist am Ende der klassischen bzw. nachklassischen Zeit für das Lateinische erreicht. Die Unterscheidung „klassische Phase“ und „nachklassische Phase“ wird aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hier fallengelassen und - wie bereits ein‐ gangs festgelegt (v. supra) - unter dem Aspekt des Ausbaus insgesamt sozusagen als „Hochphase der literarischen Produktion“ klassifiziert. Rekapituliert man die in dieser wohl produktivsten und innovativsten Epoche entstandene Literatur - und dies ist hier der wichtigste Indikator, da der münd‐ liche Bereich genauso wie der der Gebrauchstexte nur schwer erschließbar bzw. wenig dokumentiert ist -, so zeigt sich, daß für das Lateinische zahlreiche neue Textgattungen erschlossen wurden, diese innovativ verändert und ausgebaut wurden sowie auch neue entstanden. Unabhängig von dem literarischen Ge‐ winn steht hier in erster Linie der sprachliche im Vordergrund, denn durch die Auseinandersetzung mit neuen Formen und Inhalten ergeben sich fast zwangs‐ läufig Innovationen auf den verschiedensten sprachlichen Ebenen (Lexikon, Se‐ mantik, Syntax, Stilistik). Die Sprache durchläuft einen Ausbauprozeß durch die Herausforderung, die durch literarische Gattungen gestellt werden, aber auch bei der Versprachlichung von Inhalten, die an bestimmte Textsorten geknüpft sind (z. B. fachwissenschaftliche) steigt der Grad der Elaboriertheit und der Grad des Ausbaus mit der dadurch „erzwungenen“ Erweiterung der Ausdrucks‐ mittel. 206 Was nun die sprachliche Situation im römischen Reich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. anbelangt, so ist diese wiederum in enger Abhängigkeit zur Expansion des Imperiums einerseits und zum Grad der Romanisierung anderer‐ seits zu sehen. Auch diese Tatsache hat wiederum Rückwirkung auf den Ausbaugrad, da das Lateinische in zahlreiche Domänen vorrückt: „Das einheitliche Recht, der Handel, die politisch-militärische Organisation der römischen Herrschaft, die 119 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike fortgeschrittene Kultur, die einheitliche Literatur: all das führte zur Erweiterung der gesellschaftlichen Funktionen des Lateinischen“ (Irmscher 1986: 84). Mit den zunehmenden Eroberungen, durch die ausgetragenen Konflikte mit den im Mittelmeerraum noch verbliebenen Staatengefüge (Seleukidenreich, Ptomeläerreich etc.) sowie mit verschiedenen Ethnien am Rande des Reiches, wächst das römische Reich ab dem 1. Jh. v. Chr., insbesondere ab Augustus und der frühen Kaiserzeit stetig und geradezu exponentiell, so daß bald seine größte Ausdehnung erreicht wird (115-117 n. Chr., v. supra). Durch die Einrichtung von immer neuen Provinzen und der Stationierung von Truppenkontingenten (legiones) sowie der gezielten Kolonialisierung soll eine Konsolidierung der er‐ oberten Regionen erreicht werden. Die systematische Erschließung durch Neu‐ gründung von Städten (civitates, municipia, coloniae), dem Anlegen eines aus‐ gedehnten Straßennetzes und damit der Schaffung von Handels- und Verkehrsverbindungen (cf. itineraria) sowie die Errichtung einer einheitlichen zivilen und militärischen Verwaltungsstruktur (cf. mil.: proconsules, proprae‐ tores; ziv.: decuriones) fördert im Folgenden die Romanisierung. Die lateinische Sprache setzt sich dabei in den meisten eroberten Provinzen nach und nach durch, nicht gleichmäßig und zeitlich abhängig zum einen vom Eroberungszeitpunkt und vom womöglich fortgesetzten Widerstand der Bevöl‐ kerung, zum anderen von der vorgefundenen Infrastruktur und Art der Zivili‐ sation. Generell gilt, daß die Latinisierung zuerst in den städtischen Zentren griff und sich von dort auf das Land ausbreitete und ganz prinzipiell urban ge‐ prägte Kulturkreise sich schneller akkulturierten und sprachlich assimilierten (cf. z. B. Iberer) als solche, die zur Migration neigen oder zumindest wenig feste Infrastruktur aufweisen. Wie bereits erwähnt (v. supra) dürfte die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. im Wesentlich abgeschlossen sein - bis auf einige griechische Sprachinseln in Süditalien und Sizilien. Fuhrmann (1999: 19-20) datiert die Latinisierung der Iberischen Halbinsel auf das 1. Jh. n. Chr. und begründet die tiefgreifende sprachliche Assimilation mit dem Auftreten von lateinischen Schriftstellern wie Seneca oder Lukan. Hierbei ist allerdings einzuwenden, daß dies nicht ausschließt, daß die nördlichen Regionen wie das Baskenland oder Kantabrien zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht voll‐ ständig romanisiert und latinisiert waren bzw. nie wurden. Für Gallien und Nordafrika setzt er das 2. Jh. als Richtwert für eine weitgehend vollständige La‐ tinisierung an, während für Britannien und den Donauraum die Durchdringung mit der lateinischen Sprache auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in gleichem Maße flächendeckend und tiefgreifend war. 120 4. Die Architektur des Lateins 207 „All das, was aus der Umgangssprache ausgeschlossen ist, wird Standardsprache. Die Entstehung des klassischen Lateins und der Abstand zur Gemeinsprache bedingen sich also gegenseitig. Das klassische Latein bildet sich dadurch heraus, dass es sich be‐ stimmten Elementen gegenüber verschliest. Dadurch werden sie zu niedriger mar‐ kierten Elementen und in den Substandard abgedrängt. Das für die Geschichte der ro‐ Der Osten blieb weiterhin griechischsprachig und das Lateinische tat sich als Amtssprache schwer, auch wenn es durchaus bezeugte Bemühungen von Seiten der Griechen gab, das Lateinische zu erlernen (cf. Adams 2003: 15). Durch die massive Expansionspolitik in dieser Epoche wurde das Latein als Sprache der Eroberer in zahlreiche neue Regionen getragen, wirkte aber auch über die politischen Grenzen hinaus und wurde so zur Weltsprache in Rahmen der damaligen Welt (cf. röm. Anspruch der Herrschaft über den orbis terrarum). Für die Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten ergab sich somit entweder ein zum Teil dauerhafter Bilingualismus bzw. eine Diglossie-Situation in den Regionen, die weniger latinisiert waren oder es vollzog sich über eine mehr oder weniger lange Phase der Mehrsprachigkeit ein Sprachwechsel hin zum Latein‐ ischen. Fuhrmann (1999: 19) postuliert dabei einen eher abrupten, schnellen Sprach‐ wechsel ohne eine größere Übergangsphase. Dies wäre aber womöglich en detail zu betrachten, da auch hier die Frage nach sozialer Stratifikation, urbaner oder ruraler Struktur u. ä. Kriterien eine Rolle spielen könnten. Für die Elite Roms und des römischen Reiches ist prinzipiell weiterhin eine Diglossie-Situation mit dem Griechischen anzusetzen. Während Fuhrmann (1999: 345) allerdings mit einem gewissen Rückgang des Philhellenismus in der nachklassischen Phase des Archaismus rechnet, sieht Kramer (1997: 146) eine „ausgeprägte Zweisprachigkeit“ gebildeter Kreise bis ca. 250 n. Chr., was auch an der Übernahme fremder Strukturen, d. h. vor allem im Bereich der Syntax, aber auch auf lautlicher, morphologischer und semantischer Ebene ersichtlich sei. Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, daß das römische Reich in dieser Epoche nicht nur ein Vielvölkerstaat wurde (mehr denn je zuvor), sondern auch ein Vielsprachenstaat, in dem Bilingualismus und Mehrsprachigkeit durchaus gängig waren, nicht zuletzt auch bedingt durch die relativ hohe Mobilität bzw. Migration innerhalb des Imperiums. Als high-variety fungierte dabei einerseits das Latein, das inzwischen sowohl durch seine politisch-gesellschaftliche Stel‐ lung als auch durch seine nun reichhaltige Literatur zur unzweifelhaften Pres‐ tigesprache aufgestiegen war und in dieser Epoche einen Standardisierungs‐ prozeß durchlief, 207 andererseits auch das Griechische als „alte“ Kultursprache, 121 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike manischen Sprachen relevante Varietätengefüge entstand also erst mit der Standardisierung des Lateinischen in seiner klassischen Epoche“ (Lüdtke 2019: 452). aber auch als nach wie vor gültige Verkehrssprache im östlichen Teil des Impe‐ riums 4.1.1.4 Spätlatein Die Frage, ab wann die Epoche des Spätlateins anzusetzen ist, hängt eng mit der unterschiedlich gehandhabten Begrenzung des Klassischen bzw. vor allem des Nachklassischen Lateins zusammen (v. supra), während ihr unscharfes Ende in erster Linie mit der Herausbildung der Romanischen Sprachen verknüpft ist. Müller-Lancé (2006: 34) verweist deshalb mit Recht auf den Charakter einer Übergangsepoche. Es sei aus der dort gegebenen, relativ exakten Datierung (ca. 180-650 n. Chr.) und der ebenfalls präzisen, aber leicht verschobenen bei Stein‐ bauer (2003: 513), nämlich ca. 200-600 n. Chr, hier eine etwas fließenderen Grenze angenommen, d. h. ein Zeitraum vom 2./ 3. Jh. - 5./ 6. Jh. postuliert. Das etwas frühere Ende sei damit begründet, daß mit dem Fehlen der Reichseinheit spätestens ab dem 7. Jh. geistes- und kulturgeschichtlich genauso wie politisch eine andere Ära beginnt. Der Beginn der spätlateinischen Epoche fällt mit dem von Berschin (2012: 94) charakterisierten „dunklen III . Jahrhundert“ zusammen, in dem nicht viel von der lateinischen Kultur überliefert ist, aber sich ein Wandel in Schrift, Sprache und Literatur vollzog. Aus der soziolinguistischen Sicht des sprachlichen Ausbaus ist für die spät‐ lateinische Phase vor allem die neu aufkommende christliche Literatur von Re‐ levanz, die sich in vielen Facetten zeigt. Ohne in vollem Umfang auf alle Schrift‐ steller und Genres eingehen zu können, seien hier an erster Stelle die lateinischen Kirchenväter (patres ecclesiae) genannt, und zwar die kanonischen großen vier: Ambrosius (Aurelius Ambrosius, 339 / 340-397 n. Chr.), Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus, 345 / 348-420 n. Chr.), Augustinus (Aurelius Augustinus, 354-430 n. Chr.) und Gregor d. Große (Gregorius, 540-604 n. Chr.). Chronologisch sollen zunächst aber einige andere wichtige Vertreter aus der Reihe der Kirchenlehrer genannt sein, die den Ausbau der religiösen Fachlite‐ ratur maßgeblich vorangetrieben haben. Dabei ist sicherlich an erster Stelle Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus, ca. 150 / 170-220 n. Chr.) zu nennen, von dem ein umfangreiches und vielfältiges Schrifttum überliefert ist. Dabei kann man das Gesamtwerk in apologetische Schriften (z. B. Ad nationes, Apologeticum, De Testimonio animae, Adversos Iudeos), in praktisch-asketische Schriften (z. B. Ad martyras, De spectaculis, De baptismo) und in dogmatisch-po‐ lemische Schriften (z. B. De praescriptione haereticorum, Adversos Praxean) glie‐ 122 4. Die Architektur des Lateins 208 Inwieweit das bestimmte Parallelen aufweisende Werk des Minucius Felix (Octavius) zur Schrift Apologeticum des Tertullian darauf schließen läßt, wer evtl. von wem sich hat inspirieren lassen bzw. abgeschrieben hat, ist umstritten. dern. Seine literarischen Modelle sind zum einen bei den zeitgenössischen christlichen griechischen Autoren zu suchen, aber auch in der klassischen Phi‐ losophie (Platon, Stoa). Ein prägendes Moment ist dabei auch die Auseinander‐ setzung mit aktuellen Strömungen wie dem aufkommenden Gnostizismus. Dabei legt Tertullian nicht nur die Grundlage für eine facettenreiche religiöse Literatur des Lateinischen im Allgemeinen, sondern schafft mit seiner Art der Apologetik (werbend und verteidigend zugleich) ein neues Subgenre, welches so zuvor weder in der lateinischen noch in der griechischen Tradition existierte (cf. Albrecht 2012 II : 1315-1324). Ein wahrscheinlich etwas jüngerer Zeitgenosse Tertullians ist Minucius Felix (2./ 3. Jh. n. Chr.), von dem nur die Schrift Octavius überliefert ist. 208 In dieser dialogisch gestalteten erstmaligen Auseinandersetzung mit den paganen Über‐ zeugungen aus christlicher Perspektive werden Vorbilder wie Homer, Platon, Cicero, Seneca oder Vergil sichtbar (cf. Albrecht 2012 II : 1337-1340). Als ein weiterer nicht unbedeutender Vertreter aus dem Kreis der frühen Kirchenlehrer ist Cyprian (Thascius Caecilius Cyprianus, ca. 200 / 210-258 n. Chr.) zu nennen, der im Zuge der Profilierung der frühen katholischen Lehre sowohl wichtige Bekehrungsschriften (z. B. Ad Donatum, Ad Detrianum, De ecc‐ lesiae catholicae unitate) wie auch die Gattung der Erbauungsschriften (z. B. De habitu virginum, De dominica oratione) hervorgebracht hat (cf. Albrecht 2012 II : 1348-1351). Ebenfalls zu den Großen und Einflußreichen gehört Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus Lactantius, ca. 250-320), der in seinen Divinae institutiones Elemente aus der juristischen Tradition mit solchen aus der Rhetorik verbindet. Neben weiteren wichtigen apologetischen Schriften wie De opificio Dei, De ira Dei oder De mortibus persecutorum - wobei vor allem letzteren eine größere Nachwir‐ kung beschieden war, nicht zuletzt als Geschichtsquelle - soll er auch weltliche Schriften verfaßt haben, die allerdings nicht erhalten sind (Symposium, Itinera‐ rium, Grammaticus) (cf. Albrecht 2012 II : 1370-1371). Was die sogenannten großen Kirchväter anbelangt, so ist zunächst Ambrosius zu nennen, der ein vielseitiges Œuvre hinterlassen hat, bestehend aus mora‐ lisch-asketischen Schriften (De officiis ministorum, Exhortatio virginitatis, De Tobia), dogmatischen Schriften (De fide, De spiritu sacto, De incarnationis domi‐ nicae sacramento), einer politischen Flugschrift (Contra Auxentium de basilicis tradendis), Trauerreden, Hymnen und einer verlorenen philosophischen Ab‐ handlung (De philosophia). Dabei war auch bei ihm, wie im Falle anderer Kir‐ 123 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 209 Die ersten lateinischen Bibelübersetzungen sind zum Teil bereits früher verfaßt worden (2./ 3. Jh.) und werden unter dem Namen der Vetus latina zusammengefaßt, mit den Hauptbestandteilen Afra, Itala, Hispana. Die meisten Fragmente sind in die Vulgata eingegangen oder in den Schriften der Kirchenväter überliefert (Neue Pauly 1997 II: 630). chenlehrer, der griechische Einfluß durch seine klassische Vorbildung gegeben. Er hat unzweifelhaft Philosophen wie Plotin (Πλωτῖνος, 205-270 n. Chr.) oder Porphyrios (Πορφύριος, ca. 233-305 n. Chr.) genauso rezipiert wie römische ka‐ nonische Autoren (z. B. Cicero, Vergil) (cf. Albrecht 2012 II : 1402-1406). Hieronymus ist vor allem wegen seiner Bibelübersetzung in die Geschichte eingegangen, der Vulgata. 209 Dabei ist bemerkenswert, daß er nicht nur selbs‐ verständlicherweise Griechisch konnte, sondern auch Kenntnisse des Hebräi‐ schen hatte, um eine bessere Übertragung bzw. Exegese leisten zu können. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfaßte auch weitere Übersetzungen (vor allem exegetischer Predigten), Kommentare zu biblischen Büchern, Briefe, Predigten sowie Streitschriften (z. B. Adversos Rufinum, Contra Pelegianos), Hagiographien und eine christliche Literaturgeschichte (De viris illustribus) nach griechischem Vorbild (cf. Albrecht 2012 II : 1415-1417). Der wirkungsmächtigste Kirchenvater war wohl Augustinus mit einem um‐ fangreichen Gesamt-Opus, darunter philosophische Schriften (Soliloquiorum libri duo, De magistro, De immortalitate animae), philosophisch-rhetorische (De grammatica, De doctrina christiana), apologetische (De divinatione daemonum, De civitate Dei), dogmatische (De fide et symbolo, De agone Christiano, De trinitate libri XV ), dogmatisch-polemische (De libro arbitro) und hermeneutische (De doctrina christiana), von denen viele für die christlichen Theologie fundamental wurden. Die breiteste Rezeption erfuhr er aber wohl mit seiner autobiographi‐ schen Schrift, den Confessiones. Augustinus bedient sich in seinen Einzelwerken der gesamten Bandbreite griechisch-lateinischer Literatur, die zu seiner Zeit gängig war (cf. Albrecht 2012 II : 1431-1436). Gregor d. Große (Gregorius, ca. 540-604 n. Chr.) schließlich, Papst (590-604 n. Chr.), verfaßte anhand eines Bibelkommentars eine Moraltheologie (Moralia in Job), zahlreiche Homilien, Pastoralen (Regula pastoralis) und hinter‐ ließ ein umfangreiches Korpus an Briefen. Insbesondere seine Heiligenlegenden in Form von Dialogen (Dialogi) wurden in den folgenden Jahrhunderten häufig rezipiert (cf. Heim 2001: 147). Der Wissenschaftsbereich der Historiographie wird durch Historiker wie Ammian (Ammianus Marcellinus, 330-395 n. Chr.) mit seinen an Tacitus an‐ knüpfenden in annalistischer Tradition stehenden Res gestae oder Jordanes (6. Jh.) mit seiner Gotengeschichte (Getica) und einer Weltchronik (De summa 124 4. Die Architektur des Lateins 210 Als weitere Historiker der Spätzeit seien Aurelius Victor (Sextus Aurelius Victor, ca. 320-389 n. Chr., Caesares), Eutrop (Eutropius, 4. Jh. n. Chr., Breviarium ab urbe condita), Festus (ca. 320-390 n. Chr., Breviarium rerum gestarum populi Romani) und Orosius (4./ 5. Jh. n. Chr., Historiarum adversus paganos libri VII) genannt sowie das anonyme Werk der Historia Augusta (4./ 6. Jh.). 211 Von Symmachus selbst, der der senatorischen stadtrömischen Aristokratie zuzurechnen war, ist auch im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Kirchenlehrer Ambrosius von Mailand, ein Korpus von über 900 Briefen erhalten. Nicht zu verwechseln ist dieser mit dem späteren Symmachus (Quintus Fabius Memmius Symmachus, † 525 n. Chr.), einem Urenkel, der dem römischen Senat vorstand (485 consul), Schwiegervater des Boethius war und als Historiker eine römische Geschichte verfaßte, die allerdings nicht erhalten ist (cf. Neue Pauly 2001 XI: 1134-1135). temporum vel origine actibusque gentis Romanorum) weiter gepflegt (Kleine Pauly 1967 II : 1439). 210 In der Philosophie sei vor allem auf Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius, ca. 480-525 n. Chr.) verwiesen, der durch seine Consolatio philosophiae breite Nachwirkung erfuhr, aber auch durch seine Über‐ setzungen, Kommentare und weiteren Schriften zu anderen Fachbereichen wirkte (z. B. Logik: De categoria syllogismis, Mathematik: Institutio arithmetica) (cf. Albrecht 2012 II : 1470-1475). Die Grammatikschreibung zeitigt mit den Werken Donats (Aelius Donatus, ca. 310-380 n. Chr., Ars grammatica) und Pris‐ cians (Priscianus Caesariensis, 5./ 6. Jh., Institutio de arte grammaticae) in dieser spätlateinischen Phase die wichtigsten Inspirationsquellen der folgenden Jahr‐ hunderte (cf. Brodersen / Zimmermann 2000: 145, 492). Die schöne Literatur wird ebenfalls weiterhin gepflegt, wenn auch nicht mehr in gleichem Umfang und vor allem nicht mehr mit gleichem Rezeptionsgrad wie zuvor. Exemplarisch soll hier in erster Linie der Dichter Ausonius (Decimus Magnus Ausonius, ca. 310-393 / 394) genannt werden, dem mit Werken wie der Mosella, Bissula oder dem Ordo urbium nobilium ein gewisser Nachruhm be‐ schieden war. Gerade mit letzterem, bei dem er Elemente des griechischen Epi‐ gramms und der descriptiones verbindet, schafft er einen neuen Gedichttypus, genauso wie mit seiner commemoratio, dem Weih- oder Gedenkgedicht, welches eine Mischung aus laudatio und Epikedeion darstellt (cf. Albrecht 2012 II : 1129-1131). Erwähnt sei auch noch der Dichter Prudentius (Aurelius Pruden‐ tius, 348-405 n. Chr.), insofern sich in seinem Werk christliche Inhalte mit an‐ tiken Traditionen verbinden, wie beispielsweise in dem Lehrgedicht Psychoma‐ chia, in dem in Hexametern christliche Allegorien und Tugendvorstellungen mit Bezügen auf Vergils Aeneis ausgearbeitet wurden. In Contra Symmachum setzt er sich mit dem restaurativ-paganen Dichterkreis um Symmachus (Quintus Au‐ relius Symmachus, ca. 340-402 n. Chr.) auseinander, 211 während in anderen 125 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike Werken rein christliche Themen dominieren (Peristephanon, Apotheosis, Kathe‐ merinon) (cf. Brodersen / Zimmermann 2000: 497). Aus der Sicht des sprachlichen Ausbaus ist zu konstatieren, daß sich in der spätlateinischen Phase am Zustand des Lateins im Sinne einer vollausgebauten Sprache nichts Wesentliches ändert. Die meisten Diskurstraditionen wurden weiter gepflegt, mitunter nicht in gleichem Umfang, aber dafür kamen durch neue Themenbereiche, und zwar in erster Linie solche mit christlichem Bezug, neue Arten von Textgattungen auf, wie z. B. Hagiographien, Predigten, dogma‐ tische oder apologetische Schriften, die es zumindest in dieser Form zuvor im Lateinischen noch nicht gegeben hatte (v. supra). Der ganze Fachbereich der Theologie im weitesten Sinne erfuhr somit einen Ausbau, der vor allem mit zahlreichen Entlehnungen aus dem Griechischen einherging. Eine gewisse va‐ riatio ist aber durchaus auch bei etablierten Textgattungen festzustellen (cf. z. B. Lyrik des Ausonius), so daß sich vereinzelt neue Subgenres herausbildeten. Ein „Niedergang“, wie er aus der traditionellen, wertenden Perspektive der Klassischen Philologie meist festgestellt wurde, ist aus sozio-linguistischer Sicht, also in Form eines Rückbaus der Sprache, sicherlich nicht festzustellen, da ja nicht nur weiterhin die bereits kanonische Literatur tradiert und rezipiert wird, sondern eben neue Bereiche oder Subbereiche für das Lateinische er‐ schlossen werden. In Hinsicht auf die sprachliche Situation ist für die Spätantike mit einer wei‐ terhin zunehmenden Romanisierung und Latinisierung zu rechnen, vor allem in den Regionen des Imperium Romanum, die erst später erobert wurden, sowie solchen die infrastrukturell eher entlegen waren oder sozio-strukturell diver‐ gierend. So schließen beispielsweise Berschin / Felixberger / Goebl (2006: 162) aus einer Passage bei Hieronymus, daß gegen Ende des 4. Jh. in Trier an der Mosel (römische Randzone, aber auch Kaiserresidenz) noch Keltisch gesprochen wurde, immerhin über 400 Jahre nach der Eroberung Nordgalliens. Für die Ibe‐ rische Halbinsel, die wie Gallien insgesamt als bereits tiefgreifend romanisiert gelten kann, vermutet Curchin (1991: 179-181, 190-192), daß sich im Sied‐ lungsgebiet der Kantabrer (lat. Cantabrii) bedingt durch die dort vorherrsch‐ enden Gentilverbände und die fehlende urbane Struktur, die Romanisierung partiell bis ins 5. Jh. hingezogen habe, womöglich vollständig erst nach dem Zusammenbruch des Imperiums erfolgt sei. Trotz gewisser Einzelfälle und Rand‐ zonen wie Britannien oder Dakien mit geringerem Grad an Romanisierung und Latinisierung ist insgesamt für das Imperium im Laufe der Jahrhunderte von einer starken sprachlichen und kulturellen Assimilation von weiten Teilen der Bevölkerung auszugehen, nicht zuletzt auch durch die von Caracalla (Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus, 188-217 n. Chr., Ks. ab 211) erlassene Con‐ 126 4. Die Architektur des Lateins 212 Zu einem Modell, das diese Gleichzeitigkeit berücksichtigt und damit auch den poten‐ tiellen Sprachkontakt der Substratsprachen untereinander cf. Schöntag (2013: 290-292). Zur Geschichte des Strata-Modells und der zugehörigen Begriffe wie Substrat, Super‐ strat und Adstrat (bzw. Kulturadstrat) sowie seiner grundlegenden Problematik cf. Schöntag (2020b). 213 Inwieweit die Griechischkenntnisse der Elite zu früheren Jahrhunderten womöglich abnahmen, ist schwer zu ermitteln, man könnte es in der Spätphase eventuell korrelativ zur allgemein abnehmenden Alphabetisierungsrate bzw. dem schwindenen Anteil der Bildungsträger festmachen. stitutio Antoniniana (212 n. Chr.), mit der allen Reichsbewohnern das uneinge‐ schränkte Bürgerrecht verliehen wurde. Das römische Reich blieb zwar ein Raum der Mehrsprachigkeit, nicht zuletzt weil in der Spätphase größere Kon‐ tingente von Völkern mit verschiedenen germanischsprachigen Idiomen inner‐ halb der Reichsgrenzen angesiedelt wurden bzw. dorthin vordrangen, was ent‐ gegen dem gängigen Modell von Dietrich / Geckeler (2007: 172) eine Gleichzeitigkeit von Sub- und Superstratsprachen ergeben konnte. 212 Auf der anderen Seite nahm durch die zunehmende Latinisierung auch die Zahl der Personen, die muttersprachlich nur eine lateinische Varietät zur Verfügung hatten, deutlich zu. Wie man exemplarisch an den christlichen Kirchenlehrern sieht, blieb das Griechische dabei Bildungssprache für die römische Elite im gesamten Imperium, 213 die sich somit weiterhin in einer Art Diglossie-Situation befanden, wobei das Schriftlatein allerdings nun endgültig auch den Rang einer high-variety in allen Bereichen innehatte. Durch die Verbreitung und Etablierung des Lateins in zahlreichen Regionen Europas und rund ums Mittelmeer (mare nostrum) entsteht einerseits eine all‐ gemeine gesprochene lateinische Sprache, die man in Anlehnung an die grie‐ chische Konstellation als koiné bezeichnen kann, und andererseits isoliert sich ein vorwiegend schriftlich gebrauchtes Latein, welches als Bildungssprache morphologisch erstarrt und in seiner Grammatik konserviert ist (cf. latinitas perennis). Das nachmalig als „klassisch“ apostrophierte Latein entsteht, indem das Latein ausgewählter Autoren einer bestimmten historischen Epoche kano‐ nisiert wird und dem natürlichen sprachlichen Erneuerungszyklus enthoben wird (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 325-326). 4.1.2 Der Varietätenraum Bei einer Beschreibung des Varietätenraumes des Lateinischen als lebendige Sprache ergibt sich zunächst einmal, wie aus oben ausgeführter Periodisierung hervorgeht, die Problematik, daß sich das Latein im Laufe seiner über tausend‐ jährigen Sprachgeschichte nicht nur bezüglich einzelner sprachlicher Merkmale 127 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 214 Reichenkron (1965: 8-17) faßt prinzipiell alles unter ‚Vulgärlatein‘ zusammen und dif‐ ferenziert dann in Sprache der untersten Schichten, Volkssprache, Sprache der Mittel‐ klasse, Umgangssprache und Sprechsprache, wobei diastratische, diaphasische und dia‐ mesische Kriterien nicht getrennt werden. 215 Der Begriff ‚Umgangssprache‘ entsteht in der 2. Hälfte des 18. Jh. und war schon zur damaligen Zeit vieldeutig bzw. unpräzise. So gibt es u. a. Belege bei Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), die beide im Zuge von Stilbetrachtungen die Sprache des Umgang(e)s (1751) thematisieren, Christian Garve (17 742-1798), der die Sprache der Bücher mit der Sprache des Umgangs (1773) kontrastiert, bei Johann Christoph Adelung (1732-1806), der die Büchersprache mit der im täglichen Umgange (1774) vergleicht sowie Friedrich Gedicke (1754-1803), der ex‐ plizit die Umgangssprache der Büchersprache (1777) gegenüberstellt (cf. Takada 2012: 175-181), bevor schließlich Joachim Heinrich Campe (1746-1818) den Terminus verändert hat, sondern durch seine Expansionskraft auch seine Verbreitung in den verschiedenen Regionen der Welt sowie damit einhergehend die Zahl seiner Benutzer enorm gestiegen ist. Dies wiederum bedingt einen erheblichen Zu‐ wachs an sprachlicher Beeinflussung durch Substrat- und Adstratsprachen, die im Latein ihre Spuren hinterlassen haben. Durch diese im Laufe der Zeit sich stark verändernden Konstellationen ist es notwendig, daß auch eine historische Komponente bei der Erfassung der Architektur des Lateinischen Berücksichti‐ gung findet. Traditionell wird in der Klassischen Philologie der sprachlichen Variation relativ wenig Raum gegeben bzw. spielt allenfalls im Rahmen von stilistischen Betrachtungen eine Rolle. Die Frage nach der Existenz verschiedener Varietäten scheint hierbei eher untergeordnet und wird meist ohne größere Diskussion um eine eventuell mögliche linguistische Verortung abgehandelt, was nicht nur an der für das Lateinische als nicht mehr lebendige Sprache nicht immer einfachen Belegsituation zusammenhängt. Exemplarisch für die traditionelle Sicht und die ältere Forschung sei hier auf Leumann / Hoffmann (1928) verwiesen, die die komplette Variation inklusive diachroner Implikationen in einem einzigen Kapitel abhandeln (ibid.: 9-11), und zwar unter dem Titel Vulgärlatein und Romanisch, Umgangssprache, Schrift‐ sprache. Hierbei sind bereits mit den Termini ‚Umgangssprache‘ und ‚Vulgärla‐ tein‘ die beiden wichtigsten Varietäten jenseits der standardisierten Schrift‐ sprache in der traditionellen Betrachtung angesprochen. Diese finden sich genauso in der modernen Forschung: In dem Überblick bei Irmscher (1986: 84-85), bei Reichenkron (1965) 214 wie auch in der aktuellen Einführung zur Klassischen Philologie von Willms (2013: 230, 239). Dies bedeutet auch, daß die komplette diasystematische Variation im Wesentlichen an einem Begriff aus der Germanistik, der eigentlich Verhältnisse des Deutschen wiedergibt, aufge‐ hängt ist (‚Umgangssprache‘) 215 sowie an einem Terminus, der in der Forschung 128 4. Die Architektur des Lateins ‚Umgangssprache‘ als Übersetzung für ‚Conversationssprache‘ in seinem Verdeut‐ schungswörterbuch verwendet (cf. Campe 1813: 226, s. v. Conversation) und ihn au‐ ßerdem im Zuge seiner Selektionskriterien in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache erörtert: „Es sollte nicht bloß aus Einer-Quelle des Deutschen Sprachschatzes (etwa nur aus Einer Mundart z. B. der Meißnerischen oder Obersächsischen), sondern aus allen Quellen, die für die allgemeine Deutsche Sprache, hochdeutsch genannt, etwas zu liefern haben, geschöpft werden. Kein Theil unsers gemeinsamen Vaterlandes, er heiße wie er wolle, soll sich anmaßen, seine besondere Mundart den anderen Theilen als Gemeinsprache aufzudringen, und sich zum Gesetzgeber in der Sprache aufwerfen. Keine unter den Landschaften ist dazu berechtigt; keine ist dazu fähig. In allen, ohne Ausnahme, wird in allgemeinen nur landschaftliches Deutsch geredet, aus welchem die gebildeteren Deutschen und die Schriftsteller aller Gegenden das Beste, Edelste und Sprachrichtigste für die allgemeine Deutsche Umgangs- und Schriftsprache ausgehoben haben und noch immer auszuheben rechtmäßig fortfahren. Nur dieses Beste, Edelste, Sprachrichtigste, nur dieser Aushub aus allen Mundarten, sollte in unserm Wörterbuche gesammelt werden; nur das, was den Ähnlichkeitsregeln der gemeindeutschen Sprache wider‐ strebt, sammt Allem, was pöbelhaft ist, folglich von gesitteten Menschen, weder ge‐ sprochen, noch geschrieben wird, sollte davon ausgeschlossen sein. Unsere Quellen also sind: die feinere Umgangssprache bin allen Deutschen Ländern, und alle in der Ge‐ meinssprache geschriebenen Deutsche Werke, von den ältesten Denkmälern unserer Schriftsprache an, bis auf die neuesten Schriften, welche die letzte Büchermesse gelie‐ fert hat, sie mögen von Oberdeutschen, Mitteldeutschen oder Niederdeutschen Schrift‐ stellern verfaßt worden sein“ (Campe 1807 I: VIII). Zum heutigen Verständnis von ‚Um‐ gangssprache‘ in der germanistische Forschung cf. Munske (1983: 1002-1003). 216 Der Begriff ‚Vulgärlatein‘ geht in seiner heutigen sprachwissenschaftlichen Verwen‐ dung im Wesentlichen auf Hugo Schuchardt (1842-1927) zurück, der ihn in seinem Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866-1868) einführt (v. infra Kap. 5). mit den unterschiedlichsten Konzepten aufgeladen wurde (‚Vulgärlatein‘). 216 An diese Tradition der Bezeichnung und Kategorisierung knüpft auch der Klassi‐ sche Philologe und Romanist Kramer (1997) an, der fast alle Varietäten in dem Kapitel Die lateinische Umgangssprache behandelt (ibid.: 156-162), dort aller‐ dings den Begriff, unter dem der größte Teil der Variation fällt, dann kritisch beleuchtet. Ein anderen Ansatz hat Müller (2001), der von den lateinischen Be‐ zeichnungen (sermo rusticus, sermo agrestis, sermo plebeius etc.) ausgeht und deren Verwendungsweisen bei den antiken Autoren analysiert, um daraus ab‐ zuleiten, welches Sprachbewußtsein im Hinblick auf Varietäten in der Antike herrschte. Im Folgenden soll jedoch versucht werden, die Variation im Lateinischen, soweit sie erfaßbar ist, mit Hilfe des Diasystems strukturiert darzustellen wie es in ersten Ansätzen bereits von Herman (1996), Müller-Lancé (2006: 45-58), Koch (2010: 188-189), Reutner (2014: 199-203) oder Lüdtke (2019: 450-453) ge‐ leistet wurde. 129 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 217 Zu den einzelnen sprachlichen Merkmalen der verschiedenen diatopischen Varietäten cf. Seidl (2003: 521-524) und ausführlich Adams (2007), der einen tour d’horizon zu re‐ gionalen Merkmalen liefert, insbesondere bzgl. der Regionen Hispanien, Gallien und Africa (ibid.: 231-270), dabei auch die diachronische Dimension berücksichtigt, indem er seine Betrachtung nach Frühzeit (inscriptions), republikanischer Zeit (Republic) und Kaiserzeit (Empire) aufschlüsselt. 218 „En ce qui concerne la langue endore limitée au Latium, la recherché a cru détecter, dans le peu d’inscriptions qui nous sont parvenus des différentes bourgades […], des 4.1.2.1 Die diatopische Ebene Da die Verbreitung der lateinischen Sprache sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert hat, d. h. ein regional sehr begrenztes Idiom entwickelte sich zur wichtigsten Sprache in großen Teilen Europas und darüber hinaus, ist auch eine Betrachtung der diatopischen Gliederung des Lateins nicht ohne eine dia‐ chrone Perspektive möglich (v. supra). 217 Die indogermanischen Proto-Latiner, Träger der lateinischen Sprache, die ab dem 10 Jh. v. Chr. in Teilen der Region Latium seßhaft wurden und dort Streu‐ siedlungen errichteten (präurbane Phase), die sich bis zum 6. Jh. v. Chr. teilweise zu kleineren urbanen Zentren entwickelten, gliederten sich ursprünglich in po‐ litisch gleichberechtigte populi in autonomen Gemeinden. Die sich in diesem Zeitraum konstituierende cultura laziale bildete mit ihren Ansiedlungen und Sakralverbänden eine lose Gemeinschaft. Mit dem Wandel zur Urbanität ab dem 6. Jh. v. Chr. und der Gründung des Latinischen Städtebundes (nomen Latinum bzw. nomen Latium) gewinnt die Gesellschaftsstruktur in Latium Kontur. Es ist anzunehmen, daß die einzelnen gentes dieser Region Träger von Idiomen mit sprachlichen Eigenheiten waren, die sich voneinander abgrenzten (cf. Palmer 1990: 62; Neue Pauly 1999 VI : 1165-1169; Aigner-Foresti 2003: 19-20). Appliziert man nun die auf sozio-politisch, historischen Merkmalen beru‐ hende Unterkategorisierung der dialektalen Ebene nach Coseriu (v. supra), so kann man mit Müller-Lancé (2006: 45) diese Varietäten der Latini als primäre Dialekte des Lateinischen deklarieren. Der Dialekt der Stadt Rom war dabei zu‐ nächst nur einer unter vielen. Erst mit der beginnenden regionalen Expansion Roms und den Auseinandersetzungen mit den latinischen Nachbarn (Latiner‐ kriege) ab dem frühen 5. Jh. v. Chr., die mit der Auflösung des Latinerbundes (338 v. Chr.) endeten, gewinnt das stadtrömische Latein an Prestige gegenüber den anderen verwandten Varietäten der Region. Angesichts der bescheidenen Quellenlage für die Frühzeit, für die nur wenige, laut Palmer (1990: 65) „nichtssagende Fragmente“ zur Verfügung stehen, ist es schwierig, den sprachlichen Abstand zwischen den einzelnen Varietäten fest‐ zustellen. Im Gegensatz zu Seidl (2003: 522), der die dialektalen Unterschiede im frühen Latium als eher gering einstuft, 218 postuliert Müller-Lancé (2006: 47), daß 130 4. Die Architektur des Lateins divergences par rapport à la langue de Rome, mais ells sont probablement beaucoup moins importantes que ce que l’on a coutume de postuler“ (Seidl 2003: 522). 219 Zumindest, wenn man den Beginn des Altlatein wie üblich (v. supra) ab 240 v. Chr. ansetzt; anders hingegen Meier-Brügger (2002: 32), der die altlateinische Periode zwi‐ schen dem 5. und 1. Jh. v. Chr. datiert. 220 In anderen Inschriften gibt es zu diesem Phänomen weitere Belegen: z. B. falisk. sta (lat. stat), falisk. mate (lat. māter), falisk. zenatuo (lat. senātus) (cf. Palmer 1990: 63). 221 Der Digraph Digamma-h wird manchmal auch als <fh> transliteriert, die Version <vh> ist heute jedoch üblicher. der Dialekt der Stadt Rom „stark“ von denen seiner Nachbarn abwich. Allerdings zieht er zum Vergleich als erstes Beispiel eine Inschrift aus Falerii heran, die üblicherweise als faliskisch eingeordnet wird (cf. Meiser 2010: 9-10, § 6.1) und nicht als lateinisch. Hinzu kommt, daß er diese frühfaliskische Inschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. dem klassischen Latein und nicht dem Altlatein gegenüberstellt, doch selbst zur altlateinische Periode wäre eine noch nicht unerhebliche zeit‐ liche Diskrepanz zu konstatieren. 219 Das faliskische Original lautet: foied uino pipafo cra carefo - foied uino pafo cra carefo (cf. Baldi 2002: 125). Dies würde im Altlatein die Entsprechung hodie vinom bibabo, cras carebo (cf. Quiles 2009: 63) haben und im klassischen Latein hodiē vīnum bibam, crās carēbō (cf. Baldi 2002: 125), also übersetzt ‚heute will ich Wein trinken, morgen werde ich es mir versagen‘ (Müller-Lancé 2006: 47). Immerhin ist aber auf diese Weise der Abstand vom nah verwandten Faliskischen zum Lateinischen zumindest nährungsweise erkennbar. So ist intervokalisch faliskisch f bzw. lateinisch b aus indgerm. bh > b (lat.) bzw. > f (falisk.) zu erklären (cf. carefo vs. carebo), im Faliskischen ist der Verlust der Auslautkonsonanten (cf. uino vs. vinom; cra vs. cras) sichtbar 220 und im Lateinischen die Weiterentwicklung zu h, also indogerm. g h > f > h (cf. foied vs. hodie). Morphologisch ist die Futurbildung mit f im Faliskischen auffällig wie in carefo und pipafo (Palmer 1990: 62-63; Quiles 2009: 63). Das zweite Beispiel, um den großen Abstand der latinischen Varietäten auf‐ zuzeigen, ist von Müller-Lancé (2006: 47), der hier Palmer (1990: 63-64) folgt, ebenfalls nicht optimal gewählt, da die Echtheit der Fibula praenestina als um‐ stritten gilt (v. supra). Geht man jedoch von einer authentischen Inschrift aus, zeigen sich an dem Wortlaut Manios : med : vhe : vhaked : Numasioi (klat. Manius mē fēcit Numerio, dt. ‚Manius hat mich für Numerius gemacht‘) einige Eigen‐ heiten der Varietät von Praeneste. 221 Dazu gehört die Endung der 3. Person Sin‐ gular auf -d, die Dativendung -oi und das reduplizierte Perfekt (cf. vhe vhaked), in der sich auch die Verwandtschaft zum Oskischen zeigt (cf. osk. fefakid, fefa‐ cust). Palmer (1990: 64-65) gibt im Folgenden noch weitere sprachliche Phäno‐ mene der frülateinischen Inschriften an, die in Lautung und Morphologie vom späteren standardisierten Latein abweichen, wie z. B. die Entwicklung von d > r 131 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 222 Dieser Vergleich hinkt insofern, als Rom nicht wie Paris im Zentrum - sowohl geogra‐ phisch-infrastrukturell als auch dialektal - lag, sondern an der Peripherie, denn der Tiber war die Grenze zu Etrurien. Zudem ist die Konstellation für das antike Rom auch dahingehend anders, daß in Rom nicht primär verschiedene Varietäten zusammen‐ vor Labial, was eventuell lat. arbiter als Dialektwort identifizierbar machen würde, außerdem häufige Synkope unbetonter Vokale (z. B. dedront vs. klat. dedērunt) oder die Bewahrung des Nominativ Plural auf -ās (z. B. matronas vs. klat. mātrōnae). Aufgrund der Tatsache, daß das Lateinische erst ab dem 3. Jh. v. Chr. in län‐ geren Texten faßbar wird, ist ein Vergleich für die Frühzeit schwierig. Es kann allerdings wie anhand der Beispiele ersichtlich, festgehalten werden, daß es eine diatopische Differenzierung gab, über den Grad der Abweichungen insgesamt Aussagen zu treffen bleibt problematisch, genauso wie das Verhältnis zum nah‐ verwandten Faliskischen - also ist hier der Abstand tatsächlich deutlich größer als zu den Dialekten Latiums bzw. um wieviel größer? Ausgehend von der fest‐ gestellten Variation ist jedoch festzuhalten, daß der zu Beginn recht kleine ge‐ ographische Raum - Müller-Lancé (2006: 45) spricht von einer Nord-Süd-Aus‐ dehnung von ca. 50 km - in noch kleinere sprachliche Varietäten gegliedert ist. Bei den primären Dialekten des Lateins handelt es sich nach gängigem Ver‐ ständnis eher um Mundarten (frz. parlers locaux, cf. Müller 1975: 109), also areal sehr begrenzte diatopische Varietäten (cf. Sinner 2014: 92; v. supra), d. h. kleine urbane Zentren mit dem zugehörigen Umland. Rekurrieren wir auf die Fundorte der frühen Inschriften sowie auf die Städte des Latinerbundes, die die einzelnen populi repräsentieren, so können wir für das Lateinische die Mundarten des Römischen, Pränestinischen, Lanuvinischen, Tiburinischen, Tusculanischen, Satricanischen, Aricianischen, etc. postulieren. Mit dem Ausgreifen Roms auf seine latinischen Nachbarn beginnt das Latei‐ nische, die anderen Varietäten zu überdachen, zunächst nur aufgrund seiner politischen Vormachtstellung im mündlichen Bereich, später auch im schriftli‐ chen. In Bezug auf die Schriftsprache stand das Latein, außer natürlich mit dem Griechischen und Etruskischen, anfänglich auch in Konkurrenz mit dem Falis‐ kischen, Oskischen, Umbrischen oder Volskischen (nur wenige Inschriften, cf. Meier-Brügger 2002: 34, E 429). Bei der Frage nach der Herausbildung des stadtrömischen Dialekts, der uns zu einem späteren Zeitpunkt in der schriftlichen, standardisierten Form des Klassischen Lateins gegenübertritt, zieht Müller-Lancé (2006: 48) die Parallele zur Herausbildung des Französischen aus dem Franzischen von Paris bzw. der Île-de-France. 222 Es ist jedoch passender den Befund von Poccetti / Poli / Santini (2005: 65) zugrundezulegen, die für Praeneste analog zu Rom von einem Latein 132 4. Die Architektur des Lateins fanden, sondern hier vor allem unterschiedlichste Sprachen koexistierten, vor allem das Sabinische und das Etruskische. 223 Cf. dazu auch Palmer (1990: 76-77): „Als Roms Macht wuchs und es zur politischen Vormachtstellung in Italien aufstieg, erhielt und absorbierte es neue Einwanderer aus Latium und schließlich von der ganzen Halbinsel einschließlich der Magna Graecia, und es war keineswegs nur die regierende Aristokratie, die sich auf diese Weise ergänzte. Bereits im sechsten Jahrhundert war Rom die reichste Stadt Italiens nördlich der Magna Graecia geworden, die Einwanderer anzog und auch willkommen hieß […]. Der Zu‐ strom dieser neuen Elemente konnte nicht ohne sprachliche Konsequenzen bleiben.“ 224 Palmer (1990: 72) spricht von dem „Zustrom nichtrömischer Elemente in den römischen Staat“, und zwar ab dem 5. Jh. v. Chr. und verstärkt nach der Unterwerfung der Latiner (letzter Latinerkrieg 340-338 v. Chr.) und anderer italischer Nachbarn (Falisker, Äquer, Volsker, Sabiner), deren Eliten dann auch in Rom eine tragende Rolle spielen konnten. Durch diese kulturelle „Absorbierung“ sei in sprachlicher Hinsicht aus dem Dialekt Roms ein „hauptstädtisches Latein“ geworden. Dies ist sicherlich richtig, klärt jedoch unter der Berücksichtigung der kulturellen und sprachlichen Heterogenität auch der anderen latinischen Städte, nicht den spezifischen Beitrag der anderen lateinischen Varietäten zum stadtrömischen Latein. 225 Poccetti / Poli / Santini (2005: 69) sehen das Latein eingebettet in einem Sprachbund mit den anderen Sprachen und Varietäten der italienischen Halbinsel, vor allem mit dem Etruskischen und den benachbarten italischen Idiomen: „Die sehr engen Beziehungen zwischen Latein und der ‚italischen‘ Welt sind Teil eines Kontinuums, das von der Früh‐ zeit an, aus der wir noch keine Belege haben, die ganze Geschichte des Lateinischen mit dreifacher Wurzel sprechen, nämlich einer latinischen, einer etruskischen und einer italischen, welches zusätzlich von griechischen und phönizischen Einflüssen überlagert wird, so scheint es vielmehr so, daß Rom wie auch andere zentrale Orte in Latium ganz allgemein in einem viel größeren Raum kultureller Schnittstellen lagen. 223 Der Beitrag der latinischen Nachbarvarietäten zur For‐ mung des stadtrömischen Lateins war sicherlich gegeben, 224 ist aber schwierig einzuschätzen. Eindeutig hingegen ist, daß diese Varietäten die lateinischen koiné beeinflußt haben, die sich in der Folgezeit durch die Expansion Roms he‐ rausgebildet hat. Durch das Ausgreifen Roms auf die benachbarten Regionen und die im Fol‐ genden sich in mehreren Etappen vollziehende Eroberung der gesamten italie‐ nischen Halbinsel sowie schlußendlich die Beherrschung des gesamten orbis entwickelten sich nach erfolgter Romanisierung und Latinisierung der ver‐ schiedenen Bevölkerungsgruppen im Westteil des Reiches sekundäre Dialekte des Lateinischen, welches weit über seinen autochthonen Entstehungsraum hi‐ nausgetragen wurde. Dabei erscheint es wichtig, neben der von Müller-Lancé (2006: 48-49) vorgenommenen arealen Unterscheidung von sekundären Dia‐ lekten innerhalb und außerhalb Italiens - was aufgrund einer gewissen Sprach‐ bund-Dynamik durchaus gerechtfertigt ist 225 - auch den sprachlichen bzw. ty‐ pologischen Abstand zwischen den Kontaktsprachen als Kriterium der 133 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike umfasst, sein Diasystem bildet und gleichzeitig auch die Prämissen für die romanische Fragmentierung schafft“ (ibid.: 68). 226 Eine Diglossie-Situation besteht auch für die mit dem Latein nicht direkt verwandten Sprachen wie Keltisch, Messapisch, Venetisch, Ligurisch etc., doch ist diese von anderer Art aufgrund des bestehenden sprachlichen Abstands (cf. Ferguson vs. Fishman supra). Differenzierung anzusetzen. Benachbarte nicht verwandte oder nur weitläufig verwandte Sprachen wie das Etruskische oder das Griechische hatten einen ge‐ wichtigen Einfluß auf die Herausbildung des Lateinischen, die nahverwandten italischen Sprachen hingegen unterlagen einer „progressiven Assimilation“ (Poccetti / Poli / Santini 2005: 89) und teilten nicht wenige Konvergenzphäno‐ mene mit dem Lateinischen mit zunehmender unidirektionaler Beeinflußung seitens der prestigeträchtigeren Sprache Roms. Während also die nicht direkt verwandten, durch einen größeren sprachli‐ chen Abstand gekennzeichneten Sprachen im Laufe des Latinisierungsprozesses eine Marginalisierung erfahren, die die Sprecher zum Sprachwechsel bewegt, so daß diese Sprachen schließlich untergehen und als Substrate wirken, unter‐ liegen die italischen Nachbaridiome zwar prinzipiell dem selben Prozeß, jedoch mit der Nuance, daß sie zuvor vom Lateinischen dialektalisiert werden. Im Zuge der Überdachung durch die lateinische koiné - mündlich wie schriftlich - werden Sprachen wie das Sabinische, Faliskische, Volskische, Samnitische in den Status von Dialekten zurückgedrängt, d. h. wie die meisten Dialekte, nur noch im mündlichen Nähebereich gebraucht. Poccetti / Poli / Santini (2005: 89) sprechen diesbezüglich von einer langen Phase der Diglossie, die bereits recht früh beginnt, also vor der systematischen Romanisierung nach dem Bundesgenossenkrieg (91-89 v. Chr.), was beispiels‐ weise aus der Bitte der Einwohner von Cumae hervorgeht, die im Jahre 180 v. Chr. den römischen Senat darum ersuchen, offiziell das Lateinische über‐ nehmen zu dürfen (cf. Livius XLI , 42). Das autochthone Idiom wird somit schriftlich wie mündlich in die Domänen der privaten Kommunikation und der lokalen religiösen Traditionen verwiesen. 226 Nach ihrem Untergang und ihrer Substratisierung, die womöglich aufgrund der zahlreichen Konvergenzen - bedingt durch die genetische Verwandtschaft und durch den sehr engen Sprachkontakt - in anderer, eventuell gradueller Form ablief als beispielsweise bei einem abrupten Sprachwechsel Etruskisch-Latei‐ nisch, trugen die italischen Sprachen wesentlich zur Entstehung von sekun‐ dären Dialekten des Lateinischen bei. Im Zuge der Verbreitung des Lateinischen, welches ab dem 2. Jh. v. Chr. und vor allem ab der Zeitenwende vermehrt in außeritalische Regionen vordringt und schließlich weitestgehend flächendeckende Verwendung in großen Teilen 134 4. Die Architektur des Lateins 227 Man vergleiche diesbezüglich die Diskussion um das oskische Element im nördlichen Teil Hispaniens (cf. Baldinger 1958: 47-48). 228 Dies betrifft insbesondere die Wirkung derjenigen Idiome, die an der Herausbildung der lateinischen koiné in ihrer Entstehungsphase in der bereits aufgezeigten Kultur‐ kontaktzone Mittelitaliens (Latein-Etruskisch-Italisch-Griechisch) beteiligt waren (v. supra). 229 Cf. dazu Tagliavini (1998: 68): „Solange die politische Bindung an das Zentrum stark blieb, waren dieser Differenzierung [der diatopischen] Schranken gesetzt; als sie in der Folge der historischen Ereignisse schwächer wurde und schließlich völlig zerbrach, vertieften sich die Unterschiede.“ 230 Cf. dazu die eindeutige Aussage von Seidl (2003: 522): „Or, le fait que des variations diatopiques aient toujours existé est hors de doute, notamment sur le territoire consi‐ dérable de la basse époque où une langue qui en soit dépourvue est difficile à imaginer. Les traces directes qui transparaissent dans les documents écrits sont néanmoins très faibles.“ Westeuropas und Nordafrikas findet, ist zu berücksichtigen, daß hierbei nicht nur stadtrömisches Latein exportiert wird, sondern durch viele italische Kolo‐ nisten auch deren bereits bestehende sekundäre Varietäten des Lateins. 227 Man müßte demgemäß von verschiedenen Schichten sekundärer Dialekte ausgehen, denn die diatopische Differenzierung des Lateinischen in Italien ist früher anzusetzen als diejenige in den entfernteren Provinzen, die zunächst noch nicht romanisiert waren. Die dortigen sekundären diatopischen Varietäten konnten deshalb Elemente aus primären und sekundären Dialekten Italiens ent‐ halten, also z. B. sprachliche Charakteristika des ursprünglichen Latein von Praeneste, des Faliskischen, Oskischen, Etruskischen oder Griechischen. 228 Dieser zentrifugalen Verbreitung sprachlicher Eigenheiten aus Italien mit dem unbestrittenen Zentrum Rom sind Migrationsbewegungen verschiedenster Art (Legionen, Kolonisten, Händler, Sklaven, etc.) gegenüberzustellen, die in gewisser Weise quer dazu wirkten. Das stadtrömische Latein - mündlich wie schriftlich - war zwar Bezugspunkt und Referenzgröße, doch die Mobilität im späteren kaiserzeitlichen Reich war nicht unidirektional von der Mitte zur Pe‐ ripherie. Sprachlich hatte dies zur Folge, daß ein gewisser Ausgleichseffekt ent‐ stand, der eine starke Diatopisierung - die bei der Größe des Imperiums ja denkbar gewesen wäre - solange verhinderte, bis das Westreich unterging, die politische und administrative Klammer den Zusammenhalt nicht mehr gewähr‐ leistete. 229 Es scheint relativ zweifelsfrei, daß es in der Spätzeit des römischen Reiches eine diatopische Differenzierung gegeben hatte, 230 die Frage, wie stark diese war, ist jedoch schwer zu beantworten, da die Überlieferung rein aus schriftlichen Quellen besteht, bei denen trotz gelegentlich faßbarer Unterschiede letztlich 135 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 231 Den wichtigen Punkt interner eigensprachlicher Dynamik scheint Seidl (2003: 524) hier übersehen zu haben, genauso wie den nur implizit angedeuteten Superstrateinfluß im Folgenden. eine möglicherweise zugrundeliegende Differenzierung im Mündlichen durch die mehr oder weniger am Standard ausgerichtete Verschriftung verdeckt wird. Seidl (2003: 522, 524) geht davon aus, daß die dialektale Differenzierung in der Spätzeit des Imperiums zunahm und sich nicht nur, aber vor allem auf lexikali‐ scher Ebene äußerte. Die diatopische Diversifizierung ist dabei einerseits auf die verschiedenen Substratsprachen in den einzelnen Provinzen bzw. Regionen des Reiches zurückzuführen, andererseits auch auf die sprachinhärente Eigendy‐ namik der Diversifizierung. 231 Ausgleichend und unifikatorisch hingegen wirkte die Strahlkraft des stadtrömischen Lateins, die urbanitas als high-variety-Modell, welches jedoch im Zuge des Auflösungsprozesses der Völkerwanderungszeit den Prozeß der weiteren Diatopisierung nicht mehr aufhalten konnte (v. supra auch die Dezentralisierung seit Diokletian und die Reichsteilung unter Theo‐ dosius). Die germanischen Superstratvölker wirkten insofern doppelt, als sie zum Einen dafür sorgten, daß das römische Reich sich destabilisierte und dann auflöste, was die sprachliche Einheit der Latinophonie zerstörte und anderer‐ seits, indem sie selbst das Latein als Sprache adaptierten und damit modifizierten (Superstratwirkung). Folgt man der Coseriu’schen Terminologie auf der diatopischen Ebene, so gibt es neben den primären und sekundären auch die tertiären Dialekte, oder in ger‐ manistischer Tradition, auch Regiolekte (v. supra). Im Gegensatz zu den bei Müller-Lancé (2006: 49) nur aus der Konfrontation mit sekundären Dialekten entstandenen regionalen Varietäten, die sich in der Überlieferung als „Akzente“ von Griechen, Kelten oder Nordafrikanern manifestieren, muß man auch hier diachron diversifizieren sowie unterschiedliche Arten der tertiären Dialekte in Betracht ziehen. Dies bedeutet, daß man in einer Frühphase der römischen Ge‐ schichte auch tertiäre diatopische Varietäten aus der Konfrontation sowohl mit primären Dialekten des Lateinischen, als auch mit verwandten und unver‐ wandten Nachbaridiomen (z. B. Faliskisch, Etruskisch) postulieren muß, auch wenn dies nicht explizit belegt ist. Zu unterscheiden sind zusätzlich prinzipiell tertiäre Dialekte, deren Basis ein primärer oder sekundärer Dialekt ist oder zu‐ mindest eine nah verwandte Sprache, so daß es hier ein Kontinuum an mehr oder weniger zahlreichen sprachlichen Charakteristika geben kann oder, ob die Basis eine wenig bzw. unverwandte Sprache ist, wo eben kein Kontinuum mög‐ lich ist (z. B. beim Keltischen, Griechischen oder Etruskischen). Voraussetzung für die Entstehung eines tertiären Dialekts ist eine entspre‐ chend verbreitete Standardsprache. Dies kann für das römische Reich natürlich 136 4. Die Architektur des Lateins 232 „Quaesturam gessit Traiano quater et Articuleio consulibus, in qua cum orationem im‐ peratoris in senatu agrestius pronuntians risus esset, usque ad summam peritians et facundiam Latinis operam dedit“ (Historia Augusta, Hadrian III, 1). 233 Dies bedeutet, daß es sowohl Dialekte (kleinräumig und großräumig) wie auch Regio‐ lekte gegeben haben muß. nicht in gleicher Weise wie bei modernen normierten Sprachen angenommen werden, doch läßt sich wohl eine gewisse Verbreitung auch in den urbanen Zentren der verschiedenen Provinzen annehmen, in denen eine Oberschicht Träger einer Standard- und Normsprache war und somit zumindest einer ge‐ wissen Grad an Verbreitung gewährleistete. Bei den überlieferten Fällen, in denen die Zeitgenossen eine diatopisch mark‐ ierte Aussprache festgestellt haben, wäre grundsätzlich natürlich zunächst der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei tatsächlich um einen lateinischen Dialekt handelt, also um einen primären oder sekundären oder, ob „nur“ eine regionale Färbung im Sinne eines regiolektalen Merkmals vorliegt. Betrachtet man nun den vielleicht berühmtesten Fall, nämlich der des aus Hispanien stammenden Kaisers Hadrian (Traianus Hadrianus Augustus, 117-138 n. Chr.), dem in der Historia Augusta eine ländliche Aussprache nach‐ gesagt wird (agrestius pronuntians), 232 so ist davon auszugehen, daß es sich hierbei um einen Sprecher aus der provinzialen Oberschicht handelt, mit ent‐ sprechendem Bildungshintergrund und einem Bewußtsein für die high-variety des stadtrömischen Lateins. Insofern ist es kaum wahrscheinlich, daß Hadrian tatsächlich Dialektsprecher war - auch unter der Prämisse einer vielleicht nicht allzu starken diatopischen Differenzierung des Lateins zu dieser Zeit -, sondern das eine oder andere regiolektale Merkmal in seiner Aussprache aufwies. Man kann also letztendlich davon ausgehen, daß das Latein alle Ebenen einer diatopischen Variation aufwies. 233 Auch die Römer selbst waren sich dieser Va‐ riation bewußt und unterschieden prinzipiell zwischen dem mit hohem Prestige behafteten sermo urbanus, in dem das Ideal der urbanitas, des stadtrömischen Lebens und Sprechens anklingt, welches sich mit elegantia und proprietas auf diaphasischer Ebene kreuzt, und dem sermo rusticus oder auch sermo agrestis, der Redeweise des Umlandes oder der Provinzen, die entsprechend negativ kon‐ notiert war. Sekundär ist das ‚ländliche Sprechen‘ deshalb immer auch diastra‐ tisch-diaphasisch als niedrig angesehen worden (cf. Müller-Lancé 2006: 52; Reutner 2014: 201-202). Lüdtke wiederum sieht die Diatopik des Lateinischen durch die zeitgenössische Kennzeichnung der peregrinitas widergespiegelt, was aber womöglich nur einen Teil der regionalen Abweichungen umfaßt. 137 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 234 Zu den verschiedenen Positionen einzelner Vertreter von mehr oder weniger starker diatopischer Differenzierung, die je nach Theorie früher oder später eingesetzt haben soll, cf. Reutner (2014: 201). Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen konnen die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. […] Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck diglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charak‐ terisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. (Lüdtke 2019: 451) Die Tatsache, daß das Lateinische als lebendige Sprache, die sich über ein grö‐ ßeres Territorium erstreckte, eine diatopische Differenzierung aufwies, ergibt es letztlich auch daraus, daß sich aus dieser Konstellation die romanischen Sprachen entwickelt haben, die nichts anderes als regionale Varietäten des Lat‐ eins sind, die sich im Laufe der Zeit zum Teil relativ weit von ihrer Ursprungs‐ sprache entfernt haben. Die bisher strittige Frage ist dabei, zu welchem Zeit‐ punkt diese Ausdifferenzierung stattgefunden hat bzw. ob es regionale Variation bereits in entsprechender Ausprägung vor der frühromanischen Phase gegeben hat. 234 So steht prinzipiell die auch in der traditionellen Klassischen Philologie ver‐ tretene These von einer grundsätzlichen Einheitlichkeit des Lateins, die bei Väänänen (1983: 481, 490) als thèse unitaire apostrophiert wird, der Ansicht der thèse différentielle (ibid.) gegenüber, die besagt, daß das Latein seit der Kaiserzeit regional variiert oder zumindest deutlich vor 600 n. Chr., wobei dann wiederum die Meinungen zu ‚früher Variation‘ auch von der Auffassung abhängen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist bzw. welche zeitliche Periode dies betrifft (cf. Reutner 2014: 201). Tatsächlich ist die Art der diatopischen Variation - die zweifellos immer Überschneidung mit der diastratischen und diaphasischen aufweist - komplex, wie bereits dargelegt, und wie Adams (2007), der diachronisch geschichtet und nach Regionen gegliedert, zahlreiche Belege zur diatopischen Variation zusam‐ mengetragen hat, deutlich zum Ausdruck bringt: The metalinguistic evidence presented in this book makes nonsense of the unitarian thesis, and the differential thesis as formulated by Väänänen just quoted is itself not satisfactory, because the regional diversity of the language can be traced back at least to 200 BC and was not a new development of the Empire. That is not to say that the Romance languages were in any sense being foreshadowed already in 200 (though we will see some continuities […]). The patterns of local diversity in 200 were not the 138 4. Die Architektur des Lateins 235 Zu sprachlichen Merkmalen auf der diastratischen Ebene cf. Seidl (2003: 524-526) sowie Clackson (2011: 505-526), der die social dialects des Lateinischen nach den Parametern male and female speech, age-related variation in speech und class-based variation auf‐ splittet. same as those to be found a millennium or more later, but the essential point is that the language always showed regional as well as social, educational and stylistic vari‐ ations. The nature of the diversity was not static but went on changing. (Adams 2007: 684) Mit anderen Worten, Latein präsentierte sich von je her als diasystematisch differenzierte Sprache. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß durch die besondere historische Konstellation der extremen Expansion - die, wie von Seidl (2003: 521) errechnet, ursprünglich ein Territorium von weniger als 2500 km² im 5. Jh. v. Chr. abdeckte, welches auf ca. 3 Mio km² in der Kaiserzeit anwuchs - sowie die über tausendjährige Geschichte (soweit faßbar und hier im Fokus) die lateinische Sprache in ihrer Architektur einem starken Wandel unterworfen war, nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Sprachkontaktsituationen, Migra‐ tionen und den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. 4.1.2.2 Die diastratische Ebene Die lateinische Sprache unterlag, wie bereits angedeutet, auch der Variation auf diastratischer Ebene, was sowohl aus metasprachlichen Zeugnissen der Antike als auch an einigen wenigen sprachlichen Charakteristika festgemacht werden kann. Versucht man nun die Diastratik systematisch zu erfassen, so ist zunächst einmal das schichtenspezifische vom gruppenspezifischen Sprechen zu unter‐ scheiden (zur Kritik v. supra), denn im Gegensatz zu den modernen Gesell‐ schaften kann man für die Gesellschaftssituation der römischen Antike durchaus von ausgeprägten Schichten und dem zugehörigen Klassenbewußt‐ sein ausgehen. 235 Müller-Lancé (2006: 53) geht von einer dreigeteilten Gesellschaft aus, die sich aus rechtelosen Sklaven (servi), den Freigelassenen (liberti) und den freien Bür‐ gern (cives Romani) konstituierte, wobei letztere sich wiederum aus Plebejern und Patrizier zusammensetzten. Plebejer (plebeii, cf. plebs ‚Volk‘) und Patrizier (patricii) waren oft in einem Klientelverhältnis (clientela) gebunden, insofern eine patrizische Familie (gens) ihre politische Macht und gesellschaftliche Stel‐ lung durch die Bindung von Gruppen von Plebejern (und anderen Patriziern) zu festigen suchte. Dies ist allerdings eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Realität, die höchstens auf die Zeit der res publica anwendbar ist (plebs vs. nobiles), denn in 139 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 236 Es gab zunächst drei Arten der Freilassung, vorausgesetzt der Sklave hatte sich das peculium erarbeiten können: die manumissio testamento, die manumissio censu und die manumissio vindicata. Seit dem 1. Jh. v. Chr. wurde dies meistens auf zwei Verfahren reduziert, nämlich die manumissio per epistulam und die manumissio inter amicos (cf. Christ 2002: 368). der Kaiserzeit mit dem Wachsen des Imperiums verändern sich auch die gesell‐ schaftlichen Strukturen. Doch auch schon in der wachsenden Republik diffe‐ renzierte sich die anfängliche Dichotomie der Frühzeit zwischen Plebejern und Patriziern weiter aus, was zum einen mit der gesellschaftlichen Differenzierung und zum anderen mit den sich ändernden Rechtsverhältnissen zu tun hat - beide Aspekte sind prinzipiell zu trennen. Die rechtliche Position der Sklaven blieb zwar während der Dauer des Impe‐ riums grundsätzlich die gleiche, sie wurden als Eigentum (res) behandelt und unterlagen der potestas ihres Herrn, doch ihre soziale Stellung und Herkunft konnte dabei erheblich variieren. Auch wenn das Gros womöglich der Unter‐ schicht zuzurechnen war, so ist beispielsweise davon auszugehen, daß die zahl‐ reichen Sklaven, die der familia Caesaris angehörten und in der Verwaltung arbeiteten, teilweise wirtschaftliche Großbetriebe leiteten, als Ärzte oder in der Finanzverwaltung tätig waren, womöglich über Untersklaven (vicarii) geboten, auch über einen entsprechenden Bildungshintergrund verfügten (cf. Christ 2002: 351-356). Aus ihrem rein rechtlichen Status, der sich durch Freilassung ja auch ändern konnte, ist deshalb per se noch kein Rückschluß auf ihre Sprache - falls sie überhaupt native speakers des Lateins waren - in diastratischer Hinsicht möglich. Die Tatsache, daß die Gesellschaftsstruktur durchlässig war, zeigt sich an den Freigelassenen, deren Zahl bereits in der späten Republik hoch war, aber im Prinzipat nochmals anstieg. Die ehemaligen Sklaven wurden nach ihrer manu‐ missio jedoch keine Vollbürger, 236 da sie ihrem patronus weiterhin zu obsequium (Bewahrung des Respekt- und Treueverhältnis) und officium (z. B. konkrete operae im Haus bzw. Betrieb) verpflichtet blieben. Ähnlich wie bei den Sklaven sagt die rechtliche Stellung zunächst nichts über den Bildungshintergrund und die ehemalige soziale Schicht vor der Versklavung aus - falls jemand nicht im Sklavenstatus geboren wurde. Nicht wenige jedoch nutzten ihre Freilassung und versuchten, sozial aufzusteigen, zumal ihre Nachkommen dann als Freigeborene (ingenui) römische Vollbürger sein konnten, und standen dabei unter erheb‐ lichem Legitimationsdruck, was sie wie bei Juvenal (Saturae I, 26) oder Petron (Satyricon c.71) zum Gegenstand der Satire werden ließ. Hier wird dann der typische Aufstieg vom untersten plebs zum reichen homo novus auch mit den entsprechenden sprachlichen Defiziten parodiert (cf. Christ 2002: 367-373). 140 4. Die Architektur des Lateins Die römischen Bürger waren in ihrer Struktur ebenfalls nicht homogen, gab es doch schon in der späten Republik eine zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Schichten, da die Bürger der nichtaristokratischen Klasse sich nicht mehr nur aus Kleinbauern, Kleinhandwerkern und Kleinhändlern wie in der Frühzeit zusammensetzten. Man unterschied auf dieser Ebene zwischen der plebs urbana und der plebs rustica, was aber nur einen Teil der Realität abbildete, denn einerseits veränderte sich die Wirtschaft und andererseits, mit der Aus‐ dehnung des Bürgerrechtes auf die Bundesgenossen und andere Gruppen, dif‐ ferenzierte sich die Teilhabe an der res publica. Cives Romani wurden nämlich nicht nur die Bewohner Italiens, sondern auch regionale Führungseliten, ehe‐ malige nicht-römische Legionäre, Kolonisten und Angehörige der Municipala‐ ristokratie. Einen eigenen Stand konstituierten im römischen Staat die Sena‐ toren (senatores) sowie die Ritter (equites), auch sie gehörten aber rechtlich zu den Cives Romani, bildeten jedoch aus soziologischer Perspektive die Ober‐ schicht in Rom und belegten entsprechend einem mehr oder weniger bindenden cursus honorum die wichtigsten Ämter im Staat (cf. Christ 2002: 378-385). Den Großteil der Bewohner des römischen Reiches in der Kaiserzeit bildeten jedoch die nichtrömischen, aber freien Provinzbewohner (peregrini), zumindest bis sie 212 n. Chr. durch die Constitutio Antoniniana ebenfalls das römische Bür‐ gerrecht erhielten. Ihre rechtliche Stellung hing (zuvor) auch davon ab, ob sie unter Umständen Bewohner eines römischen municipiums waren, einer colonia Civium Romanorum, einer colonia Latina bzw. eines municipium Latinum, einer civitas foederata (mit foedus aequum oder foedus iniquum), einer civitas sine foe‐ dere, einer civitas libera, einer civitas stipendiaria, einer civitas immunis, einer civitas sine suffragio oder einer civitas optimo iure. Das römische Recht bot ver‐ schiedene Facetten von gruppen- und personenspezifischen Rechtstellungen, was jedoch nicht immer mit Ansehen, Reichtum und Macht einherging, welche durchaus auch quer dazu verteilt sein konnten (z. B. reiche peregrine Händler in einer Stadt). Eine eigene Oberschicht bildete innerhalb einer Stadt die Muni‐ zipalaristokratie, die den ordo decurionum bildete und unter Aufbringung der notwendigen summa honoriaria die Ämter bekleidete (cf. Neue Pauly 1997 II : 1224-1225, III : 76-84; Christ 2002: 373-374, 385-387). Die Gesellschaftsstruktur im Imperium Romanum ist somit reichlich komplex, erst recht, wenn man die notwendige diachrone Perspektive hinzunimmt und nicht wie Müller-Lancé (2006: 54) nur die Zeit der späten Republik betrachtet. Führt man sich die diversifizierte Gesellschaft des römischen Reiches und ihre 141 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 237 In seiner Darstellung der Verhältnisse der Kaiserzeit bzw. der Entwicklung von den republikanischen Strukturen zu denen des Prinzipats macht Christ (2002: 431-433) deutlich, daß die römische Gesellschaft keineswegs streng nach ordines geprägt war, sondern die jeweilige rechtliche Stellung, Funktionen, Macht, Einfluß und Reichtum einzelner sozialer Gruppen ergab ein komplexes Gebilde. Dabei war die Unterschicht durch die vielfältigen Abhängigkeitsverhältnisse ebenso heterogen wie die Mittel‐ schicht, deren Status je nach Vermögen, Einfluß und Einbindung in die politisch-ge‐ sellschaftliche Struktur erheblich divergieren konnte. Auch die Oberschicht, die neben entsprechenden Finanzmitteln vor allem über die Leitungsfunktionen verfügte, war nicht homogen, bemaß sich die Stellung des Einzelnen außer durch die Zugehörigkeit zu Senatoren- oder Ritterstand oder Munizipalaristokratie durch die Gunst des princeps oder persönliche Leistungen. inhärente Dynamik vor Augen, 237 die zudem je nach Region variieren kann (ur‐ bane Zentren vs. entlegene rural geprägte Provinzen), so dürfte es wahrschein‐ lich sei, daß auch die Sprache entsprechend diastratisch ausdifferenziert war. Das Problem, warum nicht nur bei Müller-Lancé (2006), sondern auch bei Reutner (2014) und anderen meist „nur“ die Unterscheidung zwischen sermo plebeius und sermo vulgaris als Substandardvarietäten gegenüber dem sermo ur‐ banus getroffen wird, ist vor allem die dünne Beleglage und reduzierte meta‐ sprachliche Dokumentation. Neben der schichtenspezifischen Diastratik ist auch die gruppenspezifische Diastratik in Betracht zu ziehen, die in der lateinischen Sprache ebenfalls aus‐ zumachen war. La société romaine était dotée d’une vaste gamme de métiers hautement diversifies. Il est naturel que chacun d’entre eux ait dispose d’un technolecte spécifique. (Seidl 2003: 525). Entsprechend der gesellschaftlichen Diversifikation und der Charakteristik be‐ stimmter Gruppen kann man mit Seidl (2003: 525) davon ausgehen, daß sich ei‐ gene Soziolekte für die unterschiedlichsten (Fach-)Bereiche der Kommunikation wie der Religion, der Landwirtschaft, der Verwaltung, der Rechtsprechung, dem Militärwesen, der Medizin oder der Architektur herausgebildet haben. Müller-Lancé (2006: 53) nennt zwei gruppensprachliche Bereiche, die nicht nur durch spezifische Lexik zu ermitteln sind, sondern die bereits die Zeitge‐ nossen erfaßt und mit entsprechender metasprachlicher Begrifflichkeit gekenn‐ zeichnet haben. Dies ist einerseits die Soldatensprache (sermo castrensis bzw. sermo militaris) und andererseits die Sprache der frühen Christen. Beide sind nicht unbedingt schichtenspezifisch, da an diesen Gruppensprachen Personen bzw. Sprecher verschiedenster sozialer Herkunft partizipieren. Den für die 142 4. Die Architektur des Lateins 238 Dabei ist jedoch zu beachten, daß die zentralen christlichen Autoren, die ja in der Regel einen hohen Bildungsgrad hatten und dementsprechend in der Lage waren, verschie‐ dene Stilebenen zu bedienen, nur einen Teil ihrer Schriften im sermo humilis verfaßten, andere hingegen, die eine komplexe Thematik beinhalteten (z. B. Tertullian, Apologe‐ ticum) auch in einer anderen Art von Sprache abfaßten (cf. Euler 2005: 21). Dies wider‐ spricht letztlich jedoch nicht der Tatsache, daß der sermo humilis als Sprachstil mit einer spezifischen sozialen Gruppe verbunden wurde und damit zumindest ein Stück weit diastratisch zu sehen ist. christlichen Schriften typischen sermo humilis sieht Müller-Lancé (2006: 58) eher diaphasisch als diastratisch. Aus der Sicht der traditionellen Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian) ist dem si‐ cherlich beizupflichten; begreift man jedoch diesen Stil, der sich durch eine Syntax mit vorwiegend parataktischem Satzbau und zahlreichen Gräzismen (sowie einigen Hebraismen) auszeichnet, gerade ab der Spätantike als etwas typisch Christliches, so ist der gruppensprachliche Charakter doch ebenfalls recht deutlich. In diesem Kontext referiert dann sermo humilis zwar vorwiegend auf die medial schriftlichen Texte, könnte aber in einem modernen Verständnis durchaus auch auf die Mündlichkeit angewandt werden, z. B. bei Predigten. Löst man also den Begriff aus seiner frühen Interpretation der rhetorischen Stile‐ benen und legt man den Schwerpunkt auf die augustinischen Neubelegung (v. infra), so kann man ihn durchaus sinnvoll zur Kennzeichnung diastratischer Gegebenheiten verwenden, ohne der antiken Auffassung entgegenzustehen. 238 In Bezug auf die Soldatensprache sind einige Ergänzungen zur Struktur der römischen Armee sinnvoll. Diese war prinzipiell den freien römischen Bürgern vorbehalten, Sklaven und Freigelassene wurden nur im Krisenfall mitherange‐ zogen. Attraktiv war der Militärdienst vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch für Römer, aber in erster Linie für die Provinzialen, die dadurch am Ende der Dienstzeit, die in der Kaiserzeit zwischen 16 und 26 Jahren schwankte (je nach Dienstgrad und Bereich), das Bürgerrecht erwerben konnten. Aus diesem Grund waren Zwangsrekrutierungen eher selten und die im Prinzipat fortbestehende Wehrpflicht aus Zeiten der Republik wurde oft nicht eingefordert, da die Legion ausreichend Sold und Perspektiven bot. Der privi‐ legierte Stand der Senatoren (ordo senatorius) und der der Ritter (ordo equester) besetzten in der Regel die Offiziersämter in der Armee und wechselten häufig, zumindest in den höchsten Rangstufen, d. h. bei den Tribunen (tribuni) und Le‐ gionskommandanten (legati). Kontinuität und Verbundenheit mit der Truppe gewährleisteten der meist dem Ritterstand zugehörige Lagerkommandant (praefectus castrorum) sowie die einzelnen Zenturionen (centuriones) und deren ranghöchster, der primus pilus. Es gab in der römischen Armee nicht nur eine vertikale Schichtung nach Dienstgraden, sondern auch eine horizontale nach 143 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 239 Dies erscheint in diesem Kontext deshalb besonders wichtig, weil in dieser Konstellation eine doppelte Art der Integration sichtbar wird, einmal die Akkulturation verschiedener Ethnien innerhalb der Armee und zum anderen durch die Migrationsbewegungen, da neu gebildete Einheiten aus fremden Stammesverbänden aus strategischen Gründen meist nicht an ihrem Ursprungsort eingesetzt wurden. 240 Man sollte dies jedoch auch nicht überschätzen wie Christ (2002: 422) herausstellt: „So groß das Zusammengehörigkeitsgefühl und so mächtig der Korpsgeist der verschie‐ denen Formationen der römischen Armee waren, so ausgeprägt blieb das Bedürfnis des einzelnen Soldaten, die eigene Individualität zu wahren.“ militärischen Einheiten. So war die überkommene traditionelle Grundeinheit der römischen Wehr die aus Fußsoldaten bestehende Legion (legio), deren 4000-5000 Mann in Kohorten (cohortes), Manipel (manipuli) und Zenturien (centuriae) gegliedert waren. Sie bestand zunächst meist aus Angehörigen der plebs rustica, später dann auch zunehmend aus Provinzialen. Ab der Kaiserzeit wurde das Heer (exercitus) durch Hilfstruppenverbände (auxilia) verstärkt, die mitunter komplett aus ethnisch geschlossenen Einheiten bestanden, mit denen ein Klientelvertrag bestand, die im Laufe der Zeit dann aber durch andere Sol‐ daten ergänzt wurden und nur noch den Namen beibehielten (z. B. cohors II Raetorum). 239 Weiterhin gab es Reitereinheiten verschiedener Stärke (ala quin‐ genaria, ala miliaria), gegliedert in turmae sowie gemischte Kavallerie- und In‐ fanterieeinheiten (cohortes equitatae). In der Spätzeit etablierten sich am Limes zudem sogenannte Benfiziarierstationen mit Soldaten (beneficiarii) in Vertrau‐ ensstellung und eher polizeidienstlicher Funktion. Nicht den gleichen Stellen‐ wert wie der Dienst in der Legion hatte der in der römischen Flotte, die im Wesentlichen aus Trieren bestand. Neben den Ruderern und Matrosen, die meist aus Provinzialen bestand, gab es die Decksoldaten, einen Kapitän (trierarchus) pro Schiff sowie den Kommandantenn (nauarchos), der über eine Flotilleneinheit (classis) gebot und zunächst oft ein qualifizierter Freigelassene war, später je‐ doch meist aus dem Ritterstand kam. Die Seestreitkräfte hatten demgemäß eine andere soziale Stratifikation als die Legion. Nicht zu vergessen ist auch, daß die römische Armee auch zahlreiche zivile Dienste verrichtete wie Landvermessung und Baumaßnahmen jeglicher Art (Wasserleitungen, Tunnel, Häfen, Lager), für die technische Spezialisten zur Planung und Ausführung nötig waren (cf. Christ 2002: 410-423). Die römische Armee spiegelt insofern ein Stück weit die komplexe Gesell‐ schaftsstruktur wider, mit verschiedenen sozialen Schichtungen und Gruppie‐ rungen, Römern, Provinzialen und foederierten Fremden, war aber dahingehend etwas Besonderes, als sie eine Einheit bildeten mit starker Integrationskraft, ohne deshalb die Pluralität ihrer Partizipanten völlig zu homogenisieren. 240 144 4. Die Architektur des Lateins 241 Cicero attribuiert den Frauen eine konservativere Sprache, weil sie später im Leben weniger Kontakt zur Allgemeinheit hätten und deshalb ihre erste Sprechweise be‐ wahren würden. 242 Männer und Frauen gebrauchen - zumindest in den Belegen der Komödie - unter‐ schiedliche Interjektionen und Beteuerungsformeln, wie z. B. (e)castor (Frauen) vs. herc(u)le (Männer) oder Frauen benutzen häufig amabo für ‚bitte‘ (Clackson 2011: 509). 243 Cf. dazu insbesondere die Kapitel bei Clackson (2011: 508-511; 512-514): Male and Fe‐ male Speech und Age-related Variation in Speech. Es ist insofern deshalb wohl anzunehmen, daß die Soldatensprache eine Gruppensprache (cf. diakoinonisch, Kap. 3.1.3) war, an der prinzipiell alle sozi‐ alen Schichten partizipierten und dies vor allem anhand einer spezifischen Lexik deutlich wurde, darüberhinaus ist aber zu differenzieren, welchen gesellschaft‐ lichen Status einzelne Subgruppen innerhalb des Militärs innehatten. Dies gilt vor allem bezüglich der höhergestellten Offiziere gegenüber der Masse der Le‐ gionäre oder der Hilfstruppen, aber auch innerhalb der einzelnen Einheiten konnten Unterschiede bestehen, wie Müller (2001) dies exemplarisch verdeut‐ licht: Der sermo castrensis beispielsweise verband Caesar mit dem einfachen Soldaten der Auxiliartruppe, freilich bei großem Abstand zwischen der hochspezialisierten mili‐ tärischen Fachdiktion des einen und der banalen kriegshandwerklichen Redeweise des anderen; überlagert wurde jedoch die punktuelle Gemeinsamkeit von der Zuge‐ hörigkeit des Aristokraten zum diastratischen Sprachniveau des sermo urbanus und der des unfreien miles zu einer günstigenfalls dem niederen sermo vulgaris zurechen‐ baren Ausdrucksebene. Das Beispiel macht überdies klar, daß auch Fachsprachen je nach Spezialisierungsgrad der Sprecher in sich gestuft waren (Müller 2001: 275). Bei Müller (2001: 274) wird die Soldatensprache aufgrund der spezifischen Be‐ grifflichkeit als Technolekt klassifiziert. Sicherlich sind die militärtechnische Fachtermini prägend, allerdings scheint es aber wohl eher so, daß mit sermo castrensis vor allem auf den Soldatenjargon in der mündlichen Alltagskommu‐ nikation abgehoben wird. Weitere gruppensprachliche Differenzierungen sind die nach Alter sowie diejenige nach Geschlecht. Diese Tatsache, daß es solche diasystematisch er‐ faßbare Ausdruckweisen im Lateinischen gegeben haben muß, zeigen konkrete Hinweise bei Terenz und metasprachliche Kommentare von Cicero (De orat. III , 45 (12); 2007: 330), 241 die Rückschlüsse auf ein bestimmtes sprachliches Verhalten bei Frauen zulassen. 242 Was das altersspezifische Sprechen anbelangt, so gibt es schon seit langem Studien zur Kindersprache, seit neuerer Zeit auch zur Seni‐ orensprache und anderen Altersgruppen (cf. Müller 2001: 275; Willms 2013: 230). 243 145 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 244 Zu den sprachlichen Merkmalen der diaphasischen Ebene bzw. zu den einzelnen Re‐ gister cf. Seidl (2003: 526-527) sowie Müller (2001: passim). Zu den rein literarischen Registermerkmalen cf. Clackson (2011: 319-501). Insgesamt ist demgemäß davon auszugehen, daß das Lateinische als eine Sprache, die von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen in den verschiedensten Regionen mit unterschiedlich tradierten Gesellschaftsstrukturen gesprochen wurde, im Hinblick auf die diastratische Ebene nicht viel weniger ausdifferen‐ ziert war als heutige internationale Standardsprachen. Nicht wenige dieser gruppensprachlichen Merkmale wurden bereits von den Zeitgenossen identifi‐ ziert und metasprachlich kommentiert bzw. terminologisch kategorisiert (v. supra). Gerade letzteres gilt zwar nicht für alle gruppensprachlichen Bereiche, dennoch ist deren Existenz mehr als wahrscheinlich. 4.1.2.3 Die diaphasische Ebene Im Zuge der Betrachtung der Diaphasik geht Müller-Lancé (2006: 55-57) auch der Frage nach, inwieweit hier die diamesische Dimension zu berücksichtigen wäre, und diskutiert die Anwendbarkeit der Kategorien von Söll (1985), also Konzeption und Medium, sowie die von Koch / Oesterreicher (2011), d. h. Nähe und Distanz. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß dies womöglich schwierig einzuschätzen sei, ob allein ein reiner Medienwechsel wie im Französischen schon nachweisliche Auswirkungen auf die Versprachlichung habe oder ob im Lateinischen nicht immer auch die Ebene der Stilregister eine Rolle spielen würde (Müller-Lancé 2006: 57). Entsprechend den in vorliegender Arbeit bereits dargelegten kritischen Überlegungen zur Möglichkeit der Integration der Söll’‐ schen Kategorien in das System von Koch / Oesterreicher (v. supra) und der Tat‐ sache, daß wir zwar einige Hinweise auf die Aussprachegewohnheiten der Römer haben, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um voll umfänglich die me‐ dial und konzeptionell gesprochene Sprache zu charakterisieren, erscheint es sinnvoller, die diamesische Ebene als eigene Dimension im Coseriu’schen Dia‐ system auszuklammern. In Bezug auf historische Sprachformen ist es zwar unter Umständen erlaubt, aus einer überlieferten Schriftlichkeit vorsichtige Rück‐ schlüsse auf eventuelle mündliche Realisierungen zu ziehen, die Rekonstruktion der kompletten Ebene der Mündlichkeit bleibt aber hoch spekulativ. Konzentriert man sich auf die sprachlichen Register innerhalb der diaphasi‐ schen Ebene, 244 so ist für eine erste Orientierung und Kategorisierung die Per‐ spektive der traditionellen Rhetorik hilfreich. Diese unterscheidet prinzipiell drei Ausdrucksweisen bzw. Stilarten (genera dicendi), und zwar den niederen Stil (genus subtile oder genus humile), den mittleren Stil (genus mediocre) und den hohen Stil (genus sublime oder genus grande). Diese drei Arten der Redeweise 146 4. Die Architektur des Lateins 245 Die zahlreichen Belegstellen zu den einzelnen sermones der diaphasischen Ebene hat Müller (2001: passim) in den entsprechenden Kapiteln seiner Arbeit zusammengetragen; sie werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nur in Ausnahmefällen reproduziert. 246 Ein gewisser Unterschied hinsichtlich der beiden Begriffe usus und consuetudo ist hin‐ sichtlich einer je unterschiedlichen Fokussierung zu sehen: „Die usus-Formen legen nämlich den Akzent auf die reine Gegenwärtigkeit des Sprachzustandes, während die consuetudo die vorfindbare Beschaffenheit oder Regelmäßigkeit als etwas Gewordenes, diachron Fundiertes nahebrachte“ (Müller 2001: 212). werden dabei den entsprechenden Absichten der Kommunikation zugeordnet, wobei für die Belehrung (docere) das genus humile geeignet sei, für die Unter‐ haltung (delectare) das genus mediocre und für die Rührung (movere) das genus grande (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 273). Diese kanonisierte Form der Unterscheidung von Sprachregistern in Anwendung je nach Kommu‐ nikationssituation gibt dennoch Hinweise auf Stilebenen bzw. diaphasische Re‐ gister, über die innerhalb der lateinischen Sprache die Sprecher verfügen konnten. 245 Hinzu kommt der bereits in der Rhetorica ad Herennium belegte Be‐ griff des cotidianus sermo (4, 14, 2) oder der consuetudo cotidiana (4, 17, 22) und des sermo vulgaris (4, 69) sowie der bei Cicero verwendete Terminus des sermo familiaris (Cic. Caecina orat. 52, 2), der jedoch keine wesentliche Fortsetzung findet. Des Weiteren ist für den Superstandard, also die sehr gehobene Sprache, der auch diatopisch markierte Begriff des sermo urbanus in Betracht zu ziehen sowie der mit einer Konnotation von Norm und Korrektheit versehener Begriff des sermo latinus. Angesichts dieser metasprachlichen Zeugnisse von Bezeich‐ nungen für verschiedene stilistisch bedingte Sprechweisen, die aufgrund der dominanten Stellung der Rhetorik viel zahlreicher sind als diatopische oder di‐ astratische Markierungen, stellt sich nun die Frage, inwieweit hiermit gesell‐ schaftliche Realitäten abgebildet werden und wenn ja welche. Um Aussagen über verschiedene Ebenen der gehobenen oder niederen Sprechweise treffen zu können, sei zunächst der unmarkierte Gebrauch defi‐ niert. Müller (2001: 209-213), der die fragliche Begrifflichkeit in der Rhetorica ad Herennium, bei Cicero, Horaz und Quintilian untersucht, sieht in dem bei Cicero und anderen späteren Autoren (nicht Quintilian) verwendeten sermo usitatus (Cicero, Brut. 259 (74); 1990: 196) eine Bezeichnung für eine Standardvarietät bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch. Damit einher gehen die Begriffe usus und consuetudo, die nicht selten weitgehend deckungsgleich 246 verwendet werden und in der ein oder anderen Form bei den meisten Rhetorikern bzw. in sprachtheoretischen Betrachtungen vorkommen. Insbesondere bei Quintilian wird dabei deutlich, daß auch die Norm sich am Gebrauch ausrichtet, der als solcher durchaus positiv konnotiert ist (cf. Müller 2001: 211-212). Ebenfalls zur Bezeichnung eines allgemein üblichen Sprachgebrauchs wurde der Begriff des 147 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike sermo communis verwendet. Während bei Varro mit communis vor dem Hinter‐ grund einer consuetudo recta vs. einer consuetudo depravata bzw. mala auf den Sprachgebrauch des maßgeblichen Teils der Bevölkerung bzw. der periti referiert wird und dieser somit eher als gehoben zu charakterisieren ist, stuft Cicero die consuetudo communis als usuellen Standard unterhalb des Ideals des sermo ur‐ banus ein. Quintilian, der wohl erstmals diese Ebene als sermo communis be‐ zeichnet, zielt ähnlich wie Varro auf eine Sprechweise der eruditi. In der Spät‐ antike bei den christlichen Autoren umfaßt diese Bezeichnung jedoch den Sprachgebrauch des gesamten Volkes (cf. Müller 2001: 215-217). Eine diaphasisch neutrale, unmarkierte Redeweise zu definieren, ist auch für lebende Sprachen nicht immer ganz einfach. Geht man jedoch davon aus, daß im Lateinischen ähnlich wie in seinen heutigen Nachfolgesprachen sich der sti‐ listisch unmarkierte Standard prinzipiell am Sprachgebrauch der oberen Ge‐ sellschaftsschicht in eher informeller Situation orientiert - schriftlich tenden‐ ziell höher verortet als mündlich (cf. Koch / Oesterreicher supra) -, so dürfte dies mit der antiken Interpretation des sermo communis recht adäquat umrissen sein, der mit dem sermo usitatus korreliert, mit dem jedoch mehr der normative As‐ pekt im Vordergrund steht. Die Tatsache, daß am sermo communis in einer spä‐ teren Zeit eine breitere Bevölkerungsschicht partizipiert, ist womöglich den ge‐ sellschaftlichen Veränderungen geschuldet, die zwar keine Abschaffung von Eliten bedingte, aber womöglich ein Partizipieren breiterer Bevölkerungs‐ schichten an der römischen (Stadt-)Kultur: Die Romanisierung des Reichs und die als deren Konsequenz anzusehende Übertra‐ gung des römischen Bürgerrechts an immer mehr und schließlich fast alle Reichsbe‐ wohner führte zu einer starken Homogenisierung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Überall im Reich wurde nun als Muttersprache lateinisch bzw. griechisch gesprochen; der Götterhimmel war seiner Mannigfaltigkeit und Gebrochenheit in jedem Landstrich gleich oder ähnlich; das Bild der Städte wurde uniformer, ebenso die benutzten Gerätschaften, die Festlichkeiten und die Bibliotheken. (Bleicken 1994: 45) Durch diese Homogenisierung der Gesellschaftsschichten ergibt sich auf sprachlicher Seite eine weniger deutliche Trennung von Diaphasik und Dias‐ tratik. Versucht man sich von dieser Ausgangsbasis den Substandardregistern zu nähern, so sind in der antiken Literatur Begriffe wie sermo cotidianus, sermo familiaris, sermo humilis und sermo vulgaris in Betracht zu ziehen bzw. potentiell zu hierarchisieren. In der Rhetorica ad Herennium werden Bezeichnungen wie cotidiana locutio, cotidianus sermo oder consuetudo cotidiana verwendet, bei Cicero unter anderem 148 4. Die Architektur des Lateins 247 Die Tatsache, daß in der heutigen Stilregistermarkierung der romanischen Sprachen diese Bezeichnung eine wichtige Stellung einnimmt (z. B. frz. familier, it. familiare, span. familiar), ist ein Erbe des Humanismus und spiegelt nicht die antiken Verhältnisse der Markierungspraxis wieder. sermo cotidianus, usus cotidianus und consuetudo sermonis cotidiani und bei Quintilian, der ebenfalls terminologisch variiert, wird der alltägliche Sprachge‐ brauch präferentiell mit cotidianus sermo charakterisiert. Müller (2001: 167-178), der die Verwendung der Begrifflichkeiten vergleichend analysiert, kommt zu dem Schluß, daß es sich hierbei um ein Register handelt, welches unterhalb des Standards auf der ersten Stufe des Substandards anzusiedeln ist. Die Einschät‐ zungen der einzelnen Rhetoriker sind dabei, wie Müller darlegt, nicht völlig kohärent. Der Anonymus der ersten Rhetorica sieht vor dem Hintergrund seiner Stilanalyse das niedrigste genus in zumindest partieller Korrelation mit der All‐ tagssprache, charakterisiert beispielsweise durch Wörter, die bei der Mehrzahl der Sprecher frequent sind, also der consuetudo cotidiana entsprechen. Cicero betont zudem die notwendige Aktualität der Lexeme, d. h. sein cotidianus sermo soll vor allem den zeitgenössischen Sprachgebrauch widerspiegeln und hat u. a. die Funktion innerhalb der öffentlichen Gerichtsrede Tatbestände und Sachver‐ halte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er sieht dieses Stilregister aber auch als angemessen für die Textgattung des Briefes (Epistulae ad fami‐ liares, 9, 21). Quintilian betont hingegen, daß die alltägliche Redeweise nicht ausreiche, rhetorische Zwecke zu erfüllen. Gemeinsamkeiten bezüglich der Charakterisierung eines sermo cotidianus sind auch unter Einbeziehung späterer metasprachlicher Zeugnisse darin zu sehen, daß es um einen schlichten Stil geht, ohne ornatus, mit einer knappen Satzgestaltung und gängigem Wortschatz, so daß eine allgemeine Verständlichkeit gewährleistet wird. In ähnlicher Funktion wie sermo cotidianus wird von Cicero der Terminus sermo familiaris eingeführt, allerdings mit Betonung auf dem engen Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern in Anlehnung an lat. familia, die rö‐ mische Hausgemeinschaft. Im Weiteren bleibt die Verwendung dieses Begriffs jedoch marginal, dabei aber weiterhin mit der Konnotation der Nähe und Ver‐ trautheit belegt (cf. Müller 2001: 179-182). 247 Der sermo humilis erscheint als mehr oder weniger fest umrissenes Konzept erstmals bei Cicero, der allerdings im Rahmen seiner rhetorischen Abhand‐ lungen (Orator, De oratore, Brutus) in seinen Bezeichnungen nicht konsequent ist. Eindeutig handelt es sich dabei in Variation mit Beschreibungen wie tenuis, subtilis oder calidus um die Charakterisierung der untersten Stilebene der genera dicendi bzw. figurae orationis. In diesem Kontext ist der sermo humilis nicht un‐ bedingt negativ konnotiert, hat er doch seinen festen Platz im Gefüge der Stil‐ 149 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 248 Cf. dazu die Ausführungen von Augustinus in De doctrina christiana (IV, 19, 34-38; 1995: 239-244), in denen er die Verwendung der Stilarten abhandelt; insbesondere folg‐ ender Passus, in dem es um die maximale Verständlichkeit für den Rezipienten geht: „Aut <quid> qui docet unitatem trinitatis debet nisi sumissa disputatione agere, ut res ad dinoscendum difficilis quantum datur possit intellegi? Numquid hic ornamenta et non documenta quaeruntur? Numquid ut aliquid agat est flectendus auditor et non potius ut discat instruendus? “ (Augustinus, doctr. christ. IV, 19, 38; 1995: 244). arten und ihren je spezifischen Anwendungen. Die davon unabhängige Ver‐ wendung von humilis bezeichnet hingegen eine niedrige und ärmliche Redeweise. Letztere Bedeutung übernimmt im Wesentlichen auch Quintilian, der im Gegenzug humilis nicht als Teil der drei Sitilregister sieht (genus subtile, genus medium, genus grande) und damit den Antagonismus von Cicero ver‐ meidet. Eine dezidierte Aufwertung des sermo humilis ist seit Augustinus zu verzeichnen, der in Anlehnung an Cicero zwar ebenfalls drei Stilarten entwirft (submisse, temperate, granditer), jedoch deren Anwendung nicht abhängig vom darzustellenden Stoff macht. Ihm geht es allein um die Vermittlung der doctrina christiana, eine Abstufung ist nicht nötig, was die Regeln der Rhetorik und des situationsbedingten Sprechens völlig neu definierte. Für das Lateinische der christlichen Autoren hat Augustinus damit die aptum-Regel der Rhetorik und Poetik außer Kraft gesetzt. Statt des Gebots, das Stilniveau dem Gewicht des Stoffes und dem Rang der zur Sprache kommenden Person anzupassen, ging seine Lehre zur Forderung über, das Sprachniveau allein im Hinblick auf den beabsichtigten Publikumseffekt zu bestimmen und zu variieren. Das stilästhetische Prinzip hatte hinter dem stilpragmatischen, also hörer- und leserorientierten, zurück‐ zutreten. Für die Gesamtarchitektur der lateinischen Sprache ergab sich eine folgen‐ reiche Neubewertung. Der bis dahin selbstverständliche Prioritätsanspruch des ge‐ hobenen Lateins über die einfacheren Varietäten war fortan in der christlichen Welt aufgehoben. (Müller 2001: 113) 248 Diese Neuorientierung hängt auch damit zusammen, daß die Sprache der Bibel nicht den üblichen gattungsbedingten Registern gehorchte. Vor diesem Hinter‐ grund erfährt der sermo humilis eine Aufwertung im Sinne eines klaren unprä‐ tentiösen Stils, der von jedem verstanden wird und damit den obersten Zweck der christlichen Autoren, den der Verständlichkeit, am ehesten erfüllt (cf. Müller 2001: 97-104, 111-116). Die aus heutiger Sicht wohl prominenteste Stilmarkierung ist der sermo vul‐ garis. Müller-Lancé (2006: 58) führt diese Ebene jedoch nicht als solche an, son‐ dern behandelt diese diaphasisch-diastratische Einordnung unter einem Son‐ derkapitel zum Vulgärlatein. Für eine Charakterisierung der Architektur der 150 4. Die Architektur des Lateins 249 Dazu gehört die wachsende Distanz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, wobei letztere durch immer stärkere Kodifizierung und der Einforderung einer ge‐ wissen Norm von Seiten der sich zunehmend vom einfachen Volke entfernenden Bil‐ dungselite festgesetzt wurde, so daß das standardisierte Latein seine Rückbindung an den allgemein üblichen Sprachgebrauch immer mehr verlor (cf. Müller 2001: 160). lateinischen Sprache soll aber hier genau nicht eine Vermischung mit der Prob‐ lematik dieses modernen, daraus abgeleiteten Begriffs stattfinden, sondern der Fokus soll auf der antiken Sprachsituation liegen mit - soweit möglich - zeit‐ genössischer Terminologie, um andere Implikationen zu vermeiden (zur Prob‐ lematik ‚Vulgärlatein‘ v. infra). Bereits bei Plautus sind laut Müller (2001: 118-120) die frühesten Belege zu vulgatus zu verzeichnen und schon dort ist die Konnotation der als volgata verba bezeichneten Lexeme negativ, und zwar in dem Sinne von zwar verbreitet, aber unspezifiziert niederen Ursprunges (cf. dt. gemein). In der Rhetorica ad Heren‐ nium, in der erstmals die Wendung vulgaris sermo zu finden ist (4, 69), wird damit die allgemeine Sprache, die der breiten Masse, von derjenigen der Redner und Dichter abgegrenzt. Bei Cicero schließlich häufen sich verschiedene Kennzeich‐ nungen in Zusammenhang mit vulgaris, so beispielsweise vox vulgaris, oratio vulgaris, vulgaris sermo, verbum vulgi oder vulgare orationis genus. Semantisch wird dabei meist auf das Allgemeine, Verbreitete, Übliche referiert, d. h. viel‐ leicht nicht wertneutral, aber akzeptabel, während mit vulgaritas eindeutig nicht hinnehmbares niedriges Sprachniveau thematisiert wird - Cicero bleibt hier gewissermaßen ambig. Quintilian folgt ihm hier weitgehend, so daß vulgaris im Rahmen der rhetorischen Notwendigkeiten durchaus auch positiv konnotiert sein kann. Erst ab Gellius beginnt eine überwiegend negative Verwendung der von vulgus abgeleiteten Begriffe, wobei zunehmend die ursprünglich eindeutig diaphasische Bezeichnung eine diastratische Dimension bekommt und in die Nähe des sermo plebeius gerückt wird, was auch mit den in der späten Kaiserzeit sich verändernden gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen zusam‐ menhängt, 249 so daß nur noch zwischen normiertem Standard im Sinne einer latinitas und dem nicht-konformen Sprechen unterschieden wurde (cf. Müller 2001: 155-160). Das Konzept der latinitas im Sinne einer überprüfbaren Sprachrichtlinie ist bei Varro, überliefert durch Diomedes (fragm. gramm. I, 439, 17; GLK 1857 I: 439), näher erläutert, und zwar mit den Kriterien natura, analogia, consuetudo und auctoritas und auch bei Quintilian (Inst. orat. I, 6, 1; 2001 I: 160-184), der als Kriterien ratio (analogia u. etymologia), vetustas, auctoritas und consuetudo zu‐ grunde legt (cf. Siebenborn 1976: 53). Das sich ab dem 2. Jh. v. Chr. konstituie‐ rende Sprachideal der latinitas, beruhend auf einem Kanon von auctores, den 151 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 250 Müller (2001: 226) erläutert die Veränderung innerhalb des römischen Reiches in der (späten) Kaiserzeit, in der auf der einen Seiten zahlreiche Regionalzentren, aber auch Provinzhauptstädte (cf. kleinteiligere Provinzgliederung ab Diokletian, Konstantin u. Theodosius) sowie Teilhauptstädte (cf. Tetrarchie) entstanden, auf der anderen Seite auf dem Land eine zunehmende Armut und Rückständigkeit, auch in Sachen Bildung herrschte, was ein wachsendes sprachliches Gefälle bedingte. Bei Augustinus (Doctr. Christ. 4, 3) wird der daraus entstehende allgemeine Stadt-Land-Gegensatz im Sprach‐ verhalten deutlich (Städter kritisieren die Sprechweise der Leute vom Land): „Das Zeugnis ist von außerordentlichem Wert, denn es veranschaulicht, wie eine diatopische classici, grenzt sich gegenüber diatopischen Varietäten (cf. sermo rusticus, ag‐ restis) und diastratisch niedrig markierten Varietäten ab (cf. sermo vulgaris, co‐ tidianus, familiaris, plebeius) und ist gleichzeitig gekoppelt an ein gesellschaft‐ lich als vorbildlich angesehenes Verhalten (cf. recte vivere) und Denken (cf. recte sentiendi et cogitandi), was sich letztlich auch auf die Bereiche der Philosophie (cf. vere loqui), der Rhetorik (cf. bene loqui) und der Grammtik (cf. correcte loqui) ausdehnt; d. h. Teil eines gesamtgesellschaftlichen Ideals ist (cf. Poc‐ cetti / Poli / Santini 2005: 401-403). Im Bereich der Stilregister oberhalb des Standards sind aus der antiken me‐ taprachlichen Reflexion im Wesentlichen zwei Markierungen überliefert, und zwar die des sermo urbanus sowie die des sermo latinus mit den jeweils dahin‐ terstehenden Konzepten der urbanitas und der latinitas. Beides sind keine dia‐ phasischen Einordnungen sui generis, sondern je anderer Provenienz. Die Be‐ zeichnung sermo urbanus ist erstmals bei Livius belegt, und zwar im Sinne der diatopischen Abgrenzung gegenüber rusticus, d. h. es wird auf das stadtrömische Leben, der damit zusammenhängenden Kultur und der entsprechenden sprach‐ lichen Ausdrucksweise abgehoben (cf. die urbs ‚Stadt‘ schlechthin: Rom). Dies bedeutet auch, daß diese Kennzeichnung von Anbeginn neben einer rein lokalen Komponente eine dezidiert positive Konnotation hatte, und zwar im Sinne eines gehobenen Registers. Bei Cicero gewinnt letzterer Aspekt zunehmend an Ge‐ wicht, wobei er beispielsweise vage von einem urbanitas color spricht, ohne dies an sprachlichen Einzelelementen festzumachen; es sei jedoch ähnlich dem des ἀττικισμὸς im Griechischen. Quintilian schließlich schärft hier das Verständnis, indem er die Redeweise nicht nur mit der stadtrömischen Bevölkerung in Ver‐ bindung bringt, sondern auch mit entsprechender Bildung der Sprecher, so daß der sermo urbanus zumindest in partieller Korrelation mit der conversatio doc‐ torum steht. Eine ursprüngliche diatopische Markierung verschiebt sich hier demgemäß zu einer diastratisch-diaphasischen, ohne die lokale Komponente ganz zu verlieren, denn im Laufe der Zeit überträgt sich das Konzept der urba‐ nitas von Rom auch auf die Metropolen der Provinz, wobei die Abgrenzung zur Sprechweise auf dem Land (rusticus) erhalten bleibt. 250 Stilistisch wird mit dem 152 4. Die Architektur des Lateins Differenzierung, die zunächst nur das stadtrömische Latein gegen das ländliche ab‐ setzte, im Imperium auf die überall entstehende Opposition Sprache der Städter: Sprache der ‚Provinzler‘ übertragen wurde“ (Müller 2001: 226). sermo urbanus somit letztendlich das gute, (haupt)städtische Sprechen ausge‐ drückt, welches sich von der mit sermo latinus gekennzeichneten Redeweise dadurch unterscheidet, daß bei letzterer eher die regelkonforme Korrektheit im Vordergrund steht und bei der als urban gekennzeichneten Redeweise, die damit verbundene Eleganz und Kultiviertheit zum Ausdruck gebracht wird (cf. Müller 2001: 219-230; Lüdtke 2019: 450-452). Es stellt sich nun die Frage, wie diese vornehmlich im Zuge der antiken Rhe‐ toriktheorien entstandenen Begrifflichkeiten zu bewerten sind. Dabei ist prin‐ zipiell zu berücksichtigen, daß die Verfasser der Rhetoriken oder andere Au‐ toren, die metasprachliche Betrachtungen anstellten, weniger die Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit zum Ziel ihrer Abhandlungen hatten, sondern die jeweilige Sprechweise auf ihre Funktionalität hin für öffentliche Reden unter‐ suchten. Nichtsdestoweniger ist darin in gewissem Grad ein Spiegelbild tat‐ sächlicher diaphasischer Ebenen zu erkennen. Allerdings stellt sich wie bei der Beschreibung moderner, lebender Sprachen auch das grundsätzliche Problem der Abgrenzung von diaphasischer und diastratischer Ebene, da diese eng zu‐ sammenhängen. Zusätzlich kommt angesichts der Ausdehnung des römischen Reiches der diatopische Aspekt zum Tragen. Auch dies ist grundsätzlich nicht anders als bei aktuellen, diversifizierten Sprachen, allerdings mit dem Unter‐ schied, daß die Standardsprache aufgrund geringerer Verbreitung von Schul‐ bildung, niedrigerer Alphabetisierungsrate und dem Fehlen der modernen Me‐ dien als Katalysator von Standardisierungsprozessen weniger präsent war als heutzutage bei den großen Nationalsprachen. Es bleibt als Parallele zu heute aber auch die Schwierigkeit der Bestimmung der Anzahl der diaphasischen Ebenen, die oft nicht scharf getrennt voneinander sind. Versucht man nun die Ergebnisse aus der metasprachlichen Analyse von Müller (2001) auf eine mög‐ liche Sprachrealität anzuwenden, so scheint es neben einem Standard, der als sermo usitatus oder communis gekennzeichnet ist, zumindest zwei Substandard‐ register gegeben zu haben, d. h. einerseits den sermo familiaris oder sermo coti‐ dianus und andererseits niedrig markierter den sermo humilis oder sermo vul‐ garis. Im Bereich des Superstandard ist mit sermo urbanus oder sermo latinus der gehobene Sprachgebrauch anzusetzen. Es ist wahrscheinlich, daß sich auch der schriftliche und der mündliche Gebrauch nochmal unterschieden, ganz nach dem von Koch / Oesterreicher (2011: 12) formulierten Diktum der jeweiligen Af‐ finitäten von phonischem Code zu Nähesprache und graphischem zu Distanz‐ sprache (v. supra). 153 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit Die Frage wann die Epoche des Mittellateins beginnt und damit auch die Phase, in der Latein - zumindest aus heutiger Sicht - nicht mehr als lebende Sprache wahrgenommen wird, ist untrennbar mit der Entstehungsgeschichte der ro‐ manischen Sprachen verbunden. Dabei ist die Frage nach einem mehr oder we‐ niger präzise datierbaren Ablösezeitpunkt prinzipiell nicht wirklich sinnvoll gestellt, wie Kramer (1997) unmißverständlich deutlich macht: Eine scharfe Grenze zwischen spätantikem und frühmittelalterlichem Latein läßt sich natürlich nicht ziehen. Die Frage, wann die spätlateinische zur frühromanischen Um‐ gangssprache wurde, mit anderen Worten, wann man aufhörte lateinisch, und wann man anfing, romanisch zu sprechen, ist in dieser Form falsch gestellt. Beide Sprach‐ formen folgen bruchlos aufeinander, und man kann nur sagen, daß die romanischen Charakteristika in dem Maße zunehmen, wie die lateinischen Wesensmerkmale ab‐ nehmen […]. (Kramer 1997: 151-152) Steinbauer (2003: 514) benennt als Richtwert die Zeit um 600 n. Chr., in der die gesprochene Sprache sich so weit von der Schrift- und Literatursprache entfernt habe, daß man von einer Diglossiesituation ausgehen muß, die schließlich im 9. Jh. in eine Verschriftung und Verschriftlichung einzelner Volkssprachen auf dem Boden des ehemaligen römischen Reiches mündet. Auch Müller-Lancé (2006: 40), der den Zeitraum ähnlich faßt (650 n. Chr. bzw. 6./ 7. Jh.), sieht aus linguistischer Sicht gravierende Veränderungen, die eine neue Epoche in der Sprachgeschichte rechtfertigen. Reutner (2014: 200) folgt ihm in dieser Datie‐ rung, genauso wie in der Gesamtperiodisierung. Meiser (1998: 2) hingegen da‐ tiert das Ende der spätlateinischen Phase auf Ende des 7. Jh. n. Chr. Paradigma‐ tische Autoren an dieser Epochenschwelle wie Gregor v. Tours (540-594 n. Chr.) oder Isidor v. Sevilla (560-636 n. Chr.) ordnet Müller-Lancé (2006: 37) aus lingu‐ istischer Sicht noch dem Spätlatein zu, wobei er doch bereits recht deutliche Abweichungen von der klassischen Morphologie und Syntax konzediert. Ber‐ schin (2012: 106) hingegen sieht die Sprache von Gregor nur noch in euphemis‐ tischem Sinne dem niedrigen Stil zugehörig, da sie in Wahrheit voller Barba‐ rismen und Solözismen sei. Wichtiger aber ist seine Beobachtung, daß im Spätlatein der sprachgeographische Schwerpunkt der Literaturproduktion in Nordafrika lag (christl. Autoren 2.-6. Jh.), während er sich dann nach Norden und spezieller nach England und vor allem nach Irland verschob, also in wenig bzw. gar nicht romanisierte Regionen Europas, wo eine insular-lateinische Li‐ teratur entstand (cf. Berschin 2012: 105). 154 4. Die Architektur des Lateins 251 Die Metapher von der ‚toten Sprache‘ ist deshalb schief, wie Poccetti / Santini / Poli (2005: 12) richtigerweise darlegen, weil gar kein Todesdatum auszumachen ist, denn die Vitalität des Latein wurde weder mit dem Untergang des weströmischen Reiches, noch mit den karolingischen Reformen oder der Renaissance beerdigt. 252 Lüdtke (2005: 26) spricht von einer Varietät, die „eine von der Alltagssprache abgeho‐ bene, elaborierte unterrichtsmäßig tradierte consuetudo, eine Schriftsprache“ darstellt. 253 Berschin / Berschin (1987: 19) sehen diesen Prozeß ebenfalls bereits in der Antike be‐ ginnend, als die lateinische Literatursprache fixiert und „aus dem geschichtlichen Prozeß weitgehend herausgenommen“ wurde und vor allem dann mit jeder Renaissance oder Reform „jedesmal radikaler und auf einer immer enger gefaßten Basis von Auto‐ ritäten“ beschränkt wurde. Unabhängig von der jeweiligen Einschätzung des sprachlichen Befundes scheint es jedoch aus kultureller Perspektive in jedem Fall sinnvoller die ge‐ nannten Autoren, auch wenn sie partiell noch im Bildungshorizont der Antike verankert sind, doch der neuen Epoche zuzuweisen. Im Zuge vorliegender Zielsetzung und des anvisierten Schwerpunktes, die Architektur des Lateins zu untersuchen, soll hier im weiteren nicht auf um‐ fangreiche mittellateinische Literatur und die in diesem Kontext neu erschlos‐ senen Diskurstraditionen eingegangen werden, genausowenig wie auf die in‐ nerlateinischen Sprachentwicklungen. Von zentralem Interesse ist vielmehr die Frage nach der Erstarrung des Lateins, dem metaphorischen Tod und der Di‐ versifikation innerhalb dieser „toten“ Sprache. 251 Es gibt allerdings Phasen und Strömungen in der Geschichte der lateinischen Sprache, die dazu beitrugen, daß sich das Latein als „Kunstsprache“ etablierte und nach und nach von seiner volkssprachlichen Basis entfernte. Dies beginnt aber bereits in der Antike mit der engen Verknüpfung von Grammatik, Rhetorik und literarischer Schriftproduktion. Es hängt auch mit dem literarischen Ideal der imitatio zusammen, den stilistischen Vorgaben, die eine lexikalische und syntaktische Selektion zur Folge hatten, und vor allem mit der Reduktion des Lateins auf eine einzelne Varietät, die auf ihre Funktion als Logik-, Rhetorik- und Literatursprache reduziert wurde und in der schulischen Tradition kano‐ nisiert und isoliert wurde. 252 Dazu trugen sicherlich auch die Strömungen bei, die die lateinische Sprache auf genau diesen Aspekt reduzieren wollten und eine Bewahrung eines normativen Modells anstrebten, wie innerhalb der Karolingi‐ schen Renaissance, der ottonischen Renaissance, der Renaissance des 12. Jahr‐ hunderts und der humanistischen Renaissance (cf. Berschin / Berschin 1987: 18; Graphik). 253 Andererseits blieb das Lateinische während des gesamten Mittelal‐ ters und auch noch in der Frühen Neuzeit insofern eine sehr lebendige Sprache, als sie in vielen Bereichen die alternativlose Schriftsprache blieb, damit unwei‐ gerlich flexibel sein mußte, sich neuen Themen und Gegebenheiten anzupassen 155 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit 254 Curtius (1993: 34-35) hebt hervor, daß das geistige Leben im westlichen Mittelmeer durch die Völkerwanderung keinen wesentlichen Bruch erfahren hat, da die Germa‐ nenherrscher alle ihre Gesetze, Urkunden und Briefe auf Lateinisch abfassen ließen. Bis ins 8. Jh. gibt es auch noch eine (kleine) Laienschicht, die das Latein beherrscht, und gleichzeitig ist die Sprache des Alltags auch immer noch Latein, wenn auch „verderbtes“. hatte, aber auch in der Mündlichkeit als Sprache der Diplomaten, Gelehrten und der Kirche ungebrochene Vitalität erlebte. Dabei stand sie auch immer im Aus‐ tausch und im Spannungsfeld der jeweiligen Volkssprachen, auch der nicht-ro‐ manischen: Die geschichtlichen Phasen, in denen das Latein steril zu werden scheint, sind gerade diejenigen, in denen sich Spannungen zwischen den beiden Ebenen und vielseitige Aspekte am deutlichsten zeigen. Vitalität und Autonomie des mittelalterlichen Lateins und des Lateins der Humanisten (oder vielmehr der Varietäten des Lateins des Mit‐ telalters und des Humanismus) sind gerade in der Dualität einer Sprache des Geistes, der Schule und der Kirche, aber auch der internationalen Kommunikation, in der sich klassische Modelle und christliche Vorbilder […] vermischen, und einer breiten Skala von Ausprägungen im Raum, in der Zeit und in den persönlichen Erfahrungen zu finden. (Poccetti / Santini / Poli 2005: 13) Die Zeitgenossen jedenfalls erlebten das Lateinische jedenfalls nicht als tote Sprache, sondern als gelebte Sprache, die in ihrer Vielfalt wesentlich zur He‐ rausbildung der europäischen Literatur beitrug (cf. Curtius 1993: 34-40) bzw. zu Beginn zur Genese der volkssprachlichen Schriftlichkeit an sich, die ohne die lateinische Vorlage kaum denkbar gewesen wäre. Die [mittelalterlichen] Menschen selber nahmen die große Zäsur zwischen der Antike und ihrer eigenen Zeit, die unser von der Renaissance vermitteltes Geschichtsbild so entschieden prägt, vermutlich nicht in gleich starkem Maße wahr. (Stotz 2002: 23) Einen Bruch zur Spätantike gibt es insofern, als nach Lüdtke (2005: 22) irgend‐ wann die „Staffettenkontinuität“ verloren geht, d. h. die mündliche Tradierung von Generation zu Generation abbricht. Dies ist insofern zu präzisieren, als dies ja nur auf eine bestimmte Varietät des Lateins zutrifft, die meisten Varietäten münden in die romanischen Sprachen, bleiben also erhalten. Stotz (2002: 25) be‐ schreibt treffend die Rückbindung, die die Bildungsschicht der Antike viva voce an den Rest der Bevölkerung hatte und wie das von ihnen produzierte Schrifttum entsprechende Verbreitung fand. Dabei handelte es sich selbst noch in der Spät‐ antike um einen „Kreis rhetorisch-literarisch Gebildeter“, während im frühen Mittelalter nur noch eine „kastenartige Trägerschicht der Sprache“ (ibid.: 25) be‐ stand. 254 Diese konnte zwar noch Sprachelemente der normierten Schriftsprache 156 4. Die Architektur des Lateins Dadurch bleibt bis in diese Zeit die Einheit der Romania bestehen. Dies ändert sich dann ab dem 9. Jh. unter den Karolingern, als nur noch der Klerus Gebildete hervorbringt, eine „Priesterkaste“ den Staat stark beeinflußt. Aber erst die Karolingische Renaissance ist dann schließlich „zugleich eine Wiederaufnahme der antiken Tradition und ein Bruch mit der zerstörten römischen Kultur“ (Curtius 1993: 35). Kramer (1997: 152), der diese Veränderungen ebenfalls sieht, ergänzt diese um den As‐ pekt des „tiefgreifende[n] Verfall[s] des antiken Schulwesens zwischen 600 und 800“, was zu einem starken Rückgang der Schreib- und Lesefähigkeit führte, die zumindest in der männlichen Bevölkerung der Kaiserzeit relativ verbreitet war. Die Situation der lateinischen Sprache, bei der Mündlichkeit und Schriftlichkeit sich stark veränderten, beschreibt er etwas zeitgemäßer als immer „brüchiger“ werdende „Rückbindung der [Schrift]Sprache an die klassischen Normen“, so daß sich die Abweichungen von den „tradierten Regeln“ in Orthographie, Morphologie, Syntax und Wortschatz häuften, auch unter Einfluß der Alltagssprache. mehr oder weniger beurteilen, aber nicht mehr spontan aufgrund ihrer mutter‐ sprachlichen Sprachkompetenz, sondern nur noch durch angelerntes Sprach‐ wissen und den Vergleich der literarischen Autoritäten. Lüdtke (2005: 23) bringt zusätzlich den Aspekt der Institutionalisierung ins Spiel, d. h. der bewußten Festlegung und kanonisierten Tradierung dieser selegierten Varietät und schlu‐ ßendlich die mehr oder weniger willkürliche Setzung einer bestimmten Aus‐ sprache, die eine ältere Sprachstufe widerspiegelt. Nichtsdestoweniger bewahrte sich die lateinische Sprache gerade durch ihre Wechselwirkung mit den einzelnen Volkssprachen, auf die sie zum Teil maßge‐ blichen Einfluß hatte, auch eine Variationsbreite in vielerlei Hinsicht. In ihrer mündlichen Ausprägung unterlag sie zweifelsohne einer diatopischen Varia‐ tion, regionale Unterschiede waren aber auch in der Schriftlichkeit nicht aus‐ zuschließen (Schreibschulen) und diaphasisch deckte sie zahlreiche Stilregister ab, entsprechend des allumfassenden Gebrauchs, der nur langsam durch die nach und nach in einzelne Domänen vordringenden jeweiligen Volkssprachen beschnitten wurde. Bei den durchaus gegebenen regionalen Unterschieden handelt es sich, wie Stotz (2002: 87) anmerkt, nicht um Dialekte im eigentlichen Sinn, sondern um Unterschiede, die zwar durchaus auch von sprachlichen Elementen bestimmt wurden, aber letztlich vor allem in einem kulturellen und sprachsoziologischem Rahmen zu beschreiben sind. Poccetti / Santini / Poli (2005: 13-14) zeigen auf, wie erst in der nachhumanis‐ tischen Ära das Lateinische soweit erstarrte, daß die Metapher von der „toten“ Sprache zumindest ein Stück weit zutreffend ist. Das Gefühl der mangelnden Lebendigkeit des Lateins erkannten zwar bereits die Gelehrten der Renaissance, 157 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit 255 Dies gilt aber auch schon für das Mittelalter, als es immer wieder produktive Schübe der lateinischen Literatur gab, und zwar nicht in Konkurrenz zu den einzelnen Volks‐ sprachen, sondern komplementär: „Das Aufblühen der volkssprachlichen Literaturen seit dem 12. und 13. Jahrhundert bedeutet keineswegs ein Versiegen oder Zurücktreten der lateinischen Literatur. Das 12. und 13. Jahrhundert sind sogar ein Höhepunkt la‐ teinischer Dichtung und Wissenschaft. Lateinische Sprache und Literatur reichen in dieser Zeit ’von Mittel- und Südeuropa und dem Norden bis hin nach Island, Skandi‐ navien, Finnland, im Südosten bis nach Palästina‘. […] Man übersetzt sogar volks‐ sprachliche Dichtungen ins Latein“ (Curtius 1993: 35). doch waren es gerade diese eruditi, die eine ungeheure Produktivität und Inno‐ vation in der von ihnen totgesagten Sprache an den Tag legten. 255 4.3 Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell Beschäftigt man sich im Rahmen der Klassischen Philologie mit der lateinischen Sprache, so ist der Fokus aller Betrachtung in der Regel auf dem für diese Fach‐ disziplin namengebenden Klassischen Latein ausgerichtet. Nichtsdestoweniger gab es auch von jeher in bescheidenem Umfang Studien zum nicht normierten Latein. Hierbei wird üblicherweise, wie auch in der aktuellen Einführung von Willms (2013), jegliche Variation im Latein unter zwei Begrifflichkeiten subsu‐ miert, nämlich Vulgärlatein und lateinische Umgangssprache. Zu letzterem Ter‐ minus gibt Willms eine in mehrfacher Weise interessante Stellungnahme ab: Die lat. Umgangssprache ist eine sprachhistorisch-begriffliche Schöpfung Johann Baptist Hofmanns. Er hatte bei der Definition dieses Terminus und seiner Abgrenzung von anderen Varietäten des Lateinischen keine glückliche Hand, doch bleiben beide sachlich sinnvoll und in modifizierter Form praktikabel. Willms (2013: 239) Es ist bezeichnend, daß Willms hier zwar berechtigte Kritik übt, aber anderer‐ seits in seiner aktuellen Einführung genau diese Terminologie beibehält. Auch bezüglich des Umfangs der Ausführungen zum lateinischen Substandard, wird dieser ganz traditionell marginalisiert. Vor allem sei hier dezidiert widerspro‐ chen, daß der Begriff weiterhin praktikabel sei, denn es handelt sich dabei um einen Terminus zur Bezeichnung sprachlicher Verhältnisse im Deutschen, ob deren Adäquatheit man schon diesbezüglich in Zweifel ziehen kann, eine Über‐ tragung auf die Situation des Lateins der Antike, erscheint dabei problematisch, zumal hierunter die verschiedenster sprachlichen Ebenen gefaßt werden. Nicht unproblematisch ist auch die Definition der Umgangssprache, die Hof‐ mann zugrundelegt, setzt er diese doch mit dem sermo familiaris gleich und sieht 158 4. Die Architektur des Lateins 256 Palmer (1990) unterscheidet beispielsweise zwischen gesprochenem Latein, Literatur‐ sprache und Vulgärlatein. Er behandelt zwar auch die Dialekte, aber nur in ihrer Ent‐ stehungsphase. sie als „die lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ (Leumann / Hof‐ mann 1928: 10). Wie bereits dargelegt (v. supra) ist die Zuordnung zu dem vor‐ wiegend bei Cicero gebrauchten Terminus nicht so einfach. Innerhalb der Um‐ gangssprache wiederum erkennt er mehrere Abstufungen wie die gewählte Sprache der Konversation, den familiären Stil und den niedrigen Stil, während die Vulgärsprache einfach mit noch niedriger verankert wird. Trotz fehlender Differenzierung von diatopischer, diastratischer und diaphasischer Ebene hält sich diese Dreiteilung Schriftsprache (bzw. enger gefaßt Literatursprache) vs. Umgangssprache vs. Vulgärlatein hartnäckig, nicht nur in der Klassischen Phi‐ lologie (cf. Palmer 1990, Meiser 2010, Willms 2013). 256 In der Romanistik dagegen wird diese Trichotomie meist zu einer Dichotomie weiter verkürzt, indem eine Opposition Klassisches Latein vs. Vulgärlatein for‐ muliert wird (cf. z. B. Rohlfs 1951, Vossler 1954, Silva Neto 1957, Herman 1967, Väänänen 1 1963/ 4 2002, Coseriu 2008). Exemplarisch sei dabei auf Herman (1996) verwiesen, der relativ klar die diasystematische Vielfalt der lateinischen Sprache erkennt und definiert, in seiner weiteren Beschreibung dann jedoch in alte Muster verfällt: […] en effet les Anciens eux-mêmes étaient conscients de l’existence d’usages que nous appellerions dialectaux ou socio-culturels […], et la recherche relative au latin connaît depuis toujours une longue nomenclature de variétés conformes à différents paramètres, sans même parler des étapes chronologiques s’échelonnant au cours de la longue histoire de la langue. (Herman 1996: 45) In seiner folgenden Abhandlung der variationsbedingten Unterschiede im La‐ teinischen faßt er trotz dieser Erkenntnis jegliche substandardliche Abweichung unter ‚Vulgärlatein‘. Aus Sicht der Romanistik, die in einer diachronen Perspektive bestrebt ist die Ursprünge der romanischen Sprachen zu ergründen, ist diese Arbeitshypothese, auch im Sinne der im 19. Jh. formulierten genetischen Verwandtschaft der Spra‐ chen, bei der eine Sprachfamilie durch eine gemeinsame Ursprache definiert wurde, durchaus legitim und praxisnah. In dieser Hinsicht ist es ausreichend jegliche Abweichung vom standardisierten Latein unter einen Begriff zu fassen, welche Sprachrealität auch immer damit verbunden ist (zur Diskussion v. infra). Soll hingegen die lateinische Sprache als lebendige, sich wandelnde Sprache beschrieben und möglichst präzise in ihrer Vielfalt erfaßt werden, so ist diese Unterscheidung zu grobkörnig. Aus diesem Grund sei hier der Versuch unter‐ 159 4.3 Die Darstellung des Lateins in einem varietätenlinguistischen Modell 257 Es ändert sich am Modell zur Sprach- und Varietätenwahl in Applikation auf das La‐ teinische eigentlich nichts, allein die Tatsache, daß zwar die Zeitgenossen die Wahl zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hatten, wir jedoch die mündliche Ebene kaum mehr nachvollziehen können, ist zu berücksichtigen. Die Sprachen, die zur Wahl stehen, hängen dabei von der jeweiligen Zeit (der Romanisierung) und Region des rö‐ mischen Reiches ab (z. B. Etruskisch, Griechisch, Keltisch etc.). 258 Das Mittellatein oder auch das Neulatein findet hier keine Berücksichtigung, insofern hier einerseits der Fokus auf der lebenden Sprache Latein liegen soll und andererseits nommen, auf Basis der analysierten Begrifflichkeiten und der bisherigen Sys‐ tematisierung der variationsbedingten Heterogenität des Lateins (siehe dazu das Modell zur Sprachenbzw. Varietätenwahl in Kap. 3.1.3) eine diasystematische Auffächerung darzustellen. 257 Soweit möglich sei dabei auf die antiken Termini rekurriert, diese aber, wenn nötig, um weitere ergänzt. 258 Diasystem des Lateinischen diatopische Ebene Dialekte Regiolekte (tertiäre Dia‐ lekte) Urbanolekte primäre Dialekte: (sermo rus‐ ticus / agrestis) Römisch Praenestinisch Lanuvinisch Tiburinisch Tusculanisch Satricanisch Aricianisch etc. Varietäten der Provinzen: (sermo rus‐ ticus / agrestis) Italia Belgica Lugdunensis Narbonensis Aquitania Tarraconensis Lusitania Baetica Britannia Raetia Noricum Mauretania Africa etc. Varietäten der Städte: (sermo urbanus) Roma Mediolanum Mogontiacum Lugdunum Tarraco Augusta Treverorum Nemausus Narbo Olisipo etc. sekundäre Dia‐ lekte: (sermo rus‐ ticus / agrestis) in Italien: mit oskischem mit umbrischem mit griechischem mit keltischem, etc. Einfluß außerhalb Italiens: mit iberischem mit germanischem mit lusitanischem etc. Einfluß 160 4. Die Architektur des Lateins spätere Sprachstufen des Lateins wie bereits dargestellt (v. supra) anderen Gesetzmä‐ ßigkeiten und Differenzierungskriterien unterliegen. Diasystem des Lateinischen Soziolekte diastratische Ebene schichtenspezi‐ fisch sermo urbanus sermo usitatus / sermo communis sermo plebeius / sermo vulgaris Situolekte diaphasische Ebene Superstandard Standard Substandard sermo urbanus / sermo latinus sermo usitatus / sermo communis sermo familiaris / sermo cotidianus sermo humilis / sermo vulgaris Technolekte diatechnisch gruppenspezi‐ fisch (sermo tech‐ nicus) sermo philosphicus sermo medicus sermo religiosus sermo architecto‐ nicus sermo argrarius etc. Helikialekte diageneratio‐ nell altersspezifisch Gerontolekt (Sprache der Seni‐ oren) Neotolekt (Sprache der Kinder und Jugendlichen) Sexolekte diasexuell geschlechtsspezi‐ fisch Androlekt (Sprache der Männer) Gynaikolekt (Sprache der Frauen) Abb. 3: Das Diasystem des Lateinischen Diese hier präsentierte Idee einer Architektur des Lateinischen als lebende Sprache in der Antike ist natürlich insofern defizitär, als die diachronische Ent‐ wicklung und die sich daraus ergebenden Verschiebungen bzw. Nuancie‐ 161 4.3 Die Darstellung des Lateins in einem varietätenlinguistischen Modell rungen - wie oben beschrieben - nicht abgebildet sind. Es bleibt weiterhin in vielerlei Hinsicht hypothetisch, da wir aus der historischen Konstellation heraus rein auf schriftsprachliche Zeugnisse angewiesen sind, die nicht nur die Frage nach der Mündlichkeit schwer beantwortbar machen, sondern jede Art der di‐ asystematischen Variation nur fragmentarisch hinter der weitgehend standar‐ disierte Schriftlichkeit sichtbar werden lassen. Insofern beruht das obige Schema zwar durchaus auf Studien und Belegmaterial, welches vorsichtige Rückschlüsse auf eine bestimmte Varietät zulassen, sie vollständig zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Es sollte dabei jedoch im Anschluß an die neuere Forschung deutlich werden, daß das Lateinische der Antike eine vollausdifferenzierte Sprache war, deren Heterogenität sich eben nicht wie bisher üblich auf zwei oder drei Begriffe reduzieren läßt. 162 4. Die Architektur des Lateins 259 Wunderli (2001: 140) zitiert in diesem Zusammenhang Diez mit der Kernbelegstelle „er‐ losch das vornehme Latein von selbst und das Volkslatein verfolgte, vorzugsweise in den Provinzen, seine Bahn nun um so rascher“ (Diez 3. Aufl. 1870: 4), gibt dazu allerdings irrtümlicherweise die Erstausgabe des ersten Bandes der Grammatik der romanischen Sprachen von 1836 an, in der der Passus in Wirklichkeit folgendermaßen lautet: „erlosch das vornehme Latein von selbst und die Volksmundart verfolgte ihre Bahn nun um so rascher“ (Diez 1836: 4; identisch mit 2. Aufl. Diez 1856: 4). Tatsächlich findet sich im ersten Band der ersten Auflage kein Beleg für ‚Volkslatein‘. Eine andere Stelle weiter unten in der Einleitung des ersten Bandes, auf die auch Kiesler (2006: 7, FN 1) abhebt, der Cano Aguilar dafür kritisiert, daß er Diez den Erstbeleg für ‚Vulgärlatein‘ zuschreibt, wurde ebenfalls abgeändert. Kiesler selbst unterschlägt dabei den Wandel in der Begrifflichkeit, indem er allein die vierte Ausgabe von 1876 zitiert. 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt Bei einer Darstellung, die der Frage nachgeht, wie ein tiefergehendes Ver‐ ständnis für das Latein der Antike entstanden ist und wie Sprachentwicklung in das Bewußtsein der Gelehrten rückte, ist es unumgänglich den zentralen Be‐ griff des Vulgärlateins zu betrachten. Dieser Terminus ist insofern entscheidend, als hierin zum Ausdruck kommt, daß es noch eine andere Form des Lateins gab, die nicht den gleichen Grad an Normiertheit und Invariabilität aufwies wie die Schriftsprache im Allgemeinen bzw. das sogenannte Klassische Latein im Be‐ sonderen. Dieser Unterschied wird bereits bei den antiken Autoren greifbar, die wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, verschiedene Arten des Lateins un‐ terschieden, wie auch immer die jeweilige diasystematische Abgrenzung ge‐ dacht war. Wenn man sich nun - wie hier vorgesehen - mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire, it. latino volgare). Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht. 259 Die fragliche Stelle lautet folgendermaßen: „daß das Romanische dem volksmäßigen Latein sein Dasein verdanke“ (Diez 1836: 6 und identisch in der 2. Aufl. Diez 1856: 6) bzw. „daß das Romanische dem Volkslatein sein Dasein danke“ (Diez 1870: 6; 3. Aufl. 1870 und 4. Aufl. 1876 sind diesbezügl. identisch). 260 Im ersten Zitat wurde in der zweisprachigen Aussgabe vulgari sermone mit „in ge‐ wöhnlicher Umgangssprache“ übersetzt, im zweiten mit „in der alltäglichsten Sprache“. 261 Bei Geckeler / Dietrich ( 3 2003: 157 bzw. 4 2007: 157) wird für die Übernahme von ‚Vulgär‐ latein‘ aus frz. latin vulgaire allerdings kein Beleg angeführt. Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866-1868). Be‐ reits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Aus‐ schreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006: 9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet ge‐ sehen werden. Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo, der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium ( IV , 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero (Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizie‐ rung von Sprachstilen häufig verwendet wurde. Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. (Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994: 316-318) […] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990: 272) 260 Bei Kiesler (2006: 7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Ver‐ weis auf Geckeler / Dietrich (2003) 261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition ge‐ mutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsich‐ tige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ett‐ mayer (1916: 231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch - Französisch - Deutsch‘. 164 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 262 „Sont ilz plus clercs que ne fut sainct Gregoire, / Ou sainct Jherome, Ambroise et Au‐ gustin, / Qui l’ont loué en vulgaire latin, / Et sainct Bernard, qui fut tant debonnaire, / Ignasce aussi, son prudent secretaire, / A qui le cueur de son corps on tira? ” (Gringore 1858: 331-332). 263 „Ainsi il ne faut pas juger du Latin vulgaire des provinces de l’empire Romain par celui que nous lisons dans Cicéron, Salluste, César, Tite-Live, & les autres auteurs de la bonne Latinité. Il n’y avoit, je le répète, que ceux qui avoient eu de l’éducation, & qui avoient étudié la langue Latine, qui la parlassent correctement, en suivant les règles de la gram‐ maire. Cette étude étoit devenue necessaire dès le temps de Cicéron, depuis que les Barbares, répandus dans l’Italie & dans Rome même, eurent apporté dans la langue Latine beaucoup de mots de leur propre langue“ (Bonamy 1975: 597 [16]). 264 „À Rome même, il y avait une grande différence entre le latin fixé par la culture littéraire, tel que les classes élevées se piquaient de le parler, et le latin populaire. Là, comme partout, la multitude tronquaient, altérait les formes des mots, les désinences caraté‐ risques destinées à ennuancer la valeur grammaticale. Aussi des hommes de beaucoups de sens et d’érudition ont-ils regardé le langage de l’ancienne populace romaine comme un dialecte vulgaire du latin, dont l’italien serait la continuation immédiate” (Fauriel 2011: 190-191). Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die all‐ gemeine Begriffsgeschichte von lat. (lingua) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220-1294; Li livres dou tresor, ca. 1265: vulgar parleure) über Dante Alighieri (1265-1321; De vulgari eloquentia, 1302-1305: vulgaris locutio; Convivio, 1306: volgare) und Joachim du Bellay (1522-1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, 1549: vulgaument) zu Johann Gottfried Herder (1744-1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste, 1794-196: Vulgar- und Pöbelsprache) führt (cf. Ueding 2009: 1245-1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) unter‐ suchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392-1463; De verbis romanae locutionis, 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553-1627; Trattato della vera origine, 1601: latino volgare) präzisere Form ge‐ winnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF , hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475-1539) verbirgt, 262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694-1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains, 1751) 263 und Claude Fauriel (1772-1844; Histoire de la poésie provençale, 1846), 264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit 165 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 265 Zur Verortung der jeweiligen Autoren in den Gesamtkontext der Vorgeschichte der Sprachwissenschaft cf. z. B. Kukenheim (1932: 171-197) und Swiggers (2014: 17-30). Zum Einfluß des Französischen und den daraus resultierenden Gallizismen cf. Thiele (1993: 6-8). 266 Mit Aufgabe ist hier die Preisfrage der Wiener Akademie der Wissenschaften gemeint (30. Mai 1860): „Von dem Vulgärlatein oder dem sermo plebeius ist in Autoren, bei Grammatikern und Glossographen und auf Inschriften eine beträchtliche Summe von Thatsachen erhalten, theils in eigenen Wörtern, theils in Formenbildungen und Struk‐ turen solcher Ausdrücke, deren sich auch die Schriftsprache bediente. Eine umfassende, quellenmässige Sammlung und Bearbeitung dieses Materials dürfte einen erheblichen Beitrag zur Bereicherung der lateinischen Grammatik und des lateinischen Lexikons ergeben. In der Untersuchung muss der Gesichtspunkt möglichst strenger Sonderung des vulgären von dem Schriftgebrauch massgebend sein, und in dem vulgären selbst neben dem, was überhaupt als plebejisch zu gelten hat, auch Rücksicht genommen werden auf das, was etwa nur einzelnen Provinzen des römischen Reiches eigenthüm‐ lich war. Als Grenzscheide für die Heranziehung von Autoren ist die Zeit des Justinian und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes fran‐ zösischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert. 265 Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu ent‐ standenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wis‐ senschaft institutionalisieren. Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwis‐ senschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute Latein‘, welches in Folge litterarischer Evolutionen auch aus dem Strome der Sprach‐ entwicklung abgesondert hat und erstarrt ist, ein weit geringeres Interesse, als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Be‐ wegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866: VII) Die Aufgabe 266 ist - abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft - 166 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt zu nehmen. Eine Umfassung des hierher gehörigen Materials würde für die Sache selbst an wünschenswerthesten sein; jedoch kann unter Umständen auch eine nur auf die Autoren sich beschränkende Bearbeitung als Lösung der Preisfrage angesehen werden.“ (Schuchardt 1866: IX) 267 Unter ‚Umgangssprache‘ wird bereits bei Winkelmann relativ allgemein und undiffe‐ renziert der diasystematisch nicht weiter aufgeschlüsselte Substandard des Latein‐ ischen verstanden: „wie auch in vielen Theilen des römischen Sprachgebietes dialect‐ artige Verschiedenheit in der Umgangssprache obwaltete“ (Winkelmann 1833: 501); „dass die Umgangssprache der Römer einen eigenen, von dem höhern Style geschie‐ denen Charakter gehabt hat“ (ibid. 1833: 503); „Die römische Umgangssprache hatte gewiss noch viele Bestandtheile ähnlicher Art, von welchen die geläuterte Sprache der Schriftsteller uns nichts sagt“ (ibid. 1833: 498). Zur latinistischen Tradition der Verwen‐ dung des Terminus ‚Umgangssprache‘ sowie seiner dann weieteren Anwendung auf romanische Sprachen, wie z. B. bei Spitzer (1922): Italienische Umgangssprache, cf. Bar‐ bera (2009: 160-164). allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schrift‐ denkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begrün‐ dung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schrift‐ lichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866: IX-X) Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine einge‐ hende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht, 267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische For‐ schung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Spra‐ chen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Per‐ spektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben. Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wis‐ senschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zu‐ sammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen 167 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 268 Als Teilübersetzung Coseriu (1978). 269 An den frühen nicht-monographischen Arbeiten sei hier aus romanistischer Sicht vor allem der Beitrag von Meyer-Lübke (1888) in Gröbers Grundriss der Romanischen Phi‐ lologie erwähnt. 270 Entgegen dem Titel stellt die Arbeit von Reichenkron jedoch in weiten Teilen keine Grammatik im eigentlichen Sinne da, da das mehrbändig konzipierte Werk nur hin‐ sichtlich der angeführten Einleitung, dem 1. Teil, fertiggestellt wurde. verwiesen (cf. z. B. Reichenkron 1965: 1-4; Herman 2003; Kiesler 2006: 3-13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hof‐ mann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spa‐ nisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann / Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilen‐ steine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Int‐ roduction to Vulgar Latin; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferencia‐ ciones romances; 268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar; Löfstedt (1959), Late Latin; Väänänen ( 1 1963, 4 2002), Introduction au latin vulgaire; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins; Herman (1967), Le latin vulgaire. 269 Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateini‐ schen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus, Iliescu / Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Li‐ terarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgär‐ lateinische Alltagsdokumente, aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-alt‐ romanische Grammatik. 270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Über‐ gang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z. B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den roman‐ ischen Sprachen, Herman (1990), Du latin aux langues romanes, Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino, Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen, Herman (2006), Du latin aux langues romanes II , Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France, der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte. Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut pub‐ lizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammel‐ bände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins (latin vulgaire - latin 168 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 271 Cf. dazu die angeführten Artikel in Kap. 4 vorliegender Arbeit. tardif) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu / Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann / Kettemann (1999), Solin / Leiwo / Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli / Cuzzolin / Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik, des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics. 271 Durch die zunehmende Beschäftigung mit dem Sujet ‚Vulgärlatein‘ ergab sich auch eine Aufsplitterung des Begriffsinhaltes, so daß man sich heutzutage einer Vielzahl von Interpretationen gegenübersieht, was darunter genau zu verstehen sei. Auch wenn Kernelemente der Definition von Schuchardt bestehen bleiben, so ist die Frage, welcher Sprachzustand zu welcher Zeit damit bezeichnet werden soll, relativ umstritten, so daß sich hinter der Begriffsverwendung in einer ak‐ tuellen Publikation tendenziell immer zahlreiche Forschungsmeinungen ver‐ bergen können und der gemeinsame Nenner einer communis opinio sich denkbar klein ausnimmt, was nicht ganz unproblematisch im Sinne einer für alle prak‐ tikablen Begrifflichkeit ist. Es seien im Folgenden nun einige voneinander abweichende Positionen he‐ rausgegriffen, um diese Diskrepanz deutlich werden zu lassen: Das Vulgärlatein ist das gesprochene Latein. Es könnte auch Romanisch heißen. Die einzelnen rom. Sprachen sind nicht die Töchter des Vlt., sondern selbst Vlt., d. h. seine Spielart. Sie sind das Latein von heute. […] Vlt. hat es zu allen Zeiten gegeben. Auch ist das Vlt. nicht ohne weiteres als die Sprache der niederen Klassen anzusehen und das Schriftlatein nicht ohne weiteres als die Sprache der Gebildeten. Im täglichen Verkehr haben sich zweifellos auch die Gebil‐ deten nicht in kunstvollen Perioden ausgedrückt. Freilich mag die Sprache der Gebil‐ deten nicht ganz dieselbe gewesen sein wie die des niederen Volkes. Zwischen dem höchsten und kunstmäßigsten Latein und dem rohesten Vulgärlatein gab es eine Masse von Mittelstufen - wie es deren auch heute gibt. […] Der größte Teil der gesprochenen lat. Alltagsrede ist verhallt, für immer verhallt und verschollen. Man muß sich die Quellen für die Kenntnis des Vlt. erst mühsam zusam‐ mensuchen. (Voßler 1922: 48-49; Hervorhebungen im Original) Für Voßler ist ‚Vulgärlatein‘ demgemäß gleichzusetzen mit der gesprochenen Sprache, und zwar vor allem auch in konzeptioneller Hinsicht. Diese ist dabei zeitlich nicht limitiert bzw. an eine bestimmte Sprachstufe gebunden, also nicht etwa auf die spätlateinische Phase beschränkt, wie er eigens betont (cf. Voßler 169 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 272 Welche Arten des Lateins die anderen Schichten der römischen Bevölkerung gespro‐ chen haben, ist dabei jedoch nicht ganz klar ausdifferenziert. 1922: 49). Er sieht das Vulgärlateinische als diastratisch nicht strikt an eine Spre‐ cherschicht gebunden und betont das diaphasisch-diastratische Kontinuum. Mit der begrifflichen direkten Gleichsetzung von Vulgärlatein und Romanisch (cf. Zitat supra) ist implizit auch die diatopische Variation des Vulgärlateins postu‐ liert. Das konzeptionell und gesprochene Latein ist schließlich nur in Aus‐ nahmen in medial schriftlichen Kontexten zu finden, und zwar „aus dem einfa‐ chen Grunde, weil man sich in der Schrift immer oder meistens eines grammatisch und stilistisch gereinigten, eines mehr oder weniger klassischen Lateins bediente“ (Voßler 1922: 49). Ebenfalls den Aspekt der Mündlichkeit betont Battisti (1949) in seiner Defi‐ nition, grenzt die Epoche, in der das Vulgärlatein sich äußert, jedoch relativ deutlich ein: Intendiamo con questa voce non una fase dialettale, ma la lingua normalmente parlata nel mondo latino dalla maggioranza della classe media nei due ultimi secoli della re‐ pubblica e nell’impero […]. (Battisti 1949: 23) Battisti verankert demgemäß das Vulgärlatein zwischen ca. 200 v. Chr. (die letzten zwei Jahrhunderte der römischen Republik) und 476 n. Chr. (Ende des römischen Kaiserreiches im Westen). Auffallend ist weiterhin die eindeutige diastratische Verankerung des Vulgärlateins, welches er als Sprache der classe media, also der Mittelschicht festmacht. 272 Eine Definition mit einer anderen Schwerpunktsetzung findet sich bei Vää‐ nänen (2002), der auch eine deutlich divergierende zeitliche Eingrenzung vorn‐ immt: Le latin vulgaire au contraire, tel que nous le concevons, comprend les états successifs depuis la fixation du latin commun, à l’issue de la période archaïque, jusqu’à la veille des premières consignations par écrit de textes en langue romane; il n’exclut ni les variations sociales, ni même régionales. (Väänänen 2002: 6) Wichtig in dieser Bestimmung des Vulgärlateins ist zum einen die Betonung der Variationsbreite, und zwar wie schon bei Voßler nicht nur in Bezug auf die Di‐ astratik, sondern auch hinsichtlich der Diatopik, und zum anderen die chrono‐ logische Verortung. Der Beginn des Vulgärlateins hängt mit der sich etablier‐ enden Schriftsprache bzw. deren Kodifizierung zusammen, so daß man Väänänen hier so interpretieren kann, daß dies mit der ersten literarischen Pro‐ duktion ab 240 v. Chr. zusammenfällt (cf. Kap. 4). Das Ende setzt er mit dem 170 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 273 Dabei wird nicht berücksichtigt, daß die romanischen Sprachen sich im Mündlichen bereits zuvor konstituiert haben müssen, eine protoromanische Übergangsphase wird hierbei ausgeblendet. Aufkommen der ersten romanischen Texte gleich, so daß dies ins 9. Jh. zu da‐ tieren wäre (cf. Straßburger Eide 842). Dies ist - wie im weiteren noch zu sehen sein wird - eine chronologisch sehr weite Fassung der Epoche, in welcher das Vulgärlatein greifbar ist, insbesondere hinsichtlich des zeitlichen End‐ punktes. 273 Eine etwas anders gelagerte Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen sei, bietet Herman (1967), dessen Kerndefinition folgendermaßen lautet: Compte tenu de ces considérations, nous appelons latin vulgaire la langue parlée des couches peu influencées ou non influencées par l’enseignement scolaire et par les modèles littéraires. (Herman 1967: 16; Hervorhebungen im Original) Dies wird ergänzt durch drei weitere Spezifizierungen, deren grundlegende Aussagen die folgenden sind: Notre définition ne comporte aucune limitation chronologique. En effet, le latin vulg‐ aire étant la langue parlée des gens peu influencées par la tradition littéraire, on est en droit de parler de latin vulgaire à partir du moment où une tradition littéraire existe, c’est-à dire au moins depuis le dernier siècle de la République. […] Quant au point chronologique final, il coïncide nécessairement avec l’extinction du latin, langue vi‐ vante […]. Le latin vulgaire étant, par définition, une des variantes parlées du latin, il est en prin‐ cipe impossible de parler de texte vulgaire […]. Il doit être entendu d’emblée que le latin vulgaire était constitué d’un ensemble de faits complexes et mouvants: le latin vulgaire évoluait dans le temps et l’usage vulgaire du 1 er siècle de notre ère différait très certainement de celui du V e ; il y avait dans la latinité vulgaire des variations locales; […] enfin le latin vulgaire comportait lui-même, sans doute, divers „styles“, divers argots de métiers […]. (Herman 1967: 16-17; Her‐ vorhebungen im Original) Hierbei wird von Herman vor allem der Aspekt der gesprochenen Sprache be‐ tont und gerade in Punkt 2 der Ergänzungen verweist er nochmal darauf, daß es sich dabei nicht nur um einen konzeptionellen Aspekt handelt, sondern auch um einen medialen (cf. supra: „impossible de parler de textes (sic! ) vulgaires“). Ein gewisser Widerspruch besteht in der relativ eindeutigen Verankerung des Vulgärlateins in diastratischer Hinsicht (cf. couches peu influencées) und der an‐ dererseits allgemein postulierten diasystematischen Vielfalt, die diaphasische 171 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 274 Allein ein Blick auf die bei Kiesler (2006: 12-13) zusammengetragenen gängigen Modelle zur Entwicklung des Lateinischen (Vulgärlateinischen) zum Romanischen zeigt die Un‐ einigkeit in der Forschung. 275 Dies hat beispielsweise bereits Lausberg eindeutig beantwortet: „Das Vulgärlatein war nun aber keine einheitliche Sprache: weder in sozialer noch in chronologischer noch in geographischer Hinsicht. Daß die Umgangssprache, wie im übrigen auch die Schrift‐ sprache, seit der Zeit des Plautus bis zum Ausgang des Altertums Wandlungen unter‐ worfen war, steht fest“ (Lausberg 1963: 67-68, § 34). Variation umfaßt (cf. divers „styles“), aber auch diatopische (cf. des variations locales) sowie gruppenspezifische diastratische (cf. divers argots de métiers). Der zeitliche Rahmen innerhalb dessen man laut Herman von Vulgärlatein sprechen könne, erstreckt sich für ihn vom 1. Jh. n. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. Die chrono‐ logische Verortung ist hierbei also deutlich enger gesteckt als bei Voßler oder Väänänen, insofern er den Beginn mit den Inschriften von Pompeij und dem Werk Petrons ansetzt, was gleichzeitig in die Zeit der Kodifizierung des Klassi‐ schen Lateins im engsten Sinne fällt bzw. bereits in die Spätzeit dieser Periode. Das Ende wiederum bleibt definitorisch vage, insofern er diese Zeitspanne zu‐ nächst durch „l’extinction du latin, langue vivante“ (Herman 1967: 16) umreißt, dann aber etwas konkreter ins 5. Jh. verlegt, und damit in die Zeit des Untergangs des Imperium Romanum (476 n. Chr.). Ein neues und wichtiges Element bei Herman ist das Hervorheben der Entwicklung des Vulgärlateins und seine Ver‐ änderlichkeit im Laufe der Jahrhunderte. Coseriu (1954, 1978, 2008) wiederum folgt zwar Herman hinsichtlich der di‐ asystematischen Vielfalt des Lateins, geht aber bezüglich der Terminologie und der Chronologie eigene Wege. Dabei resümiert er zunächst systematisch die „klassischen“ Probleme in der Bestimmung des Vulgärlateins, die wie folgt syn‐ thetisiert werden können: 1. Wie ist das Verhältnis zwischen Vulgärlatein und dem klassischen Latein bzw. dem Gesamtlatein? a. Ist das Vulgärlatein eine eigene, vom klassischen Latein abzugren‐ zende Sprache? b. Wenn es keine eigene Sprache ist, wie war dann das Verhältnis dieser spezifischen Form des Lateins zum Gesamtlatein? 2. Welcher Epoche ist das Vulgärlatein zuzurechnen bzw. ist es zeitlich überhaupt begrenzt? 274 3. Welcher Art ist die Charakteristik des Vulgärlateins - war es eine eher homogene oder eine heterogene Sprache? 275 4. Wie ist die Forschungsdiskrepanz zwischen Latinisten und Romanisten zu bewerten? 172 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 276 Cf. dazu beispielsweise auch Tagliavini (1959: 166): „Prima di tutto si deve osservare che il nome di ‚Latino volgare‘, ormai comunemente adottato da linguisti e da filologi e che, come si è visto […], ha le sue origine nell’espressione sermo vulgaris, si può prestare a qualche equivoco.“ 277 Dies kann heutzutage doch als communis opinio angesehen werden, zumindest aus Per‐ spektive der Romanistik: „Wesentlich für die Kennzeichnung der lateinischen Basis der romanischen Idiome ist andererseits aber auch, dass gesprochenes ‚Vulgärlatein‘ und geschriebenes ‚klassisches Latein‘ als zwei Aspekte ein und derselben Sprache neben den Divergenzen auch zahlreiche ‚gemeinlateinische‘ Übereinstimmungen zeigen, so dass die Grundlage des Romanischen teilweise durchaus auch dem ‚klassischen‘ Schrift‐ latein entspricht“ (Stefenelli 2003: 530). 278 Zur Kritik an einer ausufernden Rekonstruktionspraxis, in der es wie in der Indoger‐ manistik dann nur noch (bzw. überwiegend) mit Asterisk gekennzeichnete Formen gibt, cf. Silva Neto (1957: 11-12). Die Unmöglichkeit, aus den schriftlichen Textzeugnisse der lateinischen Antike die da‐ malige Aussprache wirklich erschließen zu können einerseits, sowie andererseits das „Sammelsurium“ aus den spärlichen Eigenzeugnissen der römischen Schriftsteller im Sinne von explizit mit vulgo gekennzeichneten Ausdrücken und aus auf der Basis der romanischen Sprachen rekonstruierten Wörtern, veranlassen Sittl (1892: 226-228) zu einem vernichtendem Verdikt: „Das Vulgärlatein, mit welchem die Latinisten operieren, ist ein Phantasiegebilde“ (ibid. 1892: 226, im Original in Sperrdruck). a. Das Vulgärlatein besteht auch aus anderen Formen, die nicht im engen, latinistischen Sinne als ‚vulgär‘ zu charakterisieren sind. 276 b. Es gibt auch Formen im Vulgärlatein, die mit denen des klassischen Lateins übereinstimmen bzw. bei denen es keine Notwendigkeit der Differenzierung gibt. 277 c. Es gibt auch Formen, die man dem Vulgärlatein zurechnet, die nicht in Texten überliefert sind, die man aber aus den romanischen Spra‐ chen rekonstruieren kann. 278 Innerhalb dieser von Coseriu (2008: 108-110) aufgeworfenen Problemstellungen sind einige, die sich in der heutigen Forschung überholt haben bzw. marginali‐ siert sind (z. B. Problem der Konnotation von ‚vulgär‘), andere hingegen bleiben weiterhin virulent (z. B. Frage nach dem Verhältnis Vulgärlatein vs. Gesamtla‐ tein und die zeitl. Verortung). Coseriu verweist außerdem auf das Problem der Protosprache und der Rekonstruktion, denn für die Romanistik wird das Vul‐ gärlatein als Vorläufer (Ursprache) der einzelnen romanischen Sprachen ge‐ sehen und analog zur Tradition der Indogermanistik arbeitet man auch hier mit rekonstruierten Einzelformen (neben den zahlreichen belegten). Er löst dieses und die oben angeführten Probleme schließlich in streng strukturalistischer Manier und postuliert das Vulgärlatein und das klassische Latein als zwei ge‐ trennte, „funktionelle Sprachen“ (Coseriu 2008: 111), die innerhalb des Systems einer historischen Sprache existieren. Weiterhin versucht er dabei, latinistische 173 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 279 Geckeler / Dietrich (2007: 161) haben basierend auf Coseriu (1978) seine Perioden des Lateinischen in einer Graphik dargestellt, die bei Coseriu (2008: 127) wiederaufgegriffen wurde. 280 Die Kritik Kieslers (2006: 13) bezüglich der zu engen chronologischen Grenzen weist Bertsch im Fußnotenapparat von Coseriu (2008: 127, FN 61) zurück und wirft ihm vor, Coseriu verkannt zu haben. Dies mag insofern stimmen, als man diesbezüglich Coseriu hier nicht wörtlich nehmen darf und er durchaus das „Vulgärlateinische“ auch in an‐ deren Epochen erkennt, aber allein durch die terminologische Umbesetzung und die damit verbundene Neuordnung der diachronen Phasen des Lateins ist die Kritik an dem Modell nicht ganz von der Hand zu weisen. 281 Diese Zeitspanne findet sich beispielsweise auch bei Reichenkron (1965: 77). und romanistische Positionen zu verschmelzen und entwickelt eine Chrono‐ logie, in der er das Gesamtlatein in fünf Perioden einteilt und jeweils der Ent‐ wicklung des Schriftlateins diejenige des mündlichen Sprachgebrauchs gegen‐ überstellt: Archaisches Latein vs. Latein ohne feste Norm, Literarisches Latein vs. Lateinische Umgangssprache, Klassisches Latein vs. Vulgärlatein, Spätlatein vs. Vorromanische Phase, Mittelalterliches Latein vs. Romanische Sprachen (cf. Co‐ seriu 2008: 127). 279 Dabei stellt er apodiktisch fest: „Es gab kein Vulgärlatein als solches vor der Existenz des klassischen Lateins“ (Coseriu 2008: 119). Anderer‐ seits wird in seinen Ausführungen doch deutlich, daß es vulgärlateinische Ele‐ mente auch in anderen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte gab - er benennt sie eben nur nicht so. Er versteht damit das Vulgärlatein dann doch vorwiegend aus romanistischer Sicht als Protoform der romanischen Sprachen und setzt den zugehörigen Zeitraum zwischen 100 n. Chr. - 400 n. Chr. an, bei gleichzeitiger - nicht gängiger - Verortung des klassischen Lateins in eben dieser Epoche. 280 Mit der Umgangssprache quasi als Vorläufer des Vulgärlateins in älterer Zeit zollt er offenbar der latinistischen Tradition Tribut, engt aber auch diesen Begriff damit deutlich ein. Coseriu erliegt hier womöglich einer Über‐ systematisierung, auch in Bezug auf die Chronologie, die er zuvor noch groß‐ zügiger handhabte und die Hauptperiode der vulgärlateinischen Elemente in die Zeit zwischen 200 v. Chr. - 600 n. Chr. verortet (cf. Coseriu 1978: 268). 281 Die inhaltliche Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, bleibt in der Forschung umstritten, manchmal nur in Bezug auf bestimmte De‐ tails, mitunter geht es aber auch um grundsätzliche Vorstellungen, die vonei‐ nander abweichen. Bereits 1937 konstatiert Furman Sas leicht resigniert, ange‐ sichts der von ihm gezählten 19 existierenden Begriffe in der damaligen Forschung, um „non classical language spoken or written“ zu charakterisieren, daß zwar ‚Vulgärlatein‘ nicht einheitlich verwendet werde, weitere terminolo‐ 174 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 282 „The lack of agreement concerning the exact meaning of the term has caused many writers to abandon it for others, thus increasing the confusion in terminology. We have counted over nineteen terms used to describe a non-classical language spoken or written between 200 B. C. (Plautus) and 800 A. D. (Charlemagne). There are ,sermo ple‐ beius‘, ,cotidianus‘, etc., ,latin populaire‘, ,vulgaris sermo‘, ,sermo semi-la‐ tinus‘, ,gallo-roman‘, etc.“ (Furman Sas 1937: 491). Partiell zitiert bei Reichenkron (1965: 5) und bei Kiesler (2006: 8) nurmehr reduziert auf die Erwähnung der 19 Defini‐ tionen (mit alleiniger Referenz Reichenkron), dabei ignorierend, daß es auch um andere Begrifflichkeiten geht. 283 Er verortet dabei das klassische Latein zeitlich und diasystematisch wie folgt: „Es liegt zeitlich zwischen dem Ende der Republik und der frühen Kaiserzeit. Es ist aber nicht die Sprache aller Römer, sondern synstratisch betrachtet ist es die Sprache der Ober‐ schichten, der honestiores, wie man seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. sagte, der Geho‐ benen, zu denen der Stand der Senatoren, der Ritter und der Dekurionen - das sind die Senatoren von Munizipien und Kolonien - gehörte […]“ (Lüdtke 2019: 442). gische Neuschöpfungen jedoch nur zur weiterer Verwirrung beitragen (Furman Sas 1937: 491). 282 An dieser Lage hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert, außer daß - horribile dictu - noch einige Definitionen mehr hinzugekommen sind. Möglichst vielen Einzelbestimmungen Spielraum einräumend, versucht Ste‐ fenelli (2003) eine definitorische Annährung an die Kernelemente, auf die man sich heute vielleicht - zumindest in der Romanistik - verständigen kann: Angesichts der diasystematischen und diachronischen Vielschichtigkeit bzw. Varia‐ tion des Sprechlateins versteht sich ‚Vulgärlatein‘ hierbei heute in der Regel als kom‐ plexer Sammelbegriff für verschiedene v. a. diastratische (soziokulturell), diatopisch (geographisch) und diachronisch differenzierte Varietäten der mündlich konzipierten Spontansprache (Stefenelli 2003: 530) Diese Umschreibung klammert freilich fast alle wichtigen Streitfragen aus und ist daher eher als ein kleinster gemeinsamer Nenner inhaltlicher Bestimmung zu begreifen. Lüdtke (2019) definiert Vulgärlatein vor allem als Abweichung vom klassi‐ schen Latein, das er wie folgt definiert: Das klassische Latein ist innerhalb der historischen Sprache Lateinisch eine geschrie‐ bene und gesprochene urbane Sprache. Wenn nun wenig Schreibgeübte und wenig Gebildete aus anderen Schichten als der Oberschicht in Rom und in romfernen Re‐ gionen des Imperiums schreiben, gelten die Abweichungen von der urbanen Tradition als Vulgärlatein. (Lüdtke 2019: 442) 283 Dabei weist er zusätzlich daraufhin, daß auch die nicht urbanen Varietäten von weniger gebildeten Personen wie Soldaten geschrieben wurden, so daß eine 175 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 284 Leumann / Hofmann (1928: 10) unterscheiden in ihrer Grammatik nochmal zwischen ‚Umgangssprache‘ als „lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ und ‚Vulgär‐ sprache‘ als „Sprache der unteren, aus der Zucht der Schule und den Vorbildern der Literatur längst entwöhnten oder von ihnen doch denkbar wenig beeinflußten Schichten.“ Hofmann (1951: IX) definiert hingegen ‚Vulgärlatein‘ - mit dem er sich nicht näher befassen will - als „Affektsprache niedrigen Stils, in der lateinischen Umgangs‐ sprache“ und kritisiert Winckelmann, der in seinem Aufsatz Über die Umgangssprache der Römer die ‚Umgangssprache‘ noch mit dem ‚Vulgärlatein‘ gleichgesetzt habe (cf. schlichte Dichotomie, in der das klassische Latein mit Schriftlichkeit und Vul‐ gärlatein mit Mündlichkeit gleichgesetzt wird, nicht greift (cf. Lüdtke 2019: 442-443). Selbst wenn man nun inhaltliche Differenzen und Nuancen großzügig bei‐ seite läßt und sich auf wenige konstituierende Aspekte konzentriert, bleibt die Frage der adäquaten Bezeichnung für diese Art des Lateins ebenfalls im Raume stehen. Durchforstet man die einschlägige Forschungsliteratur, so begegnet einem als roter Faden ein nicht enden wollendes Lamento über den Begriff ‚Vulgärlatein‘, der gleichsam gottgegeben wie unausrottbar scheint und mene‐ tekelhaft von weiterem terminologischen Unglück kündet oder die Wissen‐ schaft zu beeinträchtigen scheint, wie die wenigen Exzerpte deutlich machen: The present use of the term „Vulgar Latin“ is so vague that we find it used now to refer to the language of Plautus, now to the language of the royal charts of the 8th century, now to the language of Gregory of Tours, now to a theoretically constructed language which exists only in the minds of certain scholars. (Furman Sas 1937: 491) Il termine latino volgare, è ormai così radicato nei nostri studi, da non poter essere estirpato, quindi lo subiamo, prendendo nota della sua inadeguatezza ed imprecisione. (Battisti 1949: 23) N-o foi fácil problema estabelecer, rigorosamente, o conceito de latim vulgar. Durante muito tempo lavrou imensa confus-o, em prejuízo dos métodos e do progreso da Ro‐ manística. (Silva Neto 1957: 11) Sanctionné par un usage centenaire pour désigner les divers faits latins qui ne s’ac‐ cordent pas avec les norms classiques, le terme de latin vulgaire a les avantages et les inconvénients d’un terme consacré. (Väänänen 2002: 3) Couramment employée, en philologie latine et en linguistique romane, l’expression „latin vulgaire“ n’en constitue pas moins un des termes techniques les plus discutés de nos disciplines. (Herman 1967: 9) Den vorgeschlagenen Alternativen bzw. korrespondierenden Ausdrücken wie ‚lateinische Umgangssprache‘, 284 ‚Sprechlatein‘ (frz. latin parlée, it. latino par‐ 176 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt Hofmann 1951: V, FN 1). Die sogenannte ‚Umgangssprache‘ bleibt also in dieser An‐ wendung diffus, da weder die diastratische und diaphasische Verortung klar differen‐ ziert ist, noch die Relation ‚Umgangssprache‘ vs. ‚Vulgärsprache‘ eindeutig scheint. Die Grenzen bleiben aber in der Forschung auch weiterhin fließend; cf. die aktuellen latinistischen Darstellung bei Kramer (1997) oder Willms (2013) (dazu auch Kap. 4) und cf. Coseriu (2008) supra, der ‚Umgangssprache‘ auf eine sehr begrenzte Epoche anwendet. 285 Zur Verwendung von ,Spontanlatein‘ cf. Lüdtke (1978: 389), zu ‚Sprechlatein‘ cf. Ber‐ schin / Felixberger / Goebl (2008: 58-65). 286 Der Begriff latin commun ist äußerst ambig, da er wie bei Väänänen (2002: 6) im Sinne des vorklassischen Lateins, welches noch keine Kodifizierung erfahren hat und wohl diasystematisch kaum ausdifferenziert wäre, verwendet wird, weiterhin wie bei Iliescu (2013: 67) im Sinne des gesamten Lateins bzw. des Lateins tout court und schließlich wie bei Walter (1994: 115), für die latin commun weitestgehend latin vulgaire entspricht. Bei Tagliavini (1959: 166) wird latino volgare mit latino parlato, latino comune und koiné latina gleichgesetzt, Begriffe, die eigentlich en detail je etwas anderes bezeichnen. 287 Die Schöpfung des Begriffs ‚bürgerliches Latein‘ begründet Durante mit der diastratisch breit gefächerten Verankerung des Vulgärlateins in der römischen Bevölkerung: „Ep‐ pure il latino cosidetto volgare non è un prodotto d’incultura, né può considerarsi propriamente un latino popolare. Si obietterà che contadini, schiavi e gladiatori avranno parlato pressapoco nello stesso modo. […] In una società in cui l’aristocrazia è estro‐ messa dal potere e la sua cultura si isterilisce, il ceto emergente è format da coloro che svolgono un ruolo importante nel contest sociale: da uomini d’affari come Trimalcione, da militari, medici, veterinari, agrimensori, ecclesiastici, di cui pure abbiamo testimo‐ nianze volgari. Chi accetti queste considerazioni converrà che l’etichetta più appro‐ priate di questo latino volgare è quella di latino borghese“ (Durante 1994: 70-71, Her‐ vorhebungen R. S.). 288 Zu ,Volkslatein‘ cf. supra Diez (1870: 4). Bezüglich des Terminus̕ ‚Plattlatein‘ cf. Pott (1852: 385), der diesen Begriff jedoch nur in seinem Titel verwendet; ‚Hochlatein‘ als begriffliches Pendant hingegen überhaupt nicht, anders als bei Kiesler (2006: 7) sugge‐ riert. Meyer-Lübke (1888: 355 bzw. ²1904-1906: 456) setzt beispielsweise das ‚Hochlatein‘ dem ‚Schriftlatein‘ gleich und sieht dieses in Opposition zu ‚Vulgärlatein‘, verwendet jedoch unkommentiert beiläufig ebenfalls den Begriff ‚Plattlatein‘ (1888: 375). Zur Ein‐ ordnung dieser Termini in die frühe romanistische Forschung cf. Selig (2007). Weitere Termini wären die bei Väänänen (2002: 3) aufgeführten latin populaire, latin familier, latin de tous les jours, roman commun, protoroman, wobei genau diese Begriffs‐ reihung sich auch bei Reutner (2014: 202) wiederfindet - leider ohne Belegangabe - sowie die supra bei Furman Sas (1937: 491) angegeben Prägungen, die bereits in der antiken Literatur belegt sind (z. B. sermo plebeius). lato), Spontanlatein, 285 latin commun (it. latino comune) 286 oder latino borghese  287 haftet allerdings nicht selten eine ähnliche Problematik an - geschweige denn den heutzutage nicht mehr gebräuchlichen wie ‚Volkslatein‘ oder ‚Plattlatein‘, 288 so daß man nolens volens wieder zum ungeliebten ‚Vulgärlatein‘ zurückzufinden scheint und sich dabei tendenziell terminologisch möglichst wenig festlegt, um 177 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 289 Cf. dazu z. B. die relativ „weite“ Definition von Stefenelli (2003) supra oder auch Reutner / Schwarze (2011: 2), die folgende stark vereinfachte Bestimmung geben: „Vul‐ gärlatein ist daher am besten negativ zu definieren und als Bezeichnung für alles zu verstehen, das nicht der Norm konzeptioneller Schriftlichkeit entspricht.“ Und ebenfalls reduktionistisch, aber eher im Verständnis einer Protosprache, ist folgende simple De‐ finition bei Kabatek (2009: 243): „Es liegt nahe anzunehmen, dass diejenigen Elemente, die sich in allen romanischen Sprachen finden, nicht aber im klassischen Latein vor‐ handen waren, auf die gemeinsame Grundlage, also das Vulgärlatein, zurückgehen.“ nicht immer über die oben aufgeführten Grundsatzfragestellungen zu stol‐ pern. 289 Dies führt schließlich dazu, daß auch in der aktuellen Forschung einerseits die Klage nach dem vertrauten, aber scheinbar unpassenden Begriff nicht auf‐ hört, man sich aber auch nicht durchringen kann ihn abzuschaffen: Obwohl es sich um einen nicht sehr glücklich gewählten Ausdruck handelt, ist der Terminus Vulgärlatein in der Romanistik stark verankert. Es scheint den Romanisten bis heute schwer zu fallen, sich von ihm zu trennen und sich für die Bezeichnung gesprochenes Latein zu entscheiden. (Pirazzini 2013: 13-14) Dies fällt natürlich u. a. deshalb so schwer, weil ‚gesprochenes Latein‘ eben nicht exakt das Gleiche beschreibt, was der ein oder andere Linguist mit ‚Vulgärlatein‘ ausdrücken möchte. Wenig glücklich erscheint auch eine Gliederung des Lateins, in der versucht wird, partieller Gradation zwischen literarischem Latein und Vulgärlatein zu etablieren, wie es in einer aktuellen Studie Nedeljković (2015) auf Basis von Banniard (1992) und Chahoud (2010) referiert: En résumé, ces considérations aboutissent à deux dichotomies indépendantes, l’une concernant les registres plus ou moins formels, l’autre le sociolecte haut ou bas. Leur croisement donne naissance à trois - et non pas quatre - variété linguistiques : 1° le „haut formel “, qui est le latin littéraire, 2° le „haut informel “, qui est le latin familier, et 3° le latin vulgaire, qui a l’air informel, puisqu’il ressemble bien plus au familier qu’au littéraire, mais qui, à proprement parler, n’est point susceptible de gradation sur l’axe de formalité. (Nedeljković 2015: 4) Die Verschränkung von diaphasischer und diastratischer Ebene sowie die Nicht‐ beachtung der Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit läßt diese Unterteilung wenig systematisch erscheinen. Eine ergänzende, chronologische Unterteilung seitens Chahouds, die das Vulgärlatein als rein postaugusteisches Phänomen charakterisiert und dabei negativ bewertet, läßt die komplette Sys‐ tematik als „absurd“ erscheinen, wie Nedeljković (2015: 5) zurecht anmerkt, ohne jedoch selbst eine adäquate Alternative anzubieten. 178 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 290 So spielt beispielsweise bei Steinbauer (2003), Seidl (2003) oder Poccetti / Poli / Santini (2005) das Konzept ‚Vulgärlatein‘ keine entscheidende Rolle in ihren Darstellungen zur lateinischen Sprachgeschichte. 291 Eine gewisse Berechtigung den Begriff ‚Vulgärlatein‘ nicht komplett ad acta zu legen, sondern ihn genau in diesem Sinne als Protovarietät der romanischen Sprachen zu bewahren sehen auch Berschin / Felixberger / Goebl (2008: 59): „Theoretisch gesehen versteht man unter ‚Vulgärlatein‘ eine Varietät des lateinischen Sprachsystems, die zur genetischen Erklärung der romanischen Nachfolgesysteme notwendig ist.“ In diesem Sinne implizit auch so verwendet beispielsweise bei Kaiser (2014). Eine Möglichkeit, die zumindest implizit in einigen anderen, neueren Publi‐ kationen zum Latein und seiner Geschichte anklingt, 290 aber nie wirklich dezi‐ diert verfolgt wurde, wäre eine Aufsplittung der Begriffe für eine rein diachrone romanistische Forschung einerseits und eine synchrone-diachrone Forschung zum Latein andererseits, ohne dabei die alte Sezession in latinistische und ro‐ manistische Tradition wiederaufleben zu lassen. In diesem Sinne sei hier auch im Interesse der vorliegenden Arbeit eine De‐ finition des Vulgärlateins versucht, die ausschließlich als terminologisches Kon‐ strukt zur Erfassung der Ursprache bzw. Protosprache der einzelnen roman‐ ischen Idiome heranzuziehen wäre - mit inhaltlich weitgehendem Bezug auf Voßler (1922) und unter Berücksichtigung weitere wichtiger Aspekte, wie sie u. a. bei Herman (1967) oder Coseriu (2008) zur Geltung kommen: 291 Vulgärlatein ist das gesprochene Latein der Antike, welches für uns nicht in einem homogenen Korpus von Texten erschließbar ist, sondern nur in Reflexen einzelner, vorwiegend substandardlich markierter Merkmale und Phänomene des geschriebenen Lateins aller Epochen, von den ersten Schrift‐ zeugnissen des Lateinischen bis zum Beginn romanischer Schriftlichkeit, wobei die vulgärlateinischen Elemente tendenziell in einer späteren Phase zunehmen, natürlich in Abhängigkeit von der Textsorte. Aufgrund der Kon‐ vergenzen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, die beide innerhalb des gleichen Diasystems verortet sind, ist das gut dokumen‐ tierte und als Referenzgröße am besten greifbare, sogenannte Klassische La‐ tein in Bezug auf zahlreiche Merkmale aller sprachlichen Ebenen überein‐ stimmend mit dem Vulgärlateinischen, so daß letzteres vor allem durch seine Abweichungen von der normierten Sprache faßbar wird, alle weiteren Er‐ scheinungen der Mündlichkeit sind zu rekonstruieren. Der Terminus ‚Vulgärlatein‘ könnte deshalb prinzipiell durch den Begriff ‚Sprechlatein‘ ersetzt werden, doch ist ersterer zu bevorzugen, und zwar nicht nur ob seiner langen Tradition in der Wissenschaft, sondern weil dadurch 179 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 292 Eine Vermischung beider Konzepte, also einer diassystematischen Beschreibung des Lateins, in der das Vulgärlatein in verschiedenster Form, mit dann auch eben je unter‐ schiedlichen Inhalten, vermengt wird, führt meist zu einer latenten oder offenen Dis‐ paratheit in der Darstellung und dient nicht wirklich einer möglichst klaren Beschrei‐ bung sprachlicher Realitäten wie bei Herman (1996) oder Müller-Lancé (2006) zu beobachten ist. Letzterer beschreibt das Latein zwar vorrangig auf rein diasystemati‐ scher Ebene, versucht dann inkonsequenterweise in einem kurzen Ergänzungskapitel die zuvor durchgehaltene Systematik mit dem Konzept des Vulgärlateins zu harmoni‐ sieren, was eigentlich nicht wirklich glücken kann. auch das Problem der Faßbarkeit und Überlieferung deutlicher zum Ausdruck kommt und ‚Sprechlatein‘ oder ‚gesprochenes Latein‘ für die abstrakte diasystematische bzw. diamediale Betrachtung reserviert werden kann. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt das Konstrukt ‚Vulgärlatein‘ eine ange‐ messene Funktion, indem es hilft die zentrale Fragestellung der diachronen ro‐ manistischen Forschung zu beantworten, nämlich die nach dem Ursprung der einzelnen romanischen Varietäten und Sprachen. Eine in einem romanischen Idiom auftretenden erbwörtliche Form kann somit kategorisch auf eine vulgär‐ lateinische Basis zurückgeführt werden; diese kann mit einer klassisch latein‐ ischen Form korrespondieren oder auch nicht, kann in einem antiken oder früh‐ mittelalterlichen Text belegt sein - aus welcher Epoche auch immer - oder aber rekonstruiert werden. Für eine synchrone Betrachtung des Lateins der Antike hingegen aus Per‐ spektive der Latinistik, wie sie in Kap. 4 vorliegender Arbeit vorgenommen wurde, bei der eben nicht die Weiterentwicklung zu den romanischen Sprachen im Vordergrund steht, sondern die Erfassung der diasystematischen Schichtung des Lateins - natürlich auch in Bezug auf seine Entwicklung innerhalb dieses als synchron gesetzten Zeitrahmens -, ist der Begriff des Vulgärlateins hingegen wenig dienlich. In diesem Kontext erscheint es vielmehr adäquat, darauf zu ver‐ zichten und stattdessen mit den Termini der Varietätenlinguistik zu operieren (diatopische, diastratische, diaphasische Varietäten des Lateins), um die Archi‐ tektur der Sprache zu erfassen. Dies erscheint umso wichtiger, als damit auch deutlich wird, daß das Latein als einst lebende Sprache die gleiche diasystema‐ tische Variationsbreite aufweist wie eine moderne Sprache und keineswegs von zwei Systemen, einem vulgärlateinischen und einem des klassischen Lateins auszugehen ist, wie einst suggeriert wurde (zu dieser reductio ad unum bzgl. des Urromanischen bzw. Protoromanischen cf. Vàrvaro 1977: 149). 292 Si deve insomma considerare la lingua di Roma e dell’Impero come un vero e proprio diasistema contenente varietà diatopiche (geografiche ed areali), diastratiche (sociali) 180 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 293 Cf. dazu auch die Graphiken (dimensione verticale, dimensione orizzontale) zur dem sich verändernden Varietätengefüge - aufgrund der genannten Faktoren - im Laufe der Geschichte des Lateins bei Castellani (2000: 6). e diafasiche (attinenti ai diversi registri espressivi e di stile) oltre che ovviamente diamesiche (legate all’uso di mezzi espressivi diversi: in sostanza scritto ~ parlato) e non ultimo diachroniche o relative alla variabilità lungo l’asse temporale: in altre pa‐ role, un insieme (relativeamente) ordinato nel quale stratificazione, varietà e variabi‐ lità debbono necessariamente adeguarsi ai principi naturali ed universali che le de‐ terminano. (Zamboni 2000: 71-72) Der Übergang vom Lateinischen ins Romanische bzw. die einzelen sich ausdif‐ ferenzierenden romanischen Sprachen ist demgemäß ein schrittweiser Prozeß, währenddessen ein komplexes heterogenes Sprachsystem, nämlich das des La‐ teinischen, sich durch die verschiedensten Einflußfaktoren verändert (interne Sprachwandelprozesse, Sprachkontakte, Migrationen, Veränderung des Sprach‐ raumes und der Sprechergemeinschaften) 293 und neue Relationen zu den sich nach und nach abspalteten Teilsysteme aufbaut (Kontinuität und Diskontinu‐ ität), so daß am Ende eine Diglossie-Situation mit einem idealisierten mittelal‐ terlichen Latein der Scholastiker bzw. später der Humanisten und den roman‐ ischen Sprachen mit sich vom Schriftlatein emanzipierenden Literatursprachen steht (cf. Zamboni 2000: 80-81). Für vorliegende Arbeit wirft diese Synopse der neueren vulgärlateinischen Begriffsgeschichte, die eng an die Entstehung der Sprachwissenschaft gebunden ist und in der die terminologische Variationsbreite sowie das Ringen um eine adäquate Beschreibung des Lateins, aber vor allem der romanischen Ur- und Protosprache deutlich wird, die Frage auf, inwiefern diese Annährungsversuche an die sprachliche Realität sich von denen der frühneuzeitlichen Betrachtungen unterscheiden. Dies kann im Kern bereits a priori damit beantwortet werden, daß die neuere Forschung von einer dezidiert linguistischen Sichtweise geprägt ist, während die humanistischen Untersuchungen meist andere Zielsetzungen haben und die Sprachbetrachtung zu diesem Thema oft nur als ancilla einer anderen Debatte fungiert; zudem sich diese Diskussionen hinsichtlich der Lin‐ guistik in einem vorwissenschaftlichen Raum abspielen. Es bleibt dennoch zu klären, inwieweit einzelne Grundgedanken dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, in dieser Vorphase der Sprachwissenschaftsgeschichte bereits zu Tage treten bzw. nach und nach Gestalt annehmen, sich verfestigen und welche Aspekte tatsächlich erst mit der Etablierung einer Forschung in der Tradition von Diez und Schuchardt erschließbar werden. 181 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen der Antike in der Frühen Neuzeit 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Die vorliegende Untersuchung zur Entstehung eines grundsätzlichen Verständ‐ nisses über die Sprachsituation der römischen Antike, d. h. die Überwindung der mittelalterlichen Vorstellung (cf. Kap. 6.1.5) von der statischen und überzeitlich gültigen Distribution der Sprachen sowie der Invariabilität von Sprachen an sich bzw. des Lateins insbesondere, ist eng verzahnt mit der in Italien über mehrere Jahrhunderte geführten Debatte zur Frage nach der adäquaten (Literatur-) Sprache, der sogenannten questione della lingua. Diese Sprachenfrage zeitigte verschiedene Aspekte, die je nach Epoche unterschiedlich virulent waren. Welche Teildebatten nun genau zur questione zu rechnen sind und über welchen Zeitraum sich diese letztendlich erstreckte, ist Bestandteil umfangreicher sprachwissenschaftlicher Forschungsdiskussion. Im Folgenden soll es jedoch nicht um die hinlänglich in allen Facetten untersuchte questione im eigentlichen Sinne gehen, sondern allein darum, die hier im Fokus stehende Fragestellung in den Rahmen des allgemeinen geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit und dieser weitgefächerten Gelehrtendiskussion in einzuordnen. 6.1.1 Die questione vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus Bevor nun einige Aspekte der italienspezifischen Sprachenfrage (it. questione della lingua) erläutert werden, um die vorliegende Fragestellung adäquat zu verorten, sei zunächst der allgemeine geistesgeschichtliche Hintergrund des hier untersuchten Zeitraumes abgesteckt. Zentrale Begriffe, die in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle spielen, um das intellektuelle Klima und die historischen Implikationen dieser Epoche zu charakterisieren, sind ‚Renaissance‘, ‚Humanismus‘ und ‚Frühe Neuzeit‘. Nicht selten werden diese Termini quasi-synonym gebraucht, um eine bestimmte Geisteshaltung jener Zeit zum Ausdruck zu bringen. Dabei sind sie keineswegs deckungsgleich, betonen sie doch verschiedene Aspekte einer Strömung bzw. einer historischen Konstellation, die im Folgenden herauszustellen sind. 294 An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts verändert, wie das Lexikon der Re‐ naissance deutlich macht: „Der Epochenbegriff der Renaissance, der im engeren Sinn eine Prägung des 19. Jahrhunderts ist, vermittelt ein unscharfes, schwebendes Bild. Unter (Kultur-)Historikern besteht selten Übereinstimmung darüber, welche geschicht‐ liche Epoche damit genau bezeichnet wird und was jeweils das Renaissancespezifische ausmacht“ (Münkler / Münkler 2005: 338). Die scheinbare Austauschbarkeit dieser Schlüsselbegriffe rührt auch daher, daß sie als Epochenbezeichnungen äußerst facettenreich und schwer zu fassen sind, wie schon Jacob Burckhardt bzgl. der ‚Renaissance‘ feststellte: Die ‚Renaissance‘ wäre nicht die hohe weltgeschichtliche Notwendigkeit gewesen, die sie war, wenn man so leicht von ihr abstrahieren könnte. (Burckhardt 2009: 137) 294 Mit ‚Renaissance‘ wird heutzutage tout court eine Kulturepoche bezeichnet, d. h. die Kunst und Literatur ist das konstituierende Element. In diesem Sinn definiert auch Schreiner (1995: 710-711) im Lexikon des Mittelalters den Begriff, der auf ein von verschiedenen Bezeichnungen der Gelehrten des 14. und 15. Jh. zurück‐ geht, um eine Lebens- und Wachstumsmetaphorik zu versprachlichen, d. h. neben rinascere wurden auch revivere, risuscitare, reflorescere verwendet. Dabei sollten das Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften und die bewußte Hinwendung zur Antike sowie, damit einhergehend, die Erneuerung der Lati‐ nität zum Ausdruck gebracht werden. Mit der entsprechenden Bedeutung ver‐ wendet Giorgio Vasari (1511-1574) in seinen Vite (1550) erstmals diese Metapher als Substantiv (rinascità) und das französische renaissance schließlich der Na‐ turforscher Pierre Belon (1517-1564) in seinen Observations von 1553. Mit der heutigen Implikation, die eine Beschreibung einer bestimmten Geistesströmung und eines dezidierten Kunstideals einer Umbruchszeit beinhaltet, wird der Be‐ griff jedoch erst sehr viel später aufgeladen, und zwar vor allem durch die prä‐ genden Schriften Jean Michelets (Histoire de France, 1855) und insbesondere Jacob Burkhardts (Die Cultur der Renaissance in Italien, 1860): Als Kulturbegriff im allgemeinen Sinne erst seit Mitte des 19. Jh. in Gebrauch […], bezeichnet R[enaissance] seitdem in der Regel jene Epoche der europäischen Kunst- und Kulturgesch[ichte], die sich zeitl[ich] gesehen vom 14. Jh. bzw. Anfang des 15. Jh. bis zur Mitte des 16. Jh. erstreckt und deren Ursprungsland und fast ausschließl[iches] Verbreitungsgebiet während der hier interessierenden, bis ca. 1490 reichenden Periode der Früh-R[enaissance] Italien war. (Schreiner 1995: 710) Diese hier gegebene, interessensbedingte Begrenzung im Lexikon des Mittelal‐ ters zur Frührenaissance ist insofern zu ergänzen, als die Renaissance bald über Italien hinaus wirkte und ihre Rezeption meist zeitlich versetzt in Korrelation 184 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 295 Zum Gebrauch des Italienischen im Frankreich der Frühen Neuzeit, dem Einfluß der italienischen Migrantengruppen (Ingenieure, Bankiers, Künstler, Entourage von Cate‐ rina deʼ Medici (1519-1589)), den daraus entstehenden Interferenzen sowie dem françois italianizé, cf. Scharinger (2018, insbes. ibid. 36-46). Zentren der italienischen Immig‐ ration im rinascimentalen Frankreich sind Genf, Lyon und Paris; Orte an denen auch polyglotte Wörterbücher und Sprachführer entstanden (ibid. 2018: 45). Der Kultur- und Sprachkontakt zwischen beiden Ländern ist seit jeher vielfältig, die Ursachen für das Prestige des Italienischen in jener Epoche in Frankreich faßt Scharinger folgender‐ maßen zusammen: „Als Gründe für den Sprachkontakt und somit für den Einfluß des Italienischen auf das Französische werden im Wesentlichen die Ausstrahlung der ita‐ lienischen Renaissancekultur, die Vorbildfunktion der italienischen Literatur, Überset‐ zungen aus dem Italienischen, die Italienkriege, die Präsenz italienischer Immigranten in Lyon sowie die Italianisierung des Hoflebens durch Catherine de Médicis genannt. Besonders betont wird zumeist auch die Vorbildfunktion der italienischen Vulgärhu‐ manisten, deren Schriften bezüglich der Emanzipation und des Ausbaus der Volks‐ sprache auch von französischen Sprachtheoretikern rezipiert wurden. Die questione della lingua wurde gewissermaßen ins Frankreich des 16. Jahrhunderts importiert“ (Scharinger 2018: 57-58). 296 Cf. die entsprechende Stelle bei dem in der Renaissance viel rezipierten Laktanz (Div. Inst. VI, 8.6-7 (508); 2009: 559: „[…] Marcus Tullius in libro de re publica tertio paene diuna noce depinxit; cuius ego, ne plura dicerem, uerbi subieci: ,est quidem vera lex recta ratio naturae congruens, diffusa in omnis, constans, sempiternae […]‘.“ Cf. dazu auch das Original bei Cicero mit dem Kernsatz: „Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens […]“ (Cicero De re pub. III, 22 (33); 1987: 204). zur räumlichen Distanz erfolgte. Von Florenz und Oberitalien wirkte sie vor allem nach Frankreich, 295 aber auch nach England und Deutschland, eher ein‐ geschränkt auf andere mitteleuropäische Regionen und die Iberische Halbinsel (Münkler / Münkler 2005: 341). Wichtige historische und geistesgeschichtliche Veränderungen, die für die Epoche der Renaissance konstitutive Elemente bilden, sind zum einen neben dem Auftreten neuer Adelsdynastien das Erstarken des Bürgertums in den ober- und mittelitalienischen Städten, das durch wirtschaftliche Prosperität, bedingt durch die zunehmende Bedeutung der Geldwirtschaft, ein politisches und ethi‐ sches Selbstbewußtsein ausprägte, welches sich unter anderem in der Forderung nach größerem Mitspracherecht und der Ausbildung einer standesbezogenen virtù äußerte. Zum anderen ist die Zeit der beginnenden Erneuerungsbewegung des 14.-16. Jh. geprägt von der Hinwendung zum Individuum, zur Weltlichkeit und dem Diesseits mit all seinen Erscheinungsformen; in den Wissenschaften verbinden sich dabei die Anerkennung einer ratio naturae, 296 die Beobachtungen der realen Welt sowie die lebenspraktischen Aspekte der Wissenschaften mit einer erstarkenden Modellbildung des theoretischen Wissens der Antike in Kunst, Architektur, Literatur und Philosophie (Schreiner 1995: 710-711). 185 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 297 Historiker übernahmen im 19. Jh. den von Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) geprägten Begriff ‚Humanismus‘ (cf. Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs- Unterrichts unserer Zeit, 1808) und wen‐ deten ihn auf die Gelehrten der Renaissance an. Bei Niethammer war er in einem schul‐ pädagogischen Kontext als Gegenkonzept zu aufkommenden Forderungen nach na‐ turwissenschaftlicher und praxisorientierter Bildung entstanden, um auf diese Weise die Beschäftigung mit den lateinischen und griechischen Klassikern herauszustellen (cf. Kristeller 1973: 16). 298 Die Bezeichnung humanista wurde analog zu den im universitären Lehrbetrieb gän‐ gigen Begriffen wie legista, jurista, canonista oder artista geprägt (cf. Buck 1984: 23). 299 Im Mittelalter dominierten die studia divina, d. h. eigentliches Ziel eines universitären Studiums war die Theologie, die septem artes liberales, die an der Artistenfakultät gelehrt wurden, hatten nur propädeutischen Charakter und bestanden aus dem trivium mit Grammatik, Poetik (Rhetorik), Logik (Dialektik) und dem quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik. Zu den höheren Fakultäten zählten neben der Theo‐ logie prinzipiell auch die Medizin und die Jurisprudenz. Zudem standen die artes libe‐ rales den artes mecanicae (Handwerk, Kriegskunst, Seefahrt, Landbau, Jagd, Heilkunde, Hofkünste) gegenüber, die nicht Teil der universitären Ausbildung waren (cf. Steinhoff 1990: 26-27). Die Renaissance kann demnach als eine weitgespannte Bewegung charak‐ terisiert werden, die in Korrelation mit bestimmten historischen Konstellati‐ onen, vor allem in Italien, einen Umbruch im Denken markierte und in den verschiedensten künstlerischen Ausdrucksformen ihre Wirkung entfaltete, zu‐ nächst in ihrem Entstehungsraum, dann weit darüber hinaus. Der Humanismus, zeitlich und ideengeschichtlich eng verknüpft mit der Re‐ naissance, ist laut Schweikle (1990: 208-209) ebenfalls eine Epochenbezeich‐ nung, aber vor allem die „erste gesamteuropäische Bildungsbewegung zwischen Mittelalter und Neuzeit (14.-16. Jh.), erwachsen aus der Wiederentdeckung, Pflege und Nachahmung der klass[ischen] lat[einischen] und griech[ischen] Sprache und Literatur.“ Der Begriff ‚Humanismus‘ wurde erst im 19. Jh. ge‐ prägt, 297 die Bezeichnung ‚Humanist‘ (it. umanista) ist hingegen zeitgenös‐ sisch, 298 wird sie doch ab dem ausgehenden 14. Jh. für einen (universitären) Ge‐ lehrten, einen vir humanus et doctissimus gebraucht, der sich den studia humanitatis (auch: studia humanitas) verschrieben hat, die im Rahmen der septem artes liberales eine Neuorientierung darstellten. 299 Dabei ergab sich im trivium aus einer ursprünglich dominanten Beschäftigung mit der Logik und Dialektik eine verstärkte Hinwendung zur Rhetorik und Grammatik, d. h. das oft sehr abstrakte, scholastische Analysieren und Argumentieren (cf. Kap. 6.1.5) trat vor dem Hintergrund der Aufwertung der Antike und des Lateins als Lite‐ ratur- und Verkehrssprache und der damit verbundenen Wissensvermittlung zugunsten der konkreteren rhetorischen und grammatischen Studien zurück (cf. Münkler / Münkler 2005: 153; Schweikle 1990: 209). Auch der Begriff des Huma‐ 186 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 300 Der Terminus wurde außer in seiner modernen Verwendung auch auf andere histori‐ sche Kontexte projeziert; so sprechen manche vom Humanismus des Mittelalters oder von einem christlichen Humanismus (cf. Kristeller 1973: 16). nismus unterliegt wie derjenige der Renaissance der Gefahr einer womöglich zu breiten Anwendung, einer Generalisierung, die ihn semantisch aushöhlt oder zumindest stark reduziert, so daß, wie Kristeller (1973: 15) kritisch vermerkt, „nahezu jegliches Anliegen, das menschliche Werte zum Gegenstand hat, ‚hu‐ manistisch‘ genannt“ wird. Für vorliegende Arbeit, in der ja als eines der Haupt‐ ziele die Rekontextualisierung von zeitgenössischen Schriften und dem dort ausgedrückten Denken formuliert ist, soll jedoch der Begriff ‚Humanismus‘ - analog zu dem der ‚Renaissance‘ - nicht in diesem modernen allgemeinsprach‐ lichen Sinn des Humanistischen Verwendung finden, sondern strikt an die his‐ torischen Implikationen dieser Umbruchsepoche gebunden sein - ganz in Kon‐ kordanz mit der Forderung Kristellers: Wenn wir die Philosophie der Renaissance oder irgendeiner anderen Epoche ver‐ stehen wollen, müssen wir versuchen, nicht nur die Interpretation des authentischen Denkens dieses betreffenden Zeitraumes von der Wertbestimmung und Beurteilung seiner Leistungen zu trennen, sondern auch die ursprüngliche Bedeutung zurückge‐ winnen, in der jene Epoche bestimmte Kategorien und Klassifizierungen verwendete, mit denen wir entweder nicht mehr vertraut sind oder die verschiedene Nebenbe‐ deutungen angenommen haben. (Kristeller 1973: 16) Vor diesem Hintergrund sei deshalb nochmal betont, daß der Humanismus in seinem historischen Verständnis an die besagte Epoche gebunden 300 eine kul‐ turelle und geistesgeschichtliche Erneuerungsbewegung darstellt, die jedoch mitnichten alle Bereiche des Geistesleben jener Zeit erfaßte, sondern sich im Kern auf die erwähnten studia humanitatis beschränkte. Dies bedeutet auch, daß universitäre Fächer wie Mathematik, Astronomie, Medizin, Jurisprudenz und Theologie explizit ausgenommen waren und auch im Bereich der Philosophie blieben Logik, Naturphilosophie und Metaphysik weitestgehend den traditio‐ nellen Methoden verbunden; allein die Ethik war Gegenstand humanistischer Studien, die ansonsten von der Beschäftigung mit der Literatur (und ihrer Sprache) geprägt waren (cf. Kristeller 1973: 17-18). Allgemein lehnten die humanistischen Gelehrten die Spekulation über die Natur, wie sie in der Physik oder Naturphilosophie betrieben wurde, als sinn‐ loses Unterfangen ab, genauso wie die scholastischen Spitzfindigkeiten in der Logik, da für sie die konkreten Fragen des Lebens, der Lebensgestaltung und die möglichen Leitbilder (recte vivere), also Themen der Moralphilosophie, im Vor‐ dergrund standen (cf. Buck 1984: 15). 187 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 301 Petrarca geht soweit, daß er die Begegnung mit Cicero als lebendiges Zwiegespräch stilisiert, mit ihm eine familiäre Lebensgemeinschaft empfindet und ihn als idealisierte Instanz der Moralphilosophie ansieht, an der er seine eigenen Lebensmaximen schulen kann, dessen exempla virtutis Ansporn für das eigene Verhalten sind (cf. Buck 1987: 137-139). 302 Die Geschichtsschreibung konstituiert sich in enger Anbindung an die Rhetorik und Poetik und leitet sich von Ciceros Diktum als magistra vitae ab (cf. Buck 1984: 17). Der Humanismus kann somit als Bildungsreform der Renaissance verstanden werden, geboren aus dem Wunsch einer Erneuerung des tradierten Wissens, dessen Ausdruck die studia humanitatis sind. Insofern sich die ‚studia humanitas‘ als eine Bildungsreform verstanden, gingen sie von der Überzeugung aus, daß die aus dem Mittelalter überlieferte Bildung überholt sei und durch eine neue ersetzt werden müsse. Von Petrarca angefangen kritisierten die Humanisten den zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb, vor allem den Rückgang des Studiums der Grammatik und Rhetorik mit der daraus resultierenden Entartung des Lateins, sowie das Ausufern der sich in einem unfruchtbaren Spiel mit Definiti‐ onen, Distinktionen und Syllogismen erschöpfenden Dialektik, die nicht nur im Tri‐ vium vorherrschte, sondern auch innerhalb der Philosophie der Ethik in den Hinter‐ grund gedrängt wurde. (Buck 1984: 14) Die Hinwendung zur Antike, zu ihrer Literatur, zu dem dort gepflegten Stil (der klassischen Autoren) und nicht zuletzt durch die auf diese Weise vermittelten Moralvorstellungen geht zu einem wesentlichen Anteil auf Petrarca zurück. 301 In seiner Dichterkrönung zum poeta laureatus (8. April 1341), die gleichzeitig eine theoretische Lehrberechtigung für die artes liberales enthält, wird die Be‐ geisterung für antike Literatur (Sprache, Form, Motivik) und Studieninhalte (studia humanitatis) gleichermaßen zum Ausdruck gebracht. Als systematisches Bildungsziel mit einem konkreten Programm werden die humanistischen Stu‐ dien jedoch erst von Coluccio Salutati (1331-1406) formuliert, der darin die Verwirklichung von virtus und doctrina sieht. Dies beinhaltet gleichzeitig eine bewußte Abkehr von den im (spät)mittelalterlichen Schulbetrieb dominierenden octo auctores morales hin zu den Studien nach dem Leitbild der ciceronianischen humanitas, den bonae artes, in denen ein nach neuen Kriterien geschultes, mo‐ ralisch agierendes Individuum ausgebildet werden sollte (cf. Buck 1984: 11-15). Die studia humanitatis wurden schließlich in fünf kanonische Fächer gefaßt, wie sie bei Tommaso Parentucelli (Nikolaus V., 1447-1455) überliefert sind: Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte, 302 Moralphilosophie. Die beherr‐ schende Sprache war zunächst das Lateinische, das die Grundlage jedweden 188 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 303 Leonardo Bruni forderte in seiner Schrift De studiis et litteris, daß sprachliche Ausbil‐ dung und die zugehörigen inhaltlichen Kenntnisse Hand in Hand gehen müssen (cf. Buck 1987: 162). 304 Außerhalb Italiens propagierte vor allem Erasmus von Rotterdam (1466 / 1469-1536) das Griechische sowie in Deutschland beispielsweise Johann Reuchlin (1455-1522), Rudolf Agricola (1444-1485) und Conrad Celtis (1459-1508), in Frankreich wurde es von Guillaume Budé (1468-1540) und Julius Caesar Scaliger (1484-1558) verbreitet (cf. Buck 1987: 163-164). Eine der Folgen der Beschäftigung mit dem Griechischen war im Zuge der Wiederentdeckung der Schriften Platons die rinascimentale Vorliebe für Dia‐ loge als Form des philosophischen Disputs (cf. Münkler / Münkler 2004: 156). 305 „[…] libri medullitus delectant, colloquuntur, consulunt et viva quadam nobis atque arguta familiaritate iunguntur […]“ (Petrarca Fam. III, 18; 1978: 108; v. supra). Studiums bildete, 303 später kamen jedoch auch das Griechische und seine Lite‐ ratur als fachliche Bereicherung hinzu (cf. Buck 1987: 163). 304 In Florenz wurden erstmals auf Einladung von Coluccio Salutati und Niccolò Niccoli im Jahre 1397 Vorlesungen von Manuel Chrysoloras (1353-1415) ge‐ halten, die von einer Anzahl wichtiger italienischer Gelehrter, darunter Bruni, begeistert aufgenommen wurden. Chrysoloras, der auch im Folgenden noch zahlreiche Schüler hatte, die auf seine Anregung hin z. T. auch nach Konstanti‐ nopel gingen (z. B. Guarino Veronese), fungierte dabei - so könnte man postu‐ lieren - durch seine Vermittlung des Griechischen und des byzantinischen Kul‐ turschatzes als „Katalysator“ für die humanistische Bewegung. Ein wichtiger Part innerhalb der humanistischen Erneuerungsbewegung war die Reform des Lateins. Vorbild sollte der Sprachgebrauch der „klassischen“ an‐ tiken Autoren sein (nicht unbedingt das Ideal der antiken Grammatiker), wobei in erster Linie Cicero hierbei als Maßstab diente (sowie Quintilian), später dann zunehmend Tacitus. Zu diesem Zweck wurden auch neue Lehrbücher und Grammatiken verfaßt, wie beispielsweise die Elegantiae Lorenzo Vallas (1407-1457), der ganz konkret eine restitutio linguae latinae fordert (cf. Buck 1984: 16; Münkler / Münkler 2004: 164-165). Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Paradigmenwechsels des 14./ 15. Jh., der eng mit dem gesteigerten Interesse an der Antike zusammenhängt, ist die Be‐ geisterung für Bücher und Handschriften. Auch hier spielt Petrarca eine wich‐ tige Vorreiterrolle. Das Buch wird für ihn gleichsam zum Lebensbegleiter. Die tiefe Verbundenheit mit den antiken Autoren, mit denen er im Geiste vertrau‐ liches Zwiegespräch hält, bringt ihn dazu, seinen „Freunden“ und Vorbildern Briefe zu schreiben. 305 So finden wir in den Familiares Episteln, die an Cicero, Seneca, Varro, Quintilian, Livius, Pollio oder Homer adressiert sind. Petrarca stellt nicht nur eine Liste mit seinen Lieblingsbüchern zusammen (libri mei pe‐ 189 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 306 „Et habeo plures forte quam oportet; sed sicut in ceteris rebus, sic et in libris accidit: querendi successus avaritie calcar est. Quinimo, singulare quiddam in libris est: aurum, argentum, gemme, purpurea vestis, marmorea donus, cultus ager, picte tabule, phaler‐ atus sonipes, ceteraque id genus, mutam habent et superficiarium voluptatem; libri medullitus delectant, colloquuntur, consulunt et viva quadam nobis atque arguta fami‐ liaritate iunguntur, neque solum se se lectoribus quisque suis insinuat, sed et aliorum nomen ingerit et alter alterius desiderium facit“ (Petrarca, Fam. III, 18; 1978: 108). Pet‐ rarcas Bücherkollektion galt außerdem als die umfangreichste seit denen der spätan‐ tiken Gelehrten Cassiodor (ca. 485-580) und Boethius (ca. 480-524). culiares), sondern kommentiert auch einzelne Schriften und setzt sie in bewußte Korrelation zu Ereignissen aus seinem eigenen Leben. (cf. Buck 1987: 138-141). Diese tiefe Wertschätzung für die alten Autoren in Zusammenhang mit dem erwachenden Interesse am Historischen führt schließlich dazu, daß sich die Hu‐ manisten auf die Suche nach Originalausgaben bzw. alten Handschriften ihrer geliebten Werke machen und die europäischen Archive und Klosterbibliotheken durchforsten: Petrarca findet in Lüttich zwei in Vergessenheit geratene Reden Ciceros (1333) und ein Manuskript mit Ciceros Briefen (Epistolae ad familiares) in Verona (1345), Coluccio Salutati entdeckt weitere Cicero-Briefe (v. supra Kap. 1.1), Niccolò Niccoli (1365-1437) läßt aus den Klöstern Corvey und Monte Cassino das historische Œuvre des Tacitus zusammentragen und Poggio Brac‐ ciolini (1380-1459) erwirbt bei seinen Reisen rund um das Konstanzer Konzil (1414-1418) neben weiteren Reden Ciceros und zahlreichen Manuskripten un‐ terschiedlichster Autoren (Silius Italicus, Lukrez, Manlius, Ammianus Marcel‐ linus, Valerius Flaccus, Statius, Petron, etc.) in St. Gallen die bisher nur frag‐ mentarisch bekannte Rhetorik Quintilians (Institutio oratoria). Dies bildet letztendlich den Auftakt für eine umfangreiche Recherche nach alten Hand‐ schriften und möglichst originalgetreuen Ausgaben (cf. Walther 2007: 671-672). Zu den sogenannten „Bücherjägern“ (engl. book-hunters) gehörten außer den bereits Genannten auch Gelehrte wie Leonardo Bruni (1370-1444), Guarino Ve‐ ronese (1374-1460), Giovanni Aurispa (1376-1459) oder Palla Strozzi (1373-1462) (cf. Niederkorn-Bruck 2012: 106-107; Frank 2014: 217-218). Ein weiterer Folgeeffekt der Liebe zum Buch und zu den Schriften der alten Autoren ist die Entstehung von zahlreichen Bibliotheken, zunächst vor allem Privatsammlungen, die erst später in öffentliche Bibliotheken umgewandelt werden bzw. deren Bestand dort Eingang findet. Auch hier spielte wiederum Petrarca eine wichtige Rolle, und zwar insofern er seine Bibliophilie zum Aus‐ druck brachte - „Che anzi nei libri c’è un fascino particolare“ (Petrarca, Fam. III , 18; 1978: 109). 306 Die Privatsammlungen der Humanisten waren - soweit rekon‐ struierbar - zum Teil beträchtlich: Die Bibliothek Coluccio Salutatis wird auf ca. 800 Bände geschätzt, diejenige von Niccolò Niccoli soll ca. 600-800 Bücher um‐ 190 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 307 So hatte beispielsweise auch Montaigne eine umfangreiche Privatbibliothek im Turm seines Wohnhauses, wie er sie im Kapitel Des trois commerces seiner Essais (1580-1588) beschreibt: „Chez moy, je me destourne un peu plus souvent à ma librairie, d’où tout d’une main je commande à mon mesnage. Je suis sur l’entrée et vois soubs moy mon jardin, ma basse court, ma court, et dans la pluspart des membres de ma maison. Là, je feuillette à cette heure un livre, à cette heure un autre, sans ordre et sans dessein, à pièces descousues; tantost je resve, tantost j’enregistre et dicte en me promenant, mes songes que voicy. Elle est au troisiesme estage d’une tour“ (Montaigne, Essais III, 3, b-c; 1962: 806). faßt haben, Giovanni Pico della Mirandola (1469-1533) brachte es auf 1160 und Willibald Pirckheimer (1470-1530) sogar auf 2100. Eine der ersten halb-öffent‐ lichen Bibliotheken war die von Oddo Colonna (Martin V., 1417-1431) im Jahre 1417 begründete Biblioteca Vaticana, in deren Archiv 1455 immerhin schon 1200 Bände aufgenommen waren (cf. Buck 1987: 142-143). 307 Dies sind nur einige sehr selektive Aspekte des Humanismus, und zwar solche, die im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung von Relevanz sind, denn das Interesse an Historischem und Philologischem der Humanisten bildet den Nährboden für die daraus entstehenden sprachtheoretischen Fragestel‐ lungen. Als letztes sei noch auf die Datierungs- und Strukturierungsproblematik von Renaissance und Humanismus verwiesen. Im Supplementband des Kleinen Pauly zur Rezeption der Antike in eben jener Zeit arbeitet Landfester mit dem Doppelbegriff des ,Renaissance-Humanismus‘, wobei er den Terminus der ‚Re‐ naissance‘ als Epochenbegriff auffaßt und ‚Humanismus‘ als Kulturbegriff. Re‐ naissance ist für ihn damit die erste Phase der Frühen Neuzeit im westeuropäi‐ schen Kulturkreis, einer Epoche, die durch eine neue aus politischer Sicht plurale Ordnung anstelle der mittelalterlichen Universalmonarchie gekennzeichnet ist, in der sich die humanistische Kulturbewegung entfaltet. Diese umfaßt zahl‐ reiche Bereiche der Kultur und löst die von christlichen Dogmen bestimmte Weltanschauung des Mittelalters ab, durch eben ihr Leitbild der humanitas. In diesem Sinne läßt Landfester den Renaissance-Humanismus im 14. Jh. beginnen, symbolisch mit Petrarcas Dichterkrönung (1341), und setzt ihr Ende mit der beginnenden Konfessionalisierung ab der zweiten Hälfte des 16. Jh. an. So wie sich die Bewegung aus den engen, theologisch bestimmten Lehrpfaden des Mit‐ telalters emanzipierte, findet sie auch ihr Ende in der Beschränkung der freien Betrachtung der paganen Antike durch die im Zuge der Konfessionsspaltung entstehenden Denkverbote, was man ebenfalls mit einem symbolischen Datum fixieren könnte, nämlich der Verbrennung Giordano Brunos im Jahre 1600. Der Aspekt des Religiösen ist hierbei ein wichtiger, aber nicht der einzige, der die Dynamik von der Genese und dem langsamen Ausklingen dieser Bewegung 191 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 308 Dabei sei nochmals betont, daß Renaissance und Humanismus nicht gleichzusetzen sind: „Heute neigt die Forschung, bes. die angelsächsische, dazu, H[umanismus] und Renaissance miteinander zu identifizieren. Dies ist hist. falsch, denn die Protagonisten der Renaissance wie z. B. Niccolò Machiavelli, Leonardo da Vinci, Paracelsus oder Ga‐ lileo Galilei interessierten sich vorrangig weder für Sprachkultur noch für die Rekon‐ struktion der Antike, sondern für die empirischen Gesetze der Politik, Schönheit oder Natur. Deshalb sind sie nur mit starken Einschränkungen als ‚Humanisten‘ […] zu be‐ zeichnen. Umgekehrt wäre es geradezu absurd, humanistische […] Literaten wie Poggio Bracciolini, Erasmus von Rotterdam oder Beatus Rhenanus als ‚Renaissancemenschen‘ charakterisieren zu wollen. Weniger sachliche als vielmehr weltanschauliche Gründe also bedingen eine solche Gleichsetzung“ (Walther 2007: 666-667). bedingt, zahlreiche weitere externe und interne Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle (cf. Landfester 2014b: IX ). Eine Periodisierung zu erstellen ist insofern kaum möglich, da schon inner‐ halb Italiens die einzelnen Regionen unterschiedlich von dieser Erneuerungs‐ bewegung betroffen sind und unter Einbezug anderer europäischer Länder erst recht mit einer zeitlichen Diskrepanz zu rechnen ist; hinzu kommt, daß auch bezüglich der einzelnen Kulturbereiche wie Architektur, Malerei, Bildhauerei oder Literatur der Paradigmenwechsel nicht einheitlich verläuft. Landfester (2014b: X- XI ) strukturiert deshalb sehr grob in einen Humanismus der Früh- und Hochrenaissance mit der groben Datierung ca. 1350 / 1400 - ca. 1550 und einen Humanismus der Spätrenaissance mit dem zeitlichen Rahmen von ca. 1550-1600 / 1630. Alle weiteren Unterteilungen sollten an einzelnen Regionen und Kulturfeldern festgemacht werden. 308 Die Datierungen sind dabei nur grobe Anhaltspunkte, denn wie Kristeller (1973: 11-12) deutlich macht, gibt es zweifellos Kontinuitäten, wobei die schwie‐ rige Faßbarkeit der Epoche nicht dazu berechtigt, ihr eine eigene Prägung und Identität abzusprechen. Zuletzt sei in vorliegendem Kontext noch auf den Begriff der ‚Frühen Neuzeit‘ hingewiesen, mit dem ebenfalls gelegentlich operiert wird. Dieser Terminus ist vor dem Hintergrund der historischen Periodisierung Antike - Mittelalter - Neuzeit zu sehen und gehört zur Geschichtswissenschaft, in der damit übli‐ cherweise die Zeit zwischen ca. 1450 / 1500 und 1800 / 1850 - vor allem im ang‐ lophonen Raum oft tout court 1500-1800 - umrissen wird, deren Eckdaten ge‐ kennzeichnet sind von der Erfindung des Buchdrucks einerseits und dem Aufkommen der Eisenbahn als transnationales Transportmittel andererseits. In diesem allgemeinen historischen Verständnis ist der Begriff seit den 1950er Jahren geläufig, wurde aber schon zuvor in ähnlicher Form in der Wirtschafts‐ geschichte (Werner Sombart: Frühkapitalismus) und dann in der Soziologie (Max Weber: beginnende Neuzeit) verwendet, die ihn wiederum aus der in der Sprach‐ 192 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 309 Zur frühneuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsentwicklung und ihren jeweiligen Strukturveränderungen im Allgemeinen sowie unter dem zentralen Aspekt der Sozial‐ disziplinierung im Speziellen cf. Gerhard Oestreich (1980), der vor allem in den 1960er und 1970er Jahren den Begriff der ‚Frühen Neuzeit‘ mitetablierte. 310 Weitere frühe Werke zur Sprachenfrage sind beispielsweise Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925), Hall (1942), Sozzi (1955) oder Klein (1957). Cf. auch Kap. 2 vorliegender Arbeit zum Forschungsüberblick. wissenschaft üblichen Kategorie des ,Frühneuhochdeutschen‘ (1350-1650) ab‐ leitet, wie sie von Jacob Grimm eingeführt (Kriterium: Lautverschiebungen) und von Wilhelm Scherer schließlich als Epoche etabliert wurde. Kennzeichen dieser weitgespannten Zwischenepoche sind die politischen Veränderungen in Europa (Staatsbildung und diplomatische Beziehungen), der Frühkapitalismus, die pro‐ testantische Ethik, Wissenschaftsrevolution, Agrarrevolution und der Beginn der Industriellen Revolution. Es sind also Umbrüche in der Politik, in der Kom‐ munikation, dem Finanzwesen, dem Erziehungswesen und im kulturellen Be‐ reich, die diesen Zeitraum situieren (cf. Behringer 2006: 81-85). 309 Die in vorliegender Arbeit wichtigen kultur- und geistesgeschichtlichen Rah‐ menbedingungen, die durch die Begriffe ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ab‐ gesteckt wurden, sind durchaus Teil dieses historischen Gesamtkomplexes ‚Frühe Neuzeit‘ und der damit bezeichneten Neuorientierungen, wobei diese Epochenbezeichnung jedoch sowohl inhaltlich wie auch zeitlich weit über das abgesteckte Thema hinausreicht. Für vorliegende Fragestellung bilden diese geistesgeschichtlichen Strömungen den unabdingbaren Hintergrund; nur in diesem Kontext lassen sich die dann hervortretenden Diskussionen zu den ver‐ schiedenen Aspekten der Sprache (historisch und zeitgenössisch) adäquat ein‐ ordnen und erklären. 6.1.2 Kurzcharakteristik der questione della lingua: Fragestellungen und Periodisierung Die questione della lingua als Leitfrage einer Normdiskussion bezüglich der He‐ rausbildung der italienischen Literatur- und Standardsprache ist ein Produkt der linguistischen Forschung des 20. Jahrhunderts. Der Begriff fand seine wesent‐ liche Verbreitung mit dem gleichnamigen Werk von Vitale (1984 [ 1 1960]); das Phänomen dieser metasprachlichen Diskussion wurde aber bereits von Vivaldi (1894-1898) und Luzzato (1893) im ausgehenden 19. Jahrhundert beschrieben, wobei jedoch z. B. Vivaldi noch von controversie und Luzzato von polemica spricht (cf. Ellena 2011: 20-22). 310 193 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Vitale beschreibt in seiner grundlegenden Monographie sowohl den zugrun‐ deliegenden sprachlichen Prozeß der Selektion und Normierung unter dem Ein‐ fluß der literarischen Produktion der tre corone und ihrer prestigeträchtigen Nachwirkung bzw. ihrer Kanonisierung als Autoritäten, als auch den meta‐ sprachlichen Diskurs mitsamt seinen Fragestellungen bzw. kontroversen Ein‐ zeloptionen. Il fiorentino antico e scritto, quale si fissa con procedimenti d’arte nei grandi scrittori trecenteschi, e si impone mediante il prestigio letterario e culturale dei sommi auctores fiorentini e nel solco della prodigiosa fortuna di Firenze borghese e mercantile nell’età comunale, ed è codificato dalla regolamentazione grammaticale cinquecentesca, è il fondamento dell’italiano comune; si può dir meglio che la lingua comune e nazionale italiana è il fiorentino quale è venuto affermandosi e imponendosi attraverso una serie complessa di vicende culturali e sociali in Italia come lingua di tutta la nazione nel corso della nostra storia civile. (Vitale 1984: 9) Dieser Prozeß der Herausbildung der italienischen Sprache im Sinne einer Li‐ teratursprache und einer Gemeinsprache ist in der Sprachbetrachtung syste‐ matisch strikt zu trennen (cf. Ellena 2011: 17) von der über mehrere Jahrhunderte unter verschiedenen Vorzeichen sich vollziehenden Kontroverse über die „rich‐ tige“ Art eines zu normierenden Italienischen. Il complesso dei problemi intorno al volgare, alla lingua grammaticale nuova che di‐ venta lingua nazionale e comune d’Italia, che si pongono e si discutono con appassi‐ onato e vivace calore per tutti i secoli nel corso della nostra storia letteraria e gram‐ maticale in conseguenza delle condizioni che si sono sommariamente illustrate (natura della lingua: fiorentina o italiana; norma del suo impiego: lingua scritta e lingua par‐ lata; dilatabilità dei suoi confini: lingua antica e lingua moderna; adattabilità ai tempi nuovi: lingua morta e lingua viva; funzionalità in circostanze storiche rinnovate: lingua come letteratura o lingua come strumento sociale; etc.) costituisce la cosiddetta questione della lingua le cui ragioni hanno, dunque, profonde e salde radici storiche. (Vitale 1984: 12) Die questione della lingua umreißt dementsprechend den Findungsprozeß einer adäquaten Literatursprache (und später auch mündlichen Standardsprache) des Italienischen zu Beginn der Frühen Neuzeit im Kontext der Renaissance und eines sich entwickelnden Bewußtseins für die eigene Volkssprache in Ausei‐ nandersetzung mit dem Lateinischen. Die damit zusammenhängende Gelehr‐ tendebatte, die sich über einen Zeitraum von mindestens mehr als einem Jahr‐ 194 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 311 „Essa [la questione della lingua] è il prodotto delle riflessioni nate dall’incertezza della norma linguistica nei primi decenni del secolo [il Cinquecento] e dal desiderio di porvi remedio“ (Migliorini 2007: 310). 312 Diese Auseinandersetzung zwischen dem Latein als etablierter Schrift- und Kultur‐ sprache und der Volkssprache wurde beispielsweise in Frankreich und Spanien sowie auch in anderen europäischen Ländern bereits im Mittelalter zugunsten der Volks‐ sprache entschieden, auch wenn die komplette Verdrängung des Lateins sich dann noch viele weitere Jahrhunderte hinzog (cf. Klein 1957: 97). Zu einigen Exempeln bezüglich der Auseinandersetzung der europäischen Sprachen mit dem Latein cf. den Sammel‐ band von Guthmüller (1998). hundert erstreckt, ist in erster Linie als eine Normdiskussion zu begreifen, 311 in der versucht wird, vor dem Hintergrund des bereits seit der Antike normierten und diskurstraditionell weit gefächerten Lateins, auf der Basis einer schon früh kanonisierten Literatur mit stilistisch elaborierten Texten mit entsprechendem Prestige, das Italienische auf ein mehr oder weniger gleichwertiges Niveau zu heben. 312 Das Prestige sollte dabei durch die Selektion von Varietäten - und dann im Einzelnen auch von Varianten - erreicht werden, sowie durch die im Zuge dieses Prozesses normative Fixierung dieser selegierten sprachlichen Formen. Die Selektion betrifft dabei sowohl grammatische wie auch lexikalische Formen bzw. Konstruktionen bzw. anders ausgedrückt, spielt sich unter Einbeziehung der dann später hinzukommenden Frage nach dem mündlichen Gebrauch auf allen Ebenen der Sprache ab (phonetischer, morphologischer, syntaktischer, le‐ xikalischer). Referenz ist dabei vorrangig die noch „junge“ volkssprachliche Li‐ teratur mit ihren Hauptvertretern Dante, Petrarca, Boccaccio und den dadurch abgedeckten Literaturgattungen und Stilregistern. Marazzini (1993a) faßt dieses Gesamtphänomen mit seinen wichtigsten Einzelproblemstellungen konzis zu‐ sammen: Risolvere questi problemi [di selezione] significa stabilire in via prioritaria che cosa l’italiano fosse, in qual luogo avesse avuto origine, quale città o regione potesse essere considerata culla della lingua, e potesse pertanto attribuirsi il diritto di controllare la lingua stessa nella sua crescita ed evoluzione […]; si dovevano stabilire i modelli della lingua, fissando l’elenco delle relative auctoritates. (Marazzini 1993a: 231-232) Daraus ergeben sich wiederum ganz konkrete Fragestellungen, darunter solche, wie eine adäquate Sprache der Poesie oder der Prosa und ihrer verschiedenen Gattungen beschaffen sein sollte, wieviel Varianz man dabei zulassen kann, welche Sprachform man als Modell für den Schulunterricht sinnvollerweise wählen sollte, wie im einzelnen entsprechende Grammatiken und Wörterbücher zu verfassen sind und vor allem auf Basis welcher Autoren und Werke sowie welcher Epoche dies geschehen solle (cf. Marazzini 1993a: 232). 195 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 313 Auch wenn vielleicht ein wenig zu apodiktisch formuliert, sei diesbezüglich auf Ma‐ razzini (2013: 19) verwiesen: „In nessun paese del mondo, però, le discussioni sulla lingua si protrassero così a lungo come in Italia e furono altrettanto ricche e varie, alimentando il dibattito culturale al più alto livello.“ Die Frage nach der zeitlichen Verortung der questione della lingua hängt eng mit der Extension dieses Begriffes zusammen. Tatsächlich ist die italienische Sprachgeschichte - wie auch die anderer romanischer bzw. europäischer Spra‐ chen - von dem Prozeß der Herausbildung einer adäquaten Varietät zum Aus‐ druck der distanzsprachlichen Kommunikation geprägt, wobei dieses potenti‐ elle Idiom sich vor allem in einer Frühphase in Konkurrenz zu der bisherigen dominierenden Kultursprache befand. Die italienische Situation ist jedoch in‐ sofern eine spezifische, als hier bedingt durch die politische und gesellschaft‐ liche Heterogenität im Laufe der Geschichte die verschiedensten Optionen be‐ standen, die in der schließlich als questione bekannt gewordenen Kontroverse über Jahrhunderte von Gelehrten diskutiert wurden. 313 Dabei ist es durchaus möglich, diese Suche nach einer Literatur- und Standardsprache ab ovo, also ab Beginn der Literaturproduktion im volgare, bis zur deren flächendeckender Ver‐ breitung am Ende des 19. Jh. (Einigung Italiens, Einführung der Schulpflicht, Industrialisierung, Binnenmigration, etc.) und in letzter Konsequenz im 20. Jh. (Rückgang der Dialekte, Massenmedien, etc.) zu fassen oder aber dezidiert auf den Kern der Debatte im 15. und 16. Jh. zu begrenzen. Peter Koch (1988b) geht hierbei insofern einen Mittelweg in seiner Periodi‐ sierung, als er sowohl eine Vor- und Frühphase aufzeigt als auch auf die ent‐ sprechenden Ausläufer bzw. Nachwirkungen verweist, die eigentliche questione aber deutlich in der Frühen Neuzeit verortet. Die Sprachgeschichte des Italie‐ nischen ist für ihn in ihrer ersten Periode der beginnenden Schriftlichkeit, die er nach Krefeld (1988: 750) „polyzentrische Ausbauphase“ nennt, gekennzeichnet durch die „Sprachenfrage“ Latein oder Italienisch (volgare), wobei zu dieser Zeit das Lateinische noch relativ unangefochten die Literatur und die Gebrauchs‐ texte dominiert, das volgare sich hingegen nur nach und nach in einigen wenigen Bereichen etabliert (z. B. frühe Lyrik, einzelne Gebrauchstexte). Innerhalb des Italienischen wiederum ergibt sich dabei eine weitere Option, und zwar stellt sich potentiell die Wahl zwischen einem eher latinisierenden Modell mit schwa‐ cher Diatopik (Zentrum Bologna) oder einer stark regional markierten Schrift‐ sprachlichkeit, wie sie sich vor allem in Florenz (Toskana), aber auch in Sizilien, Umbrien oder Venetien herausbildet. Retrospektiv läßt sich dabei bereits die sich später noch verstärkende Dominanz der tre corone-Dichter erkennen und damit eine gewisse Präferenz für das Florentinische. Die geschilderte potentielle Wahl‐ möglichkeit zwischen verschiedenen diatopischen Varietäten, oder vielmehr 196 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 314 Reutner / Schwarze (2011: 101) formulieren den Paradigmenwechsel innerhalb der Lati‐ nität besonders drastisch, wobei sie jedoch in gewisser Weise Ursache und Wirkung wenn nicht vertauschen, dann doch in eine einseitige Relation stellen: „Da diese [die Sprachenfrage] letztendlich zugunsten der Volkssprache entschieden wird, wird die starke Rückanbindung des Lateins an die antike Sprache in gewisser Weise zu seinem Todesstoß als lebendige Sprachform.“ Die Diskussion um das adäquate Latein und die Debatte, ob das volgare auch Schriftsprache sein kann, hängen zwar voneinander ab, aber wohl keineswegs in der Weise, daß die Ausdehnung des Italienischen auf ver‐ schiedene Bereiche der Schriftlichkeit den Untergang des „lebendigen“ Lateins verur‐ sacht, sondern wenn, dann indem die Purifizierung des Lateins zur Abkopplung von den Varietäten des Italienischen führt. zwischen Diskurstraditionen, beschränkt sich dabei auf die sogenannte hohe Literatur. Was die Gebrauchstexte anbelangt, so herrscht diesbezüglich weitge‐ hend ein latinisierendes volgare-Modell mit eher schwacher diatopischer Aus‐ prägung vor. Im Zuge des Humanismus und einer erneuten Aufwertung des ohnehin schon seit jeher prestigereichen Lateins entsteht eine „Sprachenfrage“, die durchaus an die eigentliche questione gekoppelt ist, ihr jedoch chronologisch vorausgeht und deren zentrale Fragestellung ist, welche Art des Lateins für Literatur und Wissenschaft adäquat sei. Zur Disposition stehen dabei ein an dem Modellautor Cicero orientiertes Latein sowie ein eher eklektisches, sich aus verschiedenen Vorbildern speisendes (cf. Koch 1988b: 345-346). Nachdem sich jedoch das ciceronianische durchsetzt und zur Leitvarietät des Lateinhumanismus wird, verschärft sich dadurch der Gegensatz zwischen Ita‐ lienisch (mündlich, schriftlich) und Latein (schriftlich) und es kommt endgültig zu einer stark ausgeprägten Diglossiesituation, welche im Mittelalter, zumindest von Gelehrten, mitunter noch als standard-with-dialect wahrgenommen worden war. 314 Während die Sprachenfrage ‚Latein oder Volkssprache‘ im Prinzip alle west‐ europäischen Sprachgemeinschaften tangierte, insofern überall dort, wo das Latein als dominierende Kultursprache die Schriftlichkeit beherrschte, die je‐ weilige Volkssprache ihr einzelne Bereiche nur mühsam abtrotzen konnte und sich dieser Prozeß meist über Jahrhunderte hinzog sowie die „Sprachenfrage“ innerhalb des Lateins eine des gesamten europäischen Humanismus war, ist die darauf folgende eigentliche questione della lingua eine sehr spezifisch italieni‐ sche. Koch (1988b: 346) greift die bisher von ihm ausgemachten Diskussionen in‐ nerhalb der italienischen Sprachgeschichte, also ,Latein (ciceronianisch vs. ek‐ lektisch) vs. Volgare (schwach diatopisch, eklektisch und stark latinisierend vs. stark diatopisch)‘, noch einmal auf und integriert darin die eigentliche Spra‐ 197 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 315 Zur „italienischen“ Schriftsprache in Süditalien cf. Michel (2005: 363-364), zu den nord‐ italienischen verschrifteten Varietäten im Rahmen dieser Diskussion cf. Ellena (2011), insbesondere im Hinblick auf eine koiné padana bzw. alto-italiana (ibid. 2011: 43) und zur scuola senese als Opposition zur dominanten Academia della Crusca im Rahmen der lexikographischen Produktion cf. Della Valle (1993: 51-54). chenfrage innerhalb der Gesamt-questione: d. h. die zentralen Alternativen, die dann den Kern der questione-Debatte ausmachen, sind vor allem innerhalb der Option ‚stark diatopisches Volgare‘ angesiedelt, und zwar mit den Möglich‐ keiten, sich zwischen einer florentinischen Varietät als Grundlage der Litera‐ tursprache oder einer anderen toskanischen Varietät (z. B. dem Senesischen) bzw. einer ganz anderen italienischen Varietät zu entscheiden, 315 wobei sich in Bezug auf die Option ‚Florentinisch‘ daran anschließend die Frage stellt, ob man auf das Florentinisch der tre corone oder ein eher aktuelles, zeitgenössisches zurückgreifen sollte; diesen Alternativen steht schließlich noch die Möglichkeit einer lingua cortigiana als spezifische Ausformung des schwach diatopischen, eklektischen Modells gegenüber. Die hier aufgeführten Alternativen werden dabei nur zu Optionen vor dem Hintergrund der Aufwertung der Volkssprache im Zuge eines vor allem in Florenz aufkommenden Vulgärhumanismus (um‐ anesimo volgare), der das Italienische als Ausdrucksmöglichkeit neben dem im Lateinhumanismus (umanesimo latino) präferierten ciceronianischen Lateins überhaupt erst in größerem Maße möglich macht. Koch (1988b: 346, 357) periodisiert die questione della lingua meist eher im‐ plizit als explizit, jedoch ist deutlich herauszulesen, daß für ihn der Höhepunkt der Kerndebatte im Cinquecento stattfand (Phase III ), mit entsprechenden Vor‐ läufern im Quattrocento. Zu dieser Frühphase gehört bei ihm sowohl die Frage ‚Latein oder Volgare‘ (Phase II ) als auch die Diskussion um das adäquate Latein (Phase I). Als eine Art Vorphase kann man in seinem Sinne die von Krefeld (v. supra) als „polyzentrische Ausbauphase“ bezeichnete Periode ab ca. 1200 be‐ trachten, in der das volgare Bereiche der Schriftlichkeit erobert. Analog dazu kann man die Periode vom 17. Jahrhundert bis zu Manzoni (I Promessi sposi: Ventisettana 1827 / Quarantana 1840-42) und zur Einigung Italiens (1861) als eine Art Spätphase (bzw. Nachphase) betrachten, da trotz einer sich bereits ab‐ zeichnenden tendenziellen Ausrichtung am tre corone-Modell, gestützt durch die Academia della Crusca, die Diskussion um Details und Alternativen weiterge‐ führt wird. Koch (1988b: 357) schematisiert dabei diese letzte Phase durch die Optionen ,cruscanisches (tre corone-) Florentinisch vs. aktuelles gebildetes Flo‐ rentinisch vs. anticruscanisches (eklektisch liberales) Italienisch‘. Da zwar einerseits tatsächlich (fast) die gesamte italienische Sprachge‐ schichte von Sprachenfragen geprägt ist, andererseits die metasprachliche Aus‐ 198 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 316 So numeriert er zwar die Sprachenfrage ,Latein vs. Volgare‘ als Phase I und gibt gleich‐ zeitig den völlig treffenden Hinweis, daß diese Diskussion nicht auf Italien beschränkt sei und auch nicht den Kern der questione beträfe, jedoch diese beeinflussen würde (cf. Koch 1988b: 346), aber hat gleichzeitig für die auch in seinem Schema präsente Periode nach dem Cinquecento, in dem immer noch wichtige Aspekte diskutiert werden, kei‐ nerlei Nummerierung übrig; er bezeichnet dabei diese Epoche auch gar nicht als Phase, obwohl er deutlich aufzeigt, wie die Themen des 16. Jh. weitergeführt werden (cf. ibid.: 357). 317 Michel (2005: 354) wandelt hier Nietzsche ab, der nicht von monumentalistischer, son‐ dern von monumentalischer Historie (Nietzsche 1984: 19, 25) oder monumentaler His‐ torie (cf. ibid.: 25) spricht (v. infra). 318 Die Arten der Historie werden bei Nietzsche - den Michel (2005: 354) zwar erwähnt, ohne jedoch irgendeinen Beleg dazu anzuführen - folgendermaßen vorgestellt: „Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade. In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist, eine monumen‐ talische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden“ (Nietz‐ sche 1984: 19). einandersetzung nur ein bis zwei Jahrhunderte besonders virulent ist, spiegelt sich dies auch ein wenig in der Darstellung von Koch, der sich nicht ganz ent‐ scheiden kann, was genau er nun zur questione della lingua in Italien strictu sensu rechnen möchte. 316 Hier sei als Kernphase der questione das 16. Jh. definiert, wie es auch sonst in der Forschung meist üblich ist (v. infra). Michel (2005) übernimmt weitgehend das Modell von Koch, d. h. sowohl die Kategorisierung (Arten der einzelnen Sprachenfragen) als auch die Periodisie‐ rung, erweitert dies jedoch in entscheidender Weise dadurch, daß er es mit der Geschichtstheorie Nietzsches in Verbindung bringt. Dessen Geschichtsauffas‐ sung, die er im zweiten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 unter dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben dargelegt hat und die drei Arten der Historie bzw. der historischen Betrachtung beinhaltet, näm‐ lich die monumentalistische, 317 die antiquarische und die kritische, ergänzt nun Michel (2005: 354) noch um die eklektische Perspektive, bei gleichzeitiger Syn‐ thetisierung der antiquarischen und monumentalistischen, da diese beiden in der Renaissance in Bezug auf die questione nicht unterscheidbar seien. 318 Dies führt ihn schließlich dazu, daß er anhand dieser Kriterien die Vertreter der Kern-Diskussion der questione della lingua im 16. Jh. folgendermaßen zuordnet: 199 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase I / II Latein Volgare Apologeten des Lateins Trecento-Floren‐ tinisch Modernes Floren‐ tinisch Höfische Koiné andere Varietäten R O M O L O A M A S E O (1489-1552) (De linguae usu reti‐ nendo, 1529) P I E T R O B E M B O (1470 - 1547) (Prose della volgar lingua, 1525) N I C C O LÒ M A C H I A ‐ V E L L I (1469 - 1527) (Dialogo intorno alla nostra lingua, ca. 1515) V I N C E N Z O C O L L I (C A L M E T A ) (ca. 1460-1508) (Della volgar lingua, in: Bembo, Castelvetro) F R A N C E S C O F L O R I D O (S A B I N O ) (1511-1547) (Apologia, 1537) S P E R O N E S P E R O N I (1500-1588) (Dialogo delle lingue, ca. 1542) C L A U D I O T O L O M E I (1492 - 1556) (Il Cesano, 1555) A N G E L O C O L O C C I (1474-1549) (in: Piero Valeriano, Dialogo della volgar lingua) C E L I O C A L C A G N I N I (1479-1541) (De institutione Commentatio, 1544) A C C A D E M I A D E L L A C R U S C A (Vocabulario degli Accademici della Crusca, 1612) G I O V A N B A T T I S T A G E L L I (1498 - 1553) (Ragionamento sopra le difficoltà del mettere in regola la nostra lingua, 1551) G I O V A N N I F I L O T E O A C H I L L I N I (1466-1538) (Annotazioni della volgar lingua, 1536) Gemäßigte Apo‐ logeten-Position L E O N A R D O S A L V A T I (1540-1589) (Avvertimenti della lingua sopra ’l „De‐ camerone“, 1586) P I E R F R A N C E S C O G I ‐ A M B U L L A R I (1495-1555) (Gello, 1546) (Della lingua che si parla e si scrive in Firenze, 1551) B A L D A S S A R E C A S ‐ T I G L I O N E (1478-1529) (Il Cortegiano, 1528) C A R L O S I G O M I O (1520-1584) (De Latinae linguae usu retinendo, 1566) B E N E D E T T O V A R C H I (1503-1565) (L’Ercolano, 1570) G I A N G I O R G I O T R I S ‐ S I N O (1478-1550) (Il castellano, 1529) U M B E R T O F O G L I E T T A (1518-1581) (De linguae Latinae usu et praesentia, 1574) C A R L O L E N Z O N I (1501-1551) (Difesa della lingua fiorentina e di Dante, 1556) M A R I O E Q U I C O L A (1470-1525) (Istituzioni al com‐ porre in ogni sorta di rima volgare, 1541) Gegner des Latein (Volgare Befürworter) A L B E R T O L O L L I O (ca. 1508-1568) (Orazione in laude della lingua toscano, 1555) Sienesisch A L E S S A N D R O C I T O ‐ L I N I G I R O L A M O R U S C E L L I (1504 / 1518-1566) O R A Z I O L O M B A R D ‐ E L L I 200 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase I / II (ca. 1500-1582) (Lettere in difesa de la lingua volgare, 1540) (De‘ Comentarii della lingua ita‐ liana, 1581) (ca. 1542-1608) (Della pronunzia toscana, 1568) V A L E R I O M A R C E L ‐ L I N O (ca. 1536-1593) (Lettera, over Dis‐ corso intorno alla lingua volgare, 1564) B E R N A R D I N O T O M I ‐ T A N O (1517-1576) (Ragionamento della lingua toscana, 1545) Bolognesisch F I L O T E O A C H I L L I N I (1466-1538) (Annotazioni della volgar lingua, 1536) Abb. 4: Hauptvertreter der questione Phase I / II (modifiziert und ergänzt; Michel 2005: 359, Tab.147) Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase III Florentinisch Antiquarisch-monu‐ mentalistische Position (Altflorentinisch) Eklektische Position (Alt- und Neuflorenti‐ nisch) Geschichtskritische Po‐ sition (Neuflorenti‐ nisch) G I O V A N N I F R A N C E S C O F O R ‐ T U N I O (ca. 1470-1517) (Regole grammaticali della volgar lingua, 1516) N I C C O LÒ L I B U R N I O (ca. 1474-1557) (Le vulgari elegantie, 1521) N I C C O LÒ M A C H I A V E L L I (1469 - 1527) (Dialogo intorno alla nostra lingua, ca. 1515) P I E T R O B E M B O (1470 - 1547) (Prose della volgar lingua, 1525) F A B R I C I O L U N A (Vocabulario di cinquemila Vocabuli Toschi, 1536) C L A U D I O T O L O M E I (1492 - 1556) (Il Cesano, 1555) N I C C O LÒ L I B U R N I O (ca. 1474-1557) (Tre fontane, 1526) G I O V A N B A T T I S T A G E L L I (1498 - 1553) (Ragionamento sopra le dif‐ ficoltà del mettere in regola la nostra lingua, 1551) L U C I L I O M I N E R B I (15./ 16. Jh.) (Il Decamerone di M. Gio‐ vanni Boccaccio col Vocabu‐ P I E R F R A N C E S C O G I A M B U L ‐ L A R I (1495-1555) (Gello, 1546) 201 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 319 Cf. dazu auch die hier diskutierten Vertreter in den folgenden Kapiteln. Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase III lario di M. Lucilio Minerbi, 1535) (Della lingua che si parla e si scrive in Firenze, 1551) F R A N C E S C O A L U N N O (ca. 1485-1556) (Osservazioni sopra il Pet‐ rarca, 1539) (Ricchezze della lingua vol‐ gare sopra il Boccaccio, 1543) (Fabrica del mondo, 1548) A L B E R T O A C A R I S I O (ca. 1497-1544) (Vocabulario, Grammatica, et ortographia della lingua volgare, 1543) S P E R O N E S P E R O N I (1500-1588) (Dialogo delle lingue, ca. 1542) L E O N A R D O S A L V A T I (1540-1589) (Avvertimenti della lingua sopra ’l „Decamerone“, 1586) Abb. 5: Hauptvertreter der questione Phase III (modifiziert und ergänzt; Michel 2005: 359, Tab. 148) Bei vorliegender Zusammenstellung von Michel ist zu beachten, daß die ein‐ zelnen zum Teil ex post aufgestellten Kategorien und Zuordnungen nicht immer zweifelsfrei sind, da es durchaus Positionen gibt, die nicht prototypisch sind bzw. auch weitere Vertreter nicht immer eindeutig auf eine bestimmte Position reduzierbar sind; 319 zudem haben nicht alle veritable Traktate zu dieser Debatte verfaßt, sondern ihre Meinung eher implizit in Grammatiken, Wörterbüchern oder anderen Schriften zum Ausdruck gebracht. Nichtsdestoweniger hilft die Strukturierung der questione in Bezug auf einzelne Auffassungen wie auch hin‐ sichtlich des zeitlichen Verlaufes, wie sie von Koch (1988b) und Michel (2005) unternommen wurde, das komplexe Ineinandergreifen verschiedener Vorstel‐ lungen und deren Verteidigung - auch in Form von Invektiven - im Ringen der 202 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 320 Bezüglich der Tatsache, daß eine solche Kategorisierung auch immer die Gefahr der Vereinfachung und Reduktion einer komplexen Sichtweise birgt sowie der Vernach‐ lässigung von Traktaten bzw. Meinungen, die abseits der Hauptströmungen zu finden sind, führt sehr schlüssig Ellena (2011: 23-24) in ihrer kritischen Betrachtung des Mo‐ dells von Hall (1942: 7) aus, der mit den zwei Kategorienpaaren tuscan vs. antituscan und archaistic vs. anti-archaistic im Sinne einer Matrix arbeitet. 321 Cf. Kap. 6.3.9 Die Hauptströmungen der Questione della lingua vom frühen 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert anhand von Wörterbüchern, Grammatiken und Polemiken (Michel 2005: 384-393) und Kap. 6. 3. 10 Die Hauptströmungen der Questione della lingua vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Herrschaft Napoleons (ibid. 2005: 394-401). 322 Bei den ersten Erwähnungen wird die questione della lingua relativ eindeutig allein mit dem 16. Jh. in Verbindung gebracht (cf. Reutner / Schwarze 2011: 70, 78) und gerade nicht mit der Zeit Dantes; in einer allgemeinen Charakterisierung des Konflikts ,Latein vs. Volgare‘ (ibid. 2011: 80) wird dieser jedoch ebenfalls der questione zugeordnet und die Suche nach der geeigneten Schrift- und Standardsprache ebenfalls, und zwar bis in die aktuelle Gegenwart, ohne dies jedoch weiter zu spezifizieren. An anderer Stelle wird wiederum von der „eigentlichen“ questione gesprochen (ibid. 2011: 116-117), die ihren Höhepunkt in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jh. gehabt hätte - hier also wiederum eine extreme zeitliche Eingrenzung. Renaissance-Gelehrten um eine gemeinitalienische Literatur- und Standard‐ sprache besser zu verstehen. 320 Im Gegensatz zu Koch spricht Michel (2005: 394) auch noch für die Zeit vom 17.-19. Jh. explizit von der questione della lingua und handelt die jeweiligen Diskussionsschwerpunkte nach Jahrhunderten ab, 321 wobei das 19. Jh. allgem‐ einer unter dem Aspekt Sprachtheorie und Sprachpraxis (cf. Kap. 6. 3. 11 bei Mi‐ chel 2005: 401-408) betrachtet wird und nur die Zeit bis Manzoni ausdrücklich der questione zugeordnet wird (cf. ibid. 2005: 401). Die Sprachgeschichte von Reutner / Schwarze (2011), scheint sich bezüglich vorliegender Fragestellung mutatis mutandis an der Gliederung von Marazzini (dt. 2011, it. 2004) zu orientieren, der die storia della lingua italiana strikt nach Jahrhunderten abhandelt. Dabei decken sich hier vor allem zwei wichtige Sub‐ kapitel: Der 1. Punkt im IV . Kapitel (Das 15. Jahrhundert) von Marazzini (2011: 87) heißt dort Latein und Volgare und im V. Kapitel (Das 16. Jahrhundert) ist das 1. Unterkapitel als Italienisch und Latein überschrieben, was bei Reutner / Schwarze (2011: 101, 117) als die entsprechenden Subtitel 5.1 Latein und Volgare in Konkurrenz und 6.2 Die Questione della lingua im 16. Jahrhundert übernommen wird. Daraus läßt sich auch ableiten, daß sich für sie die questione im Wesentlichen auf diese Zeitspanne reduziert - wirklich eindeutig beziehen sie dabei jedoch nicht Position. 322 Für Vitale (1984: 39) beginnt die questione della lingua im 16. Jh. und reicht bis Manzoni (Mitte 19. Jh.), die vorangehende Debatte um ,Latein vs. Volkssprache‘, beginnend bei Dante und dann vor allem virulent im 15. Jh., faßt er unter preli‐ 203 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 323 „I temi di essa, s’è già detto, differiscono radicalmente da quelli del passato“ (Vitale 1984: 614). 324 Die im letzten Satz des Zitats angesprochene Diskussion um die Benennung der po‐ tentiellen allgemeinen Schrift-, Literatur- und Standardsprache ist wiederum eine Teil‐ debatte (initiiert vor allem von Machiavelli), wobei die aufgeführten Denominationen nicht mit den üblichen grundsätzlichen Positionen innerhalb der Sprachenfrage gleich‐ gesetzt werden dürfen; hierbei gibt es Konvergenzen, aber keine Deckungsgleichheit. Zu einzelnen Positionen bezüglich der Benennung in Abhängigkeit von der zugrunde‐ liegenden Favorisierung (modello toscano bzw. fiorentino moderno, modello fiorentino arcaizzante oder modello eclettico bzw. lingua cortigiana, cf. Migliorini 2007: 310), d. h. toscano, italiano oder fiorentino cf. Michel (2005: 366-367) sowie Reutner / Schwarze (2011: 126), die weitere Bezeichnungen dieser Debatte wie toscan volgare, tosco, tosco-fi‐ orentino, lingua del sì oder lingua volgare auflisten. Zur reinen Wortgeschichte von latino und volgare cf. Holtus (1987). minari zusammen (cf. Vitale 1984: 15-37); Diskussionen nach der unificazione, die dann die lingua nazionale und ihre Verbreitung betreffen, sowie allgemein moderne Entwicklungstendenzen aufgrund von beispielsweise Massenmedien gehören für ihn nicht mehr zu dieser historischen Debatte. 323 Während bei Koch und Michel die zeitlichen Grenzen der questione nicht immer ganz eindeutig sind - so wird bei beiden Autoren nicht expliziert, ob der polyzentrische Ausbau des Italienischen mit zu einer Früh- oder Vorphase ge‐ hört, die Spätphase ist eher diffus abgegrenzt - ist Marazzini (2013) in seiner Monographie zur Sprachenfrage schon dahingehend programmatisch und ein‐ deutig, insofern er in seiner Neuauflage den Titel entsprechend abändert und damit gleichzeitig ein Statement zum zeitlichen Rahmen abgibt, dessen Eck‐ punkte für ihn eben durch Da Dante alle lingue del Web charakterisiert sind, also einerseits wirklich auch aktuellste Entwicklung mitumfaßt und andererseits Dante klar als Beginn positioniert. Sotto il nome di „questione della lingua“ si indicano, nella tradizione culturale italiana, tutte le discussioni e le polemiche, svoltesi nell’arco di diversi secoli, da Dante ai nostri tempi, relative alla norma linguistica e ai temi essa connessi. Questi temi, pur nella sostanziale analogia, non furono uguali in tutti i periodi storici. All’inizio, nel Medi‐ oevo e durante l’Umanesimo, si trattò di riconoscere e rivendicare la dignità del vol‐ gare, o di negarla, in nome della superiorità del latino. Nel Cinquecento si discusse a lungo sul nome da attribuire all’idioma letterario, se dovesse essere detto toscano, fiorentino, lingua comune o lingua italiana. (Marazzini 2013: 15) 324 Auch Marazzini (2013) sieht durchaus den Kern der Debatte - vor allem la questione della norma (ibid. 2013: 19) - im Cinquecento, insofern erst zu dieser Zeit (mit gewissen Vorläufern und anderen Schwerpunkten im vorhergehenden Jahrhundert) la „totalità degli uomini di lettere“ (Marazzini 2013: 23) betroffen 204 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 325 Cf. dazu auch Ellena (2011: 18): „Umgekehrt ist die Normdiskussion auch Spiegel sprach‐ licher Entwicklung. Es scheint unmöglich zu bestimmen, bis zu welchem Grad die Questione della lingua schon manifeste sprachliche Verhältnisse abbildet und verarbeitet und inwieweit der Vorstoß der Leitvarietät in immer mehr Kommunikationsbereiche und ihr letztendlicher Ausbau zur italienischen Nationalsprache hauptsächlich durch die literarischen Modelle und damit auch ohne eine solch ausgeprägte Debatte erfolgt wären, wie sie in Italien über lange Zeiträume hinweg belegt werden.“ 326 Die einzelnen involvierten Bereichen könnte man ohne weiteres noch ergänzen, z. B. Historiographie, Philosophie, Sprachreflexion, Poetik, etc. war. Er rechtfertigt aber Dante als initium mit der Tatsache, daß in De vulgari eloquentia und im Convivio das erste Mal diesbezügliche metasprachliche Re‐ flexionen angestellt wurden, auch wenn eine gewisse zeitliche Lücke bis zur Wiederaufnahme dieser Argumente zu konstatieren ist. Dabei betont er auch nochmal, daß die questione della lingua, trotz dieser weiten zeitlichen Klamme‐ rung, keinesfalls in toto mit der italienischen Sprachgeschichte gleichzusetzen ist, jedoch ein wichtiger Teil von ihr sei. 325 Die Vielfältigkeit der Debatte im Laufe der Jahrhunderte äußert sich zum einen in Bezug auf die behandelten Frage‐ stellungen (v. supra), aber auch hinsichtlich der betroffenen Fachbereiche (Li‐ teratur, Rhetorik, Grammatik) 326 und der konkreten Auswirkungen (Schule, Bil‐ dung i.w.S., Politik und Sprachpolitik, Verwaltung, Jurisprudenz, Wissenschafts- und Kulturbetrieb) (cf. Marazzini 2013: 17). Führt man sich die verschiedenen implizit oder auch explizit formulierten Vorstellungen zur zeitlichen Einordnung bzw. Begrenzung der questione della lingua vor Augen, so kann man als conclusio zumindest eine grundsätzliche Zweiteilung vornehmen, und zwar dahingehend, daß man die allgemeine Sprachreflexion in Bezug auf das Italienische - dazu gehört auch sein Verhältnis zum Latein - zumindest theoretisch strikt von der eigentlichen Normdiskussion trennt, wobei beide Ebenen in einem Inklusionsverhältnis zueinander stehen. Dies hat zur Folge, daß der früheste Zeitpunkt, wie auch bei Marazzini dargelegt (v. supra), der Diskurs bei Dante ist; da aber sein volgare illustre erst mit der (Neu)Veröffentlichung durch Trissino (1529) in gewissem Maße Einfluß auf die Debatte um das adäquate Italienisch der Literatur bzw. der Schriftlichkeit all‐ gemein haben konnte, bleibt Dante erratisch und die Debatte ist in ihrem Kern im 16. Jh. anzusiedeln (cf. Vitale supra). Auf der anderen Seite kann man von der Zeit nach Manzoni oder spätestens nach der Einigung Italiens und den damit verbundenen sprachlichen Folgen nicht mehr im engsten Sinne von der einst in der Renaissance begonnenen Sprachenfrage sprechen. Es verbleibt zwar wei‐ terhin Diskussionspotential - man denke dabei an die nuova questione della lingua, die Pier Paolo Pasolini (1922-1975) in der Zeitschrift Rinascita (26. 12. 1964) aufwirft (cf. Parlangèli 1979) oder die Frage, ob es ein neo-standard 205 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua gäbe (Berruto 1987, v. supra) - dennoch berührt dies nicht mehr den Kern der einstigen diatopischen und normativen Problematik. In einer Graphik kann man die verschiedenen zeitlichen Rahmen deshalb folgendermaßen darstellen: Abb. 6: Chronologie der questione della lingua in Italien Es bleibt festzuhalten, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache in Italien eine intensive war, die sich über viele Jahrhunderte erstreckte, in denen je unterschiedliche Kernfragestellungen virulent waren, die von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Gelehrten aufgegriffen wurden. Bis an die Schwelle zum 20. Jh. blieb jedoch sowohl die metasprachliche Diskussion um die adäquate Sprache als auch das sich herausbildende italiano (comune) „das Ausdrucksmittel einer sozialen Oberschicht“ (Bagola 1991: 21) bzw. „kulturellen Führungsschicht“ (ibid.), die unabhängig von politischen Differenzen und der vielfachen staatli‐ chen Zersplitterung Italiens existierte und für die die gemeinsame Sprache einen kulturellen Identifikationsfaktor darstellte. Schließlich verbleibt noch zur Verortung des hier fokussierten Themas die Frage nach der Sprache der Römer bzw., welche Art(en) von Latein in der Antike gesprochen bzw. geschrieben wurden. Sicherlich gehören die im Zuge jener De‐ batte aufgeworfenen sprachhistorischen Probleme nicht zum Kern der ques‐ tione, aber zweifelsohne handelt es sich dabei auch um eine Sprachenfrage, eine, die sehr wohl eng mit den einzelnen Positionen innerhalb der questione ver‐ knüpft ist. Die Vorstellungen von der je eigenen zeitgenössischen Situation in Bezug auf das Verhältnis volgare vs. Latein sowie hinsichtlich der Frage nach Stilregistern und der Adäquatheit einer bestimmten Varietät für einen be‐ stimmten Anlaß werden immer wieder auf die antike Situation übertragen, aber auch umgekehrt liefert die in der antiken Rhetorik sich widerspiegelnde Ver‐ flechtung von einzelnen Varietäten Denkanstöße zur Lösung der eigenen aktu‐ 206 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen ellen Problematik. Insofern kann man diese Diskussion, deren Chronologie in vorliegender Untersuchung durch die Eckdaten 1435 und 1601 begrenzt wurde, durchaus als Teil der questione im weiteren bzw. weitesten Sinne sehen. Dar‐ überhinaus sind die Positionen der einzelnen Humanisten bezüglich der hier diskutierten antiken Sprachenfrage, oft nicht ohne den Kontext ihrer vertre‐ tenen Ansichten in der questione im engen Sinne, verständlich (cf. Rekontextu‐ alisierung). 6.1.3 Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio In der Renaissance findet ein Paradigmenwechsel in der Historiographie statt, der auch wichtig für die Sprachbetrachtung ist. Man löst sich in der Vorstellung der eigenen geschichtlichen Verortung von einer teleologischen Linearität und christlichen Determiniertheit. Mit der Wiederentdeckung der Antike und der Positionierung des Individuums verändert sich auch der Blick auf die eigene unmittelbare Geschichte und die vergangener Jahrhunderte sowie auf die in dem jeweiligen historischen Kontext Agierenden, die nicht mehr unter dem Aspekt eines göttlichen Plans betrachten werden. Verglichen mit den vorangehenden Jahrhunderten zeichnet sich die Renaissance durch ein gesteigertes Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Epoche aus: Man begreift sich nicht länger in der Kontinuität einer Zeitspanne, sondern nimmt vor allem Abstand und Distanz zu früheren Epochen wahr. Dieser Wandel der histo‐ rischen Wissensordnung resultiert im wesentlichen aus der Ersetzung heilstheologi‐ scher Vorgaben durch profane Ereignisgeschichte als Orientierungsmaßstab des his‐ torischen Bewußtseins: An die Stelle göttlichen Eingreifens in den Gang der weltlichen Angelegenheiten tritt die klassische Antike. (Münkler / Münkler 2005: 132) Dieses veränderte Verständnis von Geschichte und ihrem Verlauf hat einen ganz anderen Umgang mit den zugrundeliegenden Quellen zur Folge und mündet in eine andere Form der Darstellung von Ereignissen und Zusammenhängen. Die Loslösung von einer heilsgeschichtlichen Orientierung sowie die kritische Er‐ schließung der historischen Zeugnisse und nicht zuletzt die Reflexion der ei‐ genen historiographischen Tätigkeit legen den Grundstein für eine moderne Geschichtsschreibung. Dies zeigt sich beispielsweise bei Leonardo Bruni (1370-1444), in dessen Historiarum Florentinarum libri XII (1416-1444) die Le‐ 207 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 327 Giovanni Villani (ca. 1280-1348) läßt seine Nuova Cronica (ca. 1315-1348) in biblischer Zeit beginnen, wobei die Verteilung der Schilderung der historischen Ereignisse inso‐ fern äußerst ungleichmäßig verteilt ist, als die ersten sieben Bücher vom Ursprung bis 1265 reichen und die folgenden sechs jedoch allein der jüngsten zeitgenössischen His‐ torie gewidmet sind (cf. Luzzati 2002: 434). Sein Bruder Matteo Villani (ca. 1280-1363) und dessen Sohn Filippo Villani (ca. 1325-1404) führen die Chronik fort und ergänzen die Ereignisse der jüngsten, vor allem florentinischen Geschichte. 328 Platon nimmt ein zyklisches Modell von Staatsformen an: Aristokratie, Timokratie, Oligarchie, Demokratie, Tyrannis (cf. Platon Polit. VIII, 1-2 (543a-545c); 2000: 648-655). Er rekurriert dabei aber auch auf das Werden und Vergehen im Tier- und Pflanzenreich: „Da aber alles Gewordene untergehen muß […], wenn für jede Gattung die Lebenspe‐ riode ihren Kreislauf schließt […]“ (Platon; Polit. VIII, 3 (546a); 2000: 655-657). genden, Fabeln und Wunder der von ihm konsultierten Chronik von Villani 327 als Erklärungsmodell keinen Eingang fanden, sondern er das Handeln der ein‐ zelnen Protagonisten durch Interessenslagen und rationale Entscheidungen zu begründen sucht. Der Abstand der eigenen Epoche zu anderen Jahrhunderten, die eben auch durch eine andere Geisteshaltung zu charakterisieren sind, wird bei Flavio Biondo (1392-1463) in seinem Werk Historiarum ab inclinatione Ro‐ manorum decade (1440-1452) deutlich, der für die Zeit zwischen der Antike und der eigenen den Begriff medium aevum einführt (cf. Münkler / Münkler 2005: 132-133). In diesem Kontext ist es letztendlich auch nicht verwunderlich, daß man sich im Zuge der Sprachreflexion, die ja bereits mit Dante einsetzt, für geschichtliche Prozesse interessiert bzw. für das, was man heute als Sprachwandel bezeichnet. Erste Indizien für die Frage, was mit der von Generation zu Generation weiter‐ gebenden Sprache passiert, wie sie sich verändert, finden sich schon in De vul‐ gari eloquentia, doch erst im Kontext des sich verändernden Geschichtsbe‐ wußtseins - diesbezüglich war Dante noch ganz dem Mittelalter verhaftet - gewinnt diese Fragestellung eine neue Bedeutung und Virulenz. Das allgemeine neu entstandene Bewußtsein für Historizität wird dabei über‐ lagert von dem Konzept des zyklischen Verlaufs der Geschichte, welches in seinen Ursprüngen auf antike Vorstellungen von einer Abfolge von Kulturen, Herrschaften oder dem allgemeinen Werden und Vergehen zurückgeht. Bereits bei Platon (Politeia, VIII ) 328 finden sich Aspekte der Zyklentheorie, aber für die Auffassung in der Renaissance sind es vor allem die Konzepte von generatio, alteratio und corruptio, die in der aristotelischen Schrift De generatione et cor‐ ruptione (Περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς) ausgeführt werden und in die Argumenta‐ tion zum Sprachwandel der rinascimentalen Gelehrten Eingang findet. De generatione autem et alteratione dicamus, quid differunt: dicimus enim alteras esse has transmutationes ad invicem. Quoniam igitur est aliquid subiectum et aliud passio, 208 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 329 Zum griechischen Original cf. Aristotle (De gen. et corrupt. (gr.) I, 4, 5-20 (319b); 1955: 201-203; ). que de subiecto innata est dici, et est transmutatio utriusque horum, alteratio quidem est, quando manente subiecto sensato ente transmutat in eius passionibus aut con‐ trariis aut mediis, puta corpus sanum est rursus laborat manens illud idem; et metallum rotundum, quandoque autem angulare, idem ens. Quando autem totum transmutat non manente aliquo sensato ut subiecto eodem, sed quasi ex semine sanguis toto aut ex aqua aer aut ex aere omni aqua, generatio iam hoc tale, huius autem corruptio, maxime autem, si transmutatio generabitur ex insensato in sensatum aut tactu aut omnibus sensibus, puta quando aqua generatur aut corrumpitur in aerens: aer enim valde insensatum. (Aristoteles De gen. et corrupt. (lat.) I, 4, 5-20 (319b); 1986: 23-24) 329 Aristoteles versteht demnach unter alteratio eine Veränderung, die jedoch keine grundlegende ist, da die Substanz der Sache oder des Wesens davon unberührt bleibt, wie das Beispiel des einmal kranken und dann wieder gesunden Men‐ schen oder des sich verändernden Metalls deutlich macht (idem ens). Wenn hin‐ gegen etwas vollkommen Neues entsteht (totum transmutat), wie eben aus dem Samen Blut (ex semine sanguis) oder aus dem Wasser Luft (ex aqua aer) bzw. umgekehrt, dann wird dieser Prozeß als generatio bezeichnet, während der damit einhergehende Verfall als corruptio definiert wird. In diesem Sinne bedingen sich corruptio und generatio gegenseitig und können im Rahmen eines Ablöseproz‐ esses als zyklisch interpretiert werden. In der Renaissance kommt diese Vorstellung vom Werden und Vergehen in‐ sofern wieder zum Tragen, als man sich zu dieser Zeit selbst am Ende eines abgeschlossenen Zyklus’ sieht und damit gleichzeitig am Anfang eines epo‐ chalen Neubeginns (cf. rinascere, rinascita), mit dem Ziel einer Abgrenzung vom vorangehenden Zeitalter (cf. medium aevum) und der Anknüpfung an die An‐ tike. In Parallelität zum Kreislauf des Lebens beim Menschen (Geburt, Wachstum, Tod) sowie bei den Pflanzen (Wachstum, Blühen, Vergehen) oder schlicht des Tagesablaufes wird auch ein Zyklus der Kulturen angenommen und dies letztendlich auch auf die Sprache übertragen (cf. Schunck 2003: 10-11). Prägnant wird das von Giovan Giorgio Trissino (1478-1550) in seinem Castel‐ lano (1570) formuliert: „Tutte le lingue hanno il principio, lo augmento, il stato, la declinazione e la rovina […]“ (Trissino 1570: 33-34). Der erste, der im 15. Jh. das zyklische Modell auf den Sprachwandel über‐ tragen hat, war Flavio Biondo, der in seinem Brief Leonardus Flavio Forolivi‐ ensi S. Quaerit an vulgus et literati eodem modo per Terentii Tulliique tempora Romae locuti sint (1435) die Verderbtheit des Lateins, verursacht vor allem durch germanische „Barbaren“ (v. infra: Gothi, Vandali) als grundlegendes Erklärungs‐ 209 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 330 „Tavoni (1984: 165-168) bestreitet, daß bereits im 15. Jh. diese Auffassungen durch eine direkte Aristoteles-Rezeption bedingt seien: „Ma è del tutto indimostrato che Biondo Flavio e Leon Battista Alberti, come gli altri della linea-Biondo che il Faithfull non prende in esame, ragionassero in termini di alteratio“ (ibid. 1984: 167). Insbesondere für Alberti sieht er das nicht, da dieser in seiner Grammatica della lingua toscana (ca. 1450) das Italienische als eine „lingua perfettamente autonoma“ (ibid.) beschreiben würde. Zudem sei zwar die Unterscheidung bei Faithfull in eine humanistische und eine vitalistische Argumentationsweise zutreffend, jedoch würde sich nur letztere aus der Naturphilosophie des Aristoteles speisen können (ibid.). Allerdings führt er auch kein weiteres Erklärungsmodell an, wie es sein kann, daß die Gelehrten des Quattrocento dieses aristotelische Gedankengut ignoriert hätten, dann aber ein Jahrhundert später, wie beispielsweise bei Varchi in seinem Ercolano (1570), explizit darauf Bezug ge‐ nommen wird und dies alles im gleichen Kontext der Korruptionsthese: „la corruzione d’una cosa è (come ne insegna Aristotile) la generazione d’un’altra“ (Varchi, Ercol., 1804 II: 32). Schunck (2003: 18, FN 57) hält zwar einerseits an der Unterscheidung alteratio vs. generatio auch für das Quattrocento fest und wendet sich in Bezug auf Biondo gegen Marazzini (1989: 18), der von Biondos volgare als einer „nuova lingua“ im Sinne von generatio spricht, andererseits beschränkt sie sich explizit aufs Cinquecento und weicht somit der Problemstellung Tavonis aus. 331 Die Datierung des Proemio ist hier wichtig, da sonst Ungereimtheiten in Bezug auf die Chronologie entstehen - insbesondere bezüglich Biondo vs. Alberti - wie bei Schunck modell zur Entstehung des Italienischen entwickelt. Für die folgenden knapp zwei Jahrhunderte wird es ein kontroverses Thema bleiben, welches heutzutage als „Barbarenthese“, „Germanenthese“ bzw. italienspezifisch als „Langobarden‐ these“ (it. teoria della catastrofe) oder „Korruptionsthese“ (bzw. „cor‐ ruptio-These“) Eingang in die Wissenschaftsliteratur gefunden hat. Temporibus vides quae Ciceronis aetatem praecesserant illos qui aut extra Romam vixerant, aut Romae domesticam habuerant aliquam barbariem, a nitore locutionis romanae aliqualiter recessisse, et barbarie illa infuscatos fuisse: postea vero quam urbs a Gothis et Vandalis capta inhabitarique coepta est, non unus iam aut duo infiscati, sed omnes sermone barbaro inquinati ac penitus sordidati fuerunt; sensimque factum est, ut pro romana latinitate adulterinam hanc barbarica mixtam loquelam habeamus vulgarem. (Biondo, De verb Rom. XXV, 109-110; 1984: 214) In Bezug auf Biondo geht Faithfull (1953: 284-285) vom Fall der alteratio aus, da diesem - wie auch anderen Gelehrten des Quattrocento - bewußt wurde, daß die zeitgenössische Volkssprache etwas Neues war und somit nicht ab antiquo existierte, jedoch in ihrer Substanz immer noch Latein war, sich also nur die Akzidenz geändert hatte. 330 Bereits kurze Zeit später wird die Theorie von den Barbaren als Verursacher eines korrumpierten Lateins von Leon Battista Alberti (1404-1472) wiederauf‐ gegriffen, und zwar insofern, als er im Proemio (1437) 331 des dritten Buches von 210 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen (2003: 19, FN 61), die Della famiglia nur mit 1432 datiert. Hier sei auf Tavoni (1984: 42) rekurriert, der das Proemio des 3. Buches explizit auf 1437 festlegt, während die ersten drei Bücher ansonsten wohl in den Jahren 1432-1434 entstanden sind, das vierte hin‐ gegen erst etwa zwischen 1437 und 1440 / 1441 (cf. Alberti, Della fam.; 1994: IX; cf. Scarpa 2012: 71). 332 „[…] la corruzione di quelle n’ha un’altra molto leggiadra e molto nobile generata“ (Tolomei, Ces. 43v (47-48); 1996: 37). I libri della famiglia (1432-1441) die Entstehung des zeitgenössischen volgare in Italien auf die zahlreichen Invasionen der fremden Völker zurückführt (v. infra: Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altri simili barbare), die so die Sprache ver‐ dorben hätten. Cosa maravigliosa intanto trovarsi corrotto o mancato quello che per uso si conserva, e a tutti in que’ tempi certo era in uso. Forse potrebbesi giudicare questo conseguisse la nostra suprema calamità. Fu Italia più volte occupata e posseduta da varie nazioni, Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altre simili barbare e molto asprissime gente. E, come necessità o volontà inducea, i popoli, parte per bene essere intesi parte per far più ragionando piacere a chi essi obediano, così apprendevano quella o quell’altra lingua forastiera, e quelli strani e adventizi uomini il simile se consuefaceano alla nostra, credo con molti barbarismi o corruptela del proferire. Onde per questa mistura di dí in dí insalvatichí e viziossi la nostra prima e cultissima e emendatissima lingua. (Alberti, Fam., Della fam. III, proemio, 24-37; 1994: 188) Aus der Verwendung der Begriffe corruptela, insalvatichire oder viziarsi leitet Faithfull (1953: 285) ab, daß es sich auch bei Alberti um eine Veränderung im Sinne von alteratio handelt, da er nicht die Entstehung einer völlig neuen Sprache annimmt, sondern das Italienische als eine Art von korrumpiertem La‐ tein begreift. Die Frage, ob etwas Neues entstehe, also generatio vorliegt, oder ob nur eine Veränderung von bereits Existierendem anzunehmen ist (alteratio), beschäftigt dann vor allem die Gelehrten im 16. Jh., die diesen Gegensatz auch explizit the‐ matisieren, wie beispielsweise Claudio Tolomei (1492-1556) in seinem Werk Il Cesano (1555) 332 oder auch Benedetto Varchi (1503-1565), der im Ercolano (1570) ein ganzes Kapitel dieser Problematik widmet: Se la lingua volgare è una nuova lingua da se, o pure l’antica latina guasta e corrotta (cf. Varchi, Ercol., 1804 II : 30). Schunck (2003: 18-21) weist in diesem Kontext darauf hin, daß im 16. Jh. im Gegensatz zum 15. Jh. die Entstehung der italienischen Volkssprache als gene‐ ratio verstanden wird und damit als etwas Positives, trotz der vorangehenden corruptio durch die Germanen (bzw. Barbaren). Dies zeigt sich - wenn auch noch nicht so explizit wie bei späteren Autoren - bereits bei Pietro Bembo 211 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 333 Cf. auch Bahner (1983: 181): „Gegenüber dem Geschichtsbild des späten Mittelalters, in dem die Idee des Niedergangs und der moralischen Korruption thematisiert wurde, brachte die von den italienischen Humanisten vertretene Kreislauftheorie eine opti‐ mistische Perspektive. Die eigene Zeit verstand man als vielversprechenden Neubeginn, durch Wiedereroberung der antiken Kultur einem neuen Höhepunkt entgegenzu‐ streben.“ 334 Manche der für die „Korrumpierung“ verantwortlich gemachten Superstratvölker waren jedoch keine Germanen, wie die gelegentlich angeführten Hunnen oder Alanen. (1470-1547) in den Prose della volgar lingua (1525), der den Protago‐ nisten M. Ercole fragen läßt, „se la nostra lingua non era a quʼ tempi nata, neʼ quali la latina fiorì, quando e in che modo nacque ella? “ (Bembo, Prose, 1966: 86), woraufhin ihm M. Frederigo antwortet, daß dies nach der Invasion der Barbari geschehen sei und daraus eine neue Sprache geboren wurde („nascessene una nuova“ (ibid.)), wobei er auch auf die Pflanzenmetapher (v. supra) rekurriert („le piante che naturalmente vi nascono“ (ibid.)). 333 Unabhängig von der Frage, ob eine Veränderung im Sinne von alteratio oder eine dadurch verursachte generatio als Neubeginn vorliegt, ist der These Biondos von der corruptio des Lateins durch die Barbaren und dem daraus entstehenden volgare eine große Nachwirkung beschieden gewesen. Bereits innerhalb we‐ niger Jahrzehnte wird das Thema von verschiedenen Gelehrten wiederaufge‐ griffen und bleibt auch im folgenden Jahrhundert als Argument und Kontroverse virulent. Die ersten, die dies in ihren Schriften als Diskussionsgegenstand auf‐ nahmen, waren neben Leon Battista Alberti vor allem Poggio Bracciolini (1380-1459), Guarino Veronese (1374-1460), Francesco Filelfo (1398-1481), Lo‐ renzo Valla (1407-1457) und Paolo Pompilio (1455-1491) (cf. Coseriu 2003: 149-159; Ellena 2011: 64-66). Im 16. Jh. schließlich griffen das Thema, wie bereits erwähnt, vor allem Pietro Bembo (1470-1547) wieder auf, der die corruptio in seine „Mischsprachenthe‐ orie“ integrierte, die im Folgenden dominierte. Weitere wichtige Autoren, die mit entsprechenden Modifikationen Biondos Grundidee weitertradierten, waren neben Claudio Tolomei (1492-1556) und Benedetto Varchi (1503-1565), unter anderem Baldassare Castiglione (1478-1529), Girolamo Muzio (1496-1576) und Lodovico Castelvetro (1505-1571). Während bei der Mehrzahl der Humanisten die germanischen Superstratvölker als Auslöser für die Kor‐ rumpierung des Lateins ausgemacht wurde und man deshalb auch von der „Germanenthese“ sprechen kann, 334 gab es auch einige, die die Substratvölker in den Vordergrund rückten, ohne daß die zeitliche Schichtung der Beeinflus‐ sung immer deutlich wird. Hierzu wären vor allem Pier Francesco Giambullari (1495-1555) und Giovan Battista Gelli (1498-1553) zu nennen, die einen ara‐ 212 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 335 Zu den einzelnen Thesen zum Ursprung des Französischen (griechisch, hebräisch / se‐ mitisch, keltisch) cf. Coseriu (2020: 145-169). 336 Der Superstrattheorie geht die Substrattherorie von Graziado Isaia Ascoli (1829-1907) voraus, die nach einem ähnlichem Prinzip funktioniert. Zu Entstehung der Substrat‐ theorie cf. Schöntag (2013: 281-283, 290-292). mäisch-etruskischen Ursprung postulierten und mit Tolomei mitunter als Ver‐ treter der sogenannten „Etruskerthese“ kategorisiert werden. Die Korruptionsthese fand schließlich auch in Frankreich weite Verbreitung wie beispielsweise bei Joachim du Bellay (1522-1560), Estienne Pasquier (1529-1615), Claude Fauchet (1530-1602) oder César Chesneau Du Marsais (1676-1756), aber auch in Spanien bei Antonio de Nebrija (1441-1522) und Ber‐ nardo Aldrete (1560-1641) oder in Portugal bei Duarte Nunes de Le-o (1530-1608). Unabhängig davon wie stark die corruptio betont wurde oder teil‐ weise ganz in den Hintergrund trat, entwickelten sich in Frankreich im Zuge der allgemeinen Debatte zum Sprachursprung verschiedene Thesen zur Her‐ kunft der Volkssprachen, in denen das Germanische meist mit Substrat- oder Adstratsprachen verknüpft wurde. Als Grundlage wurde hierbei oft das Gallo‐ lateinische angenommen, in übersteigerte Form eines keltischen Einflusses wie z. B. bei Jean Picard de Toutry (15./ 16. Jh.) in De prisca Celtopaedia (1556) auch als „Keltenthese“ zu apostrophieren (cf. auch Pasquier, Fauchet). In dem Ringen um Prestige und eine einzigartige Charakteristik der eigenen Volkssprache ge‐ genüber den romanischen Nachbarsprachen und dem Latein, wurde auch ein übersteigerter griechischer Einfluß postuliert; so zunächst bei Joachim Périon (ca. 1499-1559) in seinem Dialogorum de linguae Gallicae origine ejusque cum Graeca cognatione libri IV , 1554-1555) oder auch bei Henri Estienne (1528-1598). 335 In Spanien wurde im Gegenzug von einigen Gelehrten außer dem Griechischen (z. B. Juan de Valdés, 1490-1541) und Arabischen (Adstrat) mit‐ unter wie bei Andrés de Poza Yarza (ca. 1530-1595) in seinem Werk De la antigua lengua, poblaciones y comarcas de las Españas (1587) das baskische Element (Substrat) stark hervorgehoben und als wesentliche Grundlage der kastilischen Volkssprache angesehen, weshalb man diesbezüglich von der „Baskenthese“ sprechen kann (cf. Strauss 1938: 105-123; Bahner 1983: 185-189; Schlemmer 1983a: 54-66; Schunck 2003: 17-31). Biondos Korruptionsthese wurde auch über die folgenden Jahrhunderte weiter tradiert und über Adam Smith (1723-1790) und August Wilhelm Schlegel (1767-1845) fand sie schließlich Eingang in die sich neu konstituierende sprach‐ wissenschaftliche Forschung. In modifizierter Form und mit entsprechender Neubewertung finden sich letzte Anklänge in Walther von Wartburgs (1888-1971) Superstratheorie (cf. Coseriu 2003: 159). 336 213 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 337 Klein (1957: 57-60), der die rhetorische Argumentation der Lateinhumanisten - wie z. B. von Romolo Amaseo (1481-1552) oder Lazzaro Bonamico (1479-1552) - schildert, die mit Hilfe eben jener Barbarenthese gegen das volgare vorgingen, faßt deren Motto in die Formel: La lingua volgare è la lingua latina guasta e corrotta (ibid. 1957: 57) (cf. Varchi supra). Cf. auch Marazzini (1989: 25): „La teoria delle ‚origini barbare‘ serviva perfetta‐ mente come argomento per i nemici dell’italiano […].“ Doch bereits bei Bembo, Cas‐ tiglione und Muzio wird durch die Begründung, daß durch die corruptio etwas Neues geschaffen würde (generatio), die Korrumpierung des Lateins letztlich in etwas Positives gewendet und die Volkssprache aufgewertet (cf. Schunck 2003: 19-21). Wie allgemein in Europa aus der metasprachlichen Betrachtung einer historischen Situation das Be‐ wußtsein für die eigene Volkssprache geschärft wurde und in den einzelnen Ländern daraus sich eine Aufwertung dieser gegenüber dem Lateinischen entwickelte cf. Haßler (2011: 55-59). 338 Zu einer Definition von Sprachbewußtsein in einer linguistischen metasprachlichen Perspektive cf. Haßler / Niederehe (2000: 8): „Vorgeschlagen wurde als gemeinsame Basis ein Verständnis des Sprachbewußtseins als nachweisbare Reflexion über sprachliche Mittel oder deren Gebrauch, die sich als Erlebnis der sprachlichen Identität oder Alte‐ rität, als Wertung eines bestimmten Sprachgebrauchs, als Akzeptieren, funktionales Einschränken, Verwerfen oder Empfehlen bestimmter sprachlicher Formen darstellen kann.“ 339 Zu allgemeinen Betrachtungen bezüglich lingua morta und lingua viva cf. Lüdtke (2005: 21-29). Die „Barbarenthese“ ist letztlich ein Baustein in der questione della lingua, weil die Frage nach dem Ursprung des volgare immer auch als Argument für oder gegen eine Aufwertung der zeitgenössischen Volkssprache herangezogen werden kann; 337 sie ist aber auch eine Problemstellung, die eng mit dem auf‐ kommenden historischen Interesse in der Renaissance zusammenhängt (v. supra) und erstmals so etwas wie ein dezidiertes historischen Sprachbewußt‐ sein 338 schafft oder wie es Fubini formuliert: „L’operetta del Biondo segna in‐ dubbiamente una data importante nella storia della cultura umanistica: s’era stabilito un rapporto positivo tra lingua e storia […]“ (Fubini 1961: 536). Schlu‐ ßendlich ist die bei Biondo behandelte These zur Entstehung der Volkssprache auch unweigerlich mit der vorliegenden Frage nach der Vorstellung von der Sprachkonstellation in der Antike verbunden. 6.1.4 Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva Eng mit der soeben erläuterten Problematik der Barbarenthese verbunden ist die Frage nach der „Lebendigkeit“ des Lateins und des Italienischen bzw. was eine lingua viva ausmacht oder sie von einer lingua morta abgrenzt. 339 Dies wie‐ derum berührt im humanistischen Gelehrtendiskurs ein grundsätzliches Ver‐ ständnis von dem, was unter Sprache zu begreifen sei und wozu sie diene. 214 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 340 „ut silvae foliis pronos mutantur in annos, prima cadunt: ita verborum vetus interit aetas, et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. […] mortalia facta peribunt, nedum sermonum stet honos et gratia vivax. multa renascentur quae iam cecidere cadentque quae nunc sunt in honore vocabula, si volet usus, quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi“ (Horaz, Ars poet., v. 60-72; 1984: 8). Dieses Bild wird auch in der Re‐ naissance wiederaufgegriffen, wie z. B. von Liburnio in seinen Volgari eleganze (1521) oder von Castiglione im Cortegiano (1528) (cf. Faithfull 1953: 280). Ob Horaz mit den verba und vocabula nur auf den lexikalischen Wandel referiert oder diese sinnbildlich für den Sprachwandel an sich stehen, sei dahingestellt. 341 Bereits in seinem unter dem Pseudonym Adriano Franci erschienenen Werk Il Polito (1531), welches vermutlich um 1525 verfaßt wurde, macht er von der Metapher Ge‐ brauch, wenn auch noch nicht so explizit (cf. Faithfull 1953: 280-281). Der Cesano ist als Manuskript wohl spätestens 1529 entstanden, gelangte aber erst 1555 zur Drucklegung (cf. Castellani Pollidori 1996: XLIII-XLVI). 342 Die Datierung der Veröffentlichung liefert unter Umständen nur einen groben An‐ haltspunkt zur relativen Chronologie einzelner Werke in der Renaissance, da nicht selten die Manuskripte schon Jahre zuvor zirkulierten und es so oft schwer feststellbar ist, wer von wem was übernommen hat (cf. Faithfull 1953: 279, FN 3). In vorliegendem Fall ist es unabhängig von der Datierung der Werke, daß Tolomei die Quelle für Citolini ist (cf. Faithfull 1953: 282). Bereits Horaz bringt in der berühmten Passage seiner Ars Poetica die Lebens‐ metapher in Verbindung zur Sprache, indem er die verba bzw. vocabula mit dem Werden und Vergehen der Blätter an einem Baum vergleicht. 340 Auch in der Sprachreflexion der Humanisten seit Dante wird der Sprachwandel thematisiert und dabei mitunter auch indirekt die Lebendigkeit einer Sprache bzw. deren Inexistenz zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, doch erstmals expliziter findet sich das Konzept vom Leben und Tod einer Sprache bei Tolomei, am deutlichsten formuliert in seinem Cesano (1555) (cf. Faithfull 1953: 279-281). 341 Non di meno a me non par giusta cosa lassiarci dalle costoro inique mani ingiuriosa‐ mente percuotere, e la nostra lingua, nel più bel fior de gli anni suoi, quando che ella più viva si mostra, per morta seppellire. (Tolomei Ces., 50v (27); 1996: 43) In engem freundschaftlichen Kontakt mit Tolomei stand Alessandro Citolini (ca. 1500-1582), der jenem auch in seinen gelehrten Betrachtungen wohl einiges verdankt. In seiner 1540 erschienenen Lettera in difesa della lingua volgare  342 wendet er schließlich das Konzept der lingua viva vs. lingua morta auf die beiden in der questione konkurrierenden Sprachen Latein und Italienisch (volgare) an (cf. Faithfull 1953: 280-282). l’altro error’è; che essi parlano di queste due lingue, come s’elle fussero in un mede‐ simo termine: e’ non s’aveggono; che la latina è morta, e’ sepolta ne libri; e’ che la 215 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 343 Zum Verständnis des Sprachtodes als Ende einer „Staffettenkontinuität“ cf. Lüdtke (2005: 22), der anhand der Beispiele, Latein, Griechisch und Hebräisch resümiert: „,Tote‘ Sprachen entstehen als solche, d. h. die werden ‚gemacht‘ oder ‚instituiert‘, als beson‐ deres Kulturphänomen in Krisensituationen“ (ibid. 2005: 23). volgare è viva; e’ tiene hora in Italia quel medesimo luogo; che tenne la latina, mentre visse. (Citolini 1540, Lettera, 6-7 (B-B2) [unpaginiert]) Hierbei versteht Citolini unter einer toten Sprache nicht - genausowenig wie wir heute 343 - unbedingt eine völlig ausgelöschte Sprache, von der keine Spuren mehr existieren, wie es beispielsweise Castiglione für das Oskische annahm („della lingua Osca non avemo più notizia alcuna“; Castiglione, Corteg. XXXVI .; 1964: 145), sondern eine, die sepolta in libri (v. supra) ist, d. h. nur über ihre Schriftlichkeit zugänglich. Lebendig hingegen ist eine Sprache, die man auch spricht oder wie Citolini (1540, Lettera, 7 (B2) [unpaginiert]) es formuliert: „ella è viva; e’ come viva crescie, genera, crea, produce, partorisce, e’ sempre si fà piu ricca, e’ piu abondante“. Im Folgenden wird dieses Konzept von verschiedenen Gelehrten aufgegriffen und konstituiert sich als ein Teil der questione della lingua. Die elaborierteste Version findet sich schließlich bei Varchi in seinem Erco‐ lano, der die den lingue vive entgegengesetzte Kategorie der lingue non vive in lingue morte affatto und lingue mezze vive aufschlüsselt, weil ihm klar wird, daß die bestehende Dichotomie die Realität nicht ausreichend abbildet. Dabei bettet er diese Unterteilung in eine Gesamtklassifikation der Sprachen ein, die durch zahlreiche Oppositionen gegliedert ist. Neben der Kategorie der ‚Lebendigkeit‘, d. h. den lingue vive (bzw. non vive), gibt es lingue originali (bzw. non originali), lingue articolate (bzw. non articolate), lingue nobili (bzw. non nobili) und lingue natie, o proprie, o nostrali (bzw. non natie, o aliene, o forestiere) (cf. Marazzini 1993a: 271). Er stellt dabei eine Sprachtypologie auf, die verschiedenen Kriterien gehorcht, die aus heutiger Perspektive mit Begrifflichkeiten wie Sprachtod, Migration, Verschriftlichung, Ausbaugrad, sprachgenetischer Verwandtschaftsgrad, sprachlicher Abstand oder Grad an Interferenz beschrieben werden können. 216 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 344 Interessanterweise sieht Varchi hier sehr deutlich die Verbreitung des Lateins außerhalb von Latium im Rahmen der römischen Expansion, so daß alle romanischen Sprachen für ihn lingue non originali sind: „[…] quelle poi, le quali si favellano in alcun luogo, dove elle non abbiano avuto l’origine, e principio loro, ma si sappia che vi siano state portate d’altronde, si chiamano non originali, come fu non solo alla Toscana, e a tutta Italia, dal Lazio in fuori, ma ancora alle Spagne, e alla Francia la Lingua Latina, ment‐ rechè non solo i Toscani, e gl‘ Italiani, ma i Franzesi ancora, e gli Spagnuoli favellano nelle loro provincie Latinamente“ (Varchi 1804 I: 209). 345 Zu den lingue non nobili gibt er kein konkretes Beispiel, es sind aber solche, die entweder gar keine Schriftsteller haben, oder aber zwar ein gewisses Schrifttum aufweisen, jedoch ohne prestigeträchtige Literatur sind bzw. nicht alle Gattungen abdecken (cf. Varchi, Ercol.; 1804 I: 210). 346 „Alcune altre, sebbene non si favellano naturalmente da alcun popolo in luogo nessuno, si possono nondimeno imparare o da’ maestri, o da’ libri, e poi favellarle, o scriverle, come sono la Greca, e la Latina, e ancora la Provenzale; e queste così fatte chiameremo mezze vive, perché dove quelle prime sono morte e nella voce, e nelle scritture, non si Abb. 7: Klassifikation der Sprachen bei Varchi (1804 I: 214) Für Varchi (Ercol., 1804 I: 207-214) sind Sprachen, die er unter originali ein‐ ordnet, autochthone, d. h. solche, die nicht durch die Migration von Völkern in eine Region kamen (Latein, Griechisch); 344 eine lingua articolata ist eine ver‐ schriftete Sprache und eine non articolata entsprechend eine nur mündlich ge‐ brauchte (z. B. die der Brettoni Brettonanti). Als lingue nobili betrachtet er neben dem Latein und dem Griechischen selbstredend das Italienische, welches in dieser prestigeträchtigen Reihung - so ist unschwer herauszulesen - eine Auf‐ wertung erfahren soll; Kriterium ist dabei eine Literatur, die zahlreiche Gat‐ tungen abdeckt. 345 Unter einer lingua morta affatto versteht er eine ausgestor‐ bene Sprache wie beispielsweise das Etruskische und eine lingua mezza viva ist für ihn eine Sprache, die man nicht mehr spricht, aber noch schreibt, was pro‐ totypischerweise für das Lateinische oder (Alt)Griechische zutrifft. 346 217 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua favellando più, e non s’intendendo, queste seconde sono morte nella voce solamente, perché se non si favellano, s’intendono da chi apparare le vuole“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 210). Mit Provenzale meint Varchi das Altokzitanische der mittelalterlichen Trouba‐ dourlyrik, den Bezug zum zeitgenössischen Okzitanisch sieht er hier noch nicht. 347 Unter lingue natie versteht Varchi solche, die man natürlich lernt, d. h. „nel sentire fa‐ vellare le balie“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 211), und lingue non natie „sono quelle le quali non si favellano naturalmente, ma s’apprendono con tempo e fatica, o da chi le insegna, o da chi le favella, o da’ libri“ (ibid.). 348 Zu einer kurzen Synthese der Kategorisierung von Varchi (mit Graphik) cf. auch Ma‐ razzini (1993a: 271-272). Bezüglich der lingue forestiere (bzw. non natie, aliene) 347 trifft er zusätzlich noch die Unterscheidung zwischen altre und diverse, wobei innerhalb der altre (z. B. (la lingua) Turca, Inghilese, Tedesca) noch unterschieden wird zwischen semplicemente altre, d. h. solchen die für einen Toskanischsprecher komplett unverständlich sind wie das Indische oder Arabische (großer sprachlicher Ab‐ stand bzw. genetisch kaum verwandt), und den non semplicemente altre, welche zwar ebenso unverständlich sind, aber in einer gewissen Beziehung zum Tos‐ kanischen stehen (Entlehnungen, Interferenzen), wie es bei Latein und Grie‐ chisch der Fall sei. Bei den lingue diverse wiederum differenziert er nochmals in diverse uguali, wobei er als Beispiel die griechischen Dialekte (z. B. (la lingua) Attica, Dorica, Eolica, Gionica) anführt, die untereinander verständlich seien und alle als gleich‐ berechtigt ausgebaute Schriftsprachen fungierten, und in diverse diseguali mit dem Beispiel der italienischen Dialekte (z. B. (la lingua) Bergamasca, Vicentina, Padovana, Viniziana), die ebenfalls eine gegenseitige Verständigung gewähr‐ leisten würden, aber in Bezug auf den Ausbaugrad hinter dem Toskanischen zurückblieben. 348 Varchi trifft also nicht nur eine präzisere Unterscheidung hinsichtlich der Frage nach der Lebendigkeit der Sprachen, er bettet diese auch ein in ein allge‐ meines System der Kategorisierung von Sprachen an sich (Kap. Divisione, e di‐ chiarazione delle lingue, Varchi, Ercol., 1804 I: 207), wobei die zugrundeliegenden Kriterien aus heutiger Sicht zwar prinzipiell valide sind - deshalb hier auch in moderner Terminologie gekennzeichnet (nicht so bei Marazzini 1993a) - jedoch stark heterogen. Hinzu kommt, daß bei ihm diese Klassifikation nur ein Teil weiterer metasprachlicher Fragestellungen ist, die alle eng miteinander ver‐ knüpft sind, darunter auch die bereits angesprochene Diskussion um alteratio und generatio (v. supra), aber auch eine so grundlegende Problematik wie Che cosa sia favellare (Varchi, Ercol., 1804 I: 47), Che cosa sia lingua (ibid. 1804 I: 196) und Che si conoscono le lingue (ibid. 1804 I: 202). Dabei ist für ihn die Verständ‐ lichkeit untereinander bzw. die Möglichkeit zur Kommunikation das entschei‐ 218 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 349 Zur Verdeutlichung der Differenzierung von Varchis Begrifflichkeiten, könnte man hier diese mit aller Vorsicht und grosso modo mit den Sassure’schen Begrifflichkeiten pa‐ rallelisieren; so wäre favella im Sinne von langage zu verstehen: „[…] il favellare è naturale all’uomo“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 47; cf. auch Dante, Div. Comm., Par. XXVI, 130; 1988 III: 316: „Opera naturale è che’uom favella“) und im Sinne von langue individu‐ elle: „[…] ciascuno uomo nasce con una sua propria, e naturale favella“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 47); favellare kann natürlich genauso wie parlare auch den individuellen Sprechakt ausdrücken (parole). 350 Im Mittelalter gab es zwar im Zuge der scholastischen Sprachphilosophie ebenfalls eine intensive Beschäftigung mit Sprache, doch war dies eher abstrakt und abgehoben von der Einzelsprache und ihrer Geschichte. Zu allgemeinen Charakteristika des scholasti‐ schen Sprachphilosophie sowie zur Sprachtheorie der Modisten cf. Bossong (1990: 17-32) und Kap. 6.1.5. dende Kriterium. Zudem unterscheidet er zwischen favellare bzw. favella, wel‐ ches einerseits die individuelle Sprache des einzelnen sein kann (langue individuelle) und andererseits das menschliche Sprechen per se bzw. die Sprach‐ fertigkeit (langage) sowie lingua, was die Sprache einer Sprachgemeinschaft be‐ zeichnet (langue). 349 Il parlare, ovvero favellare umano esteriore non è altro che manifestare ad alcuno i concetti dell’animo mediante le parole. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 48) Lingua, ovvero Linguaggio, non è altro che un favellare d’uno, o più popoli, il quale, o i quali usano, nello sprimere i loro concetti, i medesimi vocaboli nelle medesime significazioni, e co’ medesimi accidenti. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 196) Le lingue si conoscono da due cose, dal favellarle, e dall’intenderle. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 202) Das Begreifen, was Sprache ausmacht, in welcher Relation einzelne Sprachen zueinander stehen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, welchen Status sie haben und wofür sie verwendet werden bzw. bei welcher Gelegenheit, sind wichtige Grundparameter für das allgemeine Verständnis, wie Sprache funkti‐ oniert, ein Verstehen, welches sich in der Renaissance durch die verstärkte Be‐ schäftigung mit der (eigenen) Sprache erst langsam herausbildet. 350 Exemplarisch zeigt sich bei Varchi dabei auch sehr deutlich die Verknüpfung mit den verschiedenen einzelnen Fragestellungen, die Teil der questione im wei‐ testen Sinne sind, bzw. wie unterschiedliche Einzelkontroversen im Rahmen einer bestimmten Argumentation eingebettet sind und wie all dies Teil einer Epoche ist, in der die metasprachliche Reflexion einen großen Stellenwert ein‐ nimmt. Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, inwieweit sich die vor‐ liegende Fragestellung nach der Sichtweise der Renaissance-Gelehrten auf die Sprachkonstellation der römischen Antike und dem Beginn eines Verständ‐ 219 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 351 In der Philosophiegeschichte löst die Scholastik die spätantike frühmittelalterliche Epoche der Patristik (2.-7. Jh.) ab, die durch die großen Kirchenväter (lat. patres eccle‐ siae) und Kirchenlehrer (lat. doctores ecclesiae) geprägt ist, ab. Als die vier kanonischen Kirchenväter des Westens gelten Ambrosius (ca. 339-397), Hieronymus (ca. 345-420), Augustinus (354-430) und Papst Gregor I. der Große (590-420), als die des Ostens Athanasius (ca. 296-373), Basilius der Große (ca. 330-379), Gregor von Nazianz (329 / 330-389 / 390) und Johannes Chrysostomus (347-407). Weitere wichtige Philoso‐ phen der Patristik, die vor allem (neu)platonisches Gedankengut tradierten, sind u. a. Boethius (ca. 480-524), Pseudo-Dionysius Areopagita (ca. um 500), Isidor von Sevilla nisses dessen, was wir heute mit Vulgärlatein bezeichnen, in die geistesge‐ schichtlichen Zusammenhänge einfügt. Dabei sei in erster Linie nochmals auf die Voraussetzungen des epochalen Neubeginns durch die Bewegungen des Humanismus und der Renaissance verwiesen, die nicht nur das verstärkte In‐ teresse an Geschichte begründeten, sondern vor allem das Bewußtsein für His‐ torizität schufen. Vor dem Hintergrund der spezifischen Konstellationen in Ita‐ lien entstand zudem eine Kontroverse, die heutzutage als questione della lingua faßbar gemacht wird, realiter aber aus verschiedenen Sprachenfragen bestand, die wiederum eng mit den Bewegungen des Latein- und Vulgärhumanismus verknüpft waren. Innerhalb dieser questione - wenn man diese in sensu largo begreift - oder auch davon unabhängig zu betrachten und dennoch nicht ganz losgelöst, fanden verschiedene Teildebatten der Sprachreflexion statt, worunter insbesondere die um die Entstehung des volgare und diejenige bezüglich der Lebendigkeit einer Sprache einen integraler Bestandteil der hier fokussierten Fragestellung nach der antiken Sprachsituation darstellten. 6.1.5 Die Sprachauffassung im Mittelalter Im Folgenden soll ein kurzer Abriß zum sprachtheoretischen Denken im Mit‐ telalter, einigen Schlüsselbegriffen und den Bildungsinstitutionen gegeben werden, was als Hintergrundfolie für die sich dann in der Renaissance bzw. im Humanismus entwickelnde Neuerungen dienen soll. Die Kontinuität des mit‐ telalterlichen Denkens ist insbesondere bei Dante sichtbar (cf. Kap. 6.2.2), der an der Epochenschwelle steht, aber auch bei vielen Humanisten des 15. und 16. Jhs., die in dieser Tradition ausgebildet wurden (cf. Kap. 6.2.3-6. 2. 18). Die Sprachauffassung des Mittelalters, also jener Epoche, von der sich die Humanisten abgrenzen wollten (cf. media tempestas), ist vor allem durch den schulischen und dann auch universitären Betrieb geprägt, weshalb man sowohl bezüglich der Sprachtheorie als auch ganz allgemein hinsichtlich der philoso‐ phisch-theologischen Denkansätze von der Scholastik (cf. lat. schola, scola) spricht. 351 Man kann demgemäß die philosophischen Kontroversen dieser Zeit, 220 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen (560-636 n. Chr.), Beda Venerabilis (ca. 672-735) und Johannes Damascenus (ca. 650-754). Im Vordergrund der patristischen Philosophie stehen Probleme wie das Ver‐ hältnis von Glauben und Wissen (cf. credo, ut intelligam), die Frage nach der Existenz und dem Wesen Gottes sowie die Lehre vom logos (cf. Hirschberger 1965: 58-61, 69; Heim 1998: 251, 255, s. v. Kirchenlehrer, Kirchenväter). 352 Für Angehörige des Hochadels gab es auch ggf. Privatunterricht, der aber ebenfalls durch Kleriker erfolgte. 353 „Papst Gregor VII. [1073-1085] schrieb 1079 vor, an allen Bischofssitzen Schulen zu errichten, ein Appell, den das III. Laterankonzil 1179 dahingehend präzisierte, dass je‐ weils ein Schulmeister mit eigenem Einkommen angestellt werden solle“ (Müller 2015: 164). zu denen auch solche über die Sprache gehören, nicht ohne den institutionellen Rahmen betrachten. Die Ausbildung lag dabei ausschließlich in klerikaler Hand, denn die Elementarschulen, d. h. die Klosterschulen und die sogenannten Ka‐ thedral- oder Domschulen der Domkapiteln waren kirchliche Einrichtungen, in denen einerseits der Klerikernachwuchs ausgebildet wurde, andererseits auch die Söhne (nur zum Teil die Töchter, cf. Frauenklöster) der bürgerlichen Ober‐ schicht und des Adels. 352 Im frühen Mittelalter dominierten die Klosterschulen als Kernzellen des tradierten Wissens und der Ausbildung, ab dem 11./ 12. Jh. gewannen demgegenüber die bischöflichen Schulen an Bedeutung, d. h. die Ka‐ thedral- und Domschulen, aus denen dann oft auch Universitäten hervor‐ gingen. 353 In größeren Pfarreien wurde vor allem ab dem 13. Jh. (cf. Beschluß des IV . Laterankonzils von 1215) ebenfalls Schulunterricht erteilt, was insbesondere in den Städten von Bedeutung wurde, insofern dort Pfarrschulen entstanden, für die dann ein städtisch besoldeter Schulmeister eingestellt wurde. In diesen Lateinschulen erhielten auch solche Bürgersöhne eine Ausbildung, die später in Handel und Gewerbe tätig waren, in der kommunalen Jurisdiktion, Politik und Verwaltung, also überall dort, wo Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens erforderlich wurden. Die Lese- und Schreibfähigkeit weitete sich somit vom Klerikerstand und Feudaladel auf das städtische Patriziat, auf Kaufleute und schließlich auch auf Handwerker aus (cf. Gauger 1994: 75; Volkert 2004: 235-236, s. v. Schule; Müller 2015: 164-165). Die Kathedralbzw. Domschulen unter der Leitung eines Domscholasters (scholasticus) und die Kloster- oder Stiftsschulen waren oft auch im Besitz von Bibliotheken, zum Teil mit zugehörigen Skriptorien, in denen die Handschriften und Bücher aufbewahrt und tradiert wurden (cf. Flasch 2013: 157-170). Hier wurde das überlieferte Wissen der Antike bewahrt, wenn auch oft nur kompi‐ liert und selektiert nach christlichen Interessensschwerpunkten. Die europäischen Universitäten entstanden ebenfalls aus der Tradition der frühmittelalterlichen Klosterschulen sowie der dann später für die höhere Aus‐ 221 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 354 Ein exaktes Gründungsdatum bzw. -jahr für eine Universität festzulegen fällt oft schwer, da die Konstituierung einer universitas bzw. des studium generale oft in mehreren Etappen erfolgte (z. B. Privilegien vom König, Kaiser und / oder Papst, Erweiterung der Rechtsstatuten) bzw. der Übergang von einer (Kathedral)Schule zur Universität nicht eindeutig belegt ist. So gibt die Universität Bologna selbst als unbelegtes Gründungs‐ datum 1088 an. Eine Rechtsschule hat es Ende des 11. Jhs. allerdings wohl schon ge‐ geben, genauso wie in Oxford seit Ende des 12. Jhs. oder eine Medizinschule in Salerno bereits seit dem Ende des 10. Jhs., in Montpellier (universitas medicorum) seit Ende des 12. Jhs., die dann je als Universitäten neugegründet wurden. 355 So entstanden zu Beginn nicht selten Universitäten durch den Auszug der Scholaren und Magister, so z. B. in Padua durch Bologneser Studenten, Cambridge durch einige Oxforder Studenten. Es gab jedoch unter den ersten Universitäten auch einige Gründ‐ ungen durch Herrscher wie z. B. Salamanca (1219 / 1254) durch Alfons IX. (1188-1230) und Alfons X. (1252-1284), Neapel (1224) durch Friedrich II. (Kg. 1198 / 1212-1250, Ks. ab 1220), Lissabon (1288 / 1290) durch Dionysius I. (1279-1325) (cf. Weber 2002: 22-23). Die königlichen Stiftungsuniversitäten wurden ins Leben gerufen, um Fachkräfte zu gewinnen oder / und die Abwanderung der Studenten zu verhindern bzw. zum allge‐ meinen Nutzen des Staatswesens (cf. Signori 2007: 86). bildung wichtigeren Dom- und Kathedralschulen. Die ersten beiden Universi‐ täten, Bologna (1155 / 1252) 354 und Paris (1215 / 1231) entstanden um 1200 in ur‐ banen Zentren, die für die Kurie in Rom wichtig für die Verbreitung der päpstlichen Theologie waren, bevor weitere Gründungen nach demselben Mo‐ dell in ganz Europa folgten. 355 Bologna entwickelte sich seit dem frühen 11. Jh. zu einem Zentrum der Auseinandersetzungen einerseits der Emanzipationsbe‐ strebungen des städtischen Patriziats dem herrschenden Adel gegenüber und andererseits des Kaisertums mit dem Papst. Diese Konflikte, die oft Rechtskontroversen waren, in denen verschiedene Rechtsauffassungen und -traditi‐ onen miteinander konkurrierten (cf. kanonisches Recht, Kaiserrecht, kommu‐ nales Recht) begünstigten die Entstehung von Rechtsschulen, die bald großen Zulauf erhielten und deren Prestige sich bis jenseits der Alpen verbreitete (cf. Bononia docet). Die zahlreichen Studenten (lat. scholares) aus dem In- und Aus‐ land, die in regionalen bzw. landsmannschaftlichen Verbänden (lat. nationes) organisiert waren - in eine universitas ultramontanorum und universitas citra‐ montanorum (cf. Grundmann 1976: 47) -, brachten nicht nur Geld in die Stadt, sondern stellten auch ein gesellschaftliches und ordnungspolitisches Problem dar. Durch die Intervention des Kaisers, der die Scholaren vor der kommunalen Gerichtsbarkeit in Schutz nahm, gelang es ihnen, sich selbst effektiver in den nationes übergeordneten Schwurgemeinschaften zu organisieren (coniurationes, universitates). Auf diese Weise entstand in Bologna eine italienische und eine außeritalienische Rechtsuniversität sowie eine Artisten- und Medizinuniver‐ sität. Die Lehrer, d. h. die Magister (lat. magistri) und Doktoren (lat. doctores), schlossen sich ebenfalls übergreifend sowie fachlich spezifisch zusammen (cf. 222 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 356 Die Bolognesische Studenten standen künftig unter kaiserlichem Schutz und konnten im Falle eines Rechtsstreites die Gerichtsbarkeit wählen, d. h. den zuständigen Bischof oder ihren Magister der Universität. Diese Privilegiengewährung ist auch vor dem Hin‐ tergrund zu sehen, daß die Studenten, um ihren Wissensdurst zu stillen (amor scien‐ tiae), dorthin zogen, wo es entsprechende Lehrer gab, um die sich dann eine schola oder familia bildete; sie waren also potentiell fremd (cf. peregrinus) und schutzlos (cf. Müller 2015: 164-165). 357 Die Universität war als zunächst eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, d. h. eine universitas magistrorum et discipulorum bzw. universitas magistrorum et schola‐ rium, erst unter Humboldt wurde dies zu einer Gesamtheit der Wissenschaften (uni‐ versitas litterarum) umgedeutet (cf. Curtius 1993: 64, § 6). Dabei war universitas zunächst ein Begriff des Körperschaftsrechts, da diese Vereinigungen danach strebten, möglichst autonom zu sein und eigene Statuten zu erlangen und sich durch Rechte und Privilegien von den Kommunen, den Herrschern und der Kirchenobrigkeit abzugrenzen. Dennoch gingen die Gründungen der Universitäten vor allem ab dem 14. Jh. meist auf die Initi‐ ative von Herrschern zurück und es erfolgte zudem eine Approbation durch den Papst. Kirchliche Autoritäten regierten auch durch die Einsetzung eines entsprechenden Kanzlers in die inneren Angelegenheiten der Universitäten, der wiederum für die Er‐ teilung der Lehrbefugnis (licentia docendi) an bestimmte Personen verantwortlich war (cf. Schupp 2003: 315). z. B. collegium doctorum). Grundlegende Vereinbarungen, die die universitas nach und festigten und die auch den potentiellen Konflikt der studentischen Organisationen mit der Stadt beilegen sollten, stellten dann das 1155 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa (Kg. 1152-1190, Ks. ab 1155) gewährte Scholarenprivileg (authentica habita) dar, 356 die Universitätsstatuten von 1252 und die 1274 sowie 1290 vom Papst gewährten Rechte (cf. libertas scholastica bzw. libertas schola‐ rium), worunter u. a. das Recht auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung, das Recht Prüfungen abzuhalten und Titel zu vergeben, fiel. Die Kommune, die aus dem Standortvorteil eines allgemeinen Bildungszentrums ökonomisch und prestigemäßig profitierte, verpflichte sich im Gegenzug zur Besoldung der Pro‐ fessoren (cf. Verger 1993: 60-61; Weber 2002: 16-18). In Paris war die Situation ein wenig anders gelagert. Hier hatte sich durch zahlreiche in der Stadt vertretene kirchliche Orden und verschiedene Partiku‐ larinteressen (des Bischofs, der Kommune) eine wichtige theologische Schul- und Lehrtradition entwickelt, insbesondere ausgehend von der Kathedralschule von Notre-Dame, so daß auch hier eine Vielzahl von Scholaren und Magister von dem renommierten Bildungsangebot angezogen wurden, mit einem ähnli‐ chen Effekt wie in Bologna, nämlich daß die Versorgung der zugezogenen Stu‐ denten (Kost und Logis) zum Problem wurde, aber auch die aus Sicht der Ob‐ rigkeit nicht duldbare Proliferation der theologischen Denkansätze. Auch hier kam es dann um 1200 zu einer Vereinigung der bisherigen Bruderschaften (corporationes, sodalitates) zu einer universitas. 357 Diese Gründung - nur eine 223 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua einzige im Gegensatz zu Bologna - wurde vor dem Hintergrund von schwelenden Konflikten mit Papst, Bischof, Kommune und König in einem päpstlichen Statut 1215 und der Bulle von 1231 bestätigt und mit entsprechenden Organisationsformen (cf. z. B. concilium generale) und Rechten ausgestattet, da‐ runter ab 1233 auch das Privileg für die Magister überall in Europa lehren zu dürfen (cf. licentia ubique docendi). Während die Universität von Bologna primär eine der Rechte war, lag der Schwerpunkt der Pariser Universität auf der The‐ ologie. Entsprechend ihrer jeweiligen Gründungsgeschichte und der damit ein‐ hergehenden Organisationsform spricht man bezüglich der frühen europä‐ ischen Universitäten auch vom modus Bononiensis (‚Studenten-Universität‘) und dem modus Parisiensis (‚Professoren-Universität‘) (cf. Weber 2002: 19-21; Schupp 2003: 315-316; Müller 2015: 165-167). In der Folgezeit (13./ 14. Jh.) entstanden Ableger dieser Ur-Universitäten oder eigenständige Neugründungen, zunächst mit eindeutigem Schwerpunkt auf den Mittelmeerländern (v. infra). Nach der ersten Gründungswelle - eine Zäsur wäre das Große Abendländischen Schisma (1378-1417), da dies eine Lockerung der päpstlichen Kontrolle zur Folge hatte - mit ca. 30 Universitäten bis Ende des 14. Jhs. erfolgte eine zweite, die vor allem auch Mittel- und Nordeuropa erfasste (z. B. Würzburg 1402, Leipzig 1409, Freiburg i. Br. 1457, Basel 1459, Glasgow 1451, Uppsala 1477, Kopenhagen 1479), so daß es um 1500 bereits knapp 70 Universitäten gab (cf. Verger 1993: 65-66; Weber 2002: 22-23, 79-80; Müller 2015: 166-167): • Italien: z. B. Vicenza (1204), Arezzo (1215 / 1355), Padua (1222), Neapel (1224), Vercelli (1228), Salerno (1231), Siena (1245 / 1357), Piacenza (1248), röm. Kurie (1245), Rom (1303), Perugia (1308), Treviso (1318), Pisa (1343), Florenz (1349), Pavia (1361), Ferrara (1391 / 1394) • Frankreich: z. B. Montpellier (1220), Toulouse (1234), Orléans (ca. 1235 / 1306), Angers (ca. 1250), Avignon (1303), Cahors (1332), Grenoble (1339), Perpignan (1350), Orange (1365) • England: z. B. Oxford (1214), Cambridge (1225) • Spanien: z. B. Palencia (1208), Salamanca (1219 / 1254), Sevilla (1254), Val‐ ladolid (ca. 1290), Lérida (1300), Huesca (1354) • Portugal: z. B. Lissabon (ca. 1288 / 1290), Coimbra (1308) • Deutsche Herrschaftsräume: z. B. Prag (1348), Wien (1365), Erfurt (1379), Heidelberg (1385), Köln (1388) • Ungarn: z. B. Pécs (1367), Buda (1395) • Polen: z. B. Krakau (1364) 224 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 358 Die Philosphie galt vielfach als ancilla theologiae - wie es als Ausdruck Petrus Damiani (ca. 1007-1072) zugeschrieben wird -, da sie Teil der artes liberales war, d. h. für die theologischen Studien propädeutisch im universitären Curriculum. 359 Die frühe Auseinandersetzung mit dem vorchristlichen Wissen prägte die Studenten nachhaltig und begründete letztendlich auch Konflikte für die Theologie und ihr Selbst‐ verständnis: „Wenn ein Student nach absolviertem artes-Studium die Theologische Fa‐ kultät besuchte, so dürfte er über die genannten logischen Schriften hinaus auch die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles - insbesondere die Physik und De anima - gekannt haben, zudem die als moralische Schriften zusammengefassten Bücher über die Politik und die Ethik sowie die Metaphysik: Man wurde also mit dem vollen Programm aristotelischer Philosophie konfrontiert, ehe man das erste Mal als Jurist mit Gesetzestexten oder als Theologe mit dogmatischen Inhalten konfrontiert wurde“ (Leppin 2003: 20-21). 360 Hugo von St. Viktor listet in seinem Werk Didascalicon folgende artes mechanicae auf: Weberkunst (lanificium), d. h. im weiten Sinne textilverarbeitendes Gewerbe; Waffen‐ handwerk (armatura) sowie weitere technische Handwerke bis hin zu Baugewerbe, Malerei und Bildhauerei; Schiffahrtskunst (navigatio), d. h. Handel zu Wasser und im weiteren Sinne auch zu Lande; Landbau (agricultura); Jagdkunst (venatio) bzw. im wei‐ testen Sinne Beschaffung von Lebensmitteln und deren Handel; praktische Heilkunst (medicina); Schauspiel (theatrica) (cf. Müller 2015: 177). Was Struktur und Inhalt der Universitäten anbelangt, die als Anstalten auch studium generale hießen, so mußten die nach Regionen und Bildungsschichten erfaßten Studenten (cf. scholares nobiles, scholares divites, scholares pauperes) als Grundstudium zunächst die septem artes liberales absolvieren. Diese seit der Antike überlieferten und von den frühchristlichen Autoren angepaßten Grund‐ wissenschaften, die sich in das Trivium (Grammatik, Dialektik bzw. Logik, Rhe‐ torik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) glie‐ derten, bildeten das Fundament einer jeden Ausbildung (cf. Artistenfakultät), bevor die Scholaren sich den verschiedenen höheren Fachbereichen (lat. facul‐ tates), d. h. der Theologie, 358 der Jurisprudenz oder der Medizin, zuwandten. 359 Prinzipiell gab es verschiedene Abschlüsse mit Titeln, die im Rahmen des Stu‐ diums möglich waren: Baccalaureus, Lizenziat, Magister, Doktor. Die ange‐ wandten Wissensbereiche, die artes mechanicae, waren an den Universitäten nicht vertreten. Diese wurden z. B. von Johannes Scotus Eriugena oder Hugo von St. Viktor als ebenfalls sieben Künste kategorisiert, wenn auch je unter‐ schiedlich. 360 Für letzteren galten die mechanischen Künste zwar nicht als ei‐ gentliche Kunst (ars), jedoch als Wissenschaft (scientia), da auch zu ihnen ein theoretisches Hintergrundwissen gehöre. Eine breitere Wertschätzung erfuhren diese handwerklichen Künste und der mechanicus allerdings erst in der Renais‐ sance, u. a. durch Leonardo da Vinci oder Leon Battista Alberti, die durch ihre Ingenieurs- und Baumeisterkunst zur Aufwertung dieser Metiers beitrugen (cf. Curtius 1993: 64, § 6; Weber 2002: 32-37; Müller 2015: 177-179). 225 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 361 In der Antike referiert das liberales auf die gesellschaftliche Schicht, für die sie konzi‐ piert wurden, nämlich die freien römischen Bürger. Es ist also eine Grundausbildung - keine spezifische für Ämter o. ä. -, ein elementares Bildungs- und Erziehungsprogramm für alle Bürger; also artes, die nicht dem Geldwerb dienen und derer ein freier Mann bzw. römischer Bürger würdig ist (cf. Lausberg 1990: 33, § 12; Curtius 1993: 47, § 1). Die in der schulischen und universitären Lehre so zentralen artes liberales, 361 deren oben genannte Einteilung auf den Enzyklopädisten Martianus Capella (5. Jh.) (cf. De nuptiis Mercurii et Philologiae), der ars als ‚Lehrfach‘ oder ‚Dis‐ ziplin‘ verstand, und den Historiographen und Enzyklopädisten Magnus Aure‐ lius Cassiodorus (ca. 485-580) (cf. Institutiones divinarum et saecularium litte‐ rarum) zurückgeht, seien auch nochmal begrifflich definiert (Flasch 2013: 154-155; Regenbogen / Meyer 2013: 67, s. v. artes liberales): ars, lat. ‚die durch Übung erlangte Fertigkeit‘, die Kunde, im engeren Sinne die Kunst, d. h. der Umfang des Könnens und der Kenntnisse, derer es bedarf, um ein Handwerk (artes mechanicae, artes vulgares), eine künstlerische Tätigkeit oder Wissenschaften (artes liberales) mit Erfolg auszuüben. Die spätantiken, stoischen artes […] und scien‐ tiae (Wissenschaften) umfaßten den praktischen und theoretischen Gehalt der artes liberales, deren Beherrschung in ihrer Gesamtheit dem Erwerb von sapientia (Weis‐ heit) dienen sollte. (Regenbogen / Meyer 2013: 65-66, s. v. ars) In der mittelalterlichen Bildungslehre speist sich die Auffassung von den artes zum einen aus der patristischen Tradition (cf. v. a. Augustinus, Cassiodor) und zum anderen aus einer weltlich-schulmäßigen (cf. z. B. Thierry von Chartres (ca. 1085-1155)), in der der Ursprung der artes nicht in der göttlichen Weisheit und der heiligen Schrift verortet wurde, sondern in der Natur oder bei heidnischen Göttern. In jedem Fall bildeten die artes im mittelalterlichen Bildungs- und Wis‐ senskosmos bis zum 12. Jh. die „Fundamentalordnung des Geistes“ (Curtius 1993: 52, § 2). An den Universitäten wurden sie dann einerseits zum Propädeu‐ tikum der weiterführenden theologischen Studien, andererseits wuchs auch die Philosophie - so die Gleichsetzung mit den artes, deren naturwissenschaftlicher Anteil untergeordnet wurde - aus diesem engen Korsett hinaus, wie Thomas von Aquin konstatiert (cf. Curtius 1993: 49-52, § 2): Ad tertium dicendum quod septem artes liberales non sufficienter dividunt philoso‐ phiam theoricam, sed ideo, ut dicit Hugo de sancto Victore in III sui Didascalicon, praetermissis quibusdam aliis septem connumerantur, quia his primum erudiebantur, qui philosophiam discere volebant […]. (Thomas von Aquin, Boeth. De trin. q5, a1, ad3; 2007: 68) 226 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 362 Es gab zwei Arten von Vorlesungen (lectiones, lecturae), solche in denen auf das Text‐ verständnis abgezielt wurde (cursorie) und solche, in denen Streitfragen (quaestiones) behandelt wurden (ordinarie) (cf. Schupp 2003: 317). Aus den an den Universitäten sich konstituierenden Lehrtraditionen entwi‐ ckelte sich die philosophische bzw. im engeren Sinne theologische Methode der Scholastik, die in Abgrenzung vom folgenden Humanismus ab dem 18. Jh. na‐ mensgebend für diese geistesgeschichtliche Epoche wurde und die geprägt ist durch die Rezeption der Schriften des Aristoteles (soweit bekannt, v. infra), der zum Philosophen schlechthin avancierte und mannigfach kommentiert wurde, sowie durch ihr geschlossenes Lehrgebäude, der Summe des Wissens, innerhalb dessen nach festen Regeln disputiert wurde (v. infra), wie beispielsweise im be‐ rühmten Universalienstreit (Realismus vs. Nominalismus) (cf. Regen‐ bogen / Meyer 2013: 585-686, s. v. Scholastik, scholastische Methode). Der universitäre Unterricht war in seinem Ablauf streng gegliedert; es gab die Vorlesung (lectio) 362 und das Lehr- und Streitgespräch (disputatio). In den Vorlesungen, die manchmal auch reine Diktiervorlesungen (pronunciationes) waren, wurden die kanonisierten Schriften gelesen, wobei man formell in der Rangordnung bezüglich libri ordinarii und libri extraordinarii unterschied; die Studenten machten sich dazu Notizen (reportationes). In den lectiones wurde eine Lehr- und Leitfrage (quaestio) gestellt, die man nach einer genauen Abfolge durch ein Argumentationsverfahren mit mehreren (studentischen) Teilnehmern (opponentes) in verschiedenen Antworten (respondentes) zu lösen versuchte. Dazu wurden zudem die Meinungen der Autoritäten befragt (sententiae auc‐ torum), d. h. die Bibel, die Kirchenväter und andere christliche Denker, die ge‐ gebenenfalls den Argumenten der heidnischen Philosophen gegenübergestellt wurden. Der Magister präsentierte schließlich die kirchlich sanktionierte kor‐ rekte Lösung (determinatio), in der die widersprüchlichen Standpunkte mitei‐ nander versöhnt wurden (concordantia catholica). Ergänzt wurde dies durch weitere Übungen (exercitationes) und Wiederholungen (repetitiones, resump‐ tiones). Das präsentierte Wissen kann als Offenbarungswissen bezeichnet werden, eine in sich abgeschlossene Lehre (doctrina sacra), innerhalb derer man bestimmte Prämissen definierte und eine Beweisführung nach dem Ur‐ sache-Wirkung-Prinzip zu erbringen hatte, und zwar zu bestimmten Phäno‐ menen, die man versuchte in der göttlichen Ordnung durch Analogie- und Ver‐ gleichsschlüsse zu verankern (cf. Weber 2002: 38-41; Schupp 2003: 315-320; Regenbogen / Meyer 2013: 586, s. v. scholastische Methode). Aus den hochformalisierten Abläufen des Unterrichts und der Disputationen mit dem Abwägen von Gründen, begrifflichen Definitionen (distinctiones) sowie den syllogistischen Schlüssen (conclusiones, solutiones) entwickelten sich auch 227 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 363 Monumentale Zusammenstellungen des Wissens gab es dabei in den verschiedensten Bereichen: z. B. Lo codi (1149 / 1176); Thomas von Cantimpré (ca. 1201-1270 / 1272), Liber de natura rerum (ca. 1225 / 1226-1241); Bartholomäus Anglicus (ca. 1190-nach 1250), De proprietatibus rerum (nach 1235); Vinzenz von Beauvais (vor 1200-1264), Speculum maius (1256), bestehend aus Speculum historiale, Speculum doctrinale und Speculum na‐ turale; Brunetto Latini (ca. 1220-1294), Li livres dou tresor (ca. 1265); Thomas von Aquin (1224 / 1225-1274), Summa theologiae (ca. 1265-1273); Giovanni Balbi (ca.† 1298), Summa grammaticalis bzw. Catholicon (ca. 1286) (cf. Signori 2007: 92-95). 364 Anselm von Canterbury gilt als „Vater der Scholastik“, dessen zentraler Grundsatz fidens quaerens intellectum die typische scholastische Suche nach der Vereinbarkeit von ratio und fides ausdrückt, d. h. Glaubenswahrheiten sollten intellektuell verstehbar sein, auf dem Vernunftwege ergründbar (cf. Schupp 2003: 163). bestimmte wissenschaftliche Literaturformen: die Summen (summae), die Kom‐ mentare (commentarii), d. h. die Literalkommentare, bei denen Zeile für Zeile kommentiert wird (zu lat. littera ‚Buchstabe‘) und die die frühmittelalterlichen Glossen, Marginalien und Scholien ablösten, sowie die Quaestionenkommen‐ tare oder Problemerörterungen (quaestiones disputatae, quaestiones quodlibe‐ tales), bei denen eine Disputation mit Pro und Contra nach strengem Schema stattfindet (cf. Gombocz 1992: 57). Die Scholastik war eine Epoche, in der vor allem Wissen bewahrt wurde bzw. man setzte sich mit dem tradierten Wissen auseinander und kommentierte es. Daraus resultieren die zahlreichen Zusam‐ menfassungen (z. T. sehr umfangreich mit Enzyklopädie- oder Handbuchcha‐ rakter), 363 Zitatensammlungen (Florilegien) und Kommentare zu den aner‐ kannten Autoritäten wie vor allem der Bibel und den maßgeblichen kirchlichen Denkern wie Augustinus sowie zu den kanonisierten antiken Philosophen, allen voran Aristoteles, der die scholastische Methode prägte. Dort, wo die Philoso‐ phen und Theologen sich widersprachen, arbeitete man rational und formallo‐ gisch, d. h. dialektisch, mit Syllogismen. (cf. Hirschberger 1961: 70-71). Auf diese Weise erklärt es sich, daß die „scholastische Form der Rationalität […] einen alle Wissensgebiete umfassenden Anspruch [erhebt]“ (Scherer 1999: 525, s. v. Scho‐ lastik). Als maßgebliche Denker der Frühscholastik (9.-11. Jh.) gelten Johannes Scotus Eriugena (ca. 810-877), Anselm von Canterbury (Anselmo d’Aosta, 1033-1109), 364 Peter Abaelard (1079-1142) und Petrus Lombardus (ca. 1095-1160), hinsichtlich der Philosophen der Hochscholastik (12.-13. Jh.) sind vor allem Robert Grosseteste (Robertus Lincolnensis, vor 1170-1253), Roger Bacon (doctor mirabilis, ca. 1214 / 1220-1292), Bonaventura (Giovanni Fidanza, ca. 1217 / 1221-1274), Ramon Llull (Raymundus Lullus, 1232 / 1233-1316), Al‐ bertus Magnus (doctor universalis, ca. 1200-1280), Thomas von Aquin (doctor angelicus, 1224 / 1225-1274), Johannes Duns Scotus (doctor subtilis, 228 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 365 Zu den allgemeinen ökonomischen-gesellschaftlichen (z. B. der Übergang von einer ag‐ rarischen zu einer vermehrt urbanen Zivilisation, v. a. in Frankreich, England, Flandern, im Rheingebiet sowie in Ober- und Mittelitalien) und religiösen Umbrüchen des 12. Jhs., die als „geschichtliche Wasserscheide“ interpretiert werden können, cf. Flasch (2013: 210-215). 366 Bisher war Aristoteles vor allem über Boethius und zum Teil über Porphyrios (ca. 234-305) rezipiert worden, was aber zunächst nur einen Teil seiner logischen Schriften, die sog. logica vetus, betraf (Categoriae, De interpretatione), erst ab ca. 1120 folgten suk‐ zessive die sog. logica nova (Analytica Priora, Topica, Sophistici elenchi) sowie die rest‐ liche Bücher des Organon, außerdem die Physica, De anima, Teile von Parva naturalia und die Metaphysica (cf. Gombocz 1992: 58). 367 Dieser Zusammenhang zwischen Buchstaben (griech. γράμματα, lat. litterae) und Gram‐ matik (griech. γραμματική, lat. grammatica) blieb auch in der Spätantike noch präsent: „Grammatica a litteris nomen accepit, sicut vocabuli ipsius derivatus sonus ostendit“ (Cassiodor, Inst. II, 1, 1, 1-5 (93); 2003 II: 300). 1265 / 1266-1308) sowie Meister Eckhart (ca. 1260-1328) zu nennen und für die Spätscholastik (14.-15. Jh.) Wilhelm von Ockham (ca. 1280 / 1285-1347) und Ni‐ kolaus von Kues (Cusanus, 1401-1464) (cf. Hirschberger 1961: 70-101; Regen‐ bogen / Meyer 2013: 585, s. v. Scholastik). Die Hochscholastik wird im 12. Jh. durch eine geistige Erneuerungsbewegung geformt, 365 die vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen ist: a) die Übernahme der arabischen Aristoteles-Rezeption (cf. insbesondere Avicenna (Ibn Sina, 980-1037) und Averroes (Ibn Ruschd, ca. 1126-1198) sowie das pseudo-aristo‐ telische Liber de Causis) und der jüdischen (cf. Avencebrol / Avicebron (Ibn Ga‐ birol, ca. 1021-1070) und Maimonides (Mose ben Maimon, 1135-1204)), meist über Spanien, sowie durch direkte Übersetzungen aus dem Griechischen, u. a. über Sizilien (z. B. Henricus Aristippus (1105-1162), Wilhelm von Moerbeke (1215-1286)), 366 b) das Entstehen und Aufblühen der Universitäten (v. supra) und c) die zunehmende wissenschaftliche Tätigkeit der großen kirchlichen Orden, insbesondere der Franziskaner und der Dominikaner (cf. Hirschberger 1961: 75-77). Vor dem Hintergrund der Lehrinstitutionen, d. h. sowohl der Dom- und Klos‐ terschulen als auch der Universitäten, in denen sich die scholastische Methode entwickelt hatte, ist auch die mittelalterliche Sprachreflexion zu sehen. Für deren Herausbildung ist die erste und wichtigste Disziplin der artes bzw. genauer des propädeutischen Triviums innerhalb eines curricularen Studiums maßge‐ bend gewesen, nämlich die Grammatik. Abgeleitet von griech. gramma (dt. ‚Buchstabe‘) bezeichnet es zu Zeiten von Platon und Aristoteles zunächst die reine Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können (dt. ‚Buchstabenlehre‘, ‚Lese‐ fertigkeit‘), 367 im Hellenismus tritt schließlich noch die Bedeutung der literari‐ schen Befähigung hinzu, d. h. ein Dichter sollte die Sprache grammatisch richtig 229 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 368 Ein grammaticus war im Mittelalter zwar in erster Linie immer noch ein Mensch, der Lesen und Schreiben konnte, aber durch die damit verbundenen Implikationen des Stu‐ diums und der literarischen Befähigung eben auch ein ,gebildeter Mensch‘ (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 90). beherrschen und in ihr den Konventionen entsprechend richtig dichten können. 368 Dementsprechend unterscheidet Quintilian (Inst. orat. I, 4, 2) zwi‐ schen recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem. Zu dieser Zeit entsteht auch der synonyme Sprachgebrauch von grammatica und litteratura, d. h. wie Grammatik von gramma abgeleitet wurde, hat man im Lateinischen litteratura von littera (dt. ‚Buchstabe‘) abgeleitet (cf. Curtius 1993: 49-52). Dabei wird zwischen einem litteratus und einem illit(t)eratus unterschieden (cf. Kap. 6.2.3.1), was sich zuvorderst auf die Lese- und Schreibfähigkeit bezieht. Diese Opposition referiert zunächst auf verschiedene Fähigkeiten innerhalb des Klerikerstandes, zu Beginn ohne weitere soziale Disktinktion, denn es war durchaus üblich, daß man sich in gehobener Position Personal für diese Tätigkeit hielt. Obendrein waren Lesen und Schreiben im Mittelalter separate kognitive Prozesse, bei denen das Lesen die Grundlage bildete. Selbst wer gelernt hatte, Buchstaben und Texte zu entziffern und zu verstehen, musste nicht mit der eigenen Hand schreiben können; dies setzte eine eigene Übung voraus. Umgekehrt dürfte der Schreibkundige auch in der Lage gewesen sein zu lesen. Das lateinische Wort illiteratus (von littera „Buch‐ stabe“) zielte nicht auf den Analphabeten im heutigen Sinne, sondern auf hohe Geist‐ liche, die trotz ihre Ranges und ihrer Funktion nicht lesen konnten. Demgegenüber bezeichnete litteratus den Gebildeten im Sinne des Belesenen. Bildung und Schreib‐ fähigkeit waren zweierlei. (Müller 2015: 133) Das Lesen war zunächst Teil der monastischen Kultur, es gehörte zum studium legendi, dem Lernen durch Lesen, welches in einem ersten Schritt die cogitatio und in einem zweiten die meditatio, also ein intensiveres Nachdenken über das Gelesene beinhaltete. Das Lesen in der Klostergemeinschaft konnte eigen‐ ständig sein (sibi legere) oder für andere (clara lectio), oftmals gefolgt von der ruminatio, ein Murmeln, bei dem man das Gelesene sich nochmals genauer me‐ morierte und einverleibte (cf. Gauger 1994: 74). Die Lese- und Schreibfähigkeit war also zunächst eng mit dem (monastischen) Kleriker verbunden, so daß die Opposition litteratus vs. illiteratus auch den Gegensatz clericus vs. laicus wider‐ spiegeln konnte. Erst später mit der Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten auf etwas größere Teile des Bürgertums (14./ 15. Jh.) (v. supra: Pfarrschulen, Kathedralschulen, Uni‐ versitäten) wurde der Begriff litteratus auch auf Laien mit mehr oder weniger 230 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 369 Diese Aussage wird in einem Donat-Kommentar (Expositio in Donatum) des 9. Jhs. zu origo et fundamentum omnium liberalium artium abgewandelt. Auch Johannes von Sa‐ lisbury präsentiert einen ähnlichen Gedanken, indem er die Grammatik als ,Wiege allen philosophischen Wissens‘ bezeichnet (cf. Lawler 2018: 231): „Est enim grammatica scientia recte loquendi scribendique, et origo omnium liberalium disciplinarum. Eadem quoque est totius philosophiae cunabulum […]“ ( Johannes von Salisbury, Metalogicon I, 13, 840a; 1991: 32). 370 „In quo libro primum nobis dicendum est de arte grammatica, quae est videlicet origo et fundamentum liberalium litterarum“ (Cassiodor, Inst. II, Praef. 4, 8-10 (91); 2003 II: 294). „Grammatica est scientia recte loquendi, et origo et fundamentum liberalium litterarum“ (Isidor, Etym. I, 5, 1-2 ; 1911: s. p.). 371 Dante assoziert diese erste der sieben Künste unweigerlich mit Donat, d. h. mit dessen Grammatik: „[…] e quel Donato / Ch’alla prim’arte degnò porre mano“ (Div. Comm., Par. XII, 137-138; 1988 III: 148). Auch Priscian wird von Dante erwähnt (ibid. Inf. XV, 109; 1988 I: 182), den er allerdings in der Hölle bei den Sodomiten ansiedelt, wohl auf‐ grund einer Legende, die womöglich auf einer Verwechslung mit dem ketzerischen hohem Bildungsgrad ausgedehnt (cf. auch: eruditus, sapiens). Damit ging nach und nach auch eine gesellschaftliche Differenzierung einher, so daß sich in dieser Dichotomie auch die gesellschaftlichen Unterschiede widerspiegelten (cf. Müller 2015: 133, 171). Die Analphabetenrate blieb trotzdem weiterhin hoch, denn um 1500 kann man beispielsweise für Deutschland annehmen, daß nur ca. 5 % der Stadtbevölkerung eine Lesefähigkeit hatten, d. h. ca. 1 % der Gesamtbe‐ völkerung (max. 3-4 %). Der Anteil derer, die regelmäßig lesen, war dabei noch geringer; es handelte sich zudem hauptsächlich um solche Personen, die aus Berufsgründen lesen, d. h. vor allem religiöse Literatur sowie Fachliteratur (cf. Gauger 1994: 76). Hinzu kommt eine weitere Konnotation, die mit litteratus verknüpft ist, näm‐ lich die Sprachkompetenz (im Lateinischen) sowie Kenntnis in der Literatur und die Befähigung solche auch selbst produzieren zu können: Das Wort litteratura bedeutet also zunächst nicht Literatur in unserem Sinne; der litteratus ist ein Kenner der Grammatik und der Poesie (wie der lettré in Frankreich), aber nicht notwendigerweise Schriftsteller. (Curtius 1993: 52, § 3) Die Tatsache, daß das Trivium innerhalb eines Grundstudiums meist ausführ‐ licher betrieben wurde als das Quadrivium, und innerhalb der sieben artes der Grammatik eine besondere Stellung zukam, zeigt sich beispielsweise am reinen Umfang, die diese innerhalb der Etymologiae (Origines) des Isidor von Sevilla (560-636 n. Chr.) einnimmt, der sie wie Cassiodor als origo et fundamentum li‐ beralium litterarium  369 bezeichnet, 370 oder auch an der Bemerkung Dantes, daß sie la prima arte sei, 371 d. h. die ,erste Kunst‘ innerhalb der artes liberales (cf. Curtius 1993: 52-53, § 3). 231 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Bischof von Avila Priscillian (ca. 345-386 / 387) beruht, dessen „Irrlehre“ (cf. Priszillia‐ nismus) der Gnosis und dem Manichäismus nahestand, und dem man, wie auch seinen Anhängern, homophile Neigungen unterstellte (cf. ibid. 1988 IV: 252-253, s. v. Priscian). 372 Cf. dazu insbesondere Flavio Biondo, der sprachliche Differenzierung mit Hilfe der genera dicendi der Rhetorik darzustellen versucht (cf. Kap. 6.2.3.2). 373 Die latinitas hing wiederum ab vom Sprachgebrauch (consuetedo) der maßgeblichen literarischen Autoritäten (auctoritas), dem belegten Alter eines Ausdrucks oder einer sprachlichen Wendung (vetustas) und der Gesetzmäigkeit (ratio) einer Wendung in Bezug auf Analogie und Etymologie (cf. Göttert 2009: 43). Die Rhetorik wiederum spielte diesbezüglich eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch wurde auch diese antike ars entsprechend tradiert und gewann dann im Humanismus wieder vermehrt an Geltung (cf. Kap. 6.2). 372 Aus den wich‐ tigsten antiken lateinischen Schriften, d. h. der Rhetorica ad Herennium, Ciceros De inventione und Quintilians Institutio oratoria entwickelte sich ein weitgehend geschlossenes Modell: Es gibt fünf Bearbeitungsphasen oder Teile der Rede (partes artis): Erfindung der Gedanken / Findungslehre (inventio), Gliederung der Gedanken / Anordnung (dispositio), Einprägen der Rede ins Gedächtnis (memoria), sprachliche Darstel‐ lung der Gedanken / Ausdruck (elocutio) und Vortrag der Rede (pronuntiatio). Gegenstand der Rhetorik (materia artis) sind drei Redegattungen (genera ora‐ tionis): die Gerichtsrede (genus iudiciale), die Beratungsrede (genus delibera‐ tivum) und die Lob- oder Prunkrede (genus demonstrativum). Zentral ist die Lehre von der Auffindung des Stoffes bzw. der Gedankenfindung (inventio), die folgende Gliederung der Rede nach sich zieht: Einleitung (exordium / prooe‐ mium), Erzählung bzw. Darlegung des Sachverhaltes (narratio), Beweis bzw. Begründung (argumentatio / probatio), Widerlegung von Behauptungen (refu‐ tatio) und Schluß (peroratio / epilogus). Der Bereich der elocutio wird durch die Redegattungen (genera dicendi) geprägt (cf. genus humile, genus mediocre, genus sublime), wozu auch der Bereich der Topik, d. h. der allgemeinen Ausdrücke (topoi, loci communes) (z. B. Bescheidenheitsformel, Devotionsformel, Einlei‐ tungs- und Schlußformel) sowie der Tropen (tropi), also der Redefiguren bzw. Wortfiguren (figurae elocutiones), gehört. Bezüglich der sprachlichen Darstel‐ lung wurden die Tugenden (virtutes elocutiones) wie Eleganz (elegantia), Sprach‐ richtigkeit (latinitas, puritas), 373 Klarheit (explanatio), syntaktische Zusammen‐ setzung der Wörter (compositio) sowie Ausschmückung der Rede (ornatus) oder auch deren Kürze (brevitas), Angemessenheit (aptum) und Klarheit (perspi‐ cuitas) herausgestellt und die Verstöße (vitia) wie Barbarismus (Verstoß gegen eine Ausdrucksbzw. Wortform), Metaplasmus (Verstoß gegen eine Wortform aus metrischen Gründen) und Solözismus (Verstoß gegen die Wortverbindung 232 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 374 Das lat. dictare im Sinne von ,diktieren‘ gewann im Mittelalter die zusätzliche und dann vornehmliche Bedeutung ,schreiben’ oder auch ,poetische Werke schreiben‘ (cf. auch dictatores illustres bei Dante (DVE II, 6, 4; 2007: 144) im Sinne von ,Dichter‘) (cf. Curtius 1993: 86, § 8). 375 Zu den Briefstellern bzw. manuels épistolaires des 17.-21. Jhs. cf. z. B. Große (2017). 376 In Bezug auf die romanischen Sprachen kann man eine Diglossie-Konstellation gemäß Ferguson (1959) postulieren, hinsichtlich anderer (west)europäischer Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen eine nach Fishman (1967), da hier die bei Ferguson voraus‐ gesetzte enge Verwandtschaft der Idiome nicht gegeben ist. bzw. Syntax) gebrandmarkt (cf. Lausberg 1990: 51-85; § 53-138; Curtius 1993: 71-88, § 1-10; Göttert 2009: 23-65; Fuhrmann 2011: 112-128). Im Mittelalter, d. h. ab dem 11. Jh., bildetet sich aus dem System der latein‐ ischen Rhetorik (basierend auf dem der griechischen) die Stilkunst (ornatus) und vor allem die Kunst des Briefstils oder die Brieflehre (ars dictaminis oder ars dictandi) 374 heraus, d. h es wird dem wachsenden Bedürfnis der Jurisdiktions- und Verwaltungspraxis sowie der allgemeinen offiziellen Korrespondenz Rech‐ nung getragen. Neben der ars dictandi entwickelte sich so auch die ars notaria (Kanzlei- und Beurkundungspraxis), der modus scribendi (Schriftwesen) und die ars praedicandi (Predigtwesen). Aus den mittelalterlichen Briefmustern (for‐ mulae) mit ihren Anweisungen zum Briefschreiben und entsprechenden Bei‐ spielsammlungen entwickelten sich die neuzeitlichen Briefsteller. 375 Die Rhe‐ torik wirkte insbesondere auf die Poetik, aber auch in manchen Bereichen auf die Grammatik (z. B. vitia) und die Sprachtheorie (z. B. ordo naturalis vs. ordo artificalis) (cf. Curtius 1993: 85-86, § 8; Tischler 1994: 546). Sie tritt aber in ihrer mittelalterlichen erstarrten Form deutlich hinter die Grammatik und Dialektik (bzw. Logik) zurück, von denen sie ein Stück weit aufgesogen wird (cf. Bossong 1990: 32). Angesichts der beschriebenen Tradition der lateinischen Grammatik und Rhetorik erscheint es nicht verwunderlich, daß alle Schüler die Grundfertig‐ keiten des Schreibens und Lesens an der lateinischen Sprache erlernen mussten - was im Gegensatz zu heute auch den mündlichen Gebrauch impli‐ zierte (v. infra), d. h. es war intensiver und aufwendiger - und darüberhinaus war diese Universalsprache alleinige Sprache der Wissenschaft und trotz be‐ ginnender Emanzipation der europäischen Volkssprachen weiterhin auch Sprache der Literatur, nicht nur der antiken, sondern auch der zeitgenössischen mittelalterlichen und später der frühneuzeitlichen. Latein fungierte also in jeder Hinsicht als high variety innerhalb der mittelalterlichen Diglossie-Situation, 376 wobei dies nicht nur die Schriftlichkeit betraf, sondern partiell auch die Münd‐ lichkeit, insofern hauptsächlich formale Redesituationen, wie der Unterricht in den Schulen und an den Universitäten, Verhandlungen in Kanzleien und bei 233 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 377 Die Internationalität der mittelalterlichen Universität zeigt sich nicht nur an den nam‐ haften Lehrern aus anderen Ländern, die dort unterrichteten, sondern auch an den Studenten, die sich wie am Beispiel von Bologna gezeigt in nationes organisierten (v. supra). Die Strahlkraft der dort gelehrten Rechtstraditionen ist so groß, daß man auch von der Bolognesischen Renaissance spricht, die in ganz Europa wirkt, was auf einen entsprechenden personellen und kulturellen Austausch hinweist. So sind beispielsweise im 13. Jh. 119 katalanische Studenten, die in Bologna Jurisdiktion studierten, namentlich bekannt sowie mehrere Portugiesen, die in Bologna als Lehrer wirkten (cf. Kabatek 2005: 95, 108) (cf. auch peregrinatio academica; Müller 2015: 200). Zu einem Beispiel der sprachlich heterogenen Zusammensetzung eines Klosters sei auf das bei Léon gelegene Monasterio de San Benito de Sahagún am Jakobsweg (camino francés) verwiesen, das im 11. Jh. nach den Regeln von Cluny reformiert wurde und in dessen Skriptorium z. B. ein aragonesischer und ein französischer Schreiber (Beginn 12. Jh.) nachgewiesen sind (cf. Herbers 2006: 164-165). 378 Die Liste derer, die in der supranationalen mittelalterlichen Gelehrtenwelt, die durch die lingua franca Latein zusammengehalten wurde, kosmopolitisch agierten, ließe sich beliebig fortsetzen: z. B. Petrus Lombardus (Novara-Bologna / Lucca-Paris), Johannes von Salisbury (Salisbury-Paris-Canterbury-Chartres), Roger Bacon (Oxford-Paris), Wil‐ helm von Ockham (Oxford-London-Avignon-München). Gericht oder im diplomatischen Verkehr auf Lateinisch stattfanden (cf. Bossong 1990: 18) (cf. auch Kap. 4.2). Aufgrund des Austausches über die Sprachgrenzen hinweg wurde Latein in manchen Bereichen auch zu einer „Art Umgangssprache“ (Flasch 2013: 152); dies gilt für die international frequentierten Universitäten genauso wie für Klöster, deren Angehörige oft nicht aus dem autochthonen Sprachraum kamen und sich zudem mitunter auf Reisen zu anderen Institutionen begaben. 377 Dahingehend war das Latein eine Art lebendige Sprache, die flexibel war, in der durchaus subjektive Gefühle anschaulich ausgedrückt werden konnten (cf. z. B. die Ora‐ tiones sive mediationes Anselms von Canterbury (11. Jh.) oder die Vagantenlieder der Carmina Burana (12. Jh.)), und die auch einem entsprechenden Wandel un‐ terlag (cf. ibid.) - wenn auch nicht in gleicher Weise wie eine Muttersprache. In einer Zeit, in der die europäischen Nationalsprachen erst im Entstehen waren, bot allein das Lateinische die Möglichkeit einer überregionalen Kommunikation. Die übernationalen Einrichtungen - die Kirche, die Universitäten, das Imperium - waren auf das Lateinische angewiesen und begründeten mit seiner Hilfe eine relativ ein‐ heitliche europäische Kultur. Philosophische Diskussionen hatten einen internatio‐ nalen Charakter, wie er seit dem 18. Jahrhundert zunehmend verlorengegangen ist. Die Biographie der mittelalterlichen Denker zeigt, welche Beweglichkeit die interna‐ tionale Sprache ermöglichte: Wir treffen den Lombarden Anselm von Canterbury in Bec (Normandie) und in Canterbury, den Süditaliener Thomas d’Aquino in Köln, in Orvieto und mehrfach in Paris. 378 (Flasch 2013: 152-153) 234 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 379 Die Ars minor ist ein „grammatischer Katechismus“, der nach den kanonisierten acht Wortarten (partes orationis) gegliedert ist (De nomine, De pronomine, De verbo, De ad‐ verbo, De participio, De coniunctione, De praepositione, De interiectione) und der nach einem strengen Frage-Antwort-Schema die Redeteile und ihre grammatischen Eigen‐ schaften abhandelt (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 68-69): „Partes orationis quot sunt? Octo. Quae? Nomen, pronomen, verbum, adverbium, participium, coniunctio, praepo‐ sitio, interiectio. Nomen quid est? Pars orationis cum casu corpus aut rem proprie com‐ muniterve significans. Nomina quot accidunt? Sex. Quae? Qualitas, conparatio, genus, numerus, figura, casus“ (Donat, Ars minor, De nomine; 2008: 10). Die Ars maior enthält zusätzlich Kapitel zur Lautlehre, Metrik und Interpunktion (cf. De voce, De littera, De syllaba, De pedibus, De tonis, De posituris) (cf. Donat, Ars maior, lib. I; 2009: 14-39). 380 Walther von Speyer listet folgende Autoren auf: Vergil, Homer (d. h. die Ilias latina), Martianus Capella, Horaz, Persius, Juvenal, Boethius, Statius, Terenz, Lucan (cf. Curtius 1993: 58-59, § 5). Zudem wurde das mittelalterliche Schriftlatein immer wieder reformiert (cf. z. B. Karolingische Renaissance, ottonische Renaissance, Renaissance des 12. Jahrhun‐ derts), d. h. es passte sich zwar einerseits den neuen Gegebenheiten an, unterlag einem gewissen lexikalischen und morpho-syntaktischen Wandel, wurde aber andererseits immer wieder nach dem als vorbildlich erachteten Latein be‐ stimmter antiker Schriftsteller (cf. Cicero, Quintilian) ausgerichtet (cf. Kap. 4.2). Der grammatische Unterricht der Lateinschüler orientierte sich vor allem an zwei Autoren, und zwar an Donat (ca. 310-380) und Priscian (5./ 6. Jh.) (cf. Kap. 4.1.1.3). Man begann mit der Ars grammatica des Donat (eigentl.: ars Donati grammatici urbis Romani), zunächst im Elementarunterricht mit der Ars minor, die eine Art Minimalgrammatik darstellte, 379 dann arbeitet man im höheren Schulunterricht mit der Ars maior sowie zusätzlich mit Priscians Institutio de arte grammaticae (auch: Institutiones grammaticae). Ergänzend wurden au‐ ßerdem die grammatischen Kapitel der Institutio oratoria Quintilians (ca. 35-96) studiert. Dabei kam Donat und Priscian rein die Funktion als Sprachlehrwerke zu, die dann später im Unterricht bereichert wurden durch die kanonisierten Autoren, d. h. die Autoritäten (auctoritates), denn die „Grammatik“ im Sinne der ersten Disziplin des Triviums umfaßte neben dem Erlernen von Lesen und Schreiben - und damit automatisch dem Erlernen der lateinischen Sprache - auch das Studium der Literatur (v. supra). Der im Verlaufe des Mittelalters immer wieder neu zusammengestellte und erweiterte Kanon antiker Autoren, vor allem römisch-lateinischer, aber auch einiger griechischer in lateinischer Übersetzung variierte um einen Kern an Schriftstellern und ihre Werke, wobei noch nicht wie später zwischen „silberner“ und „goldener“ Latinität unterschieden wurde und diese auch keineswegs mit den heute als „klassisch“ bezeichneten Autoren über‐ einstimmen mußten. So stellte beispielsweise Walther von Speyer (ca. 963-1027) im 10. Jh. zehn antike Autoritäten zusammen, 380 Konrad von Hirsau im 12. Jh. 235 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua nennt bereits 21 Schulautoren und Eberhard der Deutsche (Everardus Ale‐ mannus, 1. Hälfte 13. Jh.) listet im 13. Jh. in seinem Lehrgedicht Laborintus sogar 37 als maßgeblich auf, darunter auch viele mittelalterliche. Dabei werden un‐ geachtet der Chronologie oder einer Sachgliederung diverse heidnische und christliche Autoren, insbesondere der Spätantike, in eine je nach persönlichen Präferenzen ausgerichtete Rangfolge gebracht. Alle auctores sind dabei qua ihrer Eigenschaft als Quelle mit entsprechendem Prestige behaftet. Es kristallisieren sich dabei Autoren heraus, die dann in der Neuzeit als „Klassiker“ firmieren, wie Cato, Cicero, Sallust, Horaz, Ovid und Vergil, aber auch andere wie Terenz, Ju‐ venal, Persius, Lukan, Statius, Sidonius Apollinaris (ca. 430-486), Martianus Cappella (5. Jh.) oder Boethius (ca. 480-524) (cf. Kap. 4.1). Von diesen werden wiederum meist nur ein Teil der Schriften für lesenswert gehalten; so empfiehlt z. B. Konrad von Hirsau nur die moraltheoretischen Schriften Ciceros Laelius und Cato maior, von Horaz nur die Ars poetica und von Ovid nur die Fasti und Ex Ponto. Nicht immer werden aber „anstößige“ Werke - wie in diesem Fall die Schriften Ovids - ausgeklammert, denn Alexander Neckam (1157-1217) emp‐ fiehlt nicht nur die Metamophosen, sondern auch die Remedia amoris, und zwar als eine Art Gegengift; und Eberhard der Deutsche führt den ob seiner Obszö‐ nitäten umstrittenen Maximianus (6. Jh.) in seiner Liste, da er dessen rhetorische Kunstgriffe schätzte (cf. Curtius 1993: 58-60, § 5). Neben den Schulautoren rezipierten die Gelehrten des Mittelalters auch wei‐ tere antike Autoren, wie es beispielsweise für Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) überliefert ist, der Seneca d. Ä. (ca. 55v.-39 n. Chr.), Plinius d. Ä. (23 / 24-79 v. Chr.), den Redner Fronto (2. Jh.), den Fabeldichter Apuleius (2. Jh.), den augusteischen Bibliothekar Hygin (ca. 60 v.-10 n. Chr.), den Exempla-Dichter Valerius Maximus (1. Jh. v.-ca. 37 n. Chr.), den Militärschrift‐ steller Frontin (1. Jh.), den Historiker Florus (2. Jh.), den Anekdoten-Dichter Ge‐ llius (2. Jh.), den Historiker Eutrop (4. Jh.), den Redner und Dichter Ausonius (ca. 310-400), den Militär- und Fachschriftssteller Vegetius (4./ 5. Jh.), über Auszüge bei Justin (3. Jh.) den Historiker Pompeius Trogus (1. Jh. v. Chr.) sowie den christlichen Historiker Orosius (4./ 5. Jh.) und den Dichter und Kommentator Macrobius (5. Jh.) kannte, aber auch weitere, die in seinen Werken nachweisbar sind. Mit der Renaissance des 12. Jhs., dem Aufblühen mächtiger Kathedral‐ schulen, vor allem in Paris (z. B. Notre-Dame, Saint-Victor und Montagne 236 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 381 In Notre Dame war beispielsweise Petrus Lombardus (ca. 1095-1160) Leiter der Ka‐ thedralschule, im Augustiner Chorherren-Stift von Saint-Victor wirkten die bedeu‐ tenden Scholastiker Wilhelm von Champeux (ca. 1070-1122) und Hugo von St. Viktor und im Regularkanoniker-Stift Montagne Sainte-Geneviève (Hügel der heiligen Geno‐ vefa) lehrte zeitweise Peter Abaelard (1079-1142). Chartres war auch bekannt für seine Platon-Rezeption im Gegensatz zu Paris und den meisten anderen Universitäten, die allein vom Aristotelismus geprägt waren. 382 Zur Schule von Chartres gehören illustre Scholastiker wie Bernhard von Chartres († nach 1124), Thierry von Chartres (ca. 1085-1155), Wilhelm von Conches (ca. 1080 / 1090-1154) oder Otto von Freising (1112-1158) (cf. Hirschberger 1961: 73-74). Sainte-Geneviève) 381 oder in Chartres, die berühmt für ihre Logik war, 382 schließ‐ lich dem Aufkommen der Universitäten sowie der neuen Aristoteles-Rezeption (v. supra) wurden die auctores auch in Frage gestellt, der Dialektik unterworfen und begrifflich kritisch analysiert (cf. Curtius 1993: 63-64, § 6). Diese Entwicklung nahm ihren Anfang mit der Boethius-Renaissance des 10. Jhs., als dessen logische Schriften von Gerbert von Aurillac (ca. 950-1003) wiederentdeckt wurden, und verschärfte sich ab dem 12. Jh., als die ersten großen Scholastiker wie Anselm von Canterbury, Gilbert von Poitiers (ca. 1080-1155) oder Abaelard auf Basis der Grammatik und der aristotelischen Logik Begriffe der terministischen Logik schufen, um geistigen Bewegungen (passiones) jenseits grammatischer Kategorien nachzugehen. Die Verschmel‐ zung von Grammatik und Logik war jedoch nicht vollständig, da zum einen sich auch Scholastiker wie Hugo von St. Viktor für eine Trennung der Disziplinen einsetzte, zum anderen die Grammatik zentral im Schulunterricht blieb (cf. Pin‐ borg 1967: 22-23). Die Sprachreflexion im Rahmen der mittelalterlichen Scholastik beruht also zunächst auf der lateinischen Schulgrammatik, denn Latein war - wie eben dar‐ gelegt - die erste Sprache des Unterrichts und auch die einzige Sprache aller weiterführenden Studien. Sie war Objekt- und Metasprache gleichermaßen, denn durch die Beschäftigung mit dieser nach strengen Regeln zu erlernenden Sprache ergaben sich erste Fragestellungen. Das Beherrschen derselben galt als eine ‚spezifische Fertigkeit‘ bzw. ‚Technik‘ oder ‚Kunst‘ (v. supra), wie Titel der Grammatiken von Dionysios Thrax (cf. Τέχνη γραμματική, téchnē grammatikē), 237 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 383 Cf. z. B. Remmius Palaemon, Ars grammatica (1. Jh.); Marius Plotius Sacerdos, Artes grammaticae (3. Jh.); Flavius Sosipater Charisius, Ars grammatica (4. Jh.); Diomedes, Ars grammatica (4. Jh.); Aurelius Augustinus, Ars breviata (5. Jh.); Anonymus (Irland), Ars Ambrosiana (7. Jh.); Petrus von Pisa, Ars grammatica (8. Jh.); Paulus Diaconus, Ars minor (8. Jh.); Clemens Scotus, Ars grammatica (9. Jh.) (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 56, 64-65, 82-84). 384 Gerade die Grammatik von Donat war so weit verbreitet und stark rezipiert, daß der Autor selbst zum nomen appellativum für eine Grammatik wurde, also eponymisch gebraucht wurde, wie sich beispielsweise an der frühen okzitanischen Grammatik Lo Donatz proensals (ca. 1225-1245) zeigt, an der ersten französischen Grammatik Donait françois (1400 / 1409) oder an der neuzeitlichen deutschen Grammatik von Isaac Poel‐ mann, Zu Gottes und der hoochdeutschen Sprache Lob und Ehren, Neuer hoochdeutscher Donat, zum Grunde gelegt der neuen hoochdeutschen Grammatik (1671). Donat (cf. Ars grammatica) oder anderen 383 nahelegen (cf. Stolz / De‐ brunner / Schmid 1966: 16-20; Bossong 1990: 19). 384 Die Grammatik vor allem ist sozusagen die fest-gestellte, verfügbare und ordentlich geregelte Sprache. Dies befördert die Vorstellung, daß eine Sprache erst dann eine „richtige“ Sprache ist, wenn sie eine Grammatik hat, d. h. wenn sie in eine buchför‐ mige, regelhafte Beschreibung überführt worden ist. (Trabant 2006: 41). Die Volkssprachen hingegen wurden als regellos betrachtet, eben weil ihnen die Würdigung einer grammatischen Beschreibung bisher nicht zugefallen war, aber auch weil sie nicht die gleiche alte und umfangreiche Literaturtradition hatten und als Sprachen des täglichen Umgangs im familiären und privaten Be‐ reich wenig Prestige genossen. Das Nachdenken über die Sprache konnte sich deshalb nur am Lateinischen entzünden, am Studium von Donat und Priscian, die ausführlich kommentiert wurden (cf. Bossong 1990: 18-19; Trabant 2006: 40-41). Diese Konstellation begünstigte zweifellos das Aufkommen eines eher theoriebe‐ tonten, universalistischen und rationalistischen Sprachdenkens: an der klar und streng aufgebauten Form dieser einen Kunstsprache glaubte man, die Form von Sprache schlechthin ablesen zu können; das scheinbare Chaos der primären Um‐ gangssprache in ihrer undurchschaubaren Vielgestaltigkeit verstellte nicht den Blick auf die interne Logik der semantischen und syntaktischen Mechanismen. (Bossong 1990: 19) Aus der Beschäftigung mit der Schulgrammatik, insbesondere des Priscian, dessen Kommentierungen immer ausführlicher und eigenständiger wurden, er‐ wuchs die sogenannte grammatica speculativa (später auch: grammatica uni‐ 238 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 385 Das Adjektiv speculativa ist zum einen als Ableitung zu speculum (dt. ‚Spiegel‘) zu ver‐ stehen (fig. ‚Sprache als Spiegel der Wirklichkeit‘) und andererseits als Lehnüberset‐ zung zu griech. θεωρετικός (theōrētikós) (cf. Bossong 1990: 19; Leiss 2009: 60). Das uni‐ versalistische Prinzip ist erstmals 1240 belegt, in einer Quaestionensammlung der Pariser Artistenfakultät, in der deutlich ausgesprochen wird, daß es beim Studium der Grammatik nicht um die Struktur von Einzelsprachen geht, sondern um allgemeine Regeln der Sprache an sich (cf. virtutes generales) (cf. Pinborg 1967: 26). 386 „Das Prestige dieser Theorie [der Spekulativen Grammatik] muss groß gewesen sein: Europäische Studenten sollen sich als Muslime verkleidet nach Spanien begeben haben, um dort Vorlesungen über arabische Philosophie und Grammatik zu hören“ (Leiss 2009: 60). 387 Das Adjektiv trivialis bezieht sich auf das Trivium, d. h. die Grammatik als Teil der artes im Sinne eines grundlegenden Unterrichts der lateinischen Sprache (≠ dt. trivial) (cf. Leiss 2009: 60). 388 Der Begriff modus significandi tritt bereits bei Boethius auf, ist aber dort noch kein terminus technicus (cf. Pinborg 1967: 39). versalis), 385 d. h. die eigentliche Sprachtheorie der Scholastik. Die ersten, die sich von Priscian lösten und die Sprache auf weitere Funktionalitäten und Ursachen hin abfragten (cf. causae inventiones), waren Wilhelm von Conches (ca. 1080-1154) in De philosophia mundi und Petrus Helias (ca. 1100-166) aus Poi‐ tiers mit seiner Summa in Priscianum. Die Blütezeit der spekulativen Univer‐ salgrammatik (1240 / 50-1320 / 50) ist allerdings nach den entscheidenden Im‐ pulsen durch die jüdisch-arabische Aristoteles-Tradition anzusetzen, die insbesondere durch den aus Córdoba stammenden Averroes geprägt wurde, der einen umfangreichen Aristoteles-Kommentar geschaffen hat (u. a. zur Nikoma‐ chischen Ethik und zur Poetik) und dessen Schriften in Toledo an der berühmten Übersetzerschule ins Lateinische übertragen wurden, von wo aus sie ihren Weg an die europäischen Universitäten (insbesondere Paris) fanden. 386 Es entstand auf Basis des Aristotelismus eine neuer Begriff von Wissenschaftlichkeit, bei dem Theorie und Praxis getrennt wurden; so löste sich die praktische gramma‐ tica trivialis, 387 also der Lateinunterricht, von der grammatica speculativa als einer philosophisch-spekulativen Sprachbetrachtung, die sich mit dem Wesen der Syntax und Semantik auf Basis der ratio bzw. der Logik auseinandersetzte. Die erstere ist dabei dem Bereich der ars (griech. τέχνη, téchnē) zuzuordnen (v. supra), die zweite dem der sapientia (griech. ἐπιστήμη, epistēmē), d. h. allgemein der Weisheit, hier spezifisch im Sinne von Wissenschaft (scientia) (cf. Bossong 1990: 19-25). Die Philosophen, die sich jenseits der grammatischen Kategorien mit dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit auseinandersetzen, sind die sogenannten Modisten (modistae), basierend auf dem zentralen Begriff der modi signficandi, 388 in dem die verschiedenen Möglichkeiten oder Arten (modi) der 239 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 389 Das Epitheton Dacus bzw. de Dacia bezieht sich im Mittelalter auf Dänemark (mitunter metonymisch auch auf ganz Skandinavien, d. h. v. a. auf Schweden), aus einer verwech‐ selten Lautähnlichkeit zwischen lat. Dacia (‚Rumänien‘) und lat. Dania (‚Dänemark‘) bzw. danica (‚dänisch‘). 390 Es gibt zudem weitere anonyme modistische Traktate. Insbesondere bei der ersten Ge‐ neration der Modisten ist die chronologische Reihenfolge der Entstehung der Schriften schwer zu ermitteln. Repräsentation eines Gegenstandes (res) zum Ausdruck kommen, die man durch die Sprache erfassen kann. Der erste Scholastiker, der derartige Denkmodelle präsentiert und dessen Werk die begriffliche Grundlage für die Epoche der Modisten legt, war Martin von Dacien (Martinus Dacus / Martinus de Dacia, 389 † 1304) mit seinem Tractatus de modis significandi (ca. 1255). Es folgen weitere dänische Autoren wie Boethius von Dacien (Boethius Dacus / Boethius de Dacia, † 1284) mit den Modi significandi sive quaestiones super Priscianum Maiorem (ca. 1270 / 1275), Simon von Dacien (Simon Dacus / Simon de Dacia, 13. Jh.) mit dem Domus grammaticae (ca. 1255 / 1270), Johann von Dacien (Johannes Dacus / Johannes de Dacia, 13. Jh.) mit einer Summa grammatica (ca. 1280) sowie der französische Modist Michael von Marbais (Michael de Marbasio / Morbosio, 13. Jh.), mit einem ihm zugeschriebenen Werk De modi significandi (ca. 1270 / 1300), welches sich eng an Boethius an‐ lehnt. Eine zweite Generation, die auch die Werke der ersten kommentierte, er‐ wächst durch Radulphus Brito (Raoul le Breton, ca. 1270-1320) mit den Quaes‐ tiones super Priscianum Minorem (ca. 1300), Siger von Courtrai (Sigerus de Cort‐ raco, ca. 1283-1341) mit der Summa modorum significandi (14. Jh.), Peter von Auvergne (Petrus de Alvernia, ca. 1240-1303 / 1304) mit seinen Literalkommen‐ taren zu Aristoteles, Simon von Faversham (Simon Anglicus, ca. 1260-1306 / 1307) und schließlich durch den einflußreichsten der Modisten, Thomas von Erfurt (Thomasus Erfordiensis bzw. de Erfordia † 1325) mit seiner Grammatica speculativa (1300 / 1310) (eigentl. De modis significandi, sive Gram‐ matica speculativa). Die Hauptwirkungsstätte der Modisten war die Artistenfa‐ kultät (facultas artium) der Universität von Paris, die wiederum auf die Hoch‐ schulen von Bologna und Erfurt ausstrahlte (cf. Rosier-Catach 1983: 18-22; Wolters 1992: 596-597; Leiss 2009: 65-66). 390 So wirkten in Bologna beispiels‐ weise Gentile da Cingoli (13. Jh.) mit seinen Quaestiones supra Prisciano minori sowie Matteo da Bologna (13. Jh.) mit den Questiones magistri Mathei Bononiensis super modos significandi et super grammaticam, die wohl beide auf Dante und seine sprachtheoretischen Betrachtungen im Convivio und in De vulgari elo‐ quentia wirkten (cf. Corti 1993: 79). 240 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 391 Thomas von Erfurt illustriert diese Differenzierung anhand von Nomen und Pronomen, die den gleichen modus entis hätten, also die material identisch seien, aber formal un‐ terschiedlich, und dem Verb und Partizip, die den gleichen modus esse hätten, also in Die Lehre der Modisten verknüpfte die sprachphilosophische Tradition der Stoiker, Platons und vor allem Aristoteles᾽, mit der grammatischen, d. h. der ur‐ sprünglichen alexandrinischen (cf. Dionysios Thrax (ca. 180-90 v. Chr.), Apol‐ lonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.)), die dann durch die lateinische bis Donat und Priscian fortgesetzt wurde (v. supra). Hieraus ergibt sich eine modistische Be‐ trachtung, der allgemeine metaphysische Begriffe wie Materie (materia) vs. Form (forma) oder Substanz (substantia) vs. Akzidenz (accidentia) und zeichen‐ theoretische wie sprachlicher Ausdruck (vox), bedeutungstragende Einheit (dictio), bezeichneter Gegenstand (significatum speciale) oder Bezeichnungsre‐ lation (ratio consignificandi) zugrundeliegen sowie allgemeine grammatische, wie die Lehre von den Wortarten (partes orationis) (cf. Wolters 1992: 598). Die Sprache der Betrachtung konnte dabei nur das Lateinische sein, die dabei als Universalsprache fungierte, d. h. als Anschauungsobjekt jenseits einzel‐ sprachlicher (d. h. volkssprachlicher) Charakteristika. Die mittelalterliche Idee einer für alle Sprachen gültigen Grammatik ist eine Konse‐ quenz des allgemein akzeptierten aristotelischen Wissenschaftsbegriffs. Danach ist insbesondere für jede Wissenschaft ein allgemeiner und invarianter Gegenstandsbe‐ reich erforderlich. Folglich können die von Sprache zu Sprache verschiedenen sprach‐ lichen Ausdrücke der Einzelsprachen kein Gegenstand einer wissenschaftlichen Logik oder Grammatik sein. Vielmehr sind für Wissenschaft invariante sprachliche Phäno‐ mene erforderlich, „die für Sprache als Sprache charakteristisch sind“ […]. (Wolters 1992: 597-598) Die beiden Hauptprämissen der modistischen Sprachbetrachtung sind, daß a) eine bestimmte Ikonizität zwischen den Gegenständen der Welt und der Struktur der Sprache besteht, woraus sich eine universalistische Position in Bezug auf den Aufbau aller Sprachen ergibt, sowie, daß b) die Perspektive des Betrachters, d. h. des Sprachbenutzers, eine Rolle spielt, so daß in der Sprache die je spezifi‐ sche Form der Perspektive auf die Welt zum Ausdruck kommt (cf. Leiss 2009: 61). Es werden grundsätzlich drei Ebenen der Erfassung der Welt, d. h. der Rela‐ tionen zwischen res, conceptiones und voces, unterschieden: Die erste Ebene ist die ontologische Ebene, d. h. die der Dinge, die sich in den Modalitäten des Seins ausdrückt, den modi essendi. Diesbezüglich kann nochmal zwischen dem modus entis (Seinszustand) und dem modus esse (Seinstätigkeit bzw. -vorgang) unter‐ schieden werden 391 (cf. Bereich der Metphysik bzw. Ontologie). Die zweite Ebene ist die der mentalen Repräsentation, d. h. das Erkennen der realen Welt, welches 241 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Bezug auf den Vorgang in ihrer Materie identisch seien, aber ebenfalls hinsichtlich ihrer Form verschieden (cf. Wolters 1992: 599). 392 Von Thomas von Erfurt wird noch eine weitere Differenzierung eingeführt, nämlich diejenige zwischen dem modus significandi passivus, d. h. wie die Eigenschaften eines Gegenstandes (proprietas rei) von der Sprache wiedergegeben werden, und dem modus significandi activus, der das Verhältnis des sprachlichen Ausdrucks zu seiner katego‐ rialen Bedeutung (proprietas voci) erfaßt. Bei den modi intellgendi wird auf analoge Weise unterschieden (cf. Coseriu 2015: 160). sich in den Modalitäten des Verstehens, den modi intelligendi ausdrückt. Auf dieser Ebene wirkt der Prozess der impositio, d. h. das Einwirken der Welt auf den Erkennenden, der noch weitgehend passiv ist, so daß die Eindrücke auf den Geist noch ungeformt sind. Auf dieser Ebene wird z. B. noch nicht zwischen den Wortarten unterschieden: So sind z. B. dolor (Nomen), dolēo (Verb), dolēns (Par‐ tizip) und dolenter (Adverb) als Teil einer bedeutungsgleichen Einheit (dictio) noch nicht weiter differenziert (cf. Bereich der Logik). Die dritte Ebene ist die‐ jenige, die sich auf die konkreten Wörter bezieht, d. h. die sprachlichen Ein‐ heiten, die die mentalen Repräsentationen widerspiegeln und die durch die modi significandi geformt werden. Hierbei findet ein zweiter Prozess der impositio statt, bei dem der Betrachter nun aktiv ist, während die Welt der Dinge (bzw. des Seins) passiv bleibt, und verschiedene Darstellungsmodalitäten der Wirk‐ lichkeit selektiert, was sich dann in grammatischen Kategorien äußert (cf. Be‐ reich der Grammatik). 392 Das Ganze kann als doppelter semiotischer Prozeß verstanden werden, bei dem auf ontologischer Ebene, d. h. der Ebene der Seinsweisen, die Dinge in Re‐ lation zueinander stehen, wodurch lexikalische Relationen abgebildet werden. Dabei findet eine Selektion von Merkmalen statt, da die Realität unendlich viel‐ fältig ist und in einem Abbildungsverfahren nur saliente Merkmale selektiert werden bzw. die Wirklichkeit manche als salient präsentiert. Es besteht also in diesem Fall zwischen der außersprachlichen Realität und der zeichenhaften Ab‐ bildung eine Motiviertheit, demgemäß ist ihre Beziehung nicht arbiträr. In einem zweiten Teil des Prozesses tritt der Betrachter, d. h. der Sprachbenutzer hinzu, der den durch den modus intelligendi erworbenen mentalen Eindruck kategori‐ siert, und zwar durch die grammatischen Kategorien. Durch die modi signifi‐ candi werden also Wortarten festgelegt und damit eine spezifische Sicht auf die Welt (auch modus consignificandi). Die Wortarten haben daher bei den Modisten einen hohen Stellenwert als maßgebliche Kategorien. Im gesamten Prozeß wird also erst durch die impositio 1 eine Beziehung zwi‐ schen dem rohen phonetischen Zeichen (vox) und dem Objekt (significatum (speciale)) hergestellt und zu einer bedeutungstragenden (lexikalischen) Einheit (dictio) geformt, wodurch eine Bezeichnungsrelation (ratio significandi) ent‐ 242 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 393 Der Universalienstreit war eine Auseinandersetzung bezüglich des Status᾿ der Univer‐ salien, ob sie reine mentale Begriffe sind (Nominalismus) oder, ob diese allgemeinen Entitäten auch durch allgemeine Begriffe widergespiegelt werden (Realismus) bzw. ob diese allgemeinen Begriffe zwar die Universalien beinhalten, diese jedoch unabhängig davon existieren (gemäßigter Realismus). Es geht also darum, ob die Universalien von den individuellen Realitäten unabhängig sind oder selbstständig, ob sie diesen voraus‐ gehen, ihnen zugrundeliegen oder nur in Verbindung mit individuellen Wesen oder Namen bzw. Wörtern auftreten (cf. Regenbogen / Meyer 2013: 688, s. v. Universalia). steht. Diese Einheit wird dann schließlich durch die impositio 2 grammatischen Kategorien zugeordnet, so daß eine weitere semantische Relation (ratio consig‐ nificandi) entsteht, die sich auf die Merkmale der Wortarten und solche anderer grammatischer Kategorien (Numerus, Genus, Person, Tempus, Modus, Dia‐ these) bezieht (cf. Bossong 1990: 28-29; Wolters 1992: 598-599; Leiss 2009: 60-65). Thomas von Erfurt faßt beispielsweise diese zweifache Zuschreibung der le‐ xikalischen und der grammatischen Bedeutung eines lautlichen Zeichens (vox), die unser Verstand (intellectus) vornimmt, folgendermaßen zusammen: Intellectus duplicem rationem voci tribuit. Iuxta quod notandum quod cum intellectus vocem ad significandum, et consignificandum imponit, duplicem ei rationem tribuit, scilicet, rationem significandi quae vocatur significatio, per quam efficitur signum, vel significans; et sic formaliter est dictio; et rationem consignificandi, quae vocatur modus significandi activus, per quam vox significans fit consignum, vel consignifi‐ cans; et sic formaliter est pars orationis; […]. (Thomas von Erfurt, Gramm. spec. I, 3; 1972: 136) Die Modisten sind gemäßigte Realisten, 393 da sie zwar die sprachlichen Struk‐ turen von der Struktur der Wirklichkeit abhängig machen, aber nur indirekt, da intellektuelle Operationen nötig sind, um die Zuordnung der in den Einzel‐ dingen angelegten Universalien zu den sprachlichen Entitäten und den gram‐ matischen Kategorien zu gewährleisten. Die sprachliche Wirklichkeit, die nur eine einzige ist, kann dabei jedoch von einer universalen Grammatik widerge‐ spiegelt werden, die den einzelsprachlichen Gegebenheiten vorausgeht (cf. Wol‐ ters 1992: 599). Denkansätze der modistischen Sprachtheorie findet man auch in späteren sprachtheoretischen sowie modernen linguistischen Theorien. Was die univer‐ salistische Position anbelangt, so ergibt sich eine Linie zur Grammatik von Port-Royal, aber auch zum Universalismus Wilhelm von Humboldts (1767-1835) mit seinen dynamischen Prozessen (cf. energeia), bis hin zu Chomsky, in dessen Unterteilung in Oberflächen- und Tiefenstruktur man die Unterscheidung in modi significandi und modi intelligendi widererkennen kann. Dieser bezieht sich wie auch Tesnière mit seiner Dependenzgrammatik und 243 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua 394 Dies findet sich auch bei Dante wieder, für den Sprechen nichts anderes ist als das mentale Konzept, das in uns wohnt, anderen mitzuteilen (cf. nostre mentis enucleare aliis conceptum; DVE I, 2, 3; 2007: 24), was er vermutlich von Thomas von Aquin übernommen hat (cf. „Nihil est enim aliud loqui ad alterum, quam conceptum mentis alteri manifes‐ tare“; Sum. theol. I a , q.107, a.1 co. [32 891]; 2019: online) (cf. Apel 1963: 106). 395 In dieser eindimensionalen Bezüglichkeit zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem steht das Nomen für Substanz (bzw. Qualität) und das Verb für Tätigkeit (actio) oder Erleiden (passio) (cf. Bossong 1990: 27). 396 Die bekannteste nominalistische Maxime ist das Ökonomieprinzip, auch als Ockhams Rasiermesser bekannt (cf. Leiss 2009: 71, FN 12), da es Wilhelm von Ockham im 17. Jh. zugeschrieben wurde: entia non sunt multiplicanda sine necessitate. Neben der Meta‐ physik-Kritik (bzgl. der Entitäten des Universums) enthält dies auch einen zeichenthe‐ oretischen Aspekt, nämlich, daß jedem sprachlichen Ausdruck nicht auch eine einzelne außersprachliche Realität entsprechen müsse (also ,die Entitäten nicht ohne Not zu vervielfältigen sind‘) oder mit anderen Worten, daß das Zeichen nicht ikonographisch die Wirklichkeit widerspiegle (Realismus), sondern abriträr sei (Nominalismus). 397 Im Mittelalter setzt sich der bereits im Kratylos-Dialog von Platon angesprochene Streit zwischen der phýsei-Theorie (φύσει) und thései-Theorie (θέσει, νομῳ) fort, wird aber schließlich weitgehend zugunsten der nominalistischen thései-Position, also der Idee einer arbiträren Relation zwischen Sprachzeichen und Wirklichkeit, entschieden. deren Abhängigkeitsrelationen auf die Grammaire générale et raisonnée (1660) von Antoine Arnauld (1612-1694) und Claude Lancelot (1615-1695) als Vor‐ läufer. Die semiotischen Relationen, die auf antiken Vorarbeiten (cf. Stoiker, Platon, Aristoteles, Augustinus) basieren, avancieren zum scholastischen Diktum voces significant res mediantibus conceptibus, 394 welches das einfachere aliquid stat pro aliquo  395 ablöst und sich in den Zeichenmodellen von Peirce sowie auch Ogden und Richards wiederfindet. Auch wenn nach 1350 die modistische Lehre keine weiteren Innovationen erfuhr, wurde sie noch bis ins 16. Jh. tradiert, war also auch im Humanismus noch präsent. Die beherrschende Strömung, neben einer konservativen averro‐ istischen Kritik, wurde dann aber eine nominalistische Position, wie sie vor allem Wilhelm von Ockham vertreten hat, 396 der selbst allerdings keine Kennt‐ nisse der grammatica speculativa hatte, sondern sich direkt auf die traditionelle Grammatik (d. h. Priscian) und Logik bezog. Auch seine Nachwirkung blieb zu‐ nächst eher bescheiden (Wiederentdeckung im 19. Jh.), dennoch setzten sich die nominalistisch ausgerichteten Ansichten - d. h. a) die Arbitrarität des Zei‐ chens 397 und b) die Negierung der Ähnlichkeit zwischen der Struktur der Wirk‐ lichkeit und der des menschlichen Denkens - über andere wie z. B. Pierre d’Ailly (ca. 1350-1420) weitgehend durch. Die Differenziertheit und Komplexität der modistischen Sprachbetrachtung ging jedoch für die Grammatikschreibung zu‐ nächst verloren (cf. Bossong 1990: 29; Wolters 1992: 596-597; Jungen / Lohnstein 2007: 152-155; Leiss 2009: 70-72). 244 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 398 So wurde vor allem griechische Literatur selten rezipiert bzw. meist nur in lateinischer Übersetzung, da die Kenntnis des Griechischen im Mittelalter selten war, was beispiels‐ weise Roger Bacon beklagt, der als einer der ersten dazu aufruft, sich die Bibelsprachen Griechisch und Hebräisch anzueignen. Die arabischen Texte der großen Aristo‐ teles-Kommentatoren wurden erst durch Übersetzungen aus Sizilien und vor allem Spanien (cf. Schule von Toledo) zugänglich. Stetige Dispute an den großen Universitäten wie Paris zeigen, daß man vielfach um die überlieferten Texte der großen Philosophen stritt, innerhalb bzw. zwischen den Schulen und vor allem mit dem Papst oder seinen Stellvertretern (cf. z. B. die Aristotelesverbote 1210, 1215, 1228, 1263, 1270, 1277; cf. Schupp 2003: 328-329; Signori 2007: 89). Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß es durchaus auch eine Offenheit für nicht kirchlich sanktioniertes Schriftgut gab, um wel‐ ches immer wieder gerungen wurde. 399 So finden sich in Dantes Divina Commedia nicht nur zahlreiche Autoren der klassischen Antike, wie an prominentester Stelle Vergil als Führer durch das Inferno, sondern auch Kirchenväter wie Hieronymus (cf. Div. Comm., Par. XXIX, 37; 1988 III: 344), Augustinus Neben der grammativa speculativa der Modisten gab es innerhalb der Scho‐ lastik auch noch weitere sprachtheoretische Strömungen wie die Lehre von den Suppositionen (von Wilhelm von Shyreswood (ca. 1200 / 1210-1266 / 1272) bis Wilhelm von Ockham), bei der verschiedene objekt- und metasprachliche Ver‐ wendungen von Ausdrücken diskutiert wurden (cf. Haupttypen: suppositio for‐ malis vs. suppositio materialis), sowie andere (terministische) semiotische Dis‐ kussionen (cf z. B. appellatio vs. significatio, proprietates significatorum, proprietates terminorum) wie beispielsweise bei Anselm von Canterbury, Petrus Hispanus, Roger Bacon oder Thomas von Aquin (cf. Gombocz 1992: 61-71; Nöth 2000: 9-12; Coseriu 2015: 148-169). Die Epoche der Scholastik legt in vielerlei Hinsicht die Grundlage für den anschließenden Humanismus und die Renaissance, denn auch wenn letztere die Wiederbelebung der Antike als eine ihre Grundmerkmale aufweist, wurde in der mittelalterlichen Gelehrtenkultur das Erbe der Antike weitertradiert, wenn auch, bedingt durch Sprach- und Glaubensbarrieren, 398 nicht umfänglich und sicherlich selektiv. Die Generation der Humanisten wird immer noch in den im Mittelalter geschaffenen Bildungsstrukturen ausgebildet, rezipiert zumindest zunächst die seit jeher tradierten Grammatiken sowie philosophischen und li‐ terarischen Autoren, wird an ihnen und an der lateinischen Sprache geschult. Dies zeigt sich insbesondere an dem an der Epochenschwelle stehenden Dante, der ohne Teil der universitären Strukturen zu sein auch allgemeines scholastisches Wissen des 13. Jhs. repräsentiert (beeinflußt u. a. wohl von Petrus Lombardus, Bonaventura, Albertus Magnus und Thomas von Aquin) und selbst scholastische Schriften wie die Qaestio de aqua et terra, De vulgari eloquentia, die Epistola XIII und das Convivio verfaßt, dabei jedoch eigene Wege geht (cf. Imbach 2015: X). 399 Dazu gehören auch die in seinem Werk nachweisbaren Ein‐ 245 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua und Johannes Chrysostomus sowie Scholastiker wie Bonaventura, Hugo von St. Viktor, Petrus Comestor (ca. 1100-1178) Petrus Hispanus (1220-1277), Anselm von Canterbury, Rhabanus (Hrabanus) Maurus (ca. 780 / 783-856), Thomas von Aquin (cf. u. a. ibid. Par. XII, 127-138; 1988 III: 148), oder Albertus Magnus (cf. ibid. Par. X, 98; 1988: III: 120), Petrus Lombardus (cf. ibid. Par. X, 107; 1988 III: 122), Siger von Brabant (ca. 1240-1284) (cf. ibid. Par. X, 134; 1988 III: 124) und Bernhard von Clairvaux (1090-1153) (cf. ibid. Par. XXXI, 103; 1988: 374) sowie die arabischen Aristoteles-Kommentatoren Avicenna und Averroes (ibid. Inf. IV, 143-144; 1988 I: 56). An einer anderen Stelle erscheinen der spät‐ antike Enzyklopädist Isidor von Sevilla, der Kirchenhistoriograph und Vertreter der northumbrischen Renaissance Beda Venerabilis (ca. 672-753) und der Mystiker Richard von St. Viktor (ca. 1110-1173) (cf. ibid. Par. X, 131; 1988 III: 124). 400 Das secundum placitum ist die gängige Formulierung, um die Arbitrarität des Zeichens auszudrücken, wie es beispielsweise bei Thomas von Aquin in seinem Aristoteles-Kom‐ mentar In libros Peri Hermeneias et Posteriorum Analyticorum Expositio (Lectio IV, Pa‐ ragr. 6) zu finden ist: „nomen significat secundum placitum, quia nullum nomen est naturaliter“. Zugrunde liegt hier die Übersetzung der aristotelischen Schrift Пερί ἑρμηνείας (De interpretatione) des Boethius, in der er griech. κατὰ συνθήκην (katà syn‐ théken) auf diese Weise widergibt: „Nomen ergo est vox significativa secundum pla‐ citum“ (zit. nach Coseriu 2015: 75; cf. auch ibid. 2015: 100-101). 401 Zu seiner eher anti-modistischen semiotischen Position cf. z. B. Ellena (2004: 74). Um‐ strittene Indizien für eine Rezeption Dantes der Modisten (z. B. Martin von Dacien, Boethius von Dacien oder Siger von Brabant) sind z. B. der Ausdruck modus tractandi im Schreiben an Cangrande della Scala (Dante, Epist. XIII, 27; 1993: 10), das im Übrigen ganz der universitären (scholastischen) Tradition der lectio gehorcht, oder auch der Ausdruck forma locutionis in De vulgari eloquentia (Dante, DVE I, 6, 4; 2007: 40) (cf. Curtius 1993: 229, § 3; Coseriu 2003: 146). Zur Diskussion um die Möglichkeit bzw. den Grad des Einflusses der Modisten auf Dante bezüglich einzelner Begriffe und Konzepte cf. z. B. Lo Piparo (1986), Corti (2003) oder Marmo (2014). flüsse der Modisten, an erster Stelle wohl durch Boethius von Dacien, wobei Dante hinsichtlich der Zeichentheorie eine eher nominalistische, d. h. anti-mo‐ distische Auffassung vertritt, da er das Zeichen als arbiträr ansieht, wie in dem Ausdruck ad placitum (Dante, DVE I, 3, 3; 2007: 28) deutlich wird, der eine ge‐ ringfügige Abwandlung des in der Scholastik üblichen secundum placitum  400 darstellt (cf. Kap. 6.2.2). 401 Was im Humanismus trotz der erkennbaren Kontinuität sicherlich aufgebro‐ chen wird, ist das rein formale Denken anhand der scholastischen Prinzipien und die Möglichkeit, auch außerhalb von Universitäten und klerikalen Ordens‐ strukturen zu wirken. Es entsteht vor dem Hintergrund der politischen und ge‐ sellschaftlichen Umbrüche sowie der maßgeblichen Erfindung des Buchdruckes eine neue Gelehrtenrepublik mit neuen Interessensschwerpunkten (z. B. Entde‐ ckung „neuer“ antiker Texte, Studium des Griechischen), woraus sich auch neue sprachtheoretische Fragestellungen ergeben (z. B. nach dem Ursprung der Volks‐ sprache, den Sprachen der Antike, questione della lingua) und neue Formen des 246 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Austausches bzw. der Äußerung (z. B. Platonische Dialoge, Invektiven, volks‐ sprachliche Traktate, Grammatiken und Wörterbücher), im Spannungsfeld zwi‐ schen städtischem Patronat, höfischem und kurialem Mäzenatentum sowie Lehr- und Bildungsstrukturen in Universitäten und neugegründeten Akade‐ mien. (cf. Kap. 6.1.1, Kap. 6.2). 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 6.2.1 Methodische Präliminarien In den nun folgenden Kapiteln werden nacheinander die wichtigsten Protago‐ nisten der Debatte zur antiken Sprachenfrage abgehandelt, d. h. im Wesentlichen wird pro Kapitel einer der hierbei maßgeblichen humanistischen Renais‐ sance-Gelehrten besprochen. Im Vordergrund stehen dabei immer die jeweiligen Traktate, welche die Schlüssel-Informationen enthalten, die in dieser Diskussion relevant sind. Darüber hinaus werden dann jedoch auch weitere Schriften des jeweiligen Gelehrten berücksichtigt, um das Gesamtbild seiner Stellungnahme bzw. seiner Überlegungen zu dieser Thematik abzurunden. Die Auswahl der Autoren und ihrer Texte richtet sich dabei zum einen nach den mehr oder weniger kanonisierten Protagonisten, die in der aktuellen For‐ schungsliteratur behandelt werden (cf. z. B. Schlemmer 1983a; Tavoni 1984; Ma‐ razzini 1989; Mazzocco 1993; Coseriu / Meisterfeld 2003; Marchiò 2008; Marcel‐ lino / Ammannati 2015, Eskhult 2018) und zum anderen danach, ob ein Humanist zu vorliegender Debatte inhaltlich einen neuen Aspekt beigesteuert hat und / oder in Bezug auf die Rezeption und Tradierung dieser Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Die einzelnen Kapitel sind unter Berücksichtigung der hier dargestellten Me‐ thodik wie folgt gegliedert: Zunächst wird der Inhalt der für diese Fragestellung zugrundegelegten Haupttexte zusammengefaßt bzw. die entscheidenden Pas‐ sagen im Hinblick auf das Vorkommen von Ausführungen zum lateinischen Varietätenraum und dem Sprachwandel samt seinen Einflußfaktoren selektiert und im Hinblick auf eine exakte Verortung mit einer ersten Kommentierung versehen (cf. jeweiliger Unterpunkt: Textanalyse); daraufhin erfolgt in einem zweiten Schritt eine Bestimmung im Rahmen einer sozio und varietätenlingu‐ istischen Einordnung (cf. jeweiliger Unterpunkt: Sozio- und varietätenlinguisti‐ sche Perspektive), im dritten Schritt dann eine Rekontextualisierung unter Be‐ rücksichtigung der zeitgenössischen Geistesgeschichte sowie gegebenenfalls 247 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 402 So soll im Folgenden unter anderem der Aspekt des sprachlichen Zeichens bei Dante ausgeklammert werden (cf. rationale signum et sensuale (DVE I, 3, 2; 2007: 28), ad pla‐ citum (DVE I, 3, 3; 2007: 28), a nostro beneplacito (DVE I, 9, 6; 2007: 58); secondo che v’abella (Div. Comm., Par. XXVI, 132; 1988 III: 316)), die Frage nach dem Sprachursprung (cf. fuit ergo hebraicum ydioma (DVE I, 6, 7; 2007: 42), cf. la lingua ch’io parlai fu tutta spenta (Div. Comm., Par. XXVI, 124; 1988 III: 314)), der Sprechfähigkeit des Menschen an sich weiterer Schriften (cf. jeweiliger Unterpunkt: Rekontextualisierung) und schließ‐ lich ein kurzes Resümee (cf. jeweiliger Unterpunkt: Synthese). Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf hingewiesen, daß die Analyse unter dem Gesichtspunkt einer aktuellen sozio- und varietätenlinguistischen Bestim‐ mung nur dazu dient, den Blick auf das zeitgenössische Verständnis der Huma‐ nisten von Latein, Vulgärlatein, Varietät und Variation sowie Sprachwandel zu schärfen und keinesfalls eine Erwartungshaltung darstellt, wie gut sie modernen Konzepten wie z. B. ‚Diglossie‘, ‚Ausbau‘, ‚Diasystem‘ ‚Varietät‘, ‚Substrat‘, ‚Su‐ perstrat‘ oder ‚Vulgärlatein‘ entsprechen. Ebensowenig soll hierbei eine telische Entwicklung unterstellt werden, im Sinne, daß die Humanisten in ihrer Diskus‐ sion und ihrem Bemühen um ein Verständnis der antiken Sprachkonstellation auf die heutige Erkenntnis hinsteuern. Die Geistesgeschichte ist in gewisser Weise kontingent und nicht linear auf ein Ziel ausgerichtet. Nichtsdestoweniger kann die folgende Debatte um das Verständnis des antiken Lateins und der Ent‐ wicklung hin zu den romanischen Sprachen als Vorgeschichte sprachwissen‐ schaftlicher Forschung gesehen werden. 6.2.2 Der unverzichtbare Vorläufer: Dante Alighieri Der Untersuchungszeitraum vorliegender Arbeit hat die konstitutiven Eckdaten 1435 (die besagten Schriften Leonardo Brunis und Flavio Biondos, v. supra) und 1601 (das Traktat Celso Cittadinis, v. supra), dennoch wäre die Abhandlung einer metasprachlichen bzw. sprachreflektorischen Fragestellung ohne die Einbezie‐ hung der zwar größtenteils intuitiven, aber deshalb nicht weniger bahnbrech‐ enden Überlegungen Dantes zur Sprache hochgradig defizitär, zumal insbeson‐ dere bezüglich der Thematik der Sprachvariation und des Sprachwandels seine dezidierten Vorstellungen wegbereitend für fast alle folgenden Darstellungen sind. Zur Sprachauffassung bei Dante Alighieri (1265-1321) sind grundsätzlich zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen, die vor allem in seiner lateinischen Schrift De vulgari eloquentia ( DVE , 1303 / 4) niedergelegt sind, aber auch im Convivio (1304-1307) sowie implizit an der ein oder anderen Stelle der Divina Commedia (1311-1321). 402 Seine volle Wirkung entfaltete das Traktat DVE je‐ 248 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen (cf. Soli homini datum fuit ut loquerentur (DVE I, 4, 1; 2007: 30)) sowie alle weiteren Aspekte der Sprachtheorie, die in vorliegendem Zusammenhang nicht direkt relevant sind. Zu diesen bei Dante thematisierten Bereichen cf. z. B. Bossong (1990: 53-56), Liver (1992: 41-45), Coseriu / Meisterfeld (2003: 125-128), Pötters (2005: 393-396), Ellena (2011: 54-60). 403 Bis zu diesem Zeitpunkt waren von De vulgari eloquentia nur wenige Manuskripte im Umlauf und wurde offensichtlich auch nur spärlich rezipiert: „[…] il libro circolò poc‐ chissimo (se ne conoscono solo tre codici) e cadde subito in oblio. Nel Trecento quasi nessuno accennò a quell’opera, a parte Boccaccio nel Trattatello in laude di Dante, Giovanni Villani nel suo schematico racconto della vita dell’Alighieri, Antonio Pucci nel poema Centiloquio, che del resto è una riduzione in terzine della Cronica del Villani, e dunque dipende da essa“ (Marazzini 2013: 31). 404 Cf. dazu auch die Einschätzung Marazzinis (1993a: 237) in Bezug auf die Gesamtwirkung des Traktats DVE auf die questione della lingua im Allgemeinen: „A partire dal Cinque‐ cento il De vulgari eloquentia fu un punto di riferimento costante nel corso del dibattito attorno alla ,questione della linguaʻ e stimolò in varia maniera (ma sempre in modo estremamente produttivo) l’elaborazione delle teorie linguistiche.“ doch erst mit seiner Wiederentdeckung (1515) und Übersetzung ins Italienische durch Gian Giorgio Trissino (1478-1550) im Jahre 1529, 403 so daß es auf diese Weise Eingang in die questione della lingua fand. Mazzocco (1993: 24, 29) nennt die Sprachtheorie Dantes in diesem Zusammenhang auch das elixir vitae der damit zusammenhängenden und hier fokussierten Sprachdebatte um die Frage nach dem Latein der Antike. Aus diesem Grund sollen in vorliegendem Rahmen einige wichtige Aspekte der Dante’schen Sprachauffassung dargelegt werden, und zwar mit besonderem Fokus auf seine Gedanken und Ausführungen, die sich mit der diasystematisch faßbaren Variation der Sprache auseinandersetzen sowie auf seine Reflexionen zur Veränderlichkeit und Entwicklung der Sprache, und schließlich soll vor allem das bei ihm oft nur implizit dargestellte Verhältnis von Latein und Volks‐ sprache herausgearbeitet werden. Dies ist dahingehend wichtig für vorliegende Untersuchung, da bestimmte Elemente der dantʼschen Argumentation bei den späteren Renaissance-Gelehrten regelmäßig wiedererscheinen, und zwar zum einen indirekt im Zuge einer allgemeinen mittelalterlichen Sprachauffassung, die sich in manchen Zügen auch bei Dante widerspiegelt und zum anderen direkt mit oder ohne expliziter Nennung Dantes als wichtige Referenzautorität. 404 Textanalyse Schon zu Beginn seines Traktats De vulgari eloquentia charakterisiert er die Volkssprache in Italien (vulgarem locutionem), also das zeitgenössische Italieni‐ sche (bzw. seine Varietäten). Diese sei eine Sprache, die die Kinder von ihrer Umgebung lernen (ab assistentibus), sobald sie anfangen Wörter zu unter‐ 249 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini scheiden (distinguere voces), oder anders ausgedrückt eine Sprache, die man ohne jede Regel lernt (sine omni regula), indem man die Amme nachahmt (nut‐ ricem imitantes). Sed quia unamquanque doctrina oportet non probare, sed suum aperire subiectum, ut sciatur quid sit super quod illa versatur, dicimus, celeriter actendentes, quod vulgarem locutionem appellamus eam qua infantes assuefiunt ab assistentibus cum primitus distinguere voces incipiunt; vel, quod brevius dici potest, vulgarem locutionem asse‐ rimus quam sine omni regula nutricem imitantes accipimus. (Dante, DVE I, 1, 2; 2007: 20) Das Lateinische seiner Zeit sieht Dante als sekundäre Sprache (locutio secun‐ daria) - und damit die Volkssprache ex silentio als primäre -, die man mit großem Zeitaufwand (per spatium temporis) durch das Studium derselben erlernen muß (studii assiduitatem); man nennt sie gramatica (sic! ) und sie ist eine künstliche Sprache (artificalis), während die Volkssprache naturgegeben sei (naturalis est nobis). Die Tatsache, daß die Volkssprache für Dante als primär einzustufen ist und das Lateinische als sekundär ist nach Bossong (1990: 52) in dreierlei Hinsicht gültig, und zwar a) in Bezug auf den Einzelnen, der erst die Muttersprache (bzw. die Sprache der Amme) lernt bzw. aufsaugt, das Latein als Kunstsprache aber erst später erwirbt und auch nicht auf „natürlichem“ Weg, sondern durch das schulische Erlernen, b) in Bezug auf die Gesellschaft, insofern nur manche Sprachgemeinschaften das Lateinische benutzen, wohingegen alle Völker eine Muttersprache haben und c) schließlich in Bezug auf die innere Beschaffenheit der Sprache, wodurch die Volkssprache als natürlich (primär) und das Lateini‐ sche als künstlich (sekundär) klassifiziert wird. Est et inde alia locutio secundaria nobis, quam Romani gramaticam vocaverunt. Hanc quidem secundariam Greci habent et alii, sed non omnes: ad habitum vero huius pauci perveniunt, quia non nisi per spatium temporis et studii assiduitatem regulamur et doctrinamur in illa. (Dante, DVE I, 1, 3; 2007: 22) Harum quoque duarum nobilior est vulgaris: tum quia prima fuit humano generi usi‐ tata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur, licet in diversas prolationes et vocabula sit divisa: tum qui naturalis est nobis, cum illa potuis artificalis existat. Et de hac nobiliori nostra est intentio petractare. (Dante, DVE I, 1, 4; 2007: 22) Was das Latein anbelangt, so ist Dante ganz der mittelalterlichen Tradition ver‐ haftet (cf. Kap. 6.1.5) und sieht die Sprache als unveränderlich an (inalterabilis 250 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 405 Die Unveränderlichkeit wird als adliges Distinktionsmerkmal angesehen, weil Unver‐ änderlichkeit als ontologisch höher stehend eingeordnet wird, als Veränderlichkeit (cf. Cheneval 1996: 127). 406 Im Convivio ist er diesbezüglich ebenfalls sehr deutlich: „[…] perchè lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corruttibile“ (Dante, Conv. I, 5, 7; 1996: 24). Vor allem erscheint hier auch das Argument der corruptio, welches in der Renais‐ sance-Debatte gut hundert Jahre später mit etwas anderen Vorzeichen zentral werden sollte (v. infra). 407 Die Unterscheidung der inventores gramatice facultatis (DVE I, 9, 11; 2007: 60) und den gramatice positores (DVE I, 10, 1; 2007: 62) geht auf den Scholastiker Boethius de Dacia (13. Jh.) zurück, der diese Differenzierung in seiner spekulativen Grammatik zu den modi signficandi trifft (cf. Scaglione 1990: 312). Cf. auch die direkten Vorläufer Dantes, den Philosophen Aegidius Romanus und den Grammatiker Henry de Crissey mit ähn‐ lichen Formulierungen (cf. Rizzo 2002: 21). 408 Welche Völker an der Aufrechterhaltung der (grammatischen) Regeln des Lateins (gra‐ matica) beteiligt sind, führt Dante allerdings nicht aus. Dabei ist anzunehmen, daß er jedoch in erster Linie an die romanischsprachigen Länder Europas dachte, evtl. noch an die deutschsprachigen oder an England. Tavoni (2015: 69-70) argumentiert es können nur Sprachen der zweiten ydioma tripharium (sì, oc, oïl) gemeint sein, da er dieses drei‐ geteilte Idiom als „unseres“ bezeichnet (Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54) und nur für Sprecher dieser Sprachgemeinschaft die positores gramatice durch ratio eine regulierte Sprache (gramatica) geschaffen hätten, um die babelische Verwirrung bzw. Diversifikation zu überwinden. locutionis), 405 und zwar in Zeit und Raum (diversibus temporibus atque locis), eben im Gegensatz zur Volksprache, 406 betont außerdem ihre Künstlichkeit, indem er von den „Erfindern“ der gramatica spricht (inventores gramatice) 407 und weist auf die verschiedenen Funktionen dieser auf einem gemeinsamen Konsens be‐ ruhende Sprache hin (comuni consensu multarum gentium). 408 Dabei, so kann man interpretieren, führt er die auch heute noch wichtigen Funktionen der Schriftlichkeit in einer Gesellschaft an, nämlich die Bewahrung und Tradierung des Wissens über größere Zeiträume hinweg (antiquorum autoritates et gesta) und unabhängig vom Raum (a nobis locorum diversitas), d. h. die Entkoppelung der Kommunikation von der Situationsgebundenheit wie bei einer face-to-face-Kommunikation. Hinc moti sunt inventores gramatice facultatis: que quidem gramatica nichil aliud est quam quedam inalterabilis locutionis ydemptitas diversibus temporibus atque locis. Hec cum de comuni consensu multarum gentium fuerit regulata, nulli singolari arbi‐ trio videtur obnoxia, et per consequens nec variabilis esse potest. Adinvenerunt ergo illam ne, propter variationem sermonis arbitrio singularium fluitantis, vel nullo modo vel saltim imperfecte antiquorum actingeremus autoritates et gesta, sive illorum quos a nobis locorum diversitas facit esse diversos. (Dante, DVE I, 9, 11; 2007: 60) 251 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 409 Mit den Yspani sind hier die Okzitanen und Katalanen (inkl. Kgr. Aragón) gemeint (das Sprachgebiet westlich von Genua, DVE I, 8, 6; 2007: 52), die er unter einen Begriff sub‐ sumiert, wobei es in der Literatur der Zeit durchaus Belege für eine Differenzierung der beiden Regionen bzw. Sprachen gibt (z. B. bei Brunetto Latini), aber es wird eben auch gelegentlich unter Hispania der historische Raum bis zur Rhonemündung verstanden (cf. Mengaldo 1984a: 526). Die Bezeichnung Yspani bezieht sich dabei rein auf die Dich‐ tungssprache, wie Dante selbst darlegt: „Hoc etiam Yspani usi sunt - et dico Yspanos qui poetati sunt in vulgari oc“ (DVE II, 12, 3; 2007: 176). Vergegenwärtigt man sich die historisch literarische Einheit der okzitanischen-katalanischen Troubadourlyrik, so wird diese Klassifizierung Dantes mehr als nachvollziehbar. Darüberhinaus scheint es wenig wahrscheinlich, daß Dante keine Kenntnis von den weiter westlich gelegenen Regionen der Iberischen Halbinsel hatte, in denen ebenfalls si der Bejahungspartikel ist, auch unter Berücksichtigung des Einwandes von Ternes (1989: 66), daß die Recon‐ quista zu Dantes Zeit noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Es ist doch wohl eher davon auszugehen, daß er diese Kenntnis der heiligen Dreieinheit des ydioma tripha‐ riums opferte und damit auch das potentielle Problem weiterer Sprachen mit sì umging. Es bleibt das Problem der Abgrenzung der langue d’oïl von der langue d’oc durch die montibus Aragonie, womit wohl die Pyrenäen gemeint sind. Dabei ist davon auszugehen, daß Dantes Kenntnisse der Sprachgrenze im Westen (Loire bzw. Gironde) diffus waren, d. h. er hier die englisch besetzte Gascogne und das Toulousain hier irrtümlicherweise dem oïl-Gebiet zurechnete (cf. dazu Cecilia 1970: 343). Zur geographischen Situierung der Gallia, dem mare anglicum und den montes Aragonie cf. auch Mengaldo (1996: 68-70, FN 5). Zur sprachlichen und dialektalen Gliederung der Iberischen Halb‐ inseln nach phonischen Kriterien cf. Lang (2017: 195-210). 410 Zu anderen frühen vorwissenschaftlichen Gliederungsversuchen europäischer Spra‐ chen bzw. überhaupt nur deren Auflistung bei Rodrigo Jiménez de Rada (1170-1247), Raimon Vidal de Bezadun (1196-1252), Roger Bacon (1214-1294), Alfons dem Weisen (1221-1284, Kg. ab 1252) oder Oswald von Wolkenstein (1377-1445) cf. Holtus (1987: 350-351), Lüdtke (1981) und Schöntag (2020a). Im Gegensatz zum Lateinischen charakterisiert Dante die Volkssprache als ver‐ änderlich, und zwar in Zeit und Raum. Im Zuge seiner Betrachtung der Sprachen Europas unterteilt er mit Hilfe des Bejahungspartikels, ausgehend von einem ydioma tripharium, den Kontinent in drei sprachliche Großgruppen, nämlich die der nördlichen Region (septentrio‐ nalem regionem; Partikel: iò) die der südlichen Region (meridionalem regionem) und die der Griechen (Grecos) (cf. Dante, DVE I, 8, 2; 2007: 50). Er beschreibt nun ferner eine weitere sprachliche Aufsplittung, die er eben‐ falls anhand eines einzigen Kriteriums festmacht, nämlich wiederum durch den Bejahungspartikel. Für die südliche Region schließlich postuliert er also ein weiteres ydioma tripharium, welches wie das übergeordnete ebenfalls dreigeteilt ist und die Sprache der Spanier (Yspani; Partikel: oc), 409 der Franzosen (Franci; Partikel: oil) und der Italiener (Latini; Partikel: sì) repräsentiert (cf. Dante, DVE I, 8, 5; 2007: 52). 410 252 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Anhand der Volkssprache(n) auf der Apennin-Halbinsel zeigt er im Folgenden weitere Arten der Variabilität auf. So veranschaulicht er die räumliche Variation, indem er die italienischen Dialekte, 14 an der Zahl (xiiii vulgaribus sola videtur Ytalia), rechts und links des Apennins auflistet (Latium bipartitum), wobei der Gebirgskamm (iugum Apenini) als sprachliche Trennlinie (linea dividente) fun‐ giert. Nos vero iudicium relinquentes in hoc et tractatum nostrum ad vulgare latium retra‐ hentes, et receptas in se variationes dicere nec non illas invicem comparare conemur. Dicimus ergo primo Latium bipartitum esse in dextrum et sinistrum. Si quis autem querat de linea dividente, breviter respondemus esse iugum Apenini, quod, ceu fistule culmen hinc inde ad diversa stillicida grundat aquas, ad alterna hinc inde litora per ymbricia longa distillat, ut Lucanus in secundo describit: dextrum quoque latus Ty‐ renum mare grundatorium habet, levum vero in Adriaticum cadit. Et dextri regiones sunt Apulia, sed non tota, Roma, Ducatus, Tuscia et Ianuensis Mar‐ chia; sinistri autem pars Apulie, Marchia Anconitana, Romandiola, Lombardia, Mar‐ chia Trivisiana cum Venetiis, Forum Iulii vero et Ystria non nisi leve Ytalia esse pos‐ sunt; nec insule Tyreni maris, videlicet Sicilia et Sardinia, non nisi dextre Ytalie sunt, vel ad dextram Ytaliam sociande. (Dante, DVE I, 10, 3-5; 2007: 64). So führt Dante im Folgenden aus, daß es nicht nur die angegebenen 14 Volks‐ prachen in Italien gäbe (v. supra), sondern auch innerhalb dieser eine weitere Differenzierung festzustellen sei (omnia vulgaria in sese variantur). Als Beispiel einer Feingliederung gibt er dabei das Senesische und Aretinische innerhalb des Toskanischen an sowie das Ferraresische und Piacentinische innerhalb des Lombardischen. Quare ad minus xiiii vulgaribus sola videtur Ytalia variari. Que adhuc omnia vulgaria in sese variantur, ut puta in Tuscia Senenses et Aretini, in Lombardia Ferrarenses et Placentini; nec non in eadem civitate aliqualem variationem perpendimus, ut superius in capitulo immediato posuimus. Quapropter, si primas et secundarias et subsecun‐ darias vulgaris Ytalia variationes calculare velimus, et in hoc minimo mundi angulo non solum ad millenam loquele variationem venire contigerit, sed etiam ad magis ultra. (Dante, DVE I, 10, 7; 2007: 66). Etwas komplexer ist der Fall seiner ebenfalls in diesem Zusammenhang ge‐ schilderten Diversität der Volksprache innerhalb einer Stadt, die er am Beispiel von Bologna festmacht. Hierbei stellt er weitere Unterschiede in der Sprache der Einwohner verschiedener Stadtviertel fest, was er an den beiden Bezirken Borgo San Felice (Bononienses Burgi Sancti Felicis) und der Strada Maggiore (Bononi‐ enses Strate Maioris) exemplifiziert. 253 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Quare autem tripharie principalius variatum sit, investigemus; et quare quelibet is‐ tarum variationum in se ipsa variatur, puta dextre Ytalie locutio ab ea que est sinistre (nam aliter Paduani et aliter Pisani locuntur); et quare vicinus habitantes adhuc disc‐ repant in loquendo, ut Mediolanenses et Veronenses, Romani et Florentini, nec non convenientes in eodem genere gentis, ut Neapolitani et Caetani, Ravennates et Fa‐ ventini, et, quod mirabilius est, sub eadem civilitate morantes, ut Bonienses Burgi Sancti Felicis et Bonienses Strate Maioris. (Dante, DVE I, 9, 4; 2007: 56) Dante zeigt demnach die diatopische Variabilität der Volkssprache Stufe für Stufe auf, zunächst innerhalb Italiens, dann innerhalb der einzelnen Land‐ schaften, der einzelnen Städte und schließlich sogar innerhalb der Städte. Ein weiterer Aspekt der Sprachvariation, der sich aus De vulgari eloquentia herauslesen läßt, ist in einem Kapitel mit biblischen Implikationen angesiedelt. So schildert Dante, daß beim Turmbau zu Babel nach der göttlichen Sprachver‐ wirrung, durch die das Menschengeschlecht seines einheitlichen Idioms beraubt wurde, all diejenigen die gleiche Sprache unter sich behielten (loquela re‐ mansit), die die gleiche berufliche Tätigkeit ausübten (in uno convenientibus actu). Als Beispiel nennt er die Gruppe der Architekten bzw. Baumeister (cunctis architectoribus) und diejenige der Steineroller bzw. -transporteure (cunctis saxa volventibus) sowie unbestimmte weitere Berufsgruppen, deren Sprache im Sinne einer Diastratik interpretierbar wäre (v. infra). Solis etenim in uno convenientibus actu eadem loquela remansit: puta cunctis archi‐ tecoribus una, cunctis saxa volventibus una, cunctis ea parantibus una; et sic de sin‐ gulis operantibus accidit. Quot quot autem exercitii varietates tendebant ad opus, tot tot ydiomatibus tunc genus humanum disiungitur; et quanto excellentius exercebant, tanto rudius nunc barbariusque locuntur. (DVE I, 7, 7; 2007: 46) Als letzte Art der bei Dante dargestellten Sprachvariation sei die zeitliche Ebene bzw. der Sprachwandel angesprochen. Recht explizit manifestiert sich dies am Beispiel der Einwohner von Pavia. So schildert er anschaulich, daß im Falle des Wiederauferstehens früherer Einwohner der Stadt (vetustissimi Papienses), man sehen würde, daß diese in einer ganz anderen Sprache reden würden (sermone vario vel diversos) als die heutige Bevölkerung (modernis Papiensibus). Um das Phänomen für den Leser noch deutlicher zu gestalten, zieht Dante hier die Pa‐ rallele zu einer wenn nicht so starken, aber dennoch wahrnehmbaren Verände‐ rung der Sprache im Laufe eines Menschenlebens. So ist dies für ihn auch Indiz für eine vermeintliche Unveränderlichkeit der Sprache, denn - so seine Aus‐ führungen - wird man bei einem jungen Mann, den man aufwachsen sieht, die sich verändernde Sprache nicht wahrnehmen, weil dies so langsam vor sich geht. 254 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 411 Zu Einzelheiten bezüglich der europäischen Dreiteilung der Sprachräume und schließ‐ lich der weiteren Unterteilung der Romania in wiederum drei Hauptsprachen cf. Men‐ galdo (1971: 659-660) und Mengaldo (1984b: 722-723). Nec dubitandum reor modo in eo quod diximus ‚temporum‘, sed potius opinamur tenendum: nam sia alia nostra opera perscrutemur, multo magis discrepare videmur a vetustissimis concivibus nostris quam a coetanis perlonginquis. Quapropter au‐ dacter testamur quod si vetustissimi Papienses nunc resurgerent, sermone vario vel diverso cum modernis Papiensibus loquerentur. Nec aliter mirum videatur quod dicimus quam percipere iuvenem exoletum quem exolescere non videmus: nam que paulatim moventur, minime perpenduntur a nobis, et quanto longiora tempora variatio rei ad perpendi requirit, tanto rem illam stabili‐ orem putamus. (Dante, DVE I, 9, 7-8; 2007: 58) Die Veränderlichkeit der Sprache in zeitlicher Dimension spricht er implizit wie auch explizit auch in Zusammenhang mit der Gliederung der europäischen Idiome an (v. supra). So erklärt er zunächst (cf. Dante, DVE I, 8, 3; 2007: 50), daß auch aus dem ersten ydioma tripharium verschiedene Volkssprachen entstanden (diversa vulgaria traxerunt originem), was zwangsläufig einen nicht unerhebli‐ chen Sprachwandel beinhaltet. In Bezug auf das zweite idioma tripharium wird er noch deutlicher und so ist bereits im Titel des 9. Kapitels zu lesen (cf. DVE I, 9; 2007: 54-60), daß sich die Volkssprache mit der Zeit verändert (per tempora idem idioma mutatur). 411 Im Folgenden führt er diesen Aspekt weiter aus und leitet ein, daß es nun um die Veränderung der ursprünglich einmal einheitlich gewesenen Sprache ginge (cf. Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54). Zieht man den ge‐ samten Zusammenhang der in diesen Abschnitten geschilderten Vorgänge in Betracht, so wird deutlich, daß es nicht allein um die Veränderlichkeit in der Zeit geht, sondern dies - angesichts des langen Zeitraumes - auch eine Verän‐ derung in der Art der Sprache nach sich zieht. Schließlich stellt Dante die zeit‐ liche und räumliche Variabilität der Sprache auch gegenüber und befindet, daß die sprachliche Distanz zu den entfernt hausenden Bewohner innerhalb eines Sprachraumes geringer sei als die als sehr groß empfundene (multo magis disc‐ repare) zwischen früheren (vetustissimis) und heutigen (coetaneis) Zeitgenossen, was er vor allem an den überlieferten schriftsprachlichen Werken (alia nostra opera) festmacht (cf. Dante, DVE I, 9, 7; 2007: 58). Ein wichtiges Moment in den Dante’schen Ausführungen zur Variabilität der Volkssprache sind die dargelegten Ursachen dieser Veränderlichkeit (cf. Dante, DVE I, 9, 6; 2007: 58). So begründet er die Tatsache, daß die Sprache nicht dau‐ erhaft ist bzw. nicht von Kontinuität geprägt ist (nec durabilis nec continua esse potest) damit, daß ja auch der Mensch ein unbeständiges und veränderliches 255 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 412 Wunderli (1997: 119) verweist mit Recht darauf, daß eine sprachtypologische Einteilung aufgrund nur eines Kriteriums, nämlich des Bejahungspartikels, ein sehr hohes Ab‐ straktionsniveau impliziert und damit recht problematisch ist (was aber durchaus Pa‐ rallelen in der heutigen Linguistik hat). Cf. dazu auch Ternes (1989: 66, 69, 71-73). Zu den Vorläufern von Dantes Sprachklassifikation cf. Schöntag (2020a). 413 Es sei nochmals auf die Möglichkeit eines Systemzwanges hingewiesen (v. supra), dem Dante womöglich unterlag bzw. sich selbst unterworfen hatte, d. h. im Sinne einer ydioma tripharium waren weitere Regionen mit sì nicht in das Modell integrierbar. Lebewesen (instabilissimum atque variabilissimum animal) sei. Dabei paralleli‐ siert er zusätzlich die Sprache mit anderen Charakteristika der menschlichen Gesellschaft, nämlich mit den Sitten und Gebräuchen (mores et habitus), die ebenfalls veränderlich seien. Beide Gegebenheiten verändern sich dabei - wie er nochmals betont - in Raum und Zeit (per locorum temporumque distantis va‐ riari oportet). Die Instabilität der Volkssprache ist zwar aus seiner Sicht ein Nachteil, aber kein „difetto assoluto“ wie Vinay (1959: 241) deutlich macht, da durch einen großen Dichter, der genügend Kunstfertigkeit (ars) aufweist und ein entspre‐ chendes Opus schöpfen kann, die Sprache perfektioniert und mit entsprech‐ ender Dignität versehen werden kann (cf. Vinay 1959: 241-242). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Im Lichte einer Betrachtung von Dantes wichtigstem sprachtheoretischem Werk unter aktuellen linguistischen Vorzeichen, ist zunächst auf seine Katego‐ risierung hinzuweisen, die man als sprachtypologisch interpretieren kann. Auch wenn dieser Aspekt nicht im engeren Sinne für vorliegende Untersuchung zum zentralen Fokus gehört, soll er doch kurz erwähnt werden. In diesem sprachtypologischen Gliederungsversuch avant la lettre ordnet er die wichtigsten Sprachen Europas und dann nochmal genauer, die romanischen Sprachen, mit Hilfe eines einzigen Unterteilungskriteriums, nämlich des Beja‐ hungspartikels. 412 Bei dieser Einteilung aus moderner Sicht handelt es sich nicht wie üblicherweise in der Forschungsliteratur dargestellt um eine rein typologi‐ sche Einteilung (z. B. Ternes 1989: 67; Stammerjohann 2001: 152), sondern hier spielen zumindest additiv auch sprachgenealogische und areale Kriterien eine Rolle, denn die angesprochenen Sprachen sind sowohl miteinander verwandt als auch geographisch benachbart. Dabei bleiben gewisse Ungereimtheiten ungeklärt, so beispielsweise seine Vorstellungswelt von der Iberischen Halbinsel, da unter den Fragepartikel oc auch die Yspani subsumiert werden, was für das Katalanische zutrifft, nicht aber für das Spanische und Portugiesische. 413 Zudem bleibt unklar, welche Beja‐ hungspartikel in den einzelnen Sprachen, die unter iò gefaßt werden, er im Sinn 256 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 414 Den Sprachwandel charakterisiert Keller (1994) dann als invisible hand process, einen Terminus den er von dem Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith (1723-1790) entlehnt hat, der diese Metapher auf wirtschaftliche Prozesse anwandte. hat (z. B. in Bezug auf das Ungarische oder Slawische) oder warum er keinen zum Griechischen angibt (v. supra). In diesem Kontext der gesamteuropäsischen Sprachklassifikation werden hier zusätzlich wichtige Feststellungen getroffen, die im Sinne der diachronen Migrationslinguistik (cf. Schöntag 2019) zu analysieren sind. So spricht Dante von jenen, die nach Europa einwanderten (primitus advenissent) und dort neu waren oder ursprünglich von dort stammten (ad Europam indigene repedas‐ sent), d. h. er ist sich bewußt, daß durch Bevölkerungsbewegungen Sprachräume sich verändern (cf. Dante, DVE I, 8, 2; 2007: 50). Was nun die italienische Volkssprache, das volgare bzw. bei Dante die locutio vulgaris (locutio primaria), anbelangt, so ist ein Hauptthema in diesem Traktat ihre Veränderlichkeit im Gegensatz zur Unveränderlichkeit des Lateinischen (gramatica, locutio secundaria). Linguistisch gesprochen geht es demnach um Sprachwandel, d. h. um den Prozeß einer allmählichen Veränderung in der Ge‐ schichte. Die Tatsache, daß die Volkssprache einem andauernden Wandel un‐ terworfen ist, wird dabei sowohl an den Einwohnern von Pavia, als auch an dem Beispiel eines jungen Mannes illustriert (v. supra). Er führt hier also nicht nur die verschiedenen Ebenen der Diachronie ein, also diachronische Variation über einen größeren Zeitraum und über einen kurzen (Makrodiachronie vs. Mikro‐ diachronie), sondern auch den Aspekt der Sprecherperzeption bezüglich des Sprachwandels, d. h. der individuellen Wahrnehmung von sprachlicher Verän‐ derung. Die diachrone Veränderlichkeit der Volkssprache wird von Dante mit den Eigenschaften der conditio humana erklärt, was grosso modo dem in moderner Terminologie von Keller (1994) geleisteten Ansatz entsprechen könnte, der all‐ gemeine gesellschaftbedingte Erscheinungen des menschlichen Daseins als Phänomene der dritten Art bezeichnet und die Sprache eben auch als ein solches ansieht, da sie weder ein Kulturnoch ein Naturphänomen sei. 414 Neben der Diachronie ist bei Dante vor allem die Variation von Sprache(n) im Raum ein Hauptthema. Im Sinne einer Areallinguistik ordnet er die ver‐ schiedenen Sprachräume europäischen Großregionen zu. Im engeren (Coseri‐ u’schen) Sinne diatopisch sind dann seine Ausführungen zur italienischen Volkssprache. Auch wenn heute die Hauptisoglossen in Italien tendenziell als von West nach Ost verlaufend registriert werden (z. B. Rimini-La Spezia; Ta‐ ranto-Brindisi bzw. Grottaglie-Ostuni; Diamante-Cassano; Einteilung in Nord-, Mittel- und Süditalienische Dialekte), erfaßt Dante aus aktueller linguistischer 257 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 415 Ellena (2011: 54) betont in diesem Zusammenhang, daß es zwar tatsächlich viele Über‐ einstimmungen mit der heutigen Klassifikation gäbe, aber Dante sich vornehmlich nicht an sprachlichen, sondern an geographischen Gegebenheiten orientiere. Dem ist aller‐ dings hinzufügen, daß Dante neben den rein geographischen (cf. Apennin) wohl auch die historisch gewachsenen, politischen Landschaften, die natürlich auch geographisch basiert sind, im Sinn hatte. 416 Zu den einzelnen Aspekten der Dialektgliederung cf. Holtus (1989: 5-8) und Wunderli (1994a: 96-100). 417 Auch an einer anderen Stelle im Kapitel davor, spricht er bereits von den Unterschieden der einzelnen städtischen Sprachen, und zwar bezüglich der Sprache der Einwohner von Neapel und Gaeta (Neapoletani et Caetani) und jener von Ravenna und Faenza (Ravennates et Faventini), die ja je nah beieinander situiert seien (cf. Dante, DVE I, 9, 4; 2007: 56). 418 Wunderli (1994a: 103) verweist darauf, daß Dante die unterschiedliche Sprache der Be‐ rufsgruppen evtl. an den florentinischen Zünften beobachtet habe. 419 Zur Sozialtopographie in der mittelalterlichen Stadt cf. Engel (1993: 152-153), die darauf hinweist, daß die verstärkte Ansiedlung bestimmter Berufsgruppen durchaus nicht selten war, aber keineswegs zwingend. Die bürgerliche Oberschicht nahm in der Regel die besten Plätze im Zentrum der Stadt ein. 420 Zum Kommunikationsraum der mittelalterlichen Stadt sowie der grundsätzlichen Glie‐ derung des Raumes bzw. eines sprachlichen Territoriums, in dem entgegen einer nati‐ Perspektive die Dialekträume relativ genau (cf. Dante, DVE I, 10, 5-6; 2007: 64-66). 415 Ohne auf weitere hier für die allgemeine Variabilität der Volks‐ sprache nicht relevanten Details der Dialektgliederung einzugehen, 416 ist hin‐ gegen die weitere diatopische Variation, die in diesem Traktat dargelegt wird, durchaus ebenfalls von Interesse. Indem nämlich Dante hier den Einwohnern der einzelnen Städte (v. supra: in Tuscia Senenses et Aretini, in Lombardia Ferrarenses et Placentini) eine je eigene Art der jeweiligen Volksprache attribuiert, trifft er eine Unterscheidung zwi‐ schen diatopischer Makro- und Mikroebene bzw. zwischen Dialekt (groß‐ räumig) und Mundart (kleinräumig). 417 Das von ihm angeführte Beispiel kann man nun einerseits als eine weitere diatopische Auffächerung auf der Mikroebene betrachten, die gerade aufgrund der Siedlungsstrukturen in einer mittelalterlichen Stadt durchaus plausibel ist. Es ist aber unter Umständen auch noch eine diastratische Komponente zu be‐ rücksichtigen, und zwar angesichts der Tatsache, daß zu dieser Zeit Stadtviertel oft auch Berufsviertel waren, in dem Sinne, daß bestimmte Handwerker und andere Berufe sich in bestimmten Vierteln konzentrierten (cf. Arnaud 2018: 189), 418 was somit auch einen gruppensprachlichen Aspekt beisteuert, nicht zuletzt eventuell auch einen schichtenspezifischen, 419 wenn im Gegenzug auch die adligen oder bürgerliche Oberschicht bevorzugte Wohngegenden hatte (cf. Schmieder 2012: 47). 420 Genauso denkbar ist dabei auch eine Mikrodiatopik in‐ 258 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen onalphilologischen Geschichtsschreibung keine sprachliche Homogenität herrscht, und das in seiner Vielfalt von Städten, Dörfern, Klöstern, Burgen, Straßen und Markt‐ plätzen, die miteianander interagieren, gesehen muß, cf. Selig (2010: 316-320). 421 Laut Google.maps beträgt der Abstand zwischen der Porta San Felice und der Porta Maggiore auf kürzestem Weg, d. h. entlang der Via Rizzoli und der Strada Maggiore, die beide fast geradelinig verlaufen, immerhin ca. 2,6 km. 422 Zur unterschiedlichen Aussprache der Mundart von Bologna, ihrer Binnengliederung sowie ihrer historischen Dimension cf. Filipponio (2017), der auch frühe Zeugnisse des Bolognesischen auswertet (cf. ibid.: 251-252). Auch heute noch lassen sich Reste einer Binnendifferenzierung des Bolognesischen innerhalb der Stadt beobachten (cf. Filip‐ ponio 2013: 80-81, insbes. FN 53), die wahrscheinlich zu Zeiten Dantes deutlich stärker ausgeprägt war. nerhalb der Stadt Bologna, die für mittelalterliche Verhältnisse relativ groß war, 421 so daß die verschiedenen borghi unterschiedliche Stadtviertelvarietäten herausbildeten, wobei sich hierbei Diatopik und Diastratik durchaus überlagern konnte. 422 Diastratisch im weiteren Sinne oder auch diasozial, d. h. nicht nur schichten‐ spezifisch (diastratisch im engen Sinn), sondern auch gruppensprachlich (dia‐ koinonisch) (hier: fachsprachlich) (cf. Kap. 3.1.1), ist der Passus mit den Hand‐ werkern bzw. Berufsgruppen auf der Baustelle des Turmbaus zu Babel zu interpretieren (v. supra). Die Beurteilung dieser an einem biblischen Beispiel festgemachten Feststellung ist dabei nicht auf die gleiche Stufe zu stellen, wie die zuvor von Dante geschilderten Unterschiede im Gebrauch der Volkssprache, die sicherlich zum guten Teil aus eigener Anschauung resultieren. Nichtsdes‐ toweniger könnte man mit aller Vorsicht hier einen diatechnischen Aspekt der Sprachvariation hineininterpretieren, insofern die von ihm genannten Tätig‐ keitsgruppen sich in erster Linie durch ein spezifisches Fachvokabular aus‐ zeichnen, eine Beobachtung, die Dante sicherlich aus der eigenen mittelalterli‐ chen Sprachrealität kannte. Unter Berücksichtigung der von ihm geschilderten sprachlichen Unterschiede in den einzelnen Stadtvierteln (v. supra: Bologna), die vor dem Hintergrund mittelalterlicher Siedlungsstruktur wohl nicht nur einen mikrodiatopischen, sondern auch (oder vor allem) eine diastratische Kom‐ ponente enthalten, könnte man die spezifische Sprache der Berufsgruppen im Kontext des Turmbaus zu Babel wohl am ehesten als diastratisch-diatechnische Varietäten charakterisieren. Das von Dante zusätzlich noch geschilderte Phänomen der zunehmenden Rohheit bzw. Barbarizität der Sprache der Berufssparten in Abhängigkeit von ihrem Stand ist im Lichte der hier wiedergegeben göttlichen Bestrafung zu sehen. Dabei wird die „normale“ Verteilung des Prestiges einer Berufsgruppe und der damit zusammenhängenden Varietät auf den Kopf gestellt: diejenigen, 259 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 423 Wer diese „anderen“ sind ist nicht eindeutig zu ermitteln, ein gewisser Konsens besteht darüber, daß wohl in erster Linie die Hebräer und die Araber in Frage kämen (cf. Im‐ bach / Suarez-Nani 2007: 75). 424 Cf. dazu Tavoni (2013: 10), der den grundlegenden Unterschied dieser beiden Sprach‐ systeme betont: „Il volgare e il latino, come si vede, sono concepiti come due lingue qualitativamente diverse, appartenenti a due tipi di linguaggio, ovvero due modi di espressione linguistica (locutio) ontologicamente distinte.“ 425 Zu einer genaueren Bestimmung des illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare, wel‐ ches als durch die Dichter erhöhte kultivierte Varietät Italiens fungieren soll und der die eine höhere Tätigkeit ausüben, sprechen zunehmend roher und barbarischer (cf. tanto rudius nunc barabariusque locuntur). Nichtsdestoweniger wäre hier immerhin eine implizite Abhängigkeit von Sprache bzw. einer Varietät vom Prestige ihrer Sprecher herauszulesen, was auch aus heutiger soziolinguisti‐ scher Perspektive ein wichtiger Faktor in der Sprachbetrachtung darstellt. Versucht man nun die Auffassung Dantes zum Lateinischen bzw. zur latein‐ ischen Schriftsprache diasystematisch zu kategorisieren, so wäre festzustellen, daß er sie vor allem diachronisch für unveränderlich hält (nec variabilis esse potest), also kein Sprachwandel stattfindet. Insofern er das Lateinische ja, wie angeführt, als im Gebrauch mehrerer Völker sieht, d. h. als lingua franca der Gelehrten, ist sie für ihn auch diatopisch invariabel, wobei er beide Aspekte im Sinne einer allgemeinen überzeitlichen und überregionalen Verständlichkeit als positiv wertet. Was die diastratisch-diaphasische Ebene anbelangt, so wird wohl auch Dante bewußt gewesen sein, daß das Latein von weniger Gebildeten als Schriftsprache eingesetzt wurde (Gebrauchstexte) und, daß es natürlich zu allen Zeiten stilistische Unterschiede bei den Schriftstellern und Wissenschaftlern gab, die es benutzten - doch er thematisiert diesen Aspekt nicht und betont rein die Unveränderlichkeit, um hier eine klare Abgrenzung von den Eigenschaften der Volkssprache zu schaffen. Wenn nun Dante zu Beginn des Traktats davon spricht, daß die Römer die sekundäre Sprache „Grammatik“ genannt haben (Romani gramaticam voca‐ verunt; DVE I, 1, 3; 2007: 22) und das so etwas auch die Griechen (Greci habent) und andere (et alii) hätten, 423 so könnte man aus aktueller soziolinguistischer Perspektive hier eine Diglossie-Situation nach Ferguson (1959) herauslesen (cf. Kap. 3.1.2). Dies ließe sich insofern begründen, als sich einerseits um zwei ver‐ schiedene Sprachsysteme handelt, die miteinander verwandt sind, jedoch un‐ terschiedliche kommunikative Funktionen aufweisen. 424 So übernimmt das La‐ teinische allein die distanzsprachliche Funktion der schriftlichen Verständigung, während die Volkssprache für die mündliche Kommunikation reserviert ist. In seiner Vision eines vulgare illustre  425 wird jedoch eine andere Funktions‐ aufteilung angestrebt. Mit dieser würde die diglossische Situation sich eher hin 260 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen ein ähnliches Prestige als Literatursprache wie dem Lateinischen zugedacht ist, cf. Bos‐ song (1990: 60-63) sowie infra. 426 Zu einer historischen und sozio-kulturellen Verortung ist prinzipiell auch ein biogra‐ phischer und werksgeschichtlicher Abriß hilfreich, auf den jedoch aufgrund der Pro‐ minenz des Dichters Dante Alighieri (lat. Dantes Aligherius / Alagherius) (1265-1321) und der diesbezüglich umfangreichen und leicht zugänglichen Literatur, an dieser Stelle verzichtet werden kann. Für die in den folgenden Kapiteln besprochenen Humanisten, die im Zentrum der Untersuchung stehen, soll dies jedoch in dienlichem Umfang ent‐ sprechend geliefert werden. Es sei hier unter den zahlreichen Übersichten und Publikation zu Dantes Leben und Werk nur auf die noch relativ rezenten Monographien von Prill (1999), Reynolds (2006) und Santagata (2012) sowie auf die Enciclopedia Dantesca (cf. Istituto della Enciclopedia Italiana 1970-1978), insbesondere den Appendice-Band (cf. Istituto della Enciclopedia zu einer Situation, die als standard-with-dialect (Ferguson 1959: 338) im Sinne von gesprochenem und geschriebenem Italienisch (diamesische Ebene) - was durch die Dichter des Duecento und ihn selbst und seine Zeitgenossen bereits dabei ist sich zu realisieren - einzuordnen ist, verschieben, und zwar mit der zusätzlichen Komponente des Lateinischen als Schriftsprache, dann aber teil‐ weise mit weniger klarer Funktionsabgrenzung als zuvor, als die grammatica noch (fast) alleinig alle Bereiche der Schriftlichkeit abdeckte. Aus der Perspektive einer modernen linguistischen Analyse lassen sich bei Dante demnach vor allem für die Volksprache zahlreiche Ebenen der diasyste‐ matischen Kategorisierung ausmachen. Hier ist an erster Stelle eine sehr diver‐ sifizierte diatopische Gliederung zu nennen, aber auch diastratische Aspekte werden vielfältig angesprochen. Hinzu kommt eine gewisse Vorstellung vom Phänomen des Sprachwandels. Soziolinguistisch läßt sich dabei die Relevanz von Prestige herauslesen (v. infra). Was das in der vorliegenden Untersuchung im Vordergrund stehende Latein anbelangt, so sind für Dante im Prinzip alle Eigenschaften der Volkssprache ex negativo zu attribuieren, d. h. das Lateinische ist diatopisch und diastratisch invariabel, eine von ihm wohl wahrgenommene diaphasische Variabilität thematisiert er allerdings nicht. Zudem wird die Inva‐ riabilität des Lateinischen und die Variabilität der Volkssprache in Bezug auf den Wandel der Sprache festgestellt, d. h. auch die die diachrone Entwicklung mit‐ berücksichtigt. Rekontextualisierung Entsprechend dem eingangs skizzierten methodischen Vorgehen, soll nun nach diesem Überblick über die aus dem Traktat herauslesbaren sozio- und varietä‐ tenlinguistischen Aspekte versucht werden, im Rahmen eine Rekontextualisie‐ rung zusätzlich die Aussagen Dantes entsprechend im zeitgenössischen Kontext zu verankern. 426 261 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Italiana 1984) zu Biographie und Œuvre, und die Dante-Enzyklopädie von Lansing (2010) verwiesen. Es sei hier nun in medias res auf das dann bei den späteren Renaissance-Au‐ toren zentrale Thema des Verhältnisses von Latein vs. Volkssprache nochmals näher eingegangen, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund des zeitge‐ nössischen Kontextes. Diesbezüglich ist Dante nun zunächst einerseits sehr deutlich, insofern er die Eigenschaften der beiden Idiome - wie bereits beschrieben (v. supra) - klar he‐ rausstellt, wie in folgender Übersicht ersichtlich wird: Abb. 8: Das Verhältnis von Latein und Volkssprache bei Dante Die wichtigste Opposition in der Darstellung Dantes in Bezug auf vorliegende Thematik ist dabei die Künstlichkeit der lateinischen Sprache (artificalis), die der Natürlichkeit der Volkssprache (naturalis) gegenübersteht. Dabei rekurriert er auf eine gängige Opposition der mittelalterlichen Vorstellungswelt bzw. prä‐ 262 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 427 Die Dichotomie ars vs. natura hat ihre Entsprechung in der griechischen Geisteswelt als techné vs. physis und fand über Aristoteles und Platon Eingang in die mittelalterliche Scholastik (cf. Pötters 2005: 394-395) und Kap. 6.1.5. 428 Im Convivio bezeichnet er die Sprache bzw. konkret das volgare auch als lo strumento (Dante, Conv. I, 11, 11; 1996: 56) und versucht in diesem Zusammenhang den Vorwurf zu entkräften, daß eben nostro volgare für bestimmte Zwecke (d. h. literarische) nicht geeignet sei, gleich einem schlechten Werkzeug oder Instrument. ziser der Sprach- und Dichtungstheorie, nämlich auf den Gegensatz zwischen ars und natura (cf. Tavoni 1999: 210; Ellena 2011: 61). 427 Dies geht im Wesentlichen zurück auf eine bereits in der griechischen Phi‐ losophie bestehende Opposition, im vorliegenden Fall ist diese Auffassung je‐ doch in erster Linie wohl der aus Cicero abgeleiteten Verwendung von Sprache zuzuschreiben. Atqui sic a summis hominibus eruditissimisque accepimus, ceterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare poëtam natura ipsa valere, et mentis viribus excitari et quasi divino quodam spiritu inflari. (Cicero, Pro Arch. VIII, 18; 1965: 26) In Bezug auf diese in dieser Rede dargelegten Zusammenhänge zwischen Lite‐ ratur und Wissenschaft weist Chalkomatas (2007: 255) auf die hier deutlich zu Tage tretende Opposition im ciceronianischen Gedankengebäude hin, die er „Natur-Ars-Dialektik“ nennt. So spiegelt sich die Natur in der Dichtung (natura ipsa valere), während die Wissenschaft (rerum studia), die Bildung (doctrina) und die Lehre (praeceptis) der Kunst (arte) zugerechnet werden. Daraus ergibt sich in der mittelalterlichen Sprachtheorie eine Distribution der einzelnen Idiome, die eng an ihre kommunikative Zielsetzung und ihren „Charakter“ gebunden ist. 428 So geht für die Dante die Künstlichkeit des Latein‐ ischen soweit, daß er auch von den Erfindern der gramatica spricht (inventores gramatice facultatis; DVE I, 9, 11; 2007: 60). Dies meint jedoch nicht, daß es je‐ mand gäbe der diese Sprache erschaffen habe, sondern bezieht sich auf dieje‐ nigen, die in der Lage sind grammatische Strukturen in einer Sprache zu detek‐ tieren. Er referiert hier also auf die Philosophen bzw. Sprachtheoretiker, d. h. wahrscheinlich auf die zu dieser Zeit wirkenden Modisten wie Boethius von Dacien, die das Lateinische auf die modi essendi, die modi intellegendi und modi significandi hin prüfen (cf. Kap. 6.1.5). Das Lateinische stellt somit eine Sprache dar, die sprachphilosophisch strukturell erfaßt werden kann, für das volgare hingegen besteht diese Möglichkeit nicht. Das Lateinische wird erst vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Diglossie-Situation zu einer gram(m)atica, d. h. erst durch die Opposition zum volgare. Die locutio secundaria ist also eine Zweitsprache, die bestimmten Konventionen gehorcht und dadurch „er‐ 263 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 429 „Daß natura in der ontologischen Hierarchie jedem menschlichen artificium überge‐ ordnet ist, ist eine bekannte scholastische Lehrmeinung. Vergleicht man jedoch diese Aussagen mit Dantes Einstellung im Convivio, so drängt sich die Vermutung auf, daß die im Convivio noch nicht so deutlich ausgesprochene Nobilisierung der Muttersprache vor allem gegen die soziale Exklusivität der lateinischen Bildung gerichtet ist und daß sie dem von Dante im Convivio entwickelten Postulat eines neuen Begriffs ethisch-geis‐ tiger nobilitas entspricht“ (Holtus / Schweickardt 1989: 37-38). schaffen“ wurde, um eine stabile Kommunikation über die Zeit hinweg zu ge‐ währleisten, was die volkssprachliche Erstsprache aufgrund ihrer Veränder‐ lichkeit nicht kann. Hinzu kommt die Stabilität bezüglich des Raumes, d. h. in erster Linie dient das Latein der Überwindung der zersplitterten Dialekt- und Sprachlandschaft Italiens, aber letztlich auch als lingua franca Europas. Ein wei‐ terer Effekt für Dante besteht darin, daß diese fixierte Sprache die Katastrophe der babylonischen Sprachverwirrung überwindet und quasi einen vorbabylo‐ nischen Zustand restituiert (cf. Tavoni 2010: 56-59). Diese Unveränderlichkeit des Lateinischen postuliert er auch für das Grie‐ chische (und andere Kultursprachen), unter der Annahme, daß auch hier eine locutio secundaria mit entsprechender Funktionsteilung zur mündlich ge‐ brauchten Sprache der entsprechenden Sprachgemeinschaft vorläge (v. supra). Dies ist dabei im Zusammenhang mit der Eigenschaft der gramatica als ars und des vulgare als natura zu sehen (v. supra), was nach gängiger mittelalterlicher Sprachauffassung als eine unüberwindbare Opposition dargestellt wird (cf. Kap. 6.1.5). 429 Die Sprachsituation im Mittelalter ist insofern realiter jedoch noch komplexer, da es - wie Ineichen (1973: 74) betont - keine eigentliche Rivalität unter den Sprachen gibt, sondern vielmehr eine klare Funktionsaufteilung, und zwar da‐ hingehend, daß die Sprache der Dichtung in der Romania bzw. in Italien das Okzitanische ist, seit Beginn des 13. Jh. in bestimmten lyrischen Bereichen auch das Italienische, die Sprache der Prosa bzw. romanhafter Erzählungen, das Fran‐ zösische und für die Wissenschaft sowie für alle Bereiche der schönen Literatur aber auch weiterhin das Lateinische dient. Dante selbst ist sich dieses ersten kürzlich erfolgten Ausbaus des Okzitanischen und Italienischen durchaus be‐ wußt. E segno che sia picciolo tempo, è che se volemo cercare in lingua d’oco e in quella di sì, noi non troviamo cose dette anzi lo presente tempo per cento e cinquanta anni (Dante, Vita Nuova, XXV, 4; 1973: 56) 264 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 430 Bossong (1990: 57) weist daraufhin, daß die diachrone Veränderlichkeit der Sprache seit langem bekannt ist und in dem Topos der Metapher von der Vergänglichkeit der Blätter des Baumes und deren alljährlichen Wiedergeburt bei Horaz (Ars poet., 60-63, 70-72; 1984: 8) Eingang in die sprachtheoretische Betrachtung gefunden hat. Auch Dante selbst greift dieses Bild erneut in der Commedia wieder auf: „Opera naturale è ch’uom fa‐ vella; / ma così o così, natura lascia / poi fare a voi secondo v’abella / Pria ch’i scendessi a l’infernale ambascia, / I s’appellava in terra il sommo bene / onde vien la letizia che mi fascia; / e El si chiamò poi: e ciò convene, / ché l’uso d’i mortali è come fronda / in ramo, che sen va e altra vene“ (Dante, Div. Comm., Par. XXVI, 130-138; 1988 III: 316). Zusätzlich wäre z. B. noch Quintilian anzuführen, der anläßlich einer Stilanalyse des Gebrauch veralteter Wörter bei Vergil letztlich allgemein feststellt: „Quid multa? totus prope mutatus est sermo“ (Quintilian, Inst. orat. VIII, 3, 26; 2001 III: 354). Und ihm ist auch bewußt, daß das Okzitanische oder Französische (lo volgare altrui) zu diesem Moment noch mehr Prestige genießen als das Italienische unter den verschriftlichten volgare-Varietäten. A perpetuale infamia e depressione de li malvagi uomini d’Italia che commendano lo volgare altrui e lo loro proprio dispregiano […]. (Dante, Conv. I, 11, 1; 1996: 52) In De vulgari eloquentia (I, 10, 3; 2007: 64) spricht er von den primitus poetati des vulgare und meint damit die alten Meister (doctores) des oc-Idioms. Daraus läßt sich ableitet, daß Dante neben dem Latein auch das Okzitanische als Leitvarietät beim Ausbau des italienischen vulgare betrachtet (cf. Stammerjohann 2001: 154). In der Argumentation Dantes werden zusätzlich die Eigenschaften der Volks‐ sprache, die zunächst einmal als negativ erscheinen - dies betrifft vor allem ihre Natürlichkeit und damit ihre starke Veränderlichkeit in vielen Bereichen 430 - am Ende schließlich ins Positive gewendet, da er sich ja auf der Suche nach der idealen Dichtungssprache (illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare; DVE I, 16, 6; 2007: 94) aus der Vielzahl der italienischen Varietäten (vulgare latium) be‐ findet, die er alle einzeln analysiert, bis hin zu zahlreichen Stadtvarietäten (non curialia sed municipalia (vulgaria); DVE I, 13, 1; 2007: 78) und ihren einzelnen Charakteristika. Dieses Volgare ist illustre, weil es durch hervorragende Dichter von allen Mängeln befreit und zur vollkommenen Urbanität kultiviert worden ist; es ist cardinale, weil es in der bunten Sprachlandschaft Italiens als der Angelpunkt (cardo) wirkt, um den sich alles dreht; es ist aulicum, weil es wie ein Königshof allen und keinem gehört und im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens steht; und es ist curiale, weil es wie die Kurie den Ton im Lande angibt. (Bossong 1990: 62) Die von Dante aufgelisteten Merkmale bzw. Anwendungsbereiche des vulgare illustre, die er im zweiten Buch angibt, besagen, daß es in Prosa und Versdichtung 265 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 431 Zu den rhetorischen Implikationen in Bezug auf die Konzepte vulgare latium und vul‐ gare illustre cf. Cecchin 1988: IX). 432 Dies spricht Dante auch bereits in der Vita Nuova (XXV, 4; 1973: 56) an: „E non è molto numero d’anni passati, che appariro prima questi poete volgari; chè dire per rima in volgare tanto è quanto dire per versi in latino, secondo alcuna proporzione.“ 433 Im Convivio gibt er auch noch das ästhetische Kriterium der bellezza an, die er dem volgare attribuiert (Dante, Conv. I, 7, 14; 1996: 36). Dabei ist, wie Ineichen (1973: 75) an‐ führt, nicht die Schönheit der Sprache an sich gemeint, sondern die Möglichkeit eines kunstvollen Satzbaues. Außerdem operiert er noch mit dem Argument, daß das volgare ja bereits von den litterati wie den non litterati verstanden wird (Conv. I, 7, 12; 1996: 36), die kommunikative Reichweite also bereits ab ovo größer ist als beim Lateinischen. Dabei hat allerdings auch das Lateinische bellezza und zudem noch nobilità und vertù (Conv. I, 5, 7; 1996: 24), wobei die Tugend, welche von Bossong (1990: 45) als „Tauglich‐ keit“ interpretiert wird, auf die kommunikative Reichweite und den höheren Ausbau‐ grad referiert. Beide Sprachen, das Lateinische wie auch die Volkssprache, haben also positive Qualitäten, es geht Dante eben nicht darum eine davon abzuqualifizieren, son‐ dern um die Begründung einer Erhöhung oder noch positiveren Bewertung des volgare für einen bestimmten Zweck. 434 Bereits in der Vita Nuova (XXV, 7; 1973: 57) spricht Dante von poete volgari, prosaici dittatori und dicitori per rima, also Schriftstellern der italienischen Volkssprache in den Bereichen von Prosa und Lyrik. 435 Imbach / Rosier-Catach (2007: XXIII) sprechen in diesem Zusammenhang von einem dritten Weg oder einer via media die Dante beschreitet, indem er eine Volkssprache ( DVE , II , 1, 1; 2007: 108) und nur von den besten Schriftstellern ( DVE , II , 1, 5; 2007: 110) verwendet werden dürfe sowie, daß der behandelte Gegenstand würdig sein müsse ( DVE , II , 1, 8; 2007: 112) (cf. Holtus 1989: 10-12). Tomasin (2013: 31) weist daraufhin, daß es um eine lingua letteraria geht, die keinem konkreten uso vivo entsprechen kann, sondern das Ergebnis eines raffinamento sovramunicipale sein muß, um den Ansprüchen einer Dichtungssprache zu ent‐ sprechen. Die einzelnen Volkssprachen Italiens (d. h. die Dialekte) genügen jedoch nicht oder nur unzureichend den Ansprüchen, die an das künftige vulgare illustre gestellt werden. Am Ende der Suche (cf. DVE I, 19, 1; 2007: 104) gibt Dante jedoch den Hinweis, daß es eine Sprache sein muß wie sie bereits von den bisherigen italienischen Dichtern (doctores illustres) aus den unterschiedlichen Regionen (Siculi, Apuli, Tusci, Romandioli, Lombardi et utriusque Marchie) gebraucht wurde und in dieser Form ist das vulgare illustre dann auch ein vulgare latium. 431 Indem Dante nun bestrebt ist das Prestige der Volkssprache zu heben, um sie später als Sprache der Dichtung dem Latein als ebenbürtig, 432 wenn nicht gar als geeigneter gegenüberzustellen (nobilior est vulgaris; DVE I, 1, 4; 2007: 22), 433 würde er damit auch gleichzeitig die kommunikative Reichweite der Volkssprache erweitern, 434 die damit zunehmend für Domänen zugänglich gemacht würden, die zuvor überwiegend dem Lateinischen vorbehalten waren. 435 266 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen anstrebt, die Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit mit der Regelmäßigkeit einer gramatica verknüpft. 436 Zu den imperialen Ideen Dantes auch in Zusammenhang mit der Konzeption des vulgare illustre bzw. aulico cf. Tavoni (2015: 39-50). 437 So sind auch seine beiden lateinisch verfaßten Eklogen der Versuch einer Rechtferti‐ gung des Gebrauchs der Volkssprache, denn „i dotti disprezzano gli scritti compilati in idiomi volgari“ (Sapegno 1987: 83). Das vulgare illustre ist damit zwar einerseits eine Volksprache, eine lingua popolare, aber andererseits, die Sprache einer aristokratischen oder gelehrten Elite, wie Rizzo (1969: 76) betont: „due caratteristiche contrastanti di popolare universalità e aristocratia ristrettezza“. Die Frage nach einem vulgare illustre außerhalb Italiens bleibt unbeantwortet (cf. ibid.), man könnte aber annehmen, daß für Frankreich (Französisch, Okzitanisch) und Nordspanien (Katalanisch) die etablierte okzitanische Literatursprache der Troubadoure diese Funktion weiter übernehmen sollte oder dieser Aspekt einfach außerhalb des auf die ei‐ gene Sprachsituation fokussierten Interesses Dantes lag. Wie er nun die Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Volkssprache unter‐ scheidet sei beispielhaft am Sizilianischen aufgezeigt (cf. DVE I, 12, 4-6; 2007: 74-76), welches er als mündliche Varietät, wie es aus dem Mund (ex ore) der mittleren Bevölkerungsschicht (terrigenis mediocribus) dort kommt, als ge‐ ring erachtet (honore minime), als schriftliche Varietät (cantionibus) der Dichter der scuola siciliana, also der vorzüglichsten Sizilianer (primorum Siculorum) am Hofe Friedrich II . (1198-1250) (Fredericus Cesar) und seines Sohnes Manfred (1258-1266) (Manfredus), jedoch als sehr lobenswert (laudabilissimum). 436 Das Lateinische ist für Dante jedoch weiterhin die unumstrittene Sprache der Wissenschaft, wie ja auch an der Wahl der Sprache in De vulgari eloquentia deutlich wird. Die italienische Volkssprache hingegen, welche zu seiner Zeit zwar bereits durchaus eine gewisse Tradition in der Literatur, vorwiegend in der Lyrik, aufweisen kann (z. B. scuola siciliana, dolce stile nuovo, religiöse Dich‐ tung), besitzt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch nicht das Prestige der lateinischen Literatursprache mit seiner glanzvollen Geschichte und seinen großen, längst kanonisierten Autoren (z. B. Cicero, Vergil, Horaz, Ovid). 437 Dante selbst ist maßgeblich am Ausbauprozeß des Italienischen beteiligt, indem er zu‐ nächst als Dichter des neuen süßen Stils wirkt (La Vita nuova, 1292 / 93-1300), weitere Werke schafft (Lyrik: Rime petrose, 1296-1305; Prosa: Il Fiore), dann mit seinem opus magnum, der Divina Commedia (1311-1321), eine neue Epoche in der italienischen Literatur einleitet und mit dem Convivio (1304-1307) die Volks‐ sprache sogar in den wissenschaftlichen Bereich trägt. Hierbei orientiert er sich wohl an seinem Lehrer Brunetto Latini und dessen enzyklopädischem Werk Li 267 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 438 Cf. Petrocchi (1983: 105-117), der die beiden Werke unter dem Kapitel Enciclopedismo filosofico e teoresi della lingua abhandelt. livres dou tresor, der ebenfalls bereits im volgare schrieb. Zusätzlich ist hervor‐ zuheben, daß er in beiden Abhandlungen große Teile der Sprachbetrachtung widmet, d. h. auch der Verteidigung der Volkssprache, die er im Convivio zu‐ nächst zurückhaltend und dann in De vulgari eloquentia noch deutlicher positiv konnotiert. 438 Die klassische Einteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in Gelehrte (cle‐ rici) und Ungebildete bzw. Laien (laïci), die mit der Beherrschung der Schrift korreliert und dies wiederum in der Regel mit der lateinischen Sprache, ist ge‐ wissermaßen hermetisch. Dante möchte aber dezidiert unter einer Neuintepre‐ tation des aristotelischen Diktums, daß der Mensch sich nach Wissen sehnt, die philosophische Betrachtung auch den non litterati im engen Sinne zugänglich, da jene oft sogar noch mehr nach Wissen dürsten als die litterati (cf. Im‐ bach / Rosier-Catach 2007: XII - XIII ). Kristeller resümiert zurecht, daß mit den tre corone speziell das Toskanische in diesem 14. Jh. seinen Ausbaugrad enorm erhöht hat und damit letztlich in Bezug auf die Frage nach dem Vorrang diverser italienischer Varietäten ein fait accompli geschaffen wurde: Wir können daher ohne Übertreibung sagen, daß am Ende des 14. Jh. die Toskana durch die Qualität ihrer drei großen Schriftsteller und die Menge ihrer sonstigen Dichter, Schriftsteller und Übersetzer in der volkssprachlichen Literatur einen Vor‐ sprung vor allen übrigen Provinzen Italiens hatte, der nicht mehr einzuholen war, während an der gleichzeitigen lateinischen Literatur alle Gegenden Italiens, auch die Toskana, gleichermaßen teilnahmen. (Kristeller 1984: 17) Das Lateinische behält Dante jedoch sowohl als Sprache der Wissenschaft oder theoretischen Abhandlung bei (Monarchia, 1310; Questio de aqua et terra bzw. De forma et situ duorum elementorum aque videlicet et terre, 1320), als auch als Sprache der Prosa (Epistole, insbes. Epistola XIII a Cangrande della Scala, 1310-1315) und in geringem Maße sogar als die der Dichtung (Ecloge, 1319 / 1320). In diesem Sinne läßt sich auch die in De vulgari eloquentia dargestellte sprach‐ liche Situation interpretieren, nämlich das Operieren mit einerseits zwei unter‐ schiedlichen Formen der high-variety, also dem Lateinischen und dem im Ausbau begriffene Italienischen auf Basis des Toskanischen bzw. Florentini‐ schen und andererseits mit den verschiedenen sprechsprachlichen Varietäten 268 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 439 Zur Sprache der Frauen als Topos in den vorliegenden humanistischen Abhandlungen wie z. B. auch bei Leonardi Bruni cf. dort Kap. 6.2.3.1. des Italienischen bzw. im dante’schen Duktus, dem gesprochenen vulgare als der low-variety. Wie wichtig Dante die Verwendung der Volkssprache ist und er sie in be‐ stimmten literarischen Kontexten als die adäquateste Sprache sieht, zeigt sich an einer Stelle in seinem Brief (Epistula XIII ) an Cangrande I. della Scala, dem Stadtherren von Verona (1308-1329), woraus zudem deutlich wird, in welcher Verteidigungsposition er sich gegenüber seinen Zeitgenossen befindet. […] ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule comunicant (Dante, Epist. XIII, 31; 1993: 12-14). Dantes Argumentation für die Sprachwahl in der Divina Commedia ist dabei so aufgebaut (cf. Dante, Epist. XIII , 30; 1993: 12), daß er zunächst auf Horaz und seine Ars poetica verweist, in der die Sprache bzw. das Sprachregister (modo loquendi) abhängig von der Gattung gemacht wird, wobei der Tragödie eine erhabene und verfeinerte Sprache (elate et sublime tragedia) zukommt und der Komödie eine lose und derbe (comedia vero remisse et humiliter). Da die Divina Commedia nun so strukturiert ist (cf. Dante, Epist. XIII , 31; 1993: 12), daß zu Beginn im Inferno der behandelte Stoff (materia) erschreckend und ekelerregend (a principio horribilis et fetida) ist und am Schluß im Paradies aber beglückend, begehrenswert und anmutig (in fine prospera, desiderabilis et grata) ergibt sich eben aufgrund dieser Abfolge - die umgekehrt ist wie in der Tragödie - die Wahl der Sprache, nämlich das vulgare, welches, wie oben expliziert, zudem den Vor‐ teil hat, auch von den Frauen verstanden zu werden. 439 Die Argumente Dantes sind also zum einen die Gebundenheit an den behandelten Stoff und die damit verbundene, kanonisierte Determination der literarischen Gattung und ande‐ rerseits die kommunikative Reichweite. Neben den explizit genannten Frauen als Lesepublikum wird Dante jedoch wohl auch an den Kreis der Adligen und Stadtbürger gedacht haben, die des Lateins nicht oder nur unzureichend mächtig waren. Die Übertragung Dantes der horaz’schen Bestimmung von unterschiedlichen diaphasischen Varietäten des Lateins für einzelne Literaturgattungen auf eine zu diskutierende Wahlmöglichkeit Latein-Italienisch zeigt die enge Verknüp‐ fung, die er zwischen diesen Sprachen sieht bzw. die er zumindest an dieser Stelle eher als Varietäten eines Systems wahrnimmt als zwei unterschiedliche Spra‐ chen. 269 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 440 Die drei Beispiele aus der Dichtung lauten folgendermaßen (Dante, DVE I, 9, 3; 2007: 56): 1) für das Okzitanische, also die Franci: „Si-m sentis fezelz amics, / per ver encusera amor; “ von Gerardus de Brunel (Giraut de Bornelh, 1138-1215); 2) für das Katalanische, also die Yspani: „De fin amor si vient sen et bonté“ des Rex Navarre (Thibaud IV de Champagne, Th. I de Navarre, 1201-1253); 3) für das Italienische, also die Latini: „Né fe‘ amor prima che gentil core, / né gentil [cor] prima che amor, natura“ von Guido Guinizelli (1230-1276). Was nun die Frage des diachronischen Zusammenhangs zwischen dem La‐ teinischen und dem Italienischen bzw. der für ihn zeitgenössischen Volkssprache anbelangt, so deutet er in De vulgari eloquentia zumindest eine Entwicklung an, wie dies sich genauer vollzogen haben könnte, führt er jedoch nicht weiter aus, sondern legt den Fokus auf die Verwandtschaft der romanischen Sprachen. Signum autem quod ab uno eodemque ydiomate istarum trium gentium progrediantur vulgaria, in promptu est, quia multa per eadem vocabula nominare videntur, ut ‚Deum‘, ‚celum‘, ‚amorem‘, ‚mare‘, ‚terram‘, ‚est‘, ‚vivit‘, ‚moritur‘, ‚amat‘, alia fere omnia. (Dante, DVE, I, 8, 5; 2007: 52) Für die zeitgenössische Sprache der Yspani, Franci und Latini postuliert er eine Ursprache und nennt dazu auch etymologische Kennwörter, die in all jenen Sprachen identisch sein sollen. Interessanterweise gibt er dazu jedoch nur die lateinische Form der Wörter an und nicht die jeweiligen volkssprachlichen Bei‐ spiele. An anderer Stelle hingegen (cf. Dante, DVE I, 9, 3; 2007: 56) exemplifiziert er die Übereinstimmung der drei Sprachen hinsichtlich des Wortes amor. Noch einmal betont er die Ähnlichkeit zwischen den Idiomen (in multis conveniunt) und besonders bezüglich dieser Form (et maxime in hoc vocabula). 440 Diese Ursprache oder historisch ältere Sprache (ab uno eodemque ydiomate) selbst expliziert er nicht und es bleibt der Spekulation überlassen, ob Dante be‐ reits eine Idee von Vulgärlatein in diesem Zusammenhang hatte oder das Latein als Ganzes oder aber nur das Schriftlatein als zugrundeliegendes Idiom annimmt. Es bleibt für Dante in jedem Fall der Widerspruch zwischen der Unveränder‐ lichkeit des Lateins (ars, gramatica) und der Tatsache, daß die Volkssprache ir‐ gendwie damit zusammenhängen, in welcher Art und Weise genau wird aber von ihm konsequenterweise nicht ausgeführt (cf. Wunderli 1997: 117-118). Zu berücksichtigen ist dabei auch die Stelle im Convivio, in der er in Bezug auf Cicero von einer Kritik am latino romano spricht (cf. Dante, Conv. I, 11, 14; 1996: 56). In De finibus bonorum et malorum thematisiert Cicero, daß manche seiner Zeitgenossen (nicht er selbst) das Griechische höher erachten als das ein‐ heimische Latein und entsprechend mehr Mühe dem Studium des Griechischen widmen (cf. Cicero, De fin. I, 1, 3; 1988: 6). Dante greift dies auf und vergleicht 270 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 441 Dante denkt hier wohl vor allem als Dichter und bezüglich der Poesie ist zu seiner Zeit sicherlich das Okzitanische der Troubadoure das allbeherrschende Vorbild, das aktuell Moderne, ohne daß deshalb das Lateinische als Literatursprache oder gar als Wissen‐ schaftssprache in Frage gestellt werden würde. Das volgare illustre des Italienischen ist hingegen noch nicht „geboren“. dieses Prestigegefälle mit dem seiner Zeit zwischen der italienischen Volks‐ sprache und dem Okzitanischen als Literatursprache. Er postuliert hier einen ähnlichen Parallelismus zwischen high und low variety wie später Pietro Bembo (cf. Kap. 6. 2. 11.), wobei bei beiden für die Antike die Sprachen Latein ( LV ) und Griechisch ( HV ) das entsprechende Verhältnis markieren, während für die ei‐ gene Epoche Dante hier das parlare di Provenza und nicht das Latein als Pres‐ tigesprache wählt ( HV ), demgegenüber dann das parlare italico ( LV ) steht. 441 Das einheimische, also (stadt)römische Latein Ciceros, auch im Sinne einer Mündlichkeit, die von der Schriftlichkeit dieser Epoche sowie der folgenden abweicht, kann Dante nicht wirklich erfassen (cf. Vinay 1959: 245). Die Grund‐ idee eines wie auch immer gearteten Lateins, welches von der gramatica ver‐ schieden ist, muß Dante demnach zwar gehabt haben, aber er expliziert keine weiteren Zusammenhänge bzw. gibt keine weiteren Details wie dies zu ver‐ stehen sei - wohl auch einfach deshalb, weil es für ihn in diesem Kontext nicht wirklich relevant war. Das einzige Indiz für eine konkrete Entwicklung vom Lateinischen zum Ita‐ lienischen bietet der Passus (cf. Dante, DVE I, 10, 1; 2007: 62), in welchem er die genauere Behandlung der Volkssprache in Italien damit begründet, daß jene Bewohner als Bejahungspartikel sì verwenden und dies - so die nicht explizierte Suggestion - dem Bejahungspartikel sic des Lateinischen am nächsten verwandt sei oder zumindest zwischen diesen beiden Sprache die größte Nähe bestünde. Allerdings spricht er gerade in diesem Zusammenhang erneut von den Erfindern der Grammatik (gramatice positores), was dem Ganzen wiederum einen eher statischen und mechanischen Charakter verleiht und wenig auf einen dyna‐ misch zu verstehenden Sprachwandel hindeutet. Im Folgenden (cf. DVE I, 10, 2; 2007: 62) wird noch zusätzlich herausgestellt, daß das Italienische Vorrang ge‐ nießt, unter anderem, weil seine Grammatik bzw. die Sprache von Cino da Pis‐ toia (ca. 1265 / 1270-1336 / 1337) und seinem Freund (Dante selbst) näher an der lateinischen Grammatik sei (magis videntur initi gramatice que comunis est). Wiederum geht es aber eher um die typologische Nähe und dem daraus resul‐ tierenden Prestigezuwachs, als um eine Entwicklung. Ein bei Tavoni (2015: 70) angeführtes Argument der Nähe des Lateinischen zur italienischen Volkssprache basiert auf der Namenswahl. Indem Dante be‐ wußt vom vulgare latium ( DVE I, 10, 3; I, 11, 1; I, 15, 7 etc.) sprechen würde, 271 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini wenn er das Italienische bzw. seine Varietäten meint oder von den Italienern als den Latii ( DVE I, 9, 7; 2007: 58; II , 5, 2; 2007: 136) sowie von Italien als Latium ( DVE I, 10, 4; 2007: 64), würde er die italianità der lateinischen Schriftsprache betonten bzw. die latinità des Italienischen. Nichtsdestoweniger bleibt hier eine genaue Relation in Bezug auf die sprachliche Filiation offen. Grundsätzlich besteht in der mittelalterlichen Vorstellungswelt erst einmal ein fundamentaler Gegensatz zwischen vulgare und latino, der nicht ohne wei‐ teres zu überwinden ist, schon allein deshalb nicht, weil die beiden Sprachsys‐ teme sich in ihrer Substanz unterscheiden, was für die Zeitgenossen nicht nur eine eine sprachliche, sondern auch eine philosophische Dimension hatte und sich in Dichotomien wie ars vs. natura oder usus vs. ratio ausdrückt. Tavoni (2013: 11) leitet daraus ab, daß zwischen beiden Sprachen kein genetischer Zu‐ sammenhang vorstellbar sei: „È dunque evidente che il volgare non può derivare dal latino: questo sarebbe stato un assoluto controsenso, nella logica degli uo‐ mini del Medioevo.“ Denkbar ist letztlich auch, daß dies nicht weiter in seinem Interessensfokus in diesen Ausführungen zur Sprache der Dichtung war, sondern er den gemein‐ samen romanischen Ursprung eher abstrakt bzw. theoretisch sah, in gleichem Sinne wie auch das ydioma tripharium. Denn sowohl die europäische dreigeteilte Sprache, wie auch die romanische gehorchen einer festgelegten Schematik, deren Grundidee zumindest nicht ausschließlich auf empirischer Beobachtung basiert, sondern Teil einer teleologischen Gesamtkonzeption bildet. Synthese Die für vorliegende Fragestellung zentralen Aspekte der Sprachtheorie Dantes seien nun noch einmal entsprechend der beiden hier angewandten Untersu‐ chungsmethoden, also der Rekontextualisierung und der sozio- und varietäten‐ linguistischen Verortung, zusammenfassend dargestellt. Versucht man die Ausführungen zur Sprache in De vulgari eloquentia in seinem geistesgeschichtlichen Kontext zu situieren, so ist in erster Linie dazu festzuhalten, daß Dantes primäres Ziel nicht darin lag, eine Abhandlung zu As‐ pekten der Eigenschaft von Sprache an sich zu verfassen, sondern ihm ging es um die Apologie der Verwendung der Volkssprache zu bestimmte literarischen Zwecken - Gebrauchstexte werden dabei nicht thematisiert, jedoch ist davon auszugehen, daß dafür das Italienische durchaus denkbar war. In Bezug auf seine Stellung innerhalb der Literatur war jedoch das Italienische zu Dantes Zeit noch deutlich in der Defensive, und zwar trotz bereits der ersten zarten Blüten (v. supra), die jedoch nicht ausreichten, um der sanktionierten lateinischen Schrift‐ 272 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 442 Dante selbst schwankt zunächst noch und so attribuiert er im Convivio dem Latein‐ ischen noch deutlich mehr Prestige (lo latino è sovrano del volgare), wobei das volgare zur obedienza verpflichtet ist (cf. Conv. I, 7, 5-6; 1996: 32-34). Erst in De vulgari elo‐ quentia wendet sich das Verhältnis deutlicher in Richtung volgare, welches noch einmal deutlicher aufgewertet bzw. gestützt und als Dichtungssprache verteidigt wird (cf. Bos‐ song 1990: 52). 443 Tavoni (2015: 72) nennt das vulgare illustre eine „lingua poetica […] miracolosamente, insieme naturale e universale“. sprache an Prestige ebenbürtig zu sein. 442 Dies lag nicht zuletzt auch daran, daß das Italienische in jener Epoche noch kein einheitliche Literatursprache aufwies, sondern es verschiedene scriptae mit je eigenen Diskurstraditionen gab (v. supra), so daß sich Dante bemüßigt fühlte jenem berühmt werdenden vulgare illustre (auch: latium illustre, cf. DVE I, 15, 7; 2007: 90) hinterherzujagen (cf. Me‐ tapher des Panthers, DVE I, 16, 1; 2007: 90). Die „Jagd“ nach der Dichtungssprache im italienischen Sprachraum, die er mit der Jagd nach einem edlen Tier vergleicht (eben dem Panther) kann am Ende gar nicht erfolgreich sein, weil die gesuchte Sprache, das vulgare illustre, an keinem konkreten Ort zu finden ist, sondern sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt (cf. Bossong 1990: 60-62). Ellena (2005: 317) verweist darauf, daß man den von Dante angedeuteten Prozeß, oder vielmehr den von ihm ersehnten, als Koiné-Bildung interpretieren kann „im Zuge dessen sich unterschiedliche, häufig auch gegensätzliche dialektale Merkmale zu einer Sprachform homoge‐ nisieren, welche dann im Idealfall verbreitet und kodifiziert wird.“ Mazzocco (1993: 29) spricht von einer impliziten reductio ad unum der italienischen Dia‐ lekte zur Gewinnung des vulgare illustre. Wie jene sublime Sprache dann konkret zu fassen wäre bzw. welche Vari‐ etät(en) des Italienischen ihr am nächsten käme(n), wird in den folgenden Jahr‐ hunderten dann die zentrale Frage, die den innersten Bestandteil der Gelehr‐ tendiskussion ausmacht, die heute als questione della lingua Eingang in die Forschung gefunden hat. Ausgehend von diesem Telos des Traktates, d. h. die unermüdliche Suche nach der adäquaten Literaturbzw. Dichtungssprache (vulgare illustre), 443 sind alle geschilderten Überlegungen zur Sprache, sei es der Lateinischen oder der Volks‐ sprache, diesem Zwecke untergeordnet. Die Argumentation Dantes ist dabei geprägt von scholastischer Gelehrsamkeit und literarischer Kunstfertigkeit, in der philosophische, religiöse und literarische Wissensbestände der Zeit ge‐ schickt im Sinne dieser Verteidigung und dann Erhöhung der Volkssprache mit‐ einander verknüpft werden. Nichtsdestoweniger geht Dante auch bewußt über 273 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 444 „Nos autem oportet quam nunc habemus rationem periclitari, cum inquirere inten‐ damus de hiis in quibus nullius autoritate fulcimur, hoc est de unius eiusdemque a principio ydiomatis variatione secuta“ (Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54). 445 Zur mittelalterlichen Sprachphilosophie im Gefolge der Aristoteles Rezeption (z. B. Thomas v. Aquin) sowie im Speziellen zum Modell der modi significandi (z. B. Thomas von Erfurt, cf. Modisten) oder der Lehre der suppositiones (z. B. Wilhelm von Ockham) cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 148-169) und Kap. 6.1.5. das traditionelle Wissen hinaus, beschreitet nach eigener Aussage eigene Wege, die nicht von den Autoritäten gedeckt ist (nullius autoritate). 444 In diesem Sinne bleibt Dante zwar gerade, was seine Vorstellungen zur la‐ teinischen Sprache anbelangt, weitgehend der Auffassung seiner Zeit verhaftet, die trotz der augenscheinlichen Diversität im Gebrauch des Lateinischen, vor allem was die Registerunterschiede anbelangt, vor allem die Unveränderlichkeit dieser Sprache betont, die in erster Linie auf eine gesetzte, „artifizielle“ Gram‐ matik zurückzuführen sei, woraus sich auch ihr Prestige ableitet. In Bezug auf die Volkssprache hingegen erweist sich Dante nicht nur aus zeitgenössischer Perspektive als außerordentlich progressiv, indem er sich nicht nur auf die Ei‐ genschaft der Natürlichkeit dieser Sprachform beschränkt, sondern auch alle Einzelaspekte, die damit zusammenhängen detailliert bespricht. Dabei darf na‐ türlich nicht vergessen werden, daß diese umfangreichen Überlegungen wie‐ derum dem bereits übergeordneten Zweck dienen und nicht um ihrer selbst willen dargelegt werden. Dennoch, Dante nimmt mit seiner im ersten Teil von De vulgari eloquentia ausgeführten sprachtheoretischen, offensichtlich auch aus eigener Anschauung abgeleiteten Darstellung zum Wesen der (Volks-)Sprache eine singuläre Stellung ein, gab es doch jenseits streng scholastischer, univer‐ salistischer Sprachbetrachtung bis zu diesem Zeitpunkt und noch lange darüber hinaus keine so fundierte und kenntnisreiche Darstellung zu den natürlichen Sprachen. 445 Marazzini (2013) resümiert die in De vulgari eloquentia dargelegten sprach‐ theoretischen Gedankengänge Dantes noch einmal aus moderner Perspektive sehr konzise, so daß seine Leistung auch in Bezug auf die heutige Sprachwis‐ senschaft deutlich wird: Dante riconosce il principio della variabilità delle lingue umane, mostra la possibilità di filiazione storiche e di mutamenti dai ceppi originari, illustra la possibilità di tras‐ migrazioni di popoli che portano con sé i propri idiomi e colonizzano intere aree, riconosce l’esistenza di famiglie di idiomi legate geneticamente, arriva a isolare le parlate dell’Europa, e tra esse il gruppo omogeneo delle parlate italiane. Pur muovendo da una prospettiva teologica, dunque, Dante definisce la natura e la funzione del lin‐ 274 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 446 Dies wird auch nochmal in Bezug auf das volgare illustre betont, das durch Bildung (magistratu) und Macht (potestate) ihrer Sprecher an Prestige gewinnen soll (subli‐ matum est) und dessen Ehre (honore) und Ruhm (gloria) dann auch wieder auf die Spre‐ cher zurückstrahlen wird (Dante, DVE I, 17, 2; 2007: 96). guaggio, in quanto strumento razionale di comunicazione riservato solo agli uomini. (Marazzini 2013: 27-28) Im Sinne dieses zweiten Blickwinkels sei noch einmal resümierend hervorge‐ hoben, daß Dante in Bezug auf die Volkssprache, d. h. in erster Linie die italie‐ nischen Varietäten, eine bisher nicht erkannte bzw. zumindest nicht dargelegte Variabilität dieses Idioms auffächert. Dabei läßt sich insbesondere eine detail‐ lierte Darstellung des diatopischen Bereichs beobachten, der sowohl auf Mak‐ roebene (Dialekte), wie auch auf Mikroebene (Mundarten, Urbanolekte) mit Beispielen belegt wird. Mit gewisser Vorsicht sind auch diastratische und dia‐ technische Aspekte der Sprache herauszulesen. Die bei Wunderli (1994a: 105-106) angesprochene, dianormative Ebene im Sinne einer von ihm bei Dante attribuierten Opposition von ‚Gebrauchsnorm‘ vs. ‚präskriptive Norm‘ sei mit einiger Skepsis gesehen. Zweifellos impliziert die gramatica bzw. ars des Lateins eine Normiertheit, jedoch scheint der von Wun‐ derli erwähnte uso (Conv. I, 5, 14; 1996: 28) im Sinne einer Gebrauchsnorm wo‐ möglich überinterpretiert zu sein. Ein besonderes Augenmerk wird zusätzlich auf die diachrone Komponente gelegt, insofern der Sprachwandel ebenfalls ausführlich thematisiert wird. Die Veränderlichkeit der Volkssprache in Raum und Zeit ist dabei insgesamt einer der zentralen Aspekte in diesen Teilen des Traktats. Demgegenüber wird wie‐ derholt die Unveränderlichkeit des Lateinischen betont, so daß dieses im Ge‐ gensatz zum vulgare als diasystematisch invariabel aufgefaßt werden muß. Dem widerspricht ein wenig die Tatsache, daß Dante durchaus die Verwandtschaft des Lateinischen mit den romanischen Sprachen, und vor allem die starke Ähn‐ lichkeit mit dem Italienischen sieht, die damit einhergehenden sprachliche Ent‐ wicklung entweder tatsächlich nicht so deutlich vor Augen hat oder dieser As‐ pekt einfach konzeptionell in seiner Argumentation nicht von Relevanz für ihn ist. Bemerkenswert ist außerdem, daß er nicht nur varietätenlinguistische Be‐ reiche der Sprache thematisiert, sondern auch auf Konzepte rekurriert, die aus heutiger Sicht zum Kern soziolinguistischer Betrachtung gehören, darunter vor allem der Faktor ‚Prestige‘ in Bezug auf Sprecher und Sprache, 446 aber auch so etwas wie Domänen der Sprachverwendung (cf. aulico, curiale) und Kommuni‐ kationssituationen, die eng mit der diamesischen Ebene verknüpft sind (cf. 275 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 447 Im Zuge von Unruhen in Zusammenhang mit dem Konzil von Basel (1431-1449) und innerrömischen gentilen Auseinandersetzungen mußte Papst Eugen IV. am 29. Mai 1434 aus Rom fliehen und ging ins Exil nach Florenz, wohin ihm die Kardinäle und die Kurialbehörde folgten (cf. Seppelt 1957: 286). 448 Wissenschaftsgeschichtlich sei darauf verwiesen, daß diese Diskussion bereits bei Schuchardt (1866: 44-45) thematisiert ist, wenn auch mit zweifelhafter Interpretation (bzgl. Nominalismus vs. Realismus). 449 Als einziger weitere Vertreter dieser ursprünglich mündlichen Diskussion bezog noch Poggio Bracciolini schriftlich Stellung, allerdings erst 15 Jahre später, da er vorher keine Zeit fand, wie er selbst sagt: „Et certe is mihi animus semper fuit, ut aliquid contra suam sententiam [Brunis] scriberem, sed variae occupationes fuere hactenus impedimento“ (Poggio, Utrum prisc., 10; 2008: 185). Schriftsprache vs. mündliche Sprache bzw. gesprochenes vs. geschriebenes vul‐ gare vs. geschriebenes Latein). 6.2.3 Der Beginn der Diskussion zur antiken Sprachkonstellation (1435) Die Frage nach dem Zusammenhang von Latein und Volkssprache, die bereits Dante behandelt, wird in einer Diskussion, die im Jahre 1435 im Vorzimmer des Papstes Eugen IV . (1431-1447) in Florenz 447 stattgefunden haben soll, um einen spezifischen Aspekt bereichert. Während sie auf die Audienz beim Papst war‐ teten, diskutierten die päpstlichen Sekretäre Antonio Loschi (1365-1441), Cencio Romano (1390-1445), Andrea Fiocchi (1400-1452), Poggio Bracciolini (1380-1459), Flavio Biondo (1392-1463) und Leonardo Bruni (1370-1444) die Frage, was die Römer der Antike wohl als alltägliche Umgangssprache gespro‐ chen hätten. Zur Wahl stand das in grammatische Regeln gefaßte Latein oder eine wie auch immer definierte Vulgärbzw. Volkssprache. Nebenbei wird auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den antiken Sprachen (bzw. Va‐ rietäten) und der bzw. den zeitgenössischen italienischen Volkssprache(n) auf‐ geworfen. Die beiden wichtigsten Protagonisten dieser Diskussion 448 sind Leo‐ nardo Bruni (lat. Leonardus Aretinus) und Flavio Biondo (lat. Flavius Blondus), zumindest insofern diese beiden ihre Stellungnahmen schriftlich in Briefen fest‐ hielten und dies dann den Ausgangspunkt einer weiteren Auseinanderset‐ zungen mit dieser historisch-linguistischen Fragestellung bildete, 449 die Teil der questione della lingua und der Debatte umanesimo volgare vs. umanesimo latino wurde oder zumindest im Kontext derselben weitergeführt wurde (Co‐ seriu / Meisterfeld 2003: 149-159; Ellena 2011: 64-66; Marazzini 1999: 27-29; Schöntag 2017b: 111-112, 116). Im Folgenden seien die Ansichten Leonardo Brunis als erste abgehandelt, da dies einerseits die Reihenfolge der mündlichen Diskussion war, andererseits 276 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 450 Der relativ kurze Brief ist in verschiedenen Werken abgedruckt, u. a. bei Tavoni (1984: 216-221), Marchiò (2008: 154-158, Kommentar: 159-162) und Marcellino / Am‐ mannati (2015: 238-249, Kommentar: 253-261), wobei hier auf die aktuellste Ausgabe rekurriert werden soll, die außer über eine ausführliche Kommentierung auch noch über eine italienische Übersetzung verfügt. Eine weiterführende Diskussion der Posi‐ tionen von Bruni wie auch Biondo findet sich außer in den genannten Werken vor allem in Mazzocco (1993), Coseriu / Meisterfeld (2003) und Raffarin (2015). aber auch Brunis Standpunkt der konservativere und traditionellere ist und somit den logischen Ausgangspunkt weiterer Ideen, Argumente und Konzepti‐ onen in dieser Debatte darstellt. Nichtsdestoweniger ist darauf zu verweisen, daß das Traktat von Flavio Biondo früher vollendet wurde (1. April 1435) als dasjenige Brunis, welches in Form eines kurzen Antwortbriefes vorliegt (7. Mai 1435) (cf. Tavoni 1984: 3 FN 1). Die Abhandlung Biondos ist zudem weitaus aus‐ führlicher und ist auch diejenige, die das zugrundeliegende Rahmengeschehen, also die Diskussionsrunde im päpstlichen Antichambre schildert. Weiterhin ist es auch Biondo, der in seiner Darstellung die Position Brunis noch einmal aus‐ führlich wiedergibt, so daß bezüglich bestimmter Vorstellungen, die Bruni at‐ tribuiert werden, Vorsicht geboten ist. Ob man deshalb so weit gehen muß, die These Brunis als eine pseudo-bruniana (Marazzini 1993a: 263) zu bezeichnen, sei dahingestellt. Entsprechend der in vorliegender Untersuchung angewandten Methodik (cf. Kap. 3) sollen dabei die Positionen der beiden Protagonisten sowohl im Lichte moderner linguistischer Modelle analysiert werden, als auch rekontextualisie‐ rend im Sinne einer zeitgeschichtlichen Verankerung. Durch diesen doppelten Blickwinkel, der, soweit sinnvoll, getrennt dargestellt werden soll, sei eine mög‐ lichst scharfe Herauspräparierung einzelner sprachreflektorischer Standpunkte und ihrer kulturhistorischen Bedingtheit garantiert. 6.2.3.1 Leonardo Bruni (Leonardus Aretinus) In seinem Brief Leonardus Flavio Foroliviensi S. Quaerit an vulgus et literati eodem modo per Terentii Tulliique tempora Romae locuti sint (1435) 450 bezieht sich Leo‐ nardo Bruni (1370-1444) auf die mündliche Diskussion mit Flavio Biondo (1392-1463), sowie dessen Schrift, und legt noch einmal konzise die beiden Po‐ sitionen dar. Textanalyse Während Bruni seinen Kontrahenten Biondo dahingehend interpretiert, daß dieser für die römische Antike eine einheitliche lateinische Sprache annimmt, postuliert er selbst, daß es früher in Rom, wie auch in heutiger Zeit, zwei völlig 277 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 451 Für Bruni bzw. seine Zeitgenossen ist dies die Kernphase der lateinischen Schriftlich‐ keit, die Unterscheidung Altlatein vs. Klassisches Latein ist trotz der bereits bewußten sprachlichen Unterschiede noch nicht verankert (cf. auch die Periodisierung bei Citta‐ dini). Dabei spielt immer auch die Assoziation zur Regierungsform eine Rolle, insofern die römische Republik bzw. ihre Hochzeit ja bereits bei den Römern selbst als der In‐ begriff des Römertums gesehen wurde. Zum Versuch einer Periodisierung der latein‐ ischen Sprache unter heutigem Blickwinkel cf. Kap. 4.1.1 der vorliegenden Arbeit. verschiedene Sprachen gegeben habe, nämlich einmal die Sprache der Literatur und andererseits eine gesprochene Volkssprache. Quaestio nostra in eo consistit, quod tu apud veteres unum eumdemque fuisse ser‐ monem omnium putas, nec alium vulgarem, alium litteratum. Ego autem, ut nunc est, sic etiam tunc distinctam fuisse vulgarem linguam a litterata existimo. La nostra disputa consiste in questo: tu ritieni che presso gli antichi sia stata una e uguale per tutti la lingua, e che non vi sia stata una lingua volgare e una letteraria; io invece ritengo che anche allora, così come adesso, la lingua volgare sia stata distinta da quella letteraria. (Bruni, An vulg. et lit. 2; 2015: 238-239) Im Weiteren präzisiert Bruni die beiden Thesen nochmals, wobei er die Position Biondos so versteht, daß es in früherer Zeit ein einheitliches Latein gegeben hätte und dieses Latein sei das literarische gewesen. Er hält dagegen, daß es eine Sprache des Volkes gegeben haben müsse und eine der Literaten. Zusätzlich verortet er die zu diskutierende Epoche, also diejenige, die er bzw. Biondo zuvor grob als apud veteres charakterisiert hatte, als einen Zeitraum, der sich in etwa zwischen den Dichtern Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195 / 185-159 v. Chr.) und Cicero (Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr.) ansiedeln läßt. Wenige Zeilen weiter ist noch von Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250-184 v. Chr.) die Rede, so daß man unter Berücksichtigung der Tatsache der Schaffensperioden der Dichter, die von ihm anvisierte Epoche als die altlateinische und klassische aus‐ machen kann bzw. politisch gesehen, die der römischen Republik. 451 Sit igitur quaestio utrum Romae per Terentii poetae et M. Tullii tempora vulgus ita loquebatur ut loquuntur hi quos nunc latine litterateque loqui dicimus, vel alius fuerit vulgi sermo, alius litteratorum. Pertanto la questione sia questa: se a Roma ai tempi del poeta Terenzio e di Marco Tullio il volgo parlasse così come quelli che noi adesso diciamo che parlano in latino letterario, o se una sia stata la parlata del volgo e un’altra quella dei letterati. (Bruni, An vulg. et lit. 4; 2015: 238-239) 278 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 452 Zu einer Diskussion zum Begriff des latine literateque v. infra. 453 Coseriu / Meisterfeld (2003: 153) geben hier korrekt lat. lanista mit dt. ‚Metzger‘ wieder, was in der Reihung mit pistores (‚Bäcker‘) auch wahrscheinlicher ist als lanista im Sinne von dt. ‚Gladiatorentrainer‘ (it. ‚maestro di gladiatori‘) wie bei Marcellini / Ammanati (2015: 241), auch wenn die Standardbedeutung eigentlich tatsächlich diesem entspräche und ‚Metzger‘ üblicherweise lanius wäre. Gerade im Mittelalteinischen ist jedoch lanista im Sinne von ‚Fleischer, Metzger‘ durchaus vertreten; etymologisch mit der Tätigkeit des Gladiators, der ebenfalls ‚Fleisch in Stücke haut‘ metonymisch verwandt. Bruni vereinfacht hier auch bewußt die These Biondos, die er im Folgenden nochmal resümiert und dann im Einzelnen zu widerlegen trachtet, um sich schließlich selbst zu dieser Thematik zu positionieren. Das Argument Biondos - nämlich daß die Komödien des Plautus und des Terenz, die in derselben Sprache, in der sie geschrieben, auch aufgeführt wurden, sinnigerweise auch von den Römern verstanden worden sein mußten, genauso wie die Reden im Senat, woraus sich ein einheitliches Latein ableiten lasse - interpretiert Bruni dezidiert in einer anderen Art und Weise. Er zieht vielmehr den Vergleich zur zeitgenössischen Situation, in der die des Lateins unkundigen Massen trotzdem passiv der lateinischen Liturgie folgen könnten und auch als Analphabeten die Worte des Evangeliums verstehen würden. Die von Biondo angeführten Sprechsituationen stellen sich deshalb für Bruni insofern anders dar, als er die Kompetenzen der beteiligten Sprecher, aber auch deren sozialen Status differenzierter bewertet. Im Senat und vor Gericht im Rahmen von Prozessen (in senatu iudiciisque) würden sich die Redner (oratores) ja an ein gebildetes Publikum (homines litte‐ ratos) wenden und insofern wäre der Gebrauch des Lateins der Gebildeten (Latine litterateque loquerentur), welches auch als Schrift- und Literatursprache fungiert, in diesem Kontext kein Problem (cf. Bruni, An vulg. et lit. 11; 2015: 240). 452 Aber sogar in der Volksversammlung, an der gleichermaßen Ge‐ bildete wie Ungebildete teilnahmen, hätten sich die Redner in erster Linie an die Gebildeteren gewandt. Bruni sieht dabei den populus innerhalb des römischen concilium, wie er selbst erklärt, durch Bürger repräsentiert, die ganz allgemein weniger privilegierten Schichten zugehörten (infirmae sortis homines), was aber weder etwas über ihre Herkunft (nobiles et ignobiles) noch über ihre Bildung (doctique et indocti) aussagen würde. Die Redner adressierten ihre Worte dem‐ nach nicht nur an die ungebildete Schicht - als Beispiel führt er dabei die Bäcker und Metzger (ad pistores tantum et lanistas) 453 an -, sondern vielmehr an dieje‐ nigen, die an den Entscheidungsprozessen der römischen Republik Anteil haben (in rei publicae gubernatione versabantur), also die Gebildeten, die selbstredend mit dem Verständnis des literarischen Lateins kein Problem gehabt hätten. Die anderen würden diese Reden dann eben nur so verstehen, wie die nicht alpha‐ 279 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 454 Im Mittelalter, wie auch in der Renaissance und noch einige Zeit darüber hinaus be‐ deutete Alphabetisierung auch gleichzeitig Kenntnisse des Lateins, da Lesen und Schreiben entweder ausschließlich oder primär anhand des Lateinischen erfolgte. Dabei konnten bei geringer Schulbildung die Kenntnisse des Lateins auch bescheiden sein und mit zunehmender Relevanz der Volkssprache diese auch wieder weitgehend in Verges‐ senheit geraten. betisierten Zeitgenossen 454 die heilige Messe (nunc intelligunt Missarum so‐ lemnia), d. h. sie hätten bezüglich des Lateins der Gebildeten in den Reden nur eine passive Sprachkompetenz. Hinzu käme noch die zu berücksichtigende Tat‐ sache, daß die Reden, so wie sie uns überliefert seien, bei der Niederschrift sti‐ listisch nachbearbeitet worden seien. Dies verstehe sich von selbst, da bei der öffentlichen Rede vor Versammlungen oft klare und allgemein verständliche Worte (verbis forsan vulgatis et apertis) nötig seien, während man sich in der Schriftlichkeit mehr um Eleganz (ornatius et comptius) bemühe (cf. Bruni, An vulg. et lit. 13-17; 2015: 240). Was die sprachliche Situation im Theater anbelangt, so widerspricht hier Bruni auch ganz dezidiert Biondo, indem er den Impetus für den Theaterbesuch bei der breiten Masse nicht in der Rezeption einer poetischen Kunst sieht, son‐ dern in dem Genuß der gesamten theatralischen Darbietung, wozu neben der eigentlichen Darstellung mit viel Gestik und den traditionellen Masken auch Musik gehört sowie die Ausschmückung der Skene (lat. scaena). Aus diesem Grunde würde man beim Theater auch von Zuschauern (spectatores) und nicht von Zuhörern (auditores) sprechen und davon, daß ein Schauspiel aufgeführt wird (acta) und nicht aufgesagt (recitata). Letztlich würden noch nicht einmal die Schauspieler die Texte der Autoren genau verstehen und müßten diese erst wiederholt rezipieren, um ihren Sinn zu erfassen bzw. müßten dazu angeleitet werden. Daraus würde eindeutig hervorgehen, daß die antiken Komödien nicht in der Sprache des Volkes abgefaßt wurden (nichil eorum fabulae ad sermonem vulgi pertinent) und die Zuschauer die Aufführung nach der Gesamtdarstellung und der Flötenmusik beurteilen würden (cf. Bruni, An vulg. et lit. 18-29; 2015: 240-242). Ex his omnibus patet ad ludos scenicos et tibias et actorum personas spectandum multitudinem convenisse. Poetae autem verba ne actores quidem ipsos intellexisse, nisi prius docerentur. Nichil igitur poetae, nichil eorum fabulae ad sermonem vulgi pertinent. Non enim intellectum verborum, sed spectaculum ludorum vulgus seque‐ batur. Da tutti questi passi risulta evidente che la massa accorreva per gli spettacoli scenici, per i flauti e per vedere le maschere degli attori; le parole del poeta non erano comprese 280 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 455 Tatsächlich ist in der Antike supellex, -ectilis ein nomen collectivum (Sing. Fem.), erst bei Ammianus Marcellinus (ca. 330-395 n. Chr.) tritt die Pluralform supellectiles auf. Im Mittelalter wird von den Grammatikern die Form supellectilia (Pl. Neutr.) empfohlen (cf. Marcellino / Ammanati 2015: 256). neanche dagli attori, se prima non venivano istruiti. Pertanto i poeti e le loro commedie non hanno a che vedere con la lingua del volgo. Infatti al volgo non importava della comprensione del testo, ma dello spettacolo scenico. (Bruni, An vulg. et lit. 29; 2015: 242-243) Um das Ausgeführte zu veranschaulichen, zieht Bruni wieder die Parallele zur zeitgenössischen Situation und gemahnt Biondo, der ja ein gelehrter Mann (vir doctus) sei, sich vorzustellen, ob es tatsächlich sein könne, daß seinerzeit Ammen, Frauen oder andere Personen des Volkes den gleichen Grad an Sprach‐ beherrschung gehabt hätten wie sie beide selbst nach vielen Jahren der Übung mit zahlreichen Lehrern und ob es sein könne, daß jene ein Latein (Latine litte‐ rateque loquuntur) gesprochen hätten so wie es die Gelehrten heute sprechen würden und sie die Komödien ohne weitere Erklärungen verstanden hätten. Diese Annahme, so Bruni an die Adresse von Biondo, wäre doch absurd: „Pro‐ fecto valde absurdum est ita credere“ (Bruni, An vulg. et lit. 31; 2015: 244). Die logische Konsequenz für Bruni ist hingegen die These von den verschiedenen Sprachen zu Zeiten der römischen Antike. Ein weiterer Argumentationspunkt für die Verschiedenheit des Lateins der Gebildeten von der Volkssprache ist der für Bruni offensichtliche strukturelle Unterschied auf quasi allen Ebenen der Sprache (in multis differt). Dabei führt er morphologische Kriterien an, semantische, syntaktische und prosodische. Atque Latina lingua a vulgari in multis differt, plurimum tamen terminatione, infle‐ xione, significatione, constructione et accentu […]. La lingua latina è differente in molte cose da quella volgare, soprattutto però nelle desinenze, nella flessione, nei significati, nella costruzione e nell’accento […]. (Bruni, An vulg. et lit. 32; 2015: 244-245) Im Folgenden listet er dazu verschiedene Beispiele auf, wobei als Repräsentanten der Volkssprache durchwegs Ammen (nutrices) und (niedere) Frauen (mulier‐ culae) angeführt werden: Deklinationsfehler, die diese machen würden, illust‐ riert er an dem Beispiel supellex (dt. ‚Hausrat, Ausrüstung, Rüstzeug‘), welches vor allem im Plural mit schwankenden Formen (supellectiles, supellectilia, su‐ pellectilium, supellectilibus) gebraucht würde, 455 aber sogar bei den einfachsten Wörtern wie dominus könnte man Unregelmäßigkeiten beobachten (z. B. domi‐ nabus); Konjugationsfehler äußerten sich beispielsweise bei unregelmäßigen 281 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 456 Die Beispiele werden hier in der Form angeführt, wie sie bei Bruni zu finden sind, ohne Berücksichtigung der heute üblichen Markierung von Länge und Kürze sowie ggf. Ak‐ zentuierung. 457 Zur Kommentierung der gesamten Sprachbeispiele cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 151-152) und Marcellino / Ammannati (2015: 29-33, 256-258), bei letzteren auch Belege zu antiken Quellen. 458 Zur Opposition zwischen litteratus und illitteratus und den dazugehörigen Implikati‐ onen v. infra. Verben wie ferre (statt fero, tuli, latum, auch sustuli und sublatum), die die Un‐ gebildeten und Frauen nicht in der korrekten Form verwenden würden. Inwie‐ weit Akzentuierung und Semantik zusammenhängen, zeigt er anhand der auf‐ tretenden Verwechslung der Perfektform von cadere (dt. ‚fallen‘), die ein kurzes i in der zweiten Silbe aufweist (cécidi), während die von den Frauen und Ammen in diesem Sinne mitunter verwendete Form (cecìdi) mit langem wortinternen i tatsächlich die Perfektform zu caedere (dt. ‚fällen, niederhauen, schlachten‘) darstellt (cf. Bruni, An vulg. et lit. 33-35; 2015: 244). 456 Weiterhin führt Bruni noch einige andere Spezifika der lateinischen Sprache an, die er als Besonderheiten des literarischen Lateins ausmacht und die damit Schwierigkeiten bei den Angehörigen niederer Bildungsschichten hervorrufen würden: Dazu gehöre der Gebrauch von zwei verschiedenen Verben zum Aus‐ druck von Aktiv und Passiv (pulso ‚ich schlage‘ vs. vapulo ‚ich werde ge‐ schlagen‘), verschiedene Arten der Akzentuierung (sinàpis vs. Polìxena, cf. Pa‐ enultimagesetz) die Verwendung von unterschiedlichen Personalpronomen in der gleichen syntaktischen Konstruktion (video te vs. invideo tibi) oder lexika‐ lische Varianz, welche er an Ciceros Sprachgebrauch demonstriert, der für eine Seeschlacht das Wort duellius verwendet anstatt des üblichen Allgemeinbe‐ griffes bellus (cf. Bruni, An vulg. et lit. 36-43; 2015: 244-246). 457 Dies alles sind für ihn letztlich ausreichend Argumente für ein dem Volk un‐ verständliches Latein, welches er, wiederum aus seiner zeitgenössischen Situa‐ tion heraus argumentierend, als eine Sprache auffaßt, die nur durch ein ausrei‐ chendes Studium und der Kenntnis der zugrundeliegenden grammatischen Regeln (cum disciplina et regula) erworben werden kann. So insinuiert er rhe‐ torisch mehrfach, daß sein Argumentationspartner Biondo angesichts dieser aufgezeigten Komplexität der Sprache ja wohl nicht ernsthaft glauben könne, daß Ammen, Frauen bzw. gemeine Illiterate, d. h. das ungebildete und nicht al‐ phabetisierte Volk (vulgus illiteratum) diese Schwierigkeiten in gleicher Weise beherrschen konnten wie die Gebildeten, wobei er die damaligen mit den zeit‐ genössischen gleichsetzt, worunter er selbstredend auch Biondo und sich selbst versteht (nos litterati). 458 282 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 459 Bei den genannten historischen Persönlichkeiten handelt es sich um Gaius Laelius (ca. 190-123 v. Chr.), dem Cicero die Abhandlung Laelius de amicitia widmete, um Cornelia (ca. * 190 v. Chr.), die Tochter des Publius Cornelius Scipio Africanus (235-183 v. Chr.) und Mutter von Tiberius (163-133 v. Chr.) und Gaius Sempronius Gracchus (153-121 v. Chr.) sowie um den sizilianischen Komödiendichter Epicharmos (1. Hälfte 5. Jh.). Vix merhercule cum disciplina et regula hoc facerent, nedum sine disciplina et regula! A stento, per Ercole, questo potrebbero farlo con cognizione delle regole grammaticali, firguriamoci senza! (Bruni, An vulg. et lit. 34; 2015: 245-246) Haec ne quaeso mulierculae et nutrices et vulgus illiteratum dicent, quae nos litterati vix dicere valemus? Dimmi: le donnette, le nutrici e il volgo ignorante diranno queste cose, che noi, uomini di lettere, a stento siamo in grado di dire? (Bruni, An vulg. et lit. 40; 2015: 246-247) Während Bruni im bisherigen Verlauf seiner Argumentation vor allem auf den erheblichen Unterschied zwischen dem Latein der Gebildeten und der Volks‐ sprache abgehoben hat, geht er nun einen Schritt zurück und zeigt scheinbare Überschneidungsbereiche auf, letztlich jedoch nur, um am Ende auch dadurch seine Position zu stärken. Ein Problem stellt für ihn zunächst eine Aussage Ciceros dar, bei der Anal‐ phabetentum und gute Lateinkenntnisse sich nicht zu widersprechen scheinen: „Putabatur bene latine loqui sed litteras nesciebat“ (Bruni, An vulg. et lit. 44; 2015: 246), wobei Latein (latine loqui) nicht näher spezifiziert wird, hier wohl aber primär im Sinne der gehobenen Sprache der Gebildeten zu verstehen ist, in Anlehnung an das Konzept der latinitas (‚Sprachrichtigkeit‘) der antiken Rhetorik (cf. Göttert 2009: 43-44 und Kap. 4.1.2.3) und nur sekundär im allge‐ meinen Verständnis als Sprache des antiken Roms und seiner Herrschaft. Bruni erklärt sich das so, daß Cicero dies nicht explizit bemerkt hätte, wenn es nicht eine außergewöhnliche Tatsache gewesen wäre, d. h. nicht den Normalfall dar‐ stellen würde. Er gesteht auch ein, daß es auch unter den sonst zur Gruppe der Ungebildeten gerechneten Frauen in der Geschichte schon immer auch solche gegeben hätte, die sich gut ausdrücken konnten bzw. das Latein beherrscht hätten; dazu gehöre beispielsweise die Tochter des Laelius (At filia Laelii prae‐ clare Latine), Cornelia, die Mutter der Gracchen sowie die Töchter des Dichters Epicarmus. 459 Auch heutzutage gäbe es Frauen (mulieres Romanae), die die ro‐ manische Volkssprache eleganter und mit größerer Klarheit sprechen würden als so manche Männer (elegantissime loquuntur, et purius certe quam viri), und auch wenn es sich dabei nicht um Latein handeln würde, trügen sie durch ihre 283 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 460 Eine genauere Erklärung wie er sich das vorstellt, daß die Frauen bzw. Ammen eine gehobene Sprache sprechen und an die Kinder weitergeben würden, ohne jedoch das System des Lateins der Gebildeten zu beherrschen, läßt er offen. Es handelt sich wahr‐ scheinlich um eine Frage des Stils und der Vermeidung von als diastratisch und dia‐ phasisch niedrig einzuordnenden Lexemen. Ausdrucksweise zur Eloquenz in dieser Sprache bei (cf. Bruni, An vulg. et lit. 46-53; 2015: 246-248). Ganz allgemein, d. h. auch auf die antike Situation bezogen, sieht Bruni den Beitrag der Frauen und Ammen darin, daß sie durch eine klare und nicht-bar‐ barische, d. h. durch möglichst wenig niedere volkssprachliche Elemente beein‐ flusste Redeweise ihre Kinder dazu erziehen würden, sich gut auszudrücken und dies würde auch funktionieren, obwohl sie die Flexion des literarischen Lateins nicht beherrschten. 460 Hoc ego modo filiis matres, et nutrices alumnis profuisse ad elegantiam puto: non quod casus inflecterent, aut verba variarent ac terminarent litterate, sed quod purum et nitidum ac minime barbarum sermonem infunderent. Io credo che le madri contribuissero alla raffinatezza dei loro figli, e le nutrici a quella dei figli altrui, in tal modo: non perché declinassero i nomi o coniugassero i verbi secondo la lingua letteraria, ma perché infondevano un modo di parlare puro, nitido e per nulla imbarbarito. (Bruni, An vulg. et lit. 52; 2015: 248-249) Bruni konstruiert damit einen geschickten Übergang zum möglichen Prestige der eigenen Volkssprache. Insbesondere dadurch, daß er im Anschluß an diese Ausführungen Dante und einige ungenannte andere (Dantem poetam et alios) als Beispiel für die mögliche Qualität einer volkssprachliche Ausdrucksweise hervorhebt: „Nam et habet vulgaris sermo commendationem suam […]“ (Bruni, An vulg. et lit. 53; 2015: 248). Durch diese letzte Volte in seinem Brief gelingt es ihm den großen Autoren der eigenen Sprache Respekt zu erweisen und ihr Werk zu würdigen, ohne dabei von seiner Grundposition der Verschiedenheit von Latein und Volkssprache ab‐ zuweichen. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die Frauen ein, wobei es sich hier offenkundig nicht um die gleichen Frauen wie in der ersten Argumentati‐ onshälfte handelt, die für die Sprechweise des gemeinen Volkes stehen, sondern um Frauen der Oberschicht bzw. solche mit Bildung, die durch ihr Vorbild so‐ wohl eine „bessere“ Volkssprache vermitteln, als auch gewissermaßen die Grundlage für die dann zu erwerbenden Lateinkenntnisse legen (zur Sprache der Frauen v. infra). 284 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 461 Zu den Problemen der Abgrenzung und der Kategorisierung der einzelnen Ebenen des Diasystems cf. Kap. 3.1.1 der vorliegenden Arbeit, zu einer möglichen Neuordnung cf. Kap. 3.1.3. 462 Zur Verankerung der ars in der antiken Rhetorik sei auf Lausberg verwiesen, der den Zusammenhang folgendermaßen darstellt: „Jedes Sprachkunstwerk (opus, also die Rede oder die Dichtung) besteht aus res und verba […]. Die Synthese von Gedankeninhalt (res) und sprachlicher Formulierung (verba) ergibt das Sprachkunstwerk (opus). Die Herrichtung des Gedankeninhalts (res) und der sprachlichen Form (verba) sowie die Synthese zwischen beiden sind Gegenstand der ars“ (Lausberg 1990: 48; § 45). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Versucht man nun die in diesem Brief-Traktat dargestellte Auffassung von der Sprachsituation der Antike varietäten- und soziolinguistisch zu erfassen und zu kategorisieren, 461 so scheint zunächst die Frage im Raum zu stehen, was genau Bruni unter ‚Sprache‘ versteht. Dies ist jedoch insofern nicht a priori zu lösen, da ein einheitliches Konzept von ‚Sprache‘ in der aus dem Mittelalter überkom‐ menen Vorstellung nicht existierte. Die zur alltäglichen Kommunikation verwendete Muttersprache (Volks‐ sprache) konnte nicht wirklich unter dem gleichen Aspekt betrachtet werden wie die durch regolae und ars  462 sich konstituierende Literatur- und Wissen‐ schaftssprache Latein, die im Zuge einer universalistischen Sprachreflexion das einzige legitime und unhinterfragbare Anschauungsobjekt bildete (cf. dazu Bos‐ song 1990: 18-19). Genau an diesem Punkt setzt die Sprachbetrachtung in der Renaissance an - Bruni und Biondo stehen dabei (ebenso wie Petrarca und Dante) am Anfang einer Entwicklung -, indem einerseits das volgare als Sprache aufgewertet wird und man andererseits beginnt, das Latein als historische Ein‐ zelsprache zu erfassen, d. h. sie nicht mehr unveränderlich und überzeitlich re‐ guliert zu begreifen (cf. grammatica), sondern als lebendige Sprache, die sich wie die Volkssprache(n) verändert. Die Tatsache, daß das Lateinische eine Kunstsprache ist, also durch Konven‐ tion erschaffen wurde und es so etwas wie impositores oder inventores der Grammatik gab, ist eine Tradition, die sich von der grammatica speculativa u. a. über Brunetto Latini (1220-1294), Aegidius Romanus (1243-1316), Dante (1265-1321) zu Henry de Crissey (14. Jh.) zieht. Grundsätzlich betraf dies auch andere Kultursprachen, die im Mittelalter als solche anerkannt wurde, d. h. auch das Griechische und Hebräische - mit dem Lateinischen die tres linguae sacrae (cf. Isidor, Etym. 9, 1, 3; 1911: s. p.) - sowie das Arabische und Chaldäische; de facto war aber allein das Lateinische im Fokus (cf. Rizzo 2002: 16, 21). In einer allgemeinen scholastischen Interpretation unterscheidet Roger Bacon (1214 / 1222-1292) zwischen der von den clerici et literati benutzten lingua (La‐ tein) als Substanz und den zugehörigen idiomata (Italienisch, Spanisch, Franzö‐ 285 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 463 Den Vergleich mit der eigenen Sprachsituation betont Bruni immer wieder: so gleich zu Beginn bei der Skizzierung der Fragestellung (ut nunc est, sic etiam tunc, Bruni, An vulg. et lit. 2; 2015: 238); ut loquuntur hi quos nunc, ibid. 4; 2015: 238), beim Vergleich mit der passiven Verständnismöglichkeit des Lateins durch die zeitgenössischen Besucher der Messe (quam nunc sit Evangelia Missarumque solemnia, ibid. 7; 2015: 238; ut nunc intelligunt Missarum solemnia, ibid. 14, 16; 2015: 240), bezüglich der Schwierigkeiten bei der Erlernung und Beherrschung des literarischen Latein, wozu es Lehrer bedarf (nos tot magistris, ibid. 31; 2015: 244) und was nur Gelehrten (vir doctus ac litteris, ibid. 31; 2015: 244; nos litterati, ibid. 40; 2015: 246) möglich ist, einst wie zu seiner Zeit sowie beim Vergleich antiker und zeitgenössischer Frauen, die ebenfalls eloquent sein konnten (ibid. 46-51; 2015: 246-248). sisch, Deutsch, Englisch, etc.) als Akzidentien. Eine analoge Distribution for‐ muliert er für das Griechische und seine Dialekte (cf. Rizzo 1990: 37). Allgemein gesprochen wendet sich die Sprachbetrachtung weg von den modi significandi (cf. Thomas von Erfurt, grammatica speculativa) (cf. Kap. 6.1.5) und hin zu Über‐ legungen zum korrekten Sprechen, der konkreten Anwendung von Sprache nach einem usus loquendi. Dabei gehen eloquentia und sapientia wie bei Coluccio Salutati eine enge Bindung ein und Sprache bzw. eine kunstvolle Rede wird zum Ausdruck des Individuellen, von Bildung und einem von moralischen und sitt‐ lichen Normen geleiteten Leben (cf. Schneider 1993: 136). Bruni macht nun gleich zu Beginn seiner Ausführungen deutlich, daß er im Gegensatz zur postulierten Einheitlichkeit der Sprache von Biondo in der rö‐ mischen Antike zwei Redeweisen unterscheidet, nämlich einen sermo vulgaris und einen sermo litteratus. Appliziert man auf diese Aussage moderne linguis‐ tische Begrifflichkeit, so kann dies als die Beschreibung einer Diglossiesituation im Sinne von Ferguson (1959) verstanden werden, da zwei miteinander ver‐ wandte Sprachen bzw. Varietäten in einem Verhältnis von high-variety und low-variety stehen. Die Tatsache, daß die beiden Idiome miteinander verwandt sind bzw. es sprachliche Gemeinsamkeiten auf allen Ebenen gibt, wird von Bruni zwar nicht expliziert (nicht wie bei Dante), doch läßt sich dies einerseits aus der Tatsache ableiten, daß die Unterschiede nur an wenigen Beispielen festgemacht werden und andererseits eine gegenseitige Verständlichkeit bzw. die zumindest passive Rezeptionsmöglichkeit der ungebildeten Volksschichten angenommen wird. Die für eine Diglossie (im Gegensatz zum allgemeinen Bilingualismus) entscheidende Funktionsaufteilung der beteiligten Sprachen leitet Bruni aus seiner eigenen zeitgenössischen Sprachsituation ab, die er weitgehend unver‐ ändert auf die antike Konstellation überträgt. 463 Daraus ist jedoch nicht unbe‐ dingt abzuleiten, daß Bruni das antike volgare mit dem zeitgenössischen gleich‐ 286 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 464 „La lingua trapassava così da soggetto ad oggetto dell’osservazione, per la prima volta occorreva soffermarsi di proposito sul suo aspetto istituzionale, al di fuori di un impegno letterario o filologico“ (Fubini 1961: 531). setzt, wie Tavoni (1982: 238) richtigerweise anmerkt, 464 sondern nur, daß eine klare Grenze zwischen der Verwendung der beiden Idiome zu ziehen ist. Was Bruni letztlich denkt steht wiederum auf einem anderen Blatt, ist doch das Antwortschreiben mit einer bestimmten Intention verfaßt, Biondos Auffas‐ sung zu widerlegen. Marcellino / Ammannati (2015: 22) greifen den Gedanken Tavonis auf, daß er wahrscheinlich nicht annahm, daß in der Antike ein volgare italiano gesprochen wurde, machen aber auch deutlich, daß Bruni sich nicht von der Vorstellung lösen konnte, daß das Latein eine substantiell andere Sprache ist und war. Das Prestige des Lateins wird bei Bruni nicht weiter thematisiert, versteht es sich im Zeitalter des Humanismus doch von selbst (Mazzocco 1993: 37) bzw. mehr denn je, daß diese Kultursprache als Maßstab aller Dinge gesehen wurde und daher high-variety war. Im Mittelalter war Latein ebenfalls die wichtigste Pres‐ tigesprache, aber es gab im Wesentlichen keinen Disput über ihre Stellung und damit auch keine besondere Wertschätzung, es war einfach die Sprache der Schriftlichkeit per se, d. h. gleichermaßen Sprache der Literatur und der Wis‐ senschaft. Dies ändert sich erst allmählich mit dem Aufkommen der altokzita‐ nischen Troubadourlyrik (samt erster romanischer Grammatik) und darauffolg‐ ender Produktivität in anderen romanischen Sprachen sowie den ersten größeren Gebrauchstexten bzw. dem wissenschaftlichen Schrifttum, z. B. unter Alfons dem Weisen. In der Renaissance bzw. im Zuge humanistischer Studien erfährt über das wiedererwachte Interesse am antiken Schrifttum jedoch das Lateinische auch als Sprache und nicht nur als Kulturträger eine erneute Auf‐ wertung (cf. aber auch Karolingische Renaissance etc.). Damit sind bei Bruni die in seinem Sinne grammatisch regulierte Volks‐ sprache bzw. die einzelnen volkssprachlichen Varietäten Italiens, wie sie schon bei Dante erfaßt werden, schon zwangsweise als low-variety anzusehen. Auch weitere Kriterien Fergusons (cf. Kap. 3.1.2 supra) weisen auf ein diglossisches Verständnis hin, wie kanonisierte Literatur in der prestigereicheren Sprache sowie eine Elite, die dieser Sprache bzw. Varietät mächtig ist. Letzteres wird bei Bruni insofern deutlich, als er eine klare Zweiteilung der jeweiligen Sprecher vornimmt. Das Lateinische attribuiert er den (homines) litterati, den (viri) docti, den oratores (des Senats und der Volksversammlung), den poetae, den nobiles oder allgemein den scientes, während die Volkssprache vom vulgus bzw. dem populus oder der turba, den illiterati, den indocti, ignobiles, den nutrices, den mulierculae, den pistores und lanistae sowie indirekt auch von den actores ge‐ 287 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 465 Zu einen genaueren Verankerung der Dimensionen ‚diasexuell‘ (bzw. Gynaikolekt) und ‚diatechnisch‘ (bzw. Technolekte) im Diasystem bzw. dem System der Lekte cf. Kap. 3.1.1. 466 „[…] il sesso femminile, tradizionalmente, fin dal Medioevo, era sempre citato come esempio quando si doveva far riferimento a una condizione di ingenua ignoranza […]“ (Marazzini 2006: 87). sprochen wird. Bezüglich dieser Einteilung liegen verschiedene Parameter zu‐ grunde, nämlich Schichtenzugehörigkeit, Bildung, Geschlecht und Beruf, wobei eine Parallelisierung erfolgt, die die Oberschicht bzw. Adel mit (höherer) Bil‐ dung, prestigereichem Beruf und Männer gleichsetzt, während Frauen, Hand‐ werker, Nichtadelige die Unterschicht bzw. das restliche Volk oder noch abwer‐ tender, die Masse an sich, repräsentieren. Setzt man eine varietätenlinguistische Perspektive an, so steht und fällt eine weitere Analyse mit der Frage nach Sprache oder Varietät in der Gesamtkon‐ zeption Brunis. Legt man hier zugrunde, daß er die antike Sprachsituation ten‐ denziell eher als eine strikt bilinguale auffasst, so ist keine weitere diasystema‐ tische Aufgliederung interpretierbar. Versteht man Brunis dargestellte Konstellation eher im Sinne einer diglossischen Konstellation mit funktionell differenten Varietäten, so kann man zwar weiterhin keine Diatopik herauslesen, jedoch zumindest diastratische und diaphasische Aspekte. Die diastratische Ebene würde sich dann in den oben ausgeführten Sprechergruppen äußern (litterati / docti vs. illiterati / indocti bzw. populus), während die Diaphasik in den verschiedenen Sprechsituationen hervorscheint (z. B. formell: öffentliche Rede, Theater (Heilige Messe) vs. informell: Alltagskommunikation - nur implizit). Eine Interpretation im Sinne einer weiteren diastratischen Aufsplittung bzw. der Identifizierung weiteren diasystematisch faßbaren Ebenen wie diasexuell (d. h. Sprache der Frauen, cf. auch Gynaikolekt) oder diatechnisch (Berufe, cf. auch Technolekte) ist insofern nicht wirklich möglich, 465 da die genannten Gruppen mit der Gruppe der Ungebildeten bzw. Illiteraten korreliert (v. supra) und Bruni ihnen keine eigenen sprachlichen Merkmale attribuiert. Gerade die Sprache der Frauen wird für ihn nur insofern relevant als sie der Illustration dienen, wie auch bei den Ungebildeten die Möglichkeit bestünde, daß sie sich elegant ausdrücken könnten ohne das Lateinische im eigentlichen Sinne, d. h. die Sprache der Gebildeten und der Literatur, zu beherrschen. Ei‐ nerseits werden dabei zwar einzelne Beispiele herausgegriffen, andererseits fungiert die Sprache der Frauen (d. h. auch der Mütter und Ammen) in gewisser Weise als Topos für einen Teil der Gruppe der Illiteraten (cf. dazu auch schon Dante, Kap. 6.2.2), die zum Lateinischen als Bildungssprache keinen oder nur bedingten Zugang hat. 466 Dabei ist zu berücksichtigen, daß Bruni in seinem in 288 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 467 Bruni setzt hier die Sprache des Theaters in eine Reihe mit der der Rede und anderen Formen elaborierter Sprachlichkeit. Auch wenn in Theaterstücken durchaus auch Nä‐ hesprache auftritt (cf. fingierte Mündlichkeit) und deren Grad abhängig von Genre (Komödie vs. Tragödie) und Autor ist, bleibt die Grundkonzeption ebenfalls eine dis‐ tanzsprachliche, also konzeptionell schriftliche. De studiis et litteris (1422-1429) niedergelegten Bildungsprogramm Frauen durchaus berücksichtigte und sie fördern wollte. Allerdings dahingehend ein‐ geschränkt, daß sie keine Kenntnisse in Rhetorik, Mathematik oder Astronomie bräuchten, sondern sie nur für Studien zur Ausübung der Religion (ohne scho‐ lastische Streitfragen) sowie zum guten und richtigen Leben im Sinne eines ethisch-politischen Handelns vorgesehen wären (cf. Flasch 2013: 611-612). Eine Schlüsselfunktion bei der Betrachtung der Darstellung Brunis hat die Diamesik bzw. die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gewährt sie doch einen Zugang zu einer zumindest approximativen Lösung der Frage des Sprachverständnisses. So ist festzustellen, daß wenn vom Lateinischen in Zu‐ sammenhang mit Oralität die Rede ist, es sich ausschließlich um Fälle von Dis‐ tanzsprache handelt, d. h. Situationen, in denen konzeptionelle Schriftlichkeit mündlich verwendet wird; so bei den öffentlichen Reden, partiell auch im The‐ ater 467 oder mit zeitgenössischem Bezug bei der Heiligen Messe. Bei einer weiteren Betrachtung der Bezeichnungen für Sprache erschließt sich der Bezug noch eindeutiger. Bruni verwendet gleich zu Beginn seines Trak‐ tates die Wendung latine litterateque (An vulg. et lit. 4; 2015: 238) und drückt damit deutlich aus, daß die Sprache Latein hier als Sprache der Gebildeten (cf. litteratus) und somit auch als Schrift- und Literatursprache verstanden werden soll (v. infra), was zuvor bereits in der Bezeichnung sermo litteratus (im Text: sermonem …alium litteratum, ibid. An vulg. et lit. 2; 2015: 238) angedeutet wird, auch wenn er später auch von Latina lingua (ibid. 32; 2015: 244) oder nur von Latine (ibid. 46; 2015: 246) spricht, womit sowohl „neutral“ auf das Lateinische per se referiert werden kann als auch auf das normierte Latein im Sinne einer latinitas (cf. Kap. 4.1.2.3). Zieht man in Betracht, daß Bruni von der Sprachsitu‐ ation seiner eigenen Epoche ausging, in der Latein vor allem als Literatur- und Wissenschaftssprache mit einem beachtlichen, bereits hochgradig kanoni‐ sierten Schrifttum wahrgenommen wurde, so ist anzunehmen, daß auch sein antikes Sprachverständnis in erster Linie auf diese Eigenschaft abzielt. Bruni versteht unter Latein in der Antike demnach vor allem das konzeptionell schrift‐ liche Latein, welches in besonders elaborierter Form in den kanonisierten Texten der bekannten Autoren auftritt. Dies schließt jedoch Äußerungen, die medial mündlich, aber dennoch konzeptionell schriftlich sind, nicht aus (cf. Theater, Rede). Brunis Begriff von ‚Latein‘ ist damit eingeengt auf eine bestimmte Vari‐ 289 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 468 Auch, wenn er zu Beginn des Briefes kursorisch die für ihn relevante Antike zwischen Terenz und Cicero verortet (v. supra), ist die Frage der zeitlichen Situierung für ihn untergeordnet, denn die Opposition zwischen Latein und Volkssprache ist für ihn im Wesentlichen überzeitlich (cf. dazu das Schema bei Coseriu / Meisterfeld 2003: 158 sowie Michel 2005: 6). etät des Lateins. Dabei handelt es sich wohl auch nicht um das heute als „klas‐ sisch“ bezeichnete Latein einer bestimmten Epoche der Antike, sondern, da Bruni weitgehend ahistorisch argumentiert, vielmehr um eine überzeitlichen Superstandard, d. h. eine schriftliche Varietät, die einem hohen Stilregister zu‐ zuordnen ist und eine entsprechende Elaboriertheit bedingt, beruhend auf den als vorbildlich erachteten Autoren. 468 Die Volkssprache hingegen, die er ausge‐ hend vom Lateinischen weitgehend ex negativo bestimmt, ist für ihn auf allen Ebenen des Sprachlichen weit entfernt (in multis differt) von seinem Referenzi‐ diom. Die wenigen Beispiele Brunis zur sprachlichen Differenzierung machen Rückschlüsse auf sein diesbezügliches Verständnis grundsätzlich schwierig. Ta‐ voni (1982: 240) konstatiert bezüglich des volgare: „It might be said that he thought of it as sharing the same lexical basis as Latin.“ Dagegen sprechen al‐ lerdings, die von Bruni angeführten lexikalischen Divergenzen (duellius vs. bellus, vella vs. villa, vellatura vs. vectura, Bruni, An vulg. et lit. 42-43; 2015: 246). Bruni selbst sieht die Unterschiede zwischen Latein und Volkssprachen auf allen Ebenen, d. h. morphologisch (terminatione, inflexione), syntaktisch (construc‐ tione), lexikalisch (significatione) und prosodisch (accentu) (Bruni, An vulg. et lit. 32; 2015: 244). Die Tatsache, daß Bruni bezüglich der Beispiele zum Teil irrt (cf. dazu Marcellino / Ammannati 2015: 30) spielt in der Argumentation keine wesentliche Rolle. Aus dieser starken sprachlichen Abgrenzung kann man folgern, daß Bruni zwar wohl eine Verwandtschaft zwischen der Volkssprache und dem Latein‐ ischen sieht, für ihn aber beide so strukturell unterschiedlich sind, also so dis‐ tante Varietäten, daß hier der Begriff der ‚Sprache‘ für beide Idiome seinem Verständnis am nächsten kommt und man seine Auffassung als eine bilinguale Sprachkonstellation interpretieren kann (cf. Michel 2005: 137). Ähnlich wie Dante erkennt Bruni wohl einen Zusammenhang, kann aber ganz der mittelal‐ terlichen Tradition verhaftet (cf. Kap. 6.1.5), beide Systeme nicht als Einheit denken bzw. will es auch nicht (v. infra). In diesem Sinn sei hier das Urteil von Tavoni (1982: 240) relativiert, der Bruni so interpretiert, daß für ihn die Volkssprache der Antike keine autonome Sprache darstelle: „Bruni did not see the vulgaris sermo as an autonomous lang‐ uage.“ Die Tatsache, daß das volgare in Brunis Augen nicht die gleiche „Perfek‐ 290 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 469 Es handelt sich um Gaius Scribonius Curio (Volkstribun 90 v. Chr., † 54 v. Chr.), zeit‐ weiliger Gegner Caesars und Verbündeter Ciceros (cf. auch infra Kap. 6.2.3.2 zu Biondo). tion“ wie das Lateinische aufweist und damit auch nicht in gleicher Weise eine „vollwertige“ Sprache sein kann, erlaubt nicht den Umkehrschluß, daß es des‐ halb nicht auch als Sprache gelte. Bruni zeigt dies nicht nur dadurch, daß er immer wieder diese Opposition betont und damit implizit von zwei Systemen ausgeht, die er ja auch ansatzweise beschreibt, sondern auch durch die dann erfolgte Aufwertung des zeitgenössischen volgare. Die bisher dargestellte Sprachauffassung Brunis im Lichte der hier vorge‐ nommenen sprachwissenschaftlicher Betrachtung, die in erster Linie als diglos‐ sisch bezeichnet werden kann und so auch bisher mitunter in der aktuellen Sekundärliteratur dargestellt wurde (cf. z. B. Tavoni 1982: 239; Koch 1988b: 348; Marazzini 2013: 35; Raffarin 2015: 34; Marcellino / Ammannati 2015: 22), verkom‐ pliziert sich, wenn man die in den letzten Abschnitten seines Traktates hervor‐ gebrachten Argumente hinzuzieht (cf. Bruni, An vulg. et lit. 46-53; 2015: 246-248). So gesteht er gebildeten Frauen wie der Tochter des Laelius ganz explizit ebenfalls eine hohe Kompetenz im Lateinischen zu (praeclare Latine), Sappho als Parallelbeispiel aus dem griechischen Kulturraum sogar eine elabo‐ rierte Schriftlichkeit (praeclare Graecis versibus scripsit). Ob er auch jenen Aus‐ nahmefällen der römischen Frauen auch eine gute Beherrschung der Schrift‐ sprache bzw. literarische Kompetenz im Lateinischen zutraut, muß offen bleiben. Dem Redner Curio 469 attestiert er wiederum trotz Illiteratentum (d. h. Analphabetentum) eine große Eleganz in der Rede (splendore et copia optimorum verborum) und dies ohne größere Ausbildung. Und schließlich lobt er auch die Dichtung in romanischer Sprache bei Dante und anderen Poeten - des dolce stile nuovo wäre wohl zu ergänzen. Dies „verwässert“ in gewisser Weise seine bisher strikte Zuordnung der Spre‐ chergruppen, insofern die Gleichsetzung von (männlicher) Oberschicht, Bil‐ dung, Literarität und latinitas auf der einen Seite und Unterschicht, Volk, Masse, Nicht-Bildung, Illiterarität, Frauen und sermo vulgaris auf der anderen Seite durch diese Fallbeispiele partiell relativiert wird. Dies zeigt jedoch auch, daß es ihm um die Beherrschung eines bestimmten gehobenen Sprachstils geht, der zwar grundsätzlich an eine bestimmte Schicht oder Gruppe gebunden ist, aber auch erlernbar ist, wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Bruni (An vulg. et lit. 48; 2015: 247) erklärt das mit dem möglichen positiven Einfluß der Mütter, Lehrer und (gebildeten) Sklaven in einem (guten) Haushalt, der die Grundlage zur Erlernung des Lateins der Gebildeten schaffen würde. In Bezug auf die zeitgenössische Situation stellt er jedoch klar, daß auch wenn es Frauen 291 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 470 Erst Bembo wird diesbezüglich deutlich, indem er für die Stellung der griechischen Sprache in der römischen Antike und in Bezug auf das Latein klar und funktional de‐ finiert (v. infra, Kap. 6. 2. 10). 471 Dieser Kreis um Salutati, zu dem auch noch Pietro Paolo Vergerio d. Ä. (1370-1444) gehörte, war keine Schule im formalen Sinne, sondern ein humanistischer Gelehrten‐ zirkel, in dem Petrarca als Vorbild (magistra vitae) galt, und zwar aufgrund seiner Le‐ gibt, die eine reine und elegante Sprache sprechen, so würden diese kein Latein im engen Sinne, d. h. das auch schriftlich bzw. literarisch verwendete Latein der Bildungsschicht gebrauchen (non litteratus sit earum sermo; ibid. An vulg. et lit. 49; 2015: 248). Was die funktionale Verteilung der Sprachen anbelangt, so sind letztendlich die Ausführungen Brunis in Richtung auf eine zeitgenössische Triglossie zu in‐ terpretieren, und zwar mit einer zeitgenössischen Volkssprache, die als low va‐ riety funktioniert sowie dem literarischen Latein als high variety für alle Be‐ reiche der Distanzsprache und einer elaborierten Volkssprache (toskanischer Prägung) als high variety allein im Bereich der Lyrik. Für die Antike bleibt es tendenziell bei einer Diglossie-Situation, die hier bei ihm beschrieben wird, denn die Funktion des Griechischen wird nicht weiter thematisiert; d. h. es ist zwar klar, daß für Bruni das (literarische) Griechisch ebenfalls eine high-variety ist, aber ihre Funktion in der römischen Gesellschaft wird nicht ausgeführt. 470 Rekontextualisierung Um das Verständnis Leonardo Brunis in Bezug auf die antike Sprachsituation möglichst klar erfassen zu können, soll zusätzlich neben dem Versuch einer Ka‐ tegorisierung mit Hilfe aktueller linguistischer Modelle, nun noch im Zuge einer Rekontextualisierung eine Verortung des hier Ausgeführten im kultur- und sprachhistorischen Zusammenhang vorgenommen werden, auch unter Heran‐ ziehung weiterer Schriften des Autors. Hierzu sei zunächst ein kurzer Überblick mit biographischen und werksge‐ schichtlichen Informationen vorangestellt, um eine bessere zeitgeschichtliche Verortung zu gewährleisten. Leonardo Bruni (lat. Leonardus Aretinus) (1370-1444) stammte aus Arezzo (cf. daher auch: Leonardo Aretino) und studierte wohl ab 1384 in Florenz Rhetorik bei Giovanni Malpaghini (1346-1417) sowie womöglich auch Jurisprudenz im Hinblick auf ein Auskommen als Notar. Er lernte außerdem Griechisch bei Ma‐ nuel Chrysoloras (auch: Chrysolaras) (1353-1415) und wurde in den Kreis um den Kanzler Coluccio Salutati (1331-1406) aufgenommen, zu dem auch andere illustre Persönlichkeiten wie Niccolò Niccoli (1364-1437), Poggio Bracciolini (1380-1459) oder Palla Strozzi (1373-1462) gehörten. 471 Im Jahre 1405 begab er 292 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen bensführung (ars vitae), seiner Moralphilosophie und seinen Schriften. Salutati holte jedoch auch aus Byzanz Manuel Chrysoloras nach Florenz und schuf den ersten Lehr‐ stuhl für Griechisch in Italien (cf. Ebbersmeyer 2010: 102-110). 472 Bruni übersetze aus dem Griechischen ins Lateinische, aber auch vereinzelt aus dem Griechischen ins Italienische sowie vom Italienischen ins Lateinische (cf. Bezner 2014: 200). 473 Allgemein zum Einfluß Dantes auf die hier behandelten Schriften von Bruni und Biondo cf. Schöntag (2017a). sich nach Rom an die Kurie, um das Amt als päpstlicher Sekretär anzutreten, welches er in den folgenden Jahren unter den Päpsten Innozenz VII . (1404-1406), Gregor XII . (1406-1409 / 1415), Alexander V. (1409-1410) und dem Gegenpapst Johannes XXIII . (1410-1415) ausübte. Letzteren begleitet Bruni auf das Konzil von Konstanz (1414-1418), kehrte dann aber wieder nach Florenz zurück. Dort wird er schließlich 1427 als Nachfolger Salutatis bis zu seinem Tod (1444) Kanzler (cancelliere) der Republik Florenz. Leonardo Bruni hat ein umfangreiches und vielfältiges Werk hinterlassen: So übersetzte er Platon (z. B. Phaidon, ca. 1405; Gorgias, ca. 1425), Aristoteles (Ni‐ komachische Ethik, 1416 / 1417; Politik, ca. 1429), einige Viten Plutarchs, Teile aus Homers Ilias (ca. 1421) sowie Reden von Demosthenes, Aischines und Xenophon und befaßte sich zudem theoretisch mit Übersetzungen (De interpretatione recta, ca. 1420). 472 Er verfaßte Biographien von Aristoteles (ca. 1429), Cicero (ca. 1415), Dante und Petrarca (Vite parallele di Dante e Petrarca, 1436). Des weiteren schrieb er moralphilosophische Traktate (z. B. Isagogicon moralis disciplinae, ca. 1421 / 1424), humanistische Lehr- und Programmschriften (z. B. De studiis et lit‐ teris, 1422-1429; Dialogi ad Petrum Paulum Histrum, 1401-1406) und politische Schriften (z. B. das panegyrische Gedicht Laudatio Florentinae urbis, 1403-1404; De militia, 1421) sowie wichtige historiographische Werke (z. B. Commentarii rerum Grecarum, 1439; Commentarii rerum suo tempore gestarum, ca. 1440; De bello Italico adversos Gothos, 1441; Historiae florentini populi, libri XII , ca. 1410-1440, publ. it. 1473). Hinzu kommen einige Gedichte, Komödien und zahl‐ reiche Briefe (cf. Vasoli 1972: 618-631; Jaumann 2004: 135; Bezner 2014: 199-201). Brunis Vorstellung von Sprache bzw. der lateinischen Sprache als Inbegriff dessen, was eine „korrekte“ Sprache darstellt, war noch eng mit den tradierten Konzepten von ars und grammatica verknüpft, wie es exemplarisch bei Dante überliefert ist. 473 Mazzocco (1993: 214, FN 1) bezweifelt nicht, daß Bruni zumin‐ dest mit dem Convivio Dantes vertraut war und mit nicht geringer Wahrschein‐ lichkeit auch mit De vulgaria eloquentia und Dantes Unterscheidung von locutio naturalis vs. locutio artificialis (v. supra). Dafür führt er als externen Grund an, daß Bruni über die intensive Beschäftigung mit Boccaccio, insbesondere mit dessen Tratatello in laude di Dante (1351 / 1360 / 1372) und der Teseida delle nozze 293 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 474 Ohne Nennung eines Werkes gibt Bruni jedoch ganz explizit Dante als Quelle an: „Co‐ minciossi a dire in rima, secondo scrive Dante, innanzi a lui circa anni centocinquanta; e i primi furono in Italia Guido Guinizelli Bolognese, e Guittone Cavaliere Gaudente d’Arezzo, e Boniagiunta da Lucca, e Guido da Messina, i quali tutti Dante di gran lunga soverchiò di scienze, e di pulitezze, e d’eleganza, e di leggiadria“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 67-68). 475 „Scrisse ancora un’altro libro intitolato de vulgari eloquentia“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 78). 476 Cf dazu auch Fubini (2003: 13), der eher von einer indirekten Wirkung Dantes ausgeht, diese aber dennoch für wichtig erachtet. Für eine detaillierte früheste Rezeption von De vulgari eloquentia im Trecento cf. Klein (1953: 43-47). 477 Die Tatsache, daß Bruni hier die italienischen Varietäten nur der Lyrik für fähig hält, hängt wohl auch damit zusammen, daß, wie Kristeller (1984: 10-12) ausführt, außerhalb der Toskana im 15. Jh. noch kaum nennenswerte Prosawerke entstanden sind. d’Emilia (1339 / 1341), Kenntnis dieser Schrift hatte. Als internen Grund nennt Mazzocco Brunis Schilderung der Entstehung volkssprachlicher Dichtung in Italien in seiner eigenen Vita di Dante und die dortige Nennung maßgeblicher Autoren wie Guido Guiniz(z)elli (1230 / 1240-1276), Guitone d’Arezzo (1230-1294), Bonagiunta da Lucca (1220-1290 / 1300) und Guido da Messina bzw. delle Colonne (1210-1287), wobei vor allem letzterer nur in De vulgari eloquentia aufscheint (I, 12, 2; II , 5, 4; II , 6, 6), der allgemeine Ursprung der Dichtung zum Teil auch in der Vita Nuova ( XXV , 4). 474 Schließlich gibt es auch noch den expliziten Hinweis bei Bruni, daß ihm zumindest die Existenz diese lateinisches Traktat Dantes bekannt war. 475 Dies zeigt einerseits, trotz der nach‐ weislich allgemein geringen Verbreitung dieses Werkes bis zur Übersetzung Trissinos (1529), daß De vulgari eloquentia hinsichtlich seiner dort enthaltenen sprachtheoretischen Passagen wohl zumindest eine indirekte Wirkung auf wei‐ tere Sprachreflexionen des Quattrocento hatte, 476 andererseits, daß aufgrund einer mangelnden breiten Rezeption bestimmte Aspekte über die Diversität der Volkssprache noch lange unbeachtet blieben. Unabhängig also von der Art der Kenntnis und Anknüpfung Brunis an Dante zeigt sich in An vulgis et literati eine klare Auffassung des Lateinischen als re‐ gelbasierter, unveränderliche Kunstsprache (ars, grammatica) und des vulgare als grundsätzlich nicht grammatisch regulierter Sprache des ungebildeten Volkes. Inwieweit bzw. in welchem Ausmaß Bruni einer elaborierten Volkssprache, wie sie sich in Form der frühen Dichtung Italiens zeigt (scuola siciliana, dolce stile nuovo, tre corone) Prestige beimißt bzw. welche Wertschätzung er dafür aufbringt, 477 ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil seine 294 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 478 Es ist wohl Bahner (1983: 180) beizupflichten, der in den Schriften Brunis eine Entwick‐ lung konstatiert, von einer anfänglichen Skepsis in Bezug auf das volgare als Schrift‐ sprache, hin zu einer mäßigen Befürwortung. 479 „Sola enim hec in tota Italia civitas purissimo ac nitidissimo sermone uti existimatur. Itaque omnes qui bene atque emendate loqui volunt ex hac una urbe sumunt exemplum“ (Bruni, Laud. Flor., 10; 1968: 263). Aussagen in seinem Œuvre nicht einheitlich ausfallen. 478 So spricht er in der relativ frühen Abhandlung Dialogi ad Petrum Paulum Histrum (1401) zwar den tre corone als Repräsentanten der volkssprachigen Literatur einen gewissen Ruhm zu, doch bedauert er es auch, daß sie nicht auf Latein geschrieben hätten. Dies wird beispielsweise durch die abwertende Bemerkung über die man‐ gelnden Lateinkenntnisse bzw. die fehlende stilistische Eleganz im Lateinischen bei Dante deutlich: Denique, ut alia omnia sibi affuissent, certe latinitas defuit. Nos vero non pudebit eum poetam appellare, et Virgilio etiam anteponere, qui latine loqui non possit ? Legi nuper quasdam eius litteras, quas ille videbatur peraccurate scripsisse: erant enim propria manu atque eius sigillo obsignate. At mehercule, nemo et tam rudis, quem tam inepte scripsisse non puderet. Infine, posto pure che Dante abbia avuto tutte le altre doti, certamente gli mancò la conoscenza della lingua latina. Non ci vergogneremo allora di chiamare poeta, ed anche di anteporre a Virgilio, uno che non era capace di esprimersi in latino? Poco fa ho letto alcune sue lettere, che pareva le avesse scritte con tanta cura: erano di sua mano e con apposto il suo sigillo. Ma, per Ercole, non c’è alcuno tanto rozzo che non si vergognerebbe di aver scritto così male. (Bruni, Dialogi, 44; 2012: 40, 43) Diese Aussage ist zwar im Kontext eines argumentativen Dialogs zu sehen, in dem rhetorisch stilisiert konträre Meinungen gegeneinander abgewogen werden (in utramquem partem disserere, cf. Reutner / Schwarze 2011: 102-103), dennoch bleibt der Vorrang des Lateinischen als suggestives Statement be‐ stehen. Die Exponierung Brunis für eine vernakulare Volkssprache in der zeitgenös‐ sischen Literatur - die oft durch seine vorwiegend lateinhumanistische Sicht verdeckt ist - zeigt sich beispielsweise in seiner Laudatio Florentinae Urbis (1403 / 1404), in der er ein Loblied auf das Florentinische anstimmt, welches in ganz Italien einzigartig wäre. 479 Dies wiederum korreliert mit seiner Verherrli‐ chung der Stadtgeschichte von Florenz (Historiae Florentini populi libri XII , 295 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 480 Die Wertschätzung des florentinischen volgare steht auch in Zusammenhang mit der Städterivalität zwischen Florenz und Mailand, war dabei doch ein Streitpunkt die Wert‐ schätzung bzw. die Desavouierung der tre corone (cf. Raffarin 2015: 30). 481 Dies impliziert nicht nur eine literarische Verbundenheit, sondern auch eine politische, da sowohl Boccaccio als auch Dante in Florenz Ämter innehatten, was bezüglich letzt‐ erem, Bruni auch selbst erwähnt (cf. Bruni, Hist. IV, 10; 1968 I: 398-399). Zu Petrarca hat er ein besonderes Verhältnis, da er nicht nur schon früh vom ihm inspiriert wurde (cf. Episode über Bild in seinem Zimmer in Arezzo - ihrer beider Heimatstadt, cf. Bruni, Hist., M 16; 1968 III: 312-313), sondern durch Coluccio Salutati, der Schüler Petrarcas war und Brunis Lehrer, in einer direkten Filiation zu ihm stand (cf. Thumfart / Wasch‐ kuhn 2005: 135). Zudem stand Bruni, als er noch apostolischer Sekretär war, auch in direkter Korrespondenz mit Petrarca; cf. dazu z. B. den Brief Petrarcas vom 22. Juli 1368, in welchem er Bruni amicus nennt (cf. Petrarca, Epist. XI, 2: Ad Franciscam Bruni pape secretarium; 1978: 742-749). 482 „There emerged in a brief span of years a new style in political thinking, a new per‐ spective in historiography, new techniques in historical criticism, and changed ideals of human and civic conduct. In short, we assume in this view that Florentine Humanism after 1400 was marked by a rapid affirmation of new values and a fresh, realistic per‐ ceptiveness that in many respects meant the transition from medievalism to a more modern pattern of thinking“ (Baron 1968: 103). 1415-1444), in der ebenfalls das florentinische volgare hervorgehoben wird. 480 In der kurz nach dem Disput von 1435 entstandenen Vita di Dante (1436) pro‐ pagiert er schließlich sogar eine Art Gleichrangigkeit von Latein und der Volks‐ sprache, was jedoch insofern mit Vorsicht zu betrachten ist, als hier eher jedem Idiom sein eigener Charakter zugestanden wird und damit implizit die diesem entsprechende Leistungsfähigkeit. Es ist wohl nicht auszuschließen, daß die Lobpreisung der florentinischen Volkssprache mit Leonardo Brunis politischen Ambitionen in dieser Stadt zu‐ sammenhängt. Unabhängig von der Frage, inwieweit Brunis Meinung politi‐ schem Kalkül unterworfen war, übten Florenz und das dort von ihm bekleidete Amt einen Einfluß auf seine Auffassung bezüglich des volgare aus, und zwar insofern, als er einerseits in größerem Maße mit Gebrauchstexten in der Volks‐ sprache konfrontiert wurde, die in der cancelleria durchaus üblich war, und zum anderen, als dadurch womöglich eine noch engere geistige Verbindung zu den tre corone entstand. 481 Nicht zuletzt spielt hierbei der in Florenz entstandene umanesimo civile (Civic Humanism) eine Rolle, der ab 1400 - auch infolge einer vermehrten und inten‐ siveren Rezeption antiker Texte und Autoren - eine neues Selbstbewußtsein der eigenen Geschichte, politischer und wirtschaftlicher Macht generierte und in‐ nerhalb dessen Bruni eine zentrale Rolle spielte (cf. Baron 1968: 102-11). 482 Er folgte darin seinem Lehrer Coluccio Salutati, der bereits zuvor eine Invektive (Invectiva ad Antonium Luschum, 1403) gegen den florentinischen Rivalen Mai‐ 296 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 483 Klein (1953: 50-51) sieht den in Brunis Schrift Dialogi ad Petrum Paulum Histrum (1401) dargestellten Niccolò Niccoli als typischen Vertreter des Lateinhumanismus. Brunis ei‐ gene Position interpretiert Klein als eher gemäßigt, aber dennoch lateinhumanistisch, innerhalb des Dialogs am ehesten durch die Meinung Coluccio Salutatis repräsentiert. 484 Dies erinnert an Dante, der Vergil, der ja aus Mantua stammte, lombardisch reden läßt: „Udimmo dire: ,O tu a cui io drizzo / La voce e che parlavi mo lombardo, / Dicendo: ,Issa ten va; più non t’adizzo‘[…]“ (Dante, Div. Comm., Inf. XXVII, 19-21; 1988 I: 318). Gleich‐ zeitig läßt Dante Sordello da Goito (ca. 1200 / 1210-169) das Lateinische Vergils als lingua nostra apostrophieren: „‚O gloria dei Latini‘, disse, ‚per cui / Mostrò ciò che potea la lingua nostra […]“ (Dante, Div. Comm. Purg. VII, 16-17; 1988 II: 78). land lancierte, als Antwort auf eine solche des Kanzlers von Mailand Antonio Loschi (cf. Raffarin 2015: 29-31). Es ist schließlich zu konstatieren, daß Bruni einer lateinhumanistischen Tra‐ dition verhaftet ist, 483 ist doch das von ihm als modellhaft propagierte literarische Latein für jegliche Wissenschaft und Literatur die adäquate Sprache, die Volks‐ sprache hingegen in ihrem Gebrauch limitiert, auch wenn er ihr in den späten Schriften ein gewisses Potential nicht abspricht. Dies gilt jedoch ganz offen‐ sichtlich nicht für das volgare des alten Roms, welches ganz dem Volk verhaftet bleibt und keine eigenständige Literatur hervorgebracht hat. Mazzocco mißinterpretiert doch eher die Textstelle Brunis „Ciascuna lingua ha sua perfezione e suo suono e suo parlare limato e scientifico“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 64-65) dahingehend, daß hier keineswegs ausgedrückt werden soll, „that it makes no difference whether one uses Latin or the vernacular“ (Maz‐ zocco 1993: 33), sondern, daß jedes Idiom für bestimmte Bereiche adäquat ist, d. h., daß zwar auf Latein alles ausgedrückt werden kann (parlare scientifico inkludiert hier Wissenschaft und Literatur, cf. Mazzocco 1993: 216, FN 13), aber eben auch, daß das volgare auf die Lyrik begrenzt ist. Bruni begründet das zum einen mit der schon bestehenden lyrischen Tradition im volgare Italiens (bzw. den italienischen Varietäten) und damit, daß Dante selbst auch besser in der Volkssprache dichten konnte als auf Latein (Bruni, Vita di Dante, 1672: 65-68). Davon ausgehend ist die Gesamteinschätzung einer Übertragung Brunis seiner zeitgenössischen Situation tel quel auf die römische Antike, 484 wie sie mitunter plakativ formuliert wurde (z. B. „Bruni proiettò nel passato la diglossia del suo tempo“, Marcellino / Ammannati 2015: 22), ein wenig zu relativieren, spricht er doch dadurch dem volgare antico zumindest indirekt einen anderen Charakter zu. Ein letzter Aspekt, der durch den Vergleich mit anderen Schriften Brunis nochmal deutlicher herauspräpariert werden kann, ist seine Auffassung einer lateinischen Modellvarietät. Bereits in An vulgus et literati spricht Bruni von sermo litteratus und identifiziert diesen mit der latenischen Sprache der Gebil‐ 297 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 485 Cf. dazu auch die Definitionen im Mittellateinischen Glossar bei Habel / Gröbel (1989): „illiteratus: ungeschult, unwissend; Laie“; „litteratus: schriftkundig; wissenschaftlich, akademisch gebildet; gelehrt; Student, Akademiker; vir l[itteratus] Geistliche“. Daraus geht hervor, daß im Mittelalter mit der Beherrschung der Buchstaben (litterae) eine gewisse Bildung einherging und diese Gebildeten meistens der Geistlichkeit zuzu‐ rechnen war, da die Klöster und Kirchen diejenigen waren, die am ehesten Schriften aufbewahrten und tradierten (cf. Skriptorien) und auch Bildung förderten und weiter‐ gaben (cf. Klosterschulen, kirchliche Lehrer für Adlige etc.). Auch die Universitäten (ab 12./ 13. Jh.) waren zu Beginn stark kirchlich geprägt, nicht zuletzt durch den Primat der Theologie als auch durch ihre überwiegende Gründung durch kirchliche Institutionen. Zur Geschichte der Universitäten in Europa cf. Weber (2002). 486 Im Mittelalter referiert littera grundsätzlich auf Latein, als gesprochene Sprache und vor allem als Schriftsprache, so daß eine nicht-lateinische Literatur im Prinzip eine contradictio in adiecto wäre (cf. Grundmann 1958: 4). deten, indem er den Gegensatz von sermo vulgaris als latine litterateque loqui bezeichnet (cf. Bruni, An vulg. et lit. 1-4; 2015: 238). In der Vita di Dante (1436) und der Vita di Petrarca (1436) wird diese Auffassung dahingehend noch einmal wiederaufgenommen, daß er in diesen italienischsprachigen Traktaten in Bezug auf das Lateinische von istile litterato (Bruni, Vita di Dante, 1672: 64) spricht oder das Lateinische mit dem Stil der Gebildeten identifiziert (in latino, e litterato stilo, ibid. 1672: 65). In diesem Fall geht es allerdings nicht um die antike Sprach‐ situation, sondern um die zeitgenössische, wobei dem litterato stilo des Latein‐ ischen der stile vulgare in rima gegenübersteht, d. h. hier implizit auch auf be‐ stimmte Textsorten referiert wird (ibid. 1672: 65). Dies bedeutet, daß er in den volkssprachlichen Texten genauso wie in seiner lateinischen Abhandlung eine gewisse Interpretation offen läßt, da litteratus wie auch litterato sich zwar in erster Linie auf das Gebildetsein bezieht, 485 allerdings auch lat. littera im Sinne von Schriftsprachliches bzw. Literatur im engen Sinne mitschwingt, d. h. Sprache der Gebildeten und Literatursprache auch terminologisch nahe beiei‐ nander liegen (cf. Kap. 6.1.5). Diese wiederum ist im Mittelalter und auch noch in der Renaissance eng an das Lateinische geknüpft: „Das Wort littera kann daher geradezu die lateinische Sprache meinen, denn sie allein war d i e Schriftsprache. Literaliter loqui oder literate loqui heißt im Mittelalter: lateinisch reden“ (Grund‐ mann 1958: 4). 486 In beiden Fällen, d. h. bezüglich der Beschreibung der zeitgenössischen Situ‐ ation wie auch der antiken, spricht Bruni grundsätzlich von zwei Sprachen, verknüpft dies jedoch auch mit stilistischen Kriterien, was wiederum an eine Varietätenkonstellation innerhalb einer Sprache denken läßt; dennoch scheint erstere Interpretation aufgrund seiner Hinweise auf die Diskrepanz zwischen den Idiomen (v. supra) die plausiblere. 298 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 487 Inwieweit grammatica und latinitas in der Antike deckungsgleich sind bzw. in welchem Maße Abweichungen tolerierbar waren, ohne daß die Norm und die sprachliche Kor‐ rektheit „beschädigt“ wurden, cf. Fesenmeier (2020: 65-68). 488 „Aber lesen und schreiben konnte auch das Deutsche, Französische, Italienische wei‐ terhin bis gegen Ende des Mittelalters zumeist nur der, der diese Kunst am Latein gelernt hatte, anders gesagt: wer die Grammatik erlernt hatte. Denn auch grammatica wie littera heiß im mittelalterlichen Sprachgebrauch oft geradezu: das Latein. […] Grammatice loqui bedeutet daher ebenso wie litterate loqui: lateinisch sprechen“ (Grundmann 1958: 5). Ähnlich formuliert diesen synonymen Gebrauch auch Schiewe (1996: 22): „Diese Identität von Latein und Schriftsprache ging so weit, daß die Wörter grammatica und littera im mittelalterlichen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung lingua latina synonym gebraucht werden konnten.“ 489 Eine latinitas, im Sinne der rhetorischen Tradition (cf. Göttert 2009: 41), als Sprachrich‐ tigkeit zu interpretieren legt auch bereits die Rhetorica ad Herennium nahe: „Latinitas est, quae sermonem purum conservat ab omni vitio remotum. Vitia in sermone, quo minus is Latinus sit, duo possunt esse: soloecismus et barbarismus“ (Rhet. ad Her. IV, 17 (XII); 1994: 210). Ausführlich zu den Implikationen des Begriffs latinitas cf. auch Poccetti / Poli / Santini (2005: 389-390). Zur Abgrenzung von latinus und romanus cf. Kap. 6.2.8. Coseriu / Meisterfeld (2003: 150) charakterisieren die lingua litterata relativ allgemein und undifferenziert als „eine Sprache der Gebildeten oder der Lite‐ ratur, die Schriftsprache“, d. h. sie setzen hier verschiedene Aspekte einer Sprache bzw. Varietät gleich, indem sie die Sprecherschicht und den Anwen‐ dungsbereich (Schriftlichkeit, Literatur) gleichsetzen. Deutlich präziser wird die Problematik bei Tavoni (1984: 30-35) behandelt, der zunächst feststellt, daß la‐ tine litterateque loqui (bzw. latine ac litterate loqui) im Gegensatz zum sermo vulgaris bedeutet, daß man „grammatisch spricht“, d. h. sich im Sinne der Norm und den Anforderungen der latinitas äußert (id. 1984: 32). 487 Dabei seien die litterati dadurch definiert, daß sie schreiben könnten (scire litteras), was zunächst vor allem als Beherrschung der Buchstaben bzw. der Schrift zu interpretieren ist, in einem weiteren Schritt dann auch die Fähigkeit bestimmte Textsorten zu bedienen. Ein litteratus beinhalte deshalb zum einen allgemein die literarische Kultur und zum anderen referiere dies auch die zugrundeliegende Sprach‐ technik, d. h. die Grammatik. 488 Dies bedeute, daß bezüglich des Unterschiedes zur Volkssprache weniger lexikalische Einheiten betroffen seien, sondern die morpho-syntaktischen Charakteristika. In der quasi tautologischen Formulie‐ rung von latine litterateque (cf. Tavoni 1984: 32) verbindet sich also latinitas im Sinne des antiken Verständnisses einer regelkonformen lateinischen Sprache (cf. Kap. 4.2.1.3), die wiederum von einer Bildungsschicht getragen wird. 489 Diese Gebildeten sind es, die die Schriftsprache - und dies heißt vor allem die litera‐ rische lateinische Schriftsprache - beherrschen. 299 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 490 Auch die italienische Übersetzung von Marcellino / Ammanati (2015) gibt diese Art des Lateins bei Bruni mit lingua letteraria wieder und Marchiò (2008: 30) charakterisiert es als „latino letterario in bocca agli oratori“. 491 Die Illiteraten sind allgemein gesprochen die Ungebildeten, da dies in der Opposition litteratus vs. illitteratus gesehen werden muß, eine mitunter neutrale Charakterisierung, im Mittelalter abhängig auch von Ständen und damit gewissen Bildungsformen. Was diese Illiterarität beinhaltet schwankt im Laufe der Zeiten. Ein illitteratus kann somit jemand sein, der nur die Buchstaben bzw. die Schrift nicht beherrscht oder dem gewisse literarische Fähigkeiten abgehen. Angesichts der geringen Alphabetisierungsquote im Mittelalter bedeutet jedoch illitteratus meist Analphabet (cf. Grundmann 1958: 3-4). Bei Bruni impliziert demgemäß illitteratus die Nicht-Beherrschung der Schrift und damit auch die Nicht-Kenntnis des Lateins sowie damit einhergehend eine Ungebildetheit, allerdings mit der Einschränkung, daß die Illiteraten ein gewisse Passivkompetenz des Lateins cf. (latine litterateque) haben konnten (v. supra). 492 Als cancelliere von Florenz und universaler Gelehrter weiß er wohl um die Existenz auch von verschiedenen volgare-Textsorten in Prosa, doch spielen sie in seiner Argu‐ mentation keine Rolle, da sie noch nicht die gleiche Elaboriertheit und literarische Tra‐ dition aufweisen wie die versifizierten Texte. Mazzocco (1993: 19-20), der diese bei Bruni beschriebene Sprache als litera‐ risches Latein (engl. literary Latin) beschreibt, 490 betont auch die von Bruni an‐ geführten lexikalischen Unterschiede, hält aber ebenso die grammatischen Ab‐ grenzung zwischen der Sprache der Illiteraten, also denjenigen, die nicht schreiben können und damit meist verknüpft auch keinen Zugang zur Bildung haben, 491 und dem sermo litteratus für das wichtigste Entscheidungskriterium bei Bruni. Da er jedoch gerade hinsichtlich der Definition des sermo vulgaris der Antike ein wenig unspezifisch bleibt (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 27), ist auch die exakte Abgrenzung zum Latein der Gebildeten nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei zu leisten. Wichtig bleibt jedoch für Bruni die Opposition der Träger der Sprache, d. h. vulgus vs. litterati, und entsprechend deren Sprachformen sermo vulgaris und sermo litteratus (cf. Marchiò 2008: 33). Es wird insgesamt deutlich, daß Bruni unter ‚Latein‘ generell ein gehobenes, distanzsprachliches Stilregister des Lateinischen versteht, d. h. eine Varietät, die diaphasich hoch markiert ist und die von einer Bildungsschicht getragen wird und somit auch diastratisch als gehoben verorten werden kann. Diese Varietät des Lateinischen charakterisiert er dabei als eigenständige Sprache. 492 Für die zeitgenössische Sprachsituation sieht er eine gewisse Aufteilung der Sprachen nach Diskurstraditionen, wobei das Latein Bruni zufolge für Prosa und Lyrik adäquat ist, die zeitgenössische Volkssprache hingegen nur für die Poesie bzw. versifizierte Literatur. Die antike Volkssprache hat hingegen keine schriftlichen Dokumente hinterlassen, weshalb das volgare des Altertums nur in der münd‐ lichen Kommunikation vorkommt, das Lateinische hingegen die gesamte Schriftlichkeit abdeckt. 300 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen In folgender Textstelle zeigt sich in einem vergleichenden Werturteil über die beiden Dichter Dante und Petrarca, die beide die herausragende Werke im vol‐ gare verfaßt haben, implizit die ungebrochene Superiorität des Lateins und wie allgemein wichtig die gattungstechnischen Aspekte innerhalb einer Sprache sind. […] dire si può che in molte altre cose il Petrarca fu più dotto che Dante; perocchè nella scienza delle lettere, e nelle cognizione della lingua latina Dante fu molto infer‐ iore al Petrarca: Due parti sono nella lingua latina, cioè Prosa, e Versi, nell’una, e nell’altra è superiore il Petrarca; perocchè in Prosa lungamente è più eccellente, e nel verso ancora è più sublime, e più ornato, che non è il verso di Dante: Sicchè in tutta la lingua latina Dante per certo non è pari al Petrarca. (Bruni, Vita di Petrarca, 1672: 110-111) Wie sehr seine Perspektive von der Frage der Stilistik geprägt ist, zeigen auch seine Ausführungen in De interpretatione recta (1424), im Zuge derer er erläutert wie grundlegend bei der Übersetzung die Kenntnisse der jeweiligen Sprachen und die Bewahrung der stilistischen Elaboriertheit sei. Ego autem fateor me paulo vehementiorem in reprehendendo fuisse, sed accidit in‐ dignatione animi, quod, cum viderem eos libros in Greco plenos elegantie, plenos suavitatis, plenos inestimabilis cuiusdam decoris, dolebam profecto mecum ipse atque angebar tanta traductionis fece coinquinatos ac deturpatos eosdem libros in Latino videre. Quant à moi, j’admet que j’ai montré une certaine violence dans mes reproches, mais cela s’est produit sous le coup de l’indignation, parce que, voyant ces livres pleins d’élégance en grec, pleins de douceur, pleins d’une inestimable distinction, j’éprouvais une véritable douleur, et même de l’angoisse, à la vue des mêmes livres souillés et défigurés en latin par une traduction aussi abjecte. (Bruni, De interpret. 2; 2008: 627) Zieht man zusätzlich noch weitere theoretische Werke Brunis heran (z. B. De studiis et litteris 1422-1429; Epistola VII , 4), so wird deutlich, daß Bruni auch für das wissenschaftliche Schreiben die stilistische Ausdrucksfähigkeit als unab‐ dingbar ansieht. Aus diesem Grund sei auch die Volkssprache „nur“ für poetische Texte geeignet, da es keine grammatischen und orthographischen Regelwerke für sie gäbe, stilistische Eleganz könne deshalb letztendlich nur im Lateinischen erzielt werden (cf. Mazzocco 1993: 35). In der als Studienanleitung für eine Adelige konzipierten Schrift (De studiis et litteris liber. Ad dominam Baptistam de Malatestis) lobt er beispielsweise u. a. den Stil von Priscian bzw. macht darauf aufmerksam wie wichtig der sprachliche Ausdruck sei: „Haec enim non verba solum et syllabas, sed tropos et figuras et 301 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 493 Die hier zentrale Stelle des Gesamturteils Piccoliminis, die deutlich macht, daß die Ele‐ ganz in Brunis Stil erwähnenswert bzw. auffällig ist und diese immerhin von einer ihm durchaus gleichrangigen Gelehrtengröße stammt, ist folgende: „scripsit hic admodum ornate“ (Piccolomini, DVI, 23; 1991: 34). Und auch sein Gegner im Disput um das volgare antico, Flavio Biondo, beginnt sein Traktat mit einem Lob auf die Eleganz von Brunis latinitas: „Cum multa sint, Leonarde clarissime, tuum nomen celebrantia, tum maxime illud illustrat Latini sermonis exquisita proprietas […]“ (Biondo, De verb. rom. 1; 2015: 148). 494 „Piccolomini assigns Bruni the role of protagonist, if not of true founder, of the renais‐ sance of classical Latin“ (Baker 2015: 40). 495 An anderer Stelle spricht Tavoni (1982: 239) davon, daß Bruni als Grammatiker argu‐ mentiert und Biondo als Rhetoriker. Bezüglich Biondo sind zweifellos beide Aspekte relevant, der rhetorische wie auch der historische (v. infra). omnem ornatum pulchritudinemque orationis aperit nobis atque ostendit“ (Bruni, De stud. et litt., 20; 1969: 7). In einem Brief an den Erzbischof von Mailand erläutert er das Problem von Wahrheit und Eleganz beim Übersetzen (cf. Bruni, Epist. VII , 4: Leonardus Archiepiscopo Mediolanensi, 9). Der qualitative Unter‐ schied zeigt sich dabei auch in der Wortwahl, verwendet er für das stilistisch gehobene volgare seiner Zeit - also bezüglich der Sprache Dantes - das Adjektiv emendate (cf. Bruni, An vulg. et lit. 53; 2015: 248), was bedeutet, daß es hier zwar positiv konnotiert ist, aber keinesfalls auf gleicher Ebene mit dem Latein ran‐ giert, welches ja als lingua litterata bzw. sermo litteratus bezeichnet wird (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 260-261). Wie sehr Bruni dem Lateinischen ver‐ haftet ist und welche Wertigkeit er einer stilistischen Eleganz im Ausdruck bei‐ mißt, zeigt sich auch nochmal in der Außendarstellung. So attestiert ihm kein Geringerer als Enea Silvia Piccolomini (1405-1464) einen besonderen ornatus im Schreibstil seiner lateinischen Texte, 493 sowohl bezüglich seiner Überset‐ zungen aus dem Griechischen als auch seiner Eigenkompositionen (cf. Baker 2015: 40). 494 Synthese Wie ist nun - unter Berücksichtigung der Ergebnisse der doppelten Untersu‐ chungsmethode (sozio-/ varietätenlinguistisch vs. rekontextualisierend) - im Lichte seiner verschiedenen Werke die Sprachauffassung Brunis einzuschätzen, im Allgemeinen und in Bezug auf die Antike im Speziellen? Tavoni (1984: 9) charakterisiert Brunis Perspektive als die eines Grammati‐ kers, im Gegensatz zu derjenigen von Biondo und Poggio Bracciolini, die aus der Sicht von Historikern schrieben. 495 Es ist anzunehmen, daß auch Marchiò in diesem Punkte Tavoni folgt, wenn für ihn Brunis Sprachauffassung in der Grammatik wurzelt: 302 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 496 Das Urteil von Mazzocco (1993: 32) „Bruni now concentrates on what really had con‐ cerned him throughout the debate: the capacities of the Florentine vernacular“ erscheint überspitzt, denn dafür ist seine Herausstellung des Prestiges und der Überlegenheit des Lateins gegenüber dem volgare nur allzu deutlich und die von ihm aufgezeigten Mög‐ lichkeiten der Vernakularsprache bzw. dessen Prestige doch eher eingeschränkt. Sein Hauptanliegen ist eher in der stilistischen Eleganz und Elaboriertheit zu suchen, zum Teil unabhängig von der Frage des Idioms (v. infra). 497 Wie stark die Anbindung an die antike Tradition und damit die lateinische (und bei Bruni auch griechische) Literatur ist, zeigt sein Selbstzeugnis am Ende seiner Chronik von Florenz: „Mihi quidem Ciceronis Demosthenesque tempora multo magis nota vi‐ dentur quam illa quae fuerunt iam annis sexaginta / The times of Cicero and Demos‐ thenes, indeed, seem much more familiar to me than those even of sixty years ago (Bruni, Hist., 1; 2007: 300-301). Se ai nostri tempi vi è una distinzione tra la lingua dei letterati e quella del volgo, analoga distinzione esisteva anticamente presso i Romani; in questo senso è da in‐ tendere l’affermazione del Bruni, coerente con la sua concezione linguistica che af‐ fondava le radici nella grammatica e lo induceva a scorgere nella vulgaris lingua, ap‐ partenente oggi come apparteneva un tempo agli illitterati, una forma di linguaggio non avente rapporto con le categorie della grammatica […] (Marchiò 2008: 30). Dies ist nach obiger Analyse wenn nicht zu revidieren, so doch zu präzisieren, und zwar dahingehend, daß Bruni seine Argumentationen eher aus der Per‐ spektive eines Stilistikers aufbaut, denn es geht ihm nicht allein um die gram‐ matische Korrektheit in der Sprache - die in gewisser Weise Voraussetzung ist -, sondern vor allem um Eleganz, wie er immer wieder betont. Dies erklärt auch, daß er unter bestimmten Umständen mit dem gängigen Schema bricht und bestimmte Frauen einer eloquenten Ausdrucksweise für fähig erachtet und schließlich auch in bestimmten Bereichen der Volkssprache eine mögliche Qua‐ lität im Ausdruck zubilligt, obwohl sie eigentlich regellos ist und nicht durch Kunst (ars) verfeinert. Bruni bleibt damit grundsätzlich dem auch bei Dante be‐ tonten Blickwinkel von ars vs. natura verhaftet (v. supra), gesteht aber der Volkssprache unter bestimmten Umständen bzw. in spezifischen Domänen eine natürliche Eleganz zu. Wie groß er das Potential des volgare einschätzt, ist schwierig herauszulesen, sollte aber nicht, wie des Öfteren in der Forschung postuliert (cf. Baron 1966, Mazzocco 1993), 496 positiv überschätzt werden, bleibt er doch prinzipiell der lateinhumanistischen Position verpflichtet. 497 Daraus kann man Brunis Vorstellung von der zeitgenössischen Sprachsituation als eine Art Triglossie (v. supra) mit dem stilistisch gehobenen, literarischen Latein als genereller Distanzsprache und high variety, einem florentinischen volgare als high variety, vor allem in bestimmten Textgattungen (insbes. versgebundenen), und dem konzeptionell und medial Mündlichen volgare als low variety ableiten. 303 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 498 Cf. Kap. 6.2.1 vorliegender Arbeit und die dort aufgeführten verschiedenen Periodisie‐ rungsphasen der questione della lingua. Für die Antike kann zunächst einmal seine Auffassung dahingehend präzi‐ siert werden, daß er zwar tatsächlich keine eigentliche historische Perspektive einnimmt und seine zeitgenössische Situation auf das alte Rom überträgt, aller‐ dings insoweit modifiziert, daß das volgare allein für die Mündlichkeit bestimmt ist und keine literarische Ausprägung hat. Das volgare antico unterscheidet sich dabei für ihn auf allen Ebenen der Sprache und ist damit nicht, wie Tavoni (1982: 240) es pointiert ausdrückt, „Latin minus ‚grammar‘“. Dies bedeutet auch, daß hier für Bruni zwei getrennte Sprachsysteme vorliegen, d. h. eine Diglossie mit zwei (verwandten) Sprachen (nicht Varietäten) zu postulieren ist. Eine wei‐ tere diasystematische Variation ist dabei für ihn nicht wirklich relevant (v. supra). Entscheidend ist aber die Opposition der Sprechergruppen der literarisch Gebildeten bzw. Gelehrten zu den nicht Alphabetisierten, Ungebildeten bzw. dem Volk an sich. Dies wird einerseits immer wieder als wichtiges Unterschei‐ dungskriterium der jeweiligen Sprachkompetenz betont, andererseits gibt es durchaus Überschneidungsbereiche (z. B. gebildete Frauen). In Brunis Sprachauffassung wird deutlich, wie eng bereits zu Beginn des Dis‐ puts um die antike Sprachkonstellation, insbesondere um das volgare antico, die Strömungen von Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus sowie die ques‐ tione della lingua mit dieser spezifischen Fragestellung verknüpft sind. Klein (1953: 56) zeigt sehr deutlich, daß hier ein Zusammenhang besteht, denn die Akzeptanz einer lateinischen Volkssprache in Rom hätte die strikten Ver‐ treter des Lateinhumanismus konsequenterweise auch dazu genötigt dem zeit‐ genössischen volgare eine höheres Prestige zuzuerkennen, da es ja auf eine Form des Lateins zurückgehen könnte. Zum gleichen Urteil kommt letztlich auch Baron (1966: 343): „So much at least is obvious: fifteenth-century humanists could much use the historical theory that Latin and the Volgare coexisted in ancient Rome to support the conviction that the Volgare idiom, in addition to the sophisticated Latin speech, was playing a valuable and indispensable role in the education of their own time.“ Insofern sei an dieser Stelle auch dem an anderer Stelle ausgeführten Modell von Koch (1988b: 346) beigepflichtet, welches die hier indirekt mitthematisierte Diskussion ,Latein vs. volgare‘, als Phase II in einer erweiterten Auffassung der questione kategorisiert. 498 Stark synthetisiert könnte man demnach Brunis Position als eine lateinhu‐ manistische mit bestimmter Affinität zum florentinischen tre-corone-Modell be‐ trachten, im Zuge derer er die antike Situation im Wesentlichen im Spiegel seiner 304 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 499 Ebenso wie die Schrift Brunis findet sich auch diejenige Biondos u. a. in Tavoni (1984: 197-215), Marchiò (2008: 131-144, Kommentar: 145-153) und Marcellino / Am‐ mannati (2015: 148-183, Kommentar: 187-234), wobei auch hier wiederum die über‐ setzte und kommentierte Ausgabe von 2015 zugrundegelegt werden soll; Weiterfüh‐ rendes außerdem vor allem bei Mazzocco (1993), Coseriu / Meisterfeld (2003) und Raffarin (2015) (v. supra Kap. 6.2.3.1 zu Bruni). Zeit betrachtet und dabei vor allem aus einer stilistischen Perspektive heraus sein eigentliches Anliegen formuliert, nämlich den Erhalt eines literarisch ela‐ borierten Lateins. In dieser Konzeption hat ein breitgefächerter Varietätenraum des Lateinischen keinen Platz. Die antike Sprachsituation gerät damit zum An‐ schauungsobjekt eines tatsächlich für ihn übergeordneten Skopus seines Trak‐ tates. 6.2.3.2 Flavio Biondo (Flavius Blondus) Das chronologisch erste Zeugnis des eingangs beschriebenen mündlichen Dis‐ putes um die Frage nach der Art des Lateins der antiken Römer, insbesondere bezüglich der gesprochenen Sprache des Volkes, welcher im Kreise der aposto‐ lischen Sekretäre stattfand, stellt der an Leonardo Bruni adressierte Brief Flavio Biondos dar, mit der entsprechenden Fragestellung im Titel: De verbis Romanae locutionis Blondi ad Leonardum Aretinum (1435). 499 Textanalyse Das im Vergleich zum kurzen Antwortschreiben Brunis sehr viel längere Traktat beginnt mit einem überaus ausführlichen Lob auf Brunis Gelehrsamkeit, seine sprachliche Kunstfertigkeit im Lateinischen, insbesondere seinen eleganten Stil, sowie auf seine Fähigkeiten als Übersetzer aus dem Griechischen (ins Lateini‐ sche) (cf. Biondo, De verb. rom. 1-5; 2015: 148-151). Nach dieser umfassenden captatio benevolentiae grenzt Biondo die Epoche ab, auf welche in der Diskussion Bezug genommen wurde (bzw. auf welche er referiert), nämlich vom Zeitalter der Königsherrschaft über die Republik bis hin zur Kaiserzeit (cf. ibid. 6; 2015: 151-151), und bringt daraufhin die Streitfrage prägnant auf den Punkt: Magna est apud doctos aetatis nostrae homines altercatio et cui saepenumero inter‐ fuerim contentio, maternone et passim apud rudem indoctamque multitudinem aetate nostra vulgata idiomate, an grammaticae artis usu, quod Latinum appellamus, insti‐ tuto loquendi more Romani orare fuerint soliti. Tra gli uomini dotti del nostro tempo è grande il disaccordo e il dibattito, a cui molte volte ho preso parte, sulla questione se i Romani in pubblico fossero soliti parlare l’idioma materno e diffuso al nostro tempo tra il volgo rozzo e ignorante, oppure se 305 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 500 Zur Frage inwieweit bezüglich der hier angesprochenen Varietät des Lateins die Sprache der Gebildeten, die Schriftsprache und die Literatursprache gleichzusetzen sind cf. die Überlegungen dazu in Kap. 6.2.3.1 zu Leonardi Bruni. 501 Der hier erwähnte Nutzen des glücklichen Jahrhunderts (felicis saeculi beneficio; Biondo De verb. rom. III, 19; 2015: 154) bezieht sich wohl auf die Zeit des „klassischen“ Lateins, d. h. die Epoche der großen Redner wie Cicero oder Quintilian. Es ist jedoch nicht ein‐ deutig klar, ob hier Poggio (wiedergegeben von Biondo) der Meinung ist, daß die Ein‐ si esprimessero in una lingua plasmata dalle regole della grammatica, che noi defi‐ niamo latino. (Biondo, De verb. rom. I, 8; 2015: 150-151) Im Folgenden rekonstruiert Biondo noch einmal den mündlichen Disput und gibt wieder, wer welche Argumente für welche Position in der Streitfrage ins Feld geführt hatte (De verb. rom. II , 12- IV , 20; 2015: 150-155). So berichtet er, daß Andrea Loschi und Cencio Romano sich der Meinung Brunis angeschlossen hätten und ebenfalls davon ausgingen, daß die Römer der Antike zwei Sprachen besaßen, die Biondo hier als eine vom literarischen Latein entfernte Sprechweise charakterisiert (loquendi genus a litteris remotum; ibid. II , 13, 20; 2015: 152), 500 die dem Volk eigen war (vulgare quoddam et plebeium) und welche aber auch von den gebildetsten Rednern (doctissimi oratores) bei Ansprachen an das Volk ge‐ braucht wurde. Diese Reden wurden aber im Zuge ihrer Verschriftlichung mit viel Mühe (multa lucubratione) umgearbeitet, und zwar ins Lateinische, also in das Idiom, welches auch schon zuvor (v. supra) - wie auch bei Dante - als Grammatik bezeichnet wurde bzw. den Regeln der Grammatik entspreche (in grammaticam Latinitatem). Biondo betont noch einmal, daß Bruni nicht glauben wollte, daß das unge‐ bildete Volk (plebem indoctam) im Stande gewesen sei, die liebliche Redeweise (suavitatem sermonis) der nobiles oratores zu verstehen und allein deshalb für die Antike zwei Sprachen anzunehmen seien. Mit der Betonung der suavitas der Rede der berühmten römischen Redner zeigt sich wiederum, wie sehr Bruni in seiner Argumentation den Fokus auf die Stilistik richtet, und in diesem Zusam‐ menhang ist es dementsprechend auch nicht zufällig, daß die oratores als doc‐ tissimi oder nobiles charakterisiert werden, da nur die Gelehrtesten dieser Zunft zu einer außergewöhnlichen Kunstfertigkeit und stilistischen Eleganz fähig waren. So wird deutlich, daß auch durch die „Brille“ Biondos die Haltung Brunis hier indirekt bestätigt wird und stilistische Elaboriertheit einen Grundpfeiler seiner Position darstellt, wie im vorherigen Kapitel dargelegt wurde (cf. Kap. 6.2.2.1). Poggio Bracciolini hingegen teilte diese Meinung (wie letztlich Biondo selbst) nicht und hätte angemerkt, daß das Volk sich in diesem glücklichen Jahrhun‐ dert 501 an die Rede- und Schreibweise gewöhnt hätte und es deshalb kaum 306 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen heitlichkeit des Lateins nur während dieser „Hochzeit“ gegeben war, weil zu jener Zeit das Volk mit stilistisch kunstvollen Reden konfrontiert wurde und es deshalb diesen Duktus im Ohr hatte. 502 An dieser Stelle zeigt sich recht deutlich, daß die latinitas, wie bereits in der Antike, nicht unbedingt sprachenbezogen zu verstehen ist, sondern darunter vielmehr ein System von fixierten morpho-syntaktischen Regeln zu verstehen ist, welches eben mit grammatica gleichzusetzen ist. Nur unter dieser Prämisse ist hier die Überführung einer volkssprachlichen Literatur in eine Latinität zu verstehen; d. h. es handelt sich um einen Verschriftlichungsprozeß, der das volgare grammatikfähig macht: „[…] cum gramma‐ ticis astricto regulis sermone scripta videmus, in Latinitatem dicimus esse conversa“ (Biondo, De verb. rom. VI, 20; 2015: 154; cf. auch den Kommentar 2015: 196). 503 Der entsprechende Passus bei Livius lautet: „Terror ad hostes transit; et audiverant clara voce dictum, et magna pars Fidenatium, ut qui coloni additi Romanis essent, latine sciebant“ (Livius, Ab urbe cond. I, 27, 9; 1987 I: 76-77). Biondo interpretiert diese Stelle denkbar sei, daß die Redner nicht verstanden worden seien. Aus diesem Grund hätte auch Poggio dafür plädiert, daß es in der Antike eine Sprache gegeben habe, die von allen gebraucht worden wurde, also sowohl vom Volk als auch von den Rednern, in der mündlichen Kommunikation wie auch in der schriftli‐ chen (Biondo, De verb. rom. III , 17-19; 2015: 153-155). Daraufhin bilanziert Biondo zumindest dahingehend eine Gemeinsamkeit aller Diskussionsteilnehmer, daß es in der Antike unterschiedliche Arten des Sprechens gegeben habe (orationis diversitatem) und daß die großen zeitgenös‐ sischen Schriftsteller Dante und Boccaccio zwar in einem volgare geschrieben hätten, aber eben in einem, welches dem Latein, also einer regelhaften Sprache, gleichkäme, das sich von der Sprechweise des Volkes abhebe (cf. ibid., IV , 20; 2015: 154-155). 502 Im weiteren führt Biondo aus, daß er die Argumente Brunis bezüglich der lexikalischen Unterschiede zwischen diesem von ihm postulierten zwei Spra‐ chen ‚Latein der Gebildeten‘ und ‚Volkssprache‘ wie bei duellius und bellum nicht nachvollziehen könne, da diese Unterschiede nicht so gravierend seien und dar‐ überhinaus auch nur ein Unterschied im Register der Sprache bestünde; die Fol‐ gerung Brunis, aus diesem divergierenden Sprachgebrauch zwei verschiedene Idiome abzuleiten, lehnt er ab (cf. ibid., III , 24, VII , 33-34; 2015: 156-159). Das erste Mal macht Biondo seine Position von der Einheitlichkeit des Lateins anhand einer Episode aus Livius deutlich, die Cencio anders als er interpretiert hätte. Dieser leitete offensichtlich aus einer Anekdote der frühen römischen Geschichte, in der es um einen Konflikt Roms mit dem etruskischen Nachbarort Fidenae geht, ab, daß die Oberschicht im Gegensatz zum Volk ein literarisches Latein benutzte, was Biondo durch eine andere Interpretation der Livius-Stelle widerlegt und daraus folgernd das Postulat von den zwei unterschiedlichen Sprachen in der Antike explizit ablehnt (cf. ibid., VI 28-32; 2015: 156-159). 503 307 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini dahingehend korrekt, daß die Einwohner eigentlich Etrusker waren - so Livius (ibid. I, 15, 1) -, aber durch die Zeit als römische Kolonie auch das Lateinische beherrscht hätten. Die Tatsache, daß Fidenae eigentlich eine latinische Stadt war, spielt hier keine Rolle, da beide sich auf Livius berufen. Zu den möglicherweise von Biondo und Bruni kon‐ sultierten, textlich nicht identischen Livius-Editionen cf. Marcellino / Ammannati (2015: 200, Komm. 28). 504 Die angesprochene Stelle bei Cicero lautet folgendermaßen im Original: „Nec enim effugere possemus animadversionem, si semper isdem uteremur, quia nec numerosa esse ut poema neque extra numerum ut sermo volgi esse debet oratio - alterum nimis est vinctum, ut de industria factum appareat, alterum nimis dissolutum, ut pervagatum ac vulgare videatur […]“ (Cicero, Orat. 195). Zur Abweichung der von Biondo zitierten Stelle vom Original cf. Marcellino / Ammannati (2015: 203-204; Komm. 38). Im Anschluß an diese Ausführungen wird Biondo - wie er ganz explizit ein‐ leitet (ibid., VII , 36; 2015: 158-159) - deutlicher, was seine Position in dieser Debatte anbelangt. Er gibt zwar zu, daß die Gelehrten (doctos) die Mehrheit des ungebildeten Volkes (indoctam multitudinem) dahingehend überragten, daß sie ein Bildungslatein bzw. literarisches Latein (litterata orationis Latinitate) sprä‐ chen, postuliert aber auch, daß die lateinische Sprache eine Einheit bilde (unicam fuisse), in der die Sprache des Volkes inkludiert sei. Velim tamen cum certaturis mecum omnibus illud fore imprimis mihi commune: ut litterata orationis Latinitate, quam Romanis omnibus femellis pariter cum viris unicam fuisse constanter assevero, doctos longe multum indoctam multitudinem praestitisse concedam […]. Tuttavia con tutti coloro che combatteranno contro di me voglio avere un punto in comune, ammettendo che i dotti superavano di molto la massa ignorante nel parlare in latino letterario, latino che, lo ribadisco con fermezza, era comune a tutti i Romani, sia alle donnette che agli uomini. (Biondo, De verb. rom. VII, 37; 2015: 160-161) Eine der wichtigen Innovationen in der Betrachtung der Sprachsituation der römischen Antike wird von Biondo im folgenden Passus seines Traktates dar‐ gelegt. Dabei bezieht er sich auf eine Stelle in Ciceros Orator, also einer der wichtigsten Schriften zur Rhetorik, aus der er eine Schichtung der lateinischen Sprache ableitet. 504 Cicero bzw. der antiken Rhetorik folgend, postuliert Biondo dementsprechend mit einer gedachten Hierarchisierung nach dem Kriterium des Prestiges bzw. der Adäquatheit für bestimmte Redesituationen und Text‐ sorten eine poetische Form (forma poetica), eine Form der öffentlichen Rede (forma oratoria) sowie eine Form der volkssprachlichen Verständigung (forma vulgaris). Letztere charakterisiert er ganz in der Tradition Dantes bzw. des mit‐ telalterlichen Verständnisses als regellos (sine numero sine ordine), wie es auch bei Bruni zu finden ist (cf. Bruni, An vulg. et lit. 34). Die Verteilung bezüglich der 308 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 505 Biondo bezieht sich hierbei auf eine Stelle in Ciceros Brutus, der rhetorische Betrach‐ tungen über den Politiker Lucius Aurelis Cotta (praetor im Jahre 95 v. Chr.) anstellt und Sprecher dieser jeweiligen Redeformen sieht er als selbstverständlich an, so daß er nur anmerkt, daß es eine Unterscheidung zwischen docti und indocti gibt, wer was spräche, sei ja offensichtlich. Cum enim inde colligi liceat tres Latinae dictionis formas tunc fuisse, poeticae unam numeris astrictam, oratoriae alteram nec contextam numeris nec carentem, vulgaris tertiam fluentem et quaquaversum sine numero sine ordine dilabentem, quae docti partes erant, quae indocti apparet. Poiché, infatti, da esso si può dedurre che vi erano tre forme della lingua latina - la prima poetica, vincolata dal metro, la seconda oratoria, non ordita con schemi metrici ma nemmeno priva di ritmo, la terza popolare, fluida e che scorreva in ogni direzione senza ritmo e senza ordine -, appare chiaro da che parte stessero i dotti e da che parte gli ignoranti. (Biondo, De verb. rom. VIII, 39; 2015: 160-161) Im Weiteren führt Biondo die Anwendungsbereiche der tres Latinae dictionis formas aus und betont daraufhin noch einmal, daß diese Verschiedenheit jedoch kein Grund sei, an der Einheit des Lateins zu zweifeln. Er opponiert hier direkt gegen die Auffassung Brunis, indem er ebenfalls den Vergleich zu zeitgenössi‐ schen Situation zieht, dabei aber betont, daß es gerade nicht so sei wie mit dem aktuellen volgare, welches eben keine Merkmale des Lateinischen aufweisen würde, sondern auch das genus tertium (ibid. VIII , 42; 2015: 160) - wie er das antike volgare in rhetorischer Interpretation nennt - latinitas besitzen würde. Die Tatsache, daß hierin ein wichtiger Unterschied zu Bruni besteht, der die Abgrenzung des antiken volgare vom zeitgenössischen nur eher implizit vornimmt (wenn überhaupt), betont auch Marchiò (2008: 24). Das Argument der Verständlichkeit bzw. Nicht-Verständlichkeit der Rede der oratores für das Volk, welches offensichtlich im vorausgehenden mündlichen Disput bereits eine Rolle gespielt hat und auch bei Bruni aufgegriffen wurde, versucht er dahingehend zu entkräften, daß er zugibt, daß bei Ansprachen an das Volk sicherlich auch Wörter des niedrigsten Stils verwendet worden waren oder zumindest solche des allgemeinen Gebrauchs (quod volgare secum etiam appellabo, verborum genere usos), dies aber trotzdem noch Latein gewesen sei - ganz im Gegensatz zu den Wörtern des zeitgenössischen volgare. Die Durch‐ lässigkeit zwischen den Registern verdeutlicht er an einem Beispiel aus Cicero, der von dem Prätor Cotta berichtet, daß besagter Politiker, um Altertümlichkeit in seiner Rede zu imitieren, äußerst ungeschliffene Wörter (quasi subrustico) des Volkes benutzte (Biondo, De verb. rom. X, 47-50; 2015: 162-165). 505 309 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini der durch die imitatio mit Hilfe von Wörtern, die durch rusticitas markiert sind, anti‐ quitas erzeugt hätte. Inwieweit Biondo bezüglich seiner weiteren Auslegung Cicero womöglich mißversteht cf. Marcellino / Ammannati (2015: 207-208, Komm. 50). Der fragliche Passus lautet: „L. etiam Cotta praetorius in mediocrium oratorum numero dicendi non ita multum laude processerat, sed de industria cum verbis tum etiam ipso sono quasi subrustico persequebatur atque imitabatur antiquitatem“ (Cicero, Brut. 137 (36); 1990: 102). Dabei sei auf das von Biondo wörtliche übernommen subrusticus zur Kennzeichnung einer ländlichen Aussprache hingewiesen. Cicero benutzt an anderer Stelle auch noch subagrestis (Brut. 259 (74); 1990: 196). 506 Bei Bruni werden aus den cetarii und lanii die Berufe der pistores und lanistae (v. supra.). Marcellino/ Ammanati (2015: 210, Komm. 56) gehen davon aus, daß hier Bruni lanius mit lanista (‚Gladiatorentrainer‘) verwechselt hat, es kann aber auch gut sein, daß er ein alternatives Lexem für ‚Metzger‘ benutzte (v. supra. Kap. 6.2.3.1). 507 Cf. dazu auch Cicero, der ebenfalls von den „guten Gewohnheiten“ bzw. dem „guten Gebrauch“ in Zusammenhang mit einer locutio emendata des Lateinischen spricht (Ci‐ cero, Brut. 258 (74); 1990: 194). 508 Biondo mißinterpretiert hier Cicero, der sich eigentlich auf eine ältere Zeit bezieht, worin ihm später Guarino Veronese und Francesco Filelfo folgen (cf. Marcellino / Am‐ mannati 2015: 211-212, Komm. 61). Ein weiteres argumentatives Vehikel, welches ebenfalls bei Bruni zu finden ist, schöpft Biondo wiederum aus Cicero und bezieht sich auf den Redner Gaius Curio (v. supra, Bruni), der aufgrund seines familiären Umfeldes bzw. seiner Erziehung zu einem brillanten Redner wurde, obwohl er illiterat war (cf. ibid. XI , 52- XII , 57; 2015: 164-167). Für Biondo ist dies ein eindeutiges Argument für die Einheit des Lateinischen, während Bruni dies als Ausnahme der eigentlichen Trennung der beiden Sprachsysteme anführt. Die Fähigkeit der antiken Römer, die lateinische Sprache zu beherrschen, und zwar unabhängig vom Bildungsgrad und der sozialen Herkunft - er führt als Beispiel die Fischverkäufer und Metzger (cetarii laniique) an -, 506 läßt Biondo für jene Epoche ein glückliches Zeitalter annehmen (aetatis illius felicitate, ibid. XIV , 63; 2015: 168), ist ihm doch bewußt, daß der Erwerb des Lateinischen für ihn und seine Zeitgenossen nur durch ein mühevolles Studium möglich ist. Er beruft sich dabei auf eine Wiedergabe Ciceros einer Aussage Caesars, daß alle Römer Latein konnten und nur einige durch ihre Eleganz hervorstachen, d. h. der Unterschied der Gebildeten nur darin lag, daß sie seit ihrer Kindheit einen guten Sprachgebrauch (consuetudinem bonam) 507 mitbekommen hatten. 508 Biondo formuliert aus diesen Beispielen der antiken Literatur eine Art Zwi‐ schenfazit, in dem er feststellt, daß in der Antike alle Römer die gleiche Sprache gesprochen hätten (omnes pariter Latinis verbis usos), d. h. die gleichen latein‐ ischen Wörter benutzt hätten, sowohl Frauen als auch Männer, Sklaven und Freie, Gebildete und Ungebildete (doctos et litterarum ignaros), wobei es jedoch durchaus wesentliche Unterschiede in der Art der Sprachbeherrschung gab 310 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen (qualitate dicendi facultatem) und damit letztlich auch in Bezug auf die Wort‐ wahl. Si enim quod dixi etiam stabit, omnes pariter Latinis verbis usos, mulieres et viros, servos et liberos, doctos et litterarum ignaros, cum diversam pro vitae et morum qua‐ litate dicendi facultatem plurimis fuisse concesserim, eos qui domestica consuetudine et studiorum flagrantia elegantissimae orationis praestantiam, quod de Caesare supra est dictum, consecuti fuerint, maioribus quam quae possent a multitudine intellegi verbis uti debuisse […]. Infatti, se ciò che ho detto è vero, cioè che tutti allo stesso modo utilizzavano parole latine, donne e uomini, servi e uomini liberi, dotti e ignoranti, dal momento che ho ammesso che molti ebbero una diversa capacità di parlare in base al tipo di vita e di abitudine, allora quelli che grazie alla consuetudine domestica e all’ardore per gli studî raggiunsero, come Cesare, l’eccellenza di un eloquio elegantissimo avrebbero dovuto utilizzare parole più elevate di quelle che erano alla portata del popolo. (Biondo, De verb. rom. XV, 64; 2015: 168-169) Im Folgenden greift Biondo das ihm offensichtlich wichtigste Exempel bzw. den Problemstrang, der ihn am meisten beschäftigt, wieder auf, nämlich die Frage, ob die Redner auch vom Volke verstanden wurden und welche Arten des Spre‐ chens sie beherrschten. In der zugrundeliegenden mündlichen Diskussion schien dies wohl ein Dreh- und Angelpunkt gewesen zu sein, zumal auch Bruni dieser Detailfrage viel Raum widmet. Biondos Argumentation gemäß verfügten die oratores über eine große Band‐ breite an Wörtern, die verschiedenen Stilebenen zuzurechnen waren, jedoch völlig unabhängig davon - und das betont er erneut - in jedem Fall Teil der lateinischen Sprache waren. Aus diesem Grund waren sie auch in der Lage, zum Volke in einem niedrigen Stil zu sprechen, so daß sie verstanden wurden. Dabei hebt er nochmals hervor, daß dieses von ihm gemeinte Latein, tatsächlich dem literarischen Latein seiner Zeit entspreche (dum pronuntiarentur, fuisse Latina, qualia dicimus litterata; ibid. XVI , 68; 2015: 170-171). In den sich anschließenden Paragraphen macht er sich Gedanken über die Unterschiede der drei Stilebenen, die er auch noch einmal benennt, diesmal als figuris orationis, wobei er zwischen den Registern grave, mediocre und attenuata differenziert und dabei deutlich macht, daß diese dicendi genera auf die Rhetorik zurückzuführen seien (ab intimis rhetorica artis), es ihm aber eigentlich nicht um die rhetorischen Techniken ginge, sondern um die Sprache und die Wörter (ibid. XVII , 72; 2015: 170-171). Es scheint hier durch, daß es ihm in gewisser Weise bewußt ist, daß die Rhetorik nur als ancilla eines Versuchs der Erklärung 311 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 509 Mazzocco (1993: 39) spricht bezüglich Biondos Erklärungsansatz von einer sudden, drastic mutation, was angesichts des sensim im obigen Zitat zu relativieren ist. Sicherlich sieht Biondo hier die Völkerwanderung und damit die politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt sprachlichen Umwerfungen, die dadurch ausgelöst wurden, als ein einschneidendes Ereignis, doch Biondo erkennt offensichtlich durchaus auch das pro‐ zeßhafte Element dieser Veränderungen. sprachlicher Unterschiede innerhalb einer grundsätzlich einheitlichen Sprache fungiert. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation, die bei Biondo mitunter leicht zirkulär ist, greift er erneut die Frage der Verständlichkeit des gehobenen Stils bzw. der litterata Latinate (ibid. XX , 79; 2015: 174) auf, diesmal auch im Hinblick auf Theaterstücke, Epik und Poesie, das familiäre Umfeld und die Erziehung sowie die mangelnde Grammatikalität der Volkssprache. Er erkennt, daß es - wie bei Cicero überliefert - unterschiedliche Sprechweisen in der Stadt Rom und auf dem Land gegeben haben muß, betont aber angesichts dieser Differenzie‐ rung von urbanitas und rusticitas wiederum die Einheit der Sprache (unicum fuisse idioma Romanae multitudinem; ibid. XX , 88; 2015: 176). Gegen Ende seiner Ausführungen stellt Biondo noch eine entscheidende Frage, die bisher nicht diskutiert wurde und die in der Rezeption seines Traktates als die zentrale Aussage gehandhabt werden sollte, nämlich inwieweit das antike Latein mit dem zeitgenössischen volgare zusammenhängt und wie es dazu kam, daß man diese so hochgeschätzte Sprache aufgegeben hatte. Extremam mihi restare video responsionem: qua ratione, quibus temporibus causisque factum credam ut vulgaritatem hanc nostram cum universae multitudinis Latinitate, quam ostendere conatus sum apud priscos fuisse, permutaverimus. Vedo che mi rimane l’ultima questione a cui rispondere: in che modo, quando e per quali motivi io creda che abbiamo sostituito con questo nostro volgare quel latino adoperato da tutta la popolazione, che, come ho tentato di dimostrare, era in uso presso gli antichi. (Biondo, De verb. rom. XXV, 108; 2015: 180-181) Die Erklärung Biondos auf die hier aufgeworfene Frage liegt, wie er schon zuvor in einem Vergleich mit der schlechten Aussprache nicht-italienischer Latein‐ sprecher veranschaulicht hatte (cf. Biondo, De verb. rom. XVIII , 76; 2015: 172), für ihn in der „Barbarisierung“ und „Kontaminierung“ der lateinischen Sprache durch die einfallenden Germanen im Zuge der Völkerwanderung. 509 Postea vero quam Urbs a Gothis et Vandalis capta inhabitarique coepta est, non unus iam aut duo infuscati, sed omnes sermone barbaro inquinati ac penitus sordidati fu‐ 312 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 510 Zur antiken Rhetorik bzw. zur Tradition der Rhetorik, ihren Stilebeben und Funktions‐ aufteilungen sowie Arten der Textstrukturierung im Allgemeinen cf. z. B. und Göttert (2009) und Fuhrmann (2011) sowie Kap. 6.1.5 vorliegender Arbeit. erunt; sensimque factum est ut pro Romana Latinitate adulterinam hanc barbarica mixtam loquelam habeamus vulgarem. Ma dopo che Roma fu presa e cominciò a essere abitata dai Goti e dai Vandali, non furono uno o due quelli contaminati, ma tutti furono inquinati e macchiati dalla lingua barbarica; e lentamente è successo che al posto del latino di Roma abbiamo adottato come lingua comune questa parlata impura e mescolata a quella barbarica. (Biondo, De verb. rom. XXV, 111; 2015: 182-183) Er schließt seine Abhandlung mit der nochmaligen Gegenüberstellung der beiden Positionen in der vorangegangenen mündlichen Diskussion, nämlich, daß die eine Seite neben einem literarischen Latein für die Antike ein volgare annimmt, welches dem heutigen ähnelt, während die andere Seite - so auch er selbst - davon ausgeht, daß es in jener Zeit nur eine Sprache gegeben habe, und zwar eine latinitas litterata (wenn auch mit interner Differenzierung). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Entsprechend der in dieser Arbeit verfolgten Methode zur detaillierten Heraus‐ arbeitung der einzelnen in den jeweiligen Traktaten dargelegten Ansichten in der Streitfrage um das volgare antico und deren Vergleich sei nun versucht, analog zu Bruni, die Sprachreflexionen Biondos in diasystematischer (d. h. va‐ rietätenlinguistischer) und soziolinguistischer Terminologie darzustellen. Wie schon in der synthetischen Wiedergabe seines Argumentationsverlaufes deutlich wurde, ist einer der zentralen Punkte seines Gesamtkonzeptes das Pos‐ tulat der Einheit des antiken Idioms. Hierbei positioniert er sich ganz bewußt gegen die These der zwei Sprachen, wie sie Bruni und andere Diskussionsteil‐ nehmer formuliert hatten und wie sie Bruni dann auch selbst in seiner eher kurz gehaltenen Replik deutlich zur Geltung bringt. Welcher Art diese Sprache nun sei, die Biondo als die einzige Sprache des gesamten Volkes, also aller Römer annimmt, beantwortet er ebenfalls sehr eindeutig, nämlich das literarische La‐ tein, wobei er auch den expliziten Vergleich zum zeitgenössisch verwendeten Latein zieht. Anders als bei Bruni, bei dem durch das Konzept der Diglossie eine weitere Aufschlüsselung der schichtenspezifisch verteilten Idiome nicht auf‐ scheint, ist Biondos Latein der Antike durchaus diasystematisch gegliedert. Die Verschiedenheit in Ausdruck und Stil erklärt er dabei mit Hilfe der Stilebenen der Rhetorik. 510 Äußerst bemerkenswert ist dabei, daß er sich offensichtlich be‐ wußt ist, daß dies eine Hilfskonstruktion ist, um die Vielschichtigkeit der 313 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 511 Die angemessene Darstellung der Gedanken im Rahmen einer Rede (elocutio) bestand im Wesentlichen aus der Beachtung der virtutes elocutionis, d. h. der Sprachrichtigkeit (latinitas), der Klarheit (perspicuitas), des Schmuckes (ornatus) und der Angemessenheit (aptum) sowie der Rücksichtnahme auf die entsprechend dem Anlaß anzuwendene Stilgattung (genus dicendi), die vor allem durch die Art des Einsatzes des Redeschmuckes konstituiert wird (cf. Kap. 6.1.5), aber auch durch die Aufgaben des Redners (officia oratoris) bzw. Redeabsicht (z. B. docere, conciliare, movere) sowie das Thema (cf. Göttert 2009: 41-42, 63-64). 512 Zur Abgrenzung der Begriffe ‚Varietät‘, ‚Register‘ und ‚Stil‘ cf. Felder (2016: 43-51) sowie Kap. 4.1.2.3. Sprache darzustellen. Die kanonisierten genera dicendi der (antiken) Rhetorik (cf. Kap. 6.1.5) 511 verknüpft er dabei mit der Zuordnung von Textsorten und Sprecherschichten. Die Stilebenen der Rede, die grundsätzlich diaphasisch zu interpretieren sind, 512 bekommen bei ihm einen diastratischen Aspekt, insofern vor allem die unterste Ebene als Sprache des Volkes identifiziert wird. Man könnte vereinfacht sagen, daß Biondo aus dem niedrigen Register eines Red‐ ners - den man normalerweise einer Bildungselite zuzuordnen hat -, der ent‐ sprechend dem Anlaß diesen Stil wählt (cf. aptum bzw. decorum), wenn er zum Volke spricht, die Sprache der Rezipienten macht. Er ignoriert sozusagen die Kluft zwischen dem diaphasisch immer noch relativ hoch anzusiedelnden Dis‐ kurs in einer bestimmten Situation und der diastratisch (und diaphasisch) durchgängig als niedrig einzuschätzenden Varietät der unteren Volksschichten. Nichtsdestoweniger wird deutlich, daß Biondo die Einheit der Sprache nicht homogen konzipiert, sondern heterogen und die Architektur des Lateinischen in erster Linie diaphasisch und diastratisch auffaßt. Man könnte seine Ausfüh‐ rungen dahingehend interpretieren, daß er das Lateinische so geschichtet ver‐ steht, daß die Sprechergruppe der Gebildeten (docti, litterati, oratores, eruditi) über die Stilregister, die man als Varietäten deuten kann, der forma poetica (als prestigereichste und im Register höchststehende) und der forma oratoria ver‐ fügt, während die Ungebildeten bzw. das Volk (indocti, litterarum ignaros, illit‐ terati, populum, plebs indoctus, multitudine, vulgus) über die forma vulgaris ver‐ fügt. Wenn es hingegen um das Volk im Sinne aller geht, spricht er von den Römern an sich (Romani omnibus; ibid. VII , 37; 2015: 160). Es besteht insofern eine gewisse Durchlässigkeit als auch die Redner, damit sie von der breiten Masse verstanden werden, sich des niedrigsten Stils bedienen. Tavoni (1984: 22-23) spricht noch von einem weiteren Stil der oratores bei Biondo, nämlich von dem medius modus (Biondo, De verb. rom. XVI , 71; 2015: 170-171), den die Redner verwenden würden, wenn sie zum Volke sprä‐ chen, und der sich allein durch lexikalische Abweichungen äußern würde. Die fragliche Stelle ist jedoch alles andere als eindeutig und man könnte es auch so 314 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 513 „Illud tamen constare certum est: paucas admodum orationes ut scriptae sunt a Cicerone habitas, praeter illas quae scripto fuerunt dictae, cum Pedianus ipsum nonnullas aliter pronunciasse quam ediderit scriptas, notariorum testimonio qui illarum singula exce‐ perunt verba, expresse affirmet […] / Ma una cosa risulta certa: veramente poche ora‐ zioni furono pronunciate da Cicerone così come sono scritto. Pediano afferma chiara‐ mente, sulla base della testimonianza degli stenografi che le registrarono, che Cicerone ne pronunciò diverse in una forma differente da quella in cui le pubblicò scritte […]“ (Biondo, De verb. rom. XXIV, 106; 2015: 180-181). 514 Marchiò (2008: 24) weist darauf hin, daß dabei bei Biondo das Wort eine Sonderstellung einnimmt, er ein spezifisches Bewußtsein für die dignità della parola hat. interpretieren, daß die Redner zum Volke in einem niedrigen Stil sprechen, ohne jedoch deswegen vollständig auf jedweden ornatus zu verzichten. Die Tatsache, daß ein Sprecher über mehrere Varietäten verfügen kann, ist also durchaus mitberücksichtigt. Dabei ist es bemerkenswert, daß Biondo diese Kompetenz nicht nur von der Bildungselite annahm, sondern zumindest auch von einzelnen Personen, die nicht dazugehörten, was implizit in den Exempla deutlich wird, in denen deren erworbene Redekunst trotz Illiterarität hervorge‐ hoben wird. In einem Beispiel, in dem Biondo von Cicero berichtet, daß er anders schrieb als seine Rede vortrug, zeigt sich nicht nur, daß dieser Sprecher über mehrere Varietäten verfügte, sondern hier scheint auch die diamesische Ebene durch, indem explizit der Medienwechsel thematisiert wird. Dabei ist sogar eine Unterscheidung von konzeptioneller und medialer Mündlichkeit bzw. Schrift‐ lichkeit auszumachen, denn Biondo betont, daß Reden, die Cicero nur vorliest, dezidiert anders seien als solche, die er frei spricht; als Beweis führt er die über‐ lieferten stenographischen Mitschriften an. 513 Hierbei werden wohl stilistische Unterschiede an eine bestimmte mediale Realisierung geknüpft. Es ist bei ihm aber auch in Ansätzen ein diatopisches Moment erkennbar, und zwar insofern er Cicero folgend das Latein der Sprecher außerhalb Roms mit dem Attribut der rusticitas belegt, während er das stadtrömische Latein durch urbanitas gekennzeichnet sieht. Er verknüpft diese Ebene jedoch nicht weiter mit seinem rhetorisch inspirierten Modell und sie bleibt in gewisser Weise ein erratischer Aspekt. Damit geht er auch nicht über die diesbezüglichen Ideen und Darstellungen antiker Autoren hinaus (cf. Kap. 4.1.2.1). Die Kriterien für die Unterschiede der einzelnen diasystematischen Ebenen liegen für Biondo auf der Ebene der Lexik sowie der Morphosyntax. Die Tat‐ sache, daß je nach Stilregister andere Wörter verwendet werden, expliziert er an verschiedenen Stellen seines Traktates. 514 Die Variation im morphosyntakti‐ schen Bereich ergibt sich einmal implizit aus der Hervorhebung der stilistischen Unterschiede der einzelnen Ebenen und zum anderen explizit aus der Negierung der „vollen“ Grammatikalität des niedrigsten Stils bzw. der Volkssprache (cf. z. B. 315 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini ibid. VIII , 42; 2015: 160-161) sowie der Thematisierung der möglichen Erlern‐ barkeit, rein durchs Zuhören bzw. die entsprechende Umgebung (cf. ibid. XXI , 93; 2015: 176-177). Raffarin (2015: 25) spricht davon, daß Biondo dem gespro‐ chenen Latein des Volkes eine grammaticalité minimale attribuiert sowie eine proximité lexicale zum Latein der Gebildeten. Es zeigt sich demnach, daß Biondo zahlreiche Aspekte der Variation einer Sprache berücksichtigt, ihm diese bewußt sind und er diese mit den ihm zur Verfügung stehenden Termini der Rhetorik zu beschreiben sucht. Ein, wie schon zuvor angedeutet, im weiteren Verlauf dieser Diskussion über die nächsten Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderte neuer Gedanke bei Bi‐ ondo, der keinerlei Entsprechung bei Bruni hat, ist seine Konzeption des Sprach‐ wandels. Er vergleicht damit nicht nur wie Bruni die Antike und die eigene Epoche, sondern setzt beide in eine direkte Kausalrelation. Indem er die Beein‐ flussung der Eroberer (für ihn zunächst nur Goten und Vandalen) als Ursache für die Veränderung des Lateinischen ausmacht, wird er zum Begründer der Superstratheorie ante litteram. Er beschreibt in dem kurzen Paragraphen, die er diesem Phänomen widmet, relativ genau, wie er sich diesen Wandel vorstellt. Die Germanenstämme erobern nicht nur das Imperium Romanum, sondern be‐ siedeln es auch, dabei eignen sie sich die Sprache der Eroberten an (das Latei‐ nische) und im Zuge des L2-Erwerbs der einzelnen Sprecher verändert sich schließlich die ganze Sprache. Das Lateinische wird „barbarisiert“, d. h. durch die Einflüsse der Eroberersprache „verunreinigt“, d. h. verändert, und entwickelt sich auf die Weise zum zeitgenössischen volgare, also den italienischen Varie‐ täten. Das Ergebnis ist in seinen Augen freilich eine „unreine“ Sprache, im Ver‐ gleich zum ehemals „reinen“ und „unverdorbenen“ Latein der Antike. Dabei betont er ausdrücklich, daß dieser Prozeß langsam abläuft (v. supra). Biondo macht zwar im Gegensatz zur heutigen Vorstellung vom prinzipiellen Primat des internen Wandels den externen Einfluß als den einzigen Grund für die Ver‐ änderung aus - wobei er zudem die Superstratvölker recht selektiv erfaßt -, doch beschreibt er das Wie dieses Sprachwandelprozesses, wenn auch negativ bewertend, relativ genau. Auf diese Weise gelingt es Biondo, ein weitgehend kohärentes Gesamtbild einer differenzierten Sprache der Antike zu entwerfen und gleichzeitig die eigene Sprachsituation mitzuerklären. Rekontextualisierung Im Folgenden sollen nun im Zuge der hier applizierten Analysemethode die Ansichten Biondos rekontextualisiert werden, d. h. seine Argumente noch einmal exakter als in der ersten Annäherung in der oben wiedergegebenen in‐ haltlichen Synthese seines Traktates in den historischen Zusammenhang ein‐ 316 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 515 Zur mittelalterlichen Tradition und der sich überlagernden Dichotomien clerici vs. laici und litterati vs. illitterati sowie der lingua Latina (litterata) bzw. grammatica und der lingua Romana (locutio, loquela, sermo vulgaris) cf. Rizzo (2002: 15-27). 516 Zu weiteren Implikationen des ars-Begriffes cf. Kap. 6.2.2. gebettet werden. Vorangestellt sollen dazu zunächst einige biographische An‐ gaben als Hintergrundinformation. Geboren in Forlì, studierte Flavio Biondo (lat. Flavius Blondus) (1392-1463) Grammatik, Poetik und Rhetorik bei Giovanni Balestrieri (14./ 15 Jh.) in Cre‐ mona, anschließend Rechtswissenschaften in Piacenza (bis 1410) und ließ sich daraufhin, zurück in Forlì, zum Notar ausbilden. Bei Reisen im Dienste ver‐ schiedener lokaler Beamter (1420-1432) durch Ober- und Mittelitalien (z. B. Ve‐ rona, Vicenza, Imola, Ferrara) lernt er Guarino Veronese (1374-1460) kennen, der ihn zum intensiven Studium der Schriften Ciceros anregt. Im Jahre 1432 wurde er nach Rom an die Kurie berufen, und arbeitete dort zunächst als Notar, dann bis zu seinem Tode als päpstlicher Kanzleisekretär und scriptor unter den Päpsten Eugen IV . (1431-1447), dem er im Zuge der Verlegung des Kuriensitzes nach Ferrara und Florenz folgte, Nikolaus V. (1447-1455), Kalixt III . (1455-1458) und Pius II . (1458-1464). Zwischenzeitlich fiel er unter Nikolaus V. einige Jahre in Ungnade und nutzte dies für Aufenthalte in Mailand (Manuskriptrecherche), Venedig und Neapel am Hofe von Alfons V. von Aragón (1396-1458, Kg. ab 1416). Seine Hauptwerke als Historiker und Antiquar schrieb er erst nach dem hier vorgestellten Disput von 1435: Roma instaurata, libri III (1444-1446, publ. 1471), Historiarum ab inclinatione Romanorum imperii, Decades III (1435-1453, publ. 1474), De originibus et gestis Venetorum (1454), Italia illustrata (1448-1458, publ. 1453), Roma triumphans, libri X (1457-1459, publ. 1473-1475), Populi Veneti his‐ toriae, liber primus (1462). Weitere Werke wären z. B. De expeditione in Turcos (1453) zum Fall von Konstantinopel, Borsus sive de militia et iurisprudentia (1460), eine Abhandlung zum Verhältnis von Militärwesen und Jurisprudenz, sowie das hier relevante sprachtheoretische Traktat De verbis Romanae locu‐ tionis (1435) (cf. Fubini 1968: 536-556; Jaumann 2004: 103-104). Die Vorstellung Flavio Biondos von Sprache an sich und der Sprachsituation der römischen Antike im Besonderen ist, wie diejenige Brunis, grundsätzlich von der über das Mittelalter überlieferten Idee vom Lateinischen als Sprache der Literatur und Wissenschaft geprägt, 515 einer Sprache, die zu beherrschen eine Kunst (ars) darstellt, 516 weil sie durch grammatische Regeln fixiert ist, zu deren Erlernung es eines langen und mühevollen Studiums bedarf. Daraus sowie aus der damit verbundenen, kanonisierten Literatur erwächst ihr ein Prestige, welche sie allen anderen Sprachen überlegen macht. Ohne das Primat des La‐ 317 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 517 Fubini (1961: 536) verweist auf die Wichtigkeit von Biondos Denkansatz im Rahmen des Humanismus, da er erstmals dezidiert die historische und die sprachliche Perspektive gewinnbringend vereint. teinischen in Frage zu stellen, ist Biondo jedoch derjenige, der die bis dahin so eindeutige Trennung von ars vs. natura, d. h. grammatica vs. volgare (cf. Dante), aufbricht und das Bild des Lateinischen in verschiedener Hinsicht grundsätzlich verändert. Marchiò (2008: 27) verweist darauf, daß für Biondo - im Gegensatz zu Bruni und der antiken und mittelalterlichen Tradition (cf. z. B. auch Varro in Kap. 4) - eben latinitas und grammatica gerade nicht identisch sind. Tavoni (1984) stellt zudem heraus, inwiefern sich Biondo hier terminologisch von Bruni unetrscheidet (cf. auch Kap. 6.2.3.1): Ciò che nel Bruni è contratto nella nozione di latine litterateque loqui viene sciolto da Biondo, e distinto in due termini, entrambi assenti nel Bruni: latinitas e grammatica. Si vede in questo una sesta e fondamentale opposiozione fra le due teorie: nella seconda si esse il latino, riconosciuto come lingua storico-naturale, non fa più tutt’uno con la coscienza riflessa di esso. (Tavoni 1984: 35) Diese Abweichung von der mittelalterlichen Konzeption der Sprache (cf. Kap. 6.1.5) wäre kaum denkbar ohne den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Renaissance, die Begeisterung für die Antike, den aufkommenden studia hu‐ manistas und damit verbunden das antiquarische und historische Interesse an alten Quellen (cf. Kap. 6.1.1). Erst im Rahmen des Entstehens einer Geschichts‐ wissenschaft oder zumindest der ersten Ansätze eines historischen Verständ‐ nisses für frühere Epochen ist überhaupt die in der hier zu Beginn skizzierten mündlichen Diskussion auftretende Frage nach der Sprachsituation in der An‐ tike möglich geworden. Die Tatsache, daß dann im Zuge dieses Disputes bishe‐ rige Vorstellungen neu durchdacht und zum Teil revidiert wurden, ist ebenfalls nur in diesem historischen Kontext denkbar. Und endlich ist es wohl auch kein Zufall, daß derjenige, der entscheidend Neues in die Diskussion einbrachte, eben Flavio Biondo war. 517 Neben seinem historischen Interesse war auch die Passion für alte Manu‐ skripte (cf. Raffarin 2015: 24), die er mit Poggio Bracciolini teilte, womöglich eine wichtige Voraussetzung für die von ihm beleuchteten Thesen. Zumindest war dieses Phänomen zeittypisch und ein wichtiges Element in der Entstehung von Philologie und Geschichtswissenschaft. In Mailand entdeckte Biondo das einzig erhaltene Manuskript von Ciceros rhetorischer Schrift Brutus, die er unter an‐ derem zur Grundlage seiner Argumentation in vorliegendem Traktat benutzte. Auch Bruni, als einer der più dotti seiner Zeit, hatte eine umfassende Kenntnis über die antiken Schriften der Rhetorik, interpretiert sie jedoch nicht wie Bi‐ 318 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 518 Cf. beispielsweise die ausführliche Erörterung der einzelnen Redestile im Orator. Cicero stellt die einzelnen genera orationis vor und deren Merkmale bezüglich des numerus, der verba, der conglutinatio bzw. coniunctio, der einzelnen sententiae sowie letztlich den ornatus in jeder Form (cf. Cicero, Orat. 75-100 (23-29); 1988: 62-81). In De oratore bringt er diese verschiedenen Aspekte an einer Stelle noch einmal auf den Punkt: „Exposui fere ut potui quae maxime as ornatum orationis pertinere arbitrabar; dixi enim de sin‐ gulorum laude verborum, dixi de coniunctione eorum, dixi de numero atque forma“ (Cicero, De orat. III, 199 (52); 2007: 406). 519 Beispielhaft sei dazu nur die Untersuchung von Cappelletto genannt, die bezüglich der antiken Quellen für Biondos Geschichtswerk u. a. folgende Autoren - die explizit bei ihm genannt sind oder rekonstruiert werden können - aufführt: Caesar (100-44 v. Chr.), Pompeius Trogus (1. Jh. v. Chr.), Cornelius Gallus (ca. 69 / 70-25 / 26 v. Chr.), Sallust (86-35 v. Chr.), Plinius d. Ä. (ca. 23 / 24 v.-79 n. Chr.), Tacitus (ca. 55-120 n. Chr.), Sueton (ca. 70-140 n. Chr.), Eusebius v. Caesarea (ca. 260-339 n. Chr.), Hieronymus (ca. 348-420 n. Chr.), Claudian (ca. 370-403 n. Chr.), Orosius (ca. 385-418 n. Chr.), Ablabius (5./ 6. Jh. n. Chr.), Paulus Diaconus (ca. 725 / 730-799 n. Chr.) sowie die Historia Augusta (4./ 5. Jh. n. Chr.) (cf. Cappelletto 1983: 51-78). 520 Cf. bereits das Bekenntnis Petrarcas ein Ciceronianer zu sein: „Si mirari autem Cice‐ ronem, hoc est ciceronianum esse, ciceronianus sum“ (Petrarca, De ign. 1993: 124). ondo, der sie noch intensiver als historische Quelle zur Sprachsituation der An‐ tike benutzt und nicht rein als antike (und überzeitlich gültige) Anleitung zur Redekunst. Tavoni spitzt die Gegenüberstellung dahingehend zu, daß er allein Biondos These als quellenbasiert postuliert: „Tutta l’ampia parte innovativa del trattato di Biondo, orgogliosamente indicata come tale […], si fonda su fonti: fonti coeve alla situazione di cui si discute […]“ (Tavoni 1984: 13). Biondo rekurriert dabei meist auf Cicero und dessen Schriften zur Rhetorik, d. h. auf den Orator, auf De oratore sowie den von ihm mit wiederentdeckten Brutus, 518 der ihm ganz offensichtlich viel bedeutet (cf. dazu Tavoni 1984: 20-21). Weiterhin ist belegt, daß er auch die pseudo-ciceronianische, anonyme Schrift Rhetorica ad Herennium kannte sowie die von Poggio Bracciolini wiederent‐ deckte Institutio oratoria Quintilians. Daneben ist als historische Quelle für die Frühzeit vor allem Livius seine Referenz. Die Tatsache, daß Biondo ebenso wie Bruni und andere der zeitgenössischen eruditi über ein breites Spektrum an Kenntnissen der antiken Autoren und deren Schriften verfügt - neben den bei Bruni erwähnten frühen Komödiendichtern Plautus und Terenz, weiteren Schriften Ciceros, Caesars und anderen kanonisierten Autoren sowie der bereits im Mittelalter weitverbreiteten Grammatik Priscians, versteht sich von selbst und muß an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 519 Erwähnenswert ist jedoch sicherlich die Präponderanz der Cicero-Referenz, welche sich unzwei‐ felhaft in das Bild der in der Renaissance, vor allem auch von Bruni, eingeleiteten Reform des Lateins nach dem ciceronianischen Modell, einfügt. 520 Hier wird die Wiedergeburt der Antike auch in der Sprache greifbar. 319 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 521 Die Tatsache, daß das Latein der Humanisten im Vergleich zu heute immer noch eine gewisse Lebendigkeit aufwies, ist evident: „On notera […] que le latin des humanistes n’est pas une langue morte, mais bien vivante, utilisée dans les discours, les correspon‐ dances, les écoles, les conversations“ (Raffarin 2015: 24). Biondo selbst äußerst sich dies‐ bezüglich jedoch nicht, die Unterscheidung zwischen lingua viva und lingua morta sowie Zwischenstufen ist Teil einer späteren humanistischen Diskussion (cf. Faithfull 1953: 280-282 sowie ausführlich Kap. 6.1.4 vorliegender Arbeit). 522 Bruni war zwar auch eine Lebendigkeit des Lateinischen in der Antike bewußt, er bleibt aber durch seine eher am zeitgenössischen Latein ausgerichteten synchronen Analyse in diesem Aspekt deutlich hinter Biondo zurück, so daß die Veränderlichkeit bei ihm in den Hintergrund tritt. Biondo verändert die Sicht auf die Vorstellung der Sprache radikaler als es zunächst scheint. Auch wenn er grundsätzlich, was das Prestige und den Cha‐ rakter des Lateinischen anbelangt, traditionellen Mustern verhaftet bleibt, ge‐ lingt es ihm mit Hilfe der in der Rhetorik verankerten Stilebenen das Lateinische aus seiner „Erstarrung“ als Kunstsprache zum Leben zu erwecken. So wie bereits Dante das volgare seiner Zeit als lebendige Sprache mit seiner diasystematischen Vielfalt beschrieben hat, stellt nun Biondo auch das Lateinische als lingua viva dar, 521 zumindest in seinem Gebrauch in der Antike. 522 Er erkennt deutlich, daß es in einer Sprache Heterogenität geben kann, also variationelle Vielfalt, und sie trotzdem als Einheit, also als eine klar umrissene Sprache bestehen bleibt (cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 156). Damit verknüpft ist für ihn auch eine etwas andere Sicht auf die Grammati‐ kalität des Lateinischen. Denn durch das Postulat einer graduellen Abstufung zwischen der Sprache des Volkes und der eigentlichen grammatica, also dem literarischen Latein der docti, gesteht er dem volgare bzw. dem niedrigsten Stil zumindest gewisse Grundlagen von grammatischen Strukturen zu, die es den Sprechern ermöglichen, auch die prestigereichere Varietät zu erlernen (cf. Co‐ seriu / Meisterfeld 2003: 156). Das zweite Novum bei Biondo besteht darin, daß er die bis dahin vorherr‐ schende Vorstellung von der / den Sprache(n) der Antike, die gleichsam statisch bis in die eigenen Epoche existieren würde(n), durchbricht. Die Tatsache, daß Sprache sich wandelt, also einer Dynamik unterliegt, hat prinzipiell zwar schon Dante erkannt, aber nicht in Bezug auf das Latein bzw. er hat dies nicht explizit formuliert, obwohl er die Verwandtschaft der zeitgenössischen Volkssprache und des Lateins thematisiert hatte. Dieser von Biondo in wenigen, aber klaren Worten formulierte historische Kausalnexus wird in der modernen Forschung im Rahmen der Beschreibung dieses dann expandierenden Diskurses im früh‐ neuzeitlichen Europa „Barbarenthese“ oder „Korruptionsthese“ genannt (it. 320 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 523 Auch als „Germanenthese“ oder speziell in Italien als „Langobardenthese“ benannt (cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 159). 524 Zur Rekonstruktion der Geschichte der Langobarden-Herrschaft in Italien und dem daraus abgeleiteten Einfluß dieser germanischen gens auf die historischen Entwick‐ lungen stützt sich Biondo vor allem auf die Historia Langobardorum (Ende 8. Jh.) von Paulus Diaconus (725 / 730-799) (cf. Marcellino 2016: 50). teoria della catastrofe, cf. Marrazzini 1993: 259-260), 523 die Grundlage des Jahr‐ hunderte später von Walther von Wartburg formulierten Superstratmodells. Zeitgenössisch ist hingegen von corruptio zu sprechen (noch nicht explizit bei Biondo) in Anlehnung an die aristotelischen Konzepte von generatio, alteratio und corruptio (cf. Schunck 2003: 17-18; Neis 2009 bzw. Kap. 6.1.3). Biondo selbst erweitert sein Konzept dahingehend, daß er in seiner späteren Schrift Italia illustrata zu den Superstratvölkern Goten und Vandalen noch die für Italien so wichtigen Langobarden hinzunimmt, deren Wichtigkeit ihm nach eigenem Bekunden erst zu jenem Zeitpunkt bewußt wurde. 524 Nam Longobardi omnium qui Italiam invaserint externorum superbissimi, Romani imperii et Italiae dignitatem evertere ac omnino delere conati, leges novas quae alicubi in Italia exstant condidere, mores ritus gentium et rerum vocabula immutavere, ut affirmare audeamus locutionis Romanae Latinis verbis qua nedum Italia sed Romano quoque imperio subiecti plerique populi utebantur, mutationem factam in vulgarem Italicam nunc appellatam, per Longobardorum tempora inchoasse. (Biondo, Ital. Il‐ lustr., 374 G; 2005: 166). Die Langobarden sind dabei für ihn die Hauptzerstörer der römischen Kultur, veränderten sie doch sogar die rerum vocabula und sind schließlich dafür ver‐ antwortlich, daß das Lateinische sich zum zeitgenössischen volgare entwickelt hat (in vulgarem Italicam) (cf. Mazzocco 1993: 41). Dieses so innovative Modell durch die Invasion der Barbaren und ihren sermo barbarus die Veränderungen des Lateins zu erklären, ist in Zusammenhang mit der für die Zeitgenossen bestehenden Unerklärbarkeit des Untergangs des Im‐ perium Romanums mit seiner überlegenen Kultur zu sehen, eine Aporie, für die es keine Lösung zu geben schien. Wie hoch die zivilisatorische Leistung der Römer von Biondo angesetzt wird, zeigt sich im Vorwort seines Werkes Roma triumphans, wobei er auch - und dieser bisher in der Forschung vernachlässigte Aspekt sei hier besonders hervorgehoben - die Integrationskraft der latein‐ ischen Sprache anspricht (Latinae linguae communionem) und demnach indirekt so etwas wie den Beitrag der Latinisierung im Rahmen einer Romanisierung zu einer pax romana thematisiert. 321 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 525 Biondo erklärt in seinen Decades (Beginn der dritten Dekade des ersten Buches), daß er der Erste sei, der diesbzüglich auch über den „Sprachverfall“ (vocabulorum mutatio) berichtet: „Unde primis et presenti tempore solis incumbet nobis onus periculum faci‐ undi, quo pacto barbaris et omnino insolitis verborum ineptiis latinitas possit elegan‐ tiave servari. Erunt vero multa in quibus nos circumlocutio adiuvabit, sed rerum sin‐ gularum quas omnino ut sunt intelligi oportet vocabulorum mutatio talis est facta, ut si vetusta illis exponendis attulero, mea ipse relegens scripta non intelligam“ (Biondo, Decad. I, 3 (F), 21-23). Romani enim maximam orbis partem suae subactam dictioni ita pacaverunt cultamque bonis moribus et artibus reddiderunt, ut disiunctae mari montibusque et fluminibus separatae gentes ac linguis litteraturaque differentes populi per Latinae linguae com‐ munionem perque communes omnibus Romanos magistratus una eademque civitas sint effecti […]. (Biondo, Roma trium., Prooemium, 2; 2016: 6) Umso drängender ergibt sich daraus die vexata quaestio, wie es sein konnte, daß ungebildete Barbarenvölker über ein Volk triumphierten und es zum Untergang brachten, welches den Inbegriff der Hochkultur verkörperte (cf. Maz‐ zocco1993: 40-41), literarische Werke wie diejenigen Ciceros, Vergils und Ho‐ razens hervorbrachte sowie Bauwerke und Statuen, wie sie in Rom und ganz Italien noch sichtbar waren? Diese für die von der Antike faszinierten Gelehrten der Renaissance als zivilisatorische Urkatastrophe verstandene Veränderung im Verlauf der Geschichte als Erklärungsvehikel zu verwenden, war für den über historisch weitreichende Kenntnisse verfügenden Biondo offensichtlich eine naheliegende Möglichkeit, den Verlust der antiken Latinität in seiner volle‐ ndeten Form zu erklären und gleichzeitig die schon bei Dante „gefühlte“ Ver‐ wandtschaft zum eigenen volgare plausibel zu machen. Mazzoccos (1993: 39) Einschätzung „Nevertheless, Biondo, by viewing this evolution in historical rather than in biblical terms, demonstrates a greater his‐ torical perspicacity than Dante“ ist nur insofern zuzustimmen, daß Biondo si‐ cherlich mit einem historischen Bewußtsein an die Auseinandersetzung mit der Antike herangeht, welches bei Dante entsprechend seiner noch großenteils mit‐ telalterlich geprägten Auffassung noch nicht in dieser Weise ausgebildet war; dennoch entwickelt Dante seine These zur Veränderlichkeit und Historizität der Volkssprache nicht allein am biblischen Modell, sondern vielmehr aufgrund ei‐ gener Beobachtungen der Wandelbarkeit von Sprache im Raum und innerhalb auch kurzfristiger Zeitperioden. Marcellino (2016: 48) verweist dabei auf die Parallelen zu Biondos historischen Schriften, sowohl was die Ursache des corrompimento anbelangt, als auch be‐ züglich der zeitlichen Verortung. 525 In den Decades legt Biondo den Beginn der declinatio des Imperiums auf die Plünderung Roms durch Alarich (455 n. Chr.), 322 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 526 So verurteilt Biondo beispielsweise die Vereinfachung der Benennung eines Turmes: „quam turrim vulgo nunc verbo, ut ferme in omnibus multarum syllabarum nominibus assolet, sincopato Mesam pro Maecenatianam appellant, sicut pontem Milvium pari corruptela Mollem dicunt“ (Biondo, Roma Inst. I, C; 2005: 121). was in De Verbis mit dem von ihm postulierten Niedergang des Lateinischen durch die beginnende „Barbarisierung“ des Lateinischen und dem Wandel zum volgare im 5. Jh. durch die Westgoten korreliert. Was in De verbis nicht explizit wird, weil nur von den Goti die Rede ist, zeigt sich in Biondos Italia Illustrata: Aus einer Bewunderung für Theoderich und die Ostgoten, abgeleitet aus der Lektüre der Variae von Cassiodor (ca. 485-580 n. Chr.) sowie der Historiae adversos paganos von Orosius (4./ 5. Jh. n. Chr.), spricht Biondo jene vom Stigma der Verantwortung für den Niedergang des römischen Reiches und der Kultur frei und lastet es den zuvor nur kurz in Italien weilenden Westgoten an (cf. Marcellino 2016: 51-52). Raffarin (2015: 20) macht darauf aufmerksam, daß es hier eine Parallele zwi‐ schen den von Biondo in Roma instaurata beschriebenen Veränderungen in den Bezeichnungen der römischen Bauwerke gibt, die die „Barbaren“ zu verant‐ worten hätten, und dem allgemeinen Niedergang der lateinischen Sprache. 526 Sed illud maxime impellit, quod tanta fuit praeteritorum diu saeculorum hominibus studiorum humanitatis ignoratio, ut cum pauca singulis in urbis ipsius aedificiorum partibus quae olim fuerint, non ab imperita solum multitudine, sed ab his etiam qui doctrina cultiores sunt sciantur, tum multa ac paene omnia falsis et barbaris appella‐ tionibus inquinata vel potius infamata cernamus. (Biondo, Roma Inst. I, praefatio; 2005: 11) Es ist gewissermaßen bezeichnend, wie dieses Element des kulturellen decline sich bei Biondo durch seine Gesamtwerk zieht - durchaus auch zeittypisch, aber bemerkenswert in Bezug auf den sprachlichen Fokus. Synthese Flavio Biondo hat mit seinem Traktat dankenswerterweise den mündlichen Disput aus dem Vorzimmer des Papstes überliefert, wenn auch zweifellos mit einer persönlichen Darstellung der Ereignisse und der einzelnen Argumente. Seine gleichsam doppelte Perspektive, nämlich die eines Rhetorikers und eines Historikers, und seine Bereitschaft, in Teilen mit dem traditionellen Weltbild der Sprache zu brechen, ermöglicht es ihm, daß er dem Latein zum ersten Mal in der bisherigen Sprachreflexion den Status einer lingua viva zuerkennt. Er attri‐ buiert dem Latein dabei eine innere Differenzierung, die wir heute als zumindest in Teilen diasystematisch diversifiziert benennen können sowie - was aus da‐ 323 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 527 Ein direkter Hinweis auf De vulgari eloquentia ist bei Biondo nicht zu finden, jedoch verweist Campana (1984: 634) auf die Verbundenheit Biondos mit Dante (und Petrarca) und darauf, daß er auch verlorene Briefe Dantes in seinem Geschichtswerk zitiert. 528 Mazzocco (1993: 39) spricht in Bezug auf die gemeinsame Sprachauffassung bei Dante und Biondo von languages als evolutionary entities und social phenomena. Dazu ist nochmals zu ergänzen, daß bei Dante dies für das Lateinische als eine durch Konvention erschaffene regulierte Kunstsprache nicht gilt. maliger Sicht durchaus noch radikaler ist - eine diachronische Entwicklung, die er zudem mit historisch externen Faktoren untermauert. All diese potentiellen Eigenschaften einer Sprache hatte im Prinzip bereits Dante geschildert, 527 jedoch betraf dies immer nur das volgare, also die Muttersprache, die der conditio hu‐ mana folgend unbeständig war, 528 die Kunstsprache Latein hatte genau das Ge‐ genteil zu sein und ihre Funktion als Schriftsprache und Kulturträger zu erfüllen. Biondo liefert demnach mit seiner „Barbarenthese“ die erste Erklärung für den Ursprung des volgare und damit indirekt für den der romanischen Sprachen. Daraus wäre nach der Argumentationlogik im Rahmen der questione della lingua, die in vielerlei Hinsicht mit der Frage nach dem volgare antico verknüpft ist, ein größeres Prestige der eigenen Volkssprache ableitbar. Biondo verzichtet jedoch darauf weitgehend. Hierin zeigt sich auch ein wenig die Komplexität der einzelnen Positionen, denn er ist keineswegs ein eindeutiger Antipode zu Bruni, auch wenn er in wesentlichen Punkten nicht dessen Meinung ist. Die Intention Biondos ist eben nicht die Schwächung des Prestiges des Lateinischen, das für ihn nach wie vor die wichtigsten Kultursprache und high variety ist (cf. Tavoni 1984: 27), sondern der Versuch einer historischen Erklärung des Niedergangs des römischen Reiches und des damit verbundenen Verlustes dieser - vor allem literarischen - Hochkultur, die die res publica literaria der Renaissance wieder‐ aufleben lassen möchte. Obwohl er also scheinbar dem Image des Lateinischen Schaden zufügt, ist er überzeugter Lateinhumanist. 6.2.3.3 Resümee des Initialdisputs Der Beginn der Debatte um die Sprachkonstellation der Antike, die über mehr als hundertfünfzig Jahre mehr oder weniger explizit in den Streitschriften und Traktaten der Humanisten lebendig gehalten wird, nimmt ihren Ausgang in den soeben beschriebenen beiden Stellungnahmen von Leonardo Bruni und Flavio Biondo, weshalb diesen in vorliegender Untersuchung ein breiterer Raum der Darstellung gewährt wird; auch trotz und wegen der vor allem in jüngster Zeit dazu erwachsenen relativ umfangreichen Forschungsliteratur. Um den Blick für die sprachtheoretischen Feinheiten der Diskussion zu op‐ timieren, wurde entsprechend der zugrundegelegten Methode eine doppelte 324 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 529 Zu einer schematischen Gegenüberstellung der diasystematischen Aspekte sowie des damit verknüpften Sprachwandels bei Bruni und Biondo cf. Schöntag (2017a: 560, 563). Perspektive in der Analyse der Traktate eingenommen: diasystematisch / sozi‐ olinguistisch vs. rekontextualiserend. Dadurch konnten einige Details deutli‐ cher herausgearbeitet werden, zumal in der bisherigen Forschung - wenn über‐ haupt - Begriffe wie ‚diastratisch‘ oder ‚diglossisch‘ eher unsystematisch angewandt wurden bzw. im Rahmen einer traditionellen, gesamt-philologischen Betrachtung nur kursorisch erschienen (cf. Kap. 2). Der hier nun geleistete Ver‐ such, die jeweilige, inhärente Sprachtheorie systematisch unter dem Blick‐ winkel moderner sprachwissenschaftlicher Begrifflichkeit zu erfassen, zeitigte folgende Resultate: Ausgehend von der Erfahrung der eigenen zeitgenössischen Sprachkonstel‐ lation formuliert Leonardo Bruni für die römische Antike grundsätzlich eine Diglossie-Situation mit zwei funktionell getrennten, verwandten Sprachen. Diese auch bereits in der Forschung aufscheinende Grundthese ist bei genauerer Betrachtung jedoch dahingehend zu präzisieren, daß Bruni nicht nur das Latein im Sinne der grammatica als high-variety interpretiert, sondern einem elabo‐ rierten volgare in bestimmten Textsorten diese Funktion der Distanzsprachlich‐ keit durchaus zugesteht und somit sein Sprachmodell eher als triglossisch ein‐ zustufen wäre. Nicht zu vernachlässigen und bisher ebenfalls kaum thematisiert ist auch die Tatsache, daß er zwar die Beherrschung der high-variety, welche eine zu erlernende ist, nur den Gelehrten (docti) zuspricht, während die low-va‐ riety, also das volgare, die Sprache des illiteraten, d. h. ungebildeten und schreib‐ unkundigen Volkes sei, dabei jedoch an einigen Exempeln durchaus die Mög‐ lichkeit einer gewissen „Durchlässigkeit“ der Bildungsschichten zeigt bzw. die potentielle Fähigkeit, sich elegant und „korrekt“ auszudrücken. Flavio Biondo argumentiert keineswegs in allen Punkten gegen Bruni, liegt ihm doch der Erhalt und die Pflege der lateinischen Sprache in gleicher Weise am Herzen. In Bezug auf die Kernaussage Brunis, nämlich der so deutlichen Diskrepanz zwischen der antiken Volkssprache und dem Latein der Gebildeten bzw. dem literarischen Latein, widerspricht er jedoch vehement. Für ihn bildet die Latinität in jener „klassischen“ Zeit der Antike eine Einheit, die er immer wieder betont. Nichtsdestoweniger sieht er Unterschiede im Gebrauch des La‐ teinischen zwischen den verschiedenen Volksschichten, die er allerdings nicht dichotomisch faßt, sondern graduell. Mit Hilfe der rhetorischen Schriften Ci‐ ceros und den dort formulierten Redestilen konstruiert er ein in sich dreifach abgestuftes Schema der Sprachverwendung, welches man diasystematisch be‐ trachtet als diastratisch und diaphasisch differenziert klassifizieren kann. 529 325 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 530 Cf. dazu in Kap. 3.1.1 vorliegender Arbeit die nicht unberechtigte Kritik am Modell von Koch / Oesterreicher (2011) an der strikten Trennung von Medium und Konzeption bzw. an der nicht zu ignorierenden Korrelation von Diaphasik und Medium. Bisher in der Forschung keine Erwähnung fand die Tatsache, daß bei beiden Disputanten auch eine diamesische Komponente erkennbar ist, denn der Un‐ terschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist ihnen durchaus bewußt, auch wenn dies in der jeweiligen Argumentationskette nicht im Vordergrund steht. Vielmehr werden hierbei stilistische, also diaphasische Auffälligkeiten und damit konzeptionelle Merkmale mit dem entsprechendem Medium ver‐ mischt. 530 Biondo formuliert letztlich nicht nur eine Architektur der lateinischen Sprache und attribuiert ihr somit eine zuvor nicht wahrgenommene Lebendig‐ keit, sondern skizziert auch eine diachrone Entwicklung. Mit der sogenannten „Barbarenthese“ liefert er zudem ein erfolgreiches Erklärungsmodell, welches im Kern die Grundlage des heutigen Strata-Modells darstellt. Die bei Biondo noch feststellbare Ausschließlichkeit, die andere als die von ihm genannten ex‐ ternen Faktoren ausblendet - eine quasi absolute Superstratheorie - schmälert seine innovative Kraft nicht; eine Relativierung bleibt späteren Disputanten der Debatte überlassen (cf. z. B. Castelvetro, Cittadini). Im Rahmen einer rekontextualisierenden Betrachtung der Argumente der beiden Kontrahenten, also der zeitgeschichtlichen Verortung, sei zunächst mit Fubini auf die nicht zu unterschätzende potentielle Offenheit in der Debatte hingewiesen, dahingehend, daß die Renaissance-Kultur Italiens ein intellektu‐ elles Klima generierte, welches es möglich machte, überholte Konzepte zu hin‐ terfragen - wenn sicherlich auch nicht alle - und neue anzudenken: […] that the dispute did not turn on providing the justification of a particular thesis (for or against the vernacular or for or against this or that kind of ideal Latin eloquence) but that the dispute itself was significant, as if it were testing the consistency of tra‐ ditional concepts conventionally accepted up until that moment, such as the notion of the mother language and the grammatical one, of rough versus eloquent speech. (Fubini 2003: 11) Zuvörderst steht sicherlich die Frage im Raum, warum gerade zu jenem Zeit‐ punkt diese Fragestellung aufkam, die dann so fruchtbar immer wieder aufge‐ nommen wurde. Abgesehen davon, daß historische Ereignisse stets auch in ge‐ wisser Weise der Kontingenz unterliegen, verdichten sich hier jedoch bestimmte Faktoren, die letztendlich diesen Disput begünstigt haben. Die bereits thematisierte Grundvoraussetzung war sicherlich die Hinwen‐ dung zur Antike, das verstärkte Interesse an den Relikten der römischen Epoche, 326 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 531 Cf. beispielsweise den Auftrag Papst Eugen IV. an Bruni, die Monumente Roms zu ka‐ talogisieren, was zu dessen Schrift Roma instaurata führte. 532 Das Mittelalter war im Wesentlichen in Italien und Westeuropa ein lateinisches, so daß die Wiederentdeckung der griechischen Antike als ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal der Renaissance identifiziert werden kann. So ist es auch erklärbar, daß zu jener Zeit eine Charakterisierung Brunis als ein Gelehrter in utraque lingua als lobende Referenz in Bezug auf seine Griechischkenntnisse zu verstehen ist, in einer zuvor vorwiegend einsprachig lateinischen Schriftkultur (cf. Maaß 2005: 11). 533 Bereits Petrarca rühmt sich seiner umfassenden Bibliothek mit sonst nicht verfügbaren Schriften Platons: „Nec literatus ego, nec Grecus, sedecim vel eo amplius Platonis libros domi habeo; quorum nescio an ullius isti unquam nomen audierint“ (Petrarca, De ign. 1993: 120). 534 Später wird Poggio Bracciolini gegenüber Lorenzo Valla die imitatio des ciceroniani‐ schen Stils explizit als wichtigstes Element der Erneuerung vertreten, während Valla Quintilian den Vorzug gibt. Die ganze querelle des Ciceronianismus läßt sich in ihrem Höhepunkt ca. zwischen 1450 und 1530 verorten, doch ist die Grundproblematik schon zuvor präsent (cf. Raffarin 2015: 26-27). insbesondere was die Architektur und die Literatur anbelangt. 531 In diesem Kon‐ text ist auch die Entstehung der studia humanitas zu sehen und damit einher‐ gehend ein verstärktes Interesse an antiken Manuskripten, nicht nur latein‐ ischen, sondern auch griechischen. Gerade das Griechische fungiert gewissermaßen als „Katalysator“ einer Erneuerungsbewegung hin zu den Quellen (ad fontes) und der Schaffung eines neuen Bewußtseins. 532 Das anti‐ quarische Interesse mündet schließlich in ein philologisches, die „Bücherjäger“ Petrarca, Coluccio Salutati, Niccolò Niccoli, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni u. a. werden zu Editoren und ersten Rezipienten verlorener antiker Schriften (cf. Kap. 6.1.1). 533 Mit diesen Schriften und der allgemeinen intensiveren Beschäfti‐ gung auch bereits bekannter sowie dem Wunsch, sich der „klassischen“ Antike auch sprachlich wieder anzunähern, entsteht die Erneuerungsbewegung des zeitgenössischen Lateins, vor allem auf Basis der kanonischen Texte Ciceros (cf. Clavuot 2002: 59-61). Neben dem allgemeinen historischen Interesse, der auf‐ keimenden Geschichtswissenschaft, ist der Ciceronianismus und die Erneue‐ rung des Lateins nach klassischem Vorbild im Rahmen des Lateinhumanismus ein wichtiger Movens für diese Diskussion: 534 Le débat ne fut pas seulement motivé par une curiosité académique mais par l’exigence de comprendre la nature de ce latin classique que les humanistes, par leurs études infatigables, s’employaient à restaurer. (Raffarin 2015: 24) Der Blick auf die Antike verhilft den Gelehrten einerseits zu einem geschärften Blick auf die Sprachkonstellation der eigenen Zeit, andererseits dient die eigene Epoche als Modell für ein Postulat im Hinblick auf die Verhältnisse im alten 327 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 535 Die Verknüpfung von Leben und Werk der beiden Protagonisten Bruni und Biondo ist auf mehreren Ebenen angesiedelt: bezüglich ihrer Ämter, ihrer persönlichen Bekannt‐ schaft und der zu anderen maßgeblichen Gelehrten der Zeit, dem gleichzeitig histori‐ schen und philologischen Interesse sowie der lateinhumanistischen Grundeinstellung. Rom. Bei beiden Disputanten hängt dabei die Frage der Verständlichkeit eng mit der Konsultation der rhetorischen Schriften Ciceros (Orator, De oratore, Brutus) zusammen (Raffarin 2015: 24), weil bei Cicero Latine loqui mit ‚sich dem Volke verständlich machen‘ gleichgesetzt wird, d. h. es geht um die passive Rezept‐ ionsfähigkeit, was ja für die Rhetoriklehre logischerweise im Vordergrund steht. Dadurch ergibt sich eine gewisse Schieflage in der Betrachtung, da die aktive Sprachbeherrschung entweder in den Hintergrund rückt oder mit der passiven gleichgesetzt wird. Die Humanisten sind jedoch zu stark von diesen antiken Quellen beeinflusst und lösen sich nur schwer davon. In Bezug auf die in der Forschung mitunter betriebene starke Polarisierung der beiden Positionen Brunis und Biondos sei hier dezidiert noch einmal auf wenigsten zwei Faktoren hingewiesen: Zum einen handelt sich bei dem Brief Brunis nur um ein kurzes Antwortschreiben auf das weitaus umfassendere Traktat Biondos, so daß vor allem bezüglich der eigentlichen Meinung Brunis einiges im Unklaren bleibt (cf. tesi pseudo-bruniana, Marazzini 1993a: 263). Dieser Einschätzung eines Mißverständnisses zwischen Bruni und Biondo ist bereits von Tavoni (1984: 30) postuliert worden, der sich die Frage stellt, ob Bruni wirk‐ lich dachte bzw. darlegen wollte, daß das Volk (vulgus) kein Latein gesprochen hätte oder nicht vielmehr nur eine bestimmte Art von Latein, d. h. das gram‐ matische, regelhafte und elaborierte der Gebildeten. Das Mißverständnis beruhe also laut Tavoni darauf, daß Biondo in dem Hendiadyoin Latine litterateque eine Opposition zwischen sermo latinus und sermo vulgaris herausgelesen hätte, Bruni dies jedoch im Sinne von Lateinisch, aber Latein der Bildungsschicht bzw. literarisches Latein intendiert hätte, also einen sermo litteratus. Diese „Überin‐ terpretation“ seitens Tavonis wurde mitunter jedoch auch kritisch gesehen (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 25-26). Dies läßt sich jedoch partiell dadurch heilen, indem man - wie hier ge‐ schehen - das Gesamtwerk der beiden Autoren in den Blick nimmt, da dies nicht nur einiges an dem Gedankengut Brunis ergänzt, sondern es auch hilft, die Po‐ sition Biondos besser einzuordnen. Zum anderen sei auch hervorgehoben, daß beide Gelehrten demselben Umfeld entstammen, sich in der gleichen Traditi‐ onsfiliation bewegen. 535 So ist die in Teilen relativ eindimensional gehaltene Abhandlung Brunis, die nur auf bestimmte Argumente Biondos eingeht, und die insgesamt so deutlich formulierte Position bei Bruni sicherlich partiell damit zu erklären, daß es ihm 328 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 536 „E sopravennero in Italia Goti, e Longobardi nazioni barbare, e strane, i quali affatto spensero quasi ogni cognizione di lettere, come appare per gli strumenti in que‘ tempi rogati, e fatti, de’ quali niente potrebbe esser più material cosa, ne più grossa, e rozza“ (Bruni, Vita di Petrarca 1672: 88). Bruni interpretiert die Situation zwar eher historisch, aber die Veränderung der Sprache schwingt durchaus mit. 537 Wenn sich aus der Gesamtheit des antiken Lateins, welches als im Wesentlichen lite‐ rarisches aufgefaßt wird, das zeitgenössische volgare entwickelt, bleibt eine Erklä‐ rungslücke in Bezug auf die Entstehung des zeitgenössischen Schriftlateins. 538 Cicero verweist indirekt auf seine doppelte Kulturprägung, die griechische und die la‐ teinische, indem er es sich zu Aufgabe macht, seinen Mitbürger die Literatur und Phi‐ losophie beider Kulturkreise nahezubringen: „[…] et iis servire, qui vel utrisque litteris uti velint sunt, si suas habent, illas non magnopere desiderent“ (Cicero, De fin. I, 10; 1988: 14). in aller Kürze darum ging, seine Sorge um den Verlust des Prestiges der latein‐ ischen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk - wie im entsprechenden Kapitel herausgearbeitet wurde (cf. 6.2.1) - auf der sti‐ listischen Eleganz der Sprache und nicht nur, wie bisher betont (cf. Tavoni 1982, Marchiò 2008), auf der grammatischen Korrektheit. Dies geht sogar so weit, daß er auch unter bestimmten Umständen ein elaboriertes volgare akzep‐ tiert. Obwohl also Bruni durch seine in De verbis dargestellte radikale und ver‐ einfachende Position als typisch lateinhumanistisch argumentierend klassifi‐ ziert werden könnte, zeigt sich bei genauerer Betrachtung und unter Hinzuziehung anderer Werke eine durchaus vorhandene Aufgeschlossenheit gegenüber dem volgare, welche wiederum bei Biondo weniger zu finden ist, der im Gegensatz zu Bruni seine Hauptwerke ausschließlich auf Latein verfaßt. In späteren Werke (cf. Vita di Petrarca) scheint bei Bruni zudem durch, daß er der von Biondo angeführten Korruptionsthese wohl doch eine gewisse Plausibilität zuspricht. 536 Biondo wiederum, dem zweifellos das Verdienst zukommt, zum ersten Mal die Heterogenität des Lateinischen erfaßt zu haben und so etwas wie Sprach‐ wandel aufzuzeigen, wodurch er die unveränderliche Kunstsprache grammatica zu einer in der Antike lebendigen Sprache macht, bleibt in Bezug auf das Ver‐ hältnis des zeitgenössischen Schriftlateins zur antiken latinitas (cf. Kap. 4.1.2.3) genauso undeutlich wie Bruni. 537 Ebenfalls nicht deutlich wird bei beiden Gelehrten die Rolle des Griechischen in der Antike, welches ja einerseits aus Cicero als wichtig erkannt werden mußte (cf. utrisque litteris), 538 andererseits auch aus der zeitgenössischen byzantini‐ schen Nachbarschaft sowie der einsetzenden verstärkten Rezeption griechischer 329 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 539 Ein wohl nicht unwesentliches Detail ist dabei, daß, im Gegensatz zu dem aufgrund seiner hervorragenden Sprachkenntnisse als Griechisch-Übersetzer tätigen Bruni, Bi‐ ondo kein Griechisch beherrschte. Texte (cf. Mazzocco 1993: 33; Raffarin 2015: 27-28). 539 Wirklich deutlich be‐ schrieben - auch wenn bereits bei Bruni und Biondo angedeutet - wird diese Konstellation der römischen Antike erst bei Bembo (v. infra, Kap. 6. 2. 10). Letztlich bleibt bei exakter Betrachtung der Schriften Brunis und Biondos sowie unter der Zusammenführung der modernen sprachwissenschaftlichen und der philologisch rekontextualisierenden Perspektive zwar im Kern eine deutlich unterschiedliche Auffassung über die Art der latinitas der Antike (cf. Kap. 4.1.2.3), die dabei kaum von den Anliegen der jeweiligen Position im Rahmen zeitgenössischer Diskussionen zu Latein und volgare zu trennen ist, dennoch stellt sich die Gemengelage der einzelnen Standpunkte und Argumente als weniger unvereinbar und konträr dar, als es auf den ersten Blick scheint. 6.2.4 Leon Battista Alberti (Leo Baptista Alberti) Der in den vorherigen Kapiteln nachgezeichnete Beginn des Disputes um die Frage der antiken Sprachsituation in Italien bzw. im Imperium Romanum wird von manchen Forschern im Kern auf die Diskussion zwischen den beiden Pro‐ tagonisten Leonardo Bruni und Flavio Biondo reduziert; die weitere Rezeption dieser Thematik wird dann nur noch kursorisch dargestellt oder im Rahmen eines weiteren Kontextes (z. B. Korruptionsthese, Lateinvs. Vulgärhuma‐ nismus) angesprochen (cf. Klein 1957; Marazzini 1993a; Reutner / Schwarze 2011; Marcellino / Ammannati 2015). Neben der grundlegenden Monographie von Tavoni (1984) sind jedoch gerade auch in neuerer Zeit weitere größere Ab‐ handlungen entstanden, die diese Diskussion zumindest im Quattrocento als weiterhin virulent thematisieren und entsprechend mehr oder weniger aus‐ führlich auch noch andere Disputanten behandeln (cf. Mazzocco 1993; Co‐ seriu / Meisterfeld 2003; Marchiò 2008; Raffarin 2015). Der erste Gelehrte, der den Disput um das volgare antico wiederaufgriff, war Leon Battista Alberti, der im Gegensatz zu Poggio Bracciolini, der der mündli‐ chen Diskussion zwar beiwohnte, sich aber erst später dazu schriftlich äußerte, nicht Teil der Gesprächsrunde im apostolischen Antichambre war. Alberti legt seine Gedanken zur antiken Sprachsituation im Vorwort zu seinem dritten Buch der Quattro libri della famiglia (1433-1440) dar. Dieses Proömium verfaßt er dabei relativ unmittelbar nach den Schriften Brunis und Biondos (ca. 1436-1437) 330 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 540 Es wird im Vorliegenden auf die Gesamtausgabe von Della famiglia rekurriert (Alberti, Della fam. 1994), da auch einige Stellen außerhalb des besagten Vorwortes von Relevanz sind. Allein das proemio des dritten Buches als zentrale Abhandlung zur Sprachreflexion Albertis findet sich auch leicht gekürzt bei Tavoni (1984: 222-225) und Marchiò (2008: 163-165, Kommentar: 166-169) sowie vollständig in der Anthologie von Scarpa (2012: 73-77). 541 Zu einem Stammbaum der weitverzweigten und einflußreichen Familie Alberti cf. Schalk (1962, Ahnentafel der gens Alberti, unpaginierter Anhang der Einleitung). 542 Wahrscheinlich ist hier die Villa del Paradiso (bzw. Paradiso degli Alberti), der Landsitz des Kaufmanns Antonio Albertis in Pian di Ripoli (Gavinana, Florenz), gemeint (cf. Mazzocco 1993: 86). 543 Hier liegt eine Referenz an Cicero vor, der für Alberti (und andere) in vielerlei Hinsicht maßgebliches Vorbild ist: „quam iuvare, vixitque tam diu, quam licuit in civitate bene beateque vivere“ (Cicero, Brut. 4 (1); 1990: 8). Das zur Formel gewordene bene beateque und als einziger der frühen Partizipanten des Disputs äußert er sich auf Italie‐ nisch, was in diesem Kontext nicht ganz zufällig ist (cf. infra). 540 Textanalyse Die Vorrede zum Dritten Buch Über das Hauswesen - so der deutsche Titel (cf. Alberti, Hausw. 1962) - ist an Francesco D’Altobianco Alberti (1401-1479) ad‐ ressiert, einen Cousin Leon Battistas, 541 der sich auch als Dichter hervortat, aber vor allem der letzte Gesellschafter der Bank der Familie Alberti in Rom (Alberti di Ponente) war (cf. Boschetto 2000: 52-53). Die freundschaftliche Widmung dieses ökonomischen Leitfadens beginnt mit der Erinnerung; wie einst Leon Battistas Vater Lorenzo di Benedetto Alberti und der Onkel Francescos, Antonio Alberti, im heimischen Garten 542 die Frage erörterten, welche Tatsache ein grö‐ ßerer Verlust für die Menschheit bzw. die Zivilisation war, der Untergang des römischen Reiches oder der Niedergang der antiken Latinität. Messere Antonio Alberti, uomo litteratissmo tuo zio, Francesco, quanto nostro padre Lorenzo Alberti a noi spesso referiva, non raro solea co’ suoi studiosi amici in que‘ vostri bellissimi orti passeggiando disputare quale stata fosse perdita maggiore o quella dello antiquo amplissimo nostro imperio, o della antiqua gentilissima lingua latina. (Alberti, Della fam. III, proemio 1-6; 1994: 187) Ergebnis dieser Überlegung für Lorenzo, den Vater Albertis, und damit auch für ihn selbst, ist die Einschätzung, daß der Verlust der lateinischen Sprache und damit auch ihrer Literatur schwerer wiegt als die nicht mehr bestehende Un‐ tertänigkeit der einstmals durch Rom besiegten Völker. Der Grund für dieses Verdikt wird indirekt ebenfalls genannt: Diese Sprache (quella emendatissima lingua) fungiert als Träger für die Anleitungen zu einem guten und glücklichen Leben (bene e beato vivere), 543 die die so geschätzten antiken Schriftsteller (no‐ 331 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini vivere geht jedoch eigentlich auf Aristoteles zurück, der dies als Staatsziel formuliert hat (eudaimonia). bilissimi scrittori) verfaßt hatten, was für Alberti hier in humanistisch philoso‐ phischer Interpretation das Essentielle darstellt. Né dubitava nostro padre a noi populi italici cosí trovarci privati della quasi devuta a noi per le nostre virtú da tutte le genti riverenza e obedienza, molto essere minore infelicità che vederci così spogliati di quella emendatissima lingua, in quale tanti no‐ bilissimi scrittori notorono tutte le buone arti e bene e beato vivere. (Alberti, Della fam. III, proemio 6-12; 1994: 187) Im Folgenden drückt Alberti noch einmal den von ihm empfundenen Vorrang der Sprache und der damit verbundenen Kultur vor dem politischen Konstrukt aus. Wenn er formuliert, daß das Prestige des römischen Reiches (lo splendo del nostro imperio), seine Strahlkraft auf den Okzident, in direkter Abhängigkeit von der Lebendigkeit des Lateinischen (ogni lume e notizia) zu sehen ist bzw. von der intakten Tradierung der in dieser Sprache abgefaßten Schriften sowie der da‐ durch transportierten Inhalte, so zeigt dies sehr deutlich, welche Bedeutung er der lateinischen Schriftkultur beimißt. E pare a me non prima fusse estinto lo splendor del nostro imperio che occecato quasi ogni lume e notizia della lingua e lettere latine. (Alberti, Della fam. III, proemio 22-24; 1994: 188) Der Verlust der antiken Latinität oder vielmehr ihrer Blüte ist für Alberti das zentrale Thema, welches er zu erklären sucht, und so ist auch in seinen Aus‐ führungen der nächste Schritt, diese kulturelle „Urkatastrophe“ mit der Kor‐ ruptionsthese zu veranschaulichen, indem er varie nazioni für die sprachlichen Veränderungen verantwortlich macht (Gallici, Goti, Vandali, Longobardi). Dabei geht es ihm auch um die Details des Spracherwerbs und der dadurch hervorge‐ rufenen Vermischung (questa mistura) bzw. „Verwilderung“ (insalvatichí e vizi‐ ossi) des Lateinischen, der alles überragenden Kultursprache (nostra prima cul‐ tissima ed emendatissima lingua). Fu Italia più volte occupata e posseduta da varie nazioni: Gallici, Goti, Vandali, Long‐ obardi, e altre simili barbare e molto asprissime genti. E, come o necessità o volontà inducea, i popoli, parte per bene essere intesi, parte per più ragionando piacere a chi essi obediano, così apprendevano quella o quell’altra lingua forestiera, e quelli strani e avventizii uomini el simile se consuefaceano alla nostra, credo con molti barbarismi e corrutela del proferire. Onde per questa mistura di dí in dí insalvatichí e viziossi la 332 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 544 Abgesehen von inhaltlichen Anhaltspunkten sind auch der persönliche Kontakt zu Bruni und die Kenntnisse seines Schrifttums bezeugt (z. B. Brief Brunis an Alberti, cf. Bruni, Epist. IX, 11; 2014 II: 415). Im Widmungsschreiben Albertis in seinen Intercenales spricht er ihn als den größten Gelehrten an („ut me docti, tuque in primis hac etate litterarum princeps, Leonarde“, Intercen. II, prohemium, 21-22; 2003: 84), was sicherlich eine captatio benevolentiae ist, aber andererseits auch in das Bild von Brunis tatsächli‐ cher Reputation und Wertschätzung seiner Arbeiten paßt (cf. dazu Kap. 6.2.3.1 vorlieg‐ ender Arbeit). 545 Die Charakterisierung als invenzione scolastica weist sowohl auf das ad placitum einer „schulmäßigen“ Übereinkunft hin, als auch auf die konkrete sprachreflektorische Ent‐ stehungsgeschichte in der Scholastik (zu den inventores cf. Kap. 6.2.1 und 6.1.5). Ob damit an dieser Stelle eine Abwertung scholastischer Philosophie ausgedrückt werden soll, sei dahingestellt. Grundsätzlich ist Alberti zwar kritisch in Bezug auf scholastisches Lehrwissen (cf. Ebbersmeyer 2010: 262), dennoch geht es hier in erster Linie um eine überkommene Definition des Lateinischen. nostra prima cultissima ed emendatissima lingua. (Alberti, Della fam. III, proemio 27-37; 1994: 188) Direkt im Anschluß an diesen Passus zeigt sich, daß Alberti über den Disput um das volgare antico und die Frage, welche Art von Latein im alten Rom gesprochen wurde, bestens informiert sein mußte, da er, ohne Namen zu nennen, die kont‐ roversen Meinungen der Diskussion anspricht und dazu sehr eindeutig Stellung bezieht. Né a me qui pare da udire coloro, e’ quali di tanta perdita maravigliandosi, affermano in que’ tempi e prima sempre in Italia essere stata questa una qual oggi adoperiamo lingua commune, e dicono non poter credere che in que’ tempi le femmine sapessero quante cose oggi sono in quella lingua latina molto a’ bene dottissimi difficile e oscure, e per questo concludono la lingua in quale scrissero e’ dotti essere una quasi arte e invenzione scolastica più tosto intesa che saputa da’ molti. (Alberti, Della fam. III, proemio 38-46; 1994: 188-189) Er lehnt entschieden die Position ab, innerhalb der eine seit jeher in Italien ge‐ sprochene Gemeinsprache (lingua commune) angenommen wird, die sich seit damals nicht verändert habe (in queʼ tempi e prima) und auch heute noch so in Gebrauch sei. Damit spielt er unzweifelhaft auf die These Brunis an, 544 wobei er wohl diesen im Sinne einer Überinterpretation dahingehend sehr wörtlich aus‐ legt, daß er ihm bezüglich dieser gesprochenen Sprache, also dem volgare, die Annahme einer absoluten Unveränderlichkeit unterstellt (cf. tesi pseudo-bru‐ niana; cf. Kap. 6.2.3.1). Dieser von allen gesprochenen Sprache stellt er im Sinne der von ihm wiedergegeben, aber abzulehnenden Meinung eine durch Überein‐ kunft erschaffene Kunstsprache (quasi arte e invenzione scolastica) gegenüber, 545 333 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini die von den Gelehrten (dotti) als Schriftsprache benutzt und von allen anderen nur passiv verstanden würde. Hierbei referiert er unzweifelhaft auf die von Bruni angenommene lateinische Schrift- und Literatursprache (Latine littera‐ teque; cf. Kap. 6.2.3.1). Die Tatsache, daß Alberti die Schriften Brunis und Biondos gekannt haben mußte, geht auch aus den im vorherigen Kapitel, bereits dargelegten typischen Argumenten und Beispielen hervor. Dies betrifft nicht nur die in diesem Zitat angesprochene Frage nach der Beherrschung der lateinischen Schriftsprache durch die Frauen, sondern auch die im Folgenden bei Alberti geschilderte Streit‐ frage um die Verständlichkeit der Redner bzw. Gebrauch der Sprache im öffent‐ lichen und privaten Bereich. Nach dieser deutlichen Ablehnung einer für die Antike postulierten bilingu‐ alen Sprachkonstellation plädiert er für die Annahme einer einheitlichen Sprache, einer lingua commune, die in allen Kommunikationssituationen (in publico o privato) Anwendung findet, d. h. Alberti nahm an, daß die Römer in der gleichen Sprache schrieben (scrivevano), in der sie auch sprachen (profer‐ iano). E domanderei chi in publico o privato alcuno ragionamento mai usasse se non quella una, quale perché a tutti era commune, però in quella tutti scrivevano quanto e al popolo e tra gli amici proferiano. (Alberti, Della fam. III, proemio 50-53; 1994: 189) Diese für ihn so offensichtliche Tatsache begründet er zum einen dadurch, daß er explizit betont, daß es selbstverständlich sei, daß die antichi nicht nur über gelehrte Gegenstandsbereiche (in arti scolastice e scienze) in dieser Gemein‐ sprache geschrieben hätten, sondern auch, wenn sie sich mit alltäglichen, nie‐ deren Dingen (cose ben vulgari e domestice) an ihre Frauen, Kinder oder Sklaven gewandt hätten (cf. Alberti, Della fam. III proemio 46-49; 1994: 188-189). Zum anderen zieht er - ganz wie Bruni und Biondo - die Parallele zur eigenen Ge‐ genwart, wenn auch mit einem bis dato nicht ins Feld geführten Exempel: er führt die Schwierigkeiten der Sprecher anderer Sprachen (strane genti) bei der korrekten Erlernung der italienischen Volkssprache (oggi nostra quale usiamo lingua) an und vergleicht dies mit den Schwierigkeiten, die seine Zeitgenossen bei der Erlernung dieser antiken Sprache haben, also dem Lateinischen. Diese sehr weitsichtige und plausible Erklärung wird ergänzt durch den Vergleich, daß auch die Bediensteten (servi nostri) nicht ohne weiteres in der Lage seien, die zeitgenössische Sprache fehlerfrei zu gebrauchen, Probleme bei Kasus und Tempus sowie der Konkordanz hätten (né per uso possono variare casi e tempi, e concordare), was die Sprache jedoch verlangte (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 56-60; 1994: 189). Hier läßt Alberti ein Verständnis einer italienischen oder zu‐ 334 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen mindest florentinischen Norm durchblicken, die Sprecher einer niedrigen Schicht nicht fehlerfrei beherrschten. Im Weiteren bewegt er sich dann wieder im bereits bekannten argumenta‐ tiven Fahrwasser seiner Vorgänger und führt die Exempla der erfolgreichen Redner ohne größere Schulbildung (sanza niuna lettera) sowie Frauen der Antike an, die ebenfalls in der Lage waren, sich lobenswert in dieser allgemeinen la‐ teinischen Sprache auszudrücken (ben proferire la lingua latina), wobei dies daher komme - und diese Begründung Albertis ist neu -, daß sie weniger von außen beeinflusst worden seien (meno contaminata) als die Männer (cf. Alberti, Della fam. III proemio 60-64; 1994: 189). Alberti beschließt diese kurzen Ausführungen zur antiken Sprachkonstella‐ tion mit der Feststellung, daß es nicht anders sein könne, als daß die antichi scrittori in der Art und Weise schrieben, damit sie von allen verstanden würden, allein auch deshalb, weil sie ja ihren Mitbürgern dienlich sein wollten, ihnen - so die Implikation - Wissen vermitteln wollten, und zwar, wie bereits erwähnt, für ein bene e beato vivere (v. supra). E con che ragione arebbono gli antichi scrittori cerco con sí lunga fatica essere utili a tutti e’ suoi cittadini scrivendo in lingua da pochi conosciuta? […] Benché stimo niuno dotto negarà quanto a me pare qui da credere, che tutti gli antichi scrittori scrivessero in modo che da tutti e’ suoi molto voleano essere intesi. (Alberti, Della fam. III, proemio 64-71; 1994: 189-190) An den daraufhin folgenden Ausführungen erkennt man, worauf Alberti mit seinen einleitenden Anmerkungen zur antiken Sprachsituation eigentlich hi‐ naus will. Geschickt leitet er argumentativ in die sich an die letzte Aussage zu den antichi anknüpfende Frage über, warum nicht auch er in einer Weise schreiben sollte, um von allen verstanden zu werden (in modo che ciascuno m’intenda). Damit - so seine Begründung - könne er einer Vielzahl von Rezip‐ ienten nützlich sein (giovare a molti che piacere a pochi) und nicht nur den we‐ nigen Gelehrten (litterati) im Land und dies sei schließlich nicht zu tadeln, so seine rhetorische quaestio. E chi sarà quel temerario che pur mi perseguiti biasimando s’io non scrivo in modo che lui non m’intenda? Più tosto forse e’ prudenti mi loderanno s’io, scrivendo in modo che ciascuno m’intenda, prima cerco giovare a molti che piacere a pochi, ché dai quanto siano pochissimo a questi dí e’ litterati? (Alberti, Della fam. III, proemio 74-79; 1994: 190) Alberti macht in seiner folgenden Argumentation deutlich, daß er keineswegs abstreitet, daß die lateinische Sprache copiosa und ornatissima sei, aber verwehrt 335 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 546 Die Tatsache, daß es ihm mehr um die Verständlichkeit als um die Eleganz geht, stellt McLaughlin (1995: 156-157) anhand einer Anmerkung in De re aedificatoria heraus: „Et, ni fallor, quo scripsimus, ita scripsimus, ut esse Latina non neges et satis intelligantur (Alberti, De re aed. VI, 1 (92v); 1966 II: 445). Dabei sollte allerdings nicht vernachlässigt werden, daß Alberti an anderen Stellen seines Werkes durchaus auch auf stilistische Elaboriertheit Wert legt (v. infra). sich dabei dem von anderen gezogenen Umkehrschluß, nämlich die Inadäquat‐ heit im Ausdruck und der mangelnde ornatus der Volkssprache, welche er als la nostra oggi toscana (lingua) bezeichnet. Er wirft dabei den Kritikern des volgare vor, daß sie die Sprache tadeln und schmähen, die sie selbst verwenden, und diejenige loben, die sie nicht verstehen. Zudem greift er in Abwandlung ein weiteres Mal das Argument der Verständlichkeit auf und verknüpft es mit dem Geständnis, daß es auch für ihn leichter sei, in der Volkssprache genau das aus‐ zudrücken, was er vermitteln möchte. 546 Ungeachtet der Tatsache, daß dies wohl auch der Wahrheit entspricht, ist es hier vor allem ein argumentativer Kunst‐ griff, um für den Gebrauch des volgare zu plädieren. Dies zeigt sich auch daran, daß er im nächsten Schritt zum direkten Angriff übergeht und behauptet, daß, wer sich als gelehrter einschätzt als der Verfasser dieser Zeilen, der auch in der Lage sein würde nicht weniger ornamenti in der Volkssprache zu finden als im Lateinischen (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 80-94; 1994: 190). In seinem Schlußplädoyer für den Gebrauch des volgare stellt er noch einmal ganz explizit das Prestige des Lateinischen heraus, sein Ansehen, das auf der Verbreitung bei so vielen beruht sowie auf der Schriftproduktion der Gelehrten, um dann darauf zu verweisen, daß die Volkssprache genauso sein könnte, wenn die Gelehrten nur genug Eifer darauf verwenden würden, diese in ihrem Stil auszufeilen. E sia quanto dicono quella antica apresso di tutte le genti piena d’autorità, solo perché in essa molti dotti scrissero, simile certo sarà la nostra s’e’ dotti la vorranno molto con suo studio e vigilie essere elimata e polita. (Alberti, Della fam. III, proemio 94-98; 1994: 190-191) Er formuliert damit einerseits das Potential der toskanischen Volkssprache (essere elimata e polita, cf. Alberti, Della fam. III , proemio 98; 1994: 191), ande‐ rerseits zeigt er auch indirekt auf, daß er sie zumindest noch nicht für dem Lateinischen gleichrangig hält. Hier wäre womöglich Tateo (1971: 24) zu widersprechen, der die Gleichran‐ gigkeit etwas zu drastisch darstellt, doch im Kern sicherlich Recht hat, wenn er von dem Glaube Albertis an die maturità des volgare spricht, d. h. für ihn sei die Zeit gekommen, daß die Volkssprache mit dem Lateinischen gleichziehen könne. 336 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 547 Eine sozio- und varietätenlinguistische Klassifizierung der Ausführungen Albertis ist noch weniger in der einschlägigen Forschungsliteratur anzutreffen als bei Bruni und Biondo, in Bezug auf deren Position zumindest ab und zu kursorisch und unsystema‐ tisch mit Begriffen wie ‚Diglossie‘ oder ,diastatisch’ operiert wird (v. supra und cf. Kap. 2). 548 Während sich bei Alberti der Begriff latino eindeutig auf das Lateinische bezieht, konnte latino bei Dante auch noch im ganz abstrakten Sinne ‚Sprache‘ bedeuten und bei Boc‐ caccio favella latino oder parlare latino sich in einigen Fällen sogar rein auf das Italie‐ nische beziehen, ganz in der Tradition eines mittelalterlichen Gebrauchs (cf. Kramer 1998: 100-104). Das proemio endet mit einer captatio benevolentiae an Francesco, daß er, Al‐ berti, alles versucht habe, ihm, seinem Adressaten, auf diese Weise - und hier implizit auch zu verstehen in eben dieser Sprache, d. h. dem volgare - nützlich zu sein, was besser wäre, als aus Angst vor Mißgunst zu schweigen. Mit daran anschließenden Ausführungen zum Inhalt der einzelnen Bücher endet das Vor‐ wort zum dritten Buch (Liber oeconomicus). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Versucht man nun in der Perspektive moderner sozio- und varietätenlinguisti‐ scher Analyse der Auffassung Albertis nahezukommen, was bisher in den gän‐ gigen Monographien zu diesem Thema nicht vorgenommen wurde (cf. Kap. 2), 547 so läßt sich aus den knappen Ausführungen folgendes herauslesen: Für die römische Antike geht Alberti von einer einheitlichen Sprache aus, einem latino, 548 welches allen commune war, im schriftlichen wie auch im mündlichen Gebrauch, und die er auch la nostra prima cultissima ed emendatissima lingua nennt. Er stellt diese Sprache als homogen dar, ohne weitere diasystematische Variation. Dabei erwähnt er zwar den diamesischen Aspekt von Skripturalität und Oralität, ohne jedoch daraus sprachliche Konsequenzen zu ziehen, d. h. er ordnet der jeweiligen potentiellen Varietät keine Merkmale zu. Es handelt sich hier zweifellos um eine Vereinfachung, da er einerseits of‐ fensichtlich die Traktate von Bruni und Biondo als bekannt voraussetzt und sich weitere Details spart, andererseits sein Fokus mehr auf der Frage nach der sprachlichen Veränderung im Zuge der Völkerwanderung liegt. Nichtsdesto‐ weniger kann man zumindest implizit erkennen, daß er grundsätzlich eine in‐ nere Variation des Lateinischen annimmt, da er die Sprache der Gelehrten deut‐ lich von der der Frauen, Kinder und Sklaven bzw. des Volkes abgrenzt, indem er - wie oben dargelegt (v. supra) - rhetorisch fragt, daß es wohl kaum sein könne, daß man - d. h. die Gelehrten - gegenüber eben diesen Gruppen schrift‐ lich wie mündlich, privat oder öffentlich sich je anders geäußert hätte als auf Latein. Es ist wohl nicht zu viel hineininterpretiert in diese Stelle, wenn man 337 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 549 Für die Franken existierte auch die Bezeichnung Gallici comati. daraus schließt, daß Alberti sich zwar einer inneren Variation - zumindest Ge‐ lehrtenlatein vs. Volkslatein - bewußt war, aber hier eben auf die Einheit des antiken Idioms abheben möchte und deshalb aus argumentativer Drastik heraus auf weitere Details verzichtet. Allein die Erwähnung von ‚öffentlich‘ vs. ‚privat‘ zeigt, daß angesichts der Parameter ‚formelle Gesprächssituation‘ vs. ‚infor‐ melle‘ ihm offensichtlich ein Registerunterschied vorschwebte, d. h. es für ihn Abstufungen in der Diaphasik gegeben haben mußte. Prima vista leugnet er zwar genau jene Unterschiede, aber die damit zusammenhängenden Ausfüh‐ rungen machen deutlich, daß es ihm um die Betonung einer lingua commune geht. Für ihn ist der Abstand eben nicht so groß gewesen, daß sich daraus ein Verständlichkeitsproblem entwickeln hätte können. Was den Sprachwandel betrifft, so führt er die Korruptionsthese als Erklärung an. Dabei ergänzt Alberti die These Biondos durch wenigstens zwei wichtige Aspekte: Zum ersten ist hierbei bemerkenswert, daß er den Kanon der zerstörerischen Völker von Biondo, der in seinem ersten Traktat nur die Goten und Vandalen nennt, in der Italia Illustrata dann noch die Langobarden hinzufügt, erweitert, und zwar um die Gallici. Theoretisch könnte man, da es keine weiteren Aus‐ führungen von Alberti dazu gibt, diese auch als die Franken interpretieren (no‐ minelle Herrschaft), 549 allerdings würde dies aber die ansonsten hier beachtete chronologische Reihung sprengen. Versteht man die Gallici hier also nahelie‐ gend als Gallier, also Kelten, dann führt Alberti hier als erster auch ein Sub‐ stratvolk bzw. eine dazugehörige Substratsprache an, die dazu beitrug, daß sich das Latein im Laufe seiner Geschichte gewandelt hat. Diese Lesart ist auch in‐ sofern nicht unplausibel, als später Poggio Bracciolini weitere Substratvölker in die Diskussion miteinbringt (cf. Kap. 6.2.6): neben den Galliern auch die Sabiner, Etrusker, Osker und Samniten, ein Gedanke, der historisch gesehen in gewisser Weise auch naheliegt. Wer die simili barbare und die asprissime genti waren, führt Alberti nicht weiter aus. Es könnte ein allgemeiner Topos sein oder, wie bei Cittadini später präzisiert (cf. Kap. 6. 2. 17), Leute vom Land und aus anderen Teilen des römischen Reiches. Zum zweiten beschreibt er den Prozeß des Sprachwandels relativ präzise, und zwar dahingehend, daß er hier eine Veränderung sieht, an der zwei verschiedene Sprechergruppen beteiligt sind. Auf der einen Seite tragen die Invasoren, also die Nicht-Muttersprachler, die beginnen, die Sprache der eroberten Mehrheit der Bevölkerung Italiens zu lernen (se consuefaceano alla nostra), durch ihre Schwierigkeiten im L2-Erwerb - der ja nicht gesteuert verlief, d. h. meist ohne 338 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 550 Zu Barbarismen und Solözismen, die in der Rhetorik als vitia gebrandmarkt werden, cf. bei Alberti die vizi del favellare in seiner Grammatichetta (cf. Alberti, Gramm. 11r-11v; 1964: 60-61) und auch die entsprechende Stelle (soloecismus et barbarismus) bei Guarino Veronese (De ling. lat. diff. 9; 2008; 175) sowie die Arbeit von Schmauser (2017), die die wechselnden Nuancen dessen, welche „Fehler“ diese beiden Begriffe bei den verschie‐ denen frühneuzeitlichen Grammatikern umreißen können, behandelt (cf. auch Kap. 6.1.5). Scholarisierung - dazu bei, das Latein zu verändern, so daß viele „Fehler“ bzw. neutral formuliert Abweichungen entstanden, und zwar lexikalischer und mor‐ phosyntaktischer Art (con molti barbarismi) sowie in der Aussprache (e corrutela del proferire). 550 Auf der anderen Seite verändern dadurch auch die native-speaker des Lateinischen ihre Sprache, denn - so Alberti - viele würden aus Opportu‐ nismus die Sprache der Eroberer lernen. Die implizit ableitbare Folge daraus ist wohl, daß sowohl durch die Erlernung der fremden Sprache(n) als auch durch das der fehlerhaften Sprache der Neuankömmlinge ständige Ausgesetztsein die Lateiner selbst ihre Sprache veränderten. Das Ergebnis ist für Alberti eine Mi‐ schung der beiden Sprachen (questa mistura), der Prozeß ist das „Verwildern“ des Lateinischen (insalvatichí e viziossi), d. h. eine große Veränderung, natürlich hier stark wertend beurteilt. Schließlich beschreibt er noch den Prozeß der sprachlichen Veränderung als sehr allmählich, etwas was Tag für Tag geschieht (di dí in dí); die Veränderung (das „Verwildern“ der Sprache) geht also - aus heutiger Perspektive völlig kor‐ rekt eingeschätzt - sehr langsam, schleichend vonstatten. Diesbezüglich ist er zumindest deutlicher als Biondo, der ebenfalls bereits das Prozeßhafte anspricht (cf. Kap. 6.2.3.2). Rekontextualisierung Wenn man nun die hier vorgestellten Überlegungen Albertis in den zeitgenös‐ sischen Diskurs einzuordnen versucht, also eine Rekontextualisierung vornimmt, dann stellt sich zuvörderst die Frage, warum Alberti den von Bruni und Biondo ausgetragen Disput wiederaufgreift und warum an dieser Stelle in seinem Gesamtwerk. Um diesem Movens auf die Spur zu kommen, seien zunächst ein paar bio‐ graphische Informationen vorausgeschickt: Gebürtig aus Genua war Leon Bat‐ tista Alberti (lat. Leo Baptista Alberti) (1404-1472) vielleicht das Paradebeispiel für einen doctus bzw. eruditus, ein tatsächlicher uomo universale des rinasci‐ mentalen Humanismus (cf. Stackelberg 1964: 316). Er kam aus einer florentini‐ schen Kaufmannsfamilie (verbannt 1401-1428), lernte zunächst (1416-1418) bei Gasparino Barzizza (ca. 1360-1431), studierte dann in Padua und Bologna ius 339 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 551 Obwohl Alberti aus einer reichen Florentiner Kaufmannsfamilie stammte, die trotz ihrer zeitweisen Exilierung weiterhin nicht arm war, befand sich Leon Battista selbst, als illegitimer Sohn, nach dem Tod seines Vaters Lorenzo (1421) in einer prekären finanz‐ iellen Situation, was ihn für einen kritischen Blick auf die damalige Gesellschaft sen‐ sibilisierte, auch in Bezug auf die Ausbildung bzw. die akademische Laufbahn im All‐ gemeinen, die für ihn die einzige Möglichkeit des sozialen Aufstiegs darstellte (cf. Grafton 2002: 49-67). Wie sehr er sich den lettere aus Gründen der persönlichen Vor‐ liebe, aber auch der beruflichen Perspektive verschrieben hat, wird in seiner Diatribe De commodis litteram atque incommodis deutlich: „Ego autem qui me totium tradidi litteris“ (Alberti, De comm. 1971: 42, 9-10). 552 Der Lehrer Leonellos war Guarino Veronese, der wiederum selbst Schüler von Manuel Chrysoloras war, der durch seine Etablierung des Griechischen in Italien sowie auch durch seine allgemeinen Unterrichtsmethoden - z. B. tägliches Wiederholen und Er‐ stellen von Notizbüchern mit thematischen Standardformeln (loci) - eine maßgebliche Wende im italienischen Humanismus einleitete (cf. Vickers 1999: 43-45). Es sei hier dezidiert auf die vielfältigen persönlichen Verknüpfungen der in vorliegender Arbeit relevanten Humanisten hingewiesen (zu Chrysoloras cf. auch Kap. 6.1.1, 6.2.3 u. 6.2.5), aber auch deren thematischen Verflechtung in Bezug auf die verschiedensten Aspekte ihres jeweiligen Œuvres. Exemplarisch sei hier u. a. auf die Mahnung Albertis ver‐ wiesen, die Bildung nicht nur aus Notizbüchern (cartule) und Florilegien (gregismi) zu beziehen, sondern Tullio, Livio und Sallustio im Original zu konsultieren (cf. Alberti, Della fam. I, 2080-2085; 1994: 87-88). Zu c(h)artula und grecismus cf. auch McLaughlin (1995: 149). 553 (Marcus) Vitruvius Pollio (1. Jh. v. Chr.) wurde mit seinem zehnbändigen Werk De ar‐ chitectura zu dem wichtigsten Referenzautor für die Baukunst, wozu vor allem Alberti beitrug, später auch Palladio (1508-1580). Die von Leonardo da Vinci (1452-1519) ent‐ worfene berühmte Proportionsfigur geht ebenfalls auf Vitruv zurück. 554 Alberti ist Architekt u. a. folgender Bauwerke bzw. baulicher Veränderungen an bereits bestehenden Monumenten: Palazzo Ruccellai (Florenz), Santa Maria Novella (Florenz), San Pancrazio (capella) (Florenz), San Francesco (Rimini), San Sebastiano (Mantua), Sant’ Andrea (Mantua). und artes, letzteres bei Francesco Filelfo, aber auch Physik und Mathematik und schloß schließlich sein Studium in diritto canonico ab (1428). 551 Nach dem Stu‐ dium trat er in den Dienst der Kurie (1432-1464), zunächst unter Papst Eugen IV . (1431-1447), blieb aber auch unter den folgenden Päpsten Mitglied des Collegio degli Abbreviatori Apostolici, arbeitete also als Abbreviator, d. h. je‐ mand, der in der päpstlichen Kanzlei juristische Dokumente aufsetzte und ent‐ warf, z. B. päpstl. Bullen (litterae apostolicae sub plumbo). Auf Anregung des Markgrafen Leonello d’Este (1441-1450) von Ferrara, einem seiner Förderer, 552 wandte er sich dann der Architekturtheorie zu - vor allem von Vitruv als dem antikem Vorbild schlechthin inspiriert -, 553 schrieb dazu einige theoretische Traktate und führte schließlich ab den 1450er und 1460er Jahren selbst Bautä‐ tigkeiten aus, auch Umbauten und Renovierungen. 554 Unter Papst Nikolaus V. (1447-1455) war er außerdem für die Konservierung und Restaurierung der an‐ 340 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 555 Cf. dazu auch Albertis eigene Aussagen, die zeigen, daß er hier ganz im Sinne des Re‐ naissance-Gedankens einen Neuanfang sieht: „Ma poi che io dal lungo essilio in quale siamo noi Alberti invechiati, qui fui in questa nostra sopra l’altre ornatissima patria ridutto, compresi in molti ma prima in te, Filippo, e in quel nostro amicissimo Donato scultore e in quegli altri Nencio e Luca e Masaccio, essere a ogni lodata cosa ingegno da non posporli a qual si sia stato antiquo e famoso in queste arti“ (Alberti, De pict., Prologus; 1975: 7, 11-16). Trotz aller Bewunderung für die Antike und ihre Leistungen entsteht ein Selbstbewußtsein, welches die eigene Fähigkeit zu schätzen weiß, und man zeigt seinen Stolz, künstlerisch nicht nur zur imitatio fähig zu sein, sondern sozusagen tiken römischen und frühchristlichen Bauten in Rom zuständig sowie für die Stadtplanung. Er war dabei einer der ersten, die für die Erhaltung der antiken Monumente plädierte. Neben seinen Architekturtraktaten betätigte er sich schon seit seinem Studium als orator, also als gelehrter Schriftsteller, und deckte dabei die verschiedensten Bereiche ab; er verfaßte Komödien, Schriften zu Re‐ ligion, Staat, Familie und Haushalt, Moral- und Lebensphilosophie, Dichtung und, für uns besonders wichtig, auch zur Sprache. Er schrieb dabei sowohl auf Latein als auch auf Italienisch: z. B. De commodis litterarum atque incommodis (1428-1435), Intercenales (1440), Philodoxeos (1424), De religione (1429 / 1432), Descriptio urbis Romae (1430-1450), De Pictura (1435), De Statua (1435 / 1436), I Libri della famiglia. (1433-1441), Momus o del principe (1440), De re aedificatoria (1443-1452), Grammatica della lingua toscana (Grammatichetta vaticana) (ca. 1450), Ludi rerum Mathematicarum (ca. 1452), De re aedificatoria (1452). (cf. Schalk 1962: V-X; Grayson 1975: V- XI ). Albertis Ansichten zur Sprachenfrage, die er in seinem Werk zum Hauswesen niederlegt, sind in engem Zusammenhang mit dem umanesimo civile (v. supra) in Florenz zu sehen und seinen persönlichen „Erweckungserlebnissen“ als Exi‐ lierter bei der Rückkehr in diese Stadt. After his arrival in the city in 1434 for an extensive stay, not only did the language of his work have to be profoundly remolded to conform with the living usage of the Florentine vernacular, but Alberti’s outlook became intensely influenced by the cur‐ rents and cross-currents of Florentine cultural life. (Baron 1966: 348) Nach eigenem Bekunden erkannte Alberti in der Konfrontation mit der vita activa der Arnostadt, daß die kulturellen Leistungen der Menschen nicht nach einem Höhepunkt in der vielbewunderten griechisch-römischen Antike zum Stillstand gekommen waren, sondern hier vor seinen Augen im Rahmen einer vita civile weiterhin erbracht wurden. Beeindruckt von zeitgenössischen Künst‐ lern wie Brunelleschi (1377-1446), Donatello (1386-1466) oder Masaccio (1401-1428) öffnet er sich diesen Strömungen und rückt von einer starren Be‐ wunderung der Antike ab (cf. Baron 1966: 348-349). 555 341 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini ab experto etwas Neues, bisher Unerreichtes zu schaffen, so daß Alberti verlauten lassen kann: troviamo arti e scienze non udite e mai vedute (ibid., 23-24). 556 Zu einer Einbettung von Della famiglia in die Moralphilosophie der Epoche, auch ge‐ genüber unmittelbaren Zeitgenossen wie Salutati, Bruni, Poggio Bracciolini oder Valla cf. Ebbersmeyer (2010). Die Entstehung des Werkes Della famiglia, welches Alberti bereits vor seiner Übersiedlung nach Florenz ( Juni 1434) in Rom begonnen hatte (1433-1434) (cf. Tateo 1971: 24), ist vor dem Hintergrund des Niedergangs des Bildungswesens in Italien zu sehen. Zu Beginn des 15. Jh. ist ein Verfall von Schulen und Uni‐ versitäten zu verzeichnen, während die Fürsten zunehmend Privaterzieher ein‐ stellten. In der Tradition der humanistischen Gelehrten, die sich nach dem Vor‐ bild des antiken zoon politikon einem politischen Engagement für das Gemeinwesen verpflichtet fühlten (cf. auch Matteo Palmieri (1406-1475), An‐ gelo Decembrio (1415-1467)), wollte auch Alberti einen gewissen Einfluß auf das Erziehungswesen nehmen und reihte sich damit in die wichtigen in dieser Zeit zu diesem Thema entstandenen Schriften ein: Paolo Vergerio da Capo‐ distria, De ingenuis moribus et liberalibus studiis adolescentiae (1400-1402); Fran‐ cesco Barbaros, De re uxoria (1415); Palmieri, Della vita civile (1438); Maffeo Veggio, De educatione liberorum clarisque eorum moribus (1443), Dominici, Re‐ gola del governo di cura famigliare (15. Jh.). Direktes Vorbild ist dabei vor allem der ebenfalls in der italienischen Volkssprache schreibende Palmieri, dessen Werk mehr oder weniger zeitgleich entstand (cf. Schalk 1962: VIII - XII ; Baron 1966: 348, Tateo 1971: 7). 556 Diese Art der Literatur und ihre Rezeption ist auch in Zusammenhang mit der Partizipation vieler Humanisten an den Staatsgeschäften einzelner Stadt‐ staaten zu sehen, so daß diese theoretische Reflexion und Praxis miteinander verbanden, sowie dem wachsenden Interesse des aufstrebenden Bürgertums in Städten wie Florenz, Venedig, Mailand und Rom an der Lektüre von humanisti‐ schen Schriften, vor allem eben solchen Texten, die ihr Leben mehr oder weniger direkt betrafen. Diese politische Einbindung des Staates und seiner Bürger durch den Humanismus steht in Opposition zu dem bis ins Trecento vorherrschenden Konzept der vita solitaria, der inneren Abkehr, des Armutsideals und des Ge‐ lehrten ohne jegliche Bedürfnisse. Auch Glaube und Religion (fede, religione) treten in den Hintergrund zugunsten der Leitideen von mediocritas und tran‐ quillitas animi, die das humanistische Tugendideal konstituieren. Das neue Ver‐ ständnis des Humanismus zu Beginn des 15. Jh., der auch immer ein Städtehu‐ manismus mit spezifischer Ausprägung ist, vereint dabei antike Vorstellungen und Vorbilder mit zeitgenössischen Denkformen und konkreten Anliegen, wie 342 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 557 Albertis Della famiglia nimmt in der Traktatsliteratur zu Beginn des 15. Jh. eine Schlüs‐ selstellung ein, so daß Tateo (1971: 6) von einem felice incontro sprechen kann, da es ein Ausdruck einer in dieser Zeit stattfindenden, glücklichen Kooperation von regionaler städtischer Politik in großen (Florenz, Mailand, Rom) und kleinen (Mantua, Ferrara, Rimini, Urbino) Zentren der Macht und künstlerischer Betätigung war und zudem in seiner moralphilosophischen Grunddisposition richtungsweisend wurde. Zur Bedeu‐ tung dieses Werkes in der Philosophie der Renaissance auch über Italien hinaus cf. Kuhn (2014: 61-62), der Albertis wohl wichtigster Schrift in seiner Gesamtdarstellung ein ei‐ genes Kapitel widmet und in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte die Rolle Jacob Burk‐ hardts betont, der Alberti eine wichtige Stellung im aufkommenden Individualismus dieser Epoche zuweist (zu Burkhardt siehe auch Kap. 6.1.1 vorliegender Arbeit). z. B. Aufstieg, Freiheit und Glanz des florentinische Staatswesens zu preisen (Florentinitas). Mazzocco (1993: 90) betont, daß Alberti zumindest kein militanter Vertreter der republikanischen Florentinitas oder des sogenannten campanilismo ist, son‐ dern eher ein „pragmatic thinker“. Dies ist sicherlich richtig, dennoch darf der Aspekt der stadtbezogenen Kultur des Humanismus dabei nicht übersehen werden. Dies gilt auch für Alberti, dessen Familie aus Florenz stammt, womit eine gewisse Verbundenheit einhergeht, und der dort in einen intensiven Aus‐ tausch mit anderen Gelehrten und Künstlern kommt, bedingt durch ein politi‐ sches und sozio-kulturelles Klima, welches eben nicht völlig austauschbar ist, sondern durch ein je spezifisches städtisches Leben entsteht. Albertis Schreiben ist in dieser Form eben nicht als reine imitatio antiker Literatur und Motive zu verstehen (cf. Schalk 1962: X- XVIII ). Das Anliegen dieses in diesem Kontext so wichtigen Werkes Albertis, 557 in dem durch den starken Bezug auf Xenophons Oikonomikos sich auch der innovative Einfluß der wachsenden Rezeption der griechischen Originalwerke im Humanismus be‐ merkbar macht (v. supra), läßt sich folgendermaßen formulieren: Es steht in Zusammenhang mit der neuen Art, die Wirklichkeit zu gewahren und zu gestalten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hervorgetreten ist und das traditionelle Denken vielfach umgebildet hat. Es wurde als eine wesentliche Aufgabe angesehen, nicht nur das innere Leben des Einzelnen, Liebe, Ehe, sondern das gesamte Leben aus der Fülle einer nicht nur nach innen gekehrten, sondern auch der Politik zugewandten Bildung zu reformieren. (Schalk 1962: XI) Alberti selbst geht es im Sinne des hier angesprochenen Willens zur Mitgestal‐ tung um die Nützlichkeit des Individuums innerhalb der Familie bzw. des Haus‐ wesens (oikos), wobei er immer wieder seine Praxisorientierung deutlich macht, auch in Bezug auf das traditionelle Buchwissen, welches eben nicht nur rein 343 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini theoretischer Natur sein sollte, sondern einen homo agens verlangt, der virtutes auch umsetzt (cf. Ebbersmeyer 2010: 264-270). Die eingangs gestellte Frage nach dem Wie und Warum von Albertis Aus‐ führungen zur antiken Sprachsituation lassen sich also somit teilweise aus den eben dargelegten zeitgenössischen Konstellationen und Albertis persönlichen Anliegen und Erfahrungen erklären. Das Vorwort verfaßt er zu einem Zeitpunkt, als er einen Teil des Werkes bereits geschrieben hatte, und unter dem Eindruck der geschilderten Erlebnisse bei seiner Ankunft in Florenz, was zusammen mit der Widmung genau dieses dritten Buches an seinen Freund und Verwandten diese Position der Sprachenfrage um die antichi im Gesamtwerk zum Hauswesen erklären mag. Das Hauptanliegen in diesem proemio ist jedoch eine defensio der Volks‐ sprache bzw. eine Rechtfertigung für den Gebrauch derselben in vorliegendem Buch. Die Ausführungen zur Antike dienen dabei wiederum hauptsächlich der Stützung der Verteidigung des zeitgenössischen volgare - und hierin liegt der letzte noch fehlende Punkt zu Klärung der Frage, warum Alberti dieses Thema genau an der besagten Stelle seines Œuvres aufgreift. Tavoni (1984: 45) sieht aus diesem Grund auch Alberti als den Verantwortlichen für eine anti-volgare-Re‐ zeption Brunis. Ob dies tatsächlich so eindeutig zu formulieren ist, sei zumindest dahingestellt, beziehen sich doch spätere Disputanten auch immer wieder auf Brunis eigene Argumente. Geht man nun in die Details seiner Ausführungen zur antiken Sprachkons‐ tellation bzw. an die Rekontextualisierung der einzelnen von ihm angeführten Argumente, so lassen sich folgende Verknüpfungen zu den bisherigen Positi‐ onen herausfiltern: Ein Hauptanliegen Albertis innerhalb der quaestio um die Antike besteht darin, den für die Gelehrten dieser Zeit so unfaßbaren Zusammenbruch des rö‐ mischen Reiches und vor allem dessen Hochkultur verständlich zu machen. Um diesen kulturellen, aber eben auch sprachlichen Untergang zu erklären, bedient sich Alberti der von Biondo aufgestellten Barbarenthese bzw. Korruptionsthese, d. h. der Verlust der Latinität wird durch die Völkerwanderung, also die Erobe‐ rung des Imperium Romanums, insbesondere Italiens, durch germanische Völ‐ kerschaften erklärt. Dabei versucht Alberti sich den Impetus der Eroberer damit plausibel zu machen, indem er postuliert, ihr naturgegebener Freiheitsdrang (da natura cupide di libertà) sei so groß gewesen, daß sie die kulturellen Vorteile des Imperiums verschmäht hätten, um sich dagegen aufzulehnen. Wie tief dieser Niedergang empfunden wurde, wie sehr das dem Weltbild des Humanismus und der Renaissance widersprach, zeigt auch die Wortwahl, wenn Alberti von la nostra suprema calamità spricht (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 18, 27; 344 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 558 „Hingegen ist es bis ins 16. Jahrhundert hinein humanistische (optimistische) Grund‐ überzeugung, dass Freiheit nicht nur abstrakt individuell (als Wahlfreiheit […]) oder formal-politisch (als Ausdruck nur einer Staatsform) zu verstehen sei, sondern konkret als kultureller Faktor: Nur da, wo Freiheit ist und die Träger oder Adressaten von Frei‐ heit sich aktiv in die civitas einbringen, da befinden sich die menschlichen Dinge in einem prosperierenden Zustand, unabhängig davon, ob Demokratie, Aristokratie oder Monarchie vorherrscht […]“ (Leinkauf 2017 I: 884). 559 Auch in seiner später entstandenen Grammatichetta opponiert er noch implizit gegen die These Brunis, indem er sowohl die lexikalische Ähnlichkeit des Lateinischen mit dem zeitgenössischen volgare nachweist, als auch deren genetische Verwandtschaft bzw. die Entstehung der italienischen (toskanischen) Volkssprache aus dem antiken latino auch in Bezug auf grammatische Charakteristika aufzeigt (cf. Passarelli 1999: 48-50). 1994: 187, 188). Da jedoch ‚Freiheit‘ in verschiedenster Ausprägung (libertas, liberum arbitrium), aber vor allem auch individuelle Freiheit, für jene Epoche ein neu gewonnenes Konzept und ein wichtiger Wert war (cf. Leinkauf 2017 I: 669-675, 675-683), 558 ist dies für Alberti (und seine Leser) ein legitimer Erklä‐ rungsansatz. Abgesehen davon, daß Alberti bezüglich des Sprachwandels noch den Aspekt des Substrateinflusses miteinbringt, folgt er - ohne ihn explizit zu nennen - relativ eindeutig der These Biondos. Was nun die Art der Sprache(n) bzw. der Varietäten, die in der römischen Antike gesprochen worden sein soll(en), anbelangt, so polemisiert Alberti stark gegen die Ansichten Brunis bzw. solche, die er dafür hält, wiederum ohne direkte Nennung desselben. 559 Er beläßt es stattdessen bei vagen Formulierungen wie da udire coloro oder Daʼ quali (Alberti, Della fam. III , proemio 38, 46; 1994: 195, 188, 189), die natürlich auch auf die Anhänger der Bruni-Position, sei es in der den schriftlichen Traktaten vo‐ rausgehenden mündlichen Diskussion oder einer, die im Gefolge der beiden Publikationen von Biondo und Bruni entstanden ist, gemünzt sein können. Auf‐ grund der eher knappen Ausführungen bezüglich der konkreten Sprachsituation im alten Rom, ist es nicht wirklich möglich, Alberti diesbezüglich eindeutig ins Gefolge von Bruni oder Biondo zu stellen. Er vertritt zwar vehement die Ein‐ heitlichkeit des Lateins, und zwar eines literarischen Lateins, einer emendatis‐ sima lingua, womit er direkt auf Cicero referiert (cf. locutionem emendatam; Cicero, Brut. 74 (253); 1990: 194), eine ausgefeilte Variation wie bei Biondo und seinem der Rhetorik entlehnten Drei-Register-Modell ist bei Alberti jedoch nicht zu finden; Verschiedenheit im Sprachgebrauch einzelner Sprechergruppen oder in Bezug auf bestimmte Sprachsituationen ist mehr angedeutet als konkret aus‐ geführt. Man könnte postulieren, daß er zugunsten seiner Argumentationskette gegen das Diglossie-Modell von Bruni auf weitere Details verzichtet. Ob dies im Umkehrschluß heißt, daß er rigoros den Ideen Biondos gefolgt ist, läßt sich aus dem vorliegenden proemio nicht erschließen. 345 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 560 Brunelleschi ist der Baumeister der Kuppel des Florentiner Doms (S. Maria del Fiore), Albertis Freund und Konkurrent, die beide in den Künstlerbiographien (Le vite, 1550 / 1568) Giorgio Vasaris (1511-1574) verewigt sind; Brunelleschi zudem als ge‐ witzter Architekt in der Novella del Grasso Legnaiuolo, einer burla des Quattrocento. Die Art, wie Alberti die Sprachenfrage der Antike in diesem Vorwort abhan‐ delt, hängt damit zusammen, daß sein eigentliches Telos die Verteidigung des volgare darstellt. Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Alberti zwar eine vulgärhumanistische Position vertritt, diese aber keinesfalls mit einer Ab‐ wertung des Lateinischen einhergeht. Im Gegenteil, ist er doch ein Bewunderer Ciceros, vertritt aber gleichzeitig dahingehend einen Anti-Ciceronianismus (cf. McLaughlin 1995: 166), indem er den Ausbaugrad des zeitgenössischen volgare vorantreiben möchte, und zwar auch aus der Sprache selbst heraus. Das Prestige des Lateinischen bleibt also für ihn unangetastet, aber er schöpft argumentativ aus der Antike, um seiner Position in der zeitgenössischen ques‐ tione della lingua Gewicht zu verleihen. Tavoni (1984: 45), im Gefolge von Baron (1966: 349), sieht hierin auch den Hauptgrund, warum er sich den Thesen Bio‐ ndos anschließt. Auch wenn Biondo argumentativ zweifelsohne für Albertis Anliegen, das zeitgenössische volgare aufzuwerten, eine naheliegende Referenz darstellt, würde eine derartige Simplifizierung ihm unterstellen, daß für ihn die Frage zur antiken Sprachkonstellation ohne wirkliches Interesse sei, wogegen jedoch zumindest sein spürbares Anliegen, den Niedergang der lateinischen Kultur durch die „Barbarenkatastrophe“ zu erklären, spricht. So zeigt er auf bzw. versucht zu begründen, daß natürlich alle Schriftsteller der römischen Antike in einer Art und Weise ihre Werke verfaßt hätten, daß sie auch verstanden worden seien, und zwar von allen Mitbürgern, denn sie wollten allen nützlich sein, ihre Erkenntnisse dem Gemeinwohl zuführen und nicht nur einer kleinen Elite von Gelehrten. Dieses Argument der Verbreitung einer Sprache und der allgemeinen Verständlichkeit zieht er im späteren Verlauf seiner Ausführungen als Rechtfertigungsgrund für den Gebrauch des zeitge‐ nössischen volgare beim Abfassen vorliegenden Buches heran (cf. Marchiò 2008: 38-39). Doch bereits kurz zuvor zeigt Alberti mit der Übertragung seiner architek‐ turtheoretischen Schrift De pictura (1435) ins Italienische (1436), daß er seiner Überzeugung Taten folgen läßt. Er widmet die volkssprachliche Version des Büchleins dem berühmten Baumeister Filippo Brunelleschi (1377-1446), 560 für den er - wie er im zugehörigen Prologus schreibt - explizit diese Ausgabe auf Toskanisch abgefaßt hat: „[…] mi piacerà riveggia questa mia operetta de pictura quale a tuo nome feci in lingua toscana“ (Alberti, De pict., Prologus; 1975: 8, 11-12). 346 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 561 Zu dem von Alberti initiierten und Piero de‘ Medici (1472-1503) veranstalteten Dich‐ terwettbewerb mit dem Thema amicizia, an dem auch Francesco d’Altobianco Alberti teilnahm und in dessen Komitee zehn apostolische Sekretäre des zu diesem Zeitpunkt in Florenz residierenden Eugen IV. teilnahmen, von denen zumindest vier auch Parti‐ zipanten der mündlichen Debatte um das volgare antico waren (Flavio Biondo, Poggio Bracciolini, Andrea Fiocchi, Cencio Rustici), cf. Mazzocco 1993: 91-92) sowie Cardini (1973: 121), der die Tatsache, daß hier nur volkssprachliche Literatur zugelassen war, als „ostile alla cultura ufficiale“ einschätzt. Zur anonymen, eventuell Alberti zuzuschreib‐ enden Schrift Protesta (cf. Scarpa 2012: 77-82), die im Gefolge dieses Ereignisses ent‐ stand und sich mit der abwertenden Haltung der päpstlichen Sekretäre gegenüber dem volgare auseinandersetzt, cf. ebenfalls Mazzocco (1993: 93-94). Wie umstritten die Verwendung der italienischen Volkssprache in jenen Jahren noch ist, zeigen sowohl der nur mäßige Erfolg des von ihm mitveranstalteten Certame Coronario (1441), 561 als auch Albertis Beschwerden über diesbezügliche Verunglimpfungen in dem wenige Jahre später verfaßten Dedi‐ kationsschreiben an Leonello d’Este (1441-1450), Markgraf von Ferrara, als Vorrede (Ad Leonellum illustrissimum principem Estensem) zu seiner moralphi‐ losophischen Schrift im Geiste der Stoa, dem Dialog Theogenius (1442). E fummi caro sì el far cosa fusse a te grata, sì e anche avere te, omo eruditissimo, non inculpatore di quello che molti m’ascriveno a biasimo, e dicono che io offesi la maiestà litteraria non scrivendo materia sì elegante in lingua più tosto latina. (Alberti, Theog. 1966: 56, 1-5) Das Argument der Gegner ist das der Adäquatheit bezüglich der Textgattung, denn eine „hohe“ Literatur verlangt auch eine angemessene Sprache und dies kann nur das Lateinische sein. Alberti jedoch sieht in der Volkssprache ein ähn‐ liches Potential, wobei diese zudem den Vorteil der größeren Verbreitung hat, was er wiederum auch in diesem Werk - ähnlich wie in Della famiglia - als Grund für ihren Gebrauch gegenüber dem Marchese anführt: „E parsemi da scrivere in modo ch’io fussi inteso daʼ miei non litteratissimi cittadini“ (Alberti, Theog. 1966: 55, 20-21). Der Konflikt, in den Alberti hineingerät, wird von Mar‐ chiò (2008) anschaulich synthetisiert: La certezza che la lingua volgare sarà anch’essa degna di essere onorata se i dotti porranno il loro impegno nel renderla forbita ed elegante, anima le parole dell’Alberti che conclude l’atto di accusa esortando i suoi denigratori a deporre l’invidia contro di lui e a dar prova di eloquenza non ricorrendo all’insulto ma affrontando un amateria diversa e a loro più conveniente. (Marchiò 2008: 38) Albertis Stellungnahme im Vorwort zu Della famiglia ist letztlich auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu betrachten, daß er seine vulgärhumanistische Ein‐ 347 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 562 Albertis Stellung als wichtiger Schriftsteller der italienischen Literaturgeschichte, eben auch mit seinen Werken im volgare, wurde erst in der jüngsten Forschung gewürdigt, was Cardini zu einer diesbezüglich sehr deutlichen Aussage veranlaßt: „Secondo me l’Alberti è invece un grande scrittore in latino e in volgare, anzi un eversore, un vero e proprio rivoluzionario: ha ‚rifondato‘ la letteratura in volgare, e con le Intercenales e il Momus ha creato il moderno umorismo, e dunque un genere fondamentale della mo‐ derna letteratura europea“ (Cardini 2008: 26). 563 Dabei ist Albertis Übersetzung nicht nur eine einfache Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere, sondern gleichsam ein Statement für das volgare: „In altre parole il volgarizzamento del De Pictura […] non è considerabile solo come uno stru‐ mento di divulgazione di certe idee, ma assume anche il valore di esemplificare dei pregi della nuova lingua […]“ (Maraschio 1972: 228). 564 Tateo (1971: 24) weist darauf hin, daß sich Alberti hier an das erste Buch des Convivio von Dante anlehnt, in dem auch die Kritiker verdammt werden. 565 Die Entstehungszeit der Grammatichetta ist umstritten bzw. nicht genau eruierbar; Passarelli datiert sie zwischen 1438 und 1441-1442 / 1443, Grayson zwischen 1440 und 1454 und Sensi zwischen 1443 und 1454 (cf. Passarelli 1999: 30-35). stellung nicht nur theoretisch ausficht, sondern sie auch in ihrer praktischen Anwendung lebt. Dies bedeutet für ihn nicht nur, daß er auch Werke im volgare verfaßt (theoretische und literarische) 562 oder wie bei De pictura und den Ludi rerum mathematicarum in die Volkssprache übersetzt, 563 sondern er geht so weit, auch die Grammatikfähigkeit derselben zu beweisen (cf. Tavoni 1984: 49), d. h. er vollzieht den letzten Tabubruch. 564 In den einleitenden Sätzen seiner unpub‐ lizierten Grammatichetta (ca. 1450) 565 zeigt sich dies mehr als deutlich: [Q]ue’ che affermano la lingua latina non essere stata comune a tutti e‘ populi latini, ma solo propria di certi dotti scolastici, come oggi la vediamo in pochi, credo depor‐ ranno quello errore vedendo questo nostro opuscolo, in quale io raccolsi l’uso della lingua nostra in brevissime annotazioni. Qual cosa simile fecero gl’ingegni grandi e studiosi presso a’ Greci prima e po‘ presso de e’ Latini, e chiamorno queste simili ammonizioni, atte a scrivere e favellare senza corruttela, suo nome, grammatica. Qu‐ esta arte, quale ella sia in la lingua nostra, leggetemi e intenderetela. (Alberti, gramm. 1) Hierin schildert er die antike Diglossie-Situation, und zwar dahingehend, daß die high-variety, das Lateinische, welches den Funktionsbereich der Schriftlich‐ keit (in weiten Teilen) abdeckt, nur von wenigen Gelehrten verstanden wird (certi dotti scolastici). Die Diglossie-Situation ist dabei jedoch auch noch an eine elitäre Verteilung der Kompetenzen gebunden, da nur ein Teil der Bevölkerung Zugang zur Schriftsprache hat. Ihm geht es deshalb, wie er anhand der antiken Sprachenfrage bereits deutlich zum Ausdruck gebracht hat (v. supra), um die Verbreitung von Wissen, d. h. um 348 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 566 Auch wenn Petrarca sich im Gegenteil zu Dante nie explizit ausführlich zu sprachthe‐ oretischen Problemen geäußert hat und deshalb auch hier nicht in vorderster Reihe der diesbezüglich relevanten Gelehrten steht, läßt sich dennoch an einigen Stellen seines Werkes (z. B. Familiares, Seniles) herauslesen, daß er grundsätzlich die Idee vom La‐ teinischen als einer Kunstsprache, die von inventores geschaffen wurden und deren Prestige auf die einschlägigen auctores zurückzuführen ist, teilt, ebenso wie die Auf‐ fassung von der Gleichsetzung von Schriftlichkeit und Latein (litere et latine sermo) (cf. Rizzo 1990: 10-16). 567 Im Gefolge Albertis sprechen auch andere Gelehrte mit vulgärhumanistischer Position wie Cristoforo Landino (1424-1498) oder Marsilio Ficino (1433-1499) präferentiell von lingua toscana oder lingua fiorentina (Maaß 2005: 12). den Zugang zu Kultur und Erkenntnissen für eine breitere Bevölkerungsschicht, um die Erfüllung eines ciceronianischen Tugendideals, nämlich pro bono publico zu handeln (cf. Vickers 1999: 33), aber auch um einen größeren Leserkreis im Sinne des oben beschriebenen humanistischen Bildungsideals. Damit verknüpft ist ein weiterer entscheidender Faktor in seiner Sprachauffassung: Entgegen der überlieferten Meinung, daß das Lateinische (neben dem Griechischen etc., v. supra) allein die Sprache ist, die eine Grammatik, also Regeln besitzt und damit eine Kunst (ars) ist (cf. z. B. Dante, Bruni), 566 vertritt Alberti, weit vehementer als z. B. Biondo, daß das volgare eben nicht sine regola ist und reine natura, son‐ dern in gleicher Weise regelhaft, d. h. grammatikfähig. Um genau dies zu be‐ weisen, vollbringt er nichts Geringeres und erstellt die sogenannte Grammati‐ chetta, in den zeitgenössischen Sprachgebrauch (uso) in Regeln faßt (cf. Reutner / Schwarze 2011: 104). Ganz explizit spricht er darin dann von arte, die das Italienische aufweise (Questa arte, quale ella sia in la lingua nostra). Damit vollzieht er den wichtigsten Schritt, die Volkssprache aus ihrer inferiorità zu reißen, wie er es in Della famiglia bereits angedeutet hat. In Bezug auf seine Ausführungen in Della famiglia konstatiert Tateo (1971: 24): „[…] Alberti gius‐ tifica la sua novità con l’attuale rarità dei letterati, ma tale constatazione lo in‐ duce soprattutto a meditare sulla possibilità di riscattare completamente il vol‐ gare dalla sua condizione di inferiorità.“ Dazu könnte man auch die Tatsache rechnen, daß er in Bezug auf die zeitge‐ nössische Volkssprache weniger von volgare als vielmehr dezidiert von lingua toscana spricht, was durchaus programmatisch zu verstehen ist (la nostra oggi toscana, cf. Della fam. 82-83; 1994: 190; in lingua toscana, cf. De pict., Prologus; 1975: 8, 12). 567 Er bricht also insofern mit der Tradition, indem er die Volkssprache in seiner toskanischen bzw. florentinischen Ausprägung in den verschiedensten Text‐ gattungen anwendet, insbesondere auch in der prosa scientifica (cf. Tavoni 349 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 568 Zum Grad der Latinisierung in Della famiglia cf. McLaughlin (1995: 161-162). 569 In Anwendung auf die Literatur cf. z. B. folgende Aussage zur zentralen Idee der con‐ cinnità bei Alberti, die mit der eleganza einhergeht und die im Verbund mit weiteren Eigenschaften wie dilettoso, fiorito und soave den Stil der von ihm als vorbildlich ein‐ gestuften Klassiker definiert: „Non è sí soave, né sí consonante coniunzione di voci e canti che possa aguagliarsi alla concinnità ed eleganza d’un verso di Omero, di Virgilio o di qualunque degli altri ottimi poeti. Non è sí dilettoso e sí fiorito spazio alcuno, quale in sé tanto sia grato e ameno quanto la orazione di Demostene, o di Tullio, o Livio, o Senofonte, o degli altri simili soavi e da ogni parte perfettisimi oratori“ (Alberti, Della fam. I, 2037-2043; 1994: 86). 570 So wird die brevitas beispielsweise in der Rhetorica ad Herennium sowohl als Stil‐ merkmal wie auch als Stilfigur erwähnt: „Rem breviter narrare poterimus, si inde inci‐ pimus narrare, unde necesse erit […]“ (Rhet. ad Her. I, 14 (IX); 1994: 22); „Brevitas est res ipsis tantummodo verbis necesariis expedita, hoc modo: […]“ (Rhet. ad Her. IV, 68; 1994: 314). 1984: 56), sie nach lateinischem Modell - lexikalisch wie syntaktisch 568 - verän‐ dert bzw. bereichert und sich somit sowohl von der griechisch-lateinischen Li‐ teratur des Quattrocento absetzt also auch von der italienischen des Trecento (cf. Cardini 2008: 28-29). Ignorando la tradizione, e basandosi esclusivamente sull’uso, scrisse la prima gram‐ matica italiana; rifondò l’elegia e la bucolica; inventò la metrica barbara e il dialogo; fu il primo a sperimentare la ‚conversazione familiare‘; creò in gran parte la prosa morale, dottrinale e civile; dotò il volgare, a partire da quello artistico, di interi lingu‐ aggi speciali.“ (Cardini 2008: 29) Um das Gesamtverständnis von Albertis Sprachauffassung zu komplettieren, sei noch darauf hingewiesen, daß auch ein enges Verhältnis zwischen seinem ar‐ chitektonischen bzw. künstlerischen Verständnis und dem seiner Vorstellung von Sprache besteht. Dabei ist diese Relation eine wechselseitige, denn einerseits überträgt er rhetorische Grundkonzepte wie decorum und im speziellen als Leit‐ idee concinnitas auf die Baukunst (cf. Vickers 1999: 16, 68), 569 andererseits sind theoretische Elemente der bildenden Kunst auch wieder in seiner Literatur zu finden. So legt er in De pictura dar, wie die natura das Vorbild liefert und deshalb cose aperte e chiare zu präferieren seien (cf. Alberti, De pict. 47; 1975: 84, 29-32). In seiner Schrift De re aedificatoria wird er in Bezug auf die ästhetische Ausge‐ staltung von Bauwerken noch deutlicher: Odi sumptuositatem (Alberti, De re aed. IX , 4 (162v); 1966 II : 803). Diese Präferenz korreliert mit seiner stilistischen Vorliebe von chiarezza und brevità, womit er sowohl einem Stilideal humanistischer Dichter folgt, als auch der brevitas (cf. McLaughlin 1995: 154), wie sie in der antiken Rhetorik prokla‐ miert wird. 570 So faßt Alberti beispielsweise im Amator die Probleme nach ei‐ 350 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 571 „ut pictura poesis: erit quae, si propius stes, / te capiat magis, et quaedam, si longius abstes; / haec amat obscurum, volet haec sub luce videri, / iudicis argutum quae non formidat acumen; / haec placuit semel, haec deciens repetita placebit“ (Horaz, Ars poet. 361-365; 1984: 26). 572 „Pictor uterque est; ille verbis pingit, hic penniculo docet rem; caetera utrisque paria et communia sunt. In utrisque et ingenio maximo et incredebili diligentia opus“ (Alberti, De re aed. VII, 10; 1966 II: 609-611). 573 Zum Stellenwert dieses Horaz’schen Motivs in der Renaissance, welche u. a. auch bei Leonardo da Vinci zu finden ist, cf. Bollmann (2001: 123-124) sowie Wulfram (2001: 289, FN 66), der hier daraus ableitend bei Alberti eine materiell-inhaltliche Stilauffassung im Sinne der rota Vergilii postuliert. In dieser mittelalterlichen und rinascimentalen Poetik korrelieren Sozialstatus des Beschreibungsobjektes bzw. -subjektes und Stil‐ höhen, wobei als kanonisches Muster die Schriften Vergils dienen, d. h. Bucolica (Han‐ delnder: pastor otiosus, Stil: humilis stylus), 2. Georgica (Handelnder: agricola, Stil: me‐ diocris stylus), 3. Aeneis (Handelnder: miles dominans, Stil: gravis stylus). genem Bekunden beviter succincteque zusammen: „Sed que breviter succinc‐ teque recensuimus eo, ni fallor, iuvabunt, quo qui nos legerint amoris expertes intelligent hinc se esse admonitos ut amorem omni opera et cura fugiant, quem tam multis perturbationibus refertum videant […]“ (Alberti, Amator 110; 2010: 99). Derartige wechselseitigen Beeinflussungen zweier Künste sind in jener Epoche nicht ungewöhnlich, zumal bereits Horaz in seiner Ars poetica diese beiden Aspekte in einem synästhetischen Sinne zusammendenkt (ut pictura po‐ esis), 571 doch nirgendwo werden sie greifbarer als bei Alberti, der auf dieses Motiv auch in De re aedificatoria anspielt 572 und der sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur sein Tätigkeitsfeld hat, und zwar als Theoretiker wie auch als Praktiker (cf. Ponte 1981: 123-131). 573 Aus seiner Grundüberzeu‐ gung einer natura regolata speist sich nicht nur sein Architekturverständnis, sondern auch seine Sprachauffassung, die eben genau deshalb auch dem volgare einen entsprechenden Platz einräumt. Synthese Wenn man nun die Analyse der einzelnen Textstellen zusammenfasst und beide Untersuchungsperspektiven (varietätenlinguistisch und rekontextualisierend) miteinander verbindet, dann läßt sich zunächst vorab konstatieren, daß sich Alberti nur relativ kursorisch in die Diskussion um die Frage nach der Sprache der römischen Antike einmischt. Er widmet im Gegensatz zu Bruni und Biondo, den Initiatoren der Debatte, der Thematik auch kein eigenes Traktat (in Brief‐ form), sondern geht auf die bei diesen beiden Autoren diskutierten Argumente scheinbar eher beiläufig im Vorwort zum dritten Buch seines Werkes Über das Hauswesen ein. 351 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Dort fungiert die Frage an der Oberfläche als Aufhänger für eine relativ ex‐ plizite Begründung, warum er diese seine Gedanken hier in der italienischen Volkssprache niederlegt. Tatsächlich geht es ihm aber um weitaus mehr, nämlich ganz allgemein zu begründen, warum die italienische Sprache für derartige Zwecke einer elaborierten Schriftlichkeit durchaus auch geeignet ist und das Potential hat, dem Lateinischen ebenbürtig zu sein. Diese Grundeinstellung, die auch in anderen Schriften deutlich wird (z. B. Theogenius, De pictura) und in der Abfassung der Grammatichetta kulminiert, in der er schließlich die Dichotomie von ars und natura überwindet, hat ihren Ursprung auch in dieser Debatte um das volgare antico. Abgeleitet aus der antiken Sprachsituation, in der schon aus Gründen der Verständlichkeit nur ein Idiom aller Sprachteilnehmer existieren konnte, argumentiert er für das zeitgenössische volgare, welches am besten diesen Zweck erfüllen kann und eben nicht das nur von wenigen Gelehrten verstandene Latein. Konsequenterweise tritt er deshalb den Beweis an, daß die Volkssprache an sich genauso grammatikfähig ist wie das Lateinische und daß man sie auch mit den gleichen (lateinischen, wissenschaftlichen) Kategorien beschreiben kann. Seine Sichtweise auf die antike Sprachsituation ist eben von diesem Grund‐ impetus geprägt und dient ihm insgesamt als Aufhänger seiner Befürwortung des volgare im Rahmen der Vorphase der questione della lingua (cf. Kap. 6.1.2) und im Kontext des florentinischen umanesimo civile. Cardini (2008: 26-27) weist dezidiert darauf hin, daß der Vulgärhumanismus weder ein Bruch mit den studia humanitas markieren soll, noch eine Vulgarisierung von Sprache und Literatur für die breite Masse impliziert, sondern eine Neurorientierung im Ver‐ gleich zum Trecento, weshalb er auch den Begriff umanesimo volgare durch rifondazione, su base umanistica, della lingua e della letteratura italiana ersetzen möchte. Aus Gründen argumentativer Deutlichkeit formuliert er deshalb für die An‐ tike eine einzige lingua commune - im Sinne eines literarischen Lateins, einer cultissima ed emendatissima lingua -, die alle sprachen, die Gelehrten, wie auch das Volk, Frauen und Handwerker. Das konnte für ihn gar nicht anders sein, da sonst die Schriftsteller und ihre Anliegen ja nicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gewesen wären. Er lehnt damit sowohl die von Bruni beschriebene Diglossie-Situation ab, genauso wie die mit Mitteln der Rhetorik dargestellte Varietätenvielfalt Biondos, die er zumindest nicht thematisiert. Sicherlich mögen ihm diaphasische und diastratische Unterschiede auch bei den Sprechern und Schriftstellern der Antike bewußt gewesen sein, doch stellt er diese interne Variation zugunsten der ihm wichtigen Gesamtaussage zurück. 352 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 574 Im Folgenden soll auf den aktuellen Abdruck des Briefes bei Marchiò (2008: 174-179, Kommentar: 180-184) rekurriert werden, da dort auch eine ausführliche Kommentie‐ rung zu finden ist. Ebenfalls zahlreiche Anmerkungen weist aber auch die Edition des Schreibens bei Tavoni (1984: 228-238) auf. Das Dokument findet sich in der umfang‐ reichen Gesamtausgabe der Korrespondenz Guarinos (Epist. 1915-1919) in Band II, 2 (Nr. 813) von 1916. Was den Sprachwandel angeht, so stützt er sich eindeutig auf die These Bi‐ ondo, d. h. er erklärt die Veränderung des Lateins und die Entstehung der itali‐ enischen Sprache (volgare) durch den Einfluß der Superstratsprachen der Ger‐ manen, die er noch um die Substratsprache der Gallier ergänzt. Dabei ist selbst für Alberti als dezidiertem Vulgärhumanisten die zentrale, nur schwer erklär‐ bare kulturelle Katastrophe der Niedergang des Lateins in Zusammenhang mit dem Untergang des römischen Imperiums; ein umwälzendes Ereignis in der Ge‐ schichte und ein großer Verlust für die Gelehrtenwelt, den er mit einem gewissen Verständnis durch den Freiheitsdrang der unterjochten Völker zu erklären ver‐ sucht. Betrachtet man abschließend die Position Albertis im Sinne eines Erkennt‐ niszuwachses in Bezug auf den Entstehungsprozeß des Verständnisses des Vul‐ gärlateins, so ist festzustellen, daß er im Vergleich zu Bruni und Biondo einer‐ seits dahingehend innovativ ist, daß er das Prozeßhafte des Sprachwandels betont und den Aspekt des Substrateinflußes miteinbringt, andererseits aber hinter dem elaborierten Modell interner Variation Biondos weit zurückbleibt, obwohl er grundsätzlich eher diesem als Bruni zugeneigt ist, gegen den er relativ deutlich polemisiert. 6.2.5 Guarino Veronese (Guarinus Veronensis) Die chronologisch gesehen nächste Stellungnahme im Disput um die antike Sprachkonstellation findet sich in einem Schreiben von Guarino Veronese (1374-1460) an den Markgrafen von Ferrara, Leonello d’Este (1407-1450), den er von dessen irrigen Ansichten bezüglich des Verhältnisses zwischen der Sprache des Volkes (vulgus) bzw. der Ungebildeten (indocti) und der der Ge‐ lehrten (docti) der Vorväter im alten Rom (maiores nostros) abbringen möchte (cf. Guarinus Veronensis ill. principi Leonello marchioni Estensi de lingue latine differentiis, 1449). 574 Textanalyse Nach einigen einleitenden Worten, in denen Guarino die schöne Gewohnheit des gemeinsamen Räsonierens in Erinnerung ruft, welches er wiederaufzu‐ 353 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 575 Hier (Guarino, De ling. lat. diff. 7; 2008: 174) liegt eine Referenz an Isidor v. Sevilla und seinen Etymologiae (IX, 1, 2) vor (cf. Marchiò 2008: 180, FN 6). nehmen gedenkt, möchte er mit seinem ehemaligen Schüler die quaestiuncula erörtern, wie es um die antike Latinität bestellt gewesen sei. Dabei formuliert er die im Kreise des marchese offensichtlich bekannte Fragestellung noch einmal zusammenfassend folgendermaßen: […] cuius generis lingua maiores nostros usos fuisse iudicemus, cum eos latine locutos dicimus; eane fuerit, quam hac aetate vulgo et ab indoctis usurpari sentimus, an lit‐ teralis et a peritis observata, quam graeco vocabulo recte grammaticam appellamus. (Guarino, De ling. lat. diff. 4; 2008: 174) Hier stellt er sich zunächst die Frage nach den Sprachen der Antike und stellt noch einmal das Latein des vulgus dem der Gelehrten gegenüber, welches er litteralis bzw. entsprechend dem ursprünglichen griechischen Ausdruck gram‐ matica nennt. Anschließend präzisiert er die Opposition zwischen der Sprache der docti einerseits und die der rustici, der operarii, der militii und der mulierculae andererseits (ibid., De ling. lat. diff. 5; 2008: 174). Daraufhin scheint es ihm nötig zunächst etwas Grundsätzliches zu klären und er definiert lingua (als synony‐ misch zu os), 575 um dann schließlich im folgenden Passus des Briefes deutlich Position in Bezug auf die von Bruni und Biondo aufgeworfene Fragestellung hinsichtlich des Lateins der römischen Antike zu nehmen: Latinitatem igitur duobus acceptam modis apud maiores animadverto uno quidem pro ea sermocinatione, qua priscos sine ratione regulis urbanos ac rusticos, uti solitos legimus, cum vox tamen ipsa litteralis esset; altero, qua studio et arte comparata docti posterius usi sunt. (Guarino, De ling. lat. diff. 8; 2008: 174-175) Zunächst ist einmal festzustellen, daß Guarino von den duobus modis der lati‐ nitas spricht und sich damit deutlich mehr an die Position Biondos anlehnt als an die Brunis, der ja explizit von zwei verschiedenen Sprachen in der Antike spricht. Aber auch Guarino bleibt grundsätzlich bei einer dichotomischen Dar‐ stellung. Dabei stellt er die Sprache aller Bewohner (urbanos ac rusticos) der Sprache der Gelehrten (docti) gegenüber, wobei letztere später durch studio et arte entstanden sei. Diese stehe wiederum in Opposition zur Charakterisierung der Sprache der Mehrheit bzw. aller, die nach überkommenem Muster (cf. Dante, Bruni) als regellos charakterisiert wird (sine ratione regulis). Im Gegensatz zu Dante bezeichnet Guarino auch diesen modus des Sprechens explizit als dem Lateinischen zugehörig (vox tamen ipsa litteralis). 354 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 576 Tatsächlich handelt es sich um ein nur leicht abgewandeltes Zitat aus der Cicero zuge‐ schriebenen Rhetorica ad Herennium, welches hier im Original wiedergeben sei: „Lati‐ nitas est quae sermonem purum conservat ab omni vitio remotum. Vitia in sermone, quo minus is Latinus sit, duo possunt esse: soloecismus et barbarismus“ (Rhet. ad Her. IV, 17; 1994: 210). 577 Schmauser (2018), die die Grammatiken der Frühen Neuzeit in Bezug auf Barbarismus und Solözismus untersucht, verweist eingangs auf den Ursprung und die Charakteris‐ tika dieser in der Rhetorik und Grammatik definierten Phänomene. Ein Barbarismus (barbarismus) wird dabei als Verstoß gegen die korrekte Abfolge der Buchstaben bzw. Laute (scriptum vs. enunciatio) in einem Wort verstanden. Seit Quintilian unterscheidet man systematisch eine quadripartita ratio, d. h. vier mögliche Arten von Verstößen, nämlich adjectio (‚Hinzufügen‘), detractio (‚Wegnahme‘), transmutatio (‚Vertauschen‘) und immutatio (‚Ersatz‘); gemeint sind einzelne Laute oder Silben (bzw. Buchstaben) sowie Akzente. Auch beim Solözismus (soloecismus), der als abweichende Wortverbin‐ dung zu verstehen ist, werden in der Institutio oratoria weitere Unterkategorien unter‐ schieden, und zwar soloecismus per adiectionem (z. B. Pleonasmus), soloecismus per det‐ ractionem (z. B. Ellipse) und soloecismus per transmutationem (z. B. Hyperbaton) sowie soloecismus per immutationem (Kasus, Numerus, Tempus etc. betreffend). Die Abgren‐ zung zwischen den phonetisch-morphologischen (Barbarismus) und den morpholo‐ gisch-syntaktischen (Solözismus) Verstößen ist dabei nicht immer eindeutig vorzu‐ nehmen. Beide Kategorien können in der rhetorischen Tradition sowohl als vitia gebrandmarkt werden, aber unter bestimmten Umständen auch als licentiae zugelassen werden, um virtutes der Rede wie puritas, perspicuitas oder ornatus zu erfüllen (cf. Schmauser 2018: 24-37). Im Folgenden definiert Guarino noch präziser, was er unter dem Latein der Gebildeten versteht, indem er auf ein Zitat von Cicero zurückgreift, 576 wie er selbst angibt, und dessen Kernaussage darin besteht, daß die latinitas ein sermo purus ist, und zwar ohne jegliche vitia. Welche Arten von vitia es gibt und wie diese zu verstehen seien, illustriert er wiederum durch Rückgriff auf den von ihm nicht genannten Isidor von Sevilla (Etym. I, 32, 2-3; 1911: s. p.) und unter‐ scheidet barbarismus, soloecismus und barbarolexis (cf. ibid., De ling. lat. diff. 9-10; 2008: 175). 577 Anschließend erklärt er seinem Schüler Leonello, daß das Latein verschie‐ denen Stufen bzw. Epochen (aetates) der Veränderung durchlaufen hat (influ‐ xisse mutationem) und wie diese im Einzelnen abzugrenzen seien. Ceterum non erit inutile cognitu, Leonelle princeps, si diversas latini sermonis aetates speciesque noverimus, ut mirari desinamus tantam influxisse mutationem […]. (Gu‐ arino, De ling. lat. diff. 12; 2008: 175) Guarino unterteilt die Sprachentwicklung des Lateinischen in Anlehnung an Isidor in vier Stadien (quadripartitum latinae locutionis usum agnoscet), wobei das erste unter Ianus beginnt und die frühen Völker bzw. Bewohner Italiens (priscos Italae incolas), nämlich die Aurunker (Auruncos), die Sikaner (Sicanos) 355 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 578 Zu der hier von Guarino angeführten Anekdote des Menenius Agrippa, die in den Kommentaren von Tavoni (1984) und Marchiò (2008) nicht verortet wird, cf. Livius (Ab urbe cond. II, 32, 5-12; 1987 I: 232-234). und die Pelasger (Pelasgos) umfaßt (cf. ibid., De ling. lat. diff. 13; 2008: 175). In jener Zeit waren die Wörter des Lateinischen zwar noch sehr volkssprachlich (verba …vulgaria), d. h. in gewisser Weise archaisch (cf. Mazzocco 1993: 52), aber es gibt für ihn keinen Zweifel, daß es sich dabei dennoch um Latein handelte. Quae verba, licet tunc vulgaria ut illius aetatis essent, tamen litteralem gerere formam nemo negaverit. (Guarino, De ling. lat. diff. 14; 2008: 175) Das sich daran anschließende zweite Stadium der lateinischen Sprache beginnt mit der Herrschaft des Königs Latinus (ab Latino rege), des Sohns des Faunus. In dieser Epoche sei das Latein, was seine Konstruktionen betreffe, immer noch recht einfach gewesen, um nicht zu sagen syntaktisch rudimentär, so die Inter‐ pretation Guarinos, der diese Art zu sprechen mit dem Stottern eines Mädchens vergleicht (cf. absolute constructa, ut balbutiens adhuc puella). Immerhin habe die Sprache sich bereits ein wenig zu der zuvor noch „rauheren“ Epoche ver‐ bessert (priore illa asperiore). Er verortet dabei die Abfassung der Zwölftafelge‐ setze in jener Zeit, als auch die Ansprache von Meneneus Agrippa an die römi‐ sche plebs auf dem mons sacer (cf. ibid., De ling. lat. diff. 13-16; 2008: 175). 578 Was den Charakter der Sprache anbelangt, so fasst er zusammen, daß es sich auch in diesem Stadium um Latein (litteralem) handelt, wenn auch eher ein sol‐ ches des usus bzw. der consuetudine und nicht der grammatischen Regelhaftig‐ keit (non grammatice bzw. (non) ratione et artifico). Hos grammaticam idest litteralem, non grammatice, locutos contenderim, ut qui con‐ suetudine magis quam ratione et artificio ducti eorum sensa enuntiarent. (Guarino, De ling. lat. diff. 17; 2008: 175) Das darauffolgende dritte Sprachstadium ist dann die Epoche, in der das Latei‐ nische seine Blüte entfaltet. Guarino charakterisiert diese Sprachform mit einer Reihe von Eigenschaften, die auf die sprachliche Perfektion in Form und Funk‐ tion abheben und die stilistische Elaboriertheit, die erreicht wurde, ausdrücken sollen. Entsprechend beschreibt er das Lateinische vor allem als (lingua) formosa, adulta und concinna und schließlich auch als recte romanam, idest ro‐ bustam, im Sinne von ureigentlich römisch. Succesit tertia iam formosa iam adulta iam concinna, quam recte romanam, idest ro‐ bustam, appellaverim. (Guarino, De ling. lat. diff. 18; 2008: 175) 356 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 579 Zu den einzelnen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte aus heutiger Perspektive cf. Kap. 4.1. In dieser Zeit wirkten laut Guarino Dichter, Redner und Historiker wie Plautus, Neavius, Enna, Ovid, Virgil, Cato, Cicero sowie die Gracchen, wobei insbeson‐ dere Cicero durch seine einzigartigen sprachlichen Fähigkeiten (unicum elo‐ quentiae) hervorzuheben sei (cf. ibid., De ling. lat. diff. 19; 2008: 175). Das vierte und letzte Stadium der sprachlichen Entwicklung, welches Guarino in Anlehnung an das Isidor’sche Modell mixta nennt, ist schließlich durch den Niedergang und die Korruption (corruptelam linguae) geprägt. 579 Quarta deinde mixta quaedam emersit seu potius immersit lingua, quam rectius cor‐ ruptelam linguae quis dixerit. (Guarino, De ling. lat. diff. 20; 2008: 176) Die Art und Weise der sprachlichen „Verunreinigungen“ in dieser Periode schil‐ dert Guarino daraufhin noch genauer, in dem er die Barbaren dafür verant‐ wortlich macht, sich hier also der Korruptionsthese Biondos anschließt. Durch verschiedene Völkerstürme (varias temptestas gentibus in Italiam) sei die Rein‐ heit des Lateinischen verlorengegangen, die Sprache der Römer degeneriert und die einstige Sanftheit und der Glanz des Idioms durch Gallier, Germanen bzw. Goten und Langobarden, die ihre sprachlichen Spuren hinterließen (indeleta vestigia), zerstört worden. Irrumpentibus namque per varias tempestates gentibus in Italiam, quaedam sicuti colluvio sordium et polluta barbaries confluxit inquinate loquentium; unde romani sermonis prophanata est puritas et prior illa maiestas velut e senatu deiecta degene‐ ravit, infundentibus modo se Gallis nunc Germanis alias Gotthis et Longobardis, quorum indeleta vestigia luculentum illum romanae suavitatis splendorem macula‐ runt et instar faecis obscenarunt. (Guarino, De ling. lat. diff. 21; 2008: 176) Im weiteren Verlauf des Briefes führt er noch aus, daß es ja offensichtlich sei, daß alle Römer das Lateinische gleichermaßen verstanden hätten. Dies würde sich allein an den zahlreichen Aufführungen von Komödien, Tragödien und Gedichtrezitationen zeigen, denen Leute jeden Alters und Geschlechts (omnis sexus et aetatis) beigewohnt hätten und auch diesbezüglich ihre Gefühlsre‐ gungen kundgetan hätten; so zu erkennen an den Tränen, dem Lachen, dem Seufzen oder den Äußerungen der Freude, dem Schweigen und dem Applaus (cf. ibid., De ling. lat. diff. 22; 2008: 176). Des Weiteren ist es für Guarino auch unbestritten, daß alle Reden, die im alten Rom gehalten wurden, also u. a. die Ansprachen der Kaiser an das Heer, der Konsuln oder Volkstribunen an das Volk 357 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 580 Daraus ist zu folgern, daß für Guarino das Latein der antiken Gelehrten zwar auch normiert war (v. supra studio et arte), aber keiner so starken Normierung unterworfen wurde wie das zeitgenössische Latein, welches er als reine Kunstsprache verstand. 581 Cf. dazu Livius, der berichtet, wie er bei seiner Darstellung der frühen römischen Ge‐ schichte (ab urbe condita) nur auf wenige schriftliche Zeugnisse zurückgreifen konnte: „[…] tum quod rarae per eadem tempora literae fuere, una custodia fidelis memoriae rerum gestarum […]“ (Livius, ab urbe cond. VI, 1, 2; 1991 II: 386-387). Hierbei skizziert er gleichzeitig en passant einer der wesentlichsten Aufgaben eines Schriftsystems, näm‐ lich die Bewahrung von vergangenen Ereignissen für nachfolgende Generationen, d. h. die Funktion eines kulturellen Gedächtnisses zu übernehmen. und die der Redner auf dem Forum, von allen verstanden wurden (cf. ibid., De ling. lat. diff. 26; 2008: 176). Schließlich faßt er für seinen Fürsten noch einmal die Grundcharakteristik des antiken Lateins (latinam locutionem) zusammen, indem er darauf verweist, daß das Latein der Antike eine Sprache des täglichen Gebrauchs war, also vor allem aus dem usus entstanden ist und nicht durch Normierung, ganz im Ge‐ gensatz zum zeitgenössischen Latein, welches zur Kunstsprache geworden sei (nunc arte constat et regulis); 580 und weil dieses Latein der römischen Antike nicht so sehr eine durch den kunstgerechten, literarischen Gebrauch geprägte Sprache war (cum rarus esset litterarum usus), wurde sie auch von allen verstanden, war sie den Römern so eigen und natürlich (per omnes patere solitam) wie dem Löwen das Brüllen oder den Kühen das Muhen - das galt auch für die Illiteraten. Vides iam, magnifice princeps, latinam locutionem, quae nunc arte constat et regulis, superioribus saeculis usu tantum fuisse perceptam, cum rarus esset litterarum usus, Livio teste, 581 apparetque sic latinam orationem late per omnes patere solitam, ut etiam illitterati bene et latine loqui et intelligere possent, ut rugire leoni, mugire bovi, equis hinnire simul cum animabus nasci cernimus. (Guarino, De ling. lat. diff. 33-34; 2008: 177) Nachdem Guarino hier noch einmal die Verständlichkeit des Lateins für die ganze Bevölkerung hervorgehoben hat, betont er im weiteren Verlauf, daß dies auch für Frauen gelte, indem er rhetorisch fragt, warum sonst Cicero so viele Briefe an seine Gattin und seine Tochter geschrieben hätte, wenn die des Lateins gar nicht mächtig gewesen wären (cf. ibid. De ling. lat. diff. 41; 2008: 178). Schließlich bringt Guarino einen weiteren Aspekt ins Spiel, denn er zieht den Vergleich zum Griechischen, welches er aus eigener Anschauung aus seinen Studienjahren in Konstantinopel bei Manuel Chrysoloras (v. supra et infra) kennt, wie er selbst berichtet (Cum iuvenilibus annis sub Manuele Chrysolora illustri philosopho; ibid., De ling. lat. diff. 45; 2008: 178). Das Griechische ist eben‐ falls eine Sprache, die grammatischen Regeln unterliegt, doch ist sie weniger 358 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 582 Die Schlußfolgerung liegt für Guarino auch deshalb nahe, da er das Lateinische als Tochter des Griechischen betrachtet. Mit dem Hebräischen sind dies die drei existier‐ enden Schrift- und Literatursprachen, die deshalb auch regelhaft, also grammatisch sind (hebraicam graecam et huius filiam latinam, Guarino De ling. lat. diff. 43; 2008: 178). Zur Vorstellung von den drei sakralen Sprachen der Bibel, die hier zugrundeliegt, v. supra et infra. Kunstsprache als das zeitgenössische Lateinische, sondern wurde mit eben dieser Grammatik und Norm durch den Gebrauch erlernt, d. h. die Sprecher er‐ werben laut Guarino das Griechische mit all ihrer Regelhaftigkeit was die Pro‐ sodie (accentuum normas) anbelangt, den Kasus (casuum mutationes), die Zeiten (verborum tempora) oder die Syntax, und zwar durch ihre Eltern und die Um‐ gebung: „tantum poterat absorpta a parentibus et conterraneis per usum forma loquendi absque norma“ (ibid., De ling. lat. diff. 45; 2008: 178). Dies bedeutet auch, daß das Griechische in der Antike gleichermaßen von den Landbewohnern und den Frauen (rusticos et mulieres) „fehlerfrei“ (incorruptam) verwendet wurde und von den großen Philosophen, Historikern und Rednern geschrieben wie auch gesprochen wurde. Graecam etiam sic litteralem esse et grammaticorum non dicam rationibus sed con‐ suetudine usurpatam esse affirmaverim, ut rusticos et mulieres, quae incorruptam facilius servant antiquitatem, quo minus multorum sermonis communicatrices sunt […]. (Guarino, De ling. lat. diff. 44; 2008: 178) Aus dieser Anschauung heraus, so wie er das zeitgenössische Mittelbzw. Neu‐ griechische in Konstantinopel erlebt hatte, argumentiert Guarino, daß das La‐ teinische in der Antike genauso funktioniert haben muß. 582 Am Beispiel des Spanischen bzw. von spanischen Sprichwörtern, die er von einem Schüler in Ferrara und von anderen Leuten gehört hatte, exemplifiziert er, daß das Lateinische nicht nur in Italien, sondern auch außerhalb gesprochen wurde. Hieraus läßt sich zumindest implizit schließen, daß er das Spanische aus dem Lateinischen ableitet, er es aber auf jeden Fall in eine direkte Relation setzt. Documento sunt romanarum coloniarum in hanc usque aetatem retentae reliquia. Nuper cum subiratus et excandescens quidam herus in famulum inclamaret, erat autem ex Iberia peregrinus in hoc ferrariensi gymnasio: „vade, inquit, in malas horas cum carnes assadas anseres et anserinos“. Quid latinius fere dici potest? Alter gentis eiusdem dixerat: „esta civitat habe formosas mulieres“, cum in singulari numero di‐ ceret: „esta e formosa mulier“ et „dico res honestas“. Finis non erit si quaecunque succurrerint scribere aggrediar, quibus latinam linguam litteralem et grammaticam fuisse ostendam, qua prisci et posteriores usi sint, donec ad hanc non latinam sed latinae corruptricem descensum est. (Guarino, De ling. lat. diff. 50-52; 2008: 178). 359 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 583 „Alia sunt innumerabilia iisdem in commentariolis, quae dum oculis ac mente percurro, nullum nisi latinum occurrit, a consuetudine vulgari diversum, qualiter nunc aetatis nostrae viri litterati loquuntur“ (Guarino, De ling. lat. diff. 58; 2008: 179). 584 Zum Bewußtsein zwischen dem sermo urbanus und dem sermo rusticus in der römischen Antike cf. Kap. 4 vorliegender Arbeit. Guarino betont dabei, daß das Lateinische der Antike eine Einheit gebildet habe und sehr weit verbreitet gewesen sei, es aber nicht der heutigen Volkssprache gleichen würde, sondern eher der Sprache der Gelehrten, d. h. so wie sie schreiben würden, nicht sprechen. Letzteres leitet er auch von Dokumenten mit tironischen Noten ab, die angeblich Poggio Bracciolini - so Guarinos Auskunft - während des Konzils von Konstanz gefunden hätte (Guarino, De ling. lat. diff. 53; 2008: 179). Seine Schlußfolgerung ist deshalb, daß es in der Antike kein vol‐ gare in seinem zeitgenössischen Sinn gegeben habe, sondern nur Latein. 583 Dies deduziert er außerdem aus der Tatsache, daß auch die Werke der ersten latein‐ ischen Schriftsteller nicht in der Vulgärsprache geschrieben waren, sondern nur auf Latein, d. h. in der latina lingua litteralis. Für Guarino ist damit bewiesen, daß ein volgare nicht existiert habe, sonst hätte man ein Minimum an Spuren desselben feststellen können müssen (cf. ibid., De ling. lat. diff. 59-60; 2008: 179). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Nach diesem summarischen Abriß des hier relevanten Briefes von Guarino soll nun als Nächstes entsprechend der hier zugrundegelegten Vorgehensweise eine sozio- und varietätenlinguistische Klassifikation seiner sprachreflektorischen Darlegungen versucht werden sowie sodann seine Ansichten zur diachroni‐ schen Entwicklung, also dem Sprachwandel, erfaßt werden sollen. Im Gegensatz zu Leonardo Bruni, der für die Antike eine diglossische Sprach‐ situation postuliert, betont Guarino im Gefolge von Biondo die Einheitlichkeit des Lateins. Diese latinitas betrachtet er jedoch nicht als vollständig homogen, sondern als zweigeteilt, indem er von zwei Modi des Lateinischen in der Antike spricht (Latinitatem igitur duobus acceptam modis, v. supra), was man durchaus als zwei Varietäten interpretieren kann. Welcher Natur diese Varietäten sind, ist nicht so ohne weiteres zu bestimmen. Man könnte postulieren, daß es sich hierbei am ehesten um eine diamesische Opposition handelt, da Guarino für die eine Varietät, die er ganz in der Tradition der volgare-Definition als sine ratione regulis definiert, als Sprechergruppen sowohl die Stadtals auch die Landbe‐ völkerung (urbanos ac rusticos) benennt, d. h. er nivelliert hier einen potentiellen diatopischen Unterschied, da es ihm in dieser Bestimmung eben gerade nicht auf den Unterschied zwischen ländlicher und städtischer Aussprache an‐ kommt, 584 sondern um die Abgrenzung zu der hier gegenübergestellten Varietät. 360 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 585 Zusätzlich hat Guarino aber auch noch die Referenz zum zeitgenössischen Griechischen im Blick (v. infra). Man könnte also annehmen, daß es ihm um die in der mündlichen Kommuni‐ kation verwendete Allgemeinsprache geht, und zwar in Abgrenzung zu der dann als Sprache der docti bestimmten Varietät, die durch ars charakterisiert wird (qua studio et arte) und damit primär der Schriftlichkeit zuzuordnen wäre. Der Gebrauch dieser Varietät ist wiederum eindeutig einer bestimmten Sprechergruppe zuzuordnen, nämlich der der Gelehrten. Es ist davon auszugehen, daß Guarino weniger explizit und stark als Biondo und Bruni, ein Stück weit eben‐ falls die eigene Sprachsituation auf die Antike überträgt, 585 so daß die Sprache der Gelehrten, also die Kunstsprache vorwiegend geschrieben wurde, aber in bestimmten Diskurstraditionen (z.B. Gelehrtengesprächen) auch mündlich ver‐ wendet wurde. Insofern ist hier in Bezug auf die vorgeschlagene Auffassung einer diamesischen Opposition bei Guarino darauf zu verweisen, daß hier die Idee einer konzeptionellen Mündlichkeit vs. einer konzeptionellen Schriftlich‐ keit im Vordergrund steht (in anderer Terminologie auch diakonzeptionell zu benennen, cf. Kap. 3.1.1), wobei nur die konzeptionelle Skripturalität medial mündlich oder schriftlich realisiert werden kann, die konzeptionelle Oralität tatsächlich ausschließlich medial mündlich. Dies ist auch daran zu erkennen, daß Guarino immer wieder betont, daß es ein volgare im Sinne des zeitgenössi‐ schen volgare bei den Römern der Antike nie gegeben habe, da dafür keinerlei schriftliche Zeugnisse vorlägen. Was nun den Sprachwandel betrifft, so legt Guarino ein detailliertes Konzept vor, indem er sich nicht nur einfach der Korruptionsthese Biondos anschließt, sondern diese erweitert, indem er nach dem Vorbild der Einteilung Isidors vier Stadien der lateinischen Sprachentwicklung annimmt. Wie genau diese Stufen der Sprachentwicklung zusammenhängen bzw. wie es dazu kommt, bleibt Gu‐ arino (ebenso wie schon Isidor) dabei schuldig. Allein die letzte Phase wird durch den „schlechten“ Einfluß der Barbaren erklärt. Wie Alberti bringt Guarino neben den Superstratvölkern auch das Substratvolk der Gallier mit ins Spiel (cf. Kap. 6.2.4). Bezüglich der Superstratvölker spricht er auch allgemein von den Germanen, was zuvor so explizit noch nicht in diesem Zusammenhang vorkam, unterschlägt jedoch die bei Biondo erwähnten Vandalen und beschränkt sich auf Goten und Langobarden als die wichtigsten. Was die Art und Weise der Beeinflussung anbelangt, so faßt sich Guarino hier relativ kurz, er spricht nur von vestigia, die sprachlich übrig bleiben würden und das Latein verdorben hätten. 361 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Wie ist nun Guarinos Beitrag zur Diskussion der antiken Sprachsituation im Rahmen der Applizierung einer modernen, linguistischen Perspektive zu beur‐ teilen? Im Vergleich zu Leonardo Bruni, von dem Guarino sich mit dieser Ab‐ handlung distanzieren möchte, betont er die Einheitlichkeit der lateinischen Sprache und lehnt die These von der als Diglossie zu beschreibenden Konstel‐ lation mit einer dichotomischen Trennung in volgare und latino ab. Er steht damit der Auffassung Flavio Biondos eindeutig näher, auch indem er das Latei‐ nische als heterogene und sich verändernde Sprache beschreibt. Allerdings geht er dabei nicht so differenziert wie Biondo vor, der ja wenigsten drei Varietäten des Lateinischen annimmt, die graduell ineinander übergehen, sondern be‐ schränkt sich auf zwei, deren Abgrenzung auch deutlich markiert ist, also nicht in gleicher Weise graduell zu verstehen ist. In dieser Hinsicht ist seine Auffas‐ sung eher mit der Albertis zu vergleichen, mit dem klaren Unterschied, daß Guarino hier von zwei Modi des Lateinischen spricht, die man am ehesten als diamesisch (im Sinne konzeptueller Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit) identifi‐ zieren kann, Alberti hingegen von einer antiken lingua commune, neben der es noch eine Gelehrtensprache gäbe. Ein Merkmal Guarinos ist es auch, daß er die Existenz eines volgare in der Antike vehement negiert. Es ist dabei schwer he‐ rauszufiltern, inwieweit hier bestimmte Differenzen rein nominalistischer Natur sind bzw. ob auch die Vorstellungen in Bezug auf die antike Sprachsitu‐ ation als abweichend zu charakterisieren sind. Die Frage der Begrifflichkeiten ist innerhalb dieses Disputes jedenfalls nicht zu vernachlässigen. Bei Guarino tritt noch ein anderer Aspekt auf, der bisher noch nicht so präsent war bzw. eher implizit behandelt wurde, nämlich die Norm. Indem er in Anlehnung an die antike Rhetorik und Grammatik einen sermo purus für das Lateinische definiert, der sich dadurch auszeichnet, daß er frei von vitia sei, legt er so etwas fest, was man als Norm fassen kann, wodurch diese so bestimmte „reine Redeweise“ ebenfalls als eine eigenständige Varietät innerhalb des Lateinischen zu postu‐ lieren ist. Was den Sprachwandel anbelangt, so grenzt er sich damit eindeutig von Bruni ab und schließt sich Biondo (und damit auch Alberti) an, indem er das Lateini‐ sche als eine lebendige, veränderliche Sprache auffasst. Neu bei Guarino ist seine Einteilung in vier Stufen der Veränderung, die er von Isidor von Sevilla über‐ nimmt und die sehr viel konkreter als bei Biondo den Prozeß des diachronen Wandels beschreibt. Ähnlich wie Alberti erweitert er das Spektrum der beein‐ flussenden Völker um die Gallier, fügt also den Superstratvölkern und ihren Sprachen, die von Biondo erstmals als Ursache für den „Niedergang“ des La‐ teinischen ausgemacht wurden, ein Substratvolk hinzu. Dadurch wird deutlich, daß das Lateinische sich bereits seit alters her in einem Veränderungsprozeß 362 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 586 In Padua studierte er laut Flavio Biondo bei Giovanni Conversini ( Johannes von Ra‐ venna, 1356-1417), gemeinsam mit Niccolò Niccoli (1363-1437) (cf. Pistilli 2003: 357). 587 Chrysoloras reiste als Botschafter des byzantinischen Kaisers erstmals 1396 nach Italien, und zwar zunächst nach Venedig, wo er aber zeitweilig mehr über Literatur und Phi‐ lologie diskutierte als über Politik. Nachdem er zwischenzeitlich u. a. in Florenz Grie‐ chisch unterrichtete, kehrte er 1403 wieder nach Venedig zurück, um von dort nach Konstantinopel zu reisen; Guarino hat wohl dort seine Bekanntschaft gemacht (cf. Sab‐ badini 1891: 9). Zum Wirken dieser Schlüsselfigur des italienischen Humanismus als Kulturmittler zwischen Byzanz und Italien, insbesondere in Bezug auf die Vermittlung des Griechischen und damit dem Zugang zu „neuen“ Texten, aber auch in Bezug auf eine neuartige Pädagogik cf. Wulfram (2012). befand. Allerdings verschränkt er diese Erkenntnis nicht „adäquat“ mit den vier Isidor’schen Phasen, d. h. die Gallier erscheinen im Zuge der Korruption des Lateinischen erst im vierten Stadium und zwar gemeinsam mit den Goten und Langobarden, müssten jedoch aus heutiger Sicht der Erkenntnis mit ihren Ein‐ flußnahme viel früher angesetzt werden, zunächst als Adstrat wie dann auch als Substrat. Die Gallier bzw. Kelten sind damit letztlich auch nur bedingt als ein Substratvolk aus heutiger Sicht bei Guarino zu identifizieren, da sie eher im Rahmen einer beliebigen Erweiterung des Katalogs der Korruptionsvölker zu sehen sind, die hauptsächlich im Zuge der Völkerwanderung das Latein verän‐ derten. Rekontextualisierung Im Folgenden sollen nun im Rahmen der Rekontextualisierungsbemühungen in vorliegender Arbeit die Thesen Guarinos noch einmal deutlicher im zeitge‐ schichtlichen Zusammenhang verortet werden. Über die frühen Jahre und sein Studium, welches er wohl zunächst in Verona, dann in Padua (evtl. auch in Venedig) absolvierte, 586 gibt es nur wenig gesicherte Kenntnisse (cf. Pistilli 2003: 357), denn erst als der aus Verona stammende Gio‐ vanni Guarini (lat. Guarinus Veronensis) (1374-1460), der als Guarino Veronese (bzw. Guarino da Verona) oder als Guarino Guarini bekannt wurde, sich als einer der ersten Humanisten entschließt, nach Konstantinopel zu reisen, um bei Ma‐ nuel Chrysoloras (ca. 1350-1415), den er bei dessen Italienaufenthalt kennen‐ lernte, 587 Griechisch zu studieren (1403-1408), können seine weiteren Lebens- und Schaffensstationen genauer nachverfolgt werden. Am Hof von Byzanz erwarb er auch mehrere wertvolle Manuskripte (z. B. von den Komödien des Aristophanes u. v. m.) und kehrte schließlich wieder nach Italien zurück (cf. Pis‐ tilli 2003: 357; Gall 2012: 516). Auf der Suche nach weiteren Kodizes reiste er da‐ raufhin von Venedig aus die istrische und dalmatische Küste entlang, kehrte dann nach Verona zurück, hielt sich für kurze Zeit in Bologna auf (1408), wo er 363 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 588 Zum ehrenvollen Gedenken an Bruni schreibt Guarino nach dessen Tod ein Epitaph (cf. Pistilli 2003: 364). 589 Zu den vielfältigen Beziehungen zwischen Guarino und Biondo, insbesondere in Bezug auf ihre gemeinsame Leidenschaft, die Suche nach antiken Manuskripten und deren Erschließung, cf. Nogara (1927: XXXIV-LVI). 590 Zu Guarinos Wirken in Ferrara, seinen Schülern und dem dortigen Gelehrtenkreis am Hofe des Markgrafen Leonello d’Este, cf. Klettke (2011). Ferrara entwickelt sich ab Be‐ ginn des 15. Jahrhundert zu einem der herausragenden Zentren des Humanismus und der Renaissance, mit dem Schwerpunkt auf den Gebieten der Philologie (antike Spra‐ chen und Texte), der Medizin, der Astrologie und der Literatur (Boiardo, Ariosto, Tasso). Die tragenden Institutionen sind dabei die Universität (gegründet 1391), der Fürstenhof, die Akademien und Privatschulen (z. B. Guarinos) sowie die Biblioteca Estense (cf. Klettke 2011: 82). 591 Zu Leben und Wirken Guarinos (und seiner Schüler) cf. auch Rosmini (1805) und Bertoni (1921). die Bekanntschaft von Poggio Bracciolini und Leonardo Bruni 588 machte (cf. Sabbadini 1891: 13-14) und siedelte schließlich nach Florenz über (1410), wo er ab 1412 an der Universität Latein und Griechisch lehrte. Aufgrund zunehmender Zwistigkeiten mit seinem früheren Studienfreund Niccoli verließ er bereits 1414 Florenz wieder, um in Venedig privaten Unterricht zu geben, vor allem in Grie‐ chisch. Nach fünf Jahren kehrte er der Serenissima den Rücken, ließ sich in seiner Heimatstadt Verona nieder, gründete dort eine Privatschule (1419) und bekam vom dortigen Consiglio eine gut dotierte Rhetorik-Professur (cf. Pistilli 2003: 358-359). Seine letzte Station wurde Ferrara, als er vom dortigen Mark‐ grafen Niccolo III . d’Este (1393-1441) als Prinzenerzieher für seinen Sohn Leo‐ nello an den Hof eingeladen wurde (1430). Dort lernte er u. a. auch Flavio Biondo kennen, mit dem er freundschaftlich eng verbunden blieb (Mazzocco 2016: 10). 589 Nach dem Ende der Ausbildung des Prinzen (1435) führte er wiederum eine Privatschule, wurde aber gleichzeitig vom Consiglio für öffentliche Lesungen (professore allo Studio) bezahlt (1436-1441). Ab 1438 fungierte er außerdem zeit‐ weise als Übersetzer (griech.-lat.) des Konzils von Basel (bzw. Ferrara u. Florenz, 1431-1449). Im Jahr der Übernahme der Regentschaft seines ehemaligen Zög‐ lings Leonello d’Este (1441-1450), unter dem Ferrara seine Blütezeit humani‐ stischer Gelehrsamkeit erlebt (cf. Sabbadini 1891: 403), ermöglicht ihm dieser erneut eine bezahlte Professur (1441-1449), und zwar für Rhetorik, Latein und Griechisch an der 1442 reformierten Universität von Ferrara 590 (cf. Pistilli 2003: 363-365; Jaumann 2004: 318-319; Gall 2012: 517-518). 591 Guarinos Wirken und sein Einfluß auf die studia humanitatis sind vor allem in seiner Tätigkeit als Übersetzer aus dem Griechischen (Plutarch, Lukian, Iso‐ krates, Strabon), seiner Sammelleidenschaft von antiken Manuskripten (ca. 50 364 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 592 Zu seinen bedeutsamsten Funden zählt eine Handschrift von Plinius-Überlieferungen (Buch 1-7 u. 9) sowie das bis dato unbekannte Werk des antiken Enzyklopädisten Aulus Cornelius Celsus (1. Jh. n. Chr.) (cf. Gall 2012: 517). 593 Sein Sohn Battista Guarino verfaßte die Schrift De ordine docendi et studendi (1459), in der die Methoden des Vaters genauer dargelegt werden (cf. Gall 2012: 517). 594 Guarino stand in der Tradition von Gasparino Barzizza (ca. 1360-1431) aus Padua, bei dem auch Alberti gelernt hatte und später Francesco Filelfo Unterricht nahm (cf. Kap. 6.2.4). Guarino legte wie schon Barzizza, mit dem er freundschaftlich verbunden war, Wert darauf, daß die moralische und humanistische Erziehung Hand in Hand gingen. Begonnen wurde im von Guarino ausgearbeiteten dreistufigen Cursus mit grammatischen Studien, darauf aufbauend folgten prosodische und metrische und schließlich rhetorische Übungen, wobei er als Lehrwerk seine eigenen Regulae gram‐ maticales verwendete (cf. Gall 2012: 517). Ein Merkmal Guarinos war es auch die Schriften der Scholastiker (cf. Kap. 6.1.5), die viele seiner Zeitgenossen aus Gründen der Abgrenzung zu vorherigen Epoche verachteten, durchaus als wertvoll anzusehen und daraus neue Methoden zu entwickeln (cf. Tateo 1994: 20). Zum weiteren schulischen Wirken Guarinos cf. Schweyen (1973). 595 Zu einer kritischen Auseinandersetzung und Kontextualisierung seiner einzelnen Werke cf. Sabbadini (1896). 596 Zu den Schülern von Manuel Chrysoloras, unter denen sich zahlreiche namhafte Hu‐ manisten befanden, cf. Hintzen (2012b: 230). griech. Handschriften), 592 seiner editionsphilologischen Leistung (Kommentare zu Persius, Martial, Juvenal, Plautus, Aristoteles, Cicero, Gellius, Servius) sowie seinem pädagogischen Engagement geschuldet. Letzteres machte ihn zu einem der wichtigsten und einflußreichsten Lehrer des Humanismus, was nicht zuletzt durch die Anzahl seiner prominenten Schüler (z. B. Georg von Trapezunt (1395-1472 / 1482), Vittorino da Feltre (1378-1446), Peter Luder (ca. 1415-1472), Angelo Decembrio (ca. 1415-1467), Tito Vespasiano Strozzi (1425-1505), Bat‐ tista Guarini (1434-1513)), 593 seine Schulgründungen, seine Methoden und seine Schriften für den Unterricht (De ortographia, Regulae grammaticales, Vocabula, De diphthongis, De distinctione oationis) 594 deutlich wird. Überliefert sind zudem sein umfangreiches Briefkorpus (Epistulario), seine Reden, seine Carmina diffe‐ rentialia sowie die Mitschriften seiner Schüler (Collectae) (cf. Pistilli 2003: 367-369; Gall 2012: 517). 595 Für den hier fokussierten Kontext sei in erster Linie auf seine kulturmittler‐ ische Funktion im Gefolge von Manuel Chrysoloras zu verweisen, 596 war Gua‐ rino doch einer der ersten, die Griechisch als lebendige Sprache in einer Umge‐ bung von Gräkophonen erlernte. Dementsprechend war auch das Bewußtsein für diese Sprache bei ihm präsenter als bei anderen und er bringt dies in seine Sprachbetrachtungen mit ein. Kurze Zeit später folgte Francesco Filelfo (1398-1481) als venezianischer Ge‐ sandte und der auch in Ferrara wirkende Giovanni Aurispa (1376-1459) (cf. 365 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 597 Leonello war womöglich auch ein wenig dem volgare zugeneigt, was Tavoni (1984: 73) aus der engen Beziehung Leonellos zu Alberti schließt, insbesondere in den Jahren 1436-1445, sowie aus der Widmung Albertis an ihn (Ad Leonellum illustrissimum prin‐ cipem Estensem) in dessen Theogenius, in der er sich für die Verwendung der Volks‐ sprache ausspricht. Cf. dazu auch das entsprechende Zitat in Kap. 6.2.3 vorliegender Arbeit. 598 Angelo Decembrio, der Sohn Uberto Decembrios (1350-1427), war wie auch sein Bruder Pier Candido Decembrio (1399-1477) ein Schüler Guarinos (cf. ausführlicher Kap. 6.2.9). 599 Decembrio läßt in diesem Abschnitt Leonello über Übersetzungen aus dem Lateinischen in die Volkssprache und die Zusammenstellung einer Bibliothek räsonieren (cf. Marchiò 2008: 46). Klettke 2011: 85), die ebenfalls für mehrere Jahre nach Konstantinopel reisten und die durch ihre dort erworbenen Kenntnisse und ihre aus den dortigen Bib‐ liotheken mitgebrachten antiken Kodizes maßgeblich zur Verbreitung des Grie‐ chischen im rinascimentalen Italien beitrugen. Leonardo Bruni, der ebenfalls bei Chrysoloras Griechisch gelernt hatte, gehörte hingegen zu dem Kreis der Hu‐ manisten in Florenz, die von der Initiative des Kanzlers Coluccio Salutati pro‐ fitierten erstmals einen Griechischlehrer nach Italien zu holen (cf. Kap. 6.1.1. u. 6.2.3). Er kannte demgemäß das Griechische nicht als eine lingua viva in actu aus eigener Anschauung. Guarino Veronese war an dem ursprünglichen Disput zur Sprachenfrage der Antike im päpstlichen Antichambre nicht in personam beteiligt, dennoch schien er sich genötigt zu fühlen, über zehn Jahre später dazu Stellung zu nehmen. Der äußere Anlaß war wohl, daß er sich seinem ehemaligen Zögling, dem zu jenem Zeitpunkt regierendem Fürsten Leonello d’Este, gegenüber verpflichtet fühlte, und zwar dahingehend, daß er ihn nicht in einem Irrtum bezüglich eben dieser Thematik befangen lassen sein wollte. Die Kontroverse zwischen Bruni und Biondo von 1435 hatte bereits Wellen geschlagen und beschäftigte auch die Ge‐ lehrten am Hof von Ferrara - neben Feltrino Boiardo († 1456) und Niccolò Pi‐ rondoli (14./ 15. Jh.) eben auch Leonello selbst. Die Genannten schienen tenden‐ ziell eher der These Brunis von den zwei verschiedenen Sprachen im antiken Rom und der Unveränderlichkeit des Lateinischen anzuhängen, 597 wie aus der Politia literaria (ca. 1460 / 1464) des Angelo Decembrio herauszulesen ist (cf. De‐ cembrio, Pol. lit. I, 6, 13). 598 Decembrio, der in diesem Abschnitt seines Traktates (cf. Zitat in Kap. 6.2.9) die Worte seinem Fürsten Leonello in den Mund legt, 599 stellt in Anlehnung an die Konzeption Brunis den sermo vernaculus bzw. sermo maternus oder sermo domesticus der illiterati, der durch den uso quotidianus gekennzeichnet ist, dem sermo latinus der literati gegenüber (cf. supra latini scilicet literatique sermonis 366 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 600 Zu dieser konkreten Kontroverse cf. Canfora (2001) sowie zur allgemeinen Kultur der humanistischen Invektive Helmrath (2010) bzw. im Speziellen Helmrath (2010: 280). und Brunis latine litterateque loqui, Kap. 6.2.3.1) (cf. Tavoni 1984: 74; Marchiò 2008: 46-47). Tavoni (1984: 73) spricht dabei resümierend von „idee diffuse nell’ambiente ferrarese“, aufgrund derer Guarino sich bemüßigt fühlte, diesen mit einer per‐ sönlichen Stellungnahme entgegenzutreten (cf. auch Coseriu / Meisterfeld 2003: 161-162). Guarino verband vor allem mit Flavio Biondo eine enge Freund‐ schaft, er kannte und schätze aber auch Leonardo Bruni, genauso wie Poggio Bracciolini, mit dem er in besagtem Jahr 1435 einen Disput über die historische Bedeutung der römischen Feldherrn Scipio und Cäsar führte. 600 Die Beziehungen zu Alberti, der sich kurz zuvor ebenfalls zur Sprachenfrage der Antike geäußert hatte, sind vielfältiger Natur; nicht nur hatten beide den gleichen Lehrer (Bar‐ zizza), sondern wie Guarino hat auch der jüngere Alberti ein enges Verhältnis zu Leonello d’Este, der ihm ein Förderer war und ihn in seinen Neigungen zur Architektur bestärkte. Durch die zahlreichen persönlichen Verknüpfungen der einzelnen Protagonisten in dieser Diskussion und vor dem Hintergrund eines allgemeinen regen Austausches (schriftlich und mündlich) in der rinascimen‐ talen Gelehrtenrepublik kann man davon ausgehen, daß die einzelnen Positi‐ onen zumindest in Ansätzen hinreichend bekannt waren, was freilich Fehlin‐ terpretationen nicht ausschließt (cf. Kap. 6.2.3.1 tesi pseudo-bruniana). Die Auffassung Guarinos, die er innerhalb des Disputes um die Sprachkons‐ tellation der Antike einnimmt, zeitigt einerseits einige Besonderheiten gegen‐ über seinen Vorgängern, auf die er nicht explizit referiert, deren Argumente er jedoch anderseits durchaus übernimmt, so daß er eindeutig in dieser Diskussion verortbar ist. Guarino steht zunächst mit seinen Darlegungen zu den zwei Arten des La‐ teinischen in der Antike (duobus acceptam modis apud maiores) in der Tradition Biondos, der dies allerdings differenzierter formuliert hatte, indem er angelehnt an die antike Rhetorik verschiedene Zwischenstufen annahm. Bruni hingegen war es wichtig zu betonen, daß im alten Rom zwei unterschiedliche Sprachen gesprochen wurden, d. h. er übertrug die zeitgenössische diglossische Sprach‐ situation mehr oder weniger auf die antike. In der Definition der zwei latein‐ ischen Sprechweisen bleibt Guarino, vor allem was die Sprache der Gebildeten anbelangt, ganz den überkommenen Ansichten verhaftet. Wie bereits Dante - in dieser Hinsicht Repräsentant einer mittelalterliche Tradition (cf. Kap. 6.1.5) - nennt er die Sprache der docti auch grammatica sowie auf eine antike gramma‐ tische Tradition rekurrierend, sermo purus (cf. Quintilian). Die gesprochene 367 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 601 Es ist anzunehmen, daß er hier auf den consuetudo communis bzw. cotidiana referiert (cf. Kap. 4.1.2). 602 Zur Rolle des Griechischen im Rahmen dieser Debatte bei Leonardo Bruni cf. Kap. 6.2.3.1 vorliegender Arbeit. Sprache, also die aller Römer, sowohl der Stadtbevölkerung als auch die der Landbewohner (urbanos ac rusticos) wird von Guarino nicht explizit benannt, doch ist sie als regellos zu charakterisieren (cf. Dante, Bruni) und wird zudem durch den usus bestimmt, ein Aspekt der zuvor bei den anderen Disputanten weniger im Vordergrund steht. Guarino betont zudem, daß auch diese Art der Sprache der antiken Römer Latein sei, was er anknüpfend an die antike Rhetorik und Grammatik mit latinitas bezeichnet (cf. Kap. 4.1.2.3), gleichzeitig aber auch entsprechend den Gepflogenheiten der Renaissance mit litteralis (cf. Bruni). Dabei betont er am Schluß seiner Argumentation, daß es in der Antike gerade kein volgare im zeitgenössischen Sinn gegeben hätte. Die Einheit der latein‐ ischen Sprache leitet er entsprechend seinen Erfahrungen in Konstantinopel von der Beobachtung ab, daß dort ebenfalls die Sprache des täglichen Gebrauches (consuetudo) 601 und die grammatica eng miteinander verknüpft sind und letztere sich aus ersterer durch grammatische Regulierung ableitet. Diese Parallele zur zeitgenössischen griechischen Sprachsituation wurde bisher noch nicht so de‐ zidiert als Argument angeführt. 602 Ebenfalls innovativ zeigt sich Guarino bei der Thematisierung des Sprach‐ wandels, wobei er grundsätzlich die Korruptionsthese Biondos übernimmt, je‐ doch zusätzlich einzelne Entwicklungsstufen differenziert herausarbeitet. Hierbei stützt er sich wiederum auf Passagen in den Etymologiae des Isidors von Sevilla (Hispalensis, 7. Jh.), die er basierend auf Biondo und entsprechend seinen eigenen Vorstellungen weiter expliziert. Die ursprünglichen Ausführungen Isi‐ dors lauten folgendermaßen: Latinas autem linguas quattuor esse quidam dixerunt, id est Priscam, Latinam, Ro‐ manam, Mixtam. Prisca est, quam vetustissimi Italiae sub Iano et Saturno sunt usi, incondita, ut se habent carmina Saliorum. Latina, quam sub Latino et regibus Tusci et ceteri in Latio sunt locuti, ex qua fuerunt duodecim tabulae scriptae. Romana, quae post reges exactos a populo Romano coepta est, qua Naevius, Plautus, Ennius, Vergilius poetae, et ex oratoribus Gracchus et Cato et Cicero vele ceteri effuderunt. Mixta, quae post imperium latius promotum simul cum moribus et hominibus in Romanam civi‐ tatem inrupit, integritatem verbi per soloecismos et barbarismos corrumpens. (Isidor, Etym. IX, 6-7; 1911: s. p.) Zu Beginn seines neunten Buches De linguis, gentibus, regnis, militia, civibus, affinitatibus behandelt Isidor den Ursprung der Sprachenvielfalt (Turm von 368 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 603 Zu den Erwähnungen der genannten Völker u. a. bei Herodot, Thukydides oder Livius cf. die entsprechenden Belegstellen in Kleiner Pauly (1964-1975, s. v.). 604 „Whereas Biondo relies primarily on Cicero’s Brutus and Orator, Guarino makes effec‐ tive use of a variety of classical and early medieval authors with emphasis on Cicero and Isidore“ (Mazzocco 1993: 56). Babel), den Begriff ‚Sprache‘ sowie Entstehung, Verbreitung und Diversität der drei heiligen Sprachen der Bibel, Hebräisch, Griechisch und Latein: „Tres sunt autem linguae sacrae: Hebraea, Graeca, Latina, quae toto orbe maxime excel‐ lunt“ (Isidor, Etym. IX , 3; 1911: s. p.). Die Ausführungen Isidors sind dabei eher als eine Synopse zu sehen, gespeist aus klassisch antiker Überlieferungstradition (z. B. Rhetorik, Grammatik, Historik) sowie christlicher (Bibel), deren Stränge er beide zu vereinen sucht. Guarino greift nun die wesentlichen Punkte Isidors zur Entwicklung der la‐ teinischen Sprache auf, d. h. vor allem die vier Stadien (Priscam, Latinam, Ro‐ manam, Mixtam), ergänzt diese jedoch um weitere Aspekte, zum Teil aus eigener Anschauung und Interpretation, zum Teil rekurrierend auf die Argumente aus vorliegendem Disput bzw. allgemeiner zeitgenössischer Tradition; seine Aus‐ führungen sind dadurch entsprechend umfangreicher (Guarino, De ling. lat. diff. 12-21; 2008: 175). So ergänzt er beispielsweise in Bezug auf die erste Phase des Lateinischen die Völker der Aurunker, Sikaner und Pelasger, wobei er hier wohl u. a. auf Livius zurückgreift, 603 den er selbst an anderer Stelle auch anführt und der aber ebenso auch eine Quelle Isidors darstellt. Bei der Auflistung der maß‐ geblichen Dichter und Redner in der Blütephase des Lateinischen, also der dritten, ergänzt er Ovid und betont die herausragende Stellung Ciceros, was unzweifelhaft der Aufwertung, wenn nicht gar Überhöhung dieses Autors im Humanismus geschuldet ist. In die letzte Phase integriert Guarino Biondos Kor‐ ruptionsthese, indem er Germanen für den Verlust des splendor der lateinischen Sprache verantwortlich macht, zusätzlich jedoch auch noch die Gallier, ein de‐ zidiert neuer Aspekt. In Bezug auf seine Gesamtargumentation fällt auf, daß Guarino sich auf eine größere Breite von antiken, frühmittelalterlichen und zeitgenössischen Autoren stützt - vor allem auf Cicero, Livius und Isidor sowie seine Vorgänger in der Debatte - als beispielsweise Bruni oder Biondo, wobei gerade letzterer einen Großteil allein aus den rhetorischen Schriften Ciceros bezieht. 604 Explizit als Quellen genannt werden in dem Brief an Leonello u. a. Horaz, Livius, Ovid, Ci‐ cero, Quintilian, Terenz, Plautus und Iuvenal, was die Antike betrifft, an Zeit‐ genossen werden Feltrino Boiardo, Niccolò Pirondoli, Manuel Chrysoloras, Jo‐ 369 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 605 Es versteht sich von selbst, daß Guarino knapp fünfzehn Jahre später auf mehr zeitge‐ nössische Meinungen rekurrieren kann als Bruni und Biondo, die sich als erstes in dieser Debatte schriftlich äußerten. 606 Zu einer genauen Aufschlüsselung der antiken Quellen in diesem Brief Guarinos cf. die Kommentare bei Marchiò (2008: 180-184). 607 Die zeitgenössischen Dichter und Gelehrten, die Guarino erwähnt, dienen dabei vor allem als renommierte Zeugen, eine Art Rückversicherung und argumentative Stärkung seiner Ausführungen; er rekurriert hier nicht auf deren Schriften. Umgekehrt hat er ganz offensichtlich die Traktate Brunis, Biondos und wahrscheinlich auch Albertis ge‐ lesen, da dies zum einen dem Grund für seine Stellungnahme darstellt, zum anderen benutzt er auch deren Argumente; sie bleiben jedoch allesamt unerwähnt. hannes Chrysoloras und Poggio Bracciolini angeführt; 605 andere offensichtlich benutzte Autoren wie Sueton, Isidor sowie Bruni, Biondo oder Alberti bleiben hingegen unerwähnt. 606 Es sei hier allerdings diesbezüglich betont, daß die an‐ gesprochene Breite allein die argumentative Struktur betrifft, 607 nicht den all‐ gemeinen Kenntnisstand bzw. Bildungshintergrund, der bei allen an dieser De‐ batte Beteiligten zweifelsfrei sehr hoch war, gehörten sie doch allesamt zur Elite der Gelehrter jener Zeit, die ein breites Spektrum humanistischer Bildung ge‐ nossen und dieses durch weiterführende Studien vertieft hatten. Die Negierung eines antiken vulgare bei Guarino hängt wohl auch mit seiner Verachtung der zeitgenössischen Volkssprache zusammen, so daß für ihn auch kein Anlaß besteht das italienische volgare in Anknüpfung an einen Vorläufer in der Antike zu rechtfertigen. Guarinos Geringschätzung des Italienischen ist beispielsweise bei Decembrio dokumentiert, der ihn folgende Worte sagen läßt: […] Guarinum tenens: „Dantem poetam, quanquam stili gratia et sermonis auctoritate Maroni minime conferendum, tamen, ut omnes arbitrantur, de inferiorum genere, praecipue de purgatoria caelestique habitatione, quam paradysum vocant, exquisitius, quam a poeta nostro posita sint, memorasse, qui tria volumina de eis tantum tribus generibus tot annos elaborasset.“ Cui Guarinus illudens: „Exhorruistine magis“, inquit, „o fili, inferorum peonas, quae a Dante tuo Florentino, quam a Mantuano praedicantur, eo scilicet, quod verbosiores sint ad vulgarem consuetudinem magis accummodatae? “ (Decembrio, Pol. lit. V, 64, 1-2; 2002: 408) Die abschätzigen Bemerkungen zur Divina Commedia Dantes zeigen deutlich Guarinos Einstellung zur zeitgenössischen Literatur in der Volkssprache. Ent‐ sprechend ist seine Einordnung im Rahmen der questione della lingua zu sehen. Synthese Zusammenfassend läßt sich Guarinos Beitrag zur Sprachenfrage um die antike Sprachenkonstellation folgendermaßen synthetisieren: Der wichtigste Aspekt, 370 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen den er im Sinne eines Erkenntnisgewinns beisteuert, ist wohl die weitere Prä‐ zisierung des Sprachwandels, der durch die Korruptionsbzw. Barbarenthese Biondos für das Lateinische erstmals dezidiert formuliert wurde und den Gua‐ rino mit Rekurs auf Isidor genauer bestimmt. Dadurch bringt er nun deutlich zum Ausdruck, daß die lateinische Sprache in der Antike eine lingua viva ist und deshalb auch von jeher der Veränderung unterworfen war und nicht nur in der Phase ihres „Niedergangs“. Guarino integriert dabei Biondos Idee der corruptio durch die Barbaren in die letzte Phase Isidors, nämlich als das Lateinische eine lingua mixta wurde. Die Superstratvölker Biondos ergänzt Guarino durch die auch schon bei Alberti angeführten Gallici, also ein Substratvolk. Das Bild von einem Sprachwandelprozeß, der sich über viele Jahrhunderte hinweg erstreckt und mehreren Einflußfaktoren unterliegt, wird dadurch komplettiert. Die ne‐ gative Konnotation in Bezug auf einen „Verfall“ der lateinischen Sprache bleibt dabei more solito erhalten. In Bezug auf die Art des Lateinischen in der Antike postuliert Guarino eine Einheit des Lateinischen und ähnlich wie Biondo läßt sich bei ihm eher eine graduelle Abstufung zwischen dem Latein der einfachen Leute und dem der Gebildeten herauslesen. Allerdings bleibt es bei Guarino bei zwei modi des Lat‐ eins, im Gegensatz zu Biondo, der ein feingliedrigeres Varietätenspektrum an‐ hand rhetorischer Register postuliert. Eine wichtige Stütze in der Argumenta‐ tion Guarinos ist dabei das Griechische, das er aus eigener Anschauung als lebendige Sprache kennt. Anhand des von ihm beobachteten Verhältnisses zwi‐ schen gesprochener und geschriebener Sprache im zeitgenössischen Konstan‐ tinopel deduziert er eine ähnliche Situation für das antike Rom. Daraus schließt er, daß das Lateinische der Antike einheitlich war, d. h. beiden modi eine latinitas zukommt bzw. beide litteralis sind, die Sprache der Schriftsteller und Rhetoriker dabei nur eine durch studio et arte verfeinerte Varietät war; letztlich aber beide Arten mit dem zeitgenössischen Latein vergleichbar sind. Tavoni (1984) spricht von latinitas I und latinitas II bzw. litterae I und litterae II , die hier implizit unterschieden würden: Guarino ha distinto una latinitas I, caratterizzata da una forma loquendi (o chiara con‐ figurazione fonologica della vox), che è litteralis, ovvero grammatica, perché è carat‐ terizzata dalle litterae I (gli elementi del linguaggio articolato), e che era propria na‐ turalmente di tutti (in quanto espressione umana distinta da quella animale); e una latinitas II, caratterizzata morfosintattica e alla correttezza prosodica e lessicale) che consente di grammatice loqui, ovviamente solo ai litterati, cioè ai possessori delle litterae II (la scrittura, e la grammatica che sulla lingua scritta si fonda, e che inver‐ samente regola la lingua, anzitutto scritta e quindi parlata). (Tavoni 1984: 84) 371 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 608 Es sei hier in erster Linie auf die aktuelle und kommentierte Fassung von Marchiò (2008: 185-197, Kommentar: 198-204) zurückgegriffen; es sei aber gleichzeitig auch auf den ebenfalls herangezogenen, kommentierten Abdruck bei Tavoni (1984: 239-259) verwiesen. Die gesamte Historia tripartita mit allen drei Einzeltraktaten findet sich in der Ausgabe der Opera omnia von Fubini (cf. Poggio, Hist. trip.; 1964: 32-37, 37-51, 52-63). Mazzocco (1993: 57) urteilt, daß Guarinos „rather accurate perception of the va‐ riance between the Latin of the learned and that of the unlearned“ eine Verbes‐ serung gegenüber Biondos eher allgemeiner Interpretation der latinitas dar‐ stellte, da dieser die Unterschiede durch „a difference in tone and artistic elegance“ (ibid.) ausdrücken würde. Dies sollte man relativieren, insofern Bi‐ ondo es mit Hilfe dieser Unterteilung geschafft hat, eine Idee von einer größeren Binnendifferenzierung des Lateinischen zu geben und damit als erster und für längere Zeit auch als einziger den Pfad der üblichen dichotomischen Perspektive verlassen hat. Der Erkenntnisbeitrag Guarinos ist unzweifelhaft, aber mehr im Sinne eines zusätzlichen Aspekts, nicht eines linearen, insgesamten improve‐ ment. Interessant in dem von Guarino gelieferten Gesamtbild, welches er seinem ehemaligen Zögling Leonello d’Este präsentiert, ist auch die Tatsache, daß er das zeitgenössische volgare gerade nicht als eine Fortsetzung des antiken ge‐ sprochenen Lateins ansieht. Da er jedoch andererseits durchaus eine Kontinuität impliziert, wie er es auch für das Spanische darlegt, womit er im Vergleich zu seinen Vorgängern erstmals eine Situation außerhalb Italiens anspricht, bleibt er diesbezüglich eher opak, insofern die genaue Herkunft der zeitgenössischen Volkssprache nicht weiter thematisiert wird. 6.2.6 Poggio Bracciolini (Poggius Florentinus) Eine direkte, wenn auch zeitlich etwas verzögerte Reaktion auf den Ausgangs‐ disput des Jahres 1435 zur Sprachenfrage der Antike erfolgte von Seiten Poggio Bracciolinis (1380-1459), der im dritten Teil seiner dialogischen Schrift Historia tripartita disceptativa convivalis (1450) dazu Stellung bezieht. Während der erste Teil des Werkes der Beziehung zwischen Gast und Gastgeber gewidmet ist (Uter alteri gratias debeat pro convivio impenso, an qui vocatur, an qui vocat) und der zweite die Vorrangstellung in Bezug auf Medizin und Jurisprudenz zum Gegen‐ stand hat (Utra artium, medicinae, an iuris civilis praestet), erörtert Poggio in diesem dritten Teil die von Bruni und Biondo aufgeworfene Fragestellung (Utrum priscis romanis latina lingua omnibus communis fuerit, an alia quaedam doctorum virorum, alia plebis et vulgi). 608 372 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Textanalyse In Poggio Bracciolinis fiktiven Dialogen in der Tradition eines Tischgespräches diskutieren der Kanzler der Republik von Florenz Carlo Marsuppini (1398-1453), der Arzt Niccolò da Foligno (Niccolò Tignosi) (1402-1474), der Humanist und Kanzler Benedetto Accolti (1415-1464), und er selbst die besagten Fragestel‐ lungen. Der dritte Teil der Historia tripartita, auch kurz als Disceptatio Convi‐ valis III benannt, beginnt im Wesentlichen zunächst mit einer Zusammenfas‐ sung der Grundproblematik der angesprochenen historischen Konstellation. Diutina me dubitatio tenuit, utrum priscis Romanis latina lingua, quam grammaticam vocamus, fuit omnium communis, an alia quaedam esset doctorum virorum, alia plebis et vulgi oratio; id est, ut apertius loquar, utrum docti pariter et indocti ab ipsaque infantia latino veluti materno domesticoque sermone loquerentur, an esset alius qui‐ spiam doctorum hominum, prout nobis contingit, ac usu vulgari diversus. (Poggio, Utrum prisc. 2) Es geht also darum, inwiefern die lateinische Sprache in der Antike (priscis Ro‐ manis latina lingua) eine Einheit (fuit omnium communis) gebildet habe, d. h. die Sprache der docti, die grammatica, und die der indocti und der plebs, also das vulgare, zusammenhängen bzw. was in jener Zeit die Muttersprache und Sprache des Hausgebrauches (materno domesticoque sermone) war. Poggio Bracciolini referiert im Folgenden, daß er ganz explizit der Meinung Brunis, wie dieser sie in seinem Brief an Biondo dargelegt hatte, widersprechen möchte, er jedoch - wie er einige Zeilen später ausführt - bisher aufgrund an‐ derer Verpflichtungen noch nicht dazu gekommen sei, obwohl Bruni diese These doch wohl eigentlich im Sinne einer Herausforderung an ihn gerichtet habe. Sentio enim hac de re viros doctissimos dissentire. Leonardus Aretinus epistola quam scripsit ad Flavium Forliviensem probare nititur non fuisse eam linguam omnibus communem, sed aliam popularem, aliam eruditorum virorum extitisse locutionem. (Poggio, Utrum prisc. 3; 2008: 185) Leonardum quippe memini dixisse mihi etiam se conscripisse epistolam, quo me al‐ liceret ad respondendum. Et certe is mihi animus semper fuit, ut aliquid contra suam sententiam scriberem, sed variae occupationes fuere hactenus impedimento. (Poggio, Utrum prisc. 10; 2008: 186) Poggio beginnt damit einzelne Argumente zu erörtern und greift dabei auf das inzwischen wohlbekannte Inventar von Situationen des römischen Alltags zu‐ rück, die für bzw. gegen eine allgemeine Verständlichkeit des Lateins in sensu strictu, also der grammatica in der zeitgenössischen Interpretation, sprechen (cf. Kap. 6.2.3). Diese seien nun nicht im Einzelnen alle erneut wiedergegeben, son‐ 373 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini dern nur die wichtigsten Elemente bzw. solche Aspekte, die Poggios Beitrag zu der hier erörterten Diskussion deutlich werden lassen. So versucht Poggio Bracciolini zu Beginn seines Traktates, Brunis Argument, daß die Ungebildeten den Reden im römischen Senat nicht hätten folgen können, dadurch zu entkräften, daß er zu bedenken gibt, daß ja auch viele Fremde in der heutigen Kurie in Rom säßen, die das Latein der Gelehrten nur mangelhaft be‐ herrschten, aber trotzdem in der Lage seien, zumindest rudimentär den Aus‐ führungen dort zu folgen; ein Argument, welches bereits Biondo ins Feld führte. Cur enim quod nunc doctrina percipitur non tunc quotidiano usu percipi potuit? cum noverimus in curia romana permultos qui, licet rudes literarum, tamen assidua con‐ suetudine tum loquendi tum caeteros audiendi, et intelligerent alios et ipsi haud ab‐ surde latine loquerentur. (Poggio, Utrum prisc. 6; 2008: 185) Um die Einheit der lateinischen Sprache zu beweisen, da er nicht wie Bruni zwei distinkte Sprachen (Latein und Volkssprache) für die römische Antike annimmt, rekurriert er auf die aus dem Namen ableitbare Entstehungsgeschichte des La‐ teinischen. Poggio legt dar, daß das Volk der Latini, welches diese Sprache ge‐ sprochen hatte, in der Region Latium verortet werden muß bzw. er zeigt auf, daß Latium, die Latiner und das Lateinische schon allein des Namens wegen in ursächlichem Zusammenhang stehen müssten. Dies sei auch schon allein daraus ersichtlich, daß sich der Namen der jeweiligen Sprachen anderer Regionen Eu‐ ropas ebenfalls aus der entsprechenden Bezeichnung der Völker (und implizit der dazugehörigen Länder bzw. Regionen) ableiten lasse. Konkret führt er als Exempla an, daß das Französische nach den Franzosen (Galli), das Spanische nach den Spaniern (Hispani), das Deutsche nach den Deutschen (Germani), das Italienische nach Italern / Italikern (Itali) benannt worden sei und in Bezug auf das Griechische und andere Sprache (item de graeca et reliquis) das Gleiche ge‐ schehen sei. Nempe, opinor, illam qua latini populi utebantur, et ab eis ortam, illaque eos fuisse usos qui dicebantur Latini, a quibus et nomen sortita est; quam et Romanis, cum Latini essent et in Latio siti, in usu fuisse communi necesse est. Nam sicut linguam dicimus gallicam, hispanam, germanam, italam, qua Galli, Hispani, Germani, Itali loquuntur, item de graeca et reliquis, eodem modo et latinam linguam eam fuisse oportet, quae in communi erat usu apud Latinos. (Poggio, Utrum prisc. 13-14; 2008: 186) Aus diesen Überlegungen heraus und der Tatsache, daß den Römern das Latei‐ nische als Muttersprache zu eigen sei, sie dies also seit ihrer Kindheit erlernt hätten und ihnen deshalb alle Wörter dieser Sprache vertraut und daher auch 374 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 609 „Lingua insuper latina ex verbis constat quibus eum sermonem conficiebant Latini. Ergo et verba latina in consuetudine erant communi. Non enim verbis utebantur incognitis, sed quae cum nutricem lacte perciperentur“ (Poggio, Utrum prisc. 16; 2008: 186). 610 „Si enim alius ab hoc sermo extitisset, aliud quoque nomen sortitus esset; sic in nobis est, qui grammaticam, id est latinam linguam, distinguimus a vulgari“ (Poggio, Utrum prisc. 15; 2008: 186). 611 Cf. hingegen Valla, der glaubt, daß das Lateinische sich aus dem Italienischen ableiten würde (cf. Marchiò 2008: 199, FN 21). in ihrem Gebrauch seien (in consuetudine erant communi), 609 leitet Poggio die Einheit des Lateins ab: „Hanc unicam fuisse ipsa ratione constat“ (Poggio, Utrum prisc. 15). Hätte es noch eine weitere Sprache (bzw. Redeweise, cf. sermo) ge‐ geben, dann wäre davon ein Name überliefert worden - so seine Argumenta‐ tion. 610 Schließlich würde man auch heutzutage die grammatica bzw. die lingua latina und das vulgare voneinander unterscheiden, also zwei Bezeichnungen für zwei Sprachsysteme haben. In seinen weiteren Ausführungen greift Poggio dann den Aspekt auf, den bereits Guarino Veronese ins Feld geführt hatte, nämlich die Verbreitung des Lateinischen außerhalb Italiens und dessen sichtbare Reste (vestigia) in den heutigen romanischen Sprachen. Wie Guarino spricht er dabei zunächst das Spanische an und seine offensichtliche Verwandtschaft mit dem Lateinischen, was sich leicht anhand der Reden der Spanier in der zeitgenössischen römischen Kurie feststellen ließe (cf. Poggio, Utrum prisc. 23-24, 2008: 187; Sánchez 2004: 309). 611 Dies sei aber andererseits auch erstaunlich, da Spanien nach dem Untergang des römischen Reiches ja lange Zeit von anderen, fremden Völkern (barbaris nationibus) dominiert gewesen sei. Et admirandum sit profecto, cum Hispania a tot barbaris nationibus tam longe tempore fuerit possessa, unicum etiam verbum latinum in usu retinuisse. (Poggio, Utrum prisc. 25; 2008: 187) Die Tatsache, daß im Spanischen sich immer noch Spuren des Lateinischen finden ließen bzw. daß die Iberische Halbinsel so tiefgreifend romanisiert worden war, sei nicht allein auf die römische Kolonisierungstätigkeit (a colonis romanis qui ad Hispaniam missi) zurückzuführen, sondern auch auf den Handel und die Notwendigkeiten einer einheitlichen Kommandosprache (negociandi aut imperandi gratia). Hoc autem a colonis romanis qui ad Hispaniam missi sunt hauserunt, aut frequentia Romanorum qui illuc negociandi aut imperandi gratia accesserunt. Ita lingua latina tunc adeo diffusa est, ut hodie quoque illius vestigia supersint. (Poggio, Utrum prisc. 26; 2008: 187) 375 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 612 Womöglich angeregt durch Poggios Feststellung verweist daraufhin Biondo in seinem Traktat Ad Alphonsum Aragonensem Serenissimum Regem de Expeditione in Turchos (1453) ebenfalls darauf, daß das Rumänische eine Sprache sei, die mit dem Lateinischen in einer Beziehung stünde (cf. Mazzocco 1993: 225, FN 44). Zur Latinität des Rumäni‐ schen bei Biondo und Poggio cf. Renzi (2000: 13-24) Dabei sei Spanien (neben Italien) nicht das einzige Beispiel für die Verbreitung der lateinischen Sprache, wie Poggio weiter dargelegt, sondern auch Rumänien (superiores Sarmatas colonia) sei - in heutiger Terminologie - romanisiert worden, so daß sich auch im heutigen Rumänischen neben den barbarischen Elementen viele Relikte des lateinischen Wortschatzes (z. B. oculus, digitus, manus, panis) wiederfänden. 612 Apud superiores Sarmatas colonia est ab Traiano, ut aiunt, derelicta, quae nunc etiam inter tantam barbariem multa retinet latina vocabula ab Italis qui eo profecti sunt notata. Oculum dicunt, digitum, manum, panem, multaque alia quibus apparet ab La‐ tinis qui coloni ibidem relicti fuerant manasse, eamque coloniam fuisse latino sermone usam. (Poggio, Utrum prisc. 27-28; 2008: 187) Letztlich dienen diese Ausführungen zu den einzelnen zeitgenössischen Volks‐ sprachen und ihre Relation zum Lateinischen dem Beweis der ehemaligen Ein‐ heit der lateinischen Sprache in der römischen Antike (cf. Mazzocco 1993: 61). Um diese Spracheinheit noch einmal zu betonen, greift er im Folgenden auf die bei Bruni und Biondo diskutierten Situationen zurück, bezüglich derer die Frage der Verständlichkeit des Lateinischen erörtert wurde. Poggio macht also deut‐ lich, daß für ihn die Sprache, die die Redner im Senat (in senatu), auf dem Forum (in foro), in den Volksversammlungen (in concionibus) und vor den Gerichten (in iudiciis) - dem Volk und den Soldaten gegenüber (ad populum atque ad mi‐ lites) - gebrauchten, genauso Latein sei, wie diejenige, die das Volk im privaten Umgang gebrauche. Docebo latine locutos fuisse homines in senatu, in foro, in iudiciis, in concionibus ad populum atque ad milites, populum denique ipsum lingua latina privato sermone usum. (Poggio, Utrum prisc. 29; 2008: 187) Die Tatsache, daß das Lateinische keine reine Schulsprache gewesen sei, sieht er auch dadurch bewiesen, daß Quintilian empfiehlt darauf zu achten den rö‐ mischen Kindern durch ihre Ammen und Erzieher zu Hause (tum nutrices, tum caeteros) ein „korrektes“ Latein angedeihen zu lassen (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 1, 4-6; 2001 I: 104-106) - immer unter der Perspektive des Berufs eines künftigen Redners (cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 164). Diese Anmerkung - so Poggio - wäre nicht sinnhaft, wenn die Römer diese Sprache nicht mit ihrer Muttermilch 376 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 613 „Scribit insuper domesticorum usum ad eloquentiam conferre plurimum. Unde tradunt Corneliam Gracchorum matrem multum filiis ad dicendi facultatem contulisse“ (Poggio, Utrum prisc. 35; 2008: 188). Cf. dazu auch Guarino (De ling. lat. diff. 36; 2008: 177) sowie Bruni (An vulg. et lit. 46; 2015: 246-247). Dies sei nur beispielhaft für zahlreiche Exempla und Motive angeführt, die bei den Disputanten der Diskussion um die antike Spra‐ chenkonstellation konvergieren. Zu einigen weiteren Übereinstimmungen bzw. den je‐ weils exakten Belegen cf. die entsprechenden Kommentare bei Marchiò (2008) und Ta‐ voni (1984). aufgesaugt hätten (cum lacte nutricis percipiatur) und die ersten Ansätze des bene et recte loquendi und der elegantia nicht schon durch die häusliche Umge‐ bung hätten erlernen können. Sed in primis non videntur praetereunda quae a Quintiliano traduntur in sui operis primordio, cum loquitur de pueris ad artem oratoriam educandis. Vult enim tum nut‐ rices, tum caeteros quibuscum pueri versantur elegi qui recte loquantur latine, ut ea lingua pure et eleganter simul cum lacte nutricis percipiatur, ut domi habeant a quibus bene loquendi normam et initia eloquentiae a teneris annis imbibant. (Poggio, Utrum prisc. 30-31; 2008: 187) Als Paradebeispiel führt er in Rekurrenz auf Bruni und nach einem Zeugnis von Quintilian, auf welches sich auch schon Guarino bezog, den Fall der Cornelia, der Mutter der beiden Gracchen, an, die ihren Söhnen durch vorbildlichen häus‐ lichen Gebrauch (usus domesticus) des Lateinischen erste Ansätze der eloquentia nahebrachte. 613 In seinen weiteren Ausführungen räumt Poggio Bracciolini, nachdem er nun ausführlich die Einheit des Lateinischen dargelegt hat, ein, daß es durchaus Un‐ terschiede in der Sprache in Bezug auf die grammatische Korrektheit gegeben habe. Als Beleg führt er dabei wiederum ein Stelle aus den Institutiones des Quintilian an (Inst. orat. I, 6, 27; 2001 I: 172), in der dieser unterschiedliche De‐ klinationsformen des Wortes senatus diskutiert und zu dem Schluß kommt: „Quare mihi non invenuste dici videtur aliud esse latine, aliud grammatice loqui“ (Poggio, Utrum prisc. 37; 2008: 188). Poggio greift dies auf und interpretiert es dahingehend, daß zwar allen Sprechern des Lateinischen die gleichen Wörter gemein seien, doch nur die Gelehrten bzw. die im Unterricht Geschulten könnten auch die grammatisch richtigen Formen verwenden, würden also die gramma‐ tica verwenden bzw. gehobener (emendatius) sprechen. Dies zeige sich bei‐ spielsweise daran, daß die docti das Lexem senatus entsprechend der vierten Deklination beugen würden, die indocti hingegen nach der zweiten (v. infra). Letztere verwenden also das Lateinische allein wie der usus bzw. die consuetudo es vorgeben, während die Gebildeten sich an die Regeln halten bzw. der ratio beim Gebrauch der Sprache folgen würden. 377 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 614 „Etiam in vulgari nostro sermone, sunt qui verba selecta proferant, politiusque sunt quam reliqui qui arte quadam componunt orationem, ut multum periti doctique hominis sermo praestat indocto: quod et in latina lingua potuit accidere, ut licet communia essent omnibus verba, tamen eloquentia ac verborum elegantia non item“ (Poggio, Utrum prisc. 74; 2008: 191). 615 Poggio benutzt hier wie Biondo inquinare (v. supra u. cf. Klein 1957: 58); Alberti spricht in diesem Zusammenhang von insalvaticare und Guarino von corruptela. Quibus constat verbis omnes latine, sed non grammatice loqui solitos, cum latinam linguam omnibus tribuat, grammaticam, hoc est loquendi doctrinam, literarum peritis. Latine igitur omnes, sed emendatius docti loquebantur, a quibus senatum quartae dec‐ linationis dici affirmat, ab indoctis secundae. Docti enim ratione iudicabant quod alii usu assequebantur, nulla suorum verborum ratione habita. (Poggio, Utrum prisc. 38-39; 2008: 188) Daraus ergibt sich für Poggio, daß zwar nicht jedem Sprecher des Lateinischen die Beredsamkeit (eloquentia) zu eigen sei, jedoch alle durchaus Latein (und nichts anderes) sprächen, auch die Ammen und andere Hausangestellte (cf. Poggio, Utrum prisc. 36). Die lexikalische Basis sei demnach grundsätzlich allen gemein, doch die Art der Versprachlichung in Bezug auf die Wortwahl und die syntaktischen Konstruktionen sei insofern unterschiedlich, daß nur die docti zur eloquentia und elegantia fähig seien. Dies wiederum sei vergleichbar mit der zeitgenössischen Volkssprache, denn auch diese könne nur von den Gelehrten kunstvoll verwendet werden, indem sie die entsprechenden Wörter wählten und regelhafte Sätze bildeten. 614 Dem möglichen Einwand, warum die Römer überhaupt ihren Kindern Schul‐ bildung angedeihen ließen, wenn sie doch die „komplizierte“ lateinische Sprache bereits im häuslichen Umfeld von klein auf erlernt hätten, begegnet Poggio mit dem Argument, daß es im Unterricht nur um die Verfeinerung der Sprache ginge, also um die puritas und den splendor (cf. Poggio, Utrum prisc. 73, 2008: 191; Maz‐ zocco 1993: 62). Die „Reinheit“ der Sprache zu bewahren sei umso wichtiger, so argumentiert Poggio weiter, da im Laufe der Zeit zahlreiche Völker in Kontakt mit den Römern gestanden hätten, sich dann auch in der Stadt ansiedelten und schließlich Latein lernten. Da aber ihre jeweiligen eigenen Sprachen so voneinander differierten und auch vom Lateinischen abweichend waren, brächten sie viel durcheinander und würden viele Wörter nach ihrem eigenen Gebrauch verwenden, wodurch letztendlich das Latein „verunreinigt“ 615 würde (cf. Poggio, Utrum prisc. 75-84; 2008: 191-192). Zur Illustrierung führt er dabei zahlreiche Substratvölker auf, u. a. Sabiner, Samniten, Umbrer, Etrusker, Gallier und Germanen. 378 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Scimus multos ac varios in urbem romanam populus, et ab initio conditae urbis, et longo etiam post tempore, qui sua lingua et verbis vernaculis utebantur, fuisse trans‐ latos: Sabinos, Hernicos, Veientes, Sannites, Umbros, Etruscos, Oscos, quibus varia ab latino sermone loquendi forma inerat. […] Mitto Gallos, Germanos, Aphros, Hispanos ac diversarum nationum gentes in servitutem redactas, quorum lingua inter se dissi‐ dens erat, qui omnes in urbe recepti, necesse fuit ut suis verbis latinam linguam in‐ quinarent ex frequenti usu. (Poggio, Utrum prisc. 75, 78; 2008: 191-192) Wie wichtig die puritas des Lateinischen in der römischen Antike gewesen sei, so Poggios Schlußfolgerung, würde man schon bei Cicero belegt finden. Dies wiederum zeigt damit in der Argumentationslogik Poggios implizit die Not‐ wendigkeit, daß man damals in der Schule den Kindern zwar nicht das Lateini‐ sche an sich, aber die eloquentia vermitteln mußte - und Voraussetzung dafür sei die puritas. Im Folgenden belegt Poggio Bracciolini seine These von der Ein‐ heit des Lateins an einer Vielzahl von antiken Quellen, um auf diese Weise Brunis Position mit den entsprechenden Autoritäten zu widerlegen. Das Urteil Fubinis zu Poggio Bracciolini fällt deshalb eher verhalten aus: „Lo scritto di Poggio è occupato in massima parte da una lunga serie di citazione che dimost‐ rino lʼunicità della lingua; mentre assai più sbrigativamente tratta della varietà di struttura e di toni a seconda delle esigenze della cultura e dell’arte“ (Fubini 1961: 542). Poggio geht außerdem wiederholt auf die schon erwähnten Kommunikati‐ onssituationen ein, die bereits zwischen Bruni und Biondo ausführlich diskutiert wurden (Gericht, Senat, Heilige Messe, etc., cf. Kap. 6.2.3.1 u. 6.2.3.2). Er sieht darin ein Beweis dafür, daß auch das niedere Volk Latein zumindest verstanden habe mußte, denn wenn beispielsweise die einfachen Leute, darunter auch Frauen und Kinder, im Theater geklatscht hatten, dann zeigt das, daß sie der Inszenierung bzw. dem dort Gesprochenen folgen konnten (cf. Marchiò 2008: 55). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Wenn man nun aus den Ausführungen Poggio Bracciolinis, wie sie hier eben synoptisch dargestellt wurden, eine varietätenlinguistische Interpretation ab‐ zuleiten versucht, dann ergibt sich ein Bild, das wie folgt zu charakterisieren ist: Aus der massiven Ablehnung der These Brunis, deren Inhalt bzw. angenom‐ mener Inhalt ja der movens des Traktates ist, ist zu folgern, daß Poggio eben nicht im Sinne einer Diglossie zwei unterschiedliche Sprachen (grammatica vs. vulgare) in der römischen Antike annimmt. Dies zeigt sich auch daran, daß seine ganze Argumentation auf die Einheit der lateinischen Sprache abzielt. Ande‐ rerseits wird auch nicht eindeutig klar, ob er zwei Varietäten annimmt, wie es beispielsweise bei Guarino zum Ausdruck kommt. Obwohl anzunehmen ist, daß 379 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 616 Alberti und Guarino hingegen listen neben den Superstratvölkern auch das Substrat‐ volk der Galli auf, allerdings keine weiteren (cf. Kap. 6.2.4 u. 6.2.5). er tendenziell der These Biondos zuneigt, wird bei Poggio keinesfalls eine mehr‐ stufige Graduierung des Lateinischen postuliert oder auch nur suggeriert. Man kann allenfalls aus seiner Gegenüberstellung der Sprache der docti und der indocti so etwas wie eine diastratische bzw. diaphasisch-diastratische Varie‐ täten-Zweiteilung ableiten, aber auch diesbezüglich ist er wenig explizit, ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern. Eine diaphasische Interpretation wäre dabei insofern gerechtfertigt, als er die elegantia der Rede als Unterscheidungs‐ merkmal anführt und die eloquentia der Sprecher. Im Rahmen seiner starken Betonung der Einheit der lateinischen Sprache, die letztlich auch sein einziges Thema darstellt, könnte man eventuell noch eher von einem dianormativen As‐ pekt sprechen, da er die puritas als wichtige Richtlinie für eine gelungene Re‐ deweise angibt. Was den Sprachwandel anbelangt, so ist auch hier anzunehmen, daß er sich Biondo anschließt und die Korruptionsthese favorisiert, doch auch dies ist nicht wirklich Gegenstand seiner Ausführungen. Bemerkenswert ist in diesem Zu‐ sammenhang jedoch, daß er für die „Verunreinigung“ der lateinischen Sprache zum einen eine sehr viel größere Anzahl von verursachenden Völkern ins Feld führt, als dies bisher der Fall war und zum anderen, nur Substratvölker anspricht, im Gegensatz zu Biondo, der die Korruptionsphase später ansetzt und nur Su‐ perstratvölker dafür verantwortlich macht. 616 Dabei macht er auch den Zeit‐ rahmen deutlich, und zwar dahingehend, daß er explizit auf die enorme Zeit‐ spanne der fremdsprachlichen Beeinflussung bzw. Interferenzen seit der Gründung Roms hinweist, und implizit durch die Nennung der jeweiligen Sub‐ stratvölker. Allerdings sei diesbezüglich betont, daß es ihm gerade nicht um eine präzise Beschreibung der Korrumpierung des Lateinischen geht, geschweige denn um eine geordnete zeitliche Abfolge dieser beeinflussenden Völker bzw. Sprachen, sondern nur um die Begründung, warum das Lateinische zum Teil eben nicht der gebotenen puritas entspreche und manche Formen nicht regel‐ konform im Sinne der grammatica gebildet würden. An Substratvölker führt er dabei zunächst folgende auf: Sabiner (Sabinos), Herniker (Hernicos), die Ein‐ wohner von Veji (Veientes), Samniten (Sannites), Umbrer (Umbros), Etrusker (Etruscos) und Osker (Oscos). Hervorzuheben ist dabei, daß er den Unterschied der Sprache der Etrusker in Bezug auf das Lateinische erwähnt. Wenn man davon ausgeht, daß dies kein zufällig gewähltes Exempel von sprachlicher Ab‐ weichung darstellt, dann ist das durchaus bemerkenswert, deckt es sich doch 380 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 617 Die Sabiner, Samniten und Herniker gehören sprachlich und ethnisch zu den Oskern und waren unmittelbare Nachbarn der Latiner in Rom. Sie alle sprachen demgemäß eine Form des Oskischen, während das Umbrische des gleichnamigen Volksstamms, der in etwa in der Region des heutigen Umbriens siedelte, den anderen Teil dieses Sprachzw‐ eiges bildet (cf. Kap. 4). 618 Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Poggio in der zum Teil historisch eher un‐ reflektierten Zusammenstellung die Germanen hier als Oberbegriff für die Superstrat‐ völker der Langobarden und Goten intendiert. 619 Es ist unwahrscheinlich, daß hier der ganze Kontinent Afrika gemeint ist, da Poggio sich weitgehend an die antike Terminologie hält. Für die Griechen und Römer ist Africa (griech. Libye) vor allem Nordafrika (Ostgrenze war der Nil), insbesondere die Region des heutigen Libyen, Tunesien und östlichen Algerien, d. h. für die Römer dann vor allem die in der Folge der punischen Kriege dort eingerichtete(n) Provinz(en) (cf. Bro‐ dersen / Zimmermann 2000: 12). 620 Das Punische, eine jüngere Entwicklungsstufe des Phönizischen (auch: Phönikischen), war eine kanaanitische d. h. nordwestsemitische Sprache; das Numidische (auch: Alt‐ libysche) gehörte zu den Berbersprachen, die einen eigenen Zweig innerhalb der afro‐ asiatischen Spachen darstellen, zu denen auch die semitischen gehören (cf. Haarmann 2004: 150-153, 163-166). partiell mit den aktuellen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich des sprachlichen Abstandes der genannten Idiome. In Bezug auf die sprachgenetische Zuordnung rechnet man nach heutigem Stand der Forschung die genannten Sabiner, Herniker, Samniten, Osker und Umbrer dem oskisch-umbrischen (auch: sabellischen) Zweig der italischen Sprachfamilie zu. 617 Die Klassifizierung des Etruskischen ist allerdings bis heute umstritten, doch unzweifelhaft ist es eine Sprache, die dem Lateinischen weit weniger verwandt und strukturell ähnlich ist als die genannten italischen Nach‐ barsprachen. Die Einwohner von Veji, die Poggio anführt, gehörten hingegen zum etruskischen Siedlungsgebiet und hatten keine eigenständige Sprache auf‐ zuweisen. Im Weiteren erwähnt er noch als Substratvölker die Gallier (Gallos), die Germanen (Germanos), die Afrikaner (Aphros) und die Hispanier (Hispanos). Die Gallier, also Kelten, wurden bereits von Alberti und Guarino eingeführt, die Germanen sind bei den anderen Partizipanten der Debatte als Superstratvolk erwähnt. Poggio ordnet sie jedoch den unterworfenen Völkern zu (in servi‐ tutem, v. supra) und bezieht sich damit wohl eher auf Germanenstämme, die vor der Völkerwanderung in Kontakt mit den Römern standen, und offensichtlich gerade nicht auf Langobarden oder Goten, die ja gegen die Römer siegreich waren. 618 Mit den Aphros wird wahrscheinlich auf die Bewohner der provincia Africa verwiesen, 619 d. h. es könnte damit unspezifiziert auf Punier oder auch Numider referiert werden. 620 In gleicher Weise ist unter Hispanos hier wohl die indigene Bevölkerung der Provinzen auf der Iberischen Halbinsel (Hispania) zu ver‐ 381 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 621 Zur komplizierten Gemengelage von vorindogermanischen und indogermanischen Be‐ völkerungsschichten auf der Iberischen Halbinsel und dem Problem der entsprech‐ enden Zuordnung bei manchen Substratvölkern cf. Schöntag (2013). 622 Sarmatien (Sarmatia) ist in der Antike ein vager geographischer Begriff für das Sied‐ lungsgebiet der Sarmaten, aber auch zahlreicher anderer Völkerschaften und bezeichnet in etwa das Gebiet zwischen den Flüssen Weichsel und Don (Tanais), also das damals bekannte Osteuropa vor allem jenseits der Grenzen des römischen Imperiums (cf. Bro‐ dersen / Zimmermann 2000: 528). stehen, d. h. vorindogermanische Iberer wie auch indogermanische Keltiberer, Gallaiker oder Lusitanier. 621 Die an anderer Stelle erwähnten Sarmaten (Sarmates), die laut Poggio unter Trajan kolonisiert wurden, sind ein iranisches Volk, dessen Siedlungsgebiet ur‐ sprünglich weiter östlich lag (in der heutigen Südukraine) und das im 1. Jh. n. Chr. bis in die pannonische Tiefebene wanderte. Poggio spielt hier auf die Einrichtung der provincia Dacia (105 / 106 n. Chr.) an, der Region des nach‐ maligen Rumänien, in der zeitweise auch sarmatische Stämme wie die bei ihm nicht erwähnten Iazygen (Iazyges) und Roxolanen (Roxolani) siedelten. 622 Die Substratvölker - und damit implizit deren Sprachen -, die Poggio hier auflistet, sind, so könnte man resümieren, in Bezug auf Italien sehr differenziert klassi‐ fiziert, bezüglich der anderen Regionen des ehemaligen Imperium Romanum hingegen eher nur grob, zum Teil allein nach geographischen Großräumen, so daß eine exakte sprachliche Verortung nach heutigen Maßstäben nicht möglich ist, da wie z. B. im Fall der Hispani, die darunter zu fassenden Völker äußerst heterogen sind. In seiner Biographie zu Poggio Bracciolini stilisiert ihn deshalb Walser zum Begründer der Romanischen Philologie: „So steht Poggio an politischer Er‐ kenntnis als ein Vorläufer Machiavellis, in seinen Ideen über Latein und Vul‐ gärsprachen als ein moderner romanischer Philologe da“ (Walser 1932: 262). Einem Urteil, dem sich u. a. auch Tagliavini (1988: 5) und Michel (2005: 8) an‐ schließen. In diesem Kontext verweist jedoch Mazzocco (1993: 224, FN 45) zu Recht darauf, daß beispielsweise Biondo (aber auch Guarino) die Zusammen‐ hänge zwischen Latein und den romanischen Sprachen nicht nur früher, son‐ dern auch sehr viel deutlicher herausgearbeitet hat und Tavoni (1984: 114-115) kritisiert Poggios defizitäres theoretisches Konzept in Bezug auf historische Zu‐ sammenhänge. Dem ist nicht nur beizupflichten, sondern darüber hinaus er‐ scheint Walsers Interpretation problematisch, denn Poggio möchte allein die Einheit und Verbreitung des Lateins beweisen, wofür er die verschiedensten Belege sammelt - an Sprachwandel und sprachgenetischen Zusammenhängen sui generis ist er keinesfalls interessiert. 382 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 623 Die Nachricht über Ennius stammt im Original von Aulus Gellius: „Quintus Ennius tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret“ (Noct. Att. XVII, 1-2; 1961: 262). Tatsächlich ist davon auszugehen, daß Ennius sogar viersprachig war (auch: messapisch); cf. dazu Kap. 4.1.1.2. Poggios Anliegen war es jedoch auch, die „Verunreinigung“ des Lateinischen durch möglichst zahlreiche Fälle zu illustrieren, und weniger eine exakte Be‐ stimmung der verursachenden Sprachen. Dabei gelingt es ihm jedoch, ein Pa‐ noptikum von Sprachen des römischen Reiches zu präsentieren, die zum einen die sprachliche Heterogenität widerspiegeln und zum anderen von ihrer geo‐ graphischen Distribution die wichtigsten Großräume des Imperiums abdecken. Tavoni (1982: 250) wendet ein, daß man deshalb hier nicht von Substrat oder Adstrat sprechen dürfe. Es ist zwar zweifellos richtig, daß Poggio nicht in gleichem Maße wie Biondo den Zusammenhang bzw. die Abhängigkeit zwi‐ schen Latein und den romanischen Sprachen herstellt, sondern seine Auflistung von Völkern mehr der Illustrierung der Anzahl der „korrumpierenden“ Einflüsse dient (cf. dazu auch Scarpa 2012: 54), dennoch erweitert er damit - wenn auch nicht unbedingt in dieser Intention - die Zahl der Substrate im Rahmen dieser Debatte. Einen individuellen Sonderfall stellt im Rahmen der Aufführung dieser Sub‐ stratsprachen der Dichter Ennius dar, von dem Poggio berichtet, daß er drei Sprachen beherrsche: „Ennius gloriari solitus est se tria habere corda, hoc est tribus loqui linguis: graeca, latina, osca“ (Poggio, Utrum prisc. 76). 623 Er referiert damit auf die überlieferte Trilingualität des Ennius, wobei, auch wenn er vor‐ nehmlich als lateinischer Autor bekannt wurde, vor allem Griechisch in diesem Fall als high variety fungierte; alle drei Sprachen wurden in jener Zeit in (Süd)Italien grundsätzlich gesprochen und geschrieben (cf. Kap. 4). Betrachtet man nun zusammenfassend die Aspekte, die sich unter dem Blick‐ winkel einer modernen varietäten- und soziolinguistischen Interpretation in Poggios Traktat herausarbeiten lassen, so ist zunächst festzustellen, daß hier in Reaktion auf Bruni vor allem die Einheit der lateinischen Sprache betont wird. Da dies der Grundtenor der ganzen Abhandlung ist bzw. das einzige Argumen‐ tationsziel, ist eine weitere varietätenlinguistische Differenzierung schwer aus‐ zumachen, da diese weniger deutlich hervortritt als bei den Vorgängern dieser Debatte. Am ehesten könnte man eine diaphasisch-diastratische Zweiteilung, also die Differenzierung in zwei Varietäten des Lateinischen, annehmen - dies ist aber nicht wirklich explizit - und wird vor allem durch die Sprechergrup‐ pendichotomie docti vs. indocti suggeriert. Zudem wäre eventuell noch von der Hervorhebung einer Norm im Sinne einer dianormativen Varietät bzw. eines postulierten Standards zu sprechen. 383 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini In Bezug auf den Sprachwandel ist die Bandbreite der erwähnten Substrat‐ völker bemerkenswert, genauso wie die Absenz der üblichen Superstratvölker (z. B. Langobarden, Goten). Eine weitere Entwicklung des Lateinischen wird nur dahingehend thematisiert, als Poggio von Relikten in den heutigen romanischen Sprachen spricht, namentlich im Spanischen und Rumänischen, eine genauere Beschreibung des Sprachwandelprozesses oder auch das genaue Verhältnis des zeitgenössischen Lateins und des volgare zu den Sprachformen der Antike bleiben im Wesentlichen unbehandelt. Rekontextualisierung Entsprechend der hier praktizierten Methode der Rekontextualisierung der ein‐ zelnen Traktate, soll im Folgenden zunächst ein kurzer Abriß des biographi‐ schen Hintergrunds und somit auch der zeitgeschichtlichen Verortung Poggios gegeben werden. Seine erste Ausbildung erhielt der in Terranova im Arnotal geborene Gian Francesco Poggio Bracciolini (lat. Poggius Florentinus) (1380-1459) im nahege‐ legenen Arezzo, anschließend studierte er ab 1397 Rechtswissenschaft am Studio in Florenz, um sich zum Notar ausbilden zu lassen, was auch den Unterricht in lateinischer Grammatik und Rhetorik implizierte. Sein erfolgreicher Abschluß (1402) ist durch den Eintrag ins Zunftregister dokumentiert (cf. Walser 1914: 9-11). Bereits während seines Studiums trat er in den Dienst des florenti‐ nischen Kanzlers Coluccio Salutati (1331-1406; Kz. 1375-1406), für den er als Kopist arbeitete. Der Aufforderung Leonardo Brunis (1370-1444) folgend, den er wahrscheinlich bereits aus Arezzo kannte, begab sich Poggio 1403 nach Rom, wo er durch die Vermittlung Salutatis in päpstliche Dienste treten konnte. Im Gefolge von Johannes XXIII . (1410-1415) reiste er 1415 zum Konzil von Kon‐ stanz (1414-1418) und begab sich dort im Jahr seiner Ankunft und den beiden Folgejahren (1416-1417) auf die Suche nach Manuskripten antiker Autoren und arbeitete sich durch zahlreiche Kloster- und Kathedralbibliotheken Deutsch‐ lands, der Schweiz und Frankreichs. Seine wichtigsten Funde sind die Institutiones oratoriae Quintilians, die er hier zum ersten Mal als Gesamtwerk in einer Handschrift in St. Gallen entdeckt, die Argonautica des Valerius Flaccus und neun Reden Ciceros, alle ebenfalls in der dortigen Bibliothek des Klosters (1416). Des Weiteren stößt er in Fulda (1417) auf die Res gestae des Ammianus Marcellinus und auf die Schrift De rerum na‐ turae von Lukrez. In Köln wiederum findet er Manuskripte von den Silvae des Statius, der Punica des Silius Italicus und die Abhandlung De re rustica von Co‐ lumella (1417). Im Folgejahr 1418 gibt seinen Dienst bei der Kurie auf und folgt einer Einladung Henry Beauforts (1375-1447), dem Bischof von Winchester, um 384 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 624 Damit steht er in einer Reihe berühmter Vorgänger: Coluccio Salutati, Leonardo Bruni, Carlo Marsuppini. 625 Als ältere biographische Referenz zu Poggio sei hier beispielhaft auf Shepherd (1802) verwiesen. 626 Cf. dazu Gordon (1974), der speziell die Briefe Poggios an Niccoli herausgegeben und übersetzt hat, da sie zwei der wichtigsten book-hunters der Renaissance waren. Cf. dazu aber auch Brem (2014), der auf die Manuskriptfunde von Poggio und Bruni während des Konstanzer Konzils eingeht. 627 Er kannte beide auch persönlich, Biondo war ja ebenfalls päpstlicher Sekretär, Bruni kannte er aus Arezzo und Florenz (cf. Zintzen 2012: 993). 628 Obwohl Poggio zwar zu jener Zeit in Florenz weilte, als Manuel Chrysoloras einem erlauchten Kreis von Gelehrten Griechisch lehrte (cf. Kap. 6.1.1), hatte er als armer Schreiber und Notariatsstudent zu diesem eher privaten Unterricht keinen Zugang und erwarb seine Griechischkenntnisse wohl anderweitig (cf. Walser 1914: 10). Zu De‐ cembrio als Schüler Guarinos cf. Kap. 6.2.5. nach England zu gehen (1418-1423). Dort fühlt er sich jedoch nicht wohl, sehnt sich nach kulturellem Austausch mit den humanistisch gesinnten Freunden, widmet sich deshalb melancholisch dem Studium der Schriften der Kirchenväter und kehrt schließlich zurück nach Italien, wo er von Martin V. (1417-1431) er‐ neut als päpstlicher Sekretär aufgenommen wird, was er die nächsten drei Jahr‐ zehnte bleiben wird (1423-1453). In dieser Zeit entdeckt er im Kloster von Mon‐ tecassino weitere verschollene Manuskripte wie die Matheseos libri von Firmicus Maternus oder das Traktat De aquaeductibus (De aquis urbis Romae) von Frontin (1429). Nach zahlreichen Ortswechseln (Ferrara, Bologna, Florenz, Siena) unter Papst Eugen IV . (1431-1447) und der erneuten Rückkehr nach Rom übernimmt er von 1453 bis 1458 noch das Amt des Kanzlers in Florenz, 624 wo er zahlreiche Freunde wie Cosimo (1389-1464) und Lorenzo de‘ Medici (1449-1492), Carlo Marsuppini (1399-1453), Leonardo Bruni (1370-1444) oder Coluccio Salutati (1331-1406) hatte (cf. Bigi / Petrucci 1971: 640-642; Zintzen 2012: 990-991). 625 Neben seiner Tätigkeit als „Bücherjäger“ (cf. Kap. 6.1.1), welche u. a. in dem Briefwechsel mit Niccolò Niccoli ihren Niederschlag findet (Epistolae), 626 ver‐ faßte Poggio zahlreiche Traktate und Bücher zu verschiedenen gesellschaftli‐ chen Themen (z. B. De avaritia 1428 / 1429; De vera nobilitate, 1440; De infelicitate principum, 1440; De varietate fortunae, 1448; De miseria conditionis humanae, 1455) sowie die Kurzgeschichtensammlung Facetiae (1438-1452) mit iro‐ nisch-kritischen Geschichten aus dem Umfeld der päpstlichen Sekretäre, mit nicht selten erotisch-obszöner Komponente, sowie die Historiae Florentini populi (unvollendet), unter Benutzung der Geschichtswerke von Bruni und Biondo. 627 Seine Übersetzungen aus dem Griechischen (Xenophon, Diodor, Lukian) wurden aufgrund seiner wohl eher bescheidenen Kenntnisse von Pier Candido Decembrio (1399-1477) noch einmal überarbeitet. 628 Berühmt wurde Poggio 385 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini hingegen außer als Entdecker von Manuskripten auch für die Entwicklung einer lesbaren Handschrift (eine Form der lettera antica, die sog. humanistische Kur‐ sive) und für seine Invektiven, die insbesondere gegen Francesco Filelfo (1398-1481) und Lorenzo Valla (1405 / 1407-1457) gerichtet waren. Vor allem mit Valla pflegte er eine Intimfeindschaft, in der es vor allem um den Cicero‐ nianismus ging - Valla ließ als vorbildhaft nur Cicero und Quintilian in Bezug auf das Lateinische gelten (mit Präferenz des letzteren), Poggio, obwohl eigent‐ lich Ciceronianer, zeigte sich diesbezüglich etwas toleranter bzw. stilistisch und grammatisch weniger apodiktisch (cf. Bigi / Petrucci 1971: 642-643; Zintzen 2012: 991-994). Auch wenn Poggio Bracciolini erst fünfzehn Jahre nach dem Beginn der De‐ batte von 1435 auf die aufgeworfenen Fragen mit einer schriftlichen Stellung‐ nahme reagiert, gehört er zu den ersten und wichtigsten Vertretern, zumal er ja einer der päpstlichen Sekretäre war, die einst im Vorzimmer des Papstes dieses Thema in einer lebhaften Diskussion mündlich erörterten. Damit ist festzu‐ halten, daß er sowohl den Ursprung der Debatte und die einzelnen Argumente aus erster Hand kannte, als auch, daß ihm die einzelnen Protagonisten wohl vertraut waren. Neben den bereits erwähnten Teilnehmern Antonio Loschi, Cencio Romano, Andrea Fiocchi sowie Flavio Biondo und Leonardo Bruni, wovon nur die beiden letzten sich schriftlich äußerten (cf. Kap. 6.2.3), kannte Poggio aber auch Guarino Veronese, dem er 1408 in Bologna begegnete (cf. Gall 2012: 516) und mit dem er später eine Fehde über die Bedeutung römischer Feld‐ herrn austrug (cf. Kap. 6.2.5). Den Brief Guarinos an Leonello d’Este aus dem gleichen Jahr - und damit dessen Stellungnahme - wird er hingegen kaum re‐ zipiert haben können. Poggio kannte auch Alberti aus Florenz, denn er war einer der zehn Juroren in dem Dichterwettstreit (Certame Coronario) von 1441, den Alberti mit ins Leben rief (cf. Walser 1914: 189) (cf. Kap. 6.2.4); ob er jedoch um dessen Positionierung in seinen libri della famiglia wußte, ist nicht gesichert, zumindest gibt es keinen direkten Bezug in seinem Traktat. Dies bedeutet letztendlich, daß Poggio - wie er es auch in seiner Schrift selbst darlegt (v. supra) - eine direkte Reaktion auf die Abhandlungen von Biondo und Bruni bzw. auf die zugrundeliegende mündliche Diskussion verfaßt, unter Aus‐ klammerung der Positionen Albertis und Guarinos. Entsprechend sind auch die Argumente Poggios und sein Gesamtbeitrag zur Debatte einzuordnen. Der äußere Anlaß des Traktates ist demgemäß eine contradictio, d. h. die Ab‐ lehnung der These Brunis von der Annahme zweier Idiome in der Antike, dem Lateinischen im engeren Sinne, also der grammatica, und dem vulgare. Poggio argumentiert dabei als Anhänger des Ciceronianismus - wenn auch nicht in gleicher strenger Observanz in Bezug auf eine normhafte latinitas wie Valla, für 386 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 629 Scarpa (2012: 54) spricht hier leicht abwertend von der „ascesa pedantesco-filologica di Valla e dei suoi epigoni“. den ein wie auch immer gearteter Bilingualismus nicht vorstellbar ist - und macht sich daher in Anlehnung an die Aussagen Ciceros und anderer antiker Autoren zum defensor einer Einheit des Lateinischen. Der in den auf die hier untersuchte Stellungnahme Poggios folgende soge‐ nannte „Cicero-Streit“ zwischen ihm und Lorenzo Valla zeigt, daß die eigentliche Frage, die die Gelehrten beschäftigte, nicht so sehr die Frage nach der Sprach‐ konstellation der Antike ist, sondern primär die Frage nach dem zu verwend‐ enden Latein in der zeitgenössischen Literatur - zumindest sind beide Kontro‐ versen eng miteinander verknüpft. Die Positionen in dieser Debatte um das „beste“ Latein bzw. welche Art von Latein als Vorbild für die eigene Schriftpro‐ duktion zu gebrauchen ist, sind komplex, obwohl letztlich alles um die imitatio Ciceros kreist. In seiner Untersuchung zur „Ciceronianismus-Debatte“ als einer der wichtigen Diskurse der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur hat Robert (2011) diese beiden Vertreter und ihre jeweilige Haltung exponiert. In ihr [der Debatte, R. S.] tritt Poggio, der Autor der Facetiae, theoretisch als Ciceroni‐ aner auf, huldigt stilistisch jedoch dem eklektischen Stil, in welchem eine ciceronia‐ nische Grundschicht angereichert wird durch Vulgarismen, Medievalismen und spät‐ lateinische Konstruktionen. Valla - der Anticiceronianer - bringt dies mit einer neuen Sensibilität für stilistisch-historische Binnendifferenzierung ans Tageslicht. Valla geht es zunächst darum, ‚Akzeptanzzonen innerhalb der antiken Autoren abzugrenzen‘, wo Poggio unreflektiert die gesamte Latinität […] einbezieht. (Robert 2011: 12; Her‐ vorhebungen im Original) Gleichzeitig räumt Robert jedoch ein, daß Valla zum Wegbereiter des Cicero‐ nianismus wird, obwohl er grundsätzlich Quintilian bevorzugt. Dies läßt sich unter anderem darauf zurückführen, daß er durch exzellente Beherrschung der lateinischen Grammatik und intensive Vergleichsstudien sowie seinen „Pan‐ philologismus“ 629 ein sehr feines Gespür für Stile und Epochen entwickelt, die letztlich die Voraussetzung für einen genuinen Ciceronianismus bildeten. Daher wird auch er nicht selten als Ciceronianer klassifiziert (v. supra). Die Etikettie‐ rung wird in keinem Fall den Gegebenheiten vollkommen gerecht, denn eine vollständige Ablehnung Ciceros wäre Valla keineswegs zu unterstellen, denn selbstredend hält auch er wie viele andere seiner Zeitgenossen Cicero für vor‐ bildlich und der imitatio für wert - es geht letztlich um Nuancen in der Beur‐ teilung und Bewertung antiker Referenzautoren. Dreischmeier (2017: 307) drückt dies für Valla wie folgt aus: „Valla ist jedoch gerade kein bornierter Ci‐ 387 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 630 „Wenn Poggio die Alten las, so erfaßte er dabei mehr die Gedanken als die Worte. Wenn er sie nachahmte, so war es nicht die sklavisch peinliche Wiedergabe im Sinne eines Gasparino Barzizza oder der späteren Ciceronianer, sondern er tat es, wie schon gesagt, mit der genialen Inspiration des Künstlers an der gesamten antiken Literatur, besonders aber am wundervollen, leicht und mühelos fließenden Stile Ciceros. Die Antike ward dadurch in Poggios Latein in derselben Weise lebendig, in der sie später - allerdings mit ganz anders reinem Feuer - die italienischen Werke Polizianos und Ariostos durch‐ glühte. Braccciolinis persönliches ungrammatisches Latein war eine wahrhaft lebende Sprache“ (Walser 1914: 272). 631 Es ist davon auszugehen, daß hier der „lateinische“ Aristoteles gemeint ist. ceronianer, da er generell gestattet, Begriffe zu verwenden, die beim Meister nicht belegt sind, sowie die Grenzen von Cicero genutzter grammatischer Kon‐ struktionen zu überschreiten.“ Hier wird deutlich, daß es eher um die Frage von enger und weniger enger Auslegung geht, als um die Frage von genereller Ak‐ zeptanz. Bei Poggio hingegen, bei dem Anspruch und Wirklichkeit auseinander‐ klaffen, ist sehr wohl eine Präferenz für das ciceronianische Latein auszuma‐ chen, andererseits auch eine breite Toleranz für zahlreiche andere Stile und Au‐ toren. 630 Dies zeigt sich beispielsweise an einer Aussage aus seiner ersten Invektive gegen Valla (et caeteri qui latine sripserunt). Apuleius preterea eo verbo saepius pro similtudine utitur, et caeteri qui latine scrip‐ serunt. (Poggio, Inv. I; 1964: 192) Zu Beginn nennt er einige der für ihn maßgeblichen Autoritäten in Bezug auf die doctrina und die eloquentia und beschränkt sich dabei keineswegs nur auf Cicero. Im Kontext des Vorwurfes an Valla, sich just über jene Autoritäten zu stellen, was Poggio für moralisch anmaßend und ungerechtfertigt hält, führt er die wichtigsten auf. Non me esse maioris doctrinae, non autoritatis quam fuerit Aristoteles, 631 Varro, Marcus Cicero, Salustius, Lactantius, Boëtius, caeterique praestantissimi doctrina et eloquentia viri […]. (Poggio, Inv. I; 1964: 188) Eine der Autoritäten, die hier zwar nicht aufgelistet ist, aber auch für Poggio zweifellos einer der wichtigsten antiken Autoren in Bezug auf die Vorbildlich‐ keit der latinitas ist, bzw. diese selbst auch definiert, ist Quintilian, den er auch wiederholt anführt. Dabei kommt einem bereits erwähnten (v. supra) Passus in den Institutiones hier besonderes Gewicht zu, weil Poggio daraus eine seiner Grundaussagen ableitet und darüber mit Valla in Konflikt gerät (cf. Drei‐ 388 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 632 „Scarcely acquainted with the discipline of grammar as he was […]“ (Tavoni 1982: 250). 633 „[…] when he [Bruni, R. S.] thought of a product indissolubly linked with the ars gram‐ matica that had produced it. With Poggio the opposite is the case: this synonymy ap‐ pears, but it means nothing to him. He calls Latin grammatica quite unthinkingly, fol‐ lowing the mere form of a worn-out tradition; in his view Latin is one idiom among many, and nothing more […].“ (Tavoni 1982: 249). schmeier 2017: 189-191), der ihm - nicht unberechtigt - eine Fehlinterpretation vorwirft. Quid de aliis dicam, cum senatus [senatui] senati an senatus faciat incertum sit? Quare mihi non invenuste dici videtur aliud esse Latine, aliud grammatice loqui. Ac de ana‐ ologia nimium. (Quintilian, Inst. I, 6, 27; 2001 I: 172) Während Quintilian an diesem Beispiel Unsicherheiten der Römer im Gebrauch ihrer eigenen Sprache in Bezug auf die „korrekte“ Deklination aufzeigen will, leitet Poggio daraus ab, daß die Sprache der Gebildeten sich der ratio unterwirft und die der Ungebildeten der consuetudo und die erstere Art den korrekteren Sprachgebrauch darstellt, denn die indocti würde senatus nach der vierten De‐ klination beugen anstatt wie die docti nach der zweiten. Diese dichotomische Perspektive ist von Quintilian jedoch nicht intendiert, denn dieser hebt ganz allgemein darauf ab, daß ein eleganter Sprachgebrauch sich nicht der analogia unterwerfen dürfe, was er mit grammatice loqui gleichsetzt, da hierbei Schwank‐ ungen auftreten können, sondern der Aspirant für korrektes und gutes Sprechen im Sinne der Rhetorik solle sich nach der consuetudo richten, also dem latine loqui. Mazzocco (1993: 64-65) führt das Mißverständnis, dem Poggio unterliegt, auf seine ciceronianische Perspektive zurück. Poggio folgt dem Konzept des sermo purus et latinus Ciceros, der die für ihn unveränderliche ratio über den schwankenden Sprachgebrauch, der consuetudo, stellt (cf. Cicero, Brut. 258 (74); 1990: 194). Tavoni (1982: 249-250) zeigt zudem auf, daß Poggio, der weniger grammatisch geschult ist als beispielsweise Bruni, 632 einen anderen Umgang mit den ent‐ sprechenden Termini pflegt, oder überspitzt formuliert, nachlässig ist. 633 Für Bruni ist das Lateinische im Sinne seiner latina ac litterata lingua eng mit dem mittelalterlichen Konzept der ars grammatica verknüpft (cf. Kap. 6.1.5), während Poggio das Lateinische ganz allgemein als grammatica bezeichnet, ohne weitere Implikationen. Hier zeigt sich die wenig klare Differenzierung Poggios in Bezug auf sprachliche Varianz und grammatische Charakteristik sein diesbezügliches Desinteresse und die Fokussierung auf ein anderes Anliegen. Aus dieser Art der Interpretation antiker Autoren und ihrer Konzepte von Sprache ist deshalb für die hier maßgebliche Rekontextualisierung abzuleiten, 389 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini daß deutlich wird, wie die für die Zeitgenossen so virulente Frage nach der adäquaten Latinität für ihren eigene Schriftproduktion sich auf die für sie eher sekundäre Frage nach der Art des Lateinischen in der Antike auswirkt. Letztlich geht es vorrangig - oder zumindest ist die Interpretation der antiken Situation davon stark abhängig - um die Positionierung des einzelnen in der Debatte um die questione der rinascimentalen latinitas (cf. Kap. 6.1.3). Was nun Poggios Einstellung zum volgare, also der zeitgenössischen Volks‐ sprache anbelangt, so kann man diese eher als starkes Desinteresse charakteri‐ sieren, wie es Scarpa (2012) formuliert, hat er doch auch selbst keine seiner Schriften auf Italienisch verfaßt. Il contributo di Poggio Bracciolini alla questione della lingua italiana in questi primi anni del secolo va quindi letto in negativo: disinteresse pervicace e acritico del volgare e del suo impiego come lingua d’arte e quindi disconoscimento delle sue potenzialità per via indiretta. (Scarpa 2012: 54) Seine Überlegungen zur adäquaten Sprache der Literatur kreisen allein um das Lateinische. Dies gilt auch in Bezug auf sogenannte „niedere“ Stile innerhalb der Literatur. In der Vorrede (praefatio) seiner Facetiae findet er dahingehend deut‐ liche Worte: Eloquentiam vero in rebus infimis, vel in his in quibus ad verbum, vel facetiae expri‐ mendae sunt, vel aliorum dicta referenda quaerere, hominis nimium curiosi esse vi‐ detur. Sunt enim quaedam quae ornatius nequeant describi, cum ita recensenda sint quemadmodum protulerunt ea hi qui in confabulationibus coniiciunt. Existimabunt aliqui forsan hanc meam excusationem ab ingenii culpa esse profectam, quibus ego quoque assentior. Modo ipsi eadem ornatius politiusque describant, quod ut faciant exhortor, quo lingua latina etiam levioribus in rebus hac nostra aetate fiat opulentior. Proderit enim ad eloquentiae doctrinam ea scribendi exercitatio. (Poggio, Fac., praef.; 1964: 420) Er fordert also dazu auf, man solle ruhig Themen, die keines hohen Stils bedürfen (in rebus infimis) auf Latein behandeln, denn dadurch würde sich die zeitgenös‐ sische lateinische Sprache nur bereichern (fiat opulentior), eben auch bei der Abhandlung von leichtgewichtigen Sujets (levioribus in rebus). Er selbst mache dies in den vorliegenden Facetiae eben nicht aus Mangel an Können (ab ingenii culpa), sondern um Ereignisse wiederzugeben, wie sie einem erzählt wurden. Letztlich diene dies auch dazu, sich in der eloquentia zu üben (exercitatio). Wie McLaughlin (1995: 129-130) betont, geht Poggio dabei selbst eklektisch vor, indem er in der Darstellung der Komik in seinen Facetiae stilistisch Elemente von Plautus wie auch von zahlreichen anderen antiken Autoren aufgreift. 390 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 634 Scarpa sieht ihn auch als Wegbereiter einen erneuerten Latinität: „Se la riabilitazione del latino come strumento privilegiato di cultura si realizza per Poggio anche attraverso il ritrovamento, la trascrizione e la messa in circolazione delle opere, la rimozione del volgare e dei valori che rappresenta è la diretta consequenza di questa prassi“ (Scarpa 2012: 54). Poggio Bracciolini ist nicht zuletzt durch seine unermüdliche Suche nach originalen antiken Texten zweifellos Lateinhumanist, 634 der in seiner Stellung‐ nahme zur Antiken-Debatte auch aus dieser Position heraus argumentiert, d. h. eine Rechtfertigung des volgare wie sie beispielsweise Alberti vehement betreibt, oder auch nur eine Anerkennung des Potenzials dieser Sprache, sucht man bei ihm vergeblich. In der Diskussion um die Sprache der alten Römer besteht für Poggio deshalb auch keinerlei Notwendigkeit ein antikes vulgare anzunehmen, da er auch das zeitgenössische gar nicht rechtfertigen oder mit Prestige durch eine Verankerung in früherer Zeit versehen will. Aus diesen Überlegungen heraus - seine Position in Bezug auf das zeitge‐ nössische Latein (in der Praxis: eklektisch, stil- und epochenübergreifend ver‐ einheitlichend) und die zeitgenössische Volkssprache (ablehnend) - ist es nur konsequent und logisch, daß Poggio hier in dieser Diskussion eine Einheit des Lateinischen postuliert und diese vehement mit abundanten Quellenangaben gegen Bruni verteidigt. Synthese Versucht man nun den Beitrag Poggio Bracciolinis in dieser Debatte zu resü‐ mieren, so ist dabei zu beachten, daß es sich um eine zeitlich verzögerte, aber dennoch direkte Reaktion auf die Schrift Brunis handelt, unter Kenntnis des Traktates von Biondo. So vehement Poggio auch Bruni widerspricht, folgte er dennoch nicht in gleicher Weise den Thesen Biondos, denn sein Anliegen ist allein die Verteidigung der Einheit des Lateinischen. Dementsprechend führt er dafür mehr antike Quellen an als seine Vorgänger, bleibt jedoch was die Varie‐ täten-Differenzierung der lateinischen Sprache anbelangt, weit hinter Biondo zurück und beschränkt sich im Prinzip auf eine im Wesentlichen diastratische Zweiteilung. Er zeigt allerdings anhand einiger lexikalischer Beispiele das eins‐ tige Verbreitungsgebiet des Lateinischen auf, indem er lateinische Relikte in den heutigen romanischen Sprachen von Portugal bis Rumänien feststellt, während seine Vorgänger sich im Wesentlich rein auf Italien konzentrierten. Den Aspekt des Sprachwandels bereichert er durch Einführung zahlreicher Substratvölker, ohne jedoch die corruptio in gleicher Weise wie Biondo theoretisch zu verankern und historisch zu systematisieren. 391 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 635 Im Folgenden wird die Edition der Briefe von Marchiò (2008) zugrundegelegt, da sie aktuell ist und den umfangreichsten Kommentarteil aufweist - cf. deshalb Marchiò (2008: 240-243, Kommentar: 244-247), Marchiò (2008: 248-249, Kommentar: 250-251) und Marchiò (2008: 252-262, Kommentar: 263-271) sowie die dort vorangestellte Ge‐ samtanalyse (ibid. 2008: 94-114). Alle drei genannten Briefe finden sich auch in der neuesten kritischen, aber unkommentierten Edition von De Keyser; cf. Filelfo, Epist. (2015 II: 445-449, PhE 09.01; 2015 III: 1560-1572, PhE 37.02; 2015 II: 907-908, PhE 19.01). Für die beiden erstgenannten Briefe cf. zusätzlich die kommentierte Ausgabe von Ta‐ voni (1987: 274-280, 281-296). Auch Mazzocco (1993: 65-68) und Coseriu / Meisterfeld (2003: 165-168) greifen in ihren Analysen zu Filelfo nur auf die Briefe an Sforza Secondo und Lorenzo deʼ Medici zurück, bieten jedoch nur Auszüge. 6.2.7 Francesco Filelfo (Franciscus Philelphus) Ein weiterer großer Humanist, der zur Frage des im antiken Rom gesprochenen Lateins Stellung bezogen hat, war Francesco Filelfo (1398-1481), dessen dies‐ bezügliche Ansichten sich aus vier von ihm überlieferten Briefen rekonstruieren lassen. Ein Brief, der die Grundlage vorliegender Analyse bilden soll, ist an den Grafen von Borgonuovo Sforza Secondo (1433-1492), den illegitimen Sohn des Herzogs Francesco Sforza (1401-1466, Hzg. ab 1450) von Mailand gerichtet (cf. Franciscus Philelfus Sphortiae Secundo Sal., 1451), ein weiterer längerer ist an Lorenzo deʼ Medici, den Prächtigen (il Magnifico, 1449-1492) von Florenz, ad‐ ressiert (cf. Franciscus Philelfus Laurentio Medici S. P. D., 1473) und schließlich sollen auch die beiden seltener berücksichtigten kurzen Schreiben an Bianca Maria d’Este (1440-1506), Tochter des Markgrafen von Ferrara Niccolò III . d’Este (1383-1441, Mgf. ab 1393) und Gemahlin des Condottiere Galeotto I. Pico della Mirandola († 1499) (cf. Franciscus Philelfus Blancae Mariae Aestensi Sal. P. D., 1473) sowie an Marco Aurelio Veneziano (15. Jh.), einen venezianischen Kanzleisekretär (cf. Marco Aurelio Franciscus Philelphus S.), Teil des Untersu‐ chungskorpus sein. 635 Textanalyse Filelfo widerspricht gleich zu Beginn seines Briefes an Sforza Secondo ganz de‐ zidiert dem ansonsten hochgeschätzten Leonardo Bruni (amicissimum Leo‐ nardum Aretinum; Filelfo, Sphort 1; 2008: 240) in Bezug auf seine Ansicht zur Sprachendistribution in der römischen Antike. Während Bruni die fragliche Epoche im Wesentlichen nur grob beschreibt (cf. Kap. 6.2.3.1), situiert Filelfo zunächst einmal die für ihn relevante Zeit exakter durch die Aufzählung folg‐ ender historischer Persönlichkeiten: Plautus, Terentius, Tiberius und Gaius Gracchus (Grachi), Cato, Lucius Crassus, Marcus Antonius, Gaius Julius Cäsar 392 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 636 Bruni hatte allein Terenz und Cicero als zeitliche Einordnung genannt, Biondo um‐ schreibt die fragliche Epoche nur mit apud veteres (cf. Kap. 6.2.3). und Marcus Tullius Cicero (cf. Filelfo, Sphort. 3). 636 Daraufhin greift Filelfo das Argument der forensischen Rede auf, anhand dessen Bruni die eklatanten Un‐ terschiede zwischen der Sprache des Volkes und der Gelehrten aufgezeigt hatte. Nulla, inquam, alia oratione universum romanum populum usum arbitror, quam ipsa illa quam solet hic idem Cicero forensem popularemque appellare. (Filelfo, Sphort. 4; 2008: 240) Die von Cicero vor Gericht gehaltene Rede ist demzufolge für Filelfo die Sprache des Volkes, womit er Bruni, der für den Bereich der oratio die Verwendung der Literatursprache annimmt, in seiner Beweisführung deutlich widerspricht. An‐ dererseits bestreitet er auch nicht vollständig, daß es nicht doch gewisse Un‐ terschiede innerhalb des Lateinischen gäbe, denn so hätte doch - im Gegensatz zur Sprache der Redner - sowohl die Sprache der Philosophen (philosophi) als auch die der Dichter (poetae) bestimmte Eigenheiten aufzuweisen, wobei er be‐ züglich der Dichter, diejenigen der Komödie und Tragödie explizit ausschließt, da deren Sprache wiederum die des Volkes gewesen sei. Qua enim philosophi oratione sunt usi, et ab hac oratoria plaerisque in locis pro rerum materia plurimum differt. Nam propter nova planeque inusitata philosophorum in‐ venta, inusitatis item et novis verbis opus fuit. (Filelfo, Sphort. 5; 2008: 240) Ad haec poetae quoque - non loquor de comicis ac tragicis, qui toti erant populares - alia quadam locuti lingua multis in locis existimati sunt. (Filelfo, Sphort. 7; 2008: 240) Filelfo leitet daraus ab, daß wie bei anderen Sprachen auch, die eine grammatica hätten, also demgemäß eine (literarische) Schriftsprache (sermo litteralis) und eine gesprochene Sprache als Sprache des Volkes bzw. allgemeine Mutter‐ sprache (sermo maternus bzw. vulgaris), auch im Lateinischen eine variatio möglich wäre, aber die Morphologie und Syntax, also die Grundstruktur ein‐ heitlich sei. Quod, ut certo credam, cum alia plaeraque argumenta possunt adduci, tum illud in primis: novimus Hebraeos et Graecos, audimus item Aegyptios, Arabas, Assyrios, Persas, et eodem modo reliquas omnis nationes quibus propria est suaque grammatica, cum alio sermone uti litterali et alio vulgari, litteralis limatior est fortassis et proprius magis quam maternus, non alius tamen omninoque diversus quo ad dictionum vari‐ ationem, declinationem, enunciationem, desinentiam. (Filelfo, Sphort. 9; 2008: 240-241) 393 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 637 Die Araber sind durchaus bereits in hellenistischer und römischer Zeit in Europa be‐ kannt und es existieren neben den zahlreichen altsüdarabischen Inschriften aus den Herrschaftsgebieten von Saba, Hadramaut und Ma’în auch proto(nord)arabische In‐ schriften (ab ca. 5. Jh. v. Chr.); insbesondere die arabischstämmigen Nabatäer mit ihrem Zentrum Petra entwickelten ein aus der aramäischen Schrift abgeleitetes eigenes Schriftsystem. Die Römer, die zwischen Arabia deserta und Arabia felix unterschieden, errichteten im Norden 106 n. Chr. die provincia Arabia Petrae und zerstörten das Reich von Petra und 272 n. Chr. das von Palmyra, welches seit dem 1. Jh. n. Chr. unter der nominellen Oberheit der provincia Syria (seit 63 v. Chr.) stand und zunehmend arabisiert wurde (cf. Halm 2004: 88). Es ist nicht ganz eindeutig, ob Filelfo hier auf die antiken Verhältnisse anspielt oder auf die (früh)mittelalterlichen, als die Araber ab dem 7. Jh. über die arabische Halbinsel hinaus im Zuge der Verbreitung des Islams Nordafrika, den Nahen Orient und schließlich auch Teile Europas erobert haben. Womöglich pro‐ jiziert Filelfo diese historisch ihm sehr viel nähere und vertrautere Gegebenheiten auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit, eventuell gestützt durch Erwähnungen der Araber in griechischen oder römischen Quellen. 638 Tavoni (1984: 276, FN 11) bestätigt diese Bedeutung ἀγαϑὸς im uso volgare im Sinne von ,ingenuo, sciocco‘ und verweist auf das Neugriechische. Dabei führt er die verschiedensten Völker bzw. deren Sprachen auf und umreißt somit die wichtigsten Kultursprachen der Antike (Griechisch, Hebräisch, Ägyp‐ tisch, Assyrisch, Persisch). In seine enumeratio nimmt er außerdem noch die Araber hinzu, die ihm wohl eher aus dem zeitgenössischen Kontext bekannt sind. Dennoch könnte hier durchaus auch auf eine antike oder zumindest (früh)mittelalterliche Sprachkonstellation abgehoben worden sein. 637 Wie er sich diesbezüglich die Unterschiede zwischen der Sprache der docti und der des vulgus vorstellt, exemplifiziert er dabei am Griechischen. So würde das Adjektiv ἀγαϑὸς bei den Gelehrten ‚gut‘ bedeuten, im Sprachgebrauch (consuetudo) des Volkes jedoch ‚dumm‘. 638 Et Graeci quoque ἀγαϑὸν ἂνδρα, agathon andra, quod bonum virum significat apud doctos, pro viro stulto vulgi consuetudine accipiunt. (Filelfo, Sphort. 11; 2008: 241) Für das Lateinische sei dies ähnlich, die Gelehrten und das Volk hätten mor‐ phologisch bzw. morphosyntaktisch begründet (bzgl. declinatio, enunciatio, des‐ inentia) die gleiche Sprache, lexikalisch könnten jedoch innerhalb der gemein‐ samen Sprache Unterschiede bestehen (cf. Marchiò 2008: 97). Im Weiteren greift er nun Argumentationsbeispiele von Bruni auf und spricht sich gegen dessen daraus abgeleitete Schlußfolgerungen aus, d. h. gegen die explizite Trennung einer Volkssprache von der Sprache der Gelehrten und der damit verbundenen fehlenden Interkomprehension. Filelfo führt zunächst aus, daß ja auch heute diejenigen, die nach Italien bzw. Rom kämen oder Völker aus anderen Regionen des Imperium Romanum wie Germanen, Sarmaten oder Daker (cf. Filelfo, Sphort. 394 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 639 Die Sarmaten erwähnt in ähnlichem Kontext auch Poggio Bracciolini (Utrum prisc. 27-28; 2008: 187), nicht jedoch die Daker (und Germanen) (cf. Kap. 6.2.6). Nur ein Exempel, wie Argumente und Beispiele in dieser Diskussion übernommen und abge‐ wandelt werden. 640 Cf. „Nec satis scio quam potuissent voluptatem Plauti quas legimus et Terentii comoe‐ diae afferre populo, ubi sunt pueri et mulierculae, si minus cognossent quae audissent. Nam quod dicatur convenisse populum indoctum ut spectaret, non ut audiret auditaque intelligeret, stultum est“ (Filelfo, Sphort. 17; 2008: 241). 13; 2008: 241) 639 nicht die Sprache der Gelehrten lernen würden, sondern den sermo, den sie auf der Straße hören würden, also den Sprachgebrauch der Hand‐ werker (cerdonibus; Filelfo, Sphort. 13; 2008: 241). Daraus ließe sich schließen, daß dieser Vorgang apud priscos genauso abgelaufen wäre und Fremde erst einmal die Sprache der pistores lernen würden. Damit referiert er direkt auf Bruni, der neben dem Beispiel der lanistae auch die pistores als Protagonisten der Volkssprache anführt, sowie auf Poggio (Utrum prisc 4; 2008: 185), der die cerdones (‚Handwerker‘), sutores (‚Schuster‘) und cocos (‚Köche‘) als Repräsen‐ tanten des vulgus erwähnt, als er die Meinung von Antonio Loschi wiedergibt (cf. Marchiò 2008: 245, FN 12). Im Folgenden greift Filelfo in der Diskussion die nun schon häufig erörterte Frage der Sprache der Komödie und Tragödie auf, ob also das Volk im Theater den Aufführungen folgen konnte oder sich - wie Bruni es darstellte - „nur“ am Spektakel erfreute (cf. Kap. 6.2.3.1). Filelfo macht deutlich, daß die Schauspieler seiner Ansicht nach nicht in der Gelehrtensprache, also der grammatica, die Stücke darbrachten, sondern auf Latein bzw. genauer dem Latein, welches allen gemein war. Hierbei unterscheidet er zwischen einem sermo litteralis bzw. lit‐ teratura als eine Sprache der Gebildeten, die sich in der Literatur widerspiegelt und der latinitas, die hier nicht wie bei Bruni mit der grammatischen Korrektheit des Lateins gleichgesetzt wird (daher bei ihm auch Latine litterateque; cf. Kap. 6.2.3.1), sondern allgemeiner als lateinische Sprache verstanden wird. At ea non grammatice, sed latine referebantur. Nam litteratura plaerisque in locis obscurior est, at latinitas omnibus nota. (Filelfo, Sphort. 21; 2008: 242) Dies bedeutet für ihn auch, daß die Frauen (mulierculae) und Kinder (pueri) ebenso den Theaterstücken folgen konnten, d. h. sie konnten nicht nur die dar‐ gestellten Handlung nachvollziehen, sondern die Dialoge tatsächlich auch ver‐ stehen (intellegere), 640 was in deutlichem Gegensatz zu Bruni steht. Im Weiteren erklärt er den „Verfall“ des Lateins und folgt hierbei der Barba‐ renthese Biondos (ohne ihn explizit zu nennen), indem er erklärt, daß in den stürmischen Zeiten durch die Vielzahl der fremden Eindringlinge (in tanta bar‐ 395 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 641 Den Verweis auf die zeitgenössische Sprachsituation in Konstantinopel mit dem ent‐ sprechend Rückschluß auf die antike Konstellation liefert bereits Guarino (De ling. lat. diff. 44; 2008: 178). Die Erfahrung mit der gräkophonen Welt allerdings - so ist hinzu‐ zufügen - hatte beide Gelehrte unabhängig voneinander gemacht, insofern kann Filelfo hier tatsächlich auch auf eigene Anschauung aus seinen Byzantiner Lebensjahren zu‐ rückgreifen. Tavoni (1984: 176, FN 7) weist auch darauf hin, daß vor Filelfo nur Guarino Veronese, Giovanni Aurispa und Ciriaco d’Ancona (ca. 1391-1455) in die gräkophone Welt gereist waren. barorum multitudine) sich die latinitas mit Fehlern angereichert habe (vicia‐ rant). Ut hac enim tempestate nostra accidere quotidie videmus, ut rarissimae nobis nutrices offerantur quae vulgari hoc sermone italico utantur admodum exulto, ita apud Ro‐ manos illos usu venire poterat ut in tanta barbarorum multitudine, qui ex universo terrarum orbe variis fortunae casibus in urbem influxerant latinitatemque viciarant non facile eae nutrices contingerent quae meram incorruptamque callerent latinam locutionem. (Filelfo, Sphort. 25; 2008: 242) Den letztgültigen Hauptbeweis gegen die Thesen Brunis führt Filelfo wiederum am Beispiel des ihm aus eigener Anschauung bekannten zeitgenössischen Grie‐ chischen bzw. der gräkophonen Sprachsituation und ihrer mutmaßlichen his‐ torischen Entwicklungen. Die Griechen hätten ja - so Filelfo - keine durch die Barbaren verdorbene Sprache (quibus lingua depravata non sit) wie das Latein und wenn die heutigen Griechen immer noch so sprächen wie einst die Dichter der Komödie und Tragödie (z. B. Aristophanes und Euripides), die Redner, die Historiographen und die Philosophen (z. B. Platon und Aristoteles), dann, so seine Suggestion, wäre konsequenterweise auch in Bezug auf die römische Sprachkonstellation davon auszugehen, daß die Gelehrten (litterati) grundsätz‐ lich die gleiche Sprache wie das Volk gesprochen hätten. 641 Graeci enim, quibus lingua depravata non sit, et quos ipsi tum sequimur tum imitamur, ita loquuntur vulgo hac etiam tempestate, ut Aristophanes comicus, ut Euripides tra‐ gicus, ut oratores omnes, ut historiographi, ut philosophi etiam ipsi et Plato et Aris‐ toteles; litterati autem homines et doctius et emendatius. (Filelfo, Sphort. 27; 2008: 243) Zur Untermauerung seiner gegen Bruni gerichteten These, daß das Lateinische der römischen Antike die Sprache aller Volksschichten, eben auch der Gelehrten gewesen sei, führt er gegen Ende seiner Argumentation - nachdem er nochmal ausführlicher auf Konstantinopel und das Griechische eingegangen ist - nun auch das Zeugnis eines Latinophonen ins Feld, nämlich keinen Geringeren als Varro und seine Abhandlung zum Lateinischen (cf. De lingua latina), in dem dieser schildert, daß auch die fremden Sklaven intuitiv richtig deklinieren 396 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 642 Es ist nicht ganz eindeutig, welche Schriftsteller mit den erwähnten duobus Guidonibus florentinis (v. supra) gemeint sind. Einer ist wohl mit großer Sicherheit Guido Caval‐ canti, der ja auch gebürtig aus Florenz ist, wer allerdings ein zweiter Guido aus Florenz sein könnte, mit ähnlicher Prominenz wie der Freund Dantes und Vertreter des dolce stil nuovo, ist weniger klar. Möglich wäre Guittone d’Arezzo (1230-1294), der zwar nicht gebürtiger Florentiner ist, aber dort gewirkt hat und immerhin auch aus der Toskana stammt. Viti (1997: 620) interpretiert dies jedoch kommentarlos als Guido Guinizelli (1230 / 1240-1276), der aber weder aus Florenz noch aus der Toskana stammt. Allerdings wirkte er über Dante, der dessen Werk entweder durch seinen Aufenthalt in Bologna (1286-1287) oder über Calvalcantis Dichtung kennenlernte (cf. Moleta 1980: 51). Explizit lernten. Dies veranlaßt Filelfo dazu, daraus zu schließen, daß dies ähnlich wie beim Spracherwerb der Kinder funktioniere (simul cum lacte latinam biberant linguam; Filelfo, Sphort. 31; 2008: 243) was wiederum für ihn bedeutet, daß das Lateinische mit all seiner komplexen Morphosyntax auch vom Volk gesprochen wurde, da es ja sogar Kinder und Sklaven offenbar problemlos erlernen konnten. Filelfos Argumentation endet damit, daß er dem Adressaten seinen Briefes, Secondo Sforza, noch einmal zu verstehen gibt, daß die Sprache des Volkes in der Antike eine lingua latina gewesen sei und nicht eine reine literarische Ge‐ lehrtensprache, ähnlich der lateinische Literatur- und Schriftsprache seiner ei‐ genen Zeit: „Sed hac de re nunc satis multa: modo intelligas latinam linguam vulgarem fuisse, non litteralem“ (Filelfo, Sphort. 33; 2008: 243). In seinem über zwei Jahrzehnte später verfaßten Brief an Lorenzo deʼ Medici greift Filelfo das Thema des Disputes zwischen Bruni und Biondo noch einmal auf. Dabei geht es ihm erneut um die Ablehnung der These Brunis, die für ihn auch von Biondo und Poggio nicht in seinem Sinne ausreichend zurückgewiesen wurde. Entsprechend dem Verlauf der Debatte wird auch hier wieder auf ähn‐ liche Argumente und auf bereits zu Topoi gewordene Kommunikationssituati‐ onen der römischen Geschichte rekurriert, die deshalb im vorliegenden nicht alle im Einzelnen wiederaufgerollt werden sollen. Zu Beginn stellt Filelfo heraus, daß es vor allem nötig sei - was bisher, vor allem von Bruni, nicht (ausreichend) gemacht wurde -, zwischen dem sermo latinus, also dem allgemeinen Latein und dem sermo litteralis im Sinne einer literarisch geprägten Schrift- und Gelehr‐ tensprache zu unterscheiden (cf. inter se differre sermonem litteralem et la‐ tinum; Filelfo, Laur. 1; 2008: 252). Daraufhin macht er deutlich, daß die Annahme einer dem zeitgenössischen volgare ähnlichen Sprache für das alte Rom dezidiert zu verwerfen sei. Wäre dem so gewesen, hätten von dieser vulgaris lingua ja irgendwelche Schriften oder Bücher überdauert, ganz so wie es neben der zeitgenössischen lateinischen Literatur auch Gelehrte wie Guido Cavalcanti (1250 / 1255-1300), Guido Guini‐ zelli (1230 / 1240-1276), 642 Dante Alighieri (1265-1321), Francesco Petrarca 397 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini erwähnt wird Guinizelli in der Divinia Commedia: „Son Guido Guinizelli; e già mi purgo, / Per ben dolermi prima ch’allo stremo“ (Dante, Div. Comm. Purg. XXVI, 92-93; 1988 II: 312). (1304-1374), Giovanni Boccaccio (1313-1375) oder Cecco d’Ascoli (Francesco Stabili bzw. Cichus Esculanus, 1269-1327) gab, die volkssprachliches Schriftgut hinterlassen haben. Tavoni (1984: 176-177) verweist darauf, daß Filelfo in seiner sonst rein toskanischen Auflistung von Dichtern Cecco d’Ascoli hinzugefügt hat, um Lorenzo deʼ Medici zu gefallen, von dem er sich ja eine Anstellung an der Universität erhoffte (cf. auch Coseriu / Meisterfeld 2003: 166). Et omnium primum illud mihi videor indubitato posse ac dilucide affirmare, nihil magis abhorruisse a communi loquendi Romanorum consuetudine, quam hanc vul‐ garem linguam qua nunc omnis utitur Italia. Nam, si huiusmodi sermone prisci Ro‐ mani illi essent usi, extarent aliqua eorum scripta, aliqui libri, aut versu aut soluta oratione, qualia videmus hac tempestate volumina plurima perdocte et eleganter scripta ab iis qui proximis temporibus claruere: duobus Guidonibus florentinis, Dante Aldigerio, Francisco Petrarca, Ioanne Boccaccio et Asculano Ciccho aliisque quam plurimis, quorum monimenta nulla unquam memoria obscurabit. (Filelfo, Laur. 3-4; 2008: 252) In der Ablehnung eines volgare für die Antike folgt er zwar grundsätzlich Biondo und Guarino, wie Mazzocco (1993: 66) ausführt, es ist diesbezüglich aber zu prä‐ zisieren, daß es explizit um die Negierung der Vorstellung einer Art von rinas‐ cimentalem volgare bei den antiken Römern geht und daß Filelfo hier vor allem Guarino folgt, der ebenfalls mit fehlenden Spuren argumentiert, wenn auch nicht so präzise. Biondo hingegen postuliert zwar auch eine Einheit des Latein‐ ischen, nimmt aber durchaus eine Art von volgare antico an (cf. Kap. 6.2.3.2 u. 6.2.5). Im Weiteren bemüht Filelfo die „Barbarenthese“ Biondos, um die Gründe für die Veränderungen des Lateins darzustellen. Dabei betont er zunächst, daß das heutige volgare, welches in ganz Italien gesprochen würde, rein gar nichts mit dem sermo zu Zeiten von Cicero zu tun hätte (cum vetusto illo sermone Cice‐ ronis). Anschließend macht er die zahlreichen „Barbarenvölker“, die nach und nach (deinceps) in Italien eingedrungen waren, für die „Verunreinigung“ des Lateins durch ihren fehlerhaften Gebrauch der Sprache verantwortlich (confu‐ derunt et inquinarunt). Itaque lingua haec vulgaris qua nunc universa loquitur Italia, tametsi in alia quam in alia eius regione deterius, nihil habet omnino commune cum vetusto illo sermone qui Ciceronis memoria erat in usu. Et ne id quidem mirum, cum tot deinceps barbarae 398 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 643 So könnte man beispielsweise die Franken, die im 8. Jh. nach Italien kamen zur Not noch in einem späten Völkerwanderungskontext verorten, es könnte aber auch in Bezug auf spätere französische Herrschaften und Kriegszüge (z. B. Neapel) gemeint sein. Bei den Belgern oder Britanniern respektive Belgiern und Engländern ist der Bezug wenig ein‐ deutig. Denkbar ist auch, daß er hier mit Britanni und Belgae auf einen Substrateinfluß Bezug nimmt, da diese Völker ja Teil des Imperiums waren. Die Vermischung beider Sichtweisen (Substrat vs. Superstrat) findet sich auch bei seinen Vorgängern; allerdings ist Filelfo ansonsten bezüglich der zeitlichen Einordnung recht präzise. gentes in Italiam irruerunt. Vandali, Hunni, Gotthi, Longobardi, Germani, Burgun‐ diones, Britanni, Franci, Belgae, et aliae atque aliae nationes, quae et linguam ipsam et mores doctrinamque omnem maiestatemque dicendi confuderunt atque inquina‐ runt. (Filelfo, Laur. 5-6; 2008: 252) Bemerkenswert erscheint hier die im Vergleich zu seinen Vorgängern ausführ‐ liche Auflistung der verschiedenen Substrat- und Superstratvölker, die für die „Verderbnis“ des Latein verantwortlich gemacht werden. Dabei ist nicht ganz eindeutig, ob Filelfo hier die Zahl der Superstratvölker einfach um einige weitere frühmittelalterliche erweitert oder auch spätere Invasoren miteinbezieht. 643 Nachdem Filelfo die Bedeutung von Manuel Chrysoloras für die Vermittlung der griechischen Kultur, Sprache und Literatur hervorgehoben hat (cf. Filelfo, Laur. 8-9), wendet er sich wieder der bekannten Fragestellung zu und betont wiederum die Einheit des Lateinischen in der Antike. Für Filelfo gab es in der römischen Antike nur ein Latein, das die Gemeinsprache sowohl von den Ge‐ bildeten als auch von den Ungebildeten darstellte (doctis indoctisque communis) und bereits in der Kindheit als Muttersprache erlernt wurde (infantia alebatur). Sermo latinus erat doctis indoctisque communis, qui simul cum infantia alebatur, eratque materna ipsa vernaculaque lingua qualem videmus apud Graecos eam quae ex quinque linguis quas διαλέκτους, dialectus vocant, κοινὴ, coene, hoc est communis, nominatur, quamquam etiam de singulis linguis idem est tenendum, quo ad maternam vulgaremque linguam atque grammaticam. At litteralis sermo rarior erat apud Ro‐ manos, et doctis familiaris hominibus, indoctis autem minus notus. (Filelfo, Laur. 12-13; 2008: 253) Filelfo zieht hier einen Vergleich zum Griechischen, welches einerseits fünf ver‐ schiedene Dialekte aufweist und andererseits eine Koiné besitzt, die allen Grie‐ chen gemeinsam ist. Es ist allerdings nicht ganz klar, wie stark er hier paralle‐ lisieren möchte, da die Situation im Lateinischen nicht identisch ist bzw. war. Es dient ihm jedoch sicherlich dazu herauszustellen, daß das, was die antiken Römer gesprochen haben, nicht die sogenannte grammatica war. Zuletzt macht er deshalb deutlich, daß der litteralis sermo, d. h. die lateinische Schrift- und 399 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Literatursprache, nur den Gelehrten (doctis) geläufig war und ansonsten unter den Römern nicht verbreitet gewesen sei. Die Sprache des antiken Roms bzw. des Imperiums ist für ihn in dieser Analogie die latinitas im Sinne einer latein‐ ischen Gemeinsprache. Im Folgenden handelt Filelfo einige der bekannten Fragestellungen ab, die bereits von Bruni und seinen Nachfolgern aufgeworfen und auch in seinem ersten Brief an Sforza Secondo thematisiert wurden (v. supra), wie beispielsweise die Verständlichkeit der Komödien und Tragödien im antiken Theater oder die Sprache im Senat. Er untermauert seine Position durch diverse Sprachbeispiele und führt immer wieder bekannte römische Referenzautoren wie Cicero, Quin‐ tilian oder Livius an. Dabei zieht er zusätzlich zum Teil Parallelen zur griechi‐ schen Situation, so auch um den Unterschied zwischen latinitas und grammatica nochmal zu verdeutlichen. Et apud Athenienses aliud erat attice loqui, aliud grammatice, eadem quoque diffe‐ rentia fuit apud Romanos, ut alia esset latinitatis ratio, et litteraturae alia, sed ea tamen admodum parva: quod patet in iis nominibus quae et in quarta reperiuntur et in se‐ cunda declinatione. (Filelfo, Laur. 58; 2008: 257) Filelfo veranschaulicht hier zunächst die Sprachkonstellation im griechischen Sprachraum anhand der Situation im antiken Athen. Dort wäre von den Be‐ wohnern einerseits ein muttersprachliches Idiom, d. h. ein Dialekt (v. supra) ge‐ sprochen worden, nämlich das Attische, und andererseits eine grammatische Sprache verwendet worden, womit er wohl die Koiné, die gesamtgriechische Schrift- und Standardsprache meint. Analog dazu stellt sich für Filelfo die Situ‐ ation apud Romanos dar, die einerseits das Lateinische (latinitas ratio) gebrau‐ chen und andererseits die lateinische Literatursprache (litteraturae alia), d. h. ebenfalls eine sogenannte grammatica. Tavoni (1984: 174-175) macht deutlich, daß Filelfo terminologisch mit zwei Oppositionen arbeitet, nämlich einerseits mit latine vs. grammatice loqui sowie andererseits mit vulgaris vs. litteralis sermo. Dabei parallelisiert er nun die lingua vulgaris mit der lingua latina und die lingua litteralis mit der litteratura und der grammatica. Das Ungewöhnliche daran ist dabei, daß er die Sprache der Gebil‐ deten und der Literatur nicht wie seit der antiken Rhetorik üblich (cf. Kap. 4.1.2.3) und auch bei Bruni (cf. Kap. 6.2.3.1) mit latinitas gleichsetzt, sondern hier latina im weiteren und ursprünglichen Sinn als Sprache Latiums und der Römer an sich interpretiert. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung kommt Filelfo noch einmal auf die Frage nach der „Verunreingung“ der latinitas durch fremde Völker zurück und macht deutlich, daß diese negative Beeinflussung von Sprache und Sitten der 400 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 644 Zu einer ausführlichen Diskussion um den von Filelfo monierten Übersetzungsfehler von Bruni bezüglich des Ausdrucks Missarum solemnia bzw. missa aus dem Griechi‐ schen cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 167, FN 18). Römer (et lingua et moribus inquinarat; Filelfo, Laur. 64; 2008: 258) schon sehr früh begann. Omitto quot populi, ab ipso usque Romulo urbis conditore, a caeterisque deinceps regibus in urbem recepti sunt, Sabini, Hernici, Veientes, Samnites, Ethrusci, Osci ali‐ ique postea permulti, nec in urbem solum sunt recepti, sed etiam in civitatem. Nonne tota Carthago Romam advecta est? Non item Numantini? Quid Macedonas? Quid Graecos? Quid asiaticum vulgus meminero? (Filelfo, Laur. 65; 2008: 258) Es werden hier im weiteren Sinne der sogenannten „Barbarenthese“ die ver‐ schiedensten Substratvölker aufgelistet, wie sie auch schon bei Poggio vor‐ kommen. Filelfo kritisiert hierbei den sich immer mehr sich ausweitenden Zuzug von fremden Völkern in die Stadt Rom, so daß das Lateinische durch deren Sprechweise korrumpiert worden wäre. Nach einer Invektive gegen Bruni und Poggio, denen er unterstellt, das Grie‐ chische nicht richtig zu beherrschen und sie deshalb die griechische Sprach‐ konstellation dahingehend nicht richtig beurteilt zu haben, da auch das gemeine Volk sich morphologisch korrekt ausdrücken würde (cf. Filelfo, Laur. 87; 2008: 260-261), sowie einer Passage zur bereits bekannten Diskussion um die Sprache bei der Heiligen Messe (ibid. 91-93; 2008: 261), 644 die, im Gegensatz zu der Annahme Brunis, die heutigen Illiteraten nicht verstehen könnten, nimmt Filelfo gegen Ende seines Briefes noch kurz Stellung zur zeitgenössischen questione della lingua, indem er dem Toskanischen, insbesondere dem Florentini‐ schen, die größte sprachliche Eleganz bescheinigt: „Nam ex universa Italia eth‐ ruscus sermo, et maxime florentinus, elegantissimus est et optimus“ (Filelfo, Laur. 95; 2008: 261). In seinem kurzen Schreiben an Bianca Maria d’Este aus dem gleichen Jahr (1473), in dem er den eleganten Briefstil der Adressatin hervorhebt und ihre Sprache mit derjenigen berühmter Frauen der Antike vergleicht, die durch ihre eloquentia hervorstachen, streift er ebenfalls kurz die vorliegende Debatte um die antike Sprachsituation und betont die Einheit der lateinischen Sprache: „Lingua enim latina, per id temporis, litteratae erat admodum proxima ac per‐ similis“ (Filelfo, Blanc. 12; 2008: 248). Im Gegensatz zu Bruni, so die hier zu ver‐ stehende Suggestion, gibt es für Filelfo keine eigene Volkssprache im antiken Rom, sondern die allgemeine gesprochene Sprache (lingua latina) und Litera‐ 401 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 645 Zu einer etwas ausführlicheren Behandlung des kurzen Schreibens und dem angespro‐ chenen Aspekt der gebildeten Frauen in der Antike, zu denen er an Bruni angelehnte Beispiele anführt (cf. Kap. 6.2.3.1), cf. Marchiò (2008: 101-103). tursprache (lingua litteralis) sind sich sehr ähnlich. 645 Coseriu / Meisterfeld (2003: 168) kommentieren Filelfos Stellungnahme deshalb dahingehend, daß er hinsichtlich „der Annahme einer weitgehenden Deckungsgleichheit von Lite‐ ratursprache und Volkssprache im alten Rom“ (ibid.) übertreiben würde, wahr‐ scheinlich um deutlich zu machen, daß das (italienische) volgare seiner eigenen Zeit mit einer lateinischen Volkssprache inkompatibel sei. Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Ausgehend von der hier angewandten Methode, nämlich dem Versuch, die ein‐ zelnen Standpunkte der humanistischen Gelehrten unter einer modernen sozio- und varietätenlinguistischen Perspektive zu betrachten, seien nun im Folgenden die unter diesem Blickwinkel zu interpretierenden Ansichten Filelfos darge‐ stellt. Da in allen hier betrachteten Briefen deutlich wird, daß Filelfo vor allem (aber nicht nur) gegen Bruni polemisiert bzw. dessen (anzunehmende) These von einer sprachlichen Diglossie-Situation bezüglich der römischen Antike ve‐ hement ablehnt, läßt sich schon allein daraus ableiten, daß er grundsätzlich von einer Einheit der lateinischen Sprache ausgeht. Eine Volkssprache analog zum zeitgenössischen volgare kann es für Filelfo nicht gegeben haben, da dies sonst einen Niederschlag in der Literatur gefunden haben müsste bzw. entsprechend den italienischen Schriftstellern wie z. B. den tre corone eine eigene Literatur hervorgebracht haben müsste (v. supra). Im Gegensatz zu Bruni, der die eigene zeitgenössische Sprachkonstellation weitgehend unverändert auf die Antike projiziert (cf. Kap. 6.2.3.1), schließt sich hier Filelfo denjenigen an, die ein differenzierteres Bild von der Sprache Roms zeichnen. Die Einheit des Lateinischen postulieren in verschiedener Nuancie‐ rung jedoch auch Biondo, Alberti, Guarino und Poggio. Filelfo konzentriert sich allerdings in seiner Argumentation vor allem auf den Unterschied von latinitas und litteratura. Folgt man seinen Ausführungen zu den Diskrepanzen in Struktur und An‐ wendung zwischen beiden Sprachformen, dann kann man dies als zwei diapha‐ sische Varietäten interpretieren, mit einem zusätzlich diamesischen Aspekt, und zwar dahingehend, daß litteratura nur geschrieben wurde, während latinitas sowohl medial mündlich als auch schriftlich Verwendung findet. Dazu gehören sowohl juristische Gebrauchstexte wie Senatsbeschlüsse, Gesetze oder Verträge 402 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 646 „Nec erat admodum opus litteratura in mera ac pura latinitate, cum et plebiscite et senatusconsulta et decreta et leges ac iurisconsultorum responsa et praetoriae excep‐ tiones, et omnia civitatis iura, instituta, pacta conventaque latine, non grammatice, scriberentur“ (Filelfo, Laur. 16; 2008: 253). Zu den Komödien und Tragödien, die ja von allen Römern verstanden werden sollten, cf. z. B. Filelfo (Sphort. 18; 2008: 241) und v. supra; die Dichter und Philosophen würden hingegen eine andere Sprache gebrauchen, eben nicht latinitas, sondern litteratura (v. supra). als auch literarische Texte wie Komödien und Tragödien. 646 Es kann also auch für die Varietät der latinitas im Sinne Filelfos ein gewisser Ausbaugrad postuliert werden, auch wenn dieser nicht der gleiche ist wie bei der vollausgebauten litteratura. Die diaphasische Interpretation läßt sich daraus ableiten, daß vor allem auf morpho-syntaktischer hier Abweichungen zu verzeichnen sind, was er an Beispielen illustriert, die z. T. zuvor schon Bruni und Biondo angeführt hatten: z. B. die anzunehmende inkorrekte Deklination von supellex durch Frauen und Ammen (v. supra, cf. Filelfo, Laur. 86; 2008: 260) oder die Deklination von ornatus, tumultus, senatus und victus im Genitiv durch -us statt durch -i (cf. Filelfo, Laur. 59; 2008: 257). Dies bedeutet, daß die litteratura zwar eine elabo‐ riertere Varietät ist, aber der Unterschied zur latinitas ist für ihn kein funda‐ mentaler, sondern nur in Bezug auf einige sprachliche Phänomene festzustellen. Entsprechend lautet auch die Synthese von Mazzocco (1993): Latinitas and Litteratura differed in the exposition of the argument, the subject matter, the choice of words, and the inflectional endings and meaning of certain terms. Lit‐ teratura, which was forever faithful to orthodox significations and inflections, made use of an elevated style rich in archaisms and subtleties. (Mazzocco 1993: 67) Unweigerlich ist dabei auch eine diastratische oder diasozialen Komponente miteinzubeziehen, da die Verteilung der beiden Varietäten an den Bildungsgrad der Sprecher gekoppelt ist (cf. docti) bzw. mit einer „beruflichen“ Spezifizierung einhergeht (cf. philosophi, poetae). Damit lägen bei Hervorhebung dieses As‐ pektes zwei schichtenspezifische Gruppensprachen bzw. Varietäten vor. Hier stellt sich die Frage, ob dies eher textsortenspezifisch zu interpretieren wäre und tendenziell unterschiedliche Stilregister betreffen würde, also die Diaphasik oder aber diatechnisch im Sinne von Fachsprachen (cf. auch: Technolekte). Dabei kann die diatechnische Ebene als Teil der Diastratik oder als selbständige Vari‐ etätenebene gesehen werden (cf. Kap. 3.1.1). Allerdings ist diese Distribution bei Filelfo nicht als absolut komplementär anzusehen, denn auch wenn die litteratura nur von den docti verwendet wird, ist die latinitas sowohl bei den docti als auch den indocti in Gebrauch (v. supra: doctis indoctisque communis). 403 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 647 Auch Bracciolini nennt zahlreiche Substratvölker, dafür außer den Germanen - von denen nicht sicher ist, ob sie bei ihm substratisch oder superstratisch zu interpretieren sind - keine weitere Superstratvölker. Alberti und Guarino konzentrieren sich auf ei‐ nige wenige Superstratvölker und listen „nur“ die Gallier als Substratvolk auf, Biondo selbst hatte nur den Substrateinfluß im Sinn (cf. Kap. 6.2.3-6.2.6). 648 Damit wird wohl nicht auf den Kontinent, sondern auf die Provinz Asia, d. h. Kleinasien (die heutige Türkei) bzw. einem Teil davon, referiert. 649 Filelfo geht dabei weit über die beispielsweise bei Guarino zu findenden typischen Kul‐ tursprachen der Bibel, (Hebräisch, Griechisch, Latein) hinaus und zieht zusätzlich noch Was Filelfos Aussagen zum Phänomen des Sprachwandels anbelangt, so ist zu konstatieren, daß er grundsätzlich der „Barbarenthese“ Biondos folgt, d. h. die Veränderung des Lateinischen auf den Einfluß fremder Völker zurückführt. Dabei differenziert er deutlicher als seine Vorgänger zwischen Substrateinfluß und Superstrateinfluß und listet in Ergänzung zu Biondo, Guarino und vor allem Poggio eine relativ große Anzahl an fremden Völkerschaften auf. 647 Während bei Biondo, der allein Superstratvölker für die „Verderbnis“ des Lateins verant‐ wortlich macht, nur drei Germanenstämme der Völkerwanderungszeit genannt werden, führt Filelfo beispielhaft Vandalen, Hunnen, Goten, Langobarden, Ger‐ manen, Burgunder, Britannier, Franken und Belger an. Er macht zudem deutlich, daß die sprachliche Veränderung des Lateins bereits viel früher, d. h. im Prinzip seit Anbeginn wirksam war, denn auch die heutzutage als Substratvölker zu kategorisierenden Sabiner, Herniker, Einwohner von Veji, Samniten, Etrusker und Osker hätten das Latein durch ihren Zuzug nach Rom verunreinigt sowie zudem die später hinzukommenden Karthager, Numantier, Makedonen, Grie‐ chen und weitere Völker aus Asien 648 (cf. supra, Filelfo, Laur. 65; 2008: 258). Seine diesbezügliche Schlußfolgerung lautet, daß das volgare seiner Zeitge‐ nossen überhaupt nichts mit dem Latein zu tun habe, welches zu Zeiten Ciceros gesprochen wurde (v. supra, Filelfo, Laur. 5). Offensichtlich sieht er hier einen wichtigen Bruch in der Sprachentwicklung oder möchte damit andeuten, daß die jahrhundertlang anhaltende Verderbnis des Lateins durch fremden Einfluß eine komplett andere Sprache generiert hätte. Er ist jedoch auch wenig präzise, ob das antike Latein, welches hierdurch verändert wurde, nun die latinitas in seinem Verständnis ist oder die litteratura oder beide zusammen. Dies hängt auch damit zusammen, daß Filelfo sich nicht eindeutig äußert, ob diese Bezie‐ hung zwischen latinitas und litteratura eine Inklusionsrelation ist, also in dem Sinne, daß litteratura eine elaboriertere, verfeinerte Varietät der latinitas dar‐ stellt, oder es sich um zwei zwar sehr verwandte, aber dennoch getrennte Va‐ rietäten handelt. Seine Parallelisierung von litteratura mit dem Begriff der grammatica und seine Vergleiche mit dem Griechischen (und anderen Kultur‐ sprachen) 649 legen letzteres nahe. 404 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Persisch, Ägyptisch, Assyrisch (und Arabisch) als Beispiele für antike Sprachen mit elaborierter Schriftkultur heran (v. supra). 650 Bei Gasparino Barzizza studierte auch Leon Battista Alberti (1415-1418) sowie dessen Bruder Carlo. Filelfo blieb als Schüler jedoch nur zwei Jahre (1416-1417) und ging dann nach Vicenza, während Alberti nach Bologna ging, um Rechtswissenschaften zu stu‐ dieren. Womöglich kam es zwischen Alberti und Filelfo zu einem Treffen, als letzterer 1428 von Venedig nach Bologna ging; ob sie sich ein weiteres Mal im Rahmen ihrer Reisen durch Italien persönlich begegnet sind, ist nicht überliefert (cf. Marsh 2011: 209-211). Zur Lehrtätigkeit Barzizzas im Rahmen des padovanischen Huma‐ nismus und dessen Filiation an Schülern cf. Mercer (1979: 115-116). 651 Hierzu sei zu ergänzen, daß das Patronage-Wesen in der Renaissance eine wichtige Rolle spielte, welches mit den Begriffen fides und amicitia umrissen wurden. Diese Werte wurden auch in der Literatur entsprechend hoch gehalten (auch bei Filelfo), man ver‐ mied hingegen die direkten Bezeichnungen patronus und cliens (cf. Robin 2014: 15-16, 24). Rekontextualisierung Im Sinne der für die vorliegende Untersuchung angewandten methodischen Vorgehensweise, sollen nun im Folgenden die wichtigsten Fakten für eine Re‐ kontextualisierung der Person und der Texte Filelfos zusammengetragen werden, sofern sie nicht bereits aus den obigen Ausführungen hervorgehen. Francesco Filelfo (lat. Franciscus Philelphus) (1398-1481), gebürtig aus Tolen‐ tino in der heutigen Provinz Macerata (früher: Marca Anconitana, Teil des Kir‐ chenstaates), studierte in Padua Rhetorik bei Gasparino Barzizza (1360-1431) und Philosophie bei Paolo Veneto (ca. 1369 / 1372-1429). 650 Bereits in jungen Jahren durfte er dort auch lehren (Rhetorik und Moralphilosphie), wechselte dann aber nach Venedig, wo er junge Adelige unterrichtet. In Venedig knüpfte er auch wichtige Bekanntschaften, u. a. mit Guarino Veronese (1374-1460), Vit‐ torino da Feltre (1378-1446) und Francesco Barbaro (1390-1454), der ihn fortan protegierte. 651 Nach einem Intermezzo in Vicenza, wo er ebenfalls lehrte, ging er 1420 als Sekretär nach Konstantinopel. Dort nahm er neben seiner Verwal‐ tungstätigkeit für die Republik Venedig die Gelegenheit wahr, bei dem be‐ rühmten Manuel Chrysoloras (1353-1415) Griechisch zu lernen und sich mit der griechischen Literatur zu beschäftigen. Ab 1422 war er vom byzantinischen Kaiser Johannes VIII . Palaiologos (1425-1448) zum Berater und Sekretär er‐ nannt worden. In dessen Auftrag sowie als Repräsentant der Republik Venedig war er zudem des Öfteren in diplomatischen Angelegenheiten engagiert, so reiste er u. a. zum osmanischen Sultan Murad II . (1421-1451), nach Budapest zu Kaiser Sigismund (dt. Kg. 1411-1437, Ks. ab 1433) sowie in dessen Auftrag nach Krakau zum polnischen König Władysław II Jagiełło (1386-1434). Filelfo, der inzwischen die Tochter von Chrysoloras geheiratet hatte, kehrte 1427 mit zahl‐ 405 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 652 Filelfo brachte ca. 40 griechische Manuskripte aus Konstantinopel mit (cf. Augustijn 2003: H52) und besaß vor allem später in Mailand eine umfangreiche Privatbibliothek. 653 Filelfo gerät in Florenz in Gegnerschaft zu Cosimo deʼ Medici, nachdem er sich für die führende Oligarchen-Partei um Rinaldo degli Albizzi (1370-1442) und Palla Strozzi (1372-1462) einspannen ließ. Dadurch verliert er kurzfristig seinen Lehrstuhl an Carlo Marsuppini (1398-1453), der mit der Exilierung von Cosimo deʼ Medici aber wieder zurücktreten muß. Aufgrund seiner Invektiven und polemischen Satiren gegen Mar‐ suppini und Cosimo muß Filelfo mit der Rückkehr des Medici Florenz schließlich in Richtung Siena verlassen (cf. Neumahr 2002: 42). 654 In Rom wurde er zum poeta laureatus gekrönt (1453). Unter dem Borgia-Papst Ka‐ lixt III. (1455-1458) war er als apostolischer Sekretär tätig und lehrte an der Universität der Kurie. 655 Filelfo diente zunächst dem Herzog Filippo Maria Visconti (1392-1447, Hzg. ab 1412) und nach der kurzen Phase der Mailänder Republik (1447-1450) dem neuen Machthaber Francesco Sforza I. (1401-1466, Hzg. ab 1450) und dann seinem Sohn Galeazzo Sforza (1444-1476, Hzg. ab 1466) (cf. Marsh 2011: 210). 656 Zu einer Liste seiner Übersetzungen aus dem Griechischen mit den exakten lateinischen Titeln der übertragenen Werke cf. Marcelli (2016: 68). reichen griechischen Manuskripten nach Venedig zurück, 652 wo er allerdings aufgrund der dort wütenden Pest nicht wie geplant eine Griechisch-Professur antreten konnte und deshalb nach Bologna ging (1428) und schließlich nach Florenz, wo er von 1429-1434 am Studio die Nachfolge von Giovanni Aurispa (1376-1459) antrat, wo er Rhetorik, Poesie, Griechisch und Moralphilosophie lehrte. Er kam dort in Kontakt mit den wichtigsten politischen und kulturellen Repräsentanten der Stadt, wie Leonardi Bruni (1370-1444), Cosimo deʼ Medici (1389-1464), Niccolò Niccoli (1365-1437) oder Ambrogio Traversari (1386-1439). Aus politischen Gründen verließ Filelfo 1434 Florenz, lebte bis 1438 in Siena, 653 dann kurz in Bologna und ab 1439 - unterbrochen von Reisen durch Italien (z. B. Ferrara, Urbino, Rom, 654 Neapel) - im Wesentlichen am Hof der Visconti und Sforza in Mailand. 655 Erst kurz vor seinem Tod kehrte er noch nach Florenz zurück (1481), starb jedoch bevor er seine Professur für Griechisch an‐ treten konnte. Das Werk und Nachwirken Filelfos ist zunächst bestimmt durch seine Über‐ setzungen. Durch seinen langen Aufenthalt in Konstantinopel eignete er sich außergewöhnlich gute Griechisch-Kenntnisse an und übersetze u. a. Lysias, Xe‐ nophon, Plutarch, Platon und Aristoteles ins Lateinische, 656 wofür er ihm eben‐ falls eine große Könnerschaft attribuiert wurde. Berühmt wurde er auch für seine Satirensammlung (Satyrae, 1428-1450), die erste gedruckte des italieni‐ schen Humanismus (1475). Des Weiteren verfaßte er Epigramme (De iocis et seriis, 1445-1465), Oden (Carmina variae bzw. Odae, 1449, gedr. 1497), griechi‐ sche Gedichte (De psychogogia, 1459) das unvollendete Epos Sphortias an Fran‐ cesco Sforza, Reden (Orationes), Kommentare (z. B. Commentationes de exilio, 406 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 657 Er hatte dabei so berühmte Schüler wie Enea Piccolomini (1405-1464), den späteren Papst Pius II. (1458-1464). Zum womöglich eher ambivalenten Verhältnis zwischen beiden cf. Reinhardt (2013: 33). 658 Thurn (2012: 401) urteilt „[e]her ein Rhetoriker als ein Philosoph“ und betont seine Be‐ deutung für die Verbreitung antiker lateinischer und vor allem griechischer Texte. 659 In seiner Zeit am Hofe der Visconti in Mailand (v. supra) beschäftigt sich Filelfo ab 1444 mit Petrarca, und zwar im Auftrage von Herzog Filippo Maria (1392-1447, Hzg. ab 1412), der in einem kulturpolitischen Sinne Petrarca für Mailand instrumentalisieren will, um sich gegenüber Florenz zu positionieren. Dabei geht es einerseits um die Ver‐ einnahmung des Dichters an sich (Petrarca weilte 1353-1361 in Mailand) und anderer‐ seits um den Konflikt zwischen monarchischem und republikanischem Prinzip, welcher auch über eine literarische Exegese ausgefochten wird. Filelfo bricht beim Tode des Herzogs (1447) seinen Kommentar des Canzoniere mit RVF Nr. 136 ab. Aus einer Ant‐ wort dem Bischof von Aleria gegenüber (1470), der nach einem Manuskript seiner Ar‐ beit fragt, antwortete Filelfo, daß er keines besitze und auch nicht wüßte, wo eines sei, was zusätzlich auf ein eher geringeres Interesse an dieser oktroyierten Arbeit schließen läßt (cf. Busjan 2013: 81-82). 660 Es sind mehrere öffentliche Reden Filefos (orazioni) über Dante überliefert, und zwar u. a. zu denen bei Dante aufgeführten Kardinaltugenden prudenza, giustizia, temperanza und fortezza. Die Behandlung dieses sujets ist dabei nicht ganz zufällig, ist doch Filelfos Lehrtätigkeit in Florenz vor dem Hintergrund großer politischer Spannungen zu sehen, in die er ebenfalls involviert war (v. supra). Die Kardinaltugenden Dantes sind deshalb hier als kulturpolitische Interpretation bzw. als Verweis auf die römischen Bürgertu‐ genden zu sehen, eine indirekte Rechtfertigung der Florentiner Oligarchen-Herrschaft. 1440), Dialoge (z. B. Convivia Mediolanensia, 1443), Traktate (z. B. De morali dis‐ ciplina, 1473, gedr. 1552) und hinterließ einen äußerst umfangreichen Brief‐ wechsel (Epistolae, 1477, gedr. 1502). Seine Bedeutung lag vor allem in der Ver‐ breitung antiker Autoren und Texte, in seinen Übersetzungen und seiner Lehrtätigkeit auf verschiedenen Gebieten wie Rhetorik, Philosophie und vor allem Griechisch, 657 sie umfaßte aber z. B. auch die lectura Dantis (in Florenz). 658 Um nun Filelfos Position in der Frage um die antike Sprachkonstellation besser verstehen zu können, sei zunächst auf seine Haltung im Rahmen der eigentlichen questione della lingua in Italien eingegangen. Grundsätzlich kann man Filelfo als Lateinhumanist einordnen, außerdem ob seiner intensiven Be‐ schäftigung mit dem Griechischen (v. supra) als „Gräkohumanist“. Er lehnte dennoch das volgare nicht völlig ab und erkennt durchaus die literarischen Leis‐ tungen in der italienischen Volkssprache an, wie sie in erster Linie von den tre corone erbracht wurden. Seine Wertschätzung gegenüber dieser Dichtung kann man auch daran erkennen, daß er Lesungen zu Dante am Florentiner Studio und in Santa Maria del Fiore hält, allerdings ist auch hier eine gewisse politische Motivation der Lehrtätigkeit nicht ausgeschlossen. Seinen Kommentar zu Pet‐ rarcas Canzoniere verfaßt (1444-1447, gedr. 1476) 659 er wohl eher nolens volens im Dienste des Mailänder Herzogs. 660 Die Äußerungen Filelfos in den Briefen an 407 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Filelfo feiert in einer Rede vor einem größeren Publikum in Santa Maria del Fiore (29. Juni 1432) einerseits die Vorbildhaftigkeit Dantes und schlägt dabei gleichzeitig den Bogen zu den virtù civili einer republikanischen Gesellschaft und Herrschaft sowie den damit zusammenhängenden Vorteilen einer florentina libertas (cf. Neumahr 2002: 42-43). 661 Zur seiner Beziehung zu Sforza Secondo cf. Rosmini (1808 I: 80), zu Lorenzo deʼ Medici v. supra und zu einigen von Filelfos Werken, die, auch was die Sprachwahl betrifft, Gefälligkeitsarbeiten für seine potentiellen Gönner waren cf. Tavoni (1984: 179) sowie infra. 662 Der eigentliche konkrete Anlaß war aber wohl eine Anfrage von Sforza Secondo an Filelfo, wie seine Meinung zum volgare (bzw. der ethrusca lingua) sei (cf. Filelfo, Sphort. 1), vor dem Hintergrund, daß die meisten Humanisten der Volkssprache als Schrift- und Literatursprache ja tendenziell eher skeptisch gegenüberstanden (cf. Marchiò 2008: 94-95). Es ging also um die bei den Zeitgenossen äußerst virulente Frage „Latein oder volgare“ (cf. Kap. 6.1.2: Koch 1988: 346, Phase II der questione della lingua), die dann Filelfo über die Debatte um die antike Sprachkonstellation indirekt beantwortet. 663 „Nam, quantum ad latinitatem attinet, doctoribus est utendum et eruditis et eloquen‐ tibus, quorum oratio aliud nihil oleat praeter Caesarem et Ciceronem atque horum similes qui per idem temporis habiti sunt disertissimi“ Filelfo, Laur. 96; 2008: 261-262). die einflußreichen adligen Adressaten (Sforza und Medici) sind immer mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, steht doch generell ein handfestes Eigeninte‐ resse im konkreten Sinne einer Anstellung bzw. Entlohnung dahinter oder es ist zumindest mit einem allgemein enkomiastischen Impetus zu rechnen. 661 Dennoch sind Filelfos Aussagen hierzu zunächst einmal als Vertretung der ei‐ genen Position zu werten, zumal sie gut in das Gesamtbild passen und z. B. der Brief an Sforza als eine Art Antwortschreiben auf Bruni konstruiert ist (cf. dazu Tavoni, 1984: 174; Marchiò 2008: 95), also durchaus thematisches Interesse deut‐ lich wird. 662 In seinem Brief an Lorenzo deʼ Medici legt Filelfo dar, daß von allen Volks‐ sprachen Italiens der ethruscus sermo (v. supra) der eleganteste und beste ist bzw. noch genauer der sermo florentinus. Hier decken sich sicherlich die grundsätz‐ liche Achtung und Anerkennung der toskanischen Dichter, die er an anderer Stelle ja auch explizit alle aufzählt (v. supra, Filelfo, Laur. 95; 2008: 261), und ein gewisses politisch geschicktes Agieren gegenüber Lorenzo, dem Patron von Florenz, von dem er sich Unterstützung in Form einer Professur am Studio er‐ hofft (cf. Tavoni 1984: 178). Bei allem Respekt gegenüber der bereits kanoni‐ sierten volgare-Literatur macht Filelfo auch deutlich, daß die einzige Sprache, in der man Texte schreiben kann, die die Zeiten überdauern, das Lateinische ist. Nur in der Sprache der Gelehrten, genauer nach dem Vorbild von Caesar und Cicero (cf. Ciceronianismus) ist die höchste Eleganz möglich. 663 Filelfo sieht sich dabei selbst als Garant für ein humanistisches Latein in eben diesem Sinne (cf. Viti 1997: 619-620). Die zeitgenössische Schriftsprache, die räumlich und zeitlich 408 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 664 Wie Filelfo diese Ansicht mit dem offensichtlichen Erfolg und der auch von ihm attri‐ buierten Qualität der tre-corone-Literatur in Einklang bringt, ist nicht ganz eindeutig; womöglich sind die florentinischen Dichter als ein gattungspezifischer Sonderfall zu verstehen. 665 Filelfo schließt - wie andere Humanisten auch - ganz explizit seine auf Italienisch verfaßten Briefe aus seinem für die Nachwelt kanonisierten Epistolario aus, welches nur rein lateinische Schreiben enthält (cf. Marcelli 2016: 49), wie auch aus der aktuellen Edition (2015) seiner Korrespondenz ersichtlich ist (cf. Filelfo, Epist.). unabhängig ist und neben der Universalität auch den Aspekt des höchsten Aus‐ baugrades impliziert, kann für ihn nur das Lateinische sein (cf. Ellena 2011: 76), während das Italienische im Sinne einer Funktionsteilung für Texte gebraucht werden kann, die nicht überdauern müssen. 664 Es liegt hierbei also eine Diffe‐ renzierung vor, bei der bestimmte Diskurstraditionen an je unterschiedliche Sprachen geknüpft sind. Dieser Standpunkt geht aus einem Brief an Marco Aurelio Veneziano hervor, einem Angestellten der Kanzlei der Republik Venedig, der mit vielen Humani‐ sten Korrespondenz unterhielt (cf. Kristeller 1996 IV : 252) und demgegenüber er apertis verbis die Minderwertigkeit des volgare umschreibt: Sed tu eum sermonem vernaculum vocas, quo nos interdum ethrusce scribentes utimur. At ex universa Italia Ethrusca lingua maxime laudatur. Hoc autem scribendi more utimur iis in rebus quorum memoriam nolumus transire ad posteros. Et Ethrusca quidem lingua vix toti Italiae nota est, at latina oratio longe ac late per universum orbem est diffusa (Filelfo, M. Aur. Z. 6-13; 1808 I: 448). Filelfo selbst verfaßt auch die meisten seiner Werke auf Latein, einiges auf Grie‐ chisch, und nur in Ausnahmen weicht er auf das Italienische aus. So sind z. B. einige seiner Reden in der Volkssprache überliefert - d. h. ein Fall von Sprach‐ wechsel mit klarem Telos bezüglich des Adressatenkreises. Außerdem sind Briefe im volgare tradiert (cf. Marcelli 2015: 48-62), auch hier steht der Grund für Filelfos Sprachenwahl im Einklang mit seiner Maxime von einer Zweckge‐ bundenheit ohne überzeitlichen Anspruch. 665 Er geht dabei noch weiter und wählt gerade dann absichtlich das volgare, wenn er nicht möchte, daß der Brief in irgendeiner Weise vervielfältigt und verbreitet wird, eine Art negativer Schutzmechanismus, wie er in einem Schreiben an Cicco (Francesco) Simonetta (1410-1480) darlegt. 409 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 666 Zu weiteren Briefen, aus denen Filelfos Verhältnis zum volgare hervorgeht, z. B. an Do‐ nato Acciaioli (1429-1478) oder Pietro Castanea (15. Jh.), cf. Marcelli (2015: 62-72). 667 Zu einer Übersicht von Filelfos Werke im volgare cf. (cf. Marcelli 2015: 49-50). 668 „Nam latina illa, quae a Latio nomen accepit […]“ (Filelfo, Laur. 22; 2008: 254). Non ve meravigliate se alle volte ve scrivo in volgare, perchè le cose che non voglio sieno copiate, le scrivo sempre alla grossolana. (Filelfo, Cicc. Sim. 1-3; 1808: 304-305) 666 Ein bestimmter Zweck, nämlich die Verständlichkeit im Rahmen von Lehrtä‐ tigkeit, liegt auch bei seinen Übersetzungen einiger Briefe Ciceros für den schu‐ lischen Gebrauch vor sowie mit ähnlichem didaktischem Skopus bei der Über‐ tragung einiger Äsopʼscher Fabeln (cf. Rosmini 1808 I: 258). Filelfo verfaßt auch einige versi volgari, aber das Italienische als Sprache der Literatur bleibt bei ihm insgesamt eher die Ausnahme, ist doch der Ansicht, daß dem volgare die Uni‐ versalität, d. h. die kommunikative Reichweite und die überzeitliche Gültigkeit, fehlt und diese Sprache den Fähigkeiten eines homo disertus nicht gerecht wird (cf. Tateo 1986: 62-63). 667 Aus der eben geschilderten grundsätzlichen lateinhumanistischen Haltung heraus - verbunden mit einer bedingten Hinwendung zum florentinischen Mo‐ dell im Rahmen der questione - vertritt Filelfo in der Antiken-Debatte zwar eine Position, die das Lateinische stärkt, indem er eine Einheitlichkeit postuliert und das Latein als autochthone Sprache Latiums verankert, 668 er argumentiert dabei durchaus differenziert. Dabei ist vorauszuschicken, daß Filelfo die meisten Protagonisten in der De‐ batte um das volgare antico persönlich kannte, zum Teil mit ihnen korrespon‐ dierte und größtenteils wohl auch ihre Texte zur vorliegenden Streitfrage ge‐ lesen hatte, was er in seinen Briefen mitunter auch explizit erwähnt. Mit manchen war er freundschaftlich verbunden, wie mit Leon Battista Alberti (v. supra), wobei gerade hier nicht gesichert ist, ob er dessen Abhandlung, d. h. das Vorwort zum dritten Buch (ca. 1436-1437) der Quattro libri della famiglia, rezi‐ piert hat, zumal er auch Alberti in den obengenannten Briefen nicht namentlich erwähnt und kein eindeutiger Reflex von dessen Position sichtbar ist. Ebenfalls freundschaftlich verbunden war er mit Guarino Veronese, den er in Venedig kennenlernte und der zuvor auch bei Gasparino Barzizza und Manuel Chryso‐ loras studiert hatte (cf. Kap. 6.2.5). Von Guarino, der in gleicher Weise durch seinen Aufenthalt in Konstantinopel geprägt war und als bisheriger Groß‐ meister des Griechischen galt, übernimmt er einige Aspekte, erwähnt ihn jedoch nicht. Den Historiker Flavio Biondo hatte er in 1453 in Rom getroffen (cf. Viti 1997: 618) und pflegte zu ihm wohl ein respektvolles Verhältnis. Zu Leonardi 410 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Bruni hatte er wohl ein ambivalentes Verhältnis, das Kritik nicht ausschloß, und zwar nicht nur im vorliegenden Fall, während er mit Poggio Bracciolini in einer heftigen Auseinandersetzung verstrickt war (ab 1433 / 1434), wie mehrere In‐ vektiven und Satiren bezeugen (cf. Walser 1974: 177-182). Ausgelöst wurde der Streit durch eine polemische Attacke Filefos auf Niccolò Niccoli, was Poggio Bracciolini veranlaßte, zur Verteidigung seines Freundes einen entsprechend beleidigenden Gegenangriff vorzunehmen; der Streit zog sich über Jahre hin und ist ein gutes Exempel für die Invektiven-Kultur des Quattrocento, aber auch für den streitbaren und streitlustigen Charakter Filelfos. So auch die Ausführungen De Keysers (2015), der zeigt, daß die gegenseitigen Inkriminationen wie „drunkennes, theft, pederasty, bestiality, and other forms of sexual perversion“ (ibid. 2015: 14) dabei nicht gerade harmlos waren. Zum Filelfo-Poggio-Konflikt präzisiert er Folgendes: The cause of the long-lasting dispute was - according to Poggio himself - Filelfo’s attack on Niccolò Niccoli. In one of his satires (In Lallum), Filelfo had presented Niccoli as a half-wit with perverse sexual habits. Already in his first invective against Filelfo, however, Poggio did not limit himself to a simple defense of his venerable friend Niccoli, but went on to call Filelfo a shameless liar who was more accomplished as a sexual pervert than as a writer or scholar. (De Keyser 2015: 13-14) Das Urteil Helmraths fällt diesbezüglich dementsprechend deutlich aus: „Filelfo, in Libertinismus wie Eitelkeit selbst im Kreise seiner Genossen eine krasse Figur […]“ (Helmrath 2010: 281). Bruni wird ebenfalls des öfteren auch explizit erwähnt, Poggio und Biondo je nur kurz, alle anderen nicht (cf. Tavoni 1984: 172-174). Filelfo kritisierte bei‐ spielsweise Brunis Cicero novus (1415), hatte aber auch eine grundsätzlich an‐ dere Auffassung von der Tätigkeit des Übersetzens, da für ihn das grammatische Verstehen im Vordergrund stand und nicht die imitatio des Stils: Filelfo’s role is that of interpres rather than traductor. His Latin translations of Greek texts were intended to convey the thought and content of the source culture by upholding linguistic accuracy rather than aggressively manipulating and appropria‐ ting the original. For Bruni and Bracciolini, Greek texts needed to be made accessible, whereas for Filelfo linguistic and philological appreciation were paramount. Rather than choosing between litteral and free translation, the humanists focused on different stages of translation process. Filelfo was interested in grammatical understanding of the sources, which was the first and most important step in their study, whereas Bruni and Bracciolini competed with the elegance and eloquence of the Greek. (Rizzi 2014: 29) 411 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 669 Die Selbstdarstellung und dezidierte Verunglimpfung anderer Gelehrter und ihrer Kom‐ petenzen war durchaus allgemein verbreitet: „Humanisten waren nicht zimperlich, wenn es galt, die eigenen Leistungen herauszustellen und die Produktion ihrer Rivalen abzuwerten“ (Reinhardt 2013: 33). Dies galt auch für Filelfo, der mitunter allgemein seine Verdienste um die studia humanitas nicht ausreichend gewürdigt sah (cf. Reinhardt 2013: 33-34), sich wohl aber im Einzelfall auch ganz konkret empfehlen wollte. 670 „[…] two texts by Francesco Filelfo […], which reiterate Biondo’s line without contri‐ buting anything new“ (Tavoni 1982: 251). Später revidiert Tavoni (1984: 176) sein Urteil in gewisser Weise, indem er zumindest die Erkenntnisse Filefos aus dem Vergleich mit dem lebendigen Griechischen hervorhebt. Er greift - so kann man also deduzieren - dementsprechend bewußt in die Dis‐ kussion ein, geleitet sowohl von einem thematischen Interesse, als auch von einer polemischen Absicht gegenüber Bruni (und Poggio), nicht zuletzt aber auch mit dem Movens, seine eigenen Qualitäten hervorzuheben. 669 Bei allem Respekt gegenüber dem großen Humanisten Bruni ist dieser sein Hauptan‐ griffsziel, indem Filelfo dessen These von einer diglossischen Sprachkonstella‐ tion mit einem grammatisch geregeltem Latein und einem dem zeitgenössischen ähnlichen volgare verwirft. Er geht jedoch auch andere Wege als Guarino und Poggio, da er nicht die gleiche Art einer Einheit des Lateinischen annimmt, sondern einen sermo latinus von einem sermo der litteratura unterscheidet. Poggio (Utrum. prisc. 38; 2008: 188) unterscheidet latine loqui und grammatice loqui, Guarino (De ling. lat. diff. 4; 2008: 174) konzentriert sich auf die Unterscheidung von sermo vulgaris und sermo litteralis. Für Filelfo ist zudem die Sprache der Rede und des Theaters nicht die grammatica, also die Literatursprache im Verständnis der anderen beiden Humanisten (cf. Marchiò 2008: 98-99). Wichtig ist dabei auch, daß es für Poggio zwischen beiden Idiomen keinen substanziellen Unterschied gibt, son‐ dern - wenn man so will - nur einen akzidentiellen, insofern nur einige sprach‐ liche Merkmale je anders sind. In diesem Sinne ist hier auch Tavoni (1982: 251) zu widersprechen, der Filelfo abspricht, neue Aspekte in die Debatte miteingebracht zu haben. 670 Das Gegen‐ teil ist der Fall, denn Filelfo führt durchaus wichtige Differenzierungen ein und trägt zu einem weiteren Verständnis des Lateins als lingua viva bei. Gleiches gilt für den Diskussionspunkt des Sprachwandels. Michel (2005: 8) spricht von zwei Lagern, den Anhängern der Superstratheorie und denen der Substrattheorie, wobei er zu letzteren Filelfo rechnet. Dies erscheint als eine unzulässige Ver‐ einfachung, denn Filelfo baut zwar auf Biondo, Guarino und Poggio auf, d. h. er übernimmt die Idee der „Barbarenthese“, präpariert aber durchaus anschaulich und sinnstiftend beide Arten der Beeinflussung heraus, ist dahingehend also differenzierter als seine Vorgänger, die, wenn überhaupt, dann z. T. Substrat- 412 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 671 Es ist nicht ganz sicher, ob Filelfo die Schriften zu diesem Konflikt nicht kannte oder bewußt ignorierte (cf. Tavoni 1984: 170), es erscheint aber unwahrscheinlich, daß er von dieser Auseinandersetzung und von der Haltung Vallas in diesem doch sehr langen Zeitraum nichts mitbekam, war doch die Gelehrtenwelt der italienischen Renaissance überschaubar und von großem kommunikativem Austausch geprägt, wie die umfang‐ reichen Korrespondenzen und auch die zahlreichen persönlichen Kontakte belegen. 672 Damit widerlegt er Bruni, der sich ja für das Lateinische - wie viele seiner Zeitge‐ nossen - nicht vorstellen konnte, daß in der Antike einfache Leute die komplexe Syntax und Superstratvölker in einem Atemzug nennen und vor allem ist er keineswegs nur auf das Substrat fixiert. Synthese Versucht man nun, den Beitrag Filelfos in dieser Debatte zu resümieren, so ist zunächst zu konstatieren, daß die beiden hier hauptsächlich relevanten Briefe in einem zeitlichen Abstand von mehr als zwanzig Jahren geschrieben wurden. Auch, wenn sich an der grundsätzlichen Haltung Filelfos dabei nichts ändert, dürfen die unterschiedliche Polemik und auch intertextuelle Referenz nicht außer Acht gelassen werden. Zwischen dem Brief an Sforza Secondo (1451) und dem an Lorenzo deʼ Medici (1473) liegen u. a. die Auseinandersetzung zwischen Poggio Bracciolini und Lorenzo Valla (1451-1453) sowie auch ersten Schriften Vallas zum vorliegenden Thema (cf. Kap. 6.2.8). 671 Zudem gibt es natürlich auf rein inhaltlicher Ebene, vor allem im späteren auch ausführlicheren Traktat Er‐ gänzungen, die das Gesamtbild komplettieren. Nicht zu vernachlässigen sind bei Filelfo auch die politischen Hintergründe, ist er doch durch seine wech‐ selnden Anstellungen in verschiedenen Städten und unterschiedlichen politi‐ schen Systemen, Parteien und Herrschaften verpflichtet, die eine je andere Kul‐ turpolitik im Auge haben. Filelfo ist zum Teil stark in die politischen Konflikte involviert, aber nicht nur wechselnder Parteigänger, sondern auch von persön‐ licher Streitlust getrieben (v. supra). Nicht immer können diese Rahmenbedin‐ gungen eindeutig als Spiegelungen bzw. Erklärung für bestimmte in den Texten transportierte Argumentationen festgemacht werden, dennoch sollten sie ge‐ rade hier - aber durchaus auch bei anderen Protagonisten - nicht ausgeblendet werden. Filelfos Position in der Debatte um die antike Sprachenkonstellation ist sicher durch seinen lateinhumanistischen Hintergrund geprägt und durch seine per‐ sönlichen Erfahrungen mit der gräkophonen Welt in Konstantinopel. Die zahl‐ reichen Vergleiche mit dem Griechischen, die es zum Teil schon bei Guarino gab, sind bei ihm noch weitaus breiter angelegt und er zeigt anschaulich, wie in der gräkophonen Welt nicht nur die Gebildeten, sondern auch das gemeine Volk eine komplizierte Morphosyntax beherrschen. 672 Dies gipfelt bei ihm auch in 413 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini des Lateins, welches er und andere doch so mühsam zu erlernen hatten, ohne weiteres beherrschten (cf. Tavoni 1984: 176). 673 Filelfo selbst propagierte bereits 1428 die Ansicht, daß das Griechische das Latein kul‐ tiviert habe (cf. Wulfram 2012: 114). 674 Cf. dazu aber auch die zwar nicht gleiche, aber dennoch in Bezug auf eine Parallelisie‐ rung von literarischem Latein und Latein an sich ähnliche Sprachauffassung bei Gua‐ rino und Poggio (Kap. 6.2.5, 6.2.6). einer Polemik zu den Griechisch-Kenntnissen von Bruni und Poggio, was letzt‐ lich vor allem zeigt, wie groß das Prestige des „wiederentdeckten“ Griechischen in dieser Zeit war. 673 Mit Hilfe des Vergleichs der griechischen Sprachsituation argumentiert Filelfo für eine grundsätzliche Einheit des Lateinischen, macht aber zusätzlich eine so bisher nicht beschriebene Differenzierung, nämlich die zwischen sermo latinus und sermo litteralis. The very meaning of the terms litteralis / letteratura undergoes an evolution in Filelfo. Whereas for Guarino litteralis denotes both the Latin language and its syntactical regulation, for Filelfo it comes to have a strictly syntactical, conceptual meaning - that is to say, it comes to denote the linguistically and conceptually sophisticated literature of the learned. (Mazzocco 1993: 68) Er trifft damit eine wichtige terminologische Unterscheidung von zwei Kon‐ zepten, die zuvor zusammengedacht wurden (cf. latina ac litterata lingua bei Bruni, Kap. 6.2.3.1). 674 Diasystematisch kann man dabei die Abstufungen als di‐ aphasisch-diastratische Varietäten verstehen, wobei diamesisch gesehen letz‐ tere rein der konzeptionellen Schriftlichkeit zuzuordnen ist, während die lati‐ nitas die gesamte Bandbreite von Distanz- und Nähesprache bedient, wenn auch nicht im Bereich des höchsten literarischen Ausbaugrades. Den Blick auf den Sprachwandel bereichert er zusätzlich durch eine klarere Trennung von Sub‐ strat- und Superstrateinfluß sowie um die Überlegung zu einer sich veränder‐ nden Latinität außerhalb Italiens, ja sogar außerhalb Europas. Mit diesen Inter‐ pretationen schließt sich Filelfo zwar durchaus - vor allem argumentativ, was zahlreiche Wiederaufnahmen von bereits diskutierten Einzelaspekten anbe‐ langt - seinen Vorgängern an, vor allem Biondo, Guarino und Poggio, fügt aber zweifellos auch neue Anregungen und eine eigene Sichtweise auf die Sprachsi‐ tuation der römischen Antike hinzu. 6.2.8 Lorenzo Valla (Laurentius Vallensis) Eine wichtige Stellungnahme zur vorliegenden Debatte um das latino antico liefert Lorenzo Valla (1407-1457), der sich wie die zuvor besprochenen Prota‐ 414 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 675 Für vorliegende Untersuchung sei für Apologus II in erster Linie auf die Ausgabe von Marchiò (2008: 205-228, Kommentar: 229-239) zurückgegriffen, da hier der Text voll‐ ständig und mit einem umfangreichen Kommentar abgedruckt ist. Es sei zusätzlich aber auch auf die gekürzte Textversion von Tavoni (1984: 260-273) verwiesen, mit allerdings nur spärlichen Anmerkungen. 676 Es handelt sich dabei um den Garten (hortus) vor dem Portikus des Hauses von Marcello Capodiferro (Marcellus Capitisferreus, 15. Jh.), einem Schüler Vallas. gonisten in die Reihe der einflußreichen Vertreter des italienischen Huma‐ nismus einfügt. Seine Ansicht zur Diskussion um die Sprachsituation der römi‐ schen Antike legte er im Wesentlichen in zwei dialogischen Streitschriften nieder, und zwar in Antidotum I (1452) und vor allem in Apologus II (1452 / 1453). Chronologisch gesehen ordnen sich diese Traktate folgendermaßen ein: Kurz zuvor entstanden die Beiträge von Guarino (1449) und Poggio (1450) sowie die erste Stellungnahme von Filelfo (1451), deutlich später die zweite und dritte Stellungnahme von Filelfo (1473). Insbesondere die Schrift Apologus II ist dabei als eine Antwort auf die von Poggio geäußerten Ansichten zu verstehen und soll deshalb im Zentrum der vorliegenden Betrachtung stehen. Einige Anmer‐ kungen Vallas finden sich auch in anderen Traktaten und Büchern, u. a. in dem wichtigen und kontroversen Werk Elegantiae latinae linguae (1449). In der folgenden Textanalyse soll jedoch nach thematischer Gewichtung in den einzelnen Schriften (und nicht chronologisch) vorgegangen werden, wes‐ halb zunächst die diesbezügliche Hauptschrift Apologus II behandelt wird. Textanalyse Die Abhandlung Apologus II ist, wie es nach platonischem bzw. ciceroniani‐ schem Vorbild im Humanismus weit verbreitet war, als literarischer Dialog kon‐ zipiert. Die Protagonisten des Streitgesprächs sind die bereits bekannten Per‐ sönlichkeiten Guarino Veronese (Guarinus, cf. G U A .), Poggio Bracciolini (Poggius, cf. P O G .) und Lorenzo Valla (Laurentius, cf. L A U .) selbst sowie der nur als Stichwortgeber zu wenigen Themen fungierende Diener Gonsalvo (Gondi‐ salvus, cf. G O N D .). Die Rollen der Figuren sind dabei so verteilt, daß der eigent‐ liche Disput zwischen Poggio und Valla abläuft - was seine Entsprechung in der außertextlichen Realität hat - und Guarino im Sinne eines eruditus senex als (fiktiver) Schiedsrichter fungiert. Der gesamte, relativ umfangreiche Dialog (Apologus) bzw. auch sein zweiter Akt (Apologus II ) kann und soll hier inhaltlich sinnvollerweise nicht en detail wiedergegeben werden, sondern es seien nur die für die vorliegende Kontroverse wichtigen Aspekte herausgegriffen. 675 Nach einigen einleitenden Gesprächen vor dem Hintergrund eines renais‐ sancetypischen locus amoenus  676 über Bücher, Wein, Geld und Frauen im All‐ 415 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 677 Es handelt sich dabei um Poggios Werk Historia Convivalis (1450) (cf. Kap. 6.2.6), aus dem mehrfach zitiert wird (cf. Marchiò 2008: 230-239 passim), ohne daß es explizit im Dialog genannt wird. 678 Cf. dazu die Ermahnung Vallas an Poggio sich auf die nun wesentliche Frage nach der Art des Lateins zu konzentrieren (cf. lingua latina fuerit ne eadem litteratorum et illit‐ teratorum; Valla, Apol. II, 79; 2008: 215). gemeinen und dann spezifischer über die Philosophenschulen der Stoa, des Pe‐ ripatos sowie Epikurs wird die Diskussion auf das neueste Buch von Poggio gelenkt, 677 auf welches er sehr stolz ist, Minerva selbst sei seine Inspiration ge‐ wesen (cf. mihi Minervam dictavisse; Vall, Apol. II , 18; 2008: 207). Die folgende Auseinandersetzung über Sprache und Stil des Buches, die im Sinne eines phi‐ losophisch-philologischen Wettkampfes geführt wird, geht erwartungsgemäß in einem ersten Schlagabtausch zugunsten Vallas aus. Über weitere Diskussi‐ onen zu Stil, zur antiken Rhetorik sowie zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit rückt im Verlaufe des Dialogs die Frage nach der antiken Sprachsituation in den Blickpunkt. 678 Anhand von Zitaten aus Poggios Buch über die Stellungnahme Brunis (cf. Valla, Apol. II , 96-97; 2008: 217) positioniert sich Valla - als Figur des Laurentius im Dialog - selbst zu dieser Problematik. Dabei geht es zunächst um die Frage, an wen bzw. gegen wen er sein Schreiben eigentlich gerichtet habe. Poggio lädt Valla explizit ein, Stellung zur Frage der antiken Römer (prisci ro‐ mani) zu nehmen. P O G . Dic quid sentias de opinione mea, quod prisci romani latine loquebantur omnes. […] L A U . En non negat latinum sermonem fuisse vulgarem atque popularem. […] P O G . […] Cum negat linguam eruditorum fuisse eandem popularem, nonne negat vulgus latine locutum fuisse, cum eruditi latine loquerentur? L A U . Nondum istuc video. […] L A U . Nunquid Leonardus sentit ita vulgus olim Romae locutum ut nunc loquitur? P O G . Non ille quidem, sed multo melius, verum tamen aliter quam litterati, et eruditi. L A U . Nunquid igitur non latine? P O G . Sane vero. Cum enim confiteatur alium esse sermonem litteratum, alium vul‐ garem, necesse est confiteatur, ut nunc romani non loquuntur latine, ita olim vulgo non fuisse latine, locutos. (Valla, Apol. II, 105-111; 2008: 218) Der Aufforderung Poggio folgend legt Valla dar, daß seiner Meinung nach Bruni womöglich nicht ganz korrekt verstanden worden ist und dieser ja gar nicht abstreitet, daß das Lateinische (sermo latinus) auch vom Volk (vulgus, populus) gesprochen worden wäre. Poggio hingegen argumentiert, daß Bruni durch die Klassifizierung des Lateinischen als Sprache der eruditi einerseits, und des vol‐ 416 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 679 Zu den einzelnen Belegstellen Quintilians, Poggios sowie weiterer im Text als Zitat wiedergegebener Autoren cf. den Kommentar von Marchiò (2008: 229-239). Zum Ein‐ fluß von Quintilians Institutio oratoria auf Vallas Werk cf. die kurze Synopse bei Cam‐ poreale (2002: 9-14) und ausführlich Camporeale (1972: 89-108). 680 Das „Vorführen“ Poggios im Rahmen des Dialoges und das Demonstrieren der eigenen rhetorischen und argumentativen Überlegenheit ist Teil der Polemik dieses Textes, der genau darauf abzielt (v. infra). gare als Sprache des Volkes andererseits sehr wohl ausgeschlossen habe, daß die einfachen Leute etwas gesprochen hätten, was als Latein zu bezeichnen sei. Valla bleibt jedoch gegenteiliger Ansicht und Poggio versucht erneut klarzustellen, wie er Bruni interpretiert, der seiner Ansicht nach deutlich einen sermo litteratus von einem sermo vulgaris unterschieden habe, wobei das römische Volk aus‐ schließlich letzteres gesprochen hätte. Allerdings widerspricht im Folgenden Poggio auch Bruni ausdrücklich, indem er ein volgare (im zeitgenössischen Sinn) für die Antike abstreitet (cf. in quo ipse adversor Leonardo; Valla, Apol. II , 113; 2008: 219). Anhand einer zitierten Passage aus Quintilian (Institutio orationis) 679 zum Verständnis der Bedeutung von sermo vulgaris demonstriert Valla, daß dort die Sprache des Volkes die der (guten) Redner (viri eloquentis oratio; cf. ibid. 114; 2008: 219) gegenübergestellt werde und es diesbezügliche Unterschiede in der Wortwahl gebe sowie bezüglich des ornatus, aber dies keinesfalls so gemeint sei, daß nicht beides auch Latein sei bzw. eben durchaus eine allen Römern gemein‐ same Sprache existiert habe (cf. Valla, Apol. II , 114; 2008: 219). Valla versucht hier, Poggio in Widersprüche zu verstricken, 680 so daß dieser, sobald er dessen gewahr wird, erneut versucht, seine diesbezügliche Meinung darzulegen. P O G . Leonardus sentit de sermone vulgari priscorum, qualis nunc Romae est vulgo loquentium et si non adeo ut nunc depravato, qui certe sermo latinus non est sed vulgaris. […] L A U . […] Si romani latini sunt, et a gente nominatur lingua, non ergo lingua roman‐ orum alia nunc est quam latina, sicut et olim fuit; quemadmodum ab omnibus aliis nationibus appellatur. Siquidem italica lingua, quae olim diversa ac multiplex fuit, et mox propter romanas colonias ac romanorum consuetudinem, in linguam romanam concessit idest latinam, ab exteris gentibus non nisi latina nominatur. Itaque non modo quondam loquebantur, verum etiam nunc vulgo latine romani loquuntur. Vides ut tibi conceditur quod tu tantopere probare contendis, olim romanos fuisse locutos latine. (Valla, Apol. II, 116, 118; 2008: 219) Auf den Einwand Poggios, daß Bruni den sermo vulgaris priscorum so verstanden habe, daß dieser nicht dem aktuellen volgare entspreche und auch nicht Latein sei (sermo latinus non est vulgaris), sondern etwas eigenes, kontert Valla wie‐ 417 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 681 Cf. Poggio (Utrum prisc. 13-14; 2008: 186) und Kap. 6.2.6 vorliegender Arbeit. 682 Zur Sprachauffassung Poggio Bracciolinis und seiner Argumentation für eine Einheit des Lateins im Sinne einer lingua communis, die auch schon im Titel seines diesbezü‐ glichen Traktates durchscheint (Utrum priscis romanis latina lingua omnibus communis fuerit, an alia quaedam doctorum virorum, alia plebis et vulgi), cf. auch Kap. 6.2.6 vor‐ liegender Arbeit. 683 „Ecce quem voco ‚latinum‘, hoc est ‚grammaticum‘. Nihil enim interesse volo ‚gram‐ maticum‘ dixeris an ‚latinum‘“ (Valla, Apol. II, 122; 2008: 220). derum mit einer ausführlichen Antwort, die die Widersprüchlichkeit des Stand‐ punktes seines Kontrahenten deutlich machen soll, denn er unterstellt ihm, im Sinne Brunis einen antiken sermo vulgaris anzunehmen und diesen gleichzeitig zu negieren (cf. loqui contraria; Valla, Apol. II , 116; 2008: 219). In seiner Argu‐ mentation für eine Einheit der lingua latina greift Valla (Laurentius) zunächst die bereits bekannte Begründung auf, 681 daß die Römer ja Latiner (latini) waren und deshalb ihre Sprache auch Latein genannt wurde, d. h. schon allein deshalb sei die lingua romana nichts anderes als die lingua latina, ganz wie bei allen anderen Völkern (ab omnibus aliis nationibus). Davon zu unterscheiden sei je‐ doch die Sprache der anderen in Italien ansässigen Völker, deren Idiom als lingua italica zu bezeichnen sei und die durch die römische Kolonisierung nach und nach die lingua romana, also das Lateinische, angenommen hätten. Dies bedeute, so schließt Valla in dieser Passage seine Ausführungen, daß die Sprache des Volkes in Rom, und zwar sowohl damals wie auch heute noch, allein das Latei‐ nische gewesen sei (etiam nunc vulgo latine romani loquuntur). Der folgende Punkt der Gelehrtenkontroverse des Dialogs wird durch Poggio eingeführt, der die Unterscheidung von lingua latina und grammatica bei Bruni anspricht, dann aber aus seinem eigenen Buch zitiert (cf. Valla, Apol. II , 119-121; 2008: 219-220). Mit dieser Aussage versucht Poggio den Widerspruch aufzu‐ lösen, der ihm von Valla vorgeworfen wurde, indem er darlegt, daß es nicht kontradiktorisch sei zu behaupten, in Rom habe es keine lingua vulgaris ge‐ geben, aber dennoch eine Sprache des (ganzen) Volkes, die man als Latein be‐ zeichnen könne, die aber nicht der grammatica zuzurechnen sei (cf. Marchiò 2008: 235, FN 96). 682 Valla wiederum weist ihn daraufhin auf einen erneuten Wi‐ derspruch in seinen Ausführungen hin, indem er mit Hilfe eines weiteren Quin‐ tilian-Zitates darlegt, daß es lingua latina und grammatica zu unterscheiden gelte, was Poggio kurz zuvor noch als äquivalent postuliert habe. 683 Valla ordnet das Lateinische im Rahmen der Rhetorik (virtutes rhetoricae ponitur) ein und bezeichnet das Lateinische (latine loqui) als Sprache der Redner und der Ge‐ lehrten und in diesem Sinne auch grammatice loqui, welches ein elaborierteres Idiom als das gesprochene Latein sei. 418 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 684 „Quid alius velit Leonardus quam omnes romanos fuisse latine locutos sed non gram‐ matice? “ (Valla, Apol. II, 125; 2008: 220). 685 „P O G . Igitur quod volebam, doctorum sit pariter et indoctorum, apud priscos, latine ac grammatice loqui“ (Valla, Apol. II, 142; 2008: 222). L A U . […] Vides ut latine loqui est oratorum et eruditorum, et plus etiam quam gram‐ matice. Ideoque latine loqui inter virtutes rhetoricae ponitur, ut grammatica sit locu‐ tionis, latinitas elocutionis. (Valla, Apol. II, 131 ; 2008: 221) Valla versucht demgemäß Poggio zu unterstellen, daß er sich einerseits wider‐ spreche, weil er einmal grammatica und lingua latina als Einheit sehe und an‐ dererseits dann wieder behaupte, daß alle Römer Latein gesprochen hätten, was ja nicht sein könne, wenn nur die Gelehrten die grammatica beherrscht hätten, und daß er sich damit außerdem der These Brunis annähern würde (cf. Mazzocco 1993: 71). 684 Die Dialog-Figur Laurentius (d. h. Valla) führt weiterhin aus, daß es doch merkwürdig sei, wenn Poggius (d. h. Poggio Bracciolini) argumentiere, daß alle Römer eine lingua communis gehabt hätten und gleichzeitig die Prämisse gelte, daß der sermo latinus und die grammatica eine Einheit seien, denn dies würde ja implizieren, daß auch die Frauen und Kinder die gleiche Fähigkeit in der grammatica gehabt hätten, wie sie Cicero nur wenigen ausgewählten Redner zugestanden hätte. Es sei doch wohl vielmehr so, daß jemand, der für seine Eloquenz gelobt werde, die er durch labor, studio und industria erlangt habe, nicht die gleiche Sprachfertigkeit haben könne, wie jemand, der seine Sprache nur im häuslichen Kontext durch die Eltern und die Amme erlernt habe (cf. Valla, Apol. II , 134-135; 2008: 221). Zusätzlich diskutieren beide Protagonisten immer wieder über die korrekte Auslegung von Quintilian, wobei Poggio eben darauf beharrt, daß man ihn durchaus in dem Sinne interpretieren könne, daß gram‐ matice loqui sowohl die Sprache der docti als auch die der indocti gewesen sei, 685 wobei die Sprache der Gelehrten nur ein wenig „besser“ und „korrekter“ (emen‐ datius) gewesen sei, während Valla dies vehement bestreitet. Er erläutert, daß die Differenzierung bei Quintilian anders gelagert sei, da dieser latine loqui als durch den consuetudo bestimmt sehe und grammatice loqui durch die analogia (cf. Valla, Apol. II , 125-128, 140-144; 2008: 219-222; Mazzocco 1993: 72). Die argumentativen Winkelzüge Vallas dienen ihm dazu Poggio von der Un‐ haltbarkeit dessen These zum antiken Latein als einer Einheit aller Sprecher abzubringen: „The strategy of Valla’s Apologus is precisely this: to drive Poggio from one sense of ,Latinʻ to the other, forcing him to recognize that his candid statement that ,omnes fuisse latine locutosʻ is either a truism or an absurdity“ (Tavoni 1982: 253). Poggio Bracciolinis folgendes Argument, nämlich daß dieje‐ 419 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 686 Zum Passus bei Valla: „L A U . […] Altera quod scribis: multos te novisse in curia ro‐ mana […]“ (Valla, Apol. II, 148; 2008: 222) cf. die entsprechende Stelle bei Poggio (Utrum prisc. 6; 2008: 185) sowie Kap. 6.2.6. 687 „P O G . Tu vero pro mea causa loqueris, qui non artificium olim fuisse grammaticam ut nunc est, sed usum et consuetudinem volo, eoque pueris quoque et infantibus scitu facilem“ (Valla, Apol. II, 159; 2008: 223). nigen, die in der Volksversammlung (curia romana) neu waren, 686 die gramma‐ tica erlernt hätten, läßt Valla nicht gelten, da sie sich zweifellos nur fehlerhaft ausgedrückt hätten (cf. ibid., Apol. II , 148; 2008: 222). Ein weiterer Streitpunkt bezieht sich darauf, daß Poggio im Dialog behauptet, daß die Kinder in der römischen Antike von klein auf das Lateinische, auch im Sinne der grammatica, ohne Probleme erlernt hätten. Dem hält Valla polemisch entgegen, daß, wenn schon Poggio selbst trotz seiner Bildung und seiner Übung im Lateinischen (cf. perpetua grammatice loquendi atque scribendi consuetudine; ibid., Apol. II , 150; 2008: 222-223) Fehler mache, es wohl kaum sein könne, daß sich die Kinder dies so leicht angeeignet hätten. Zudem sei klar bei Quintilian (und anderen) belegt, daß es in der Antike Lehrer (praeceptores) und Schulen (scholae) gegeben habe, in denen die schwierige grammatica unterrichtet wurde, was auch die zahlreichen Bücher zur ars grammatica belegen würden (cf. ibid. Apol. II . 151-152; 2008: 223). Poggio kommt Valla in seinen Einwürfen dahingehend entgegen, daß er zu‐ gesteht, daß das Lateinische der Antike nicht das gleiche gewesen sei wie das der zeitgenössischen Gegenwart, welches weit mehr artificalis sei, während die antike Sprache mehr durch usus und consuetudo geprägt worden wäre und des‐ halb auch für Kinder leicht zu erlernen gewesen sei (cf. Marchiò 2008: 237, FN 134). 687 Er betont jedoch auch nochmals, daß die Sprache des Volkes und damit auch die der Kinder (sermonem vulgi atque infantium) sich von der Sprache der Redner in der Eigenheit bzw. Bedeutung der Wörter nicht wesentlich unter‐ schieden hätte. Valla wendet diesbezüglich ein, daß aber genau dieser doch existierende Unterschied das Entscheidende ausmache bzw. zu diskutieren sei wie groß die Differenz zwischen den einzelnen Sprachformen wohl gewesen wäre (quantum distantiae). P O G . Dum ita loquor, id intelligo: sermonem vulgi atque infantium, parum abfuisse a sermone oratorum, duntaxat in verborum proprietate. L A U . Hoc ipsum, quantum distantiae erat, quaerimus, et in controversia est. (Valla, Apol. II, 168-169; 2008: 225) Für Valla geht consuetudo (bzw. usus), abweichend von seinem Vorbild Quinti‐ lian, zwingend mit auctoritas, also der tradierten Überlieferung, einher. Wäh‐ 420 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen rend bei Quintilian im Zweifel der Gebrauch des Volkes an oberster Stelle steht (consuetudo vor regula, lex, norma grammatica), orientiert sich Valla rein an den literarischen Autoritäten des klassischen Lateins (nicht an den zeitgenössi‐ schen), die als Garant dafür dienen, daß grammatica auch ars bedeutet (cf. Ax 2006: 145). Weiterhin argumentiert Valla, daß es von Poggio widersprüchlich sei zu be‐ haupten, die Kinder würden die grammatica bereits mit der Muttermilch auf‐ saugen, sie innerhalb kürzester Zeit lernen und dann dennoch in die Schule gehen. Für ihn ist es äußerst unwahrscheinlich, daß eine so grammatisch kom‐ plexe Sprachform wie die lateinische Schrift- und Literatursprache ohne Mühen erlernbar wäre. Es sei vielmehr mit viel labor und studio verbunden, es brauche Lehrer und würde viele Jahre dauern bis man eine diesbezügliche Kompetenz erwerben könne (cf. Valla, Apol. II , 169-175; 2008: 225). Es sei, so Valla an anderer Stelle (cf. ibid., 163; 2008: 224), schließlich auch notwendig die zugrundelie‐ genden Regeln der Sprache zu kennen, was in seiner Schlußfolgerung bei Kin‐ dern - die nach Ansicht von Poggio die Sprache zuerst über den Gebrauch lernen würden und dann die Regeln (rationes et causas; cf. ibid., 162) erst in der Schule - ja nicht der Fall gewesen sei. Dabei seien die Regeln konstitutiv für die gram‐ matica, denn ansonsten wäre sie keine ars, begründet Valla seine Argumentation (cf. Mazzocco 1993: 73). Als eines der letzten Argumente im Dialog zwischen Poggio und Valla - bei dem die Figur des Guarino als Schiedsrichter eher passiv bleibt -, welches ähn‐ lich auch bereits bei Guarino vorkommt, greift Valla die Frage nach den nicht vorhandenen Sprachrelikten auf. Warum seien weder im zeitgenössischen Ita‐ lienischen noch im Spanischen oder Französischen Spuren der grammatica zu finden, wenn es, so wie Poggio behauptet, doch in der Antike vom ganzen Volk gesprochen worden wäre. Zu erklären sei in diesem Zusammenhang, so Valla weiter, warum es dann in beiden genannten Sprachen Artikel gebe, die es im Lateinischen jedoch nie gegeben habe. Auch andere grammatische Phänomene würden das Lateinische von den heutigen Volkssprachen unterscheiden, wie die Flexion, das Partizip, das Gerundium oder das Supinum (cf. Valla, Apol. II , 176-178; 2008: 225-226). Valla kommt zu dem Schluß, daß es zwischen dem Latein der Antike, im Sinne der Gelehrtensprache (ut docti loquebantur non ut indocti), und dem zeitgenös‐ sischen Latein keinen direkten Zusammenhang über die Jahrhunderte gebe, denn das aktuelle Latein sei eine durch die Barbaren „verunreinigte“ Misch‐ sprache (loqui semilatine ac semibarbare). L A U . Mihi quoque, sed ubi paucula in te non latine posita verba notavero. Latino dico, ut docti loquebantur non ut indocti, aut quomodo nunc saeculum nostrum latine lo‐ 421 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 688 Zu Fragen der exakten Chronologie der Schriften cf. Wesseling (1978: 34-36). quitur; quod potius dicendum est loqui semilatine ac semibarbare. (Valla, Apol. II, 184; 2008: 226) Die Zusammenfassung der in Apologus II dargestellten Sichtweise ist nicht ganze einfach, denn der Dialog, in dem Valla selbst und sein Widersacher Poggio als Protagonisten auftreten, ist von größter Polemik gekennzeichnet (cf. Tavoni 1984: 121). Dennoch bleibt festzuhalten, daß Valla der wie auch immer gearteten Einheitlichkeit eines antiken Lateins entschieden entgegentritt. Als Lateinhu‐ manist par excellence ist es ihm unmöglich anzunehmen, daß das gemeine Volk, worunter neben den indocti auch Frauen und Kinder fallen, in irgendeiner Art Anteil am Lateinischen in Form der ciceronianischen Schrift- und Literatur‐ sprache, also der grammatica, gehabt hätte. Damit ist er Bruni zweifellos näher als Poggio oder auch Guarino und Filelfo, allerdings mit einer sehr eigenen In‐ terpretation (v. infra). Coseriu / Meisterfeld (2003: 159), die die Einschätzung von Klein (1957: 56) un‐ verändert übernehmen, listen bei denjenigen, die den Ideen Brunis folgen nur Ludovico Castelvetro (ca. 1505-1571) und Gian Vincenzo Gravina (1664-1718) auf, alle anderen Humanisten werden implizit als Anhänger Biondos angesehen. Das erscheint angesichts der Haltung Lorenzo Vallas in gewisser Weise verzer‐ rend, denn er neigt, wie ja gezeigt, tendenziell eher Bruni zu, übernimmt aber trotzdem die Korruptionsthese Biondos. In einer anderen Schrift, die ebenfalls Teil der Kontroverse mit Poggio ist, dem gleichzeitig bzw. kurz zuvor 688 entstandenen Traktat Antidotum I, nimmt er ebenfalls an einigen Stellen Bezug zur vorliegenden Diskussion. Valla diskutiert hier einen Punkt, der ihm auch in Apologus II wieder be‐ schäftigt hat, nämlich die Frage nach der Bezeichnung. Für ihn ist zunächst einmal der Kausalzusammenhang zwischen dem Namen des Volkes und seiner Sprache augenfällig. Itane, Pogi, solertissime, Greci Grece, barbari barbare, Hebrei Hebraice, Puteolani Pu‐ teolane, Campani Campane loquebantur, Romani Romane non loquebantur? Aut nunc Romana lingua dicetur, ut ais, qua utuntur Romani, ea non dicetur fuisse lingua Ro‐ mana qua tunc Romani utebantur? (Valla, Ant. I, II, 185; 1978: 172) Wenn es also bei den anderen Völkern so ist, daß ihre Sprache nach dem Namen des Volkes, das sie gebraucht, benannt ist (z. B. die Griechen Griechisch sprechen und die Hebräer Hebräisch), dann gibt es keinen Grund, nicht anzunehmen, daß 422 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 689 Die Differenzierung zwischen ‚römisch‘ und ‚romanisch‘, die im Deutschen möglich ist, entfällt im Lateinischen, d. h. ein nach heutigen Erkenntnissen sich entwickelnde Vul‐ gärlatein, welches dann im frühen Mittelalter zu einem Romanisch wurde, kann und wird hier nicht differenziert. auch die Römer römisch (Romani Romane) gesprochen hätten, 689 die lingua ro‐ mana wäre demnach die Sprache der Bewohner Roms. In diesem Kontext sei auf die Wandlung der Begriffe Romanus bzw. Romani und romanus sowie romanicus hingewiesen, wofür Tagliavini (1998: 119-129) einen Abriß liefert. Hierbei sei vor allem auf die Bedeutungserweiterung von Romanus im Zuge der Ausdehnung des römischen Reiches und der schrittweisen Verleihung der Bürgerrechte an größere Bevölkerungsteile des Reiches hinge‐ wiesen sowie auf die Abgrenzung zu latinus bzw. der latina lingua. Schon bei den römischen Autoren hat latīnus verschiedenen Sinn, je nachdem, ob es sich auf die Sprache oder Bevölkerung bezieht. So steht für die von den Römern ge‐ sprochene Sprache sehr viel häufiger latina lingua als romana lingua, während im ethnischen und politischen Sinne Latini (Latinum nomen, homines nominis Latini) jene Völkerschaften Latiums bezeichnete, die als socii der Römer besondere Vorrechte ge‐ nossen, am commercium in größerem Maße teilhatten als die anderen Bundesge‐ nossen, denen die Gemeinschaft des conubium und besondere Erleichterungen beim Erwerb der römischen Staatsbürgerschaft zustanden, die sich jedoch in den ersten Jahrhunderten der römischen Geschichte nicht selten mit Rom kriegerisch auseinan‐ dergesetzt hatten. (Taglivaini 1998: 63) Das Adjektiv romanus, eine Ableitung des Ortsnamen Roma […], hatte in Ausdrücken wie civis romanus, populus romanus ursprünglich einen ethnischen und einen politi‐ schen Sinn. Aber mit der Ausdehnung des Bürgerrechtes verlor es seine frühere eth‐ nische Bedeutung fast völlig und behielt nur die rechtliche und politische. Und wäh‐ rend anfangs den Romani selbst die Latini […] gegenüberstanden, wurde schließlich Romani nur noch im Gegensatz zu Barbari gebraucht, d. h. zu den Völkern, die außer‐ halb des Imperiums lebten und seine Grenzen in gefährlicher Weise bedrohten, da sich der Traum einer Identifizierung des orbis romanus mit dem orbis terrarum nie ganz verwirklichen ließ. (Tagliavini 1998: 120). Im Osten des Reiches wird in der Folgezeit der Begriff Romanus vor allem poli‐ tisch verstanden, da das Griechische die allgemeine Verkehrssprache blieb und das Lateinische sich nie wirklich durchsetzen konnte. Daher war es auch kein Problem für die meist gräkophonen Oströmer sich Rhomäer (griech. Rhomaioi, ῾Ρωμαῖοι) zu nennen. Im Westen hingegen bezeichnete Romanus zunächst wei‐ terhin eine politische und eine sprachliche Zugehörigkeit, erst ab dem Ende des 5. Jh. tritt im Zuge der neu enstandenen germanischen Reiche auf römischen 423 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 690 Es ist anzunehmen, daß hier Valla zeitgenössische Verhältnisse und Antike nicht streng trennt, was gerade bei ‚Kampanisch‘ deutlich wird, da er sich wohl am italienischen Dialekt des Kampanischen (it. campano) orientiert und Ähnliches auch für die Antike annimmt bzw. dies zumindest nicht scharf trennt. Boden die politische Bedeutung in den Hintergrund und es bleibt die Referenz auf die Sprache, so daß schließlich die Romani zu Sprecher der romana lingua werden, also diejenigen, die Latein sprechen (und später Romanisch), im Ge‐ gensatz zu den „Barbaren“, also den Germanophonen (cf. Tagliavini 1998: 121-122). In der historischen Perspektive, die von den Humanisten bzw. hier von Valla eingenommen wird, ist Romani zwar primär mit Bezug zur Sprache zu inter‐ pretieren, ggf. aber eben auch politisch-ethnisch. Linguistisch auffällig ist in obigem Zitat Vallas der Vergleich der Idiome auf verschiedenen Ebenen: eine Stadtmundart bzw. ein Urbanolekt (cf. Kap. 3.1.1 und Kap. 4.1.2.1) (Varietät von Pozzuoli, cf. Puteolane), ein Dialekt (Varietät von Kampanien, cf. Campane), zwei vollausgebaute Sprachen (Griechisch, cf. Grece; Hebräisch, cf. Hebraice) und eine Generalisierung (Barbarisch, cf. barbare). Die „bunte“ Mischung dient ganz offensichtlich der Anschaulichkeit auf breiter Basis. 690 Im Weiteren begründet Valla nochmals seine Sicht auf das Verhältnis zwi‐ schen antiker und zeitgenössischer Sprachsituation sowie sein Verständnis der entsprechenden Denominationen. Certe que nunc lingua in usu Romanis est Latina appellanda est, et si multum dege‐ neravit ab illa prisca. Non enim credibile est aliam quandam nescio unde venisse lin‐ guam et illam veterem e possessione deiecisse et in exilium relegasse atque in insulas deportasse; cum videamus idem contigisse in lingua grammatice loquentium, quam tu Latinam vocas, que adeo ab illa veteri differt ut vix eam Cicero si a mortuis redeat queat intelligere. (Valla, Ant. I, II, 186-187; 1978: 172) Die heutige Sprache der Römer, also der Bewohner Roms, sei immer noch das Lateinische, allerdings ein sehr „verkommenes“ Latein im Vergleich zu jenem der Antike (multum degeneravit ab illa prisca). Es könne nicht sein, so argu‐ mentiert Valla, daß heutzutage etwas anderes gesprochen werde, denn diese Sprache müsste dann ja von irgendwo herkommen und jene alte ersetzt haben. Auch die Sprache Ciceros, d. h. das grammatisch regelhafte Latein, habe sich so verändert, daß dieser, würde er von den Toten auferstehen, sie nicht wiederer‐ kennen und verstehen könnte. Noch einmal kommt er dann auf die terminolo‐ gische Frage zu sprechen und verknüpft diese mit weiteren Vergleichen zu an‐ deren Idiomen. 424 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 691 Hier leitet Valla irrtümlich das Kampanische (it. campano) nicht von der Landschaft (it. Campania) ab, sondern von der Stadt Capua. Ob dies ein sprachhistorischer faux pas ist oder wider besseres Wissens zur Illustration seiner Argumentation dient, sei dahin‐ gestellt. Est itaque et olim fuit Romana lingua Latina et Latina Romana, nisi dicimus Latinam ut genus, Romanam ut speciem. Ita Romana utique Latina erit, quod querimus, Latina non protinus et Romana. Latina quidem, quia Latinorum fuit, unde Romani oriundi sunt; Romana autem, quia propter Romanorum maiestatem propagata est et digni‐ tatem accepit, et presertim quod necessarium est linguam civitatis ab ipsa civitate nomen accipere: ut Florentinam a Florentia et Senensem a Sena et Campanam a Capua, ita Romanam a Roma. (Valla, Ant. I, II, 187; 1978: 172) Einst wie heute, führt Valla weiter aus, ist die Sprache Roms das Lateinische, d. h. die romana lingua ist grundsätzlich das gleiche wie die latina lingua, wobei man den Begriff ‚Latein‘ im Sinne einer allgemeinen Bezeichnung verwenden kann und ‚Römisch‘ in einer engeren spezifischeren Auslegung (Latinam ut genus, Romanam ut speciem). Dies hänge damit zusammen, daß die Bezeichnung Latina von den Latinern herrühre, von denen die Römer abstammen würden und Romana von den Römern, durch die dann die Sprache Verbreitung gefunden hätte und die ihr schließlich Würde verliehen hätten (dignitatem accepit). Dies sei vergleichbar mit anderen Fällen (zeitgenössischen der Volkssprache), bei denen ebenfalls der Name der Stadt auf die der Sprache übertragen worden sei (ab ipsa civitate nomen accipere), so wie eben das Florentinische seinen Namen von Florenz hätte, das Senesische von Siena und das Kampanische von Capua. 691 In dem in Bezug auf die bisher genannten Schriften chronologisch früher erschienen, umfangreichen Werk Elegantiae latine linguae (1449) rekurriert Valla deutlicher als in Apologus II oder in Antidotum I auf die Barbarenthese Biondos und beschreibt den „Verfall“ des Lateinischen. Im Vorwort (praefatio) zum dritten Buch (liber tres) der Elegantiae führt er aus, wie er sich den „barba‐ rischen“ Einfluß vorstellt und welche Auswirkungen dieser gehabt habe. Gothi isti quidni et Vandali existimandi sunt? Nam postquam hae gentes semel ite‐ rumque Italiae influentes Romam ceperunt, ut imperium eorum ita linguam quoque, quemadmodum aliqui putant, accepimus, et plurimi forsan ex illis oriundi sumus. Ar‐ gumento sunt codices gothice scripti, quae magna multitudo est; quae gens, si scrip‐ turam romanam depravare potuit, quid de lingua, praesertim relicta sobole, putandum est? Unde post illorum adventum primum alterumque, omnes scriptores nequaquam facundi, ideoque prioribus multo inferiores fuerunt. En quo litteratura romana recidit: 425 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 692 In der hier verwendeten zweisprachigen Ausgabe (lat.-it.) von E. Garin (1952) sind nur die verschiedenen praefationes wiedergegeben, im ebenfalls zweisprachigen Kompen‐ dium von Scarpa (2012: 61-70) nur das erste Vorwort nach genau dieser Edition von Garin; für das komplette Werk (libri VI) der Elegantiae cf. Valla (Op. omn.; 1962: 3-235). veteres admiscebant lingue suae graecam, isti admiscent gothicam. (Valla, Elegant., Praf. III; 1952: 610). 692 Nachdem Völker wie die Goten und Vandalen wiederholt Italien heimgesucht hätten, sei es wahrscheinlich, daß sich dadurch auch die Sprache verändert habe und deshalb auch die Nachwirkungen bis heute spürbar seien. Dies lasse sich leicht begründen, denn in den schriftlichen Zeugnissen des Mittelaters (codices gothice scripti) zeige sich eindeutig der Verfall der Sprache (cf. depravare), d. h. des Lateinischen. Die in gotischen Buchstaben (littera gothica) verfaßten Schriften des Mittelalters stehen hier in Opposition zu den antiken Schriften, die z. B. in römischen Kapitalen (capitalis, cf. auch Antiquaschrift des Huma‐ nismus) geschrieben wurden. Das Gotische steht hier also in doppelter Hinsicht für den „Verfall“ (cf. Tavoni 1984: 152-153). Wenn also im Bereich der Schriftlichkeit der Einfluss der Germanen (bzw. Barbaren) sichtbar sei, dann ist anzunehmen, daß dies auch für die Mündlichkeit gelten würde. An der Schrift- und Literatursprache läßt sich deshalb nach Valla folgendes ablesen: Genauso wie die Älteren vom Griechischen beeinflußt worden waren, so wurden späteren Generationen vom Gotischen beeinflußt (admiscent gothicam), es entstand, so seine relativ explizite Folgerung, also eine Mischsprache (cf. admiscere). Dies wiederum ginge einher mit einem Nieder‐ gang der Schriftkultur. Klein (1957: 53) spricht vom „Inopia-Komplex“ der Römer, d. h. dem Gefühl, daß die lateinischen Sprache gegenüber dem Griechischen eine gewisse sprach‐ liche Armut aufweise bzw. mangelhaft sei (cf. lat. inopia), wie es auch in dem Horaz’schen Zitat bezüglich des besiegten, aber kulturell überlegenen Grie‐ chenlands, welches Latium befruchtet, zum Ausdruck kommt: „Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latio“ (Horaz, Epist. II , 1, 156; 2000: 230). Dieser Mangel, auf den zeitgenössische Autoren wie Plinius, Lukrez, Seneca oder Quintilian hinweisen, müsse erst noch ausgeglichen werden. Cicero hingegen glaubt selbstbewußt durch seine Schriften die Sprache reicher ge‐ macht zu haben, womöglich sogar reicher als das Griechische. An anderen Stellen in den Elegantiae legt er auch nochmal den Zusammen‐ hang zwischen den Eroberungen Roms im Zuge der Erweiterung des Imperium Romanum und der Verbreitung der Sprache dar. Er zieht dabei Parallelen zu anderen historischen Situationen, in denen ebenso die politische Macherweite‐ 426 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 693 Cf. dazu auch einen ähnlichen Passus in einer Rede Vallas, in der er als Voraussetzung für die Verbreitung der Wissenschaften die Größe des römischen Imperiums anführt: „Igitur, quod ad primam attinet partem, scientiarum omnium propagandarum apud nos, ut mea fert opinio, auctor extitit magnitudo imperii illorum“ (Valla, Orat. stud. 11; 1994: 194). An einer anderen Stelle spricht er dann wiederum davon, daß als Vorausset‐ zung für die Verbreitung von Wissenschaften und Gesetzen eine gemeinsame Sprache notwendig sei (necesse est communionem sermonis) (cf. Valla, Orat. stud. 15-18; 1994: 196). Cf. dazu Ähnliches auch bei Biondo, Kap. 6.2.3.2 vorliegender Arbeit. rung mit der Verbreitung der Sprache einherging, so wie bei den Persern, den Medern, den Assyrern oder den Griechen. Dabei betont er allerdings, daß die Römer, sowohl bezüglich des gewonnenen Gebietsumfanges und vor allem was die sprachliche Durchdringung anbelange, alle übertroffen hätten. 693 Cum saepe mecum nostrorum maiorum res gestas aliorumque vel regum vel popu‐ lorum considero, videntur mihi non modo ditionis nostri homines, verum etiam lin‐ guae propagatione ceteris omnibus antecelluisse. Nam Persas quidem, Medos, Assy‐ rios, Graecos aliosque permultos longe lateque rerum potitos esse; quosdam etiam, ut aliquanto inferius quam Romanorum fuit; ita multo diuturnius imperium tenuisse constat; nullos tamen ita linguam suam ampliasse ut nostri fecerunt […]. (Valla, Ele‐ gant., Praef. I; 1952: 594) Vallas Schwerpunkt in seiner Gesamtdarstellung und Argumentation, so bleibt nach der Betrachtung der Texte festzuhalten, liegt zweifellos auf der Verteidi‐ gung einer grammatisch geregelten und fixierten Schriftsprache, die das Latei‐ nische mit der grammatica perfektioniert hat; die lingua viva, auch im Sinne eines volgare, interessiert ihn nur am Rande. Dies hängt mit seiner Ablehnung und Negierung jeglicher volkssprachlicher Schrifttradition zusammen und der absoluten Priorisierung bzw. Ausschließ‐ lichkeit der römisch-lateinischen Kultur; er vertritt wie kein anderer seiner Zeit den Universalanspruch des Lateins als Trägersprache der (humanistischen) Kultur: Campione della latinità, il Valla testimonia al massimo grado la rimozione umanistica del volgare. Non si tratta di avversione alla cultura volgare o di sua svalutazione: il Valla non prende atto che una cultura volgare esiste. Non esiste, come non è mai esistita in Italia, altra tradizione culturale che quella latina. Il silenzio è la sua forma di rapporto con una realtà che non fa parte del suo universo. (Tavoni 1992: 67) Zudem nimmt die Frage der adäquaten Bezeichnung und der damit verbundenen Konzepte einen erheblichen Raum bei ihm ein. 427 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 694 Valla ist hier im Sinne einer Diglossie nach Ferguson (1959) zu interpretieren (cf. Kap. 3.1.2), also zwei funktional (vor allem in Bezug auf Oralität vs. Skripturalität) ver‐ schiedene Idiome einer Sprachgemeinschaft, die aber nah verwandt sind. Dabei fungiert die latina lingua bzw. die romana lingua als low variety (L) und die grammatica als high variety (L). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Die Einordnung von Lorenzo Vallas Standpunkt in Bezug auf die Sprachenfrage der Antike im Rahmen einer modernen linguistischen Perspektive ist nicht un‐ problematisch, denn er entzieht sich noch mehr als seine Zeitgenossen, die sich zuvor dazu geäußert hatten, einem klaren Gesamtkonzept. Ein Großteil seiner Ausführungen dient der reinen Polemik und seine übergeordnete Zielsetzung ist zweifellos der Diskurs zum zeitgenössischen Latein. Dennoch soll der Ver‐ such gewagt werden seine Ansichten sozio- und varietätenlinguistisch zu in‐ terpretieren, um diesbezüglich eine klaren Standpunkt herauspräparieren zu können. Anknüpfend an Bruni, der in seiner Vorstellung eine Art Diglossie mit einem volkssprachlichen volgare und einer gelehrten lateinischen grammatica postu‐ liert, nimmt Valla ebenfalls eine dichotomische Unterscheidung vor, allerdings die zwischen latine loqui und grammatice loqui. Valla stellt im Gegensatz zu seinem Kontrahenten Poggio (und anderen) die Differenzen zwischen den beiden Idiomen so stark heraus, daß man wiederum eher von eine diglossischen Situation in seinem Sinne ausgehen muß als von einer Sprache mit zwei dias‐ tratisch-diaphasischen Varietäten. 694 Die Sprache der Gelehrten, die man zwar durch viel Mühen und arbeitsame Studien erlernen könne, ist für ihn deutlich von der gesprochenen Sprache zu unterscheiden. Der Begriff ‚Latein‘ fungiert bei Valla gelegentlich zusätzlich auch als Hyperonym zu beiden Sprachformen, denn auch wenn er meistens mit latine loqui oder latina lingua die antike Volk‐ sprache meint, gibt es einige wenige Passagen, wo er damit zusätzlich sowohl die antike als auch die zeitgenössische Schriftsprache (grammatica) bezeichnet (v. supra), es handelt sich also um eine Art Inklusionsbeziehung. Dieses Schwanken zwischen einer Terminologie, die darauf abzielt, einerseits die grammatica von der latina lingua als gesprochenem Idiom zu separieren und andererseits dem Bewußtsein, daß in der Antike und zu seiner Zeit die Schrift‐ sprache auch ‚Latein‘ genannt wurde, zeigt sich an einer Passage einer ganz anderen, früheren Schrift, nämlich den Dialecticae disputationes (1439), wo Valla in erster Linie auf die ihm ebenfalls wichtige Unterscheidung lingua romana und lingua latina abhebt, aber eben auch anhand eines Vergleichs mit dem Griechi‐ schen implizit die gesamte römische Sprache, also aller Schichten, mündlich wie schriftlich als ‚Latein‘ bezeichnet: „[…] quippe cum lingua Graeca tunc esset una 428 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 695 In den Elegantiae erwähnt Valla zwar auch die Gallier, die Rom bis auf das Kapitol einst niedergebrannt und besetzt hätten und für einen sprachlichen und kulturellen Nieder‐ gang gar über Jahrhundert verantwortlich gewesen seien (cf. Valla, Elegant. Praef. I; 1962: 599), doch er bringt dies nicht in Zusammenhang mit einem wie auch immer ge‐ arteten historisch bedingten Sprachwandel, d. h. nicht mit der Korruptionsthese Bio‐ ndos, die er wie dieser nur auf die Germanen anwendet und eben nicht wie z. B. Alberti, Guarino, Poggio und Filelfo auch auf Substratkonstellationen. Was Valla allerdings schon bewußt ist bzw. er auch darlegt, ist die Verbreitung des Lateinischen im Zuge der römischen Eroberung und damit auch den Sprachwechsel der eroberten Völker, die meist das Lateinische als H-variety annahmen, wie er in einer Oratio darlegt: „[…] effecit ut plereque gentes uterentur lingua latina et inter se consuetudinem haberent“ (Valla, Orat. stud. 18; 1994: 196). paene atque eadem vulgi et litteratorum - quemadmodum et apud priscos Ro‐ manos, quorum lingua nunc Romana (ut semper apud Graecos), nunc Latina dicitur“ (Valla, Disp. I, 12; 2012: 8). Es ist trotz der terminologischen Überschneidung sinnvoller, dies als eine Diglossie im Sinne Fergusons (1959), nicht Fishmans (1967), d. h. zwei verwandte Idiome, zu interpretieren und nicht als zwei Varietäten im Sinne eines Konti‐ nuums von standard-with-dialects (cf. Kap. 3.1.2), denn Valla insistiert geradezu auf der grundsätzlichen Differenz beider „Sprachen“ des Lateinischen. Zu einer differenzierteren Heterogenität der beiden Idiome äußert er sich nicht weiter. Auch wenn davon auszugehen ist, daß ihm als intimer Kenner des Lateinischen zumindest diaphasische Abstufungen auch innerhalb des Schrift‐ lateins, also der grammatica, bekannt waren, thematisiert er sie in diesem Zu‐ sammenhang nicht, womöglich auch deshalb nicht, um seine Verteidigung eines eleganten Stils des Lateinischen zu gefährden. Er zieht vielmehr die Rhetorik und deren Stile heran, um das Postulat der diglossische Situation zu rechtfer‐ tigen. Was das Phänomen des Sprachwandels anbelangt, so orientiert sich Valla hier im Wesentlichen an der Korruptionsthese Biondos. Die Veränderlichkeit der Sprache über die Jahrhunderte steht eindeutig nicht im Fokus seines Interesses, er nennt bezüglich der Barbaren, die den „Verfall“ des Lateins verursacht hätten, auch nur die Goten und Vandalen, während ja eine Reihe von Autoren vor ihm diesen Aspekt bereits mit zahlreichen Superstrat- und auch Substratvölkern ausgearbeitet hatten (cf. Alberti, Guarino, Poggio, Filelfo). 695 Im Kontext seines Insistierens auf den Bezeichnungen postuliert er zumindest indirekt eine Kon‐ tinuität zwischen der antiken gesprochenen Sprache, die er mit der latina lingua identifiziert, und der zeitgenössischen Volkssprache. Dies betrifft insbesondere bzw. ausschließlich die Sprache Roms, denn die Sprache der Stadt wäre nicht ausgetauscht worden, sondern bliebe über die Jahrhunderte erhalten, auch wenn 429 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini sie sich unter dem Superstrateinfluß der germanischen Völker stark verändert hätte. Da er das zeitgenössische volgare so gut wie gar nicht thematisiert und ein volgare antico im Sinne Brunis ablehnt, ist nicht ganz klar, wie er den Zu‐ sammenhang sieht, zumal er diesbezüglich nicht wirklich explizit wird. Tavoni (1984: 136-137, insbes. 136, FN 34) spricht sich diesebzüglich deutlich gegen die früher in der Sekundärliteratur vertretenen Ansichten (z. B. Mancini 1891: 295) aus, daß Valla eine eindeutige Entwicklung des antiken Lateins zum zeitgenös‐ sischen volgare ausgedrückt hätte. Was die Schriftlichkeit anbelangt, so äußert er sich ebenfalls zweideutig, und zwar dahingehend, daß einerseits die spätantike grammatica ebenso durch den germanischen Superstrateinfluß verändert worden wäre (cf. gothice scripti), zum zeitgenössischen rinascimentalen Latein, welche er als ‚halblateinisch‘ und ‚halbbarbarisch‘ bezeichnet, bestünde andererseits trotzdem nochmal ein Bruch. Es scheint ein Schwanken zwischen Kontinuität im Sinne eines fortlaufenden Sprachwandelprozesses und einer für ihn als wichtig anzunehmender Diskon‐ tinuität, um die Würde des klassischen Lateins, der „reinen“ grammatica, be‐ wahren zu können und das zeitgenössische humanistische reformierte Latein vom mittelalterlichen zu separieren. Hierin unterscheidet er sich auch deutlich von Biondo, der als Produkt der corruptio das zeitgenössische volgare ausmacht. Tavoni (1992: 67-68) macht deutlich, daß es Valla vor allem um den von den Barbaren verursachten „Niedergang“ geht, der im Mittellateinischen sichtbar wird. Dies erscheint insofern plausibel, da Valla ja bemüht ist, das Latein im Sinne Quintilians und Ciceros zu reformieren und den zeitgenössischen Ge‐ brauch des Lateins, welcher immer noch stark vom mittelalterlichen geprägt ist - wie er es beispielsweise an der Sprache Poggios kritisiert -, an diese klas‐ sische Latinität anzupassen (unter Berücksichtigung aktueller Bezeichnungs‐ notwendigkeiten). Valla vertritt eine dezidiert eigene Sichtweise im Rahmen der questione zur Antike, wobei er hauptsächlich Positionen Brunis mit denen Biondos verbindet, was aus moderner linguistischer Perspektive zur Folge hat, daß er eine Diglossie mit anderer Terminologie formuliert: Er stellt nicht sermo vulgaris und sermo litteratus bzw. latine litterateque loqui (cf. Bruni) gegenüber, sondern latine loqui und grammatice loqui (cf. ähnlich Filelfo). Valla konstatiert außerdem einen Sprachwandel beider beteiligter Idiome (der H-variety oder der L-variety), al‐ lerdings mit einer diatopisch restringierten Kontinuität für das Lateinische als Volkssprache (nur Rom) und einer brüchigen Kontinuität für das Lateinische als Schrift- und Literatursprache. 430 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 696 Die gängigste Angabe zum Geburtsjahr ist 1407, weshalb außer in dem vorliegenden biographischen Überblick der Einfachheit halber auch im Folgenden nur von dieses notiert sei. Tatsächlich schwanken die Angaben zwischen 1405, 1406 und 1407. 697 Die Tatsache, daß Valla hier in einer direkten Traditionslinie mit keinem Geringerem als Francesco Petrarca (1304-1374) stand, und zwar insofern, als Leonardo Bruni ein Schüler Coluccio Salutatis (1331-1406) war und dieser wiederum ein Schüler und Ver‐ trauter Petrarcas (cf. Gerl 1974: 21 und cf. Kap. 6.2.3), war ihm wohl durchaus bewußt und trug womöglich auch zu seinem nicht gerade geringen Selbstbewußtsein bei. 698 Alfons V. von Aragón, der ab 1416 das heimische Königreich regierte, war zugleich als Alfons I. ab 1442 König von Neapel und Sizilien und regierte mit je anderer Namens‐ Rekontextualisierung Um die historische und geistesgeschichtliche Einordnung von Vallas Schriften gezielter vornehmen zu können, sei im Rahmen der hier angewendeten binären Methode von moderner linguistischer und rekontextualisierender Betrach‐ tungsweise zunächst ein kurzer biographischer und werkgeschichtlicher Abriß Vallas gegeben. Lorenzo Valla (lat. Laurentius Val(l)ensis) (1405 / 1406 / 1407-1457), 696 auch Lo‐ renzo della Valle genannt, ist gebürtiger Römer, aus einer Familie des niedrig‐ eren Stadtadels aus dem norditalienischen Piacenza. Seine Ausbildung genoß er als Privatschüler in Rom und Florenz bei berühmten Lehrern wie Leonardi Bruni (1370-1444), Rinuccio di Castiglione (fiorentino) (ca. 1395-1450) und Giovanni Aurispa (siciliano) (1376-1459), wobei ersterer sich u. a. für seinen Lateinunter‐ richt verantwortlich zeichnete, die beiden letzteren für seine Griechischkennt‐ nisse. 697 Dabei begann er bereits früh, eigene Studien anzustellen, und als er 1430 nach Piacenza aufbrach, um die dortigen Familiengüter zu verwalten, nutze er die Zeit für erste philologische Arbeiten. In Rom war ihm zunächst eine An‐ stellung unter dem Pontifikat von Eugen IV . (1431-1447) verwehrt geblieben, da Poggio Bracciolini (1380-1459) dies zu verhindern suchte. Im Folgejahr wurde er jedoch als Professor für Rhetorik in der Nachfolge von Gasparino Bar‐ zizza (1360-1431) an die Universität von Pavia berufen (1431-1433), mußte aber seine dortige Lehrtätigkeit bald wieder niederlegen, da er durch seine Sprach‐ kritik (cf. Contra Bartolum, 1433) an den Schriften des bedeutenden scholasti‐ schen Rechtsgelehrten Bartolus de Saxoferrato (1314-1357) in Konflikt mit der Universität geriet und fliehen mußte. Valla hatte mit einer polemischen Zu‐ rückweisung einer Bemerkung eines juristischen Kollegen reagiert, der be‐ hauptet hatte, daß er die Texte des Bartolus jederzeit einem Werk Ciceros vor‐ ziehen würde (cf. Gerl 1974: 23-24). Über einen kurzen Aufenthalt in Mailand floh er nach Genua, um dort Privatunterricht zu geben, später auch in Florenz. Schließlich bekam er 1435 eine Anstellung als Sekretär bei Alfons V. von Aragón (1396-1458, Kg. ab 1416) in Neapel. 698 Im Jahre 1444 mußte er sich aufgrund 431 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini zählung auch weitere Herrschaftsgebiete, die unter der Krone von Aragón in Perso‐ nalunion zusammengefaßt waren (z. B. Kgr. Valencia, Gfst. Barcelona). An seinem Hof in Neapel förderte er die studia humanitas und er nahm zahlreiche Gelehrte in seine Dienste, darunter neben Valla weitere bekannte Humanisten wie Decembrio, Filelfo, Aurispa oder Georgios Trapezuntius (1395-1472 / 1484) (cf. Figliuolo 2002: 77). 699 Zu einigen Einzelheiten bezüglich des Häresievorwurfes cf. Dreischmeier (2017: 17) sowie die dort angegebene, weiterführende Literatur. 700 Seine Eigenbezeichnung war immer mit einem gewissen Stolz Romanus (cf. Pieper 2012: 1248). Zur Betonung der stadtrömischen Position cf. u. a. auch die Textanalyse supra. 701 Das Constitutum Constatini entstand wohl als Fälschung des 8./ 9. Jahrhunderts und nicht wie ursprünglich datiert unter Kaiser Konstantin I. (306 / 324-337 n. Chr.) um 315 / 317 n. Chr., der angeblich dem zu dieser Zeit amtierenden Papst Silvester I. (314-335) usque ad finem saeculi die Herrschaft über das westliche Imperium Romanum verliehen hatte. seiner Publikationen der Inquisition gegenüber verantworten, das Verfahren wegen Häresie wurde jedoch u. a. aufgrund königlicher Fürsprache eingestellt. 699 Unter dem den Humanismus fördernden Papst Nikolaus V. (1447-1455) erlangte er schließlich eine Anstellung bei der Kurie, zunächst als apostolischer Schreiber (scriptor litterarum apostolicarum), dann als Sekretär (1448 / 1455-1457). Au‐ ßerdem wurde er zum Kanoniker der Lateransbasilika San Giovanni ernannt und erhielt in dieser letzten Schaffensphase auch eine Professur für Rhetorik (1450-1457), ebenfalls in Rom, der Stadt, der er Zeit seines Lebens sehr ver‐ bunden blieb, was sich nicht zuletzt in seinen Schriften ausdrückt (cf. Mancini 1891: 5-8; Cantimori 1937: 923-924; Trinkaus 1999: 207-209; Pieper 2012: 1247-1248; Dreischmeier 2017: 13-20). 700 Das philologische, philosophische und historische Studien umfassende Œuvre Vallas umfaßt einige sehr bedeutende Schriften, darunter auch solche, die in der zeitgenössischen Rezeption entsprechende Kontroversen ausgelöst haben und ihn z. T. auch in Gefahr brachten (v. supra; Inquisition, Vertreibung). Hierbei wäre an erster Stelle seine Beweisführung gegen die Echtheit der Kon‐ stantinischen Schenkung zu nennen (cf. De falso credita et ementita Constantini donatione, 1440). 701 Mit der Enttarnung dieser für das Selbstverständnis des Papsttums und seiner Legitimation einer weltlichen Machtfülle so wichtigen Urkunde mit Hilfe philologischer und historischer Untersuchungsmethoden schafft er sich zweifellos Feinde, nicht zuletzt auch durch die damit verbundenen Empfehlungen einer renovatio der kurialen Amtsvorstellung. Zu seinen wei‐ teren historischen bzw. kirchenpolitischen Schriften zählen beispielsweise De professione religiosorum sive monachorum (1442 / 1445) sowie die philologischen Bemühungen um die Bereinigung der Vulgata von Übersetzungsfehlern in seiner Schrift In Novum Testamentum collationes (1449), die u. a. von Erasmus 432 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 702 Die gesamten Schriften bzw. Bücher Antidotum in Pogium (I-IIII) finden sich abgedruckt in den Opera omnia Vallas nach der Baseler Edition von 1540 (cf. Valla, Op. omn.; 1962: 253-366), genauso wie der vollständige Apologus (ibid. 366-389); letzterer au‐ ßerdem in Camporeale (1972: 479-534). 703 Zu weiteren Schriften Vallas und deren Wirkung cf. die biographische und werkge‐ schichtliche Übersicht bei Gerl (1974: 19-37), die ihn „als humanistische[n] Philologe[n] und Polemiker von ungewöhnlicher Genauigkeit und Schärfe“ (id. 1974: 20) charakter‐ isiert. 704 Zur „Cicero-Debatte“ zwischen Valla und Poggio cf Kap. 6.2.6 vorliegender Arbeit. Beide gelten grundsätzlich als Vertreter des Ciceronianismus, also als Befürworter eines an den Schriften Ciceros ausgerichteten Lateins, allerdings mit zum Teil recht unter‐ schiedlicher Auslegung bzw. Umsetzung. Neben dieser eher groben Einordnung wird auch Valla, der noch vor Cicero den Rhetoriker Quintilian präferiert, als Vertreter eines Quintilianismus angesehen. 705 Zur seinen persönlichen Beziehungen zu den anderen Protagonisten der hier disku‐ tierten Debatte cf. Kap. 6.2.3-6.2.7 vorliegender Arbeit. Zu den intertextuellen Bezügen zu deren Schriften v. supra et infra. von Rotterdam (1466 / 1469-1536) geschätzt wurde. Eine rein historische Arbeit im Rahmen seiner Anstellung am Hof von Neapel war sein historiographisches Werk die Gesta Ferdinandi regis Aragonum (1445) mit einer im Proömium ver‐ ankerten starken Positionierung der Geschichtsschreibung. Vallas philosophi‐ sche Betrachtungen beginnen früh und zeitigen Schriften wie De voluptate sive De vero bono (1432 / 1448), Repastinatio dialectice et philosophie (1439) oder De libero arbitrio (1482). Prägend für Vallas Schaffen und Wirken sind auch seine Werke zur Sprache bzw. Grammatik, allen voran die Elegantiae linguae latinae libri VI (1435-1444) sowie die Streitschriften Antidotum in Facium (1447), Anti‐ dotum primum (1452), Antidotum secundum (1453) und Apologus in Pogium (1452 / 1453). 702 Des Weiteren sind wie bei den meisten Humanisten eine um‐ fangreiche Korrespondenz (Epistole) überliefert sowie Reden (Orationes) und Übersetzungen aus dem Griechischen (Homer, Thukydides, Herodot, Äsop), wobei er den Vorgang des Übertragens aus einer anderen Sprache nicht als reine imitatio, sondern als kreativen Prozeß einer aemulatio begriff (cf. Cantimori 1937: 923-924; Pieper 2012: 1249-1250). 703 Neben seiner Leistung auf dem Gebiet der historisch kritischen Forschung gilt Valla vor allem als Erneuerer des Lateins, als kritischer Analyst grammati‐ scher Regeln und stilistischer Differenzen sowie als Verteidiger von Korrektheit und Eleganz nach den Vorbildern Quintilian und Cicero (cf. De comparatione Ciceronis et Quintilianis, 1426). 704 Vor dem Hintergrund dieser biographischen und werksgeschichtlichen Sy‐ nopse 705 soll nun versucht werden, die Argumentation Vallas in der vorliegenden 433 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 706 Zu einzelnen grammatischen Beispielen wie z. B. die Regeln zum Gebrauch von Kom‐ parativ und Superlativ cf. Dreischmeier (2017: 22-23). 707 Cf. dazu das Zitat von Robert (2011: 12) in Kap. 6.2.6 vorliegender Arbeit, der Valla eine „neu[e] Sensibilität für stilistisch-historische Binnendifferenzierung“ attestiert. Diskussion zur antiken Sprachenfragen einzuordnen bzw. zu rekontextuali‐ sieren. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei der unmittelbare Anlaß der hier analysierten Schriften Vallas. Mit seiner Darstellung zu grammatischen Fragen in den Elegantiae legt Valla ein grundlegendes Werk zur lateinischen Sprache vor, das auch den Beginn einer fundierten Auseinandersetzung im Sinne einer frühen Wissenschaftlichkeit in dieser Hinsicht markiert und „auf die sprachliche Gestaltung des neuzeitlichen Lateins in erheblichen Maße einwirkte“ (Drei‐ schmeier 2017: 22). Es ging um die Bereinigung des zeitgenössischen Lateins von der „Verderbnis“ des mittelalterlichen und die restitutio nach klassischem Vorbild (cf. Waswo 1987: 91-94). Dafür erfaßt Valla mit textkritischer Methode anhand antiker und spätantiker Texte präzise das grammatische Regelwerk der Sprache, 706 ihre grammatischen und stilistischen Abweichungen sowie den Zu‐ sammenhang von res und verbum. 707 Dabei geht es ihm durchaus auch um die Adaption des Lateinischen an die zeitgenössischen Bedürfnisse, was zudem eine adäquate Terminologie impliziert, d. h. um die proprietas der Ausdrücke zur Vermeidung von Unschärfe, ohne die auch keine elegantia möglich sei (cf. Robert 2011: 13). Die Elegantiae werden zum humanistischen Standardwerk und finden großen Widerhall in der res publica literaria, auch außerhalb Italiens (cf. z. B. Erasmus von Rotterdam). Dabei stellt er selbst nicht gerade unbescheiden seine Arbeit als Dienst an der Menschheit (monumentum caritatis) dar (cf. Drei‐ schmeier 2017: 22-25). Anhand der Rezeption der Elegantiae läßt sich gut die humanistische Vernet‐ zung in Italien und ganz Europa belegen. Valla selbst schildert in einem Brief (Laurentius Vallensis Lauro suo salutem, 1445) die Reaktion von Guarino und Aurispa auf dieses Werk und wie allgemein seine Bücher den Weg über die Alpen finden: „Sed libri ipsi iam per se et Alpes et maria transierunt et opus De Elegantia a vicinis tuis summopere laudatum est, Guarino et Aurispa, viris doctissimis et elegantissimis“ (Valla, Epist. 30, 1; 2013; 184-186). Ein gutes Exempel für die europäischen Austausch bietet die Rezeption des Erasmus: So erwähnt Erasmus in einem Brief Filelfo, Aeneas Silvius, Agostino Dati, Guarino, Poggio, läßt aber keinen Zweifel daran, daß er Lorenzo Valla (1407-57), dessen Ele‐ gantiae er schon vor dem Klosterantritt gelesen hatte, für den herausragendsten La‐ tinisten unter den Humanisten hält. Er bewundert seine stilistische Eleganz und 434 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 708 Der konkrete Anlaß war ein eher nichtiger, nämlich die Kritik eines spanischen Schülers Vallas an einigen Briefen Poggios, die darin bestand, daß dieser - wohl erbost ob einer antispanische Bemerkung - kritisierte, die epistolae wären nicht nach den Maßgaben seines Lehrers in Bezug auf doctrina und elegantia abgefaßt, wie Valla es in den Ele‐ gantiae darlegt hatte. Poggio wurde dieses Schreiben hinterbracht und er vermutete, daß ein indirekter Angriff Vallas dahinterstecke, was ihn wiederum zum Handeln bewog (cf. Keßler 2004: LXII). 709 Zu weiteren Details des Gelehrtenstreits auf persönlicher und inhaltlicher Ebene sowie sich daran anschließenden disputationes mit weiteren Humanisten cf. z. B. Walser (1914: 266-281) oder McLaughlin (1995: 131-136). kämpft seinen mit Ironie und literarischer Schlagfertigkeit geführten Kampf gegen die mittelalterlichen Grammatiker auf solch nachdrückliche Weise, daß es über die Stellung L. Vallas zu Auseinandersetzungen zwischen den vier Gesinnungsgenossen kommt, an denen letztlich der Freundeskreis zerbricht. (Hein 1998: 271) Waswo (1987: 91) weist darauf hin, daß vor allem spätere Editionen der Elegan‐ tiae Vallas Ruf als bedeutender Humanist und Latinist in ganz Europa gefestigt hätten. Vallas dort dargelegte Positionen und Arten der Beweisführung können als grundsätzlicher Auslöser für die erste Kritik Poggios angesehen werden, der zu Beginn des Jahres 1452 (Februar) mit Oratio in L. Vallam (auch Oratio I oder Invectiva in L. Vallam Prima), die bereits erwähnte Kontroverse zwischen beiden entfachte (v. supra). 708 Noch im gleichen Jahr (Mai-Juni 1452) kontert Valla mit dem invektiven Traktat Antidotum in Pogium oder auch Antidotum I genannt, welches aus drei Büchern besteht (Librum I- III ). Daraufhin reagiert Poggio mit drei weiteren Reden (Oratio II , Oratio III , Oratio IV ). Währenddessen schreibt Valla an einem dialogischen Vorspann des Antidotum I, den er Apologus nennt und der aus zwei Akten besteht (Apologus I- II ). Bevor Valla den Apologus fer‐ tiggestellt hat, schreibt er im Frühjahr 1453 (März bis April) in Reaktion auf die Orationes seines Kontrahenten das Traktat Antidotum II (auch: Librum IV des Antidotum in Pogium). Poggio hatte kurz zuvor noch eine letzte Rede bzw. In‐ vektive, nämlich Oratio V, im Januar / Februar 1453 fertiggestellt, auf das zweite Antidotum Vallas reagiert er nicht mehr. Die kurze, aber sehr schriftenreiche Auseinandersetzung zwischen Poggio und Valla erstreckte sich also nur von Februar 1452 bis April 1453, wobei sich verschiedene Invektiven in Bezug auf ihre Veröffentlichung bzw. gegenseitige Kenntnisnahme überschnitten (cf. Camporeale 2001: 29). 709 Angriffspunkte und gleichzeitig Bezugsgrundlage sind, außer die einzelnen Invectivae selbst, die Disceptatio Convivalis von Poggio und die Elegantiae von 435 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 710 „Der Humanisten-Streit in Sprachenfragen fungiert immer zugleich als Wettkampf darum, wer die alten Texte genauer kennt und daher ein besseres Latein beherrscht als ein bereits anerkannter Sprachkundiger“ (Dreischmeier 2017: 25). 711 Zu den Einzelheiten, wie Poggio die Anstellung Vallas, der als Fürsprecher immerhin keinen geringeren als Nikolaus von Kues (lat. Nicolaus Cusanus, 1401-1464) hatte, als Sekretär der Kurie hintertrieb cf. Keßler (2004: LX-LXI). Valla, in denen unterschiedliche Auffassungen von Lehre (doctrina) und Stil der lateinischen Sprache (elegantia) zum Tragen kommen. Wie sehr das Studium der antiken Texte, die Lehre und die stilistische Eleganz zusammenhängen, macht er in seiner versifizierten lateinischen Grammatik (Ars grammatica) deutlich, in der er den Lehrer (preceptor, doctor) kritisiert, der die antiken Bücher vernachlässigte; eine versteckte Kritik vor allem mittelalterli‐ cher Praxis: „doctor enim malus est in quo sua non radiat lex, / quales iam seclis aliquot plerique fuere / quod libros veterum non evolvere disertos“ (Valla, Ars Gram. 15-17; 1990: 4). Darüber hinaus verknüpft Poggio seine philologische und methodische Kritik mit einer moralphilosophischen, was zwar grundsätzlich im Humanismus nicht ungewöhnlich ist, in dem das Prinzip des vir bonus dicendi peritus (cf. Cato, Quintilian) gilt und die Sprachkompetenz mit einem einwandfreien moralischen Handeln einhergehen sollte. Nach Quintilian, dessen Anschauungen hier vor allem zugrundeliegen, braucht es Erfahrungswissen (observatio), Methodik (ratio) und Übung (usus), um das Sprechen, welches als facultas zur natura des Menschen an sich gehört, zu einer Kunst (ars) zu machen. Damit geht aber auch Übung in Bezug auf die Tugendenhaftigkeit (virtus) einher und ein guter Redner (vir bonus) vereint als Angehöriger der Bildungselite der res publica beide Aspekte (cf. Dreischmeier 2017: 237-239). Dennoch ist hier der Vorwurf besonders perfide, zielt er doch letztlich darauf ab, Valla auch theologisch zu inkriminieren und ihn in die Arme der Inquisition zu treiben, was zweifellos einer Existenzbedrohung gleichkommt (cf. Keßler 2004: LXIII ). Die Vehemenz der Kontroverse hängt dabei nicht nur mit den unterschiedli‐ chen inhaltlichen Standpunkten zusammen, sondern auch mit einem lateinhu‐ manistischen Prestigekampf, der quasi sous-jacent ausgetragen wird, wobei - wie auch in Bezug auf andere Polemiken schon deutlich wurde (v. supra) - Ei‐ telkeit und Selbstdarstellung der docti eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. 710 Im konkreten Fall beginnt der Gelehrtenstreit im Umfeld der Kurie in Rom, denn beide buhlten um die päpstliche Gunst von Nikolaus V., 711 beide lehrten 436 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 712 Die Herabsetzung Poggio Bracciolinis (bzw. des Poggius als dramatis persona) und das damit verbundene „Spiel“ kann im Sinne Helmraths (2010: 270) interpretiert werden, der bei dieser Invektive eine Entwicklung in Richtung eines „plautinisch burlesken Schwanktheater[s]“ ausmacht. seit 1450 / 1451 an der Universität (Studium Urbis). Poggio wechselte jedoch 1453 in der Nachfolge von Salutati, Bruni und Marsuppini als cancelliere nach Florenz, was die direkte Auseinandersetzung mit Valla beendete; längst war aber die Kontroverse in ihr Umfeld übergegangen und auch in anderen humanistischen Gelehrtenzirkeln in Italien spaltete man sich in Anhänger Poggios oder Vallas (cf. Camporeale 2001: 30). Es handelt sich dabei auch um einen Generationenkonflikt. Poggio und an‐ dere sind diejenigen, die die griechischen und lateinischen Manuskripte ge‐ funden und philologisch erschlossen haben, der jüngere Valla zeichnet sich hin‐ gegen vor allem durch seine Textkritik aus (cf. Tavoni 1984: 118). Im Rahmen des hier geschilderten Disputes ist nun auch der für die vorlie‐ gende Diskussion wichtigste Text einzuordnen, der Apologus II , der durch seine offene und versteckte Polemik und Ironie besonders schwer zu interpretieren ist. Dies gilt natürlich nur in Bezug auf die hier fokussierte Fragestellung, denn das übergeordnete Kommunikationsziel ist eindeutig, die Erniedrigung und Bloßstellung des Kontrahenten, der im Dialog durch die Geistesschärfe und Eloquenz der Figur des Laurentius in seiner mannigfaltigen Unfähigkeit, insbe‐ sondere der sprachlichen (cf. vitia), vorgeführt wird. Wie Poggius und damit der anvisierte reale Poggio Bracciolini von Valla gedemütigt wird, zeigen einige bei Dreischmeier (2017) zusammengefaßte, offene oder versteckte Anschuldi‐ gungen: In erster Linie ist seine Sprache bzw. Sprachkompetenz (im Latein‐ ischen) Ziel des Angriffes. So bezichtigt Valla ihn des male loqui, was sowohl mangelnde grammatische Korrektheit als auch moralisch niedriges Verhalten impliziert. In Zusammenhang mit der Anschuldigung, daß er sich nur für das Essen interessiere - bei forum würde er an „Fressmarkt“ und nicht an das Jus‐ tizgebäude denken - und ihm dementsprechend der sapor näher stehe als Tu‐ genden wie honestas, ratio oder pudor, wird ihm auch vorgeworfen, daß seine Sprechweise sich auf das „Küchenlatein“ (culinaria vocabula) beschränken würde. Valla degradiert ihn im Dialog indem er ihn auf eine Stufe mit den Be‐ diensteten stellt bzw. noch darunter (subcoquus); 712 mehr noch, es gebe Ange‐ stellte, die sich beim Erlernen und Anwenden grammatischer Regeln geschickter anstellten als Poggio, der immer unbeholfen und schwer von Begriff wirke und den Spitzfindigkeiten des Disputes nicht folgen könne. Es handelt sich letztlich um eine maximale soziale Abwertung eines Gelehrten (cf. Dreischmeier 2017: 231-236). Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, daß Poggio selbst in 437 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini seinen Invektivschriften alle malediktorischen Register zieht und für seine Streitlust bekannt ist (cf. Helmrath 2010: 270-271). Aus dieser bisher skizzierten Darstellung historischer Zusammenhänge und literarischer Implikationen der beteiligten Personen und Texte läßt sich in Bezug auf die Frage nach dem Beitrag Lorenzo Vallas zur Diskussion um die Antike festhalten, daß er zweifellos ein Bestandteil dieses Disputes war, seine hochpo‐ lemischen Schriften jedoch eine Extraktion seiner zugrundeliegenden Ideen nicht unproblematisch machen. Entsprechend ist sich hierüber auch die For‐ schung nicht ganz einig und Vallas Stellung in dieser Debatte schwankt zwi‐ schen essentiell und randständig. In einer kurzen Synopse resümiert Mazzocco (1993: 69-70) die Einschätzungen von Camporeale (1972), Fubini (1961) und Rizzo (1986), die dahingehend übereinstimmen, daß sie Valla als jemanden be‐ urteilen, der zuvor unklare Zusammenhänge und Differenzierung präziser als seine Vorgänger erfaßt habe und ihn dementsprechend als herausragenden Pro‐ tagonisten in dieser Debatte einordnen. Rizzo (1986: 405) weist zudem darauf hin, daß auch bezüglich der Zuordnung Vallas zu Bruni oder Biondo Dissens in der Forschung herrsche bzw. im Gegen‐ satz zu ihm selbst bisher zahlreiche Wissenschaftler (R. Sabbadini, V. Rossi, R. Fubini., S. Camporeale, G. Zippel) Vallas Ansicht zur Antike eher Biondo zu‐ geordnet hätten, womöglich weil er als „fondatore dello studio storico della lingua latina“ (ibid.) gelte. Tavoni (1986: 252) kommt zu dem gleichen Schluß wie Rizzo und sieht Valla bezüglich seiner Ideen Bruni zugeordnet und nicht Biondo. Hierzu sei jedoch ergänzt, daß eine grobe Zuordnung, sei es zu Bruni oder Bi‐ ondo, sowieso nur Vehikel sein darf, denn die exakte Textanalyse und Interpre‐ tation zeigt bei Valla (wie auch bei anderen) ein durchweg differenziertes Bild, oft mit Elementen aus beiden Stoßrichtungen. Mazzocco (1993: 70) sieht dies insgesamt eher skeptisch: „Valla’s Apologus II is neither as novel nor as central to the issues raised by the Florentine debate as these scholars claim.“ Mit Recht weist er darauf hin, daß Vallas Schrift noch weniger von einem „genuine interest“ (ibid.) bezüglich des Themas zeugt als dies bei Biondo, Bruni, Guarino, Poggio und Filelfo der Fall war, und daß seine Ausführungen im Kontext der Debatte mit Poggio Bracciolini zu verstehen seien. Diesbezüglich ist zu ergänzen, daß Apologus II vor allem auch als ein Stück Literatur zu klassifizieren ist (v. supra), mit all den damit zusammenhängenden Implikationen, die einen direkten Zugriff auf das dahinterstehende Gedan‐ 438 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 713 Die Schriften Poggios und Vallas zwischen 1452 und 1453, in denen die geschilderte Kontroverse ausgetragen wird, sind Teil der humanistischen Streitkultur. Helmrath (2010: 270-273) nennt dazu einige wichtige Merkmale: In den Invektiven wird mit einer bestimmten Zitatstrategie gearbeitet, indem nicht nur Argumente, sondern auch Ver‐ unglimpfungen des Kontrahenten wiederaufgegriffen werden, oft verkürzt, verfälscht oder auch kommentiert, so daß zahlreiche intertextuelle Bezüge entstehen. Dabei geht es einerseits um die inhaltliche Widerlegung, andererseits aber durchaus auch um die Bloßstellung des Widersachers. Was die Lexik betrifft, so sind Vergleiche mit Tieren und mythologischen Monstern genauso gängig wie Wortspiele oder Lexeme aus dem Sexual- und Fäkalbereich. Die Verbreitung erfolgt im Rahmen einer Art Halböffent‐ lichkeit, indem der Verfasser dafür sorgt, daß der Adressat das Manuskript über Dritte erhält und es gegebenenfalls auch anderweitig distribuiert wird. Dies gewährt oft tief‐ eren Einblick in persönliche Verflechtungen der Humanisten, in Parteizugehörigkeiten und Freundschaften sowie in die Wege der Verbreitung der Texte. 714 Poggios wesentliche Äußerungen zur Sprachenfrage der Antike sind ja nicht Teil der Auseinandersetzung mit Valla, sondern sind in einer davor entstandenen Abhandlung mit eigener Zielsetzung zu finden, die zwar dialogisch strukturiert ist, aber tendenziell eher sachbezogen und nicht polemisch. Bruni, Biondo und Guarino legen ihre An‐ sichten in Brieftraktaten nieder, Alberti in einem Buch zur Ökonomie bzw. Hauswirt‐ schaft, welches auch eher als Gebrauchstext einzuordnen ist. 715 Für Valla ist die lateinische Sprache nicht nur ein organon in der Kommunikation, son‐ dern Instrument im Sinne der humanitas, den Bürger zum „wahren“ Menschen zu er‐ ziehen, d. h. zur Menschlichkeit und Sittlichkeit. Dies gilt grundsätzlich für alle, die den Weg aus dem bäuerlichen Status der immanitas in die zivilisierte Gesellschaft finden wollen, aber insbesondere für den eruditus, der am oberen Ende des Humanisierungs‐ prozesses steht. Möglich ist dies jedoch nur im Rahmen einer civitas, wobei eine ein‐ heitliche Sprache (d. h. Latein) die Prämisse für die Künste und Wissenschaften ist, die den Menschen zum humanen Menschen erziehen können. (cf. Gerl 1974: 244-246). Hie‐ raus ergibt sich nicht nur die Vorrangstellung des Lateinischen bei Valla, sondern auch seine zumindest bedingte Abwertung des Griechischen (ganz im Gegensatz zu Guarino, kengut erschwerte. 713 Alle anderen äußerten sich zu diesem Thema in Briefen oder Traktaten, die zwar in einem weiteren Sinne auch als literarisch gelten können, bei denen aber die Kunstform weniger im Vordergrund steht. 714 Was die Gesamteinschätzung anbelangt, soll hier eine vermittelnde Position mit einem anderen Denkansatz eingenommen werden: Mazzocco ist sicher zuzustimmen, daß einerseits Vorsicht bei der Interpretation geboten ist und andererseits Valla nichts essentiell Neues in die Diskussion einbringt, vielmehr damit beschäftigt ist, Positionen gegeneinander auszuspielen. Dabei ist allerdings nicht zu unter‐ schätzen, daß Valla gerade durch seine Polemik, seine sprachlichen Spitzfindig‐ keiten und sein Beharren auf terminologischer Differenzierung, bisherige Vor‐ stellungen auf diese Weise indirekt schärft oder zumindest dazu anregt, diese neu zu überdenken. Durch seine lateinhumanistische Position in Reinkultur, 715 aus der heraus es ihm hauptsächlich um die in seinem Sinne adäquate Erneuerung des Lateins als 439 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Poggio oder Filelfo), denn das Griechische zerfällt in seiner Vorstellung in fünf Einzel‐ idiome. zeitgemäße standardisierte und kodifizierte Sprache geht und der Volkssprache jenseits der Mündlichkeit kaum eine Funktion zugedacht ist, bleibt er in dieser Diskussion um die Antike einer tendenziell eher konservativen Position ver‐ haftet. Er lehnt sich stark, wenn auch nicht ausschließlich, an Bruni an, denn die quasi sakrosankte grammatica bleibt für ihn ein separiertes Idiom. Dies ist überzeitlich zu verstehen, also in Bezug auf die Antike wie auch zeitgenössisch (cf. Tavoni 1992: 68), denn dieses Idiom ist zwar reformierbar und optimierbar, aber es soll im Sinne einer lingua morta und mit dem ererbten Prestige als eine regulierte, überregionale und internationale Verkehrssprache des humanisti‐ schen Kulturaustausches fungieren. Synthese Faßt man nun die Erkenntnisse aus der Textanalyse, der modernen linguisti‐ schen Perspektive und aus der Rekontextualisierung zusammen, so läßt sich zuvorderst konstatieren, daß Valla als Prototyp des Lateinhumanisten, der im Gegensatz zu manch anderem der hier behandelten Gelehrten auch keinerlei Schriften im volgare verfaßt hat, die Problematik um die antike Sprachkonstel‐ lation zwar in mehreren Werken an verschiedenen Stellen immer wieder an‐ spricht, auch durchaus ausführlicher, die einzelnen Argumente aber vorrangig als Vehikel in seiner Verteidigung des Lateinischen als einzige literatur- und wissenschaftsfähige Distanzsprache fungieren. Zudem besteht gerade bei Valla durch verschleiernde Ironie und Polemik die Gefahr einer Mißinterpretation seiner Ansichten. Sozio-/ varietätenlinguistisch gesehen knüpft Valla dahingehend an Bruni an, insofern er eine grundsätzliche Diglossie zwischen Gelehrtensprache und Volks‐ sprache formuliert. Er weicht hier allerding terminologisch von Bruni ab, indem er ‚Latein‘ vornehmlich mit dem gesprochenen Idiom identifiziert, sekundär aber beide „Sprachen“ so bezeichnet. Das volgare ist bei ihm in diesem Zusam‐ menhang quasi nicht thematisiert bzw. taucht nicht als Begriff auf, weder in Bezug auf die zeitgenössische noch auf die antike Situation. Tavoni (1986: 212-214), verschiedenste Werke berücksichtigend, weist darauf hin, daß Valla, wenn er denn den Terminus sermo vulgaris gebraucht, eher etwas Abstraktes damit bezeichnet, der quintilianischen Rhetorik folgend bestimmte sprachliche Auffälligkeiten im Auge hat (cf. Vulgarismen) oder eben ein Register der römischen Umgangssprache (sermo cotidianus), ohne damit jedoch eine konkrete sprachhistorische Situation zu verbinden und ohne eine Differenzie‐ 440 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 716 „Il Valla è innanzi tutto il primo ad avere una precisa consapevolezza che latinitas indica negli autori un concetto propriamente retorico, e cioè una misura superiore della lingua, determinata nelle sue più alte espressioni (ciò che costituisce l’oggetto di indagine delle Elegantiae) […]. Nel contrasto con Poggio la diversità del grado di consapevolezza è particolarmente evidente […].“ (Fubini 1961: 542). 717 Zur Rolle des umanesimo civile in der humanistischen Kultur bzw. in dieser Debatte cf. Kap. 6.2.4 vorliegender Arbeit. rung zeitgenössischer und antiker Konstellationen vorzunehmen. In den we‐ nigen Fällen in denen Valla tatsächlich, aber eher beiläufig das volgare in einer historischen Situation meint, spricht er von illiterate loqui, idiotarum more loqui oder vernacula lingua. Insgesamt versucht er jedoch, die Existenz der Volks‐ sprache auszublenden. Eine diasystematische Differenzierung läßt sich bei Valla am ehesten noch diaphasisch herauslesen, indem Registerunterschiede in Anlehnung an die an‐ tike Rhetorik thematisiert werden. Bemerkenswert ist diesbezüglich aber eine Herausarbeitung der Trennung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, also die diamesisch-diakonzeptionelle Ebene betreffend (cf. gothice scripti, v. supra). Was den Sprachwandel angeht, so inkorporiert Valla hier durchaus die These der corruptio Biondos, aber weit wenig konsequent als dieser. Er schildert zwar die Verderbnis durch die barbarischen Germanen (Goten, Vandalen), welche Idiome der für ihn diglossischen Antike hierbei betroffen sind und wie diese sich wei‐ terentwickeln, bleibt jedoch unklar. Es läßt sich allerdings, auch aufgrund seiner Abneigung gegen die mittelalterliche Vielfalt des Lateins, postulieren, daß er hier in erster Linie das Schriftlatein, also die grammatica, im Sinn hatte (cf. Tavoni 1984: 152). Eine klare Skizzierung der Entwicklung des volksprachlichen Lateins bleibt er aber schuldig, auch wenn dies in der Sekundärliteratur mitunter vereinfachend so dargestellt wird (cf. z. B. Coseriu / Meisterfeld 2003: 171). Den Kontext seiner Zeit berücksichtigend sind Vallas Aussagen zur Sprache der römischen Antike vor allem vor dem Hintergrund seiner Kontroverse mit Poggio um die adäquate zeitgenössische latinitas zu betrachten, eingebettet in die Konzepte der antiken Rhetorik. 716 Dazu gehören sowohl zahlreiche persön‐ liche Verflechtungen als auch intertextuelle Bezugnahmen auf andere Werke und Autoren sowie politisch divergierende Anschauungen und Konflikte. Dazu gehören auch die Animositäten zwischen den verschiedenen italienischen Städten und den damit verbundenen divergierenden politischen Herrschafts‐ formen (Republik, Monarchie). 717 Trinkaus (1999: 209) verweist in diesem Kon‐ text auf einen Brief Vallas an Pier Candido Decembrio (1399-1477), in dem er Brunis Laudatio urbis Florentiae (1403 / 1404) kritisiert und dessen Anspruch auf ein republikanisches Erbe mit der Begründung zurückweist, daß die Gründung 441 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini von Florenz auf den despotischen Sulla zurückgehe. Die Rivalität der Städte im Allgemeinen sowie der Streit um das politische und kulturelle Erbe Roms wird hier deutlich sichtbar, genauso wie auch Vallas Lokalpatriotismus. Hinzu kommen schließlich noch die literarischen Implikationen in Zusammenhang mit der humanistischen Invektivenkultur. Vallas Beitrag zur vorliegenden Debatte ist nicht einfach zu bewerten und so ist diesbezüglich auch in der Sekundärliteratur kaum ein wirklicher Konsens zu finden, zumal hier oft seine gesamtphilologische Leistung nicht klar von seiner Positionierung zur Antike getrennt wird. Was aber festgehalten werden kann ist, daß er durch seine Akribie in Bezug auf begriffliche Differenzierung und semantische Eindeutigkeit die Diskussion durch neue terminologische Zuord‐ nungen und Unterscheidungen bereichert hat bzw. die überkommenen zur Dis‐ position stellt, mitunter sicher pedantisch, dabei aber auch die historischen Ge‐ gebenheiten neu verhandelnd und weitere Vergleiche ziehend. 6.2.9 Weitere Humanisten des 15. Jh. und die Tradierung der Debatte ins 16. Jh. Im Folgenden sollen zur Komplettierung der Analyse bezüglich der einzelnen Positionen der Humanisten und deren Verflechtungen miteinander kursorisch einige weitere Vertreter in dieser Diskussion um die Sprache der Antike darge‐ stellt werden. In vorliegender Abhandlung wurden bisher in diesem Kontext denjenigen Gelehrten des 15. Jh. eigene Kapitel gewidmet, die mit ihren Schriften einen wesentlichen Beitrag zu dieser Debatte geleistet oder auch auf‐ grund ihrer auctoritas einen entsprechenden Impuls diesbezüglich gegeben haben. Ob die nun ergänzend vorgestellten Humanisten tatsächlich in dieser Auseinandersetzung alle als auctores minores einzustufen sind oder ob die Ge‐ wichtung auch anders sein könnte, ist sicherlich diskutabel, folgt aber weitge‐ hend einer communis opinio in der Forschung (cf. Kap. 2 und Kap. 6.2.1). Aufgrund der etwas synthetischeren Darstellungen der in diesem Kapitel be‐ sprochenen Autoren wird auch auf die bisher formale Unterteilung der ein‐ zelnen methodischen Schritte verzichtet und Textanalyse, sozio- und varietä‐ tenlinguistische Perspektive sowie Rekontextualisierung zwar weiterhin theoretisch unterschieden, aber nicht mehr extra markiert. Angelo Decembrio Zunächst sei auf den bereits erwähnten Angelo Decembrio (lat. Angelus De‐ cembrius Mediolanensis) (ca. 1415-1467) hingewiesen, vor allem als Übermittler 442 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 718 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß Loschi mit zu der initialen, mündlichen Dis‐ kussionsrunde vorliegender Debatte im Vorzimmer des Papstes gehörte (cf. Kap. 6.2.3). 719 Zur zentralen Figur des Manuel Chrysoloras als Wegbereiter der griechischen Sprache und Kultur in Italien, mit dem zahlreiche der hier besprochenen Humanisten in per‐ sönlichem Kontakt standen, cf. Kap. 5-6 passim. 720 Bei Barzizza studierten auch Guarino Guarini, Leon Battista Alberti und Francesco Fi‐ lelfo (cf. u. a. Kap. 6.2.5). weiterer Details zu dieser Debatte am Hof von Ferrara. Geboren in Mailand, ist Angelo Decembrio Teil einer illustren Familie humanistischer Gelehrsamkeit. Sein Vater Uberto Decembrio (1350-1427) hatte enge Beziehungen zum Herzog von Mailand, Gian Galeazzo Visconti (1351-1402, Hz. ab 1378), von dem er zum Bischof verschiedener Diözesen ernannt wurde (Piacenza 1386, Brescia 1387, Vicenza 1388, Novara 1389, Mailand 1402), er war außerdem Sekretär (ab 1391) von Pietro Filargo (Petros Philargis bzw. Petrus v. Candia, 1340-1410), dem späteren Gegen-Papst Alexander V. (1409-1410) sowie Kanzler von Mailand (cancelleria viscontea) in der Nachfolge von Antonio Loschi (1365-1441) 718 unter Gian Maria (1388-1412, Hz. ab 1402) und Filippo Maria Visconti (1392-1447, Hz, ab 1412). Neben seinen politischen Tätigkeiten ist vor allem seine Beziehung zu Manuel Chrysoloras (ca. 1350-1415) hervorzuheben, dessen Schüler und Assis‐ tent er war; 719 seine wichtigste Schrift ist wohl De Republica (1422). Aus seiner Beziehung zu Caterina Marazzi gingen vier Söhne hervor: Modesto, Pier Can‐ dido, Paolo Valerio und Angelo Camillo (cf. Viti 1987c: 498-500). Der berühm‐ teste wurde Pier Candido Decembrio (1399-1477), Sekretär von Filippo Maria Visconti, wichtiger Funktionsträger (Sekretär und Diplomat) der Republik von Mailand (Repubblica Ambrosiana, 1447-1450) und Gelehrter an den Höfen von Neapel und Ferrara, der eine umfangreiche schriftstellerische und übersetzeri‐ sche Tätigkeit entfaltete (z. B. De vitae ignorantia, 1428; Historia peregrina, 1430; De laudibus Mediolanensium urbis panegyricus in comparationem Florentinae urbis, 1436; Vita Philippi Mariae Vicecomitis, 1447; De natura avium et anima‐ lium, 1460; Übersetzungen z. B. von Homer, Platon, Livius, Cäsar, Curtius Rufus) (cf. Viti 1987b: 488-491). Angelo (Camillo) Decembrio selbst wuchs sozusagen im Kristallisationsbe‐ reich des italienischen Humanismus auf, lernte bei Gasparino Barzizza 720 (ca. 1360-1431) in Mailand, studierte aber auch Medizin bei Ugo Bensi (1376-1439) und findet dann den Weg an den corte estense in Ferrara, wo er im literarischen Zirkel um Guarino Guarini wirkt. Dort bleibt er wohl, abgesehen von einem Aufenthalt in Mailand (1446-1447), für die nächsten Jahre. Nach dem Tod des humanistischen Förderers Leonello d’Este (1407-1450, Mgf. ab 1441) begibt sich Decembrio (1450-1458) wie andere Gelehrte auch an den Hof von Neapel unter 443 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 721 Decembrio spricht sich in elitärer humanistischer Überzeugung gegen Übersetzungen in die Volkssprache aus, denn die Eleganz des lateinischen Stils sei nicht in das volgare übertragbar (cf. Fubini 1961: 539, FN 91). 722 Der äußere Anlaß ist die Frage, wie die Bibliothek des Fürsten Leonello d’Este in Bezug auf lateinische und italienische Literatur zu bestücken bzw. zu ordnen sei. Alfons V. von Aragón (1396-1458, Kg. ab 1416), der ebenfalls ein Zentrum der studia humanitas entstehen ließ. Danach folgt ein längerer Aufenthalt in den Bibliotheken Spaniens (1458-1465) und schließlich die Rückkehr nach Ferrara an den Hof unter Borso dʼEste (1413-1471, Mgf. ab 1450). Nach seiner Rückkehr von einer wohl diplomatischen Mission im französischen Burgund (1466-1467) wird ihm im Jahre 1467 die erste Griechischprofessur in Perugia angeboten, doch seine Spur verliert sich und es ist nicht sicher, ob er diese dann tatsächlich antrat und dort wirkte oder in Ferrara verstarb. Neben seinem Hauptwerk, der Politia literaria (ca. 1460 / 1464), sind von ihm im Wesentlichen die folgenden Schriften überliefert: De cognitione et curatione pestis, Commentarius de supplicationibus Maiis ac veterum religionibus (1447), Epigrammata sowie Briefe (cf. Viti 1987a: 483-487; Jaumann 2004: 217). Wie bereits dargelegt (cf. Kap. 6.2.5) geht aus dem VI . Teil des ersten Buches der Politia literaria hervor, daß die Annahme einer diglossischen Sprachsituation in der römischen Antike, wie sie Bruni analog zur zeitgenössischen Sprachdist‐ ribution zwischen Latein und Volkssprache in Italien angenommen hatte, am Hof von Ferrara einen gewissen Anklang fand (cf. Mazzocco 1993: 51; Marchiò 2008: 46), unter anderem beim Fürsten Leonello d’Este, was wiederum Guarino Guarini veranlaßte, in dieser Debatte Stellung zu nehmen, dabei tendenziell gegen Bruni argumentierend. Decembrio, der sich in besagtem Abschnitt seines Buches Gedanken über die volgarizzamenti antiker Autoren macht, also die Frage der Übersetzungen vom Lateinischen in die Volkssprache diskutiert bzw. deren Qualität (cf. Marchiò 2008: 46), 721 läßt in einem Passus auch durchblicken, wie er zur antiken Spra‐ chenfrage steht. Aus seiner Wahl der Ausdrücke geht hervor, daß er hier auf Bruni referiert, bevor er konkreter darlegt, wer seiner Meinung nach in der römischen Antike was gesprochen hatte. 722 Opinantur quidam non vernaculum et separatam, uti nunc est, apud antiquos loquendi fuisse consuetudinem, sed unum omnium Italiae civitatum idioma, latini scilicet lite‐ ratique sermonis. (Decembrio, Pol. lit. I, 6, 13; 2008: 170-171) Quod non procedit, si scriptorum plurimam in stylo differentiam advertimus; seque‐ returque magis nullas unquam puerorum scholas, nullos ludi magistros vel praecep‐ tores apud veteres extitisse, quorum saepenumero mentionem ab iisdem fieri videmus, 444 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 723 „[…] è evidente il collegamento con la terminologia medievale che identificava la gram‐ matica con il latino“ (Marchiò 2008: 173, FN 6). cum domestico sermone inter plebemque versando id quotidiano usu facile consequi potuisset. (Decembrio, Pol. lit. I, 6, 14-15; 2008: 170) Decembrio widerspricht hier also der These, daß es in der Antike (apud anti‐ quos) in allen Städten Italiens ein und dieselbe Sprache gesprochen worden wäre (unum omnium Italiae civitatum idioma), und zwar das Lateinische bzw. genauer das literarische Latein der Gebildeten (literatique sermonis). Für ihn erscheint es hingegen weit plausibler, daß es im alten Rom eine wie von Bruni postulierte funktionale Zweiteilung der Sprachen gegeben hätte, ganz analog zur seiner zeitgenössischen Situation. Dies sei schon daran ersichtlich, daß es früher (apud veteres) Schulen gegeben hätte, in denen die Römer das komplexe Latein durch Lehrer mühsam erlernen mussten, die Sprache des täglichen Umgangs (quoti‐ diano usu) und des Hausgebrauches (domestico sermone) hingegen eine andere sein müsse (cf. Mazzocco 1993: 51). Aus Decembrios kurzen Anmerkungen lassen sich verschiedene Rück‐ schlüsse ziehen: Zunächst ganz allgemein auf die offensichtliche Lebendigkeit der Debatte, dann im engeren Sinn auf die Kontroverse am Hof von Ferrara und schließlich die nicht unwichtige Tatsache, daß auch die von zahlreichen anderen Protagonisten zurückgewiesene These Brunis ihre Anhänger hatte. Konkret äußert sich dies bei Decembrio unter anderem dahingehend, daß er das litera‐ rische Latein, also die von ihm als high-variety klassifizierte Sprache, in ähnli‐ cher Manier wie Bruni benennt, d. h. Literatursprache und latinitas gleichsetzt (cf. latini scilicet literatique sermonis, Decembrio vs. latine litterateque loqui, Bruni, cf. Kap. 6.2.3.1 u. Kap. 6.2.5). Weitere begriffliche und inhaltliche Über‐ einstimmung mit Bruni zeigt sich bei der Gleichsetzung derjenigen, die den sermo vernaculus bzw. die lingua vulgaris gebrauchen, mit den illiterati bzw. denjenigen ohne eruditio (cf. Decembrio, Pol. lit. I, 6, 1, 8, 11, 13; 2008: 170-171; cf. Marchiò 2008: 172, FN 3), eine Parallelisierung, die sich auch bei anderen Humanisten findet. Anders als Bruni jedoch verweist Decembrios Wahl der Begriffe direkter auf die mittelalterliche Tradition (cf. Tavoni 1984: 75; Marchiò 2008: 173, FN 6), denn bei ihm kommt im Gegensatz zu Bruni der Terminus grammatica im Sinne des schriftsprachlichen Lateins vor (sive etiam grammatice, scripsere, v. supra), wie er auch bei Dante zu finden ist (cf. Kap. 6.2.2). 723 Demgegenüber steht als low-va‐ riety der mit verschiedensten Begriffen bezeichnete volksspachliche Gebrauch (v. supra und cf. in quotidiano colloquio plebei, Decembrio, Pol. lit. I, 6, 4; 2008: 170). Decembrio weicht noch in einer anderen Hinsicht von Bruni ab, 445 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 724 Cf. dazu Decembrios Kommentar zu den tre corone: „Caeterum vulgarium auctorum frequentissima sunt opera, Dantis, Petrarchae Boccatiique volumina; sunt et Gallia His‐ panaque lingua intra nationem nostram advecta, et pro multitudinis ingenio soluta consonantique ratione composita, sed apud plebem compositionis vocabulo digna“ (cf. Decembrio, Pol. lit. I, 6, 10; 2008: 170). indem er explizit die diglossische Situation auf ganz Italien bezieht (nicht nur auf Rom), d. h. die verschiedenen vernaculi aller italienischen Regionen bzw. Städte anspricht (v. supra). Tavoni (1984: 77) spricht hierbei von einer diversifi‐ cazione orizzontale als Ergänzung zur diversificazione verticale bei Bruni. Angelo Decembrio erweist sich letztlich nicht nur als Vertreter der tesi bru‐ niana, indem er explizit aus der zeitgenössischen diglossischen Sprachsituation diejenige der Antike ableitet, und zwar im Wesentlichen aufgrund der für ihn nicht denkbaren Möglichkeit, daß das einfache Volk eine so elaborierte und komplexe Sprache wie das Lateinische als sermo maternus hätte erlernen können, sondern er folgt dabei einer mehr als eindeutigen traditionellen latein‐ humanistischen Haltung, die „sogar“ über diejenige von Bruni hinausgeht, der einer volkssprachlichen Literatur gegenüber immerhin nicht völlig verschlossen war (Mazzocco 1993: 221, FN 221). Decembrio hingegen sieht im Hinblick auf die Ordnungskriterien der fürstlichen Bibliothek zu Ferrara die großen Autoren des italienischen volgare nur der minderen plebejischen Literatur zugehörig. 724 Lodrisio Crivelli In etwa dem gleichen Zeitraum läßt sich als Zeugnis für vorliegende Debatte eine Schrift des Mailänder Humanisten Lodrisio Crivelli (lat. Leodrisius Cri‐ bellus) (ca. 1412-1465 / 1488) anführen, der einige Gedanken zum latino antico äußert. Crivelli, von dem keine exakten Lebensdaten bekannt sind, stammt aus einer weit verzweigten Adelsfamilie, studierte in seiner Geburtsstadt Mailand Recht (diritto civile) und trat dann in die Dienste des Erzbischofs Bartolomeo della Capra (1365-1433, Ebf. ab 1405), in dessen Begleitung er 1432 zum Konzil von Basel (1431-1449) reiste. Nach dessen Tod blieb er in erzbischöflichem Dienst unter Francesco Pizolpasso (auch: Piccolpasso, 1375-1443, Ebf. ab 1435), stu‐ dierte jedoch gleichzeitig an der Universität von Bologna kanonisches Recht (1441-1442), nahm anschließend eine Lehrtätigkeit an der Universität Pavia auf und dann ab 1443 in Mailand (ad lecturam ordinariam iuris canonici). Hier tritt er mit führenden Humanisten wie Poggio Bracciolini (1380-1459), Pier Candido Decembrio (1399-1477) und vor allem Francesco Filelfo (1398-1481) in Kontakt. Ab 1449 unterrichte er dann diritto canonico am Studio von Ferrara (bis 1452). In den folgenden Jahren findet sich Crivelli in engem Kontakt mit Enea Piccolo‐ 446 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 725 Die enge Beziehung zu Filelfo, der auch als sein Lehrer fungierte, bricht 1461 ab bzw. ist fortan von Animosität gekennzeichnet und bei Francesco Sforza fällt er in Ungnade, so daß er ab 1463 seiner Lehrtätigkeit in Mailand (Collegio dei giurisperiti) enthoben ist (cf. Petrucci 1985: 149-159). Beide Vorfälle erscheinen exemplarisch für die Zeit, zum einen die fragile Bindung an fürstliche Mäzene und die potentiell streitintensive Be‐ ziehung zu anderen Humanisten, die oft sowohl von Freundschaft als auch von Kon‐ kurrenz geprägt ist. 726 Dies ist der Titel der Druckausgabe (cf. Muratori 1731: 627-732), derjenige des Manu‐ skriptes (BnF lat. 5889) lautet ein wenig anders: De vita rebusque gestis Francisci Sfortiae Vicecomitis Mediolanensium ducis illustrissimi (cf. Marchiò 2008: 123, 283). mini, (1405-1464), dem späteren Papst Pius II . (1458-1464), sowie mit Francesco Sforza (1401-1466, Hzg. ab 1450), so daß er sich abgesehen von zahlreichen Reisen in Italien, vor allem in Mailand aber auch in Rom aufhält. 725 Das Haupt‐ werk Crivellis ist die historiographische Abhandlung De vita rebusque Sfortiae bellicosissimi ducis ac initiis filii eius Francisci Sfortiae vicecomitis Mediolanen‐ sium ducis commentarius ab anno circiter MCCCLXIX usque ad MCCCCXXIV (ca. 1461-1463), 726 eine weitere personenbezogene historische Dokumentation ist De expeditione Pii papae II adversos Turcos; außerdem sind die Verteidigungs‐ schrift Apologeticus adversus calumnias Francisci Philelphi pro Pio II m.p. (1464) zu nennen sowie einige poetische Werke, darunter auch mehrere, die verloren gegangen sind (cf. Petrucci 1985: 146-151). Crivelli als Historiograph beschäftigt wie Decembrio die Frage von adäquaten Übersetzungen sowie damit verbunden der Umgang mit Quellen, antiken wie zeitgenössischen, und schließlich die entsprechende Art der stilistischen Wie‐ dergabe im eigenen Werk. Crivelli begreift Geschichtsschreibung ganz konkret als eine politische Stra‐ tegie, d. h. als offizielle Propaganda einer Stadt bzw. eines Staates und ihrer Leistungsträger, weshalb auch die seiner Meinung nach bisher nicht ausreichend gewürdigten Taten Francesco Sforzas im Vordergrund stehen (cf. Ianziti 1988: 43-44). So müsse man den Leser beispielsweise darauf hinweisen, daß der Name des Mailänder Adelsgeschlechts der Sforza ein sprechender sei und des‐ halb das italienische sforza mit lateinisch violentus erklären (Ianziti 1980: 27; Marchiò 2008: 281, FN 3). In einem Passus der oben genannten Darstellung über die Regierung Fran‐ cesco Sforzas (De vita rerbusque gestis Sfortiae) räsoniert Crivelli über die lexi‐ kalischen Unterschiede zwischen der Volkssprache und dem Lateinischen. Dies‐ bezüglich verweist er auf klare Differenzen im Wortschatz (romanam ab latino sermone linguam admodum diferre videamus, cf. Crivelli, De vita 3; 2008: 279), was im Falle einer historiographischen Abhandlung eine Übersetzung von Wör‐ tern aus dem volgare ins Lateinische notwendig machen würde. Aus diesen 447 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 727 Die Vertrautheit Crivellis mit dem Werk Poggio Bracciolinis geht außer aus der Art der Argumentation auch aus seiner Korrespondenz hervor (cf. Ianziti 1980: 28, FN 2). Überlegungen heraus verweist Crivelli auf die römische Antike, in der zunächst das Lateinische eine Einheit bildete, in dem Sinne, daß es die Sprache aller Be‐ wohner war, zumindest bevor das römische Imperium über zahlreiche andere Regionen Europas und darüber hinaus expandierte. Unum eumdemque loquendi tenorem hactenus Italicis omnibus fuisse, ex quo tempore Romanum longius serpere imperium coepit, nemini vel mediocriter docto ambiguum esse potest; nec erat, quod grammatice, materneve loquentem discriminaret, nisi quod illis bona dictio, his incultior vel minus emendatus sermo in usu fortassis erat. (Crivelli, De vita 4; 2008: 279) In dieser frühen Zeit gab es gemäß Crivelli keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem sermo maternus und dem sermo der docti, also der grammatica, außer daß letzterer elaborierter war, also einem höheren Stilregister angehörte (emendatus sermo), d. h. er hier eine diaphasische Variation ansetzt. Als Historiograph im Gefolge von Bruni und vor allem von Biondo sowie im weiteren von Filelfo ist er Teil der lateinhumanistischen Debatte um die adä‐ quate Sprachwahl in historiographischen Abhandlungen, wobei er gegen die Ansicht argumentiert, daß man nur lateinische Begriffe verwenden dürfe, die auch bei den antiken Autoren belegt seien. Er plädiert hingegen dafür, neuen Gegebenheiten auch sprachlich Tribut zu zollen (v. supra), auch wenn er dies nicht ganz so vehement vertritt wie Valla, der in vielen Bereichen neue Wörter fordert (cf. Ianziti 1980: 28-29). Argumento est, Latinus fuisse populos sive ab Latio post Saturni fugam, sive ab Latino eorum rege ita denominatos; nam antea Aborigenes appellabantur, in quorum ser‐ monem se Roma recepit, quod esset in eorumdem finibus sita, non duplicem sortitos loquendi morem (nam summa haec esset narrantis vanitas, et credentis stultitia) sed unus erat omnibus doctis indoctisque patrius sermo latinus. (Crivelli, De vita 5; 2008: 279) Crivelli folgt hier in seiner Argumentation (basierend auf Biondo) im Wesent‐ lichen Poggio Bracciolini (cf. Kap. 6.2.6), 727 der ebenfalls das Autochthone der lateinischen Sprache betont bzw. die regionale Herkunft aus Latium in ursäch‐ lichen Zusammenhang mit der dortigen Sprachform bringt, allein schon wegen der Namensverwandtschaft. Die Referenz auf die Anfänge mit der Formulierung post Saturni verweist - wahrscheinlich über Guarino Guarini (cf. Kap. 6.2.5) - auf die vier Epochen der lateinischen Sprache von Isidor von Sevilla (cf. sub Iano 448 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 728 Es sei hierbei daran erinnert, daß Filelfos Schriften zu diesem Thema sowohl zeitlich davor als auch danach zu verorten sind (1451, 1473, 1473). Crivelli konnte dessen Aus‐ führungen, da diese ja in Privatbriefen enthalten sind, kaum direkt rezipiert haben, da er jedoch in einem engen persönlichen Verhältnis mit ihm stand, war er über dessen Ansichten sicherlich informiert. et Saturno, Isidor, Etym. IX , 6-7; 1911: s. p.), ohne daß hier jedoch weiter darauf eingegangen würde. Betont wird von Crivelli vor allem die Einheit des Latein‐ ischen, denn es sei die Sprache der Gelehrten und der ungebildeten Schichten (unus erat omnibus doctis indoctisque patrius sermo latinus). Dazu führt er im Folgenden einige Beispiele aus Cicero und Quintilian an, die zum einen die Ein‐ heit der latina lingua belegen sollen, zum anderen Raum für gewisse situations‐ bedingte, stilistische Differenzierungen in der Sprache lassen (cf. Marchiò 2008: 124-125). Schließlich geht er gegen Ende seiner Argumentation auf den Prozeß der Veränderung des Lateins und der Entstehung eines volgare ein. Quod si me quispiam roget, unde haec ergo ad nos tanta defluxit loquendi varietas, respondebo intrepide, ex ea, quae totiens Italiam inundavit ab inclinatione Romani Imperii barbarorum procella, nunc Gothis, nunc Erulis, Hunnis, Vandalis, Alanisque, et ad postremum Longobardis, unde huic patriae nomen mansit, Italiam peragrantibus, seque quod necesse fuit Italicis commiscentibus. (Crivelli, De vita 16; 2008: 280) Crivelli greift zur Erklärung des Niedergangs des Lateins auf die Korruptions‐ these Biondos zurück, die sich auch bei Alberti, Guarino, Poggio oder Filelfo 728 findet und macht den Ansturm verschiedener barbarischer Völker für die doch so große Veränderung des Lateins verantwortlich, die seit dem Untergang des römischen Reiches Italien heimgesucht haben (ab inclinatione Romani Imperii barbarorum procella), was schließlich zur Vermischung des Lateins mit den je‐ weiligen barbarischen Sprachen geführt hatte. Was die Art des gesprochenen Lateins anbelangt, so wird deutlich, daß Cri‐ velli nicht die diglossische Hypothese Brunis teilt, sondern anlehnend an Poggio eine Einheit der latinitas hervorhebt, d. h. der Sprache der Latini bzw. der Ita‐ lici, und zwar mit einer grob umrissenen diaphasischen Variation. In Bezug auf den Sprachwandel hebt er sich von den bisherigen Autoren dahingehend ab, daß er doch - wenn auch nicht ganz präzise - eine Sprachentwicklung vom Latein‐ ischen zur zeitgenössischen Situation rekonstruiert und explizit auf die Vielfalt der italienischen volgari verweist (cf. ad nos tanta defluxit loquendi varietas). Zudem bringt er, neben den bereits „bekannten“ Goten, Vandalen und Lango‐ barden, weitere Superstratvölker ins Spiel, die bisher in der Debatte noch nicht 449 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 729 Die Alanen sind ein iranischer Stammesverband, der ursprünglich zwischen Kaukasus und der Mündung des Don (Tanais) siedelte; in der Spätantike und Völkerwanderungs‐ zeit schließt sich ein Teil den Goten an und siedelt im 4. Jh. in Pannonien, es findet sich ein weiterer Teil dann im Gefolge der über sie siegenden Hunnen u. a. in den römischen Provinzen des Balkans, ein anderer schließt sich den Vandalen und ihrem Zug durch Europa nach Spanien und dann Nordafrika an. Im 7. bis 9. Jh. migrieren weitere Alanen mit den heranziehenden Ungarn aus der südrussischen Steppe nach Pannonien (cf. Neue Pauly 1996 I: 431-432; Haarmann 2005: 36). Die ostgermanischen Heruler zerfallen in eine westliche Bevölkerungsgruppe, die im Umfeld der Franken und Westgoten zu finden sind (3.-6. Jh.) und in eine östliche, die in Mittel- und Südosteuropa in Konflikt mit den Hunnen und dann mit den Langobarden gerät (cf. Neue Pauly 1998 V: 504-505). genannt wurden, nämlich die Heruler und die Alanen. 729 Crivelli gehört sicher‐ lich nicht zu den prominenten Protagonisten in dieser Debatte, doch sein Beitrag ist nichstdestoweniger beachtenswert, zumeinen aufgrund einiger eigener As‐ pekte, die er anführt, zum anderen ist er Teil des Netzwerkes in dieser Debatte. Entsprechend ist die leicht apodiktische Formulierung Tavonis („Non si tratta di un contributo capitale alla nostra disputa“; Tavoni 1984: 305), der Crivelli nur als post scriptum kurz erwähnt, ein wenig zu revidieren und auf Marchiò (2008) hinzuweisen, der ihn in sein Kompendium mit besagtem Textausschnitt zu Recht aufgenommen hat. Bartolomeo Benvoglienti Ein weiterer Humanist, der in vorliegendem Kontext Erwähnung finden sollte, ist Bartolomeo Benvoglienti (lat. Bartholomaeus Benevolentius) († 1486), über dessen Leben und Wirken nur spärliche Informationen vorliegen. Benvoglienti aus adliger senesischer Familie schlug eine kirchliche Laufbahn ein (Kanoniker, Propst), womöglich lehrte er auch Theologie am Studio seiner Geburtsstadt Siena, in der er auch starb. Überliefert sind von ihm im Wesentlichen zwei Werke, die auch gedruckt vorliegen, nämlich das theologisch-philosophische Traktat De luce visibili paradoxon (1481) und das historiographische Werk De origine et antiquitate Senarum urbis (1484-1486), welches von seinem Enkel Fabio Benvoglienti (1518-nach 1578 / 1580) unter dem Titel Trattato de l’origine e accrescimento de la città di Siena (1571) ins Italienische übersetzt wurde (cf. Craveri 1966: 698). In seiner Lorenzo deʼ Medici gewidmeten Schrift De luce visibili paradoxon, die 1481 in Rom verlegt wurde, befinden sich im Anhang weitere kurze Ab‐ handlungen, nämlich De analogia huius nominis verbum et quorundam aliorum, et Latina lingua graecam antiquiorem non esse (1481). Für das vorliegende Thema zur Frage der Sprachvorstellungen in der Renaissance bezüglich der Antike sind auch Benvoglientis Ausführung in De analogia zu berücksichtigen. 450 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 730 Zur exakten Argumentation Benvoglientis und seiner Rekonstruktion von verbum mit den entsprechenden Zwischenstufen cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 183-184). Benvog‐ lienti versucht das sprachtheoretische Konzept der Analogie von Varro mit dem theo‐ logischen von Augustinus zu vereinen. Das etymologische Vorgehen folgt ansonsten dem mittelalterlichen Isidor’schen Prinzip (cf. Tavoni 1975: 72-73). 731 Ausgangspunkt ist bei ihm jedoch in mittelalterlicher theologischer Denkweise die ba‐ bylonische Sprachverwirrung, ganz wie bei Dante (cf. Ellena 2011: 77). Ausgehend von einem theologisch-philosophischen Anliegen, der Suche nach dem Ursprung und der Wahrheit der Dinge, der Ideen und der Begriffe reiht Benvoglienti lose einige Überlegungen zur Herkunft und Verwandtschaft der Sprachen aneinander, die durchaus bemerkenswert sind. Dabei stellt er sich zunächst die aus christlicher bzw. bibelexegetischer Perspektive wichtige Frage nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes verbum, welches er statt wie üblicherweise aus lat. verberatus aer ‚(vom Klang) gepeitschte Luft‘ christlich inspiriert aus lat. verum bonum ‚das wahre Gute‘ über ein *veruus herleitet, 730 und kommt dann über weitere spekulative Etymologien auch auf das Verhältnis zwischen Griechisch und Latein zu sprechen. Die unter den zeitgenössischen Humanisten diskutierte Frage nach der jeweiligen Vorrangstellung in Bezug auf diese beiden Sprachen, d. h. ob dem Griechischen oder dem Lateinischen das höchste Prestige zukomme, löst er relativ unkonventionell, indem er das in diesem Disput oft angeführte Argument der Seniorität des Griechischen ge‐ nauso wie die daraus mögliche Folgerung einer Herkunft des Lateinischen aus dem Griechischen in Zweifel zieht und stattdessen eine gemeinsame Ursprungs‐ sprache postuliert. Quod autem a dictionibus grecis quasdam nominum formas Latini derivarint, que illis aut non sunt, aut non tales, indubitato ut arbitror argumento est verba illa primaria plus, aut non minus, fuisse nostra quam Graecorum, illisque a Latinis aut tradita aut dimissa, grecanque linguam non modo non genuisse nostram, sed nec antecessisse, potius a priori aliqua genitam utranque, ut sint non illa parens et hec nata, sed sorores. (Benvoglienti, De anal. 57, c. 4v; 1975: 26) Die beiden Sprachen stünden also nicht in einem Verhältnis, daß eine aus der anderen hervorgegangen sei, sondern wären als Schwestersprachen zu ver‐ stehen (sed sorores), die beide genetisch auf ein anderes früheres Idiom zurück‐ zuführen seien (a priori aliqua genitam utranque). 731 Im Weiteren führt Benvoglienti zahlreiche Lautwandelphänomene an (z. B. lat. frigidum > it. fredo, freddo; nordit. frezo; griech. ἡλιακόν > venez. liagò ‚Sonnenterrasse‘; cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 186) und konstruiert Etymolo‐ gien, die zwar oft nicht ganz korrekt sind, aber deutlich zeigen, daß er zum einen 451 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 732 Ein wichtiger Erklärungsansatz bei Benvoglienti ist, wie bereits erwähnt (v. supra), dabei eine Herleitung aus Gründen der Analogie, wie sie bei Varro als Verfahren in Bezug auf die synchrone (normative) Sprachbeschreibung angewendet wird (analogia vs. consuetudo, cf. De lingua latina VIII, IX) und bei den Zeitgenossen als Prinzip der etymologischen Rekonstruktion in Gebrauch war (cf. Tavoni 1975: 73; Coseriu / Meis‐ terfeld 2003: 183). 733 Cf. dazu die Einschätzung Tavonis, der Benvoglienti in seinem Verständnis für das volgare nicht nur über Marcantanio Sabellico (ca. 1436-1506), Paolo Pompilio (ca. 1455-1491) und Raffaele Maffei (1455-1522) stellt, sondern in gewissem Maße auch über Flavio Biondo und Poggio Bracciolini: „[…] Benvoglienti stands out of the mass for the quality and the extent of his understanding of the vernacular“ (Tavoni 1982: 250). ein grundsätzliches Verständnis von Sprachwandel hat, zum anderen dies auch mit sehr konkreten lautlichen, morphologischen und semantischen Entwick‐ lungen in Zusammenhang bringt. Dabei zeigt er sowohl die Veränderungen vom Lateinischen zum zeitgenössischen volgare bzw. zu verschiedenen Varietäten des Italienischen auf, als auch Herleitungen aus dem Griechischen ins volgare (cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 185-191). 732 Gerade der Blick auf verschiedene Varietäten des Italienischen im Hinblick auf die Ergebnisse von Lautwandel‐ prozessen vom Latein zum Italienischen ist bemerkenswert, 733 was zusätzlich durch eine begriffliche Neuerung eine bestimmte Prominenz gewinnt. So diffe‐ renziert Benvoglienti zwischen italice, was einen Ausdruck bzw. ein sprachliches Phänomen beschreibt, das in allen Regionen Italiens anzutreffen ist, und vulga‐ riter, welches sich allein auf seine eigene Varietät (mee patrie vernaculum) be‐ zieht. Huius tantum monere lectorem volo, per hanc dictionem „italice“, ubi eam invenerit, Italie pene totius publicum loquendi morem, per hanc vero dictionem „vulgariter“ mee patrie vernaculum significare me velle. (Benvoglienti, De anal. 5, c. 1r; 1975: 12) Sed et dictiones plurime tum italice tum latine utrisque promiscue fuere, de quibus ego, qui vix tria verbula grece novi, commentarios confecissem si mandassem litteris que in mentem aliquando venere. (Benvoglienti, De anal. 94, c. 6v; 1975: 33) Die Übereinstimmungen mit dem Griechischen sowie einige Phänomene einer älteren archaischen Latinität, die sich im volgare wiederfinden, liefern Benvog‐ lienti die historische Begründung, der italienischen Volkssprache ein ähnliches Prestige wie den beiden traditionellen Kultursprachen zuzubilligen. Formen, die sich in den italienischen vulgaria finden, gehen nach Benvogli‐ enti oft nicht auf die Sprache der eruditi zurück, sondern auf eine Varietät, die weniger im städtischen Umfeld angesiedelt sei (minus urbanus), sondern viel‐ mehr bei denjenigen, die eine rustikale Varietät sprechen würden (apud rus‐ 452 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 734 Tavoni (1975: 101-102) erklärt Benvoglientis zum Teil unkonventionelle Ansichten spe‐ ziell in Bezug auf das volgare dadurch, daß dieser eben gerade kein Humanist gewesen sei. ticos). Letztere Charakterisierung ist wohl - wie bei den antiken Autoren (cf. Kap. 4) - sowohl diastratisch wie auch diatopisch zu verstehen. Qui loquendi modus ab eruditis repudiatus fuit forsan ut minus urbanus quod apud rusticos remansisset: sicut vostris et voltis que servamus adhuc. (Benvoglienti, De anal. 84, c. 6r; 1975: 32) Benvoglienti ist zweifellos nicht direkt in die Debatte um das latino antico in‐ volviert, steht auch nicht in gleichem Maße in dem engen Kontakt mit den Zentren der studia humanitas wie die führenden Humanisten der Zeit, die un‐ tereinander mannigfaltige Beziehungen unterhalten. 734 Er leistet auch keinen direkten Beitrag zu dieser Debatte, da er die Sprachverteilung und -verwendung in der Antike nicht explizit anspricht. Dennoch sind seine Gedanken in diesem Kontext aus drei Gründen erwähnenswert: Erstens greift er offensichtlich auf Ideen Biondos zurück (cf. Ellena 2011: 77), indem er grundsätzlich die Entwick‐ lung des zeitgenössischen volgare aus dem Lateinischen herleitet, wobei er sogar eine bestimmte Varietät als Ausgangsidiom ausmacht, die er mit dem sermo rus‐ ticus identifiziert; zweitens versucht er diesen Sprachwandel durch zahlreiche Beispiele relativ präzise (wenn auch mitunter mit irrtümlicher Etymologie) zu belegen; drittens postuliert er für die Antike bzw. eine Frühzeit die vage Idee einer indogermanischen Ursprache, aus der das Griechische und das Lateinische als verwandte Sprachen hervorgegangen sind. Lorenzo deʼ Medici Erwähnenswert ist zur Gesamterfassung der vorliegenden Diskussion auch die Stellungnahme des Fürsten, Mäzen und Humanisten Lorenzo deʼ Medici (lat. Laurentius de Medicis) (1449-1492), genannt Il Magnifico. Lorenzo war vor allem Geschäfts- und Staatsmann, der aus der einflußreichsten Familie von Florenz stammte, deren Reichtum vor allem aus dem Bankhaus der Familie (Banco dei Medici, 1397-1494) erwachsen war; in seiner leitenden politischen Funktion der Repubblica fiorentina (ohne explizites Amt) folgt er dabei seinem Vater Piero di Cosimo deʼ Medici (1416-1469) und seinem Großvater Cosimo deʼ Medici (Il Vecchio; 1389-1464) nach. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Giuliano Piero deʼ Medici (1453-1478) erhielt er eine humanistische Ausbildung, die ihn schon früh zu eigener literarischer Tätigkeit anregte und ihn später zu einem 453 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 735 So war Lorenzo deʼ Medici durch den stark in der Renaissance aufblühenden Plato‐ nismus und Neuplatonismus geprägt, dessen Ideen ihn durch die Werke Petrarcas und den Austausch mit den Florentiner Humanisten (wie z. B. Landino und vor allem Ficino) beeinflußten. Durch die Förderung der Accademia neoplatonica (1462) und durch seine eigenen Werke gestaltete er die neuplatonistische Bewegung aktiv mit. 736 Der Titel dieser Kommentierung seiner eigenen Gedichte, die er in diesem Werk ver‐ sammelt (41 Sonette) und nach Vorbild der Vita Nuova und des Convivio mit Anmer‐ kungen zur Dichtungstheorie und einer metaphysisch überhöhten Liebe in Prosa ver‐ sieht, variiert (auch: Comento sopra i miei sonetti oder Commento deʼ miei sonetti). Die Datierung ist ebenfalls nicht einheitlich; Orvieto (1992: 325) stellt drei belegte Entste‐ hungsperioden zur Disposition: 1476-1477, 1481-1483, 1484. der bedeutendsten Förderer der Renaissance-Kultur werden ließ. 735 In seinem Umfeld wirkten so namhafte Gelehrte wie Cristoforo Landino (1425-1498), Marsilio Ficino (1433-1499), Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Nic‐ colò Machiavelli (1469-1527) und Dichter wie Luigi Pulci (1432-1484) oder An‐ gelo Poliziano (1454-1494) sowie Künstler wie Benozzo Gozzoli (1420-1497), Mino da Fiesole (ca. 1430-1484), Andrea del Verrocchio (1435-1488), Sandro Botticelli (1445-1510) oder Michelangelo Buonarotti (1475-1564) (cf. Walter 2009: 113-114, 117, 122-123). Das literarische Hauptopus Lorenzos ist sein Canzoniere (laurenziano) (1465-1477), doch umfaßt seine schriftstellerische Produktion eine Breite an poetischen und wissenschaftlichen Werken vor allem auf Italienisch, aber auch auf Latein, wie z. B. Corinto (1464-1465), Nencia da Barberino (1469-1473), No‐ vella di Giacoppo (1469), La caccia col falcone bzw. Uccellagione di starne (1473), Simposio ovvero I Beoni (1473-1474), Selve dʼamore (ca. 1474), Canti carnasciale‐ schi (um 1486) oder De summo bono (1473) (cf. Hausmann / Kapp 2007: 107-119). Bezüglich der hier diskutierten Fragestellung nach der Sprache der römischen Antike sind einige Anmerkungen Lorenzos in seinem Comento sopra alcuni dei suoi sonetti (1476-1484) 736 von Interesse, und zwar in dem dazugehörigen Proemio. Das Werk ist in der Volkssprache verfaßt und dementsprechend sieht sich Lorenzo veranlasst - ähnlich wie einst Dante (cf. Kap. 6.2.2) - sich bezüglich der Sprachenwahl zu verteidigen. In folgendem Passus geht er auf mögliche Kritik ein und liefert gleichzeitig sprachtheoretische Aspekte zum volgare Ita‐ liens. Aggiugnesi ancora a questo che forse a qualcuno parrà reprensibile, quando bene la materia e subietto fussi per sé assai degno, avendo scritto e fattone menzione in lingua nostra materna e vulgare, la quale, dove si parla e è intesa, per essere molto comune non pare declini da qualche viltà, e in queʼ luoghi dove non è notizia non può essere intesa, e però a questa parte questa opera e fatica nostra pare al tutto vana e come se non fussi fatta. (Lorenzo, Comm. 5; 1992: 354) 454 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 737 Auch an anderen Stellen wird der potentielle Vorwurf einer Entscheidung für das La‐ teinische explizit thematisiert: „Resta adunque solamente rispondere alla obiezione che potessi essere fatta, avendo scritto in lingua vulgare, secondo il giudicio di qualcuno non capace o degna di alcuna eccellente materia e subietto“ (Lorenzo, Comm. 40; 1992: 364). 738 Das Kriterium der dolcezza und der armonia sowie die Ausdrückbarkeit der concetti findet sich in Dantes Convivio (cf. Lorenzo, Comm. 1992: 365, FN 47, 49); die Konzepte des sprachlichen Reichtums (lat. copia) sowie der Harmonie (lat. suavitas, iucunditas) sind aber auch schon Teil der antiken Rhetorik (cf. Klein 1957: 65). Die Volkssprache wird zunächst als Muttersprache charakterisiert (lingua nostra materna e vulgare), dann ihre Verbreitung thematisiert und schließlich wird ihr vor allem Prestige zugesprochen bzw. der potentielle Vorwurf gemacht, daß sie niedrig zu bewerten sei (non pare declini da qualche viltà). Diese Bedenken Lo‐ renzos sind auch deshalb hier thematisiert, da es ja um eine hohe bzw. gehobene literarische Gattung mit einem ebensolchem Thema geht (la materia e subietto fussi per sé assai degno), was im Umkehrschluß das Italienische für niedrige li‐ terarische Zwecke möglich macht. 737 Im Laufe seines Vorwortes versucht er die reputazione der lingua vulgare zu verteidigen. Dabei stellt er vier verschiedene Kriterien auf, die grundsätzlich einer Sprache Würde und Vollkommenheit verleihen würden: Sie sollte 1) co‐ piosa e abundante sein sowie atta a exprimere bene il senso e concetto della mente, 2) weiterhin sollte ihr dolcezza e armonia zukommen, 3) es sollte eine literarische Tradition vorhanden sein, in der cose sottili e gravi e necessarie alla vita umana behandelt würden sowie 4) sie sollte eine große Verbreitung haben, d. h. felicità e prosperità di fortuna genießen (Lorenzo, Comm. 40-52; 1992: 364-366; Klein 1957: 64-66). 738 Insbesondere die viel gepriesene Universa‐ lität des Lateinischen ist für ihn nur ein äußerer Faktor, der sich durch die Größe des römischen Reiches ergeben hatte, so daß es sich für die Bewohner des Im‐ periums als pure Notwendigkeit (ma quasi necessaria) erwies, Latein zu spre‐ chen, d. h. diese Sprache als Verkehrssprache fungiert hätte. Questa tale degnità d’essere prezzata per successo prospero della fortuna, è molto appropiata alla lingua latina, perché la propagazione dello imperio romano l’ha fatta non solamente comune per tutto il mondo, ma quasi necessaria. (Lorenzo, Comm. 54; 1992: 367) Daraus ergibt sich für ihn, daß das Prestige des Lateins rein auf laude externe beruht, was keine laude proprie seien. Durch diese Entmythifizierung des Lateins als alles überragende Literatursprache mit einer ihr inhärenten Qualität bereitet er den Boden für eine Argumentation zugunsten des florentinischen volgare, 455 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 739 Lorenzo geht diesbezüglich auch weiter als sein Lehrer Cristoforo Landino, der für den Gebrauch der Volkssprache in der Literatur eine imitatio der antiken auctores empfiehlt, und löst sich weitgehend von dem römischen-lateinischen Vorbild, in dem er uneinge‐ schränkt auf die großen Autoren des Florentinischen verweist (cf. Mazzocco 1993: 102). 740 Zu einer adäquaten Würdigung seines Beitrages cf. Mazzocco (1993: 101-105), der die Verdienste Lorenzos um das volgare als Literatursprache prägnant hervorhebt: „Lorenzo establishes once and for all the right of the vernacular to coexist with Latin. It is true, as we have seen earlier, that other distinguished Florentines from Bruni to Alberti down to Landino had argued effectively in favor of this coexistence, but none had been as forthright and convincing as Lorenzo. In fact, Lorenzo shows non of the hesitancy with regard to the use of the vernacular characteristic of Bruni“ (Mazzocco 1993: 101-102). 741 Was das Prestige der drei heiligen (Schrift)Sprachen anbelangt, so ergibt sich für Lo‐ renzo aus dem von ihm erstellten Kriterienkatalog (v. supra) eine klare Abstufung: „E welches durch seine Literatur und seine zunehmende Verbreitung ebenbürtig sei. 739 Gegen Ende des Proemio geht er noch konkreter auf einen wichtigen sprach‐ historischen Aspekt in Zusammenhang mit dem Lateinischen ein. E per queste medesime ragioni nessuno mi può riprendere se io ho scritto in quella lingua nella quale io sono nato e nutrito, massime perché e la ebrea e la greca e la latina erono nel tempo loro tutte lingue materne e naturali, ma parlate o scritte più accuratamente e con qualche regola o ragione da quelli che ne sono in onore e in prezzo, che generalmente dal vulgo e turba populare. (Lorenzo, Comm. 70; 1992: 370) Zentraler Punkt ist hierbei die Feststellung, daß das Lateinische in der Antike eine natürliche Muttersprache war. Dies betrifft direkt die vorliegende Diskus‐ sion um das latino antico, da genau die Frage der Natürlichkeit und damit auch Veränderlichkeit eine Eigenschaft war, die in überkommener Vorstellung, wie sie bei Dante oder später dann bei Bruni zum Ausdruck kommt, nur dem volgare attribuiert wurde und dem Lateinischen als grammatica gerade nicht zukam. In Lorenzos Ausführungen spiegeln sich also indirekt die Erkenntnisse Biondos und anderer Protagonisten der Debatte. Er deutet hier zudem eine diastratisch und eine diaphasische Komponente an bzw. auch eine diamesische (parlate o scritte), indem er die Regelhaftigkeit (qualche regola o ragione) einer gehobenen Varietät der Gelehrten betont, die sich von der des Volkes (vulgo e turba popu‐ lare) abhebt. Somit bleibt Lorenzo hier weitgehend im Rahmen bisheriger Erkenntnisse und sticht vor allem als vehementer Verteidiger des volgare in Anknüpfung an Alberti hervor, über dessen pragmatischen Ansatz er hinausgeht, indem er kei‐ nerlei Inferiorität der Volksprache gegenüber dem Latein gelten läßt. 740 Hervor‐ zuheben ist jedoch die grundsätzliche Gleichsetzung von Latein, Griechisch und vor allem Hebräisch, der linguae sacrae, bezüglich ihrer Muttersprachlichkeit, 741 456 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen però si giudica la lingua greca piú perfetta che la latina e la latina piú che l’ebrea […]“ (Lorenzo, Comm. 45; 1992: 365). was sich zwar auch bereits bei Guarino und Filelfo findet (cf. Kap. 6.2.5 u. 6.2.7), dennoch ist durch diese Explizitheit ein nicht unwichtiges Zeugnis gegeben, daß sich die Vorstellung, auch die Sakralsprachen unterlägen der Veränderlichkeit, durchgesetzt hat. Insbesondere in Bezug auf eine sehr nüchterne Betrachtung des Lateinischen als eine Sprache wie (fast) alle anderen sind seine Ausfüh‐ rungen bemerkenswert. Paolo Pompilio Aus textchronologischer Persepektive sei als nächstes auf den Humanisten Pi‐ etro Paolo Pompilio (lat. Petrus Paulus Pompilius) (ca. 1454 / 1455-1491) ver‐ wiesen, der ebenfalls einen Beitrag in der vorliegenden Debatte geleistet hat. Über seinen biographischen Hintergrund ist relativ wenig bekannt. Er stammte aus Rom, genoß offensichtlich eine humanistische Ausbildung, lernte Grie‐ chisch und arbeitet zunächst eher bescheiden als Grammatiklehrer im Viertel Campo Marzio, später wohl auch für eine Zeit an der römischen Universität (Studium Urbis). Ende der 1480er Jahre wurde er praeceptor des jungen Cesare Borgia (ca. 1475-1507) und blieb auch im Weiteren der Familie Borgia ver‐ bunden. Eine engere Beziehung unterhielt er auch zu dessen älterem Bruder Pietro Ludovico Borgia (1462-1488), dem Vater der beiden, Rodrigo Borgia (1431-1503, als Papst Alexander VI . ab 1492), zu dem Erzieher Cesare Borgias, dem mallorquinischen Kanoniker Sperandeu Spanyol, sowie zum spanischen Botschafter Bernardino López de Carvajal (1456-1523). Paolo Pompilio hinter‐ ließ sowohl wissenschaftliche Abhandlungen wie den neuplatonischen Dialog De vero et probabile amore (1487), die poetologische Schrift De Syllabis (1488) oder das geo-historiographische Traktat Barcino (1491) als auch poetische Werke wie die Odyssea (1486) oder panegyrische Schriften wie Panegyricum carmen ad Carvajales (1488) oder De Triumpho Granatensi (1490) (cf. Wouter 2015: 697-699). Eine Stellungnahme zur Diskussion, die fünfzig Jahre zuvor im Vorzimmer des Papstes begann, findet sich in seiner fragmentarischen Schrift Notationes (1485). Dabei erscheint ein vergleichbares Szenario ein zweites Mal, wie Pom‐ pilio selbst darlegt, denn in der Villa des Rodrigo Borgia (Cardinalis Valentini Rodorici Boriae) in Rom wird auf die 1435 erstmals aufgeworfene Frage zur an‐ tiken Sprachsituation direkt Bezug genommen. Pompilio berichtet in einer der Notationes (I, 20; 2008: 272-273), wie er in besagtem Palazzo eine Diskussion mit dem humanistischen Gelehrten und Freund Gerolamo Pau (Hieronymus Paulus Barcinonensis) sowie einem weiteren Unbekannten über das angesprochene 457 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 742 „Vetus, inquit, quaestio haec ac potius altercatio est, meminique legisse et Flavii Blondi epistolam ad Leonardum de hac re, et alteram Philelphi, et tertiam Varini, in quibus disputant an lingua latina ingenita sit in Latio fueritque olim promiscua omnibus, ut infantes a nu tricibus finitis vocibus loqui discerent“ (Pompilio, Notat. I, 20, 4). 743 Filelfo greift dieses Argument Poggio Bracciolinis ebenfalls wieder auf, bei Valla hin‐ gegen findet eine terminologische Differenzierung zwischen romana lingua und latina lingua statt (cf. Marchiò 2008: 274, FN 3 und cf. Kap. 6.2.7 u. Kap. 6.2.8). Thema führt. Der anonyme Gesprächsteilnehmer vertritt hierbei ganz offen‐ sichtlich die Position Brunis, d. h. er geht von einer seit der Antike bestehenden Diglossie von einem literarisch zu verstehenden Latein im Sinne der grammatica und einem volgare ähnlich dem zeitgenössischen aus. Is itaque contendebat, magno idiotarum quorundam qui aderant assensu, semper in Latio duas fuisse linguas, alteram litteratam, ut ipse loquebatur, alteram vero vul‐ garem; hoc est, qua litterati uterentur, sed latinam intelligebat, et qua reliqui. (Pom‐ pilio, Notat. I, 20, 2; 2008: 272) Dabei formuliert er den Gegensatz mit den gleichen Termini wie einst Bruni, d. h. der vulgaris lingua des Volkes stellt er eine litterata lingua der Gelehrten gegenüber (cf. Kap. 6.2.3.1) und postuliert, daß dieser diglossische Zustand in der Region Latium schon immer so gewesen sei (semper in Latio duas fuisse linguas). Dem hält nun Gerolamo Pau, der wohl auch die Meinung Pompilios vertritt, entgegen, daß er die Schriften von Biondo, Filelfo und Guarino gelesen hätte, die deutlich machen würden, daß früher bereits die Kinder das Lateinische von ihren Ammen gelernt hätten und die lingua latina bei allen Sprechern des rö‐ mischen Volkes in dieser Region verbreitet gewesen sei. 742 Im Folgenden führte er dann nochmal explizit an, daß schon zu Zeiten von Romulus, als es auch non keine Grammatiker gab, alle Einwohner von Latium Latein sprachen (omnes latine locutos). Hoc autem ita fuisse maxime coniici potest quod in monumentis est olim grammaticos non fuisse, sed vel Romuli tempore omnes latine locutos, ut haec lingua in Latio in‐ genita intelligatur. (Pompilio, Notat. I, 20, 5; 2008: 272) Pompilio referiert hier relativ eindeutig die Idee Poggios, daß das Lateinische die autochthone Sprache der Region Latiums sei, ohne ausdrücklich dessen zu‐ grundeliegende Begründung einer Namensverwandtschaft anzuführen. 743 Inte‐ ressant erscheint dabei, daß Pompilio explizit eine schriftlose frühe Zeit (Romuli tempore) von einer durch die Schriftsprache geprägten unterscheidet und damit deutlich macht, daß die Römer auch bereits zu Zeiten der Gründungsphase ihrer 458 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 744 „Coepit autem corrumpi tempore M. Varronis et presertim a militaribus […]“ (Pompilio, Notat. I, 20, 10; 2008: 272). 745 Die Gepiden (lat. Gepidae, Gepidi) sind ein mit den Goten verwandter germanischer Stamm, der in Teilen aus dem ursprünglichen Siedlungsgebiet an der Weichsel nach Süden zog und im 3. Jh. n. Chr. in der Provinz Dacia erscheint. Im Weiteren finden sich Gepiden in Kämpfen mit den Westgoten verwickelt, geraten im 5. Jh. unter hunnische Herrschaft und stabilisieren schließlich ein Reich zwischen Donau und Theiß, bis sie im 6. Jh. den Langobarden unterliegen und sich auflösen (cf. Neue Pauly 1998 IV: 946-947). Stadt etwas gesprochen hätten, was als Latein zu bezeichnen sei. Hierbei klingt in gewisser Weise die historische Betrachtungsweise Guarinos an, der verschie‐ dene Phasen der Sprachentwicklung angenommen hat. Diese Referenz wird auch bei dem Thema des Sprachwandels deutlich, den Pompilio anspricht. Hierbei bemüht er wie Guarino das Model von Isidor von Sevilla, den er auch namentlich in seinen Ausführungen erwähnt. Advenientibus postea in Italiam Gotis, Vandalis, Hunnis, Alanis, Gepidis et demum Longobardis quottidianaque colluvie ad urbem confluente omnis penitus latinae lo‐ cutionis consuetudo convulsa est, praecipueque post divi Constantini tempora. Isi‐ dorus quidem Carthaginensis declinante imperio sub Eraclio ostendit linguam la‐ tinam, quae olim vulgo integra fuerat, vulgarem peperisse ob commertia truncatam et contortam. (Pompilio, Notat. I, 20, 11-12; 2008: 272-273) Pompilio greift also prinzipiell auf die Korruptionsthese Biondos zurück, um den „Verfall“ des Lateinischen zu erklären. Dabei situiert er wie Guarino unter Be‐ rufung auf Isidor die Phase des größten Einflusses der Barbaren in der Spätan‐ tike, und zwar genauer in der Zeit nach der Regierung Kaiser Konstantins (post divi Constantini tempora). Allerdings gibt er auch zu bedenken, daß die ersten Anzeichen der corruptio bereits zu Zeiten Varros bemerkbar waren, nämlich vor allem durch die Soldaten. 744 Hier referiert er indirekt auf einen sermo cast‐ rensis, d. h. eine schwer einzuordnende Varietät einer spezifischen Berufsgruppe, die man diaphasisch als Teil einer allgemeinen Umgangssprache oder diastra‐ tisch (oder diakoinonisch, cf. Kap. 3.1.3) bzw. diatechnisch als Gruppensprache (d. h. Technolekt ,Soldatensprache‘) identifizieren kann (cf. Kap. 4.1.2.2). Was die Flut der Invasoren anbelangt, die das Sprachgemisch verursacht (colluvie ad urbem confluente) und den Gebrauch des Lateinischen tiefgreifend verändert hätten, so greift er bezüglich der Aufzählung neben den als kanonisch zu betrachtenden Goten, Vandalen und Langobarden auch auf die bei Filelfo erwähnten Hunnen (cf. Kap. 6.2.7) sowie auf die bei Crivelli (v. supra) ange‐ führten Alanen und schließlich noch auf die bisher nicht genannten Gepiden zurück. 745 Pompilio belegt daraufhin seine Ausführungen zum Sprachwandel 459 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 746 Mit den Walachen (Exonym für die romanische Bevölkerung) referiert Pompilio un‐ zweifelhaft auf die Rumänen und deren romanische Sprache; die weitgehende Gleich‐ setzung mit den Dakern (lat. Daci) ist allerdings aus heutiger Sicht nicht haltbar, da diese als ein vorrömisches Volk anzusehen sind, deren Sprache ein eigener Zweig des Indogermanischen repräsentiert, wohl eng verwandt mit dem Thrakischen. Die Daker waren nach ihrer teilweisen Unterwerfung durch die Römer (cf. aber Daci liberi) na‐ mensgebend für die dort errichtete römische Provinz Dacia (106-271 / 272 n. Chr.) (cf. Haarmann 2005: 85-86). 747 „[…] et in Iudaea nunc multis in locis esse qui latine loquuntur, atque quosdam ex accolis Caspii maris […]“ (Pompilio, Notat. I, 20, 18; 2008: 273). 748 Unter den weit entfernten Regionen, in denen das Lateinische verbreitet gewesen sei, erwähnt er auch das (für ihn reale) mythische Thule als geographischen Extrempunkt (quae vel in Thilen; cf. Pompilio, Notat. I, 20, 18; 273). anhand von Belegen antiker Autoren, und zwar namentlich von Hieronymus, Augustinus und Sidonius Apollinaris. Hierbei sei beispielhaft der wohl intendierte Beleg bei Hieryonymus aus seinem Commentariorium in epistolam ad Galatas herausgegriffen: „Unum est quod inferimus, et promissum in exordio reddimus, Galatas, excepto sermone Graeco, quo omnis Oriens loquitur, propriam linguam eamdem pene habere quam Treviros, nec referre, si aliqua exinde corruperint, cum et Afri Phoenicum linguam nonnulla ex parte mutaverint, et ipsa Latinitas et regionibus quotidie mutetur et tempore“ (Migne PL 26, 382C-383A; der gesamte Comment. ibid. 331-468). Dieser Passus ist linguistisch mehrfach interessant, da er erstens die Verwandtschaft der Galater mit den Kelten um Trier (Treveri) deutlich macht, zweitens einen Einfluß indigener nordafrikanischer Sprachen auf das Phönizi‐ sche postuliert sowie drittens die Veränderlichkeit des Lateinischen in Raum und Zeit hervorhebt. Neben diesen Superstratvölkern und ihrem Einfluß schildert er zudem noch die Situation in den östlichen Teilen des Imperiums, wo das Lateinische sich ebenfalls verändert habe. So stellt er fest, daß auch in der Gegend, wo die Daker (Dacos) wohnten, die er mit den zeitgenössischen Walachen (Vallachos) identi‐ fiziert, 746 sowie bis zur ehemaligen römischen Provinz Moesia inferior, südlich der Donau, eine Region, die nun türkisch besetzt sei, ebenfalls eine Sprache gesprochen werde, die auch lateinischen Ursprungs sei. Des Weiteren führt er Zeugnisse an, daß das Lateinische einst auch in der Provinz Iudaea sowie am Kaspischen Meer (Caspii maris) gesprochen wurde. 747 Schließlich greift er noch nach Westen aus und bestätigt das korrumpierte Latein in Spanien und Frank‐ reich (cf. Pompilio, Notat. I, 20, 16-20; 2008: 273). 748 In einer anderen Notiz seiner Aufzeichnungen berichtet Pompilio dann noch von einem spanischen Kaufmann, der berichtet hätte, daß in Nordafrika in der ehemaligen Provinz Numidia, westlich von Karthago, ein ähnliches „korrum‐ 460 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 749 „Regio illa quinque diariis distat ab agro Carthaginensi, ubi Tunis nunc est, ex quo latini nominis fuit Africa. Idioma hic priscum servatum est et in insula, quamvis valde cor‐ ruptum“ (Pompilio, Notat. III, 6, 2; 2008: 277). 750 Cf. dazu den Auszug aus De accentibus bei Dionisotti (1968: 35-36), bei dem das Kapitel De Iotacismo et labdacismo et zatacismo aliisque vitiis pronuntiandi apud multas nationes abgedruckt ist, in dem Pompilio zum einen klar zwischen provincia und urbs bzw. au‐ tochthonem Territorium der latinitas unterscheidet und zum anderen zahlreiche römi‐ sche Provinzen und Städte nennt. Cf. auch Tavoni (1984: 191): „[…] ciò che Pompilio di fatto registra sono pronuncie regionali del latino nelle quali affiorano le fonetiche dei rispettivi volgari.“ Pompilio beschreibt verschiedene lautliche Phänomene der zeitge‐ nössischen Romanen bei der Aussprache des Lateinischen (sic! ). 751 Inwieweit die Kenntnisse der Schriften des Disputes solche des Gerolamo Pau sind oder auch solche von Pompilio selbst, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt jedoch genug weitere Indizien in den Texten Pompilios, die anzeigen, daß er mit der Diskussion grundsätzlich vertraut war (cf. Tavoni 1984: 184-185). piertes“ Latein wie in Sardinien (in insula) gesprochen würde (cf. Pompilio, Notat. III , 6, 1-3; 2008: 277). 749 Hierbei handelt sich allerdings nicht um eine Latinität bzw. Romanität im Sinne einer Romania continua, sondern um ligurische Kaufleute bzw. Handels‐ niederlassungen im heutigen Tunesien (ab dem 12.-13. Jh.), so daß an der nord‐ afrikanischen Küste das Genuesische im 15. Jh. lingua franca war (cf. Toso 2017: 447). Der Vergleich mit Sardinien in diesem Kontext könnte sowohl auf die Archäizität des Sardischen abheben, als auch auf die ehemaligen Genueser Ko‐ lonien (z. B. Alghero bis 1353). Pompilio hat eine relativ ausdifferenzierte Vorstellung von den römischen Provinzen des Imperium Romanum, wie auch sein Traktat De accentibus (1488) nahelegt, in dem er unterschiedliche Aussprachegewohnheiten des Lateinischen skizziert, die allerdings auf rein zeitgenössischen Beobachtungen beruhen. 750 Die Aufzählung der fernen Weltgegenden dient Pompilio dazu, die Mutter‐ sprachlichkeit des Lateinischen aufzuzeigen, die Einheit der Sprache und deren ehemals weite Verbreitung. Tavoni (1984: 183) spricht bezüglich Pompilio von der linea Biondo, was zweifellos korrekt ist, auch deshalb, weil er ja relativ deut‐ lich Bruni widerlegen möchte. Dennoch ist hervorzuheben, daß seine Argu‐ mentation vor allem Poggio und im weiteren Guarino und Filelfo folgt. 751 Als gebürtiger Römer ist ihm die Autochthonie des Lateinischen besonders wichtig (cf. Mazzocco 1993: 199), was wiederum zeigt, wie entscheidend in dieser Debatte die jeweilige Verankerung in den verschiedenen humanistischen Zentren ist sowie der damit verbundene Blickwinkel im Zusammenspiel mit persönlichen Affinitäten. Pompilio ist nicht nur deswegen interessant, weil hier bereits vor‐ gebrachte Argumente früherer Protagonisten sichtbar werden, sondern weil die Lebendigkeit der Debatte auch fünzig Jahre nach ihrer Genese deutlich wird und 461 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 752 Diese Anstellung erhielt er vermutlich über den mit ihm befreundeten Pico della Mi‐ randola (1463-1494), der ebenfalls Schüler von B. Guarino war. 753 Die von Manuzio gegründete Druckerei Aldina wurde von seinen Nachfahren fortge‐ führt (1449-1515); die Druckerzeugnisse mit Innovationen wie neuen Drucktypen und dem handlichen Oktavformat wurden als Aldinen in ganz Europa bekannt (erkennbar an der marca tipografica des Ankers mit Delphin und dem Motto festina lente) (cf. Lowry 1999: 36-37). Hauptsächlich wurden lateinische und griechische Bücher verlegt, aber auch der Canzoniere von Petrarca (1501) und die Divina Commedia von Dante (1502), was nicht unwesentlich zur normativen Fixierung des Trecento-volgare beitrug. ihre Variabilität. Pompilio führt wiederum kleine neue Bausteine in die Diskus‐ sion ein oder modifiziert bekannte Elemente: Er betont die Einheit des Lateins vor dem Aufkommen der normierten Schriftlichkeit, erstellt ein Inventar mit Superstratvölkern, die ein „neues“ beinhaltet, und referiert über noch „exoti‐ schere“ Weltgegenden, in denen Latein gesprochen wurde bzw. heute noch in „korrumpierter“ Form überlebt hat. Es sei diesbezüglich das recht harsche Urteil Mazzoccos (1993: 243, FN 133: „Pompilio provides nothing more than a rehashing of the views of his prede‐ cessors“) ein wenig abgemildert bzw. revidiert, denn - wie dargelegt - ist Pom‐ pilio zwar keiner der Hauptprotagonisten der Debatte, aber dennoch ein nicht unwichtiger Beiträger mit im Detail eigenen Schwerpunktaspekten. Aldo Manuzio Ein weiterer, eher indirekter Beitrag zur vorliegenden Debatte um die antike Sprachenfrage führt zu Aldo Pio Manuzio (lat. Aldus Pius Manutius) (ca. 1449 / 1450 / 1452-1515), einer der Schlüsselfiguren der Renaissance und des Hu‐ manismus. Über den biographischen Werdegang Manuzios ist nicht allzu viel bekannt: Geboren in Bassiano, südöstlich von Rom, studierte er zwischen 1467 und 1475 in Rom, wo er unter anderem bei Domizio Calderini (1446-1478) La‐ teinunterricht und Gaspare Veronese (Gaspare da Verona, ca. 1400-1474) Rhe‐ torik genoß sowie das erste Mal im Rahmen seines universitären Studiums über das aus Deutschland stammende Verfahren des Buchdrucks Kenntnis erlangte. Ab 1475 wechselte er nach Ferrara, wo er bei Battista Guarini (1434-1513), dem Sohn Guarino Guarinis, weitere humanistische Studien betrieb und Griechisch lernte. Die Jahre zwischen 1480 und 1490 verbrachte er als Hofbibliothekar und praeceptor bei Alberto Pio III . (1475-1531) in Carpi bei Modena, 752 bevor er ab 1490 in Venedig wirkte. Dort wurde er zu einem der wichtigsten europäischen Buchdrucker, der einen maßgeblichen Einfluß auf die Verbreitung humanisti‐ schen Gedankengutes hatte. 753 Er gründete in seinem Haus nach griechischem Vorbild eine Gelehrtengesellschaft (Academia bzw. Neacademia), in der wohl vor allem über Literatur diskutiert wurde. Zudem machte er sich mit eigenen bil‐ 462 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 754 Manuzio pflegte Kontakt zu den maßgeblichen Gelehrten seiner Zeit wie neben dem erwähnten Pico della Mirandola auch zu seinem Schüler Ercole Strozzi (1471 / 1473-1508) sowie zu Angelo Poliziano (1454-1494), Pietro Bembo (1470-1547), Johannes Reuchlin (1455-1522) und Erasmus von Rotterdam (1466 / 1469-1536). dungstheoretischen Abhandlungen einen Namen, in denen er sich für eine Er‐ ziehung nicht nur anhand der lateinischen Sprache und Literatur, sondern gleichzeitig auch für das Griechische einsetzte. Seine wichtigsten Schriften sind dabei Musarum panegyris (1490), Institutiones grammaticae Latinae (1493) und Grammaticae institutiones Gracae (1515) (cf. Wolkenhauer 2012: 776-777). 754 Aldo Manuzio sei an dieser Stelle erwähnt, obwohl er kein direktes Zeugnis zur Diskussion über die Antike liefert, weil er als Indikator für ein verändertes Verständnis des Lateinischen als allein dominierende Kultursprache dient. Im lateinisch gehaltenen Vorwort seines griechischen Kompendiums Thesaurus Cornucopiae et Horti Adonidis (1496) spricht er sich für die Überlegenheit des Griechischen gegenüber dem Lateinischen aus. Die intensive Auseinanderset‐ zung mit dem Griechischen, die im Laufe des 15. Jh. schließlich entsprechende Auswirkungen im Denken der Humanisten nach sich gezogen hat, wird hier sichtbar, zumal Manuzio ja durch seinen Lehrer Battista Guarini in der direkten Tradition von Guarino Guarini zu verorten ist (v. supra), einer derjenigen, der das Griechische im rinascimentalen Italien verbreitet hat und der wiederum in direkter Filiation zu dem wichtigsten „Katalysator“ griechischer Kultur dieser Zeit, Manuel Chrysoloras, steht (cf. Kap. 6.2.5). Manuzio liefert in besagtem Vorwort Aldus Manucius Basianas Romanus stu‐ diosis omnibus S. P. D. eine relativ detaillierte Bestandsaufnahme griechischer Dialekte bzw. des historischen (sowie zeitgenössischen) Verbreitungsgebietes der griechischen Sprache. Linguarum praeterea meminit Atticae, Ionicae, Aeolicae, Doricae, Boeticae, Cretensis, Cypriae, Macedoniae, Tessalae, Rheginae, Siculae, Tarentinae, Chalcidicae, Argivae, Laconicae, Syracusanae, Pamphyliae, Atheniensis quibus ubi Graeci poetae inveni‐ untur & Homerus praecipue. (Manuzio, Thes. II; 1496: 2 s. p.) Die Tatsache, daß es Manuzio in erster Linie um den schriftsprachlichen Ge‐ brauch geht, zeigt sich daran, daß er von den Graeci poetae bzw. Homer spricht. Dennoch - und das zeigt das gewandelte Verständnis in Bezug auf die kanoni‐ sierten Schriftsprachen - ist für ihn eine diatopische Variationsbreite und Va‐ riabilität kein Problem, sondern sogar ein Vorteil (cf. Dionisotti 1968: 2). Aus dieser im Vergleich zum Mittelalter und dem Beginn des Lateinhumanismus 463 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 755 Der direkte Vergleich des Griechischen bzw. seiner Dialekte mit dem italienischen volgare ist nicht ganz gewöhnlich. 756 Manuzio betont gerade nicht wie Poggio Bracciolini oder Pompilio die Einheit des La‐ teinischen, sondern die daraus erwachsene Vielfalt (cf. Ellena 2011: 91). veränderten Einstellung geht auch ein unvoreingenommenerer Blick auf das italienische volgare und seine Vielfalt hervor. 755 Imitamur tamen hanc linguarum varietatem et copiam lingua vulgari. Non enim eadem est Romanis lingua, quae Parthenopaeis quae Calabris, quae Siculis. Aliter Flo‐ rentini loquuntur, aliter Genuenses. Veneti a Mediolanensibus lingua et pronuntia‐ tione multum intersunt. Alius Brixianis alius Bergomatibus sermo. Quod latine caput, vulgo Romani capo appellant. Veneti vero abiectione p litterae per concisionem dicunt cao. At qui Padum accolunt, ex ao crasin facientes, co. Item cenato, cenao, cenò, et id genus innumera. (Manuzio, Thes. II; 1496: 2 s. p.) Anhand des Beispiels von lat. caput und seinen volkssprachlichen Realisie‐ rungen in verschiedenen Varietäten der zeitgenössischen Volkssprache zeigt er relativ objektiv die diatopische Vielfalt des Italienischen auf (cf. Coseriu / Meis‐ terfeld 2003: 179) bzw. bewertet sie durch den Begriff der copia ,Fülle, Reichtum‘ durchaus als positiv (cf. Ellena 2011: 91). Dabei ist durchaus bemerkenswert, daß er dem Florentinischen keinen besonderen Status beimißt, was wohl einerseits aus seiner humanistischen Perspektive mit einer grundsätzlichen Bevorzugung der alten Sprachen zusammenhängen könnte (cf. Dionisotti 1968: 2-3), und zwar im Gegensatz zu traditionellen Verfechtern des umanesimo latino mit einer we‐ niger strengen Observanz der latinitas, sowie andererseits mit seinem Sitz in Venedig, wo ebenfalls ein prestigereiches volgare gepflegt wurde. 756 Der Beitrag Manuzios in der vorliegenden Diskussion liegt darin begründet, daß bei ihm die ehemals als invariable grammatica angesehene lateinische Sprache, die durch ihre sprachliche Normierung und ihre Literaturtradition mit einem fast unangreifbaren Prestige behaftet war, durch den Vergleich mit dem Griechischen diese Stellung ein Stück weit einbüßt, da er die diatopische Di‐ versität der Gräzität positiv bewertet. Gleichzeitig wird dem Griechischen durch die detaillierte Auflistung seiner Dialekte der Status einer variationsreichen Sprache attribuiert. Der nicht immer eindeutige Zusammenhang von zeitge‐ nössischem Gebrauch und historischer Tiefe bzw. Bedingtheit schmälert diese grundsätzlich relativ unvoreingenommene Perspektive auf das Lateinische, Griechische und das volgare nur wenig. 464 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 757 Die Geschichte der antiken römischen Hafenstadt Aquileia geht auf seinen Aufenthalt in Udine zurück; die Geschichte Venedigs hat kein Geringerer als Pietro Bembo fort‐ gesetzt (1487-1513); die Enneades sind in der historiographischen Tradition Biondos entstanden. 758 Sabellico orientiert sich hier unzweifelhaft an den Enneaden des Neuplatonikers Plotin, dessen Schriftensammlung von seinem Schüler Porphyrios in Neunergruppen geglie‐ dert wurde (cf. griech. ἐννεάς, ‚Neunheit‘), während ansonsten in den Werken der Hu‐ manisten die Decade als Abschnitteinheit vorherrschte. Sabellico Eine kurze Erwähnung in vorliegendem Kontext soll auch Marcantonio Coccio, genannt Sabellico (lat. Marcus Antonius Sabellicus) (1436-1506) zukommen, der aus Vicovaro bei Rom stammte, der historischen Region Sabina in Latium. Zum Studium ging er in das nahegelegene Rom, wo er kurz bei Gaspare Veronese (ca. 1400-1474) und Porcelio Pandone (1409-1485), genannt Il Porcellio, hörte, sowie dann im Folgenden seine humanistische Ausbildung bei Domizio Calderini (1446-1478) und Pomponio Leto (1428-1498) komplettierte. Im Gefolge des Bi‐ schofs von Feltre, Angelo Fasolo (1426-1490, Bsf. v. F. ab 1464), begab er sich nach Udine, um dort zu unterrichten (1472 / 1473-1482). Über eine mögliche Zwischenstation in Vicenza sowie einem Aufenthalt in Verona aufgrund der in Venedig grassierenden Pest, ließ er sich wohl ab 1484 endgültig in Venedig nieder, wo er an der Schule von San Marco lehrte. Im Folgenden wurde er offi‐ zieller Historiograph der Republik sowie Bibliothekar der Stiftungsbibliothek des Kardinals Bessarion (ca. 1399 / 1408-1472; Kard. ab 1439), der späteren Bib‐ lioteca Nazionale Marciana. Seine wichtigsten Schriften sind historiographische Werke wie De vetustate Aquileiae et Foriiulii libri VI (1482), Historiae rerum ve‐ netarum ab urbe condita (1487) oder Enneades sive Rhapsodia historiarum (1498-1504) (cf. Tateo 1982: 510-512). 757 Aufmerksamkeit im Zuge der Debatte um die antike Sprachkonstellation verdient sein historiographisches Werk Enneades, in welchem Sabellico eine Universalgeschichte vom Anbeginn der Welt bis in seine Zeit präsentiert. In einem ersten 1498 publizierten Band (Prima pars) handelt er insgesamt 63 Bü‐ cher ab, die wiederum in sieben Enneaden 758 zusammengefaßt sind und chro‐ nologisch bis zum Untergang des Imperium Romanum reichen bzw. genauer bis zur Plünderung Romas durch die Vandalen (410 n. Chr.), der zweite Band (Se‐ cunda pars) erscheint 1504, ist aber nicht ganz vollständig, insofern er von der elften Enneade nur die ersten beiden Bücher abschließt (cf. Dionisotti 1968: 15-16). In diesem Werk findet sich nun ein Hinweis auf die Korruptions‐ these Biondos, und zwar im Vorwort zur elften Enneade. 465 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 759 „Non dirò che la testimonianza sia imparziale; cʼè da chiedersi se a quella o ad altra data sia possibile trovare in Italia una testimonianza imparziale in materia linguistica. Dirò che non c’è parzialità nazionalistica. È già qualche cosa, e c’è da credere che il Sabellico esprimesse, oltre che la sua, un’opinione media assai diffusa nell’età sua“ (Dionisotti 1968: 17). 760 Cf. dazu Ellena (2011: 147-148), die die Bedeutung der Ausführungen Sabellicos in Bezug auf den norditalienischen Varietätenraum und deren schriftsprachliche Tradition her‐ vorhebt und ihn allgemein, der gängigen Forschungsmeinung folgend in Bezug auf die questione dem eklektischen Modell zuordnet. Italicus sermo neque ille est qui olim fuit, nec ab eo omnino diversus, sed Barbaris vocibus plus minusve adulteratus, ut haec aut illa regio fuit externis gentibus magis obnoxia. (Sabellico, Enn. XI, 1; 1560: 1054) Hier erklärt er also, daß die einzelnen diatopischen Varietäten Italiens, also der Italicus sermo an sich, heutzutage nicht mehr die gleichen seien wie früher, aber dennoch nicht ganz anders, d. h. daß eine gewisse Verwandtschaft bestünde. Mit dem Begriff Italicus sermo scheint Sabellico sowohl die zeitgenössischen regionalen Varietäten zu verstehen, als auch deren historische Dimension im Sinne von antiken latini volgari, ohne dies jedoch näher zu explizieren (cf. Ta‐ voni 1992: 81, FN 32). Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Idiome wiederum rühre daher, daß sie je unterschiedlich stark von barbarischen Wörtern (barbaris vocibus) durch‐ drungen seien, was davon abhänge, wie sehr die jeweilige Region von fremden Völkern (externis gentibus) heimgesucht worden sei. Im Folgenden gibt er einen Abriß der einzelnen volgari Italiens - sein eigent‐ licher Fokus in diesem Passus - mit recht detaillierter Nennung verschiedener diatopischer Makro- und Mikrovarietäten (einzelne Städte und Regionen) und deren Wertung in Bezug auf ihre Eigenart (alienum sonat) oder ihren Wohlklang (dulcior auditu) (cf. Ellena 2011: 148). Dabei ist auffällig, daß insbesondere das Venezianische positiv dargestellt wird, zum Teil auch die Mundart Roms, das Toskanische im Gegenzug jedoch nicht besonders hervorgehoben wird (cf. Co‐ seriu / Meisterfeld 2003: 181). Wie auch Manuzio ist hier der Wahl-Venezianer Sabellico wohl von dem Lokalpatriotismus und auch dem sprachlichen Selbst‐ bewußtsein der Lagunenstadt beeinflußt, die als Serenissima Repubblica di San Marco entsprechende politische und damit auch sprachliche Strahlkraft hat. 759 Abgesehen von der Einstellung Sabellicos in Bezug auf die italienische Volks‐ sprache, die insbesondere im Rahmen der traditionellen questione della lingua interessant ist, 760 beweist dieser Passus in dem hier relevanten Kontext die be‐ reits feste Etablierung der Barbarenthese Biondos, die wie selbstverständlich als Erklärungsmuster eines Sprachwandels herangezogen wird. In der hier zitierten 466 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Passage sind zwar keine „Barbarenvölker“ explizit genannt, doch dem Histori‐ ographen Sabellico ist zweifellos bewußt welche hier für die „Verderbnis“ (v. supra obnoxia) der Sprache verantwortlich sind, wie aus seinen geschichtlichen Ausführungen an anderer Stelle in den Enneades hervorgeht: cf. z. B. quo Roma a Gothis capta est (Enn. VIII , 1; 1560 II : 417); cum Gothis in terra Italia debellatum (Enn. VIII , 5; 1560 II : 506) oder auch am Ende des ersten Buches der achten En‐ neade: Fuit hic annus quo Roma est a Vandalis direpta, octavus et quadragesimus ab eo quo eam Visigothi, Alarici ductu, ceperant (Sabellico, Enn. VIII, 1; 1560 II: 441) In Bezug auf die Antike bzw. die Völkerwanderungszeit äußert sich Sabellico nicht weiter zur Sprachsituation, insofern kann man konstatieren, daß er nicht direkt in die Diskussion um das antike Latein und die Sprachentwicklung ein‐ greift, doch aus seinem Kommentar zu den Volkssprachen Italiens und deren mutmaßlicher Entstehungsgeschichte wird deutlich wie die 1435 aufgeworfene Frage und ihre Erklärungsansätze bzw. ihre Ergebnisse ins 16. Jh. weitertradiert werden. Andrea Alciato Dies gilt noch vielmehr bezüglich des letzten in diesem Kontext zu betrach‐ tenden Autors, nämlich (Giovanni) Andrea Alciato (lat. Andreas Alciatus) (1491-1550), der noch um einiges ausführlicher die Debatte ein weiteres Mal aufgreift. Alciato aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Mailand bekam seine humanistische Ausbildung zunächst in seiner Geburtsstadt, bevor er dann an die Universitäten Pavia (1507), Bologna (1511) und schließlich Ferrara wechselte, um Rechtswissenschaften zu studieren und diese mit einem Doktorgrad in zi‐ vilem und kanonischem Recht (diritto civile, diritto canonico) abschloß (1516). Im Verlauf seines Lebens war er dann hochdotierter Lehrer für ius an den Uni‐ versitäten von Avignon (1518-1522, 1527-1529), Mailand (1522-1527), Bourges (1529-1533), Pavia (1533-1537, 1546-1550), Bologna (1537-1542) und Ferrara (1542-1546). Er gilt als Begründer der humanistischen Jurisprudenz und einer eigenen juristischen Schultradition, die vor allem in Frankreich fortgesetzt wurde (cf. mos gallicus). Unter seinen Schriften, die vor allem rechtswissen‐ schaftliche umfassen, finden sich jedoch auch antiquarische, historische und philologische: z. B. die epigraphische Sammlung Monumentorum veterumque inscriptionum, quae cum Mediolani tum in euis agro adhuc extant collectanea, libri duo (1508), Kommentare und Vorlesungen zum Corpus Iuris Civilis ( CIC ) bzw. im engeren Sinne zu den Digesten (Pandekten) wie die Annotationes in tres 467 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 761 Alciato entwickelt einen neuen Ansatz in der Interpretation juristischer Texte, indem er ausgehend von seinen historischen und philologischen Kenntnissen juristische Texte nicht rein analytisch textimmanent interpretiert, sondern diese mit Hilfe der Erkennt‐ nisse aus anderen Quellen, sowohl Schriften als auch Monumenten, plausibel macht (cf. Classen 2003: 13). posteriores libros Codicis Iustiniani (1515) oder das Opusculum quo graecee dic‐ tiones fere ubique in Digestis restituuntur (1515), zu juristischen Termini Studien wie die Praetermissa (1518), De verborum obligationibus (1519) oder De verborum significatione (1530), die philologische Studie Annotationes in Tacitum (1517), zu juristischen Problemfällen die Paradoxa iuris civilis (1518) sowie ein Buch zur Emblematik, das Emblematum liber (1531) (cf. Abbondanza 1960: 69-74; Grendler 1999b: 35-36). 761 Ein interessanter Hinweis zur hier behandelten humanistischen Diskussion findet sich nun in den Praetermissorum libri duo bzw. Praetermissa von 1518, und zwar im ersten Buch, in dem unter dem Stichwort S E R M O LATIN U S eine Kurzzu‐ sammenfassung des Streites um die Sprache apud veteres Romanos geliefert wird. Dubitatum fuit, num apud veteres Romanos illud esset loquendi idioma in usu, quo in praesentia vulgo omnes per Italiam loquimur: quaque dialecto Dantes Alingeri, Pet‐ rarcha, Ciccus atque alij rhythmos scripsere: et Leonardus Aretinus, Poggiusque, etiam tum vulgari sermone usos antiquos existimaverunt. Contra disseruit Philelphus epistol. libro nono et rursus XXXVII. cuius sententiam omnes docti in praesentiarum probant. Fuisse enim sermonem qui Latinus diceretur, non aeque comptum, sicut alium, qui ex traditionibus grammaticorum constabat. Vulgum itaque Latine loqui solitum, sed non salva ratione recti sermonis: doctos vero viros etiam grammatices documenta servasse. (Alciato, Praet. I, s. v. sermo latinus; 1582: 265) Alciato synthetisiert die Fragestellung und nennt gleichzeitig einige der wich‐ tigsten Autoritäten in dieser Angelegenheit, und zwar namentlich Bruni, Poggio und Filelfo, merkwürdigerweise jedoch nicht Biondo als den Opponenten zu Leonardus Aretinus. Interessant ist auch, daß er die Sprache Dantes und Pet‐ rarcas - und bemerkenswerterweise in dieser Aufzählung nicht wie erwartbar auch Boccaccios, sondern Cecco Angiolieris - als Dialekt (dialecto Dantes Alin‐ geri) bezeichnet. Alciato skizziert dabei also zunächst die These Brunis, daß dieser Dialekt, also das zeitgenössische Toskanische bzw. Florentinische oder allgemeiner die Volkssprache(n) Italiens (vulgo omnes per Italiam loquimur) in dieser Form, d. h. als sermo vulgaris, bereits bei den Römern der Antike existiert hätte. Als Gegenmeinung führte er nun Filelfos Auffassung an, die auch die meisten der Gelehrten nun vertreten würden (cuius sententiam omnes docti in praesentiarum probant). Es hätte also - und dem schließt Alciato sich an - bei 468 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen den Römern früher eine Sprache gegeben, die man als Latein bezeichnen würde (sermonem qui Latinus diceretur) und die von allen gesprochen wurde, dabei allerdings nicht ganz so elegant gewesen wäre wie die andere (sicut alium), die Sprache der Gelehrten (doctos), und auch nicht alle Grammatikregeln befolgen würde (salva ratione recti sermonis). Alciato führt dann im Weiteren diverse Beispiele an (cf. Penguilly 2014: 178), wie die Tatsache, daß das bei Prokop über‐ lieferte strata, welches im Lateinischen via entsprechen würde, was in der Volkssprache das „richtige“ Wort für ‚Straße‘ sei, im Lateinischen aber das „fal‐ sche“ (in vulgari idiomate verum est, in latino falsum), trotzdem nicht für die These Brunis sprechen würde. Man habe nämlich dabei zu bedenken, daß Prokop (ca. 500-565 n. Chr.), der unter Kaiser Justinian (482-565, Ks. ab 527 n. Chr.) schrieb, ja schon zu einer Zeit lebte, in der die puritas des Latein‐ ischen nicht mehr erhalten war. Damit referiert Alciato indirekt auf die Kor‐ ruptionsthese Biondos und den „Verfall“ des Lateinischen durch die „Barbaren“, d. h. durch die meist germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit. An dem Zeugnis Alciatos läßt sich Verschiedenes ablesen: a) die Präsenz der 1435 entfachten Diskussion auch noch zu Beginn des 16. Jh., b) und zwar durchaus nicht nur auf die ursprünglichen Antagonisten Bruni und Biondo re‐ duziert, sondern mit Protagonisten der folgenden Jahrzehnte, c) die Tatsache, daß sich im Wesentlichen die Position Biondos durchgesetzt hat, d. h. nicht das als Diglossie skizzierte Szenario Brunis, sondern eine postulierte Einheit des Lateinische, mit mehr oder weniger differenzierter Diaphasik bzw. Diastratik, d) es durchaus Nuancen in Bezug auf den Grundgedanken Biondos gab, die jeweils aufgegriffen wurden, hier in der Version von Filelfo, der auch termino‐ logisch eigene Wege geht (cf. sermo latinus vs. sermo litteralis, cf. Kap. 6.2.7). Die nun hier als auctores minores in der vorliegenden Debatte besprochenen Autoren sind unabhängig davon, wie viel Wertigkeit im Sinne einer eigenen Position oder Wichtigkeit im Sinne einer Proliferation der mit dieser Diskussion verknüpften Gedanken man ihnen je zugestehen möchte, allesamt deshalb von Bedeutung, da sich in den zahlreichen Stellungnahmen oder auch nur beiläu‐ figen mehr oder weniger ausführlichen Erwähnungen die Lebendigkeit und Vi‐ rulenz dieser humanistischen Streitfrage zeigt. Auch wenn wie meist bei den auctores maiores die historische Perspektive oft „nur“ als Vehikel zur Kommu‐ nikation einer anderen „übergeordneten“ Position im Rahmen der questione della lingua oder einer spezifisch lateinhumanistischen (cf. umanesimo latino) oder einer historisch politischen (cf. umanesimo civile) dient, ist zum einen ein originäres sprachhistorisches Interesse deswegen nicht ausgeschlossen bzw. durchaus ebenfalls präsent und zum anderen gewinnt die Debatte eine immer 469 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 762 Zur Verwendung der Begriffe prima und seconda generazione cf. Kap. 1.2. stärkere Eigenständigkeit, die auch als solche von den Zeitgenossen wahrge‐ nommen wurde. 6.2.10 Zwischenfazit: Die prima generazione Im Folgenden sollen die einzelnen Positionen der bisher besprochenen Prota‐ gonisten der Debatte um die antike Sprachkonstellation noch einmal resümiert werden und dabei die methodisch getrennt gewonnenen Erkenntnisse aus der Rekontextualisierung und der modernen linguistischen Analyse unter einem sozio- und varietätenlinguistischen Schwerpunkt zusammengeführt werden. Diese Synopse der sogenannten prima generazione der Diskutanten, die sich dadurch auszeichnet, daß zwischen ihnen meist auch persönlicher Kontakt be‐ stand und sie alle in die Epoche des Lateinhumanismus des 15. Jhs. fallen, bein‐ haltet auch diejenigen Autoren, die gegen Ende des Jahrhunderts zur seconda generazione des 16. Jh. überleiten. Diese ist wiederum dann weit mehr durch die eigentliche questione della lingua beeinflußt, was sich auch sprachlich nieder‐ schlägt, da dort das Italienische dominiert. 762 Die hier nur kursorisch behandelten Partizipanten der Diskussion, die im Vorliegenden nicht zu den Hauptvertretern gezählt wurden und größtenteils den Übergang von der prima generazione zur seconda generazione markieren (2. Hälfte des 15. Jhs.), sollen auch in der Zusammenschau entsprechend nur kurz Erwähnung finden. Die Protagonisten der Debatte Der Beginn der Auseinandersetzung um das Latein der römischen Antike wird durch die mündliche Diskussion einiger päpstlicher Sekretäre im Vorzimmer des Papstes Eugen IV . markiert, die ihren Niederschlag in den kurz hintereinander erscheinenden Traktaten von Flavio Biondo und Leonardo Bruni findet, wobei beide noch im Jahr der Diskussion 1435 verfaßt werden. Da die Schrift von Bruni eher kurz gehalten ist und einige seiner Aussagen „nur“ durch die Wiedergabe von Biondo oder anderen, die ihn später aufgriffen, überliefert sind, gibt es be‐ reits unter den Zeitgenossen eine gewisse Uneinigkeit über Brunis „wahre“ An‐ sicht zu diesem Thema, was sich auch in der modernen Forschungsliteratur wi‐ derspiegelt, wie der von Marazzini (1993a: 263) geprägte Begriff der tesi pseudo-bruniana beweist. Dies zeugt aber vor allem von einem grundsätzlichen Problem im Umgang mit den vorliegenden Texten zu dieser Debatte, nämlich die Frage nach der her‐ 470 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen meneutischen Zielsetzung: Geht es um die Rekonstruktion der grundsätzlichen Ansicht und Meinung eines Autors zu diesem Thema oder um die reine Inter‐ pretation des zugrundeliegenden Textes? Im Idealfall sollte sicherlich beides er‐ faßt werden, inklusive möglicher Widersprüche, doch soll in vorliegender Un‐ tersuchung der Fokus auf die Textinterpretation gelegt werden und weitere Schlüsse zu einem eventuell von der an den Schriften orientierten Auslegung abweichenden Standpunkt sollen klar getrennt bzw. als spekulativ gekenn‐ zeichnet werden. Unter Berücksichtigung dieses hier noch einmal kursorisch angesprochenen Problems (cf. Kap. 3.2) sei die Position von Bruni aus seinem Brief An vulgus et literati (1435) in dieser Debatte wie folgt resümiert: Ausgehend von der zeitge‐ nössischen Sprachsituation überträgt er diese relativ unmittelbar auf die Antike, so daß sich für ihn eine deutliche Trennung von Schriftsprache und Mündlich‐ keit im Sinne einer Funktionsaufteilung der Sprachen ergibt. Analog zur zeit‐ genössischen Diglossie von vorwiegend mündlich gebrauchter italienischer Volkssprache (volgare) und schriftsprachlich dominierendem Latein (latino), läßt sich auch seine Vorstellung von der Antike als im Wesentlichen diglossisch in‐ terpretieren. Bei ihm sind mittelalterliche Konzepte (cf. Kap. 6.1.5) - wie sie auch bei Dante zu finden sind - zum normierten, unveränderlichen und überzeitli‐ chen Latein im Sinne einer Universalsprache mit maximalem Prestige in der Literatur und den Wissenschaften im Gegensatz zu den natürlichen und verän‐ derlichen Volkssprachen deutlich sichtbar, klingen bei ihm doch Unterschei‐ dungen von ars vs. natura an und dementsprechend differenziert er die streng regulierte grammatica von einem volgare. So geht für Bruni auch in der Antike das Lateinische mit einer Sprache der Gebildeten einher, was auch in seiner Terminologie deutlich wird (cf. latine litterateque loqui). Es liegt demgemäß eine schichtenspezifische Komponente vor, denn den sermo litteratus gebrauchen nur die docti und litterati, während der sermo vulgaris das Idiom der indocti und illiterati ist. Diese Dichtomie spiegelt sich auch in dem Begriffspaar nobiles vs. ignobiles wieder, wobei zu letzterer Kategorien auch Frauen und diverse niedere Berufsgruppen gehören. Bruni argumentiert dabei aus der Position eines La‐ teinhumanisten heraus, für den die Verteidigung der lingua latina als universale Distanzsprache oberste Priorität hat, er ist Grammatiker und vor allem Stilis‐ tiker, der für seinen ornatus bekannt ist und dementsprechend urteilt und kate‐ gorisiert. Als Stilistiker kann er unter Umständen auch einem volgare etwas abgewinnen, sei es zeitgenössisch oder antik, wenn es entsprechend elaboriert ist, doch das Prestige des Lateinischen ist für ihn unbedingt zu verteidigen, eben auch durch dessen historisch zu begründende, singuläre Position. 471 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Dieser, wenn man so will, relativ konservativen Anschauung steht die Posi‐ tion von Flavio Biondo aus De verbis Romanae locutionis (1435) gegenüber, der grundsätzlich bemüht ist, eher aus der Historie selbst heraus zu argumentieren. Die lateinhumanistische Prägung ist prinzipiell auch bei ihm gegeben, jedoch entwickelt er mit Hilfe der Stilregister der römischen Rhetoriker ein Bild der antiken Sprachsituation, welches weitaus differenzierter ausfällt als das von Bruni gezeichnete. Allerdings bleibt auch bei ihm die Dichotomie von der gram‐ matica der docti und dem vulgare der indocti erhalten, mit dem entscheidenden Unterschied, daß Biondo versucht hier Abstufungen einzuflechten, nämlich die diaphasisch zu deutenden Stilregister (genera dicendi bzw. orationis), die er sich vor allem aus Cicero und teils auch Quintilian herleitet und die er in dieses Gesamtkonzept zu integrieren versucht. Hieraus läßt sich eine Art Kontinuum postulieren - graduelle Abstufungen der lateinischen Sprache (cf. forma poe‐ tica, forma oratoria forma, vulgaris), die diaphasisch-diastratisch zu deuten sind, nicht ganz ohne Bruch -, welches aber die latinitas als Einheit hervorhebt. Damit einher geht der Gedanke von einer zumindest rudimentären Grammatikalität des antiken (und implizit auch des zeitgenössischen) volgare, was zu dieser Zeit noch unerhört war. Zudem präsentiert Biondo mit seiner Idee eines von Barbaren verursachten Niedergangs (declinatio) der lateinischen Kultur, die auch mit einer Verunreini‐ gung der Sprache verknüpft sei, eine Erklärung für die Entstehung des zeitge‐ nössischen volgare und - für seine Zeitgenossen ebenso wichtig - eine plausible Ursache für den Untergang der mit dem Imperium Romanum verknüpften Hoch‐ kultur. Die von ihm im Sinne einer corruptio verstandene Veränderung des La‐ teinischen, läßt sich unschwer als der Ursprung der heutigen Super- und später auch Substrattheorie erkennen. Biondo begreift dahingehend das Lateinische erstmals als lingua viva, indem er entgegen Dante und Bruni nicht nur das volgare als veränderlich schildert, sondern diese Eigenschaft - wenn auch unter den gleichen negativen Vorzeichen - eben auch dem Lateinischen zuspricht. Diesem nur kurz und dennoch prägnant skizzierten Gedanken zur antiken Sprachkonstellation war im Weiteren der größte Erfolg beschieden, aber auch die graduelle Differenzierung der Sprache, die vorsichtig als erster Ansatz einer diasystematischen Architektur im Coseriu’schen Sinne verstanden werden kann, bleibt ein wichtiges Verdienst seiner Darstellung. Die Tatsache, daß die Frage zur Sprache der antiken Römer, die Gelehrten dieser Zeit so umtrieb und zu Traktaten und Invektiven Anlaß gab, hängt zum einen mit dem aufkommenden Interesse an historischen sujets und dem Ent‐ stehen einer Geschichtswissenschaft sowie der allgemeinen Faszination für die Antike zusammen (rinasicmento), zum anderen aber auch mit der zeitgenössi‐ 472 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 763 Zur grundsätzlichen Differenzierung der beiden kulturellen Strömungen der Renais‐ sance und des Humanismus sowie ihre epochenbedingten Gemeinsamkeiten cf. Kap. 6.1.1 vorliegender Arbeit. 764 Der umanesimo civile, der an sich durchaus auch positiv im Sinne einer stadtbezogenen Tradition und Förderung der Kultur und Künste zu sehen ist, kann auch mit einem eher negativ zu verstehenden campanilismo einhergehen bzw. sich zu diesem entwickeln, mit stärkerer Betonung auf Aus- und Abgrenzung sowie der Städterivalität. schen Diskussion im Rahmen des Lateinhumanismus (umanesimo latino), 763 welche Art von Latein für die gehobene Schriftsprachlichkeit die adäquateste sei. Die Positionen reichen von einer Weitertradierung eines variantenreichen Lateins mittelalterlicher Prägung bis hin zu verschiedenen Reformen mit mehr oder weniger großer Hinwendung zu einem an Cicero und / oder Quintilian ori‐ entierten Stil des sprachlichen Ausdrucks. Die historische Debatte diente dabei oft der argumentativen Untermauerung der eigenen Position; entsprechend vorsichtig ist so manche Aussage zu bewerten. Nicht außer Acht zu lassen ist bei den beteiligten Humanisten auch der biographisch-kulturelle Hintergrund im Sinne einer Verankerung in bestimmten Städten (cf. umanesimo civile bzw. campanilismo) und damit auch in verschiedenen politischen Systemen. 764 Auch diese ausgeprägte Rivalität zwischen den Zentren der studia humanitas und ihren fürstlichen oder königlichen Mäzenen spielt eine Rolle, da damit unter Umständen eine je andere Sprachauffassung und Geschichtsinterpretation ver‐ bunden ist. Dies ergibt sich sowohl durch die Prägung innerhalb eines be‐ stimmten kulturell-politischen Umfeldes, als auch durch individuelle Abhän‐ gigkeiten, waren die Gelehrten doch nicht im heutigen Sinne unabhängig, sondern standen fast durchweg im Dienste einzelner dynastischer Herrscher, der Kurie oder einer familien-oligarchisch geprägten Stadt, und zwar mitunter auch in wechselnder Anstellung. Vor dem Hintergrund dieser hier noch einmal kurz skizzierten Faktoren im Rahmen einer zu leistenden Rekontextualisierung sei der chronologisch nächste Protagonist in dieser vorliegenden Debatte mit seiner Sicht auf die Situation kurz resümiert. Es handelt sich dabei um Leon Battista Alberti, der nicht Teil der initialen Vorzimmer-Runde war und sich auch nicht in einem eigens zu dieser Debatte konzipierten Traktat dazu geäußert hat. Seine Anmerkungen zu dieser Diskussion finden sich als ein Vorwort (ca. 1436 / 1437) in seinem Buch über das Hauswesen, den Quattro libri della famiglia (1433-1440), was eine ge‐ wisse Beiläufigkeit signalisiert. Dennoch sind seine Überlegungen hier von Be‐ lang, denn Alberti argumentiert aus einer durchaus anderen Position heraus als seine Vorgänger. Ohne das Latein abzuwerten, ist er ein früher Vertreter des umanesimo volgare, zumindest dahingehend, daß er dem zeitgenössischen vol‐ 473 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini gare eine Grammatikfähigkeit zuspricht und ein gewisses Potential in der Lite‐ ratur. Im Lichte dieser Position im Rahmen der questione della lingua ist auch seine Darstellung der antiken Konstellation zu verstehen; es geht um die pres‐ tigereiche Abstammung der Volkssprache, ihre Eignung als Schriftsprache und um eine Rechtfertigung der Verwendung des Italienischen in ipso librum. Das Latein der Antike bildet für Alberti eine Einheit und als lingua commune war sie für alle Römer, das Volk wie für die Gebildeten, verständlich. Das auch ihm wichtige und hochgeschätzte latino, welches er als cultissima ed emenda‐ tissima lingua bezeichnet, erfährt - außer einer Erwähnung von mündlichem und schriftlichem Gebrauch (Diamesik) - keine weitere diasystematische Dif‐ ferenzierung. Alberti greift in seiner nicht sehr ausführlichen Darstellung die Korruptionsthese Biondos wieder auf, stellt ebenfalls die Unfaßbarkeit des Nie‐ derganges der römischen-lateinischen Kultur dar und erklärt diese ebenso mit dem Einfall der Barbaren. Dabei betont Alberti bei dem sich auf diese Weise vollziehenden Sprachwandel das Prozeßhafte, die allmähliche Veränderung und führt zudem erstmals neben den dafür verantwortlichen Superstratvölkern (Goti, Vandali, Longobardi) ein Substratvolk (Gallici) auf - das Resultat ist eine mistura, eine Vermischung der Sprachen durch die corrutela del proferire seitens der Nicht-native-speaker beim L2-Erwerb. Der Beitrag des Humanisten Guarino Veronese in dem Schreiben De lingue latine differentiis (1449) präzisiert einige bisherige Vorstellungen, andere wie‐ derum, die nicht in seinem Fokus sind, bleiben weniger ausgeführt, denn auch er hat ein eigenes Anliegen, welches sich nicht ausschließlich auf die Erhellung der antiken Sprachsituation bezieht. Guarino postuliert zwar ähnlich wie Biondo und vor allem Alberti eine Einheit der lateinischen Sprache zu Zeiten des alten Roms, jedoch ist ihm im Gegensatz zu Alberti dabei wichtig zu betonen, daß zwischen der Sprache der Gelehrten und der des Volkes deutlich unterschieden wird. Er geht jedoch dabei nicht so weit wie Bruni, dessen Konzept als diglos‐ sisch beschrieben werden kann, sondern seine Anschauung ist eher im Sinne einer diastratisch-diaphasischen Zweiteilung der Sprache zu interpretieren, spricht er doch auch von duobus modis innerhalb der latinitas. Damit unter‐ scheidet er sich zum einen deutlich von Alberti, der ja auch der Sprache des Volkes eine Grammatikfähigkeit attribuiert, denn für Guarino ist die Varietät des vulgus eindeutig sine ratione regulis, ganz im Dante’schen Sinne. Zum an‐ deren ist er aber bezüglich der diasystematischen Auffächerung des Latein‐ ischen nicht so differenziert wie Biondo, der ein rhetorisch inspiriertes, drei‐ stufiges Modell postuliert. Dafür läßt Guarino zudem eine mögliche diatopische Gliederung des Lateinischen anklingen, indem er die Sprache in der Stadt und auf dem Land anspricht (urbanos ac rusticos), auch wenn diese indirekte Unter‐ 474 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen scheidung innerhalb eines sermo vulgaris zu verstehen ist und sicherlich zu‐ sätzlich eine diaphasische Komponente hat (cf. urbanitas, Kap. 4.1.2.3). Guarino läßt zudem seine Erfahrung in der zeitgenössischen gräkophonen Welt mit in seine Darstellung einfließen und argumentiert deshalb gegen Bruni für ein an‐ tikes Latein, welches von allen Bevölkerungsschichten verstanden werden mußte. Wichtig bleibt ihm aber aus traditioneller lateinhumanistischer Haltung heraus der auch diamesisch zu interpretierende Unterschied zwischen einem sermo purus des Lateinischen, der nur durch studio et arte erworben werden kann, und einem Latein als mündlichem Kommunikationsmittel aller Römer. Was den Sprachwandel anbelangt, so schließt sich Guarino im Wesentlichen Biondo an, verankert den „Verfall“ des Lateinischen aber historisch exakter, indem er sich an die vier Epochen der Sprachgeschichte Isidors anlehnt und wie Alberti sowohl ein Superstratals auch ein Substratvolk dafür verantwortlich macht. Das Verhältnis zur zeitgenössischen Sprachsituation bleibt aber in weiten Teilen unklar. Anders als Alberti und Guarino, die zwar als renommierte Vertreter der hu‐ manistischen Gelehrtenwelt im Rahmen des kulturellen Austausches zwischen den Zentren der studia humanitas ebenfalls von dieser Streitfrage um die Antike Kunde erlangt hatten, gehört Poggio Bracciolini mit zu denjenigen, die wie Bruni und Biondo Teil des mündlichen Initialdisputes waren. In seiner Stellungnahme Utrum priscis romanis latina lingua (1450) geht es ihm vor allem um die Wider‐ legung der These Brunis und dessen dichotomischer Darstellung von sermo lit‐ teratus und sermo vulgaris. Auch Poggio betont, wie schon einige seiner Vor‐ gänger, die Einheit der lateinischen Sprache in der Antike. Er unterscheidet sich aber dahingehend von Biondo, daß er keine detaillierte Binnendifferenzierung bezüglich der Architektur der Sprache konstruiert, auch nicht wie Guarino eine klare Zweiteilung von Gelehrtensprache und Volksprache vornimmt, sondern vor allem im Sinne der eloquentia argumentiert und elegantia und puritas als Kriterien für einen gehobenen (emendatius) Gebrauch des Lateins anführt. Man kann daraus auch eine diaphasisch-diastratische Differenzierung ableiten, mit einem gewissen Vorrang der Diaphasik und einer Betonung des Normativen (cf. dianormativ, Kap. 3.1.1), aber insgesamt weniger explizit als bei Guarino. Trotz der Abgrenzung einer Varietät der docti, die durch schulische Institutionen ge‐ lernt werde müsse, analog zur zeitgenössischen Situation von grammatica vs. volgare, sei in der Antike grundsätzlich der Sprachgebrauch allen gemein ge‐ wesen (in consuetudine erant communi). Poggio bringt vor allem in Bezug auf das Erklärungsmodell der corruptio neue Aspekte ins Spiel, und zwar insofern er den Katalog der beeinflussenden Völker erheblich erweitert: Sabinos, Her‐ nicos, Veientes, Sannites, Umbros, Etruscos, Oscos sowie Gallos, Germanos, Aphros, 475 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 765 Bezüglich weiterer Details cf. Kap. 6.2.7 vorliegender Arbeit. Hispanos und Sarmates. Die zeitliche Zuordnung bzw. eine Differenzierung nach Substrat und Superstrat bleibt jedoch aus, da es ihm mehr um die Illustrierung der zahlreichen Einflüsse bzw. Interferenzen geht. Den Zusammenhang zwi‐ schen Sprachentwicklung, den antiken sowie zeitgenössischen Sprachverhält‐ nissen deutet er damit an, daß er Relikte im Spanischen und Rumänischen the‐ matisiert, allerdings ohne weitere explizite Erklärungen des Kausalnexusʼ. Die Debatte um die Sprachsituation in der römischen Antike wird im Fol‐ genden von Francesco Filelfo wiederaufgegriffen, und zwar wiederholt in meh‐ reren Traktaten in Briefform mit erheblichem zeitlichem Abstand an verschie‐ dene fürstliche Adressaten (cf. Franciscus Philelfus Sphortiae Secundo Sal., 1451; Franciscus Philelfus Laurentio Medici S. P. D. 1473; Franciscus Philelfus Blancae Mariae Aestensi Sal. P.D., 1473). Angesichts der Tatsache, daß Filelfo seine Grundidee bereits in seinem ersten Brief artikuliert, kann man in gewisser Weise vernachlässigen, daß zwischen dieser ersten Schrift und den folgenden die Stel‐ lungnahmen Lorenzo Vallas sowie weiterer Humanisten (v. infra) liegen; in‐ wieweit diese jedoch im Einzelnen zur Schärfung von Filelfos Ansichten beige‐ tragen haben mögen, sei dahingestellt bzw. nicht primäres Ziel vorliegender Synopse. 765 Ähnlich wie Guarino, aber noch eindringlicher, baut Filelfo einen Teil seiner Argumentation auf der ihm bekannten Sprachsituation des Griechi‐ schen auf, die er aus eigener Anschauung in Konstantinopel erlebte - er argu‐ mentiert sozusagen aus lateinbzw. gräkohumanistischer Position heraus. So ist auch für ihn - wiederum hauptsächlich im Gegensatz zu Bruni - plausibel, daß in der römischen Antike das Latein als Sprache eine Einheit bildete, die vom gesamten Volk verstanden wurde, von den Gebildeten genauso wie vom einfa‐ chen Volk (doctis indoctisque communis). Dabei zieht er Parallelen zu anderen Kultursprachen wie dem Griechischen, dem Hebräischen, dem Ägyptischen, dem Assyrischen, dem Persischen und dem Arabischen, alles Sprachen, die ebenfalls einen sermo litteralis und einen sermo maternus bzw. sermo vulgaris hatten. Vor allem was die Morphosyntax anbelangt sind für ihn beide hier for‐ mulierten Varietäten des Lateinischen grundsätzlich gleich, die Unterschiede lägen eher im Lexikon, aber auch in einigen Flexionsformen. Neben der schich‐ tenspezifischen Komponente der schon bekannten Opposition zwischen der Sprache der docti und der der indocti (inklusive der Frauen und Kinder), die neben der Bildung vor allem auf die soziale Position referiert, kommt noch eine diastratisch-gruppenspezifische Differenzierung hinzu, da er ausdrücklich die gehobene Varietät den Philosophen und Dichtern zuerkennt, nicht aber den Komödien- und Tragödienschreibern, da letztere ja von allen verstanden werden 476 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen sollten, genauso wie die der oratores. Hier ist zusätzlich wohl eine textsortenbzw. textgattungsspezifische oder auch fachsprachliche Unterscheidung mit zu lesen sowie eine diamesische, da alles, was auch für ein größeres Publikum und mündlich konzipiert wird, verständlich sein soll. Terminologisch eröffnet Filelfo ebenfalls ein neues Feld, indem er den sermo vulgaris mit dem sermo latinus gleichsetzt, während er die grammatica mit dem sermo litteralis parallelisiert - damit ist das Lateinische auch begrifflich eindeutig die Sprache des gesamten Volkes und die Sprache der docti deutlich davon abgesetzt, und zwar als elitäre Varietät, nicht als eigenes Idiom wie bei Bruni. Was den Sprachwandel anbelangt schließt sich Filelfo wie auch Alberti, Guarino und Poggio der Korruptionsthese Biondos an und erweitert in Anlehnung an Poggio das Inventar der Substrat- und Superstratvölker: Sabiner, Herniker, Einwohner von Veji, Samniten, Et‐ rusker, Osker, Karthager, Numantier, Makedonen, Griechen und Völker aus Asien (Substrat); Vandalen, Hunnen, Goten, Langobarden, Germanen, Bur‐ gunder, Britannier, Franken, Belger (Superstrat). Auch wenn er nicht ganz prä‐ zise zeitliche Relationen der Beeinflussung bzw. Substrat und Superstrat unter‐ scheidet, macht Filelfo doch sehr deutlich, daß die „Verderbnis“ (confuderunt et inquinarunt) der latinitas von Anbeginn durch eine Vielzahl an Völkern (in tanta barbarorum multitudine) stattgefunden hatte. Der sprachhistorische Bezug zur zeitgenössischen Gegenwart bleibt allerdings auch bei ihm nicht ganz eindeutig. Zeitlich zwischen die Stellungnahmen Filelfos fällt der erbitterte Streit zwi‐ schen Poggio Bracciolini und Lorenzo Valla, die in mehreren Invektiven um eine adäquate Latinität ringen und nicht mit gegenseitigen Inkompetenzzuwei‐ sungen sparen. In zumindest zwei der Invektiven Vallas (cf. Antidotum I, 1452; Apologus II , 1452 / 1453) geht es beiläufig auch um die Sprachenfrage der Antike. Lorenzo Valla steht wie kein anderer für die lateinhumanistische Reformbewe‐ gung, die das zeitgenössische Latein der Renaissance, welche noch stark durch den mittelalterlichen Gebrauch geprägt ist, im Zeichen eines Ciceronianismus bzw. bei Valla eines Quintilianismus zu erneuern sucht. Entsprechend desinte‐ ressiert zeigt sich Valla in seinen Schriften auch gegenüber dem volgare und dem volgare antico und konzentriert sich rein auf die elegantia des Schriftlateins. Valla ist aber auch jemand, der die textkritische Methode im Sinne einer exakten his‐ torisch-philologischen Analyse und Auslegung perfektioniert, und stellt daher auch die Terminologie auf den Prüfstand, wobei hier aufgrund des polemischen Charakters seiner Schriften „Wortverdreherei“ und echtes Anliegen oft schwer zu unterscheiden sind. Valla lehnt sich in seinen Ausführungen bezüglich der inneren Differenzierung des Lateinischen - entgegen seiner Vorgänger - wie‐ derum an Bruni an, indem er die antike Sprachsituation weitgehend diglossisch auffaßt. Er weicht dabei jedoch von Bruni insofern ab, indem er die high variety 477 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini (H) mit grammatice loqui und die low variety (L) mit latine loqui identifiziert, d. h. das Lateinische vornehmlich als Sprache der Mündlichkeit postuliert. Die Entwicklung der Sprache ist für ihn nicht prioritär, dennoch thematisiert er sie kurz, und zwar im Sinne Biondos (d. h. er ist kein reiner Vertreter Brunis). Auch er geht dementsprechend von einer corruptio durch die barbarischen Völker aus, wobei er nur die Superstratvölker der Goten und Vandalen benennt, eine frühere Beeinflussung des Lateinischen durch Substratvölker bleibt bei ihm höchstens vage angedeutet. Dafür erwähnt er ausdrücklich den Wandel der Schriftsprache, exemplifiziert an der „verderbten“ Skripturalität (codices gothice scripti), bezogen auf das Lateinische. Weitere Humanisten in der 2. Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts Da die Humanisten, die in vorliegender Untersuchung nicht zu den Hauptak‐ teuren in der Debatte um die antike Sprachsituation gerechnet wurden, sowieso nur kursorisch abgehandelt wurden (cf. Kap. 6.2.9), sei auf eine erneute aus‐ führliche Wiedergabe ihres Beitrages hier verzichtet und nur der Vollständigkeit halber der Name des jeweiligen Gelehrten, das betreffende Werk und eine Grundidee bezüglich der Diskussion erwähnt. So findet sich bei Angelo Decembrio, der chronologisch in Bezug auf seine Stellungnahme nach Valla und zwischen den Brieftraktaten Filelfos einzuordnen ist, ein Hinweis zur Debatte um das latino antico, und zwar in dessen Politia literaria (ca. 1460 / 1464), in der zum einen deutlich wird, wie am Hofe von Fer‐ rara die Diskussion durchaus virulent war, und zum anderen, daß die These Brunis keineswegs völlig verworfen war. In etwa zeitgleich entstand das historiographische Werk De vita rebusque Sfortiae […] (ca. 1461-1463) des Lodrisio Crivelli aus Mailand, der aus seinem Interesse als Historiker heraus Stellung bezieht und sich dabei im Wesentlichen an Poggio und einer von ihm postulierten Einheit des Lateinischen in der Antike orientiert mit durchaus eigenen Ergänzungen zu lexikalischen Differenzen und zur Korruptionsthese Biondos. Bartolomeo Benvoglienti aus Siena ist in diesem Rahmen ebenfalls erwäh‐ nenswert, da er in seiner Schrift De analogia huius nominis verbum […] (1481), einem Anhang von De luce visibili paradoxon, die Idee eines genetischen Zu‐ sammenhangs von Griechisch, Latein und dem italienischen volgare skizziert sowie zudem terminologisch beachtenswerte Differenzierungen vornimmt. Seine Perspektive ist geprägt von einem theologisch-philosophisch motivierten etymologischen Interesse, den Dingen und Bezeichnungen auf den Grund zu gehen. 478 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Lorenzo deʼ Medici, einer der größten Mäzene seiner Epoche, der auch selbst sich den schönen Künsten und den studia humanitas widmete, läßt in seinem Comento sopra alcuni dei suoi sonetti (1476-1484) ebenfalls vorliegende Debatte anklingen und erweist sich als vehementer Verfechter des volgare und stärkt nebenbei die Vorstellung von der Veränderlichkeit der linguae sacrae, da auch sie native speaker hatten bzw. noch haben. In seiner Schrift Notationes (1485) vertritt Paolo Pompilio aus Rom eine de‐ zidiert lokalpatriotische römische These in Anknüpfung an Poggio und betont dabei den autochthonen Gedanken der lateinischen Sprache in Latium. Zudem bereichert er den Ansatz Biondos zur corruptio dahingehend, daß er zahlreiche Superstratvölker in den Blick nimmt, vor allem auch jenseits von Italien und den direkt angrenzenden Regionen. Aldo Manuzio, der venezianische Buchdrucker und Verleger, wirft in seinem Thesaurus Cornucopiae et Horti Adonidis (1496) einen weitgehend neutralen Blick auf die sprachliche Vielfalt, und zwar in Bezug auf das Griechische wie auch auf das italienische volgare. Der ebenfalls in Venedig ansässige Marcantonio Coccio (Sabellico) läßt in seinem weltgeschichtlichen Werk Enneades (1498-1504) die Korruptionsthese Biondos anklingen und hat wie Manuzio eine nicht florentinisch zentrierte Per‐ spektive bei der Darstellung der zeitgenössischen diatopischen Varietäten. Der Rechtsgelehrte Andrea Alciato aus Mailand zeigt in seinem Werk zu den verschiedensten Fachtermini, Praetermissorum libri duo (1518), eine durchaus profunde Kenntnis der Debatte um die antike Sprachsituation, indem er na‐ mentlich einige Protagonisten aufführt und die These Brunis diskutiert, dabei aber auch eigene Belege anführt, um seine Position, die er als diejenige Filelfos verortet, zu festigen. Synthese Es sei hiermit als kleines Zwischenfazit festgehalten, was bei Fubini (1961: 548) nur in einer Zeile bzw. Fußnote angedeutet wird, nämlich daß die Debatte um das Latein der Römer in der Antike sich weder auf die einst mündliche geführte Diskussion von 1435 oder deren direkt daraus hervorgehende, schriftliche Er‐ zeugnisse (Bruni, Biondo (Poggio)) beschränkt (cf. z. B. Marcellino / Ammannati 2015) noch auf den ansonsten in der Forschung postulierten engen Kreis der Humanisten, die diese Gedanken in den folgenden ca. dreißig Jahre (cf. Tavoni 1984; Mazzocco 1993; Coseriu / Meisterfeld 2003; Marchiò 2008) weitertragen 479 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 766 Cf. im Gegenzug dazu Schöntag (2017b) sowie sich u. a. darauf beziehend Eskhult (2018) mit dem definierten Zeitraum (1435-1601). 767 Zur Abgrenzung von prima und seconda generazione cf. Kap. 1.2 vorliegender Arbeit. haben, sondern, wenn auch weniger vehement, bis ins 16. Jh. reicht. 766 Die Tat‐ sache, daß einzelne Fakten dann oft nicht mehr allzu ausführlich diskutiert wurden, ist nicht so sehr auf mangelndes Interesse zurückzuführen, sondern wohl eher darauf, daß die Positionen und Argumente bereits hinreichend be‐ kannt waren, sich sozusagen als Topos verselbständigt haben: Dazu gehört die Sprache der Frauen (inkl. Mütter und Ammen), die Sprache des Theaters (Ko‐ mödie, Tragödie) oder der öffentlichen Rede (Senat, Gericht, Kirche) sowie die Sprache der Gebildeten (Adelige, Gelehrte, Dichter, Redner, Philosophen) auf der einen und der Ungebildeten (Volk, Nicht-Adelige, Handwerker, Frauen, Kinder) auf der anderen Seite. Dabei wird immer wieder die Frage diskutiert inwiweit eine gegenseitige Komprehensibilität gegeben ist bzw. eben nicht, und wo eventuell Überschneidungsbereiche existieren (z. B. dichtende Frauen der Oberschicht, nicht alphabetisierte Redner). Die Konstituierung eines Varietätenraumes für das Latein der Antike hängt eng mit der Bewertung des normativen, „klassischen“ (Schrift)Lateins zu‐ sammen. Es ist auch ein Ringen darum, wieviel sprachliche Variation vorstellbar ist, ohne daß das Prestige dieser so emminent wichtigen Kultursprache Schaden erleidet. Das durchaus vorhandene historische Interesse an dieser Problematik um die Sprachen- und Varietätenkonstellation der Antike ist allerdings nicht von der zeitgenössischen Streitfrage um eine angemessene Literatursprache und die Art und Stellung des Lateins zu lösen. Gerade die Erneuerungsbewegungen bezüglich des zeitgenössischen Lateins (cf. Ciceronianismus, Quintilianismus), die den Übergang vom mittelalterlichen zum rinascimentalen Latein markieren, treten hier hervor. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Auseinandersetzung die Referenz auf die Antike zu einem Argument, welches in verschiedenen Kon‐ texten und mit je unterschiedlichem Telos variabel eingesetzt wird. 6.2.11 Pietro Bembo (Petrus Bembus) Den Beginn der hier genannten seconda generazione  767 der Protagonisten der Debatte um das Latein der römischen Antike markiert Pietro Bembo (1470-1547), der zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit seinen Prose della volgar lingua (1525) eine für die italienische Sprache und Literatur wegweisende Ab‐ handlung verfaßt hat, die vor allem im Rahmen der questione della lingua eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet hat. 480 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 768 Zur arte del dialogo in der Renaissance im Allgemeinen und der von Bembo in den Prose angewendeten Form des diegetischen Dialogs im Besonderen sowie den antiken Vor‐ bilder Cicero (z. B. De oratore) und Platon (Συμπόσιον) cf. Alfano / Gigante / Russo (2016: 253-257). 769 Für die folgende Textanalyse wird die von Dionisotti edierte und normalisierte Fassung von 1960 bzw. ²1966 (cf. Bembo, Prose) zugrundegelegt, für editionsphilologische Details cf. aber auch die 2001 herausgegebene Urfassung mit entsprechenden Textvarianten (cf. Bembo, Prose ed. pr.). In Bezug auf die Diskussion zur antiken Sprachenfrage äußert sich Bembo in genau diesem, seinem in Bezug auf die Sprachtheorie wohl wichtigsten Werk. Die Prose bestehen aus drei separaten Teilen, nämlich einer Abhandlung zur zeitgenössischen Sprachenfrage (primo libro), einer Metrik und Rhetorik (se‐ condo libro) und einer Grammatik der Volkssprache (terzo libro). Die formale Struktur des Buches besteht aus einem (platonischen) Dialog zwischen den Ge‐ sprächsteilnehmern Carlo Bembo, Ercole Strozzi, Federico Fregoso und Giuliano deʼ Medici, die jeweils unterschiedliche Positionen der questione della lingua vertreten (v. infra). 768 Zur antiken Sprachkonstellation finden sich nun verschie‐ dene Passagen im ersten sprachtheoretischen Teil des Werkes. Textanalyse Die Gelehrtendiskussion der Humanisten, die Bembo in seinen Prose della volgar lingua auftreten läßt, siedelt er in Venedig im Jahre 1502 an (cf. Scarpa 2012: 116). 769 Das grundsätzliche Thema des ersten Buches ist die Frage nach der adäquaten Schriftsprache Italiens, die sogenannte „Sprachenfrage“ (questione della lingua; cf. Kap. 6.1), in der es primär darum geht, welche vareitätenspezifischen und diskurstraditionellen Merkmale eine allgemeine italienische Literatur- und Standardsprache aufweisen sollte. Dies betrifft in erster Linie die schriftsprach‐ liche Verwendung, letztlich sind diesbezüglich aber damit auch Fragen nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verknüpft, insbesondere in Bezug auf das Prestige und die Domänen des Gebrauchs. Dabei spielt neben dem Disput um die Art der „optimalen“ italienischen Volkssprache (cf. das danteske vulgare illustre) immer noch die Position des Lateinischen eine Rolle. Entsprechend dieser zu erörternden Gesamtproblematik teilt Bembo seinen Protagonisten verschiedene Rollen in seinem fiktiven Dialog zu: Carlo Bembo, der Bruder Pietro Bembos, vertritt im Wesentlichen die Ansicht des Autors (v. infra); Giuliano deʼ Medici (auch il Magnifico), der Sohn Lorenzos des Prächtigen, spricht sich für das zeitgenössische Florentinisch am Hofe der Medici aus; Fe‐ derico Fregoso tendiert zu einem historisch fundierten volgare; Ercole Strozzi (auch lo Strozza) ist der Exponent einer lateinhumanistischen Position (cf. Ma‐ 481 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 770 Federico Fregoso (1480-1541), Kardinal aus Genua, den Bembo in Urbino kennenlernte, ist im Dialog wie in der Realität zudem auch Kenner der provenzialischen (d. h. okzi‐ tanischen) Sprache und Literatur (Es gab in Rom einen Kreis von Provenzalisten um Angelo Colocci (1467-1549), der auf ganz Italien wirkte, cf. Strauss 1938: 56). Die Tat‐ sache, daß Bembos Bruder, Carlo Bembo († 1503), als Verteidiger der Ideen des Autors auftritt, ist naheliegend. Ebenso erklärt sich die Position Giuliano di Lorenzo deʼ Medicis (1479-1516), dritter Sohn Lorenzo deʼ Medicis (1449-1492), da er sowohl aus biogra‐ phischen wie auch politischen Gründen das lebendige Idiom seiner Heimatstadt ver‐ teidigt. Ercole Strozzi (1471 / 1473-1508) wiederum, ein Freund Bembos aus Ferrara (v. supra), vertritt als lateinischer Dichter plausibel die Position des Lateinhumanisten (cf. Michel 2005: 375). razzini 2013: 45). Hauptgegner in diesem Dialog ist dementsprechend Strozzi, den es vor allem zu überzeugen gilt, was auch bereits nach kurzer Zeit passiert (cf. Bossong 1990: 101). 770 Die Sprachenfrage der Antike erscheint im Rahmen dieser hier dargestellten Debatte als eine Art Vergleichsparameter, um die zeitgenössische Situation besser darstellen zu können, und zwar insbesondere was das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit anbelangt. Um zu verdeutlichen, welche Art von Vertrautheit die Sprecher mit der Volkssprache haben, welche sie ihr ganzes Leben lang begleitet, und was für das Lateinische als gelernte Sprache eben nicht gilt, wird von der Figur des Carlo Bembo folgender Vergleich gezogen: Sì come a’ romani uomini era ne’ buoni tempi più vicina la latina favella che la greca, con ciò sia cosa che nella latina essi tutti nascevano e quella insieme col latte dalle nutrici loro beeano e in essa dimoravano tutti gli anni loro comunemente, dove la greca essi apprendevano per lo più già grandi e usavanla rade volte e molti di loro per aventura né l’usavano né l’apprendevano giamai. (Bembo, Prose I, 3; 1966: 80) Diesem Verweis auf die Antike geht die Aussage voraus, daß die italienische volgar lingua natìa e propria sei, das Lateinische hingegen eine Sprache, die für die Zeitgenossen straniera sei (cf. ibid.). Die starke Parallelisierung der rinasci‐ mentalen Sprachkonstellation mit der antiken erinnert an Bruni, wird hier je‐ doch nicht auf das antike Verhältnis volgare vs. latino bezogen, sondern die Komponenten werden verändert, insofern das Griechische hier die Position der erlernten Kultursprache einnimmt. Der Vergleich hinkt natürlich dahingehend, daß das Latein des 15./ 16. Jhs. nur in Ausnahmefällen gesprochen wurde (z. B. Liturgie, Universität, Diplomatie etc.; cf. lingua morta viva, Kap. 6.1.2), das Grie‐ chische der Antike (und der Renaissance) jedoch eine lebendige Sprache war, auch in Teilen Italiens (cf. Kap. 4). Die zeitliche Verortung ist hierbei denkbar ungenau (ne‘ buoni tempi), aber recht wahrscheinlich mit der späten Republik und frühen Kaiserzeit, also grob mit der Epoche der Klassischen Latinität zu 482 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 771 Zu den typischen Domänen des Gebrauchs wie ‚Familie‘ (cf. hier: domesticus) cf. Kap. 3.1.2 vorliegender Arbeit. 772 Cf. dazu auch Klein (1957: 75), der terminologisch grundsätzlich bei Bembo lingua als Literatursprache und favella als Umgangssprache interpretiert; in der oben genannten Stelle in Bezug auf die Antike ist diese Differenzierung jedoch nicht eindeutig vor‐ handen. identifizieren, da dies in der Tradition als die kulturell und politisch positivste Zeit angesehen wird (cf. „goldene Latinität“, Kap. 4.1.1.3). Dabei wird, was den Status der Muttersprachlichkeit anbelangt, mit dem seit Dante (cf. Kap. 6.2.2) bekannten Topos des Aufsaugens (der Sprache) mit der Milch der Amme operiert (insieme col latte dalle nutrici). Die Kunstsprache der Bildung (cf. ars vs. natura) wird hingegen erst später erlernt, aber auch nicht von allen, sondern nur von wenigen, die sie auch nur selten, d. h. zu bestimmten Gelegenheiten benutzen. In einem weiteren Passus wird das bereits Ausgedrückte dann nochmals von Giuliano (il Magnifico) verdeutlicht. Che sì come i Romani due lingue aveano, una propria e naturale, e questa era la latina, l’altra straniera, e quella era la greca, così noi due favelle possediamo altresì, l’una propria e naturale e domestica, che è la volgare, istrana e non naturale l’altra, che è la latina. (Bembo, Prose I, 3; 1966: 80) Hierbei wird nun die Charakterisierung des zeitgenössischen volgare und des Lateins der Humanisten auf die antike Situation übertragen, indem die lingua latina der Römer als propria e naturale bezeichnet wird und die lingua greca als straniera (v. supra). Hinzu kommt die Attribuierung des Lateinischen als lingua domestica, was man als eine typische Gebrauchsdomäne identifizieren kann. 771 Durch diese Verortung des Gebauchs in Korrelation mit der expliziten Aussage von due lingue aveano bzw. due favelle possediano wird eine funktionale Zwei‐ teilung ausgedrückt, die man relativ klar als diglossisch interpretieren kann. In der Bezeichnung der Sprachen wird dabei zwischen lingua und favella abge‐ wechselt. Hier scheint kein semantischer Unterschied zu bestehen, obwohl man normalerweise in Bezug auf lingua von einem allgemeinen Begriff für ,Spracheʻ ausgehen kann und bei favella in Anlehnung an das zugrundeliegende Verb favellare von einer zumindest konnotativen Betonung der Mündlichkeit. 772 Die Figur lo Strozza greift das Argument der natura des antiken Lateins wieder auf und bestätigt diese Eigenschaft im Vergleich zum erlernten Griechischen, ist aber keineswegs mit der Art der Prestigezuweisung einverstanden. Io son contento di concedervi, messer Carlo e Giuliano, - disse lo Strozza - che la volgare favella più a noi vicina sia o ancora più naturale e propria, che la latina non si vede essere, in quella guisa medesima che a‘ Romani era la latina più vicina e più 483 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini naturale della greca; pure che mi concediate ancor voi, quello che negare per niun modo non mi si può, che sì come a quel tempo e in que’ dotti secoli era ne‘ romani uomini di molta maggior dignità e stima la greca lingua che la latina, così tra noi oggi molto più in prezzo sia e in onore e riverenza la latina avuta che la volgare. (Bembo, Prose I, 4; 1966: 81) Sein lateinhumanistisches Verständnis läßt es zwar zu, daß er für die Antike (in queʼ dotti secoli) dem Griechischen mehr dignità und stima als dem Lateinischen zugesteht, für die zeitgenössische Situation ist es ihm aber wichtig festzuhalten, daß eindeutig die lingua latina mehr in prezzo und in onore sei als das volgare. Das Prestige einer Sprache wird hierbei als gewichtiges Argument für ihren Gebrauch angeführt, wobei die Wertschätzung sich aus der Literaturtradition speist, was an dieser Stelle zumindest jedoch nicht explizit gemacht wurde, aber im Rahmen der Debatte als selbstverständlich mitschwingt. Die Funktionstei‐ lung der Sprache in Bezug auf ihre mündliche und schriftliche Verwendung wird daraufhin sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Il che se mi si conciede, come si potrà dire che ad alcun popolo, avente due lingue, l’una più degna dell’altra e più onorata, egli non si convenga vie più lo scrivere nella più lodata che nella meno? (Bembo, Prose I, 4; 1966: 81) Ein Aspekt, der in der Debatte um die questione der Antike von verschiedenen Protagonisten angeführt wurde, wird hier ebenfalls erwähnt bzw. impliziert. Die Art der supponierten Funktionsteilung gilt nur in Bezug auf Kulturvölker, die über zwei verschiedene Sprachsysteme verfügen (alcun popolo, avente due lingue). In Bezug auf diese lingua wird dann generell angenommen, daß eine più degna, più onorata und più lodata sei und dieser dann die Funktion der Schriftsprache zukomme. In einem nächsten Gedankenschritt betrachtet die Figur des lo Strozza nun das Verhältnis zwischen antiker und zeitgenössischer Volksprache und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in Bezug auf die Schriftlichkeit, d. h. den Schluß den er daraus zieht, ist die Ablehnung des volgare als Sprache der Lite‐ ratur in seiner Zeit. Oltra che se è vero quello che io ho udito dire alcuna volta, che la nostra volgar favella stata sia eziandio favella medesimamente volgare a’ Romani, con la quale tra essi popolarescamente si sia ragionato come ora si ragiona tra noi, tuttavolta senza passar con lei nello scrivere, al quale noi più arditi e meno consigliati passiamo, noi non solamente la meno pregiata favella e men degna da‘ Romani riputata, ma ancora la rifiutata e del tutto per vile scacciata dalle loro scritture, aremmo a quella preposta, a 484 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen cui essi tutto il grido e tutto l’onore dato hanno, la volgar lingua alla latina ne’ nostri componenti preponendo. (Bembo, Prose I, 4; 1966: 81) Ohne sie namentlich zu erwähnen wird hier mit ho udito dire alcuna volta auf die Diskussion zwischen Bruni und Biondo angespielt (cf. Marazzini 2013: 48). Hierbei geht es nicht um alle Aspekte in der Debatte, sondern im Spezifischen um die weitgehende Gleichsetzung des volgare antico mit dem zeitgenössischen. Hier bei Bembo leitet der Protagonist lo Strozza aus dieser Parallelisierung wei‐ tere Überlegungen für den Sprachgebrauch seiner Zeit ab. Es würde demnach keinen Sinn machen, daß man diese Sprache des Volkes, die die Römer ja of‐ fensichtlich nicht geschätzt (la rifiutata) und in der sie nicht geschrieben hätten (per vile scacciata dalle loro scritture), also das volgare, nun anstatt der überkom‐ menen, prestigereichen lateinischen Literatursprache als Schriftsprache neu einführen würde, also eine weniger würdige Sprache (la meno pregiata favella) der prestigereichen vorziehen würde. Damit meint er letztendlich, daß es für die Humanisten, die ja das Lateinische grundsätzlich als Kultur- und Schriftsprache so hochschätzen, unsinnig wäre auf einmal in der Volkssprache zu schreiben, wenn schon die Römer, deren Kultur sie bewundern würden, dies nicht getan hätten. Auf die Stellungnahmen des Ercole und des Strozza antwortet nun il Magni‐ fico, der nicht wie sein Vorredner Strozza das volgare ablehnt, mit einem nicht unwichtigen Einwand bezüglich der Entstehung der Schriftsprachlichkeit. Ma non per tutto ciò vi si concederà, che sempre nella più degna lingua si debba scrivere più tosto che nella meno. Perciò che se a questa regola dovessero gli antichi uomini considerazione e risguardo avere avuto, né i Romani avrebbero giamai scritto nella latina favella, ma nella greca; né i Greci altresì si sarebbono al comporre nella loro così bella e così rotonda lingua dati, ma in quella de’ loro maestri Fenici; e questi in quella d’Egitto, o in alcun’altra […]. (Bembo, Prose I, 5; 1966: 82) Ohne das Argument, daß man in einer Gesellschaft mit zwei Sprachen eher dazu neigt, die prestigereichere als Schriftsprache zu gebrauchen, völlig zu negieren, führt Giuliano hier jedoch ein gewichtiges Gegenargument an. Hätte man näm‐ lich dieser postulierten Regel immer rigoros Folge geleistet, dann wäre es nie zu einer lateinischen Schriftsprache gekommen, weil man ja das Griechische hatte, nie zu einer griechischen, weil ja das Phönizische bereits zuvor als Schrift‐ sprache existiert hatte und auch diesem wäre ja noch das Ägyptische voraus‐ gegangen - mit anderen Worten, die historische Entstehung von unterschied‐ licher Schriftsprachlichkeit bzw. der Prozeß der Verschriftung und Verschriftlichung hätte nach diesem Axiom nie stattgefunden. 485 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 773 In Abwandlung einer Stelle in den Satiren des Horaz: „in silvam non ligna feras insanius ac si / magnas Graecorum malis inplere catervas“ (Horaz, Serm. I, 10, 42-43; 1972: 82). Es gehe also eher darum - so die weitere Argumentation -, die eigene Sprache auch als Schriftsprache zu gebrauchen, und zwar dann, wenn ihr ebenfalls eine entsprechende Würde und Größe (dignità e grandezza) zukomme, die dann in der Folgezeit durch weitere schriftsprachliche Verwendung ausgebaut werden könne, wodurch sie Autorität gewinne (accresere autorità). So war die Konstel‐ lation in der römischen Antike zu Zeiten Ciceros gegeben (ne‘ buoni tempi), als die Römer anfingen, vermehrt in ihrer Sprache zu schreiben (scrivere roman‐ amente) und auf diese Weise dem Lateinischen zu (rhetorischem) Schmuck und Reichtum verhalfen (fare abondevole e ricca la loro lingua) (cf. Bembo, Prose I, 5; 1966: 82-83). Auf die gleiche Weise sieht Giuliano den Prozeß für die zeitgenös‐ sische Volkssprache, denn Schriftsteller wie Cino da Pistoia, Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio und andere, die bereits wichtige Werke in verschiedenen literarischen Gattungen (nel verso e nella prosa compo‐ nendo) im italienischen volgare verfaßt hatten, trugen durch ihre schriftsteller‐ ische Tätigkeit dazu bei, daß diese Sprache Würde und Autorität erlangen konnte. Questo medesimo della nostra volgare messer Cino e Dante e il Petrarca e il Boccaccio e degli altri di lontano prevedendo, e con essa molte cose e nel verso e nella prosa componendo, le hanno tanta autorità acquistata e dignità, quanta ad essi è bastato per divenire famosi e illustri, non quanta per aventura si può in sommo allei dare e ac‐ crescere scrivendo. (Bembo, Prose I, 5; 1966: 83) Der Ruhm der Schriftsteller verleihe letztendlich der jeweiligen Sprache die nö‐ tige dignità und je mehr wichtige Werke und illustre Autoren die eigene Volks‐ sprache aufweisen könne, desto größer ihr dadurch erlangtes Prestige. In dieser Argumentation des Medici erscheint es natürlich, daß sich Schriftsteller der ei‐ genen Muttersprache zuwenden und ihren Beitrag leisten wollen, diese quali‐ tativ zu verbessern und in ihrem Ansehen zu erhöhen. So seien auch einst die alten Römer es leid gewesen nur Griechisch zu schreiben: „[…] allui si potrà dire quello che a’ Romani si solea dire, i quali allo scriver greco si davano, che essi si faticavano di portare alberi alla selva“ (Bembo, Prose I, 5; 1966: 83). 773 Im Folgenden legt nun messer Federico seine Meinung dar und beginnt, ohne explizit auf Bruni zu referieren, ebenfalls die These eines antiken volgare nach dem Vorbild des zeitgenössischen zu entkräften, indem er auf die Überliefe‐ rungssituation aufmerksam macht. 486 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Ché, come ciascuno di noi sa, infiniti sassi sono in Roma, serbati dal tempo infino a questo dì, scritti con latine voci e alquanti con greche, ma con volgari non niuno […]. (Bembo, Prose I, 6; 1966: 84) Hier bezieht sich die Figur des Federico nun darauf, daß ein volgare antico in Inschriften hätte überliefert sein müssen, doch wenn man die Ruinen der Antike in Rom betrachtet, so fände man hauptsächlich lateinische Inschriften und manche auf Griechisch (scritti con latine voci e alquanti con greche), jedoch gäbe es keine in der postulierten Volkssprache (con volgari non niuno). Des Weiteren führt er aus, daß auch wenn diese Sprache mehr im Volk ver‐ ankert gewesen wäre als im Senat oder bei den großen Männer der römischen Geschichte, es doch irgendein Anzeichen in der Volksüberlieferung hätte geben müssen, doch man könne rein gar nichts erkennen (non se ne vedesse qualche segno). Und schließlich sei es doch verwunderlich, daß in den Büchern, die durch die Jahrhunderte tradiert wurden, nirgendwo je erwähnt wurde, daß es eine solche Sprache gegeben haben könnte, bzw. daß in ihr keinerlei Bücher verfaßt wurden (cf. Bembo, Prose, Lib. I, Cap. VI ; 1966: 84). Daraufhin stellt er die zeitgenössische Sprachensituation der antiken gegen‐ über und macht nochmal allen anderen Gesprächsteilnehmern deutlich, daß es im Altertum kein volgare gegeben haben kann. Die Sprache der Römer war das Lateinische, eine davon völlig losgelöste Volksprache wie im Italien der Renais‐ sance nicht denkbar. Perché si può conchiudere, che sì come noi ora due lingue abbiamo ad usanza, una moderna che è la volgare, l’altra antica, che è la latina, così aveano i romani uomini di quelli tempi, e non più: e queste sono la latina, che era loro moderna, e la greca, che era loro antica; ma che essi una terza n’avessero che loro fosse meno in prezzo che la latina, niuno, che dirittamente giudichi, estimerà giamai. (Bembo, Prose I, 6; 1966: 84-85). Die Prämisse dieses Vergleiches ist demgemäß, daß in einer Gesellschaft wie der zeitgenössischen in Italien zwei Sprachen in Gebrauch sind (noi ora due lingue abbiamo ad usanza), wobei die ältere dann immer die Schriftsprache ist, die neuere die mündliche Umgangssprache. Hier wird ganz explizit für die Antike das Latein als die lingua moderna der Römer angenommen und das Griechische als die lingua antica, während für die eigene Epoche das Latein die Funktion der alten Sprache übernimmt, also der überkommenen, traditionsreicheren; eine terza lingua ist dabei nicht vorgesehen. Als nächstes wird von messer Ercole die Frage aufgeworfen, wann denn die zeitgenössische Volkssprache (la nostra volgar lingua) entstanden sei, wenn sie nicht, wie zuvor verneint wurde, schon zu Zeiten der antiken Römer bzw. wäh‐ 487 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 774 „E, lasciando le altri parti da canto, se la nostra volgar lingua non era a quʼ tempi nata, neʼ quali la latina fiorì, quando e in che modo nacque ella? “ (Bembo, Prose I, 7; 1966: 85-86). rend der Epoche der klassischen Latinität existiert hätte (a que’ tempi nata, ne‘ quali la latina fiorì). Und vor allem, auf welche Weise sie dann wohl entstanden sei, wie er, eine Antwort erwartend, in den Raum stellt. 774 Daraufhin entgegnet ihm messer Federico, daß man den genauen Zeitpunkt nicht so genau wissen könne (Il quando …sapere appunto …non si può), aber es wohl zu Zeiten der beginnenden Invasion der Barbarenvölker gewesen sei müsse. Il quando - rispose messer Federigo - sapere appunto, che io mi creda, non si può, se non si dice che ella cominciamento pigliasse infino da quel tempo, nel quale inco‐ minciarono i Barbari ad entrare nella Italia e ad occuparla, e secondo che essi vi di‐ morarono e tenner piè, così ella crescesse e venisse in istato. (Bembo, Prose I, 7; 1966: 86) An dieser Stelle wird nun die auf Flavio Biondo zurückgehende „Barbarenthese“ ins Spiel gebracht, d. h. die corruptio der lateinischen Sprache wird durch die Völkerwanderung erklärt, während der vor allem germanische Völker ins Im‐ perium Romanum vorgedrungen waren und beim Erlernen des Lateins dieses nach und nach „verunreinigt“ hätten. Der Protagonist Federico bleibt in vorlie‐ gendem Dialog denkbar vage mit seiner Verortung dieses Ereignisses bzw. bei der Schilderung der zugrundeliegenden Entwicklung. Die Epoche wird nur grob durch da quel tempo markiert und die Verursacher werden entsprechend den auch sonst üblichen Gepflogenheiten allgemein als i Barbari benannt. Es wird hingegen durchaus recht deutlich das Prozeßhafte dieser Veränderung betont, indem erläutert wird, daß die Barbaren zunächst in Italien einfielen und es be‐ setzten (entrare nella Italia e ad occuparla) und dann schließlich blieben und seßhaft wurden (essi vi dimorarono e tenner piè). Parallel dazu - so wird ange‐ deutet - hätte sich nach und nach auf diese Weise das volgare der Zeitgenossen entwickelt (ella crescesse e venisse in istato). Wie genau das nach Meinung Fe‐ dericos ablief, wird dann im Folgenden dargelegt. Del come, non si può errare a dire che, essendo la romana lingua e quelle deʼ Barbari tra sé lontanissime, essi a poco a poco della nostra ora une ora altre voci, e queste troncamente e imperfettamente pigliando, e noi apprendendo similmente delle loro, se ne formasse in processo di tempo a nascessene una nuova, la quale alcuno odore e dell’una e dell’altra ritenesse, che questa volgare è, che ora usiamo. (Bembo, Prose I, 7; 1966: 86) 488 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 775 Was die Franzosen anbelangt, so sei hier auf die zu Bembo zeitnahen französischen Feldzüge von 1494 und 1499 verwiesen, die in Machtstreitigkeiten zwischen Mailand und Neapel eingriffen (cf. Reinhardt 2006: 48-49). Dies könnte ein Hinweis auf die von Bembo angedeutete zeitgenössische Beeinflussung des Französischen sein. In Bezug auf das Deutsche sind in diesem Kontext sicherlich die zahlreichen Feldzüge der deutschen Kaiser zu nennen sowie deren Italienzüge im Rahmen der päpstlichen Krönungszere‐ monie zum Herrscher des Heiligen Römischen Reiches. Es ist nicht eindeutig, ob Bembo Durch das allmähliche Erlernen der Sprache der Römer durch die Barbaren, die nach und nach Wörter übernommen hätten, jedoch unvollständig und verkürzt bzw. entstellt, habe sich die romana lingua verändert, während gleichzeitig auch die Römer die Sprache der Barbaren erlernten, so daß aus diesem Prozeß der Vermischung beider Idiome eine neue Sprache entstanden sei (nascessene una nuova), und zwar diejenige, die bis in die zeitgenössische Gegenwart überdauert habe und Verwendung finde (che ora usiamo). Im weiteren verweist Federico auf die Diskrepanz zwischen der lateinischen und den barbarischen Sprachen sowie auf die zahlreichen unterschiedlichen Barbarenidiome, so daß bei der Entste‐ hung der nuova lingua, also dem volgare, die einzelnen beeinflussenden Spra‐ chen nicht mehr sichtbar seien. Die Bestandteile der neuen Sprache sind dem‐ nach nicht mehr identifizierbar, weder die barbarischen noch die lateinischen, alles sei vermischt. Daraufhin verweist er im Einzelnen darauf, welche Völker nach und nach Italien heimsuchten und unterschiedlich lange blieben. Con ciò sia cosa che e Francesi e Borgognoni e Tedeschi e Vandali e Alani e Ungheri e Mori e Turchi e altri popoli venuti ci sono, e molti di questi più volte, e Goti altresì, i quali una volta frall’altre settanta anni continui ci dimorarono. Successero a’ Goti i Longobardi; e questi primieramente da Narsete sollecitati, sì come potete nelle istorie aver letto ciascuno di voi, e fatta una grande e maravigliosa oste, con le mogli e co‘ figliuoli e con tutte le loro più care cose vi passarono e occuparonla e furonne per più di dugento anni posseditori. (Bembo, Prose I, 7; 1966: 86-87) Eine Chronologie der Invasoren ist in dieser Auflistung nicht zu erkennen und auch die Vertreter der Barbarenvölker erscheinen zum Teil untypisch. Neben den in dieser Debatte geradezu kanonischen Goten, Langobarden und Vandalen treten die ebenfalls auch bei anderen schon erwähnten Alanen auf. Eher unge‐ wöhnlich ist die Reihung Francesi, Borgognoni und Tedeschi, weil dies sowohl eine antike bzw. frühmittelalterliche Lesart mit Franken, Burgunden und Teu‐ tonen (Germanen) zuläßt als auch eine zeitgenössischere mit Franzosen, Bur‐ gundern und Deutschen. 775 Der Einfluß der Ungarn und Türken wurde bisher noch nicht angeführt, der der Araber (Mori) noch kaum. 489 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini hier bestimmte Ereignisse im Sinn hat oder allgemein auf den jahrhundertelangen Sprach- und Kulturkontakt zwischen den Völkern referiert. 776 Hier beginnt nun das eigentliche Anliegen Bembos, nämlich wie aus dieser Sprachmi‐ schung, verursacht durch die Barbaren, wieder eine neue Literatursprache Italiens ent‐ stehen kann: „Naturalmente lo scopo di Bembo non era la ricostruzione storica, ma lo stabilimento delle regole della lingua letteraria, e dunque egli si soffermava con maggior interesse su altri aspetti della questione, soprattutto sul labor limae attraverso il quale i grandi autori del Trecento avevano potuto ricuperare al livello della cultura lettararia la nuova lingua, macchiata dalle origini barbare […]“ (Marazzini 1989: 23). Bembo legt mehr Wert auf die Vielfalt des Sprachkontaktes als auf eine chro‐ nologisch präzise Abfolge, wobei die Idee zwar auf Biondo zurückgeht, aber was die genannten Völker anbelangt deutlich über dessen Auflistung hinausgeht. Marazzini (1989: 23) spricht in Bezug auf Bembo von „una serie di contamina‐ zioni successive provocate dai vari popoli elencati alla rinfusa“, wobei die Ve‐ ränderungen der lateinischen Sprache dann auf einen „complesso delle conta‐ minazioni“ zurückzuführen seien. Bemerkenswert ist in dem oben angeführten Passus die genaue Schilderung der langobardischen Okkupation. Es wird aufgezeigt, wie dieses Volk samt Frauen und Kindern sowie Hab und Gut nach Italien kam und dort für über zweihundert Jahre blieb. Im Folgenden wird dann dargelegt, wie die Bevölkerung Italiens durch diese Beeinflussung der Barbaren der gravità der eigenen Sprache verlustig ging und auf einem sehr niedrigen Sprachniveau neu begann (a favellare cominciò con servile voce), welches sich erst nach und nach wieder anhob, bis auch das volgare nach einigen Generationen wieder an Anmut gewann (cf. Bembo, Prose I, 7; 1966: 87). Im Anschluß an diese exkursartigen Ausführungen über die Antike leitet der Dialog thematisch über zur Entstehung der romanischen Schriftsprachlichkeit bzw. Literaturproduktion, d. h. zu den Provenzali, den Ciciliani und al tempo di Dante (cf. ibid.; 1966: 87-88). 776 Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Versucht man nun die bei Bembo dargestellten Ansichten zur antiken Sprach‐ situation, die hier in den Prose verschiedenen Protagonisten des fiktiven Dialogs in den Mund gelegt werden, unter dem Blickwinkel moderner linguistischer Begrifflichkeit zu subsumieren, ergeben sich einige bekannte Aspekte in dieser Debatte, aber auch ein paar neue Nuancen. Auf die von Bembo postulierte Situation der Funktionsteilung der Sprachen in der römischen Antike unter Hinzuziehung des Griechischen hat bereits Lüdtke (2005: 37) hingewiesen, der mit Recht hier eine typische Diglossie iden‐ 490 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 777 Lüdtke (2005: 37) interpretiert hier in Bezug auf die Sprachenopposition der Renaissance die Volkssprache als „Toskanisch“, was sicherlich im Sinne Bembos grundsätzlich richtig ist, allerdings spricht dieser selbst allgemein von volgar lingua oder volgare und engt dies terminologisch keinesfalls auf das toskanische volgare ein, auch wenn er es zwei‐ fellos im Sinn hat. tifiziert. Lüdtke verweist generell hierbei auf Fishman, was jedoch dahingehend zu präzisieren ist, daß zwar die antike Situation mit einer high variety ‚Grie‐ chisch‘ und einer low variety ‚Latein‘ den Kriterien Fishmans (1967) entspricht, da zwischen den Idiome keine nahe Verwandtschaft besteht, in Bezug auf die Renaissance hingegen auch die ursprüngliche Konzeption der Diglossie nach Ferguson (1959) anwendbar wäre, da Latein und die italienische (toskanische) Volkssprache genetisch eng verwandt sind (cf. Kap. 3.1.2). 777 Festzuhalten bleibt in jedem Fall, daß Bembo hier die von Bruni skizzierte diglossische Sprachen‐ konstellation der Antike mit ‚Latein der Gebildeten‘ bzw. ‚literarisches Latein‘ vs. ,Volkssprache’ umstrukturiert und eine klare Verteilung ,schriftsprachliches Griechisch‘ vs. ,gesprochenes Latein’ formuliert. Die Idee der Heranziehung des Griechischen als Vergleichsparameter bzw. als Bestandteil der antiken römi‐ schen Kultur ist dabei zwar nicht neu, doch Bembo ist hier in der Funktionszu‐ weisung deutlicher als seine Vorgänger in der Debatte im 15. Jh. (v. infra). Bembo benennt im Rahmen dieses je unterschiedlichen Gebrauches der Idiome in Bezug auf die jeweilige Muttersprache, also das Latein der Antike und das volgare der Renaissance, ihren bevorzugten Verwendungskontext, nämlich den häuslichen Bereich (v. supra, lingua bzw. favella domestica). Aus soziolinguistischer Per‐ spektive handelt sich dabei um eine Domäne des Sprachgebrauchs, wobei auch moderne Untersuchungen bestätigen, daß eine low variety typischerweise in der Familie und im häuslichen, privaten Umfeld verwendet wird. Mehrfach hervor‐ gehoben wird durch die Protagonisten in Bembos Dialog auch die Tatsache, daß ein wichtiges Distinktionsmerkmal zwischen einer H-variety und einer L-variety der Faktor ‚Prestige‘ darstellt. Ein Idiom wird deshalb als Schriftsprache ver‐ wendet, weil ihr Eigenschaften wie dignità, stima, riverenza und prezzo zu‐ kommen, wie Bembo ausführlich darlegt. Die von ihm für die Antike postulierte Diglossie-Situation ist eng an die Distribution von Oralität und Skripturalität geknüpft, wobei der high variety - so zumindest an manchen Stellen suggerie‐ rend - die ausschließliche Funktion der medialen und konzeptionellen Schrift‐ lichkeit in der Kommunikation zukommt. Um dies zu veranschaulichen, verall‐ gemeinert er auch die Sprachkonstellation Italiens und führt weitere historische Beispiele für ein diglossisches Sprachenverhältnis an, die man folgendermaßen schematisieren kann: 491 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 778 Die Tatsache, daß zwar das griechische Alphabet aus dem phönizischen abgeleitet wurde, bedeutet jedoch nicht, daß in früher Zeit die Schriftsprache der Griechen das Phönizische war. Die historischen Zusammenhänge sind weitaus komplexer: Parallel zum Phönizischen, welches seit der Mitte des 2. Jahrtausends in Inschriften belegt ist (ältere syllabische Byblos-Schrift) und ab ca. 1050 v. Chr. sich in gewisser Weise stan‐ dardisiert hat (konsonantische Alphabetschrift), entwickelten sich davon unabhängig auf Kreta die Silbenschriften Linear A (17.-15. Jh. v. Chr.) und Linear B (15.-13. Jh. v. Chr.), die die kretische (minoische) Hieroglyphenschrift (20.-15 Jh. v. Chr.) ablösten. Auf Zypern gab es zusätzlich die kypro-minoische Schrift (Linear C) (15.-12. Jh. v. Chr.), die von der kyprisch-syllabische Schrift (11.-4. Jh. v. Chr.) abgelöst wurde. Die Mykener des griechischen Festlandes verwendeten im Wesentlichen die Linear B-Schrift (1650-12. Jh. v. Chr.). Ende des 10. Jh. wird die phönizische Schrift auf Kreta bekannt. Es ist davon auszugehen, daß nach der dorischen Eroberung (11. Jh. v. Chr.) auf Kreta im Rahmen einer Kultursymbiose aus den Resten der vorindogermanischen-minoi‐ schen Kultur (Eteokreter) und der griechisch-mykenischen sowie der Kultur der neu‐ angekommenen dorischen Griechen in Verbindung mit den Schriftinnovationen der Phönizier im 10./ 9. Jh. v. Chr. die griechische Alphabetschrift entstand (cf. Haarmann 2007: 25-29, 83-91). Dabei ist zu beachten, daß tatsächlich die frühesten Inschriften in dem neuen griechi‐ schen Alphabet auf Minoisch waren, also der Sprache der vorindogermanischen Eteo‐ kreter (Minoer). Zudem existierte auf Kreta vor dem Verschwinden der Linear A-Schrift im 11. Jh. eine gewisse Zeit eine Art regionaler Schriftbilingualismus auf dieser Insel, insofern im Norden das Mykenische (Griechisch) in Linear B verschriftet wurde, wäh‐ rend im Süden und Osten das Minoische (Vorindogermanisch) in Linear A geschrieben wurde (cf. Haarmann 2004: 141, 165). Bembo vereinfacht hier also dahingehend, daß es im griechischen Raum zwar nicht die Situation des Phönizischen als Schriftsprache bei gleichzeitiger Verwendung des Grie‐ chischen als mündliche Sprache gegeben hat, dennoch ist es - aus heutiger Sicht - bei großzügiger Interpretation sicherlich richtig, daß der frühen phönizischen Schrift ähn‐ liche Schriftsysteme in Griechenland existiert hatten, bevor das Griechische mit einem Italien (16. Jh.) Italien (Antike) Griechenland (Antike) Phönizien (Antike) Schriftsprache (high variety) Latein Griechisch Phönizisch Ägyptisch (oder andere) Mündliche Sprache (low variety) italienisches volgare Latein Griechisch Phönizisch Abb. 9: Distribution der Sprachen bei Bembo Hierbei liegt zweifellos der richtige Gedanke der Tradierung von Schriftsys‐ temen zugrunde, allerdings geht Bembo in seiner Parallelisierung deutlich zu weit, insofern dies dann nicht mehr den historischen Gegebenheiten entspricht (cf. Schöntag 2017b: 123-124). 778 Inwieweit Bembo dies selbst bewußt war und 492 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen eigenen, alphabetischen System verschriftet wurde, welches der phonologischen Rele‐ vanz der Vokale im Griechischen Rechnung trug. er an der besagten Stelle diese Überspitzung aus argumentatorischen Gründen formuliert hat, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen bzw. es ist davon auszugehen, daß hier sowohl eine nicht ganz präzise historische Kenntnis der Sprachkons‐ tellationen als auch rhetorische Hyperbolik durchscheint. Die Tatsache, daß die diglossische Funktionsteilung in Bezug auf Mündlich‐ keit und Schriftlichkeit nicht ganz so einfach war, wird spätestens dann deutlich, als Bembo die Entstehung der lateinischen und an anderer Stelle der italischen Literatursprache thematisiert, was letztlich in eine Triglossie mündet bzw. in eine abnehmende Diglossie und eine standard-with-dialect-Situation. In der An‐ tike existiert die Prestigesprache Griechisch weiterhin als Schriftsprache und - was Bembo nicht thematisiert - in Teilen Italiens auch als mündliche Sprache, während das Lateinische eine eigene, dann auch kodifizierte Schriftsprache ent‐ wickelt, die als klassisches Latein einen überregionalen Standard ausbildet, der dann im Laufe der Zeit sich zu einer Art eigenen Sprache mit immer weniger Rückbindung an die zugehörige mündliche entwickelt und schließlich zur grammatica wird. Auch die italienische Schriftsprache entwickelt sich ab dem frühen Mittelalter, ohne daß das Lateinische als high variety zunächst ver‐ schwindet, sondern die beiden Schriftidiome existieren lange parallel, zum Teil mit Funktionsteilung (cf. Kap. 6.1.2). Diese Komplexität blendet Bembo jedoch aus, wohl weniger weil sie ihm gar nicht bewußt ist, sondern weil die Sprachkonstellationen, die in den Prose an‐ gesprochen werden, als Argumentationsvehikel für bestimmte Positionen in der questione della lingua dienen (v. infra). Was nun den Sprachwandel anbelangt, so rekurriert Bembo hier zweifelsohne auf Biondos Korruptionsthese, d. h. er macht für die Veränderungen diverse Su‐ perstratvölker und deren Sprache verantwortlich, einen internen Sprachwandel des Lateinischen zieht er dabei nicht in Betracht. Während einige der Humani‐ sten der Debatte auch Substratvölker mit in Betracht ziehen, führt Bembo nur spätere externe Spracheinflüsse an. Dabei erweitert er den Katalog der Super‐ stratvölker, die für die corruptio des Lateins verantwortlich gemacht werden, und geht zeitlich weit über die Völkerwanderungszeit hinaus. Man kann dies‐ bezüglich konstatieren, daß bei früheren Autoren oft wenig deutlich zwischen Substrat- und Superstrat unterschieden wurde, bei Bembo hingegen es sich eher um eine Vermischung von Superstrat und Adstrat handelt. Dies rührt in beiden Fällen zweifelsohne daher, daß meist die chronologische Abfolge der Beeinflus‐ sung keine entscheidende Rolle spielt, sondern eher der Umfang und die Vielfalt 493 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 779 Die Araber (Sarazenen) erobern ab 827 nach und nach Sizilien (Palermo 831, Messina 843, Enna 859, Syracus 878, Taormina 902), greifen aber auch nach Unteritalien (Bari u. Tarent 841-870 / 876) sowie nach Sardinien (750 / 875-1016 / 1052) und Korsika (809 / 850-930) aus und unternehmen Plünderungsgzüge bis nach Norditalien und in die Schweiz (952-960). Die arabische Herrschaft in Sizilien bleibt am stabilsten (827-1091), die anderen Gebiete gehen früher an Byzanz oder italienische Herrschaften wieder verloren (cf. Sedlmayer 1989: 75-76; Ploetz 2008: 540). 780 Filelfo (cf. Kap. 6.2.7) erwähnt die Araber jedoch in einer ganz anderen Art von Auflis‐ tung (cf. novimus Hebraeos et Graecos, audimus item Aegyptios, Arabas, Assyrios, Persas; Filelfo, Sphort. 9; 2008: 240-241), bei der eher an eine antike als mittelalterliche oder zeitgenössische Konstellation zu denken ist. 781 Die Ungarn erreichen mit ihren Plünderungszügen nach Westeuropa im Jahre 899 / 900 erstmals Italien und ziehen durch Venetien und die Lombardei bis nach Pavia, das bei einem erneuten Zug 924 niedergebrannt wurde (cf. Sedlmayer 1989: 81). Die zahlreichen Einfälle (u. a. 921 / 922, 924, 937, 947) betreffen hauptsächlich Norditalien, mitunter aber auch Mittel- und Süditalien (z. B. 927: Toskana; 922: Latium, Kampanien; 947: Apulien) (cf. Ploetz 2008: 540). Mit dem Sieg von Otto I. (912-973, Kg. ab 951, Ks. ab 962) auf dem Lechfeld (955), der den nach Westen ausgerichteten Plünderungszüge ein Ende berei‐ tete, war auch für Italien die Gefahr durch die Ungarn gebannt. Die sprachliche Beein‐ flussung ist jedoch aufgrund der kurzen Dauer und der nur periodisch stattfindenden und lokal begrenzten Kriegszüge als minimal einzustufen. Die Osmanen eroberten im Zuge der Auseinandersetzungen mit den Seerepubliken Ve‐ nedig und Genua im östlichen Mittelmeer bzw. auf dem Balkan im Jahre 1480 die apu‐ lische Stadt Otranto als Stützpunkt, mußten aber bereits im Folgejahr aufgrund des Todes von Sultan Mehmed II. dem Eroberer (1432-1481; Sultan 1444-1446 u. ab 1451) und der Belagerung durch die Truppen des Königreiches Neapel wieder abziehen (cf. Sedlmayer 1989: 288-289). des Sprachkontaktes mit den germanischen und anderen Invasoren hervorge‐ hoben werden sollten. Zu den eindeutig als Superstratvölker, wenn auch mit unterschiedlichem Grad der sprachlichen Einflußnahme zu identifizierenden Völkern bei Bembo gehören die Goten, die Vandalen, die Alanen und die Lan‐ gobarden. Wie bereits angedeutet (v. supra) ist bezüglich der Zuordnung der Francesi e Borgognoni e Tedeschi nicht eindeutig klar, ob es hier um zeitgenössi‐ sche Adstrate oder historische Superstratkonstellationen geht (oder im Zwei‐ felsfall um beides). Die Araber, die im Mittelalter in Sizilien und Süditalien seß‐ haft wurden, 779 finden sich auch bereits bei Filelfo. 780 Bisher nicht erwähnt wurden die im 9. Jh. in Italien einfallenden Ungarn (Magyaren) und die Türken (Osmanen), die im 15. Jh. in Süditalien landeten. 781 Bembo entfaltet hier also ein Panoptikum externer sprachlicher Einflußnahme auf das Lateinische bzw. auf die von ihm als lingua nuova charakterisierte Sprache, die sich dann zum itali‐ enischen volgare entwickelt hat, über einen Zeitraum von ca. tausend Jahren. Eine interne Sprachentwicklung des Lateinischen - so sei nochmals betont - 494 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen steht für ihn nicht zur Disposition, wie bereits Strauss (1938: 51-52) treffend bemerkt. Bemerkenswert ist, wie Bembo sowohl das Prozeßhafte des allmählichen Sprachwandels hervorhebt (cf. supra, poco a poco), als auch den Assimilations- und Akkulturationsvorgang der Invasion, Landnahme und Siedeltätigkeit der Eroberer herausstellt. Dabei ist offensichtlich auch die Dauer der Okkupation für ihn von Relevanz (cf. supra, occuparla, e secondo che essi vi dimorarono e tenner piè, così ella crescesse e venisse in istato). Es läßt sich schließlich festhalten, daß Bembo das Diglossie-Konzept für die Antike mit Griechisch als H-variety und Latein als L-variety zwar nicht zum ersten Mal formuliert, aber sicherlich am prägnantesten und daß er es zudem auf andere Sprachkonstellationen erweitert. Er negiert internen Sprachwandel und führt bezüglich der extern verursachten sprachlichen Veränderung zahl‐ reiche Superstrat- und Adstratvölker auf, darunter bisher nicht genannte, auch deshalb weil er hier den zeitlichen Rahmen der Ausgliederung der romanischen Sprachen verläßt und die Einflußnahme bis in seine Gegenwart ausdehnt. Die Entstehung des zeitgenössischen volgare führt er auf eine lingua nuova zurück, die als Mischsprache von antikem (gesprochenem) Latein und den Superstrat‐ sprachen zu verstehen ist. An diesem Punkt bleibt er - wie so manch anderer vor ihm - relativ unklar, was den genauen Entstehungsprozeß, seine Chrono‐ logie und das Verhältnis von mündlichem und schriftlichem Latein anbelangt. Rekontextualisierung Wie bereits bei den Humanisten des 15. Jh. in den vorherigen Kapiteln soll im Rahmen des Versuches einer Rekontextualisierung der Positionierung Bembos zur Antike zunächst ein kurzer biographischer Abriß gegeben werden. Auch wenn sich hierbei um eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der italienischen Sprach- und Literaturgeschichte handelt, erscheint hier eine Rekapitulation wichtiger Lebensstationen und Werke nicht als redundant, da es die Verortung des entsprechenden Hintergrunds der Textaussagen erleichtert. Pietro Bembo (lat. Petrus Bembus) (1470-1547) stammt aus Venedig und wuchs in einer stadtadeligen Familie auf. Seine erste Ausbildung erhielt er wohl von einem Präzeptor, den sein humanistisch gebildeter Vater Bernardo Bembo (1433-1519), der als Senator und Botschafter der Seerepublik tätig war und in dessen Bibliothek er erste Anregungen fand, ihm angedeihen ließ. Durch die Gesandtschaften seines Vaters lebte Pietro Bembo in den Folgejahren zunächst in Florenz (1478-1480), dann in Rom (1487-1488), in Bergamo (1489-1490) und schließlich ab 1490 wieder in Venedig, so daß er einige der kulturell, sprachlich und politisch wichtigen Zentren des humanistischen Italien kennenlernte. In 495 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 782 In Venedig wurde er Mitglied der gelehrten Gesellschaft (Akademie) von Aldo Manuzio (1449-1515) und veröffentliche in dessen Verlag den Canzoniere Petrarcas (1501) und die Divina Commedia Dantes (1502) (cf. Schönberger 1994: 9), ein wichtiger Schritt zur Kanonisierung der italienischen Literatur und zur Prestigesteigerung des volgare ge‐ genüber dem Lateinischen (cf. Kap. 6.2.9). 783 Die Breven (zu lat. breve ‚kurz‘) sind kürzere Schreiben des Papstes (z. B. Urkunden, Vereinbarungen, Verordnungen, Verwaltungsschreiben, Korrespondenzen), die in der Secretaria brevium (it. Segretario dei Brevi) nicht vom Papst selbst, sondern vom zustän‐ digen Sekretär gezeichnet werden. 784 Die kirchliche Laufbahn bedeutete für Bembo (wie für andere Gelehrte auch) vor allem ein gesichertes Einkommen durch entsprechende Pfründe sowie die sich daraus erge‐ bende Stellung an den dem Humanismus zugeneigten Höfen und der Kurie, die die Keimzelle der rinascimentalen Gelehrtenrepublik bildeten. Die sich daraus ergebenden religiösen Pflichten wurden entsprechend der zeitgenössischen Gepflogenheiten eher weit ausgelegt, wie u. a. die Anzahl der keineswegs verheimlichten Kinder Bembos be‐ zeugt (cf. Firpo 1990: 133-134). 785 Hervorzuheben wäre für seine Karriere auch Giovanni de’ Medici (1475-1521), den er am Hofe der Montefeltre in Urbino kennelernet und der später als Leo X. (1513-1521) Papst wurde und als Mäzen der studia humanitas auftrat. Aus Verbundenheit holte er seine Bekannten Bembo und Sadoleto nach Rom und verschaffte ihnen ein entspre‐ chendes Auskommen an der Kurie (cf. Strauss 1938: 47). den Jahren 1492 bis 1494 ging er zum Studium des Griechischen nach Messina zu Konstantin Laskaris (1434-1501), danach setzte er seine Ausbildung an der Universität Padua (1494-1495) fort, wo er sich der Philosophie widmete, sowie in Ferrara (1497) bei dem bekannten Humanisten und Arzt Niccolò Leoniceno (1428-1524). Nach zwischenzeitlichen Aufenthalten in Venedig 782 wechselte er an den Hof von Guidobaldo da Montefeltre (1472-1508, Hz. ab 1482) in Urbino (1506), an dem sich auch Baldassare Castiglione (1478-1529) aufhielt, und schließlich nach Rom (1512), wo er 1513 von Papst Leo X. (1513-1521) zum Sek‐ retär der Breven 783 ernannt wurde. Nach seinem gesundheitsbedingten Rücktritt aus dem Amt (1521) zog er sich nach Padua zurück und arbeitete an seinen Werken, wurde dann aber 1530 Bibliothekar der Biblioteca Nicena (später Bibli‐ oteca Nazionale Marciana) und offizieller Historiograph der Republik Venedig. Im Jahre 1539 erfolgte seine Ernennung zum Kardinal durch Papst Paul III . (1534-1549), 1541 wurde er zudem zum Bischof von Gubbio berufen, dann von Bergamo (1544) und schließlich zurück an die Kurie nach Rom. 784 Bembo stand in Kontakt mit zahlreichen Gelehrter seiner Zeit, worunter neben seinem Sek‐ retär Cola Bruno (1480-1542) aus Messina vor allem Ercole Strozzi (1471 / 1473-1508) und Iacopo Sadoleto (1477-1547), die er beide am Hofe der d’Este in Ferrara kennenlernte sowie Angelo Poliziano (1454-1494) und Gio‐ vanni Pico della Mirandola (1463-1494) hervorzuheben sind, die ihn in seiner Arbeit und seinem Denken beeinflußt haben. 785 496 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 786 Die Fortsetzung der Stadtgeschichte Venedigs Sabellicos (1436-1506) (cf. Historiae rerum venetarum ab urbe condita, 1487; cf. Kap 6.29) wurde postum publiziert, und zwar auf Latein (1551) und in der von Bembo selbst angefertigten Übersetzung in der italie‐ nischen Volksprache (1552). 787 Zu einer umfassenden Darstellung der vita Bembos mit zahlreichen biographischen und werksgeschichtlichen Details cf. z. B. Kidwell (2004). Sein literarisches Schaffen beginnt mit seinem Jugendwerk, dem Dialog De Aetna (1496), und setzt sich dann in Werken zur Historiographie sowie Literatur- und Sprachtheorie fort (Historia Veneta, 1487-1513; 786 De imitatione, 1514; Prose della volgar lingua, 1525; De Virgilii Culice et Terentii fabulis (De corruptis poe‐ tarum locis), 1530); er verfaßt außerdem mehrere Gedichtsammlungen (Gli Aso‐ lani, 1505; Rime, 1530; Carmina, 1533) sowie zahlreiche Briefe (Lettere 1548, Lettere II 1550; Epistolarum familiarum libri VI , 1552) (cf. Dionisotti 1966: 133-146; McAuliffe 1999: 201-202; Hintzen 2012a: 70-71). 787 Zum Entstehungshintergrund der hier im Fokus stehenden Prose della volgar lingua, welches eines der einflußreichsten Werke im Rahmen der questione della lingua werden sollte, seien im Hinblick auf die vorliegende Diskussion selektiv zwei Aspekte hervorgehoben: Zum einen die Tatsache, daß Pietro Bembo zum Zeitpunkt der Abfassung der Prose im Besitz des damals einzig bekannten Ma‐ nuskriptes von Dantes De vulgari eloquentia war (Triv. 1088, Ende 14. Jh.), wel‐ ches er von Gian Giorgio Trissino (1478-1550) aus Vicenza erhalten hatte (cf. Marazzini 1993a: 242), der diese wichtige sprach- und literaturtheoretische Ab‐ handlung Dantes erstmals im Jahre 1529 übersetzte und veröffentlichte (cf. Kap. 6.2.2). Bembo studiert das Manuskript des DVE womöglich in Rom und läßt - wohl zwischen 1513 und 1525 (cf. Pulsoni 1997: 633) - eine Abschrift an‐ fertigen (Vat. Reg. lat. 1370, f 17-54), genauso wie auch Angelo Collocci (1467-1549) (Vat. lat. 4817, f 284), dessen Kopie jedoch nur auszugsweise er‐ halten ist. In den Prose referiert Bembo zwar niemals direkt auf das bisher kaum bekannte Traktat und die eigentliche Diskussion der Humanisten zu dieser wichtigen Schrift entfacht sich erst später (cf. Klein 1957: 43-47), dennoch ist ein Einfluß auf das Denken Bembos in Bezug auf seine Sprachtheorie in den Prose, die er bereits 1501-1502 begann, aber erst 1524 abgeschlossen hatte und 1525 schließlich in Venedig publizierte, in gewisser Weise naheliegend. Trissino hat das Manuskript Dantes ( DVE ) erstmals einem humanistischen Kreis in Florenz in den Orti Oricellari vorgestellt (1513 / 1514), danach bei seinem Aufenthalt in Rom (1514-1515) Bembo, der es für die Bibliothek des Vatikans kopierte (cf. Vat. Reg. 1370). Systematisch hat Bembo für die ersten beiden fer‐ tigstellten Bücher das Traktat wohl nicht mehr verwendet (cf. Marx 1998: 43-44). Inwieweit dennoch Dantes DVE für den sprachtheoretischen Teil von Relevanz 497 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 788 Bembo und Fortunio agieren demgemäß im gleichen sprachlichen und kulturellen Kon‐ text; es ist auch belegt, daß Fortunio sich zur selben Zeit in Venedig aufhielt, als Bembo seine volgare Publikationen bei Manuzio verlegen läßt - sie kannten sich, hatten aber ein schwieriges Verhältnis (cf. Marazzini 2000: 743). 789 Die tatsächlich erste Grammatik der italienischen Volkssprache wurde hingegen von Leon Battista Alberti (1404-1472) verfaßt (Grammatica della lingua toscana bzw. Gram‐ matichetta vaticana, ca. 1450), sie wurde jedoch nicht gedruckt und entsprechend dürftig rezipiert (cf. Ellena 2011: 70) (cf. Kap. 6.2.4). Zu weiteren frühen Grammatiken im Cin‐ quecento wie Trissinos Grammatichetta (1529) und weiteren cf. z. B. Trabalza (1963) oder Salani (1993). 790 Zudem hätte eigentlich Bembos Grammatik die erste des Italienischen sein können, wurde aber letztlich wegen verspäteter Drucklegung von Fortunio ausgestochen. Bembo hatte den wesentlichen Teil der Prose bereits 1515 fertigestellt, d. h. ein Jahr vor dem Erscheinen von Fortunios Regole (cf. Marti 1955: XI; Marazzini 2013: 45-46). ist oder Bembo die darin enthaltenen Gedanken eher über das auch in seinem Besitz befindliche Convivio mit einfließen läßt, sei dahingestellt. Zum anderen ist ein sicherer Einfluß der Regole grammaticali della volgar lingua (1516 in Ancona erschienen) des Giovanni Francesco Fortunio (ca. 1470-1517) aus Pordenone (Veneto), 788 der ersten gedruckten Grammatik des Italienischen, zu verzeichnen. 789 Obwohl Fortunio grundsätzlich wie Bembo ein archaisierendes Trecento-Florentinisch als Maßstab für seine Regole zugrunde‐ legt und damit im Rahmen der questione della lingua eine ähnliche Position ein‐ nimmt (cf. Marchiò 2012: 245-246), zumal er sich ja durch das Zugrundelegen von grammatischen Strukturen gegen die Lateinhumanisten und deren Abwer‐ tung des volgare einsetzt, ist Bembo nicht gut auf ihn zu sprechen. Dies liegt einerseits daran, daß Fortunio sich polemisch zu den von Bembo bei Manuzio besorgten Ausgaben von Dante und Petrarca (v. supra) äußert und andererseits an der unterschiedlichen Auffassung bezüglich der Sprache in der Divina Com‐ media, die Fortunio rückhaltlos befürwortet, während Bembo sie in Bezug auf die lexikalische Bandbreite im Hinblick auf eine allgemeine Literatursprache nur eingeschränkt für adäquat hält und entsprechend selektiert. Hinzu kommt der Vorwurf Bembos, daß Fortunio bar jedweder theoretischer Grundlage seine Regole verfaßt bzw. diese nicht dargelegt habe (cf. Marazzini 1993a: 242-243; Marazzini 2000: 743-744). Entsprechend anders geht Bembo bei der Abfassung seiner Prose vor und schaltet der (in dialogischer Form) präsentierten Grammatik eine relativ um‐ fangreiche Abhandlung zur Sprachtheorie vor, eben jenen Teil, der im vorlie‐ genden Kontext von Relevanz ist, da er dort - bemüht um historische und the‐ oretische Tiefe - auch einen Exkurs zur antiken Sprachsituation einflicht. 790 Bei Fortunio findet sich diese Thematik nur sehr knapp abgehandelt, da es ihm eben nicht um eine fundierte Begründung seiner Arbeit ging - er lehnte 498 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 791 Fortunio folgt hier der terminologischen Differenzierung von Lorenzo Valla (cf. Kap. 6.2.8) und bezeichnet die lateinische Sprache (lingua latina) vor ihrem ersten Ver‐ breitungsprozeß als lingua romana, später dann als lingua italica (anders als z. B. Gua‐ rino). Ansonsten folgt Fortunio hier im Wesentlichen der Korruptionsthese Biondos, womöglich war aber seine direkte Quelle Filelfo (cf. Fortunio, Reg., Proemio 16; 2001: 8, FN zu 16). 792 Bembo kannte beispielsweise das Manuskript des Cortegiano (1528), welches Baldassare Castiglione (1478-1529) ihm 1518 zur (vor allem stilistischen) Beurteilung zusandte (cf. Gmelin 1932: 208), und zwar trotz der Divergenzen beider in Bezug auf die Idealsprache, denn Bembo war mit dessen Position einer höfischen Koiné (lingua cortigiana) genau‐ sowenig einverstanden wie Castiglione mit Bembos fiorentino arcaizzante. sich hauptsächlich stark an das Modell von Priscian an (cf. Bossong 1990: 100) -, sondern eher pragmatisch um die erstmalige Formulierung von Regeln und die Darlegung von Strukturen der Volkssprache in Anlehnung und Konkurrenz zum Lateinischen. Alla raggione delli seguitatori della latina lingua in ogni suo volgare scrivere, si può ancho cosí rispondere: che la latina lingua (la quale prima romana si chiamava) 791 , per la Italia diffusa, indi pigliando il nome, per ciò che tutti li Italici, et dotti e indotti (benché con diversa tra loro maniera di dire), quella usavano, per le varie incursioni de‘ barbari fu in questa, che noi volgar chiamiamo, trasfusa, et cosí divenne assai diversa lingua da quella (la quale tra pochi si rimase intiera) et fu ricevuta dalle regioni come non meno atta che l’altra ad isprimer li concetti nostri, qual si può conoscer nelle opere delli spesso sopranomati auttori. (Fortunio, Reg., Proemio, 16; 2001: 7-8) Bembo hingegen, hat den Anspruch, in den Prose eine sprachtheoretisch elabo‐ rierte Untermauerung für seine Ausarbeitung einer idealen italienischen Lite‐ raturbzw. Schriftsprache anhand des tre corone-Modells mit spezifischer Ge‐ wichtung der einzelnen auctores zu liefern. Damit verleiht er seinen Ausführungen zur Grammatik im engeren Sinn, also dem 3. Teil der Prose, mehr Gewicht und positioniert sich gleichzeitig im Rahmen der questione gegen an‐ dere Entwürfe und Konzepte. 792 Nicht zu vergessen ist in diesem Kontext, daß Bembo zwar Fürsprecher der italienischen Volkssprache und deren Verwendung in der Literatur war (cf. um‐ anesimo volgare), was sowohl seine Herausgabe von Dantes und Petrarcas wich‐ tigsten Werke im volgare beweisen (cf. Kap. 6.2.9), als auch seine eigenen Ar‐ beiten - so gebraucht er das Italienische sowohl in der Dichtung (cf. z. B. Asolani, Rime) als auch in der Wissenschaft (cf. Prose) -, dennoch ist er auch ein hervor‐ ragender Latinist (cf. z. B. De Aetna, Historia veneta) und hat ebenfalls solide Kenntnisse des Griechischen (v. supra). 499 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 793 Bembo formuliert sein Konzept der Nachahmung vor allem im Rahmen des berühmten Disputes mit Pico della Mirandola im Jahre 1512. In dem entsprechenden Briefwechsel legt Bembo dar, daß seine Idee der imitatio genau genommen aus drei Phasen besteht, nämlich zunächst einer Nachahmung (imitari), dann dem Heranreichen an das Vorbild (assequi) und schließlich dem übertreffen (praeterire), wobei er wohl nicht wirklich an‐ nahm, daß die alles überragenden Vorbilder Vergil und Cicero einmal durch die volks‐ sprachliche Literatur übetrumpft würden (cf. McLaughlin 1995: 264). Die Beschäftigung mit beiden Sprachen bzw. deren jeweiliger Gebrauch kann bei Bembo in Bezug auf die Funktionsaufteilung auch nach Domänen im sozi‐ olinguistischen Sinne gesehen werde. Marti (1955: VIII ) spricht dabei von einem „bifrontismo linguistico del Bembo“, der sich durch „ciceronanissimo nei ne‐ gotia“ und „filologo romanzo negli otia“ äußert oder modern ausgedrückt die Domänen Business vs. Freizeit betrifft (cf. Kap. 3.1.2). Für die Einordnung der Ausführungen zur Antike ist zu berücksichtigen, daß es für Bembo das prioritäre Ziel war, zu erklären, warum dem zeitgenössischen volgare, also dem Italienischen bzw. präziser dem der tre-corone (cf. Petrarca, Boccaccio) eine Nobilität bzw. Prestige zukam, ohne dabei gleichzeitig das „klas‐ sische Latein“ (cf. Vergil, Cicero) zu beschädigen (cf. Kap. 4.1.1.3). Allerdings betrachtete er das Latein bereits als eine Fremdsprache, weshalb das italienische volgare grundsätzlich zu bevorzugen sei (cf. Coseriu 2020: 36). Bembo postuliert dabei kraft seiner Autorität (und derjenigen, die sich ihm in dieser Hinsicht anschließen), daß die Sprache des florentinischen Toskanisch des 14. Jh. Mo‐ dell-Charakter bekommt (d. h. eine archaisierende Orientierung), wobei insbe‐ sondere Petrarca für die Lyrik und Boccaccio für die Prosa als Leitbilder formu‐ liert werden, analog zu den antiken Vorbildern Vergil (Lyrik) und Cicero (Prosa). 793 Dante gilt hingegen aufgrund seiner sprachlichen Heterogenität (cf. lateinische, okzitanische, französische Entlehnungen, Lexeme verschiedenster italienischer Varietäten, Substandardwörter, etc.) als nur eingeschränkt vorbild‐ haft. Obwohl Dante, dem er durch seine aldinische Publikation früh seine Referenz erwiesen hat, durchaus mit zum Kanon der Besten gehört, ist er für ihn im di‐ rekten Vergleich mit den anderen beiden Dichtern nachrangig. Für Bembo ist Dantes Sprache durch „Stilmischung, Plurilinguismus und Expressionismus“ gekennzeichnet, was von ihm aus der Sicht des Stilistikers mit Blick auf die klassischen Vorbilder als „Disharmonie, Ungeschliffenheit und Exzess“ inter‐ pretiert wird. Ganz anders als Petrarca, der dem ciceronianischen Ideal einer Ausgewogenheit in Bezug auf Metrik und Duktus (suono und numero sowie piacevolezza und gravità) am nächsten ist, aus diesem Grund und wegen Bembos Präferenz für die gebundene Form auch über Boccaccio zu stellen ist, und des‐ 500 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 794 Zu weiteren stilistischen Prinzipien Bembos wie Wohlklang (concento), Harmonie (ar‐ monia), Anmut (leggiadria), Würde (gravità) oder Selektion und Anordnung der Wörter (selezione della parole, disposizione), den rhetorischen Kategorien von decorum und persuasio sowie der erlaubten varietà cf. Neumann (2006). 795 Cf. dazu supra die Abfolge der korrespondierenden Diglossie-Sprachkonstellationen. 796 Im zweiten Teil seiner Prose führt er deshalb nicht nur die tre corone als Autoren auf, sondern listet eine ganze Reihe von Dichtern des Duecento und des Trecento auf (über 20), und schafft damit den ersten Kanon der italienischen Literatur (cf. Klein 1957: 74). halb letztlich mit der größten Dignität als Modellautor belegt wird (cf. Regn 2009: X). 794 Hinter dieser Orientierung verbirgt sich der Gedanke der translatio studii bzw. der translatio litterarum, d. h. die italienische Volkssprache soll nach der Auf‐ fassung Bembos das Erbe der Römer antreten. Diese übernahmen einst die Kultur von den Griechen, welcher wiederum die der Phönizier (sowie die der Assyrer und Chaldäer) vorausgeht und als älteste wird in diesem Modell die der Ägypter angesetzt. 795 Wie Dante begründet Bembo den Vorzug des volgare u. a. mit seiner Natürlichkeit, aber auch weil die Zeit reif sei für die Ablöse des La‐ teinischen. Die italienische Volkssprache habe längst durch ihre bekannten Dichter ein gleichwertiges Prestige und die gleiche sprachliche Ausdrucksfä‐ higkeit wie das Lateinische erlangt. 796 Dabei sei das Toskanische wie früher das Attische innerhalb der griechischen Koiné der edelste Dialekt (cf. Klein 1957: 73-75). Dabei ist nicht zu vergessen, daß zunächst außerhalb der Toskana die Mo‐ dellhaftigkeit des Toskanischen bzw. des Florentinischen keineswegs unum‐ stritten war. Doch Bembo erkennt auch als Venezianer die Vorteile der bereits bestehenden Literaturtradition in dieser regionalen Varietät: Per parte sua il veneziano Bembo accettava la dottrina nazionalistica medicea, che rivendicava come propria di Firenze e della Toscana, la lingua che Dante, Petrarca e Boccaccio avevano con le loro opere imposto alla cultura di tutta Italia. Conseguen‐ temente egli accettava di imparare quella lingua, nella sua proprietà e purezza, senza contaminazioni dialettali né latine. Ma la contaminazione era, come già s’è detto, di‐ venuta normale, nella stessa Toscana. Bisognava dunque risalire, per la prosa come per la poesia, a modelli anteriori, di un’età incorrotta, alla lingua toscana di Dante, del Petrarca e del Boccaccio. Solo una scelta linguistica rigorosa, conforme a una tradi‐ zione indiscutibile, poteva giustificare pienamente la ripresa della letteratura volgare in concorrenza con la trionfante letteratura umanistica latina. (Dionisotti 2002: 38) Die Nachwirkung der Prose, in denen Bembo seine im Einzelnen zwar nicht völlig neuen, aber doch systematisierten und theoretisch fundierten Gedanken, 501 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 797 Bembos Position in der questione ist dementsprechend die Wahl des prestigereichen fiorentino der tre-corone, auch mit dem Argument gegen ein toscano vivo, daß man nicht nur für die Lebenden schreibe, sondern auch für die Nachwelt. 798 „Eine einleuchtende Erklärung dafür, wie er diese Sprache [das Toskanische, R. S.] ge‐ lernt hat, gibt es bis heute nicht. Jedenfalls muß er sie aus Büchern durch Lektüre und nicht primär durch Umgang mit Muttersprachlern erworben haben“ (Kapp 1994: 135). niederlegt, verdankt er vor allem seiner Strahlkraft im humanistischen Kontext seiner Zeit. Entscheidend ist, daß hinter dieser Schrift über die Volkssprache die gewaltige, alle anderen weit überragende Persönlichkeit des anerkannten größten Humanisten seiner Zeit stand. Kein anderer hätte sich mit gleicher Autorität für die Muttersprache einsetzen können. Kein anderer konnte mit gleichem Gewicht sagen, die Volkssprache sei durch die großen Dichter des Trecento zu einer solchen Höhe emporgetragen worden, daß sie dem Lateinischen an Ausdrucksfähigkeit (copia), an Größe (gran‐ dezza) und Anmut (piacevolezza) gleich, wenn nicht überlegen wurde. (Klein 1957: 73) Im Zuge der Betrachtung der Antike rekurriert er auf die Pflanzenmetapher des Werdens und Vergehens; d. h. die Situation in der Antike ist eine Sache, aber aus dem „Unglücksfall“ des durch die Barbarensprachen veränderten Lateins ent‐ steht etwas Neues (cf. generatio), nämlich das Italienische, welches durch die kommenden Jahrhunderte aber erst eine lenta nobilitazione erfahren mußte (durch entsprechende Autoren des volgare toscano, die den klassischen latein‐ ischen folgen). 797 Dieses miglioramento progressivo ist nach Bembo prinzipiell für jede Sprache möglich (cf. Marrazzini 1993: 245). Bembo selbst realisiert seine sprachliche und literaturästhetische Idealvorstellung im Sinne einer imitatio der antiken und der Trecento-Vorbilder in seinen Asolani (Prosimetrum) und seinen Rime (Lyrik) (cf. Michel 2005: 376). 798 Die humanistische elegantia-Doktrin, wie sie beispielsweise bei Valla (cf. Kap. 6.2.8.) für das Lateinische formuliert wurde, versucht Bembo nun auf das volgare zu übertragen. Für die Darlegung seiner Position zur Sprachkonstellation der Antike kann Bembo beim Abfassen seiner Prose auf seine bereits ca. 80 Jahre Diskussion währende mit zahlreichen Beteiligten zurückgreifen, dennoch bleiben die wich‐ tigsten Protagonisten die des Initialdisputes, also Bruni und Biondo, deren An‐ schauungen hier durchscheinen. Die Idee einer funktionalen Trennung mit zwei Idiomen übernimmt Bembo zweifelsohne von Bruni, interpretiert diese jedoch im Sinne der Opposition ,Griechisch vs. Lateinʻ. Die Idee, das Griechische mitzuberücksichtigen, ist keineswegs neu und findet sich schon bei Bruni, wenn auch kaum ausgeprägt, dann aber vor allem bei den gräkophilen Humanisten Guarino und Filelfo, die das Griechische aus eigener Anschauung als lebendige 502 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Sprache kennengelernt hatten und entsprechende Vergleiche zum Lateinischen ziehen. Auch Poggio führt das Griechische an, und zwar in Bezug auf die Antike mit dem Exempel der Dreisprachigkeit des Dichters Ennius (cf. Kap. 6.2.3, 6.2.5, 6.26, 6.2.7). Bembo ist jedoch derjenige, der das Griechische als wichtigste bzw. einzige Schriftsprache der Römer postuliert und das Lateinische im Wesentli‐ chen auf die Mündlichkeit reduziert. Die chronologischen Zusammenhänge und verschiedenen Entwicklungsstufen, wie aus dieser Konstellation das Lateinische ebenfalls zur angesehenen Schriftsprache aufsteigt - was ihm ja durchaus be‐ wußt gewesen sein muß -, skizziert er weniger deutlich. Die Anschaulichkeit und die Drastik des Vergleichexempels für seine Argumentation scheinen hierbei im Vordergrund zu stehen. Was den Einfluß Biondos anbelangt, so zeigt sich dieser vor allem in der von Bembo übernomenen Korruptionsthese, wobei im Hinblick auf die aufgeführten Barbarenvölker, die für den „Niedergang“ der latinitas verantwortlich gemacht werden, weitere Einflüsse sichtbar werden. Da der Katalog dieser Invasoren im Rahmen der Debatte sukzessive erweitert wurde, treten hier indirekt die Ideen in erster Linie von Poggio, Guarino und Filelfo zu Tage. Auch in Bezug auf diesen Aspekt der Diskussion ist Bembo jedoch „kreativ“ und fügt neue Sprachkon‐ taktszenarien hinzu, was die ungebrochene Dynamik des Disputs deutlich macht. Was seine Betonung der Einheitlichkeit des Lateins der Antike anbelangt, so ist er in Bezug auf diesen Punkt vor allem Poggio sehr nahe, der ebenfalls als direkte Reaktion auf Bruni darauf besonderen Wert legt. Nicht zu vergessen ist in Bezug auf die Verortung von Bembos Position, daß er sich auch im Austausch mit zahlreichen Zeitgenossen befand (z. B. Manuzio, Castiglione), die sich - wenn auch „nur“ im Rahmen der questione della lingua - mit diesem Aspekt der Antike beschäftigten. Synthese Hinsichtlich der Verortung Bembos im Rahmen der Debatte um die antike Sprachkonstellation anbelangt, so ist zunächst zu konstatieren, daß er durch seine Ausführungen in den Prose della volgar lingua zweifellos als Teil dieser auch im 16. Jh. noch lebendigen Diskussion gesehen werden kann. Bembo ori‐ entiert sich in seiner Darstellung einerseits an Bruni, dessen Idee der funktio‐ nalen Trennung von prestigreicher Bildungssprache (bzw. Schrift- und Litera‐ tursprache) und mündlicher Umgangssprache er übernimmt, dabei jedoch nicht ein volgare antico einem literarischen Latein gegenüberstellt, sondern eine Op‐ position zwischen dem Lateinischen als Sprache des Volkes und dem Griechi‐ schen als Sprache der Gelehrten im antiken Rom formuliert. Diese Konstellation 503 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini parallelisiert er sowohl mit der zeitgenössischen (italienisches volgare vs. La‐ tein), dabei unter der klaren Einsicht, daß das Latein seiner Epoche, gerade auch durch die humanistische Reform, eine Art lingua morta darstellt, als auch mit weiteren antiken Konstellationen (z. B. Griechisch vs. Phönizisch). Andererseits rekurriert Bembo auf Biondo, dessen Korruptionthese er übernimmt, allerdings mit gewissen Modifikationen. Er erweitert - unter Verzicht auf die von anderen Protagonisten seit Alberti berücksichtigten Substratsprachen - den Katalog der Superstratsprachen bzw. -völker und dehnt die Sprachkontaktszenarien bis in die zeitgenössische Gegenwart aus, d. h. er bemüht auch Adstratkonstellationen. Zudem läßt er am Ende der Antike - ohne präzise zeitliche Bestimmung, aber mit Betonung des Prozeßhaften - eine lingua nuova entstehen, die sich als eine Mischsprache aus dem Lateinischen und den zahlreichen Barbarensprachen konstituiert habe und die schließlich die Basis für das moderne volgare bilde (cf. generatio vs. alteratio Kap. 6.1.3). Das Lateinische selbst sieht er in der Antike als eine einheitliche Sprache, diasystematische Abstufungen wie bei Biondo oder anderen finden sich hingegen kaum. Die für uns aus heutiger Sicht nun sprachwissenschaftlich faßbare Situation des Lateins in der Antike, seine Heterogenität und Veränderlichkeit sowie die Entwicklung zu den romanischen Sprachen ist für Bembo also noch nicht voll‐ umfänglich faßbar oder anderes ausgedrückt: „Der Begriff und das Faktum des Vulgärlateins ist Bembo noch unbekannt“ (Strauss 1938: 52) und so bildete das antike volgare für ihn in seiner Argumentationskette zugunsten des von ihm favorisierten archaisierenden Modell des Trecento-Florentinischen mit Boc‐ caccio (Prosa) und Petrarca (Lyrik) als Leitbilder einer imitatio für eine italieni‐ sche Literatursprache „nur“ eine historische Fundierung. Dies gilt allerdings mutatis mutandis auch für die anderen an dieser Diskus‐ sion beteiligten Gelehrten, die ebenfalls meist in ihren Traktaten einen anderen Fokus hatten. Im Zuge sprachtheoretischer Reflexion handelt es sich jedoch um eine weitere wichtige Annäherung an das Verständnis über die lateinische Sprache in der Antike, die einen vorläufigen Abschluß erst mit Celso Cittadini (cf. Kap. 6. 2. 16) erfährt. 6.2.12 Baldassare Castiglione (Balthassaris Castillionis) Die Lebendigkeit der Streitfrage um die Sprachsituation der Antike setzt sich im 16. Jahrhundert nahtlos fort. Parallel zu den Prose della volgar lingua des Pietro Bembo entsteht ein anderes äußerst einflußreiches Werk der Renaissancekultur, 504 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 799 Der Cortegiano liegt in zahlreichen Editionen vor; für vorliegende Analyse sei auf die umfangreich kommentierte Ausgabe von Bruno Maier zurückgegriffen, und zwar in der zweiten Auflage von 1964 (Neudruck 1973) (cf. Castiglione, Corteg.). nämlich Il libro del Cortegiano (1528) von Baldassare Castiglione (1478-1529). 799 Am Hof der Montefeltre von Urbino entwickelt Castiglione sein Idealbild eines höfischen Edelmanns, welches in ganz Europa Verbreitung finden sollte. Im Rahmen dieser umfangreichen dialogischen Abhandlung kommt er auch immer wieder auf sprachliche Aspekte zu sprechen. Seine Ausführungen, die ein Modell einer lingua cortigiana skizzieren, die nicht rein auf dem Toskanischen beruht, und zwar im Sinne eines toscano vivo, sondern auch andere Varietäten der maß‐ geblichen Höfe Italiens gleichberechtigt miteinbeziehen, gehören zu den zent‐ ralen Stellungnahmen im Rahmen der questione della lingua. In diesem Kontext kommt Castiglione auch auf die antike Sprachenfrage zu sprechen, die im Fol‐ genden behandelt werden soll. Textanalyse Die Tatsache, daß die Wahl einer adäquaten Sprache für Castiglione eine wich‐ tige Frage sowohl in Bezug auf die Abfassung seines Buches als auch hinsichtlich der im Text abgehandelten Thematik der höfischen Gesellschaft ist, zeigt sich darin, daß er schon in der einleitenden Widmung Al reverendo ed illustre signor Don Michel de Silva, vescovo di Viseo einige grundsätzliche Gedanken dazu vo‐ rausschickt. Ma perché talor gli omini tanto si dilettano di riprendere, che riprendono ancor quello che non merita riprensione, ad alcuni che mi biasimano perch’io non ho imitato il Boccaccio, né mi sono obligato alla consuetudine del parlar toscano d’oggidì, non restarò di dire che, ancor che ʼl Boccaccio fusse di gentil ingegno, secondo quei tempi, e che in alcuna parte scrivesse con discrezione ed industria, nientedimeno assai meglio scrisse quando si lassò guidar solamente dall’ingegno ed instinto suo naturale, senz‐ ’altro studio o cura di limare i scritti suoi, che quando con diligenzia e fatica si sforzò d’esser più culto e castigato. (Castiglione, Corteg., Dedica II; 1964: 72) Zunächst einmal ist allgemein festustellen, daß es im Gegensatz zum 15. Jahr‐ hundert oder gar zum 14. Jahrhundert (cf. Dante, DVE ) hier nicht um die Ver‐ teidigung des volgare gegenüber dem Lateinischen geht, sondern die Sprachen‐ frage eine rein italienische geworden ist. Wie bereits Alberti (cf. Kap. 6.2.4) selbstbewußt seine Abhandlung über das Hauswesen in der Volkssprache ver‐ faßt hat, tritt auch Castiglione mit dem Anspruch an, seine Darstellung zum Leben bei Hofe im volgare verfassen zu können, allerdings mit dem Unterschied, daß er sich nicht für die Volkssprache an sich zu rechtfertigen genötigt sieht, 505 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 800 Die Prose Bembos und der Cortegiano Castiglione sind partiell parallel entstanden; Bembo verfasst die Prose, die 1525 publiziert wurden, zwischen 1501 / 1502 und 1524 (cf. Kap. 6. 2. 11), der Cortegiano wurde in einer ersten Version 1513-1514 geschrieben, in einer zweiten 1515-1518 sowie in einer dritten 1520-1524 und schließlich 1528 ge‐ druckt, wobei Castiglione bis vor Drucklegung noch Änderungen vornahm (cf. Weaver 1999: 358). 801 Gmelin (1932: 202-203) betont ebenfalls, daß Castiglione sich formal und inhatlich von der imitatio-Forderung Bembos distanziert (cf. die Zitate der Dedica), da er bei Boccaccio nichts Verwertbares gefunden habe und deshalb lieber eklektisch direkt auf antike Quellen wie Xenophon, Platon und vor allem Cicero zurückgreift. 802 „E perché al parer mio la consuetudine del parlare dell’altre città nobili d’Italia, dove concorrono omini savi, ingeniosi ed eloquenti, e che trattano cose grandi di governo de‘ stati, di lettere, d’arme e negoci diversi, non deve essere del tutto sprezzata, dei vocabuli che in questi lochi parlando s’usano, estimo aver potuto ragionevolmente usar scrivendo quelli, che hanno in sé grazia ed eleganzia nella pronunzia e son tenuti com‐ munemente per boni e significativi, benché non siano toscani ed ancor abbiano origine di fuor d’Italia“ (Castiglione, Corteg., Dedica II; 1964: 74). 803 „[…] né comprendo perché ad una consuetudine di parlare si debba dar tanto maggiore autorità che all’altra […]“ (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 74). sondern für seine Wahl einer bestimmten Varietät bzw. eines Varietätenspekt‐ rums derselben. Dabei hätten ihm seinen Ausführungen gemäß zwei Möglichkeiten offenge‐ standen, nämlich die Sprache Boccaccios oder das zeitgenössische, lebendige Toskanisch (toscano d’oggidì). Die Rekurrenz auf Boccaccio würde dem archa‐ isierenden Modell eines Florentinisch des 13./ 14. Jahrhunderts entsprechen, welches auch insbesondere Pietro Bembo in seinen Prose della volgar lingua propagiert (cf. Kap. 6. 2. 11). 800 Hierbei würde im Sinne einer imitatio der antiken Vorbilder (Cicero, Vergil) übertragen auf die Situation in Italien, im Falle von Prosaliteratur Boccaccio als Modellautor fungieren (für die Lyrik hingegen Pet‐ rarca). Castiglione lehnt jedoch das Prinzip der imitatio sowohl formal wie auch inhaltlich grundsätzlich ab und weigert sich streng, der Sprache Bocaccios zu folgen (cf. Strauss 1938: 60). 801 Rein dem lebendigen Sprachgebrauch der Stadt Florenz bzw. dem Toskanischen zu gehorchen ist für ihn ebenswenig eine Op‐ tion, denn auch in anderen Städten Italiens gebe es schließlich zahlreiche sprachgewandte Gelehrte, in deren Idiom ebenfalls wichtige Themen abgehan‐ delt würden und es wäre ungerechtfertigt, wenn diese Stadtsprachen Mißach‐ tung fänden. 802 Es gebe letztendlich auch keine Rechtfertigung, die eine Art zu sprechen (una consuetudine di parlare) einer anderen vorzuziehen und dieser somit mehr Autorität zu verleihen (cf. Strauss 1938: 60-61). 803 Bei dem hier the‐ matisierten Sprachgebrauch, der hier vor allem durch consuetudine ausgedrückt wird, aber auch durch uso (cf. parlando s’usano), muß man immer auch die ent‐ 506 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 804 Cf. infra dazu allerdings seine andererseits auch durchaus positive Einstellung zu neuem Wortmaterial. 805 „[…] al parer mio, non doveva, perché la forza e vera regula del parlara bene consiste più nell’uso che in altro, e sempre è vizio usar parole che non siano in consuetudine […]“ (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 73). 806 Im Folgenden spricht Castiglione auch von einigen toskanischen Wörtern, die „vocabuli latini corrotti“ seien und „così mutilati“ im Gegensatz zu ihren lombardischen Entspre‐ chungen, die „latini puri, integri, proprii e non mutati in parte alcuna“ (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 74-75) seien. sprechenden Begriffe der antiken Rhetorik, d. h. consuetudo und usus, mit ihren entsprechenden Implikationen mitdenken (v. infra und cf. Kap. 4.1.2.3.). Das Toskanische sei als einzige Referenzvarietät auch deshalb abzulehnen, weil es einige Wörter enthalte, die dort corrotti seien, ganz im Gegensatz zum Beispiel zum Lombardischen, wo diese unverändert erhalten geblieben seien. Oltre a questo usansi in Toscana molti vocabuli chiaramente corrotti dal latino, li quali nella Lombardia e nelle altre parti d’Italia son rimasti integri e senza mutazione alcuna, e tanto universalmente s’usano per ognuno, che dalli nobili sono ammessi per boni e dal vulgo intesi senza difficultà. (Castiglione, Corteg., Dedica II; 1964: 74) Castiglione wehrt sich hier argumentativ gegen einen vor allem von Bembo aber auch anderen vertretenen toscanismo, indem er aufzeigt, daß das Toskanische keineswegs eine ideale Varietät sei, die die Kriterien einer lingua italiana im Geiste eines dantesken vulgare illustre erfüllen würde. Dabei scheint an dieser Stelle bereits ein wichtiger Gesichtspunkt auf, den für Castiglione eine von ihm gewählte Sprache erfüllen muß, nämlich die Verständlichkeit. In diesem Passus stellt er klar heraus, daß sowohl die Adeligen die Wörter (vocabuli) für gut be‐ finden sollten (dalli nobili sono ammessi per boni), aber auch das Volk sie ohne weiteres verstehen müsse (dal vulgo intesi senza difficultà). Im Folgenden wird er diesbezüglich noch deutlicher, indem er sich sowohl gegen Neologismen 804 (formar vocabuli novi) als auch Archaismen (mantenere gli antichi) ausspricht, da gerade letztere gegen die consuetudine verstoßen (v. infra, folgendes Zitat). Für Castiglione zählt der aktuelle Gebrauch der Sprache, der uso ist die einzige Regel des parlar bene, während die Verwendung von Wörtern, die eigentlich keine Verwendung mehr finden, hingegen einem vizio gleichkomme. 805 In obigem Zitat deuten sich außerdem die für vorliegende Untersuchung zentralen Konzepte der „Korruption“ (cf. vocabuli chiaramente corrotti dal la‐ tino) 806 und des Sprachwandels an (cf. senza mutazione alcuna), auch wenn hier nicht explizit auf die Antike referiert wird, spielt die Tatsache und die Art der sprachlichen Veränderung für Castiglione durchaus eine Rolle, was dann im 507 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini weiteren Verlauf des Buches noch einmal ausführlicher wieder aufgenommen wird (v. infra). Bruno Maier kommentiert die nicht eindeutige Stelle dahingehend, daß es sich hierbei um Wörter handelt, die „Derivati, ma anche guastati“ (Castiglione, Corteg. Dedica II ; 1964: 74, FN 18) seien, d. h. solche, die zwar durchaus lateinische Erbwörter sind und damit in gewisser Weise nobilitiert, aber andererseits sich wohl sehr weit vom Lateinischen in ihrer Entwicklung entfernt hätten und von Castiglione als nicht akzeptabel eingestuft würden. In Zusammenhang mit der Ablehnung der Neologismen und Archaismen bringt Castiglione noch in der Dedica die „Barbarenthese“ ins Spiel, wenn auch nur angedeutet. E veramente, sì come il voler formar vocabuli novi o mantenere gli antichi in dispetto della consuetudine dir si po temeraria presunzione, così il voler contra la forza della medesima consuetudine distruggere e quasi sepelir vivi quelli che durano già molti seculi, e col scudo della usanza si son diffesi dalla invidia del tempo ed han conservato la dignità e ʼl splendor loro, quando per le guerre e ruine d’Italia si son fatte le muta‐ zione della lingua, degli edifici, degli abiti e costumi, oltra che sia diffcile, per quasi una impietà. (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 75) Die Völkerwanderung und ihre Konsequenzen wird hier mit le guerre e ruine d’Italia umschrieben, was sprachliche Veränderungen zur Folge hatte (muta‐ zione della lingua), aber auch eine umfassende Umwälzung in anderen Lebens‐ bereiche nach sich zog (cf. edifici, abiti, costumi). Hier wird von Castiglione die für die Renaissance-Humanisten so unvorstellbare Katastrophe des Untergangs der römischen Kultur und Sprache angesprochen, wie sie auch im 15. Jahrhun‐ dert bereits ein beherrschendes Thema bei den Protagonisten der vorliegenden Debatte war (cf. Kap. supra passim). Im Anschluß macht Castiglione noch einmal unmißverständlich deutlich, daß er sich einer imitatio Boccaccios im Sinne eines modello bembiano nicht unter‐ werfen werde und genauswenig sich zwingenderweise der Verwendung eines zeitgenössischen lebendigen Toskanisch anschließen würde, wie manch andere es fordern. Perciò, se io non ho voluto scrivendo usare le parole del Boccaccio che più non s’usano in Toscana, né sottopormi alla legge di coloro, che stimano che non sia licito usar quelle che non usano li Toscani d’oggidì, parmi meritare escusazione. (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 75) Für ihn ist der Gebrauch einer anderen Sprache als die Boccaccios mehr als legitim, so daß auch diejenigen, die er als seine Leser identifiziert, es verstehen 508 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 807 „[…] io confesso ai miei riprensori non sapere questa lor lingua toscana tanto difficile e recondita; e dico aver scritto nella mia, e come io parlo, ed a coloro che parlano come parl’io; e così penso non avere fatto ingiuria ad alcuno, ché, secondo me, non è proibito a chi si sia scrivere e parlare nella sua propria lingua; né meno alcuno è astretto a leggere o ascoltare quello che non gli aggrada“ (Castiglione, Corteg. Dedica II; 1964: 75-76). 808 Cf. dazu die Auflistung der dramatis personae, die Castiglione zu Beginn selbst gibt: „[…] piena la casa di nobilissimi ingegni; tra i quali, come sapete, erano celeberrimi il signor Ottaviano Fregoso, messer Federico suo fratello, il Magnifico Iuliano deʼ Medici, messer Pietro Bembo, messer Cesar Gonzaga, il conte Ludovico da Canossa, il signor Gaspar Pallavicino, il signor Ludovico Pio, il signor Morello da Ortona, Pietro da Napoli, messer Roberto da Bari ed infiniti altri nobillissimi cavalieri; oltra che molti ve n’erano i quali, avvenga che per ordinario non stessino quivi fermamente, pur la maggior parte del tempo vi dispensavano; come messer Bernardo Bibiena, l’Unico Aretino, Ioanni Cristoforo Romano, Pietro Monte, Terpandro, messer Niccolò Frisio; di modo che sempre poeti, musici e d’ogni sorte omini piacevoli e li più eccellenti in ogni facultà che in Italia si trovassino, vi concorrevano“ (Castiglione, Corteg. I, 5; 1964: 87-88). können. Den Parteigängern einer toscanità erteilt er eine beißende Absage, indem er süffisant anmerkt, daß es wohl kaum verboten sein könne, in der ei‐ genen Sprache zu schreiben und zu sprechen und schließlich ja auch niemand gezwungen werde, bei etwas zuzuhören oder etwas zu lesen, was ihm nicht gefalle. 807 Hier zeigt sich zweifellos ein deutliches Selbstbewußtsein in Bezug auf die Sprachwahl im Rahmen der questione della lingua, die zu diesem Zeitpunkt noch völlig offen ist. Weitere Anmerkungen zur Sprache finden sich im Folgenden im ersten Buch des Cortegiano (I, 28-38), in dem Castiglione das adäquate Verhalten und die Eigenschaften eines Höflings darlegt. Wiederum greift er in seinem fiktiven eher narrativ gehaltenen Dialog, an dem prominente Zeitgenossen als Protagonisten partizipieren - z. B. Giuliano deʼ Medici (1453-1478), Ludovico di Canossa (1475-1532), Pietro Bembo (1470-1547), Bernardo Bibbiena (1470-1520), Gas‐ pare Pallavicini (1486-1511), Federico Fregoso (1480-1541) 808 - das Thema der parole antiche toscane auf, wobei er auch auseinandersetzt, ob bezüglich münd‐ lichen und schriftlichen Gebrauchs eventuell andere Regeln gelten könnten. Zudem steht die Meinung im Raum, ob nicht allein das Alter, ähnlich wie bei Gebäuden, Statuen, Gemälden oder anderen Dingen, der Sprache splendore und dignità verleihe und damit zu einer elocuzion bella beitrage, im Sinne von ornatus und elegantia (cf. Castiglione, Corteg. I, 30; 1964: 133). Im Rahmen dieser Diskussion wird das Gespräch auch auf die hier zentrale Thematik um die Antike gelenkt, und zwar durch den Protagonisten Ludovico da Canossa (il Conte), der gegenüber Federico Fregoso die Situation des volgare als relativ rezente Sprache erläutert. 509 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 809 Zur darin verborgenen Pflanzenmetapher und dem damit verbundenen zyklischen Werden und Vergehen - die hier im Sinne einer neu entsproßenen und noch zarten Pflanze, nämlich der neuentstandenen Sprache des volgare, durchscheinen - von den Ursprüngen bei Platon bis zu Biondo und Trissino, cf. Schunck (2003: 10-11) und Kap. 6.2.1 der vorliegenden Arbeit. 810 Bruno Maier legt sinnvollerweise hier im sprachlichen Kontext commerzio die Bedeu‐ tung von contatto oder influenza bei (cf. Castiglione, Corteg. 1964: 136, FN 3). 811 „Haec autem, ut ex Apennino fluminum, sic ex communi sapientiae iugo sunt doctri‐ narum facta divortia, ut philosophi tamquam in superum mare Ionium defluerent E primamente dico che, secondo il mio giudicio, questa nostra lingua, che noi chia‐ miamo vulgare, è ancor tenera e nova, benché già gran tempo si costumi; perché, per essere stata la Italia non solamente vessata e depredata, ma lungamente abitata da’ barbari, per lo commerzio di quelle nazioni la lingua latina s’è corrotta e guasta, e da quella corruzione son nate altre lingue; le quai, come i fiumi che dalla cima dell’Ap‐ pennino fanno divorzio e scorrono nei dui mari, così si son esse ancor divise ed alcune tinte di latinità pervenute per diversi camini qual ad una parte e quale ad altra, ed una tinta di barbarie rimasta in Italia. (Castiglione, Corteg. I, 32; 1964: 136) An dieser Stelle, in der es um den Sprachwandel geht und die Entstehungsge‐ schichte der zeitgenössischen Volksprache in Italien, scheint zweifellos die „Korruptionsthese“ Biondos durch. Indem Castiglione die lingua vulgare als noch zart und neu charakterisiert (ancor tenera e nova), 809 ergibt sich tendenziell auch eine große Nähe zu den Vorstellungen Bembos (cf. Kap. 6. 2. 11), der das Konzept einer neu entstandenen Mischsprache propagiert, die sich aus den zahlreichen „Barbarensprachen“ und dem Lateinischen entwickelt hatte. Cas‐ tiglione spricht weiterhin die als Urkatastrophe wahrgenommene Völkerwan‐ derungszeit an, in der Italien von vorrangig germanischen Invasoren heimge‐ sucht wurde (vessata e depredata). Ebenfalls angesprochen wird die sich daran anschließende Besiedlung durch eben jene Völker (lungamente abitata da’ bar‐ bari) und der sich daraus ergebende Sprachkontakt (per lo commerzio di quelle nazioni). 810 Die Folge war die corruptio der lateinischen Sprache, d. h. mit dem kulturellen Niedergang ging auch der sprachliche „Verfall“ einher (la lingua la‐ tina s’è corrotta e guasta). Aus dieser „Verderbnis“ erwächst im Sinne der Pflan‐ zenmetapher wieder etwas Neues, nämlich die einzelnen volgare-Varietäten Ita‐ liens (da quella corruzione son nate altre lingue). Der Prozeß der Diversifizierung in unterschiedliche Arten der Volkssprache wird dann anhand der geolo‐ gisch-klimatischen Metapher der im Apennin entstehenden Flüsse, die sich rechts und links ins Meer ergießen, dargestellt. Was den Apennin als Wasser‐ scheide betrifft, so ist dies bereits in metaphorischem Kontext bei Cicero ange‐ führt, 811 doch gemahnt diese Idee der dialektalen Gliederung vor allem an Dantes 510 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Graecum quoddam et portuosum, oratores autem in inferum hoc Tuscum et barbarum, scopulosum atque infestum laberentur, in quo etiam ipse Ulixes errasset“ (Cicero, De orat. III, 19 (69-70); 2007: 342). 812 Mit der Hervorhebung der Lyrik Petrarcas als der gelungensten Verschriftlichung im volgare (toscano) schließt sich Castiglione in dieser Hinsicht dem imitatio-Ideal Bembos an (cf. Kap. 6. 2. 11). De vulgari eloquentia (cf. Kap. 6.2.2 u. infra). Im Sinne von Bembos neu entstan‐ dener Mischsprache bleibt für Castiglione am Ende sowohl eine Färbung durch die latinitas als auch die barbaritas in der neuen Sprache, dem zeitgenössischen volgare, bestehen (alcune tinte di latinità; ed una tinta di barbarie). Daran anschließend schildert Castiglione die quasi als „dunkle Zeit“ wahr‐ genommene Epoche - womit letztlich indirekt auf das Mittelalter referiert wird -, während der sich das volgare über einen langen Zeitraum hinweg un‐ gesteuert verändert habe (lungamente incomposta e varia), es keine Schriftzeug‐ nisse in dieser Sprache gab und ihr auch niemand splendor oder grazia verliehen hätte. Erst mit den tre nobili scrittori aus der Toskana wäre die Volkssprache, aus dem Schatten ihrer Vergangenheit als - wenn man so will - „unreine“ Misch‐ sprache getreten und hätte die zuvor fehlenden Eigenschaften von Glanz und Anmut sowie eine wohlgefällige Aussprache und eine geregelte Grammatik er‐ langt (gentil accenti nella pronunzia ed ordine grammaticale), wobei Petrarca mit seinen Liebesgedichten am meisten hervorstechen würde (cf. Castiglione, Corteg. I, 32; 1964: 136-137). 812 Die Pflege der Sprache, die diese erste Blüte ermöglicht hat, gesteht Castig‐ lione hier den Toskanern als Leistung zweifelsfrei zu. Allerdings um dann zu betonten, daß in der Folgezeit auch andere Sprachen, die an anderen Höfen Italiens gesprochen und geschrieben wurden, als gleichwertig anzusehen seien. Nascendo poi di tempo in tempo, non solamente in Toscana ma in tutta la Italia, tra gli omini nobili e versati nelle corti e nell’arme e nelle lettere, qualche studio di parlare e scrivere più elegantemente, che non si faceva in quella prima età rozza ed inculta, quando lo incendio delle calamità nate da’ barbari non era ancor sedato, sonsi lassate molte parole, così nella città propria di Fiorenza ed in tutta la Toscana, come nel resto della Italia, ed in loco di quelle riprese dell’altre, e fattosi in questo quella mutazion che si fa in tutte le cose umane; il che è intervenuto sempre ancor delle altre lingue. (Castiglione, Corteg. I 32; 1964: 137) Ausgangspunkt seiner Argumentation ist hier wiederum eine rohe und unge‐ bildete frühe Epoche (prima età rozza ed inculta), d. h. er verweist erneut auf die calamità der Barbareneinfälle, das hier metaphorisch als Brandkatastrophe dar‐ gestellte Ereignis der Völkerwanderung, welches in seiner Auswirkung nicht so 511 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 813 In der historiographisch-literarischen Überlieferung ist der arkadische Heros Evander Gründer der latinischen Stadt Pallantium (cf. z. B. Vergil, Aeneis VIII-XII; Livius, Ab urbe condita I, 5, 1; 1987 I: 18) und Turnus ist der König der latinischen Rutuler (cf. z. B. Vergil, Aeneis 712; Livius, Ab urbe condita I, 2, 1-6; 1987 I: 12). schnell getilgt werden konnte. Dies hatte zur Folge, daß zahlreiche Wörter un‐ tergangen waren (lassate molte parole), und zwar in ganz Italien, aber auch wieder neue aufgenommen, d. h. Neologismen geschöpft wurden (riprese dell‐ ’altre). Daran schließt sich die Feststellung an, daß die Sprache wie alles Mensch‐ liche (tutte le cose umane) der Veränderung unterliege, was an eine sehr ähnliche Argumentation bezüglich der Sprache und der conditio humana an sich bei Dante erinnert (cf. DVE in Kap. 6.2.2). Erst in neuerer Zeit - so die Ausgangs‐ these - sei sowohl in der Toskana genauso wie in ganz Italien und bei den omini nobili, also denjenigen, die in den Dingen des Hofes, der Waffen und in den Wissenschaften bzw. der Schreibkunst bewandert waren, das Verlangen ent‐ standen, schöner und angemessener zu sprechen und zu schreiben (di parlare e scrivere più elegantemente). Hier verknüpft Castiglione die Anforderungen an das Verhalten eines cortigiano mit einer historischen Perspektive auf die Ent‐ stehung der italienischen Volkssprachen. Die Veränderlichkeit der Sprache illustriert er dann noch einmal anschaulich, indem er dem Leser die Stationen des Sprachwandels des Lateinischen anhand von wichtigen Schriftdenkmälern vor Augen führt. Ché se quelle prime scritture antiche latine fossero durate insino ad ora, vederemmo che altramente parlavano Evandro e Turno e gli altri Latini di que’ tempi, che non fecero poi gli ultimi re romani e i primi consuli. Eccovi che i versi che cantavano i Salii a pena erano dai posteri intesi; ma, essendo di quel modo dai primi institutori ordinati, non si mutavano per riverenzia della religione. (Castiglione, Corteg. I, 32; 1964: 137-138) Castiglione postuliert hier, daß das Latein der römischen Frühzeit, die er durch die mythischen Könige Evander und Turnus evoziiert sowie durch das Volk der Latiner im Allgemeinen, 813 ein anderes gewesen sei als das einer späteren Phase, nämlich zu Zeiten des Übergangs von den letzten römischen Königen zu den frühen Konsuln, was man deutlich erkennen würde, wenn aus dieser frühen Epoche schriftliche Zeugnisse überliefert worden wären. Als Beispiel eines frühen Schriftdenkmals des Lateinischen nennt er dabei die kaum verständli‐ chen versi der Salii, die nicht verändert wurden, da sie religiösen Charakter aufwiesen. Was die ja zutreffende Beobachtung einer Veränderung der lateinischen Sprache anbelangt, zumal über einen längeren Zeitraum, so greift Castiglione 512 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 814 Cf. Horaz, Epist. II, 1, 86-87; 2000: 226; Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I: 180; zu Isidor als Grundlage von Guarino cf. Kap. 6.2.5 vorliegender Arbeit. D. h. Castiglione kann hier sowohl auf antike Quellen direkt als auch auf einen Zeitgenossen zurückgegriffen haben (bzw. beides). 815 Das wohl mit einem Tanz verbundene Kultlied Carmen Saliare besteht aus 35 Frag‐ menten und ist schwer zu datieren. Es geht wohl bis auf die Zeit des Königs Numa Pompilius (715-653 v. Chr.) zurück, überliefert ist es jedoch erst viel später, vor allem bei Varro (De ling. lat. VII, 26, 27; 1958 I: 292-294), eine verlorengegangene Kommen‐ tierung gab es von Lucius Aelius Stilo Praeconinus (150-80 v. Chr.), Ergänzungen wurden wohl bis ins 2. Jh. n. Chr. vorgenommen (cf. Neue Pauly 1997 II: 990-991 und Kap. 4 vorliegender Arbeit). Castiglione ordnet das traditionell als eines der ältesten bzw. das älteste Textdokument des Lateinischen geltende Carmen chronologisch nicht eindeutig zu, wahrscheinlich verortet er es aber in die römische Königszeit und damit zeitlich nach dem noch weiter zurückliegenden (mythischen) Beginn, der in der Aeneis geschildert wird. 816 „Così successivamente gli oratori e i poeti andarono lassando molte parole usate dai loro antecessori; ché Antonio, Crasso, Ortensio, Cicerone fuggivano molte di quelle di Catone e Virgilio molte d’Ennio; e così fecero gli altri; che, ancor che avessero riverenzia all’antiquità […]“ (Castiglione, Corteg. I, 32; 1964: 138). hier jedoch im Wesentlichen auf eine literarische und damit weitgehend fiktio‐ nale Vorlage zurück, nämlich auf Vergil. Aus der Aeneis übernimmt er ungefiltert die Geschichte der römischen bzw. latinischen Frühzeit, wobei nicht zu ver‐ gessen ist, daß hier auch der zeitgleich schreibende Historiker Livius in seiner römischen Universalgeschichte Ab urbe condita eine ähnliche und dann kano‐ nisierte Rekonstruktion der Anfänge Roms überliefert. Auch Guarino führte bereits in Anlehnung an das Modell von Isidor von Sevilla König Latinus zur Markierung des zweiten Stadiums des lateinischen Sprachwandels ins Feld (cf. Kap. 6.2.5). In erster Linie auf Varro (erwähnt aber z. B. auch bei Cicero, Quintilian, Horaz oder Isidor) geht wohl die Erwähnung der carmina Saliaria zurück, 814 die bereits von den Zeitgenossen der Klassischen Latinität nicht mehr verstanden wurden. 815 Im Folgenden kommt nun Castiglione wieder auf sein Leitthema, die imi‐ tatio, zurück und begründet in einer Referenz auf die Antike, daß es schon da‐ mals so gewesen wäre, daß die namhaften Dichter und Redner keineswegs allein aus Respekt für das Alte wie ihre namhaften Vorgänger gesprochen und ge‐ schrieben hätten, sondern durchaus ältere Wörter übergangen hätten, ja mit‐ unter auch eine zu altertümliche Weise getadelt hätten. 816 Nachahmung be‐ stünde also keineswegs in der rein sprachlichen imitatio, denn noch nicht einmal Vergil hätte Homer, sein Vorbild, sprachlich nachgeahmt. 513 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 817 Die Tatsache, daß Castiglione die betreffenden Völker durchaus kannte, geht beispiels‐ weise aus einem seiner Briefe an Papst Leo X. hervor, in dem es u. a. um die römischen Baudenkmäler geht: „Anzi dico, che con poca fatica far si può; perché tre sorti di edifici in Roma si trovano, l’una delle quali sono tutti gli antichi ed antichissimi, li quali du‐ rarono fin al tempo che Roma fu ruinata e guasta daʼ Gotti e altri barbari; l’altra, tanto che Roma fu dominata daʼ Gotti, e ancor cento anni dappoi; l’altra, da quello fin alli tempi nostri“ (Castiglione, Lettera XI: A Papa Leone X.; 1937: 457); sowie in gleichem Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Unter dem Blickwinkel einer modernen Forschungsperspektive erweisen sich die Ausführungen Castigliones bezüglich des antiken Lateins zum Teil als nicht sehr differenziert. Was die diasystematische Aufgliederung des Lateins anbe‐ langt, so trifft er darüber keinerlei konkrete Aussagen. Nachdem er für das ita‐ lienische volgare einen Unterschied in der Sprache der nobili und des Volkes festmacht oder zumindest andeutet, ist davon auszugehen, daß er eine ähnlich diastratische Diversifizierung ganz selbstverständlich auch für das antike Latein angenommen hat. Alles weitere bleibt jedoch erst recht Spekulation. Bezüglich des Sprachwandels sind jedoch durchaus einige interessante De‐ tails festzustellen. Ohne wie beispielsweise Guarino auf das vierstufige Modell von Isidor v. Sevilla zu rekurrieren, zumindest nicht explizit, nimmt Castiglione einen Sprachwandel der lateinischen Sprache an, der sich ab der frühesten Zeit des Lateins, sozusagen mit ihrem Beginn, vollzogen hatte. Dabei gibt er indirekt denkbare Etappen an, und zwar von den Anfängen bis zur Königszeit bzw. der frühen römischen Republik, dann weiter zur klassischen, schriftintensiven Epoche und schließlich thematisiert er die Spätzeit mit dem „Verfall“ des La‐ teinischen. Im Gegensatz zu Guarino legt er jedoch keine festen Phasen fest, sondern - soweit dies interpretierbar ist - kommuniziert er eher anhand von Orientierungspunkten die Tatsache, daß der Sprachwandel, also die mutazione della lingua, ununterbrochen wirksam ist. In Anlehnung an die Korruptions‐ these Biondos beschreibt Castiglione die drastischen sprachlichen Verände‐ rungen nach dem Untergang des Imperium Romanum und verbindet diese mit den allgemeinen Umbrüchen während der Völkerwanderungszeit. Die sprach‐ liche Entwicklung vom Lateinischen zur italienischen zeitgenössischen Volks‐ sprache wird von ihm dabei relativ eindeutig dargestellt. Als Ursache werden dabei - wie bei anderen Protagonisten der Debatte seit dem 15. Jh. auch - mo‐ nokausal die „Barbarenvölker“ ausgemacht. Castiglione zieht im Unterschied zu einigen Vorgängern keine Substratvölker in Betracht, sondern allein einen Su‐ perstrateinfluß, nennt dabei jedoch an dieser Stelle keinerlei konkrete Gruppen, wie die sonst häufig genannten germanischen Goten, Vandalen oder Lango‐ barden. 817 Er schließt sich in reduzierter Form der „Mischthese“ Bembos an und 514 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Brief zuvor: „Ma perché ci doleremo noi de Gotti, Vandali, e d’altri perfidi nemici […]“ (ibid.; 1937: 455). 818 Die Diskussion um den Grad von Substrat- und vor allem Superstrateinfluß (auch ggf. Adstrat; cf. z. B. Anglizismen-Debatten) im Verhältnis zu internen Veränderungen be‐ schäftigt aber auch noch die Wissenschaft des 19. und 20./ 21. Jahrhunderts. Abhängig von dem jeweiligen Sprachkontaktszenario ist es auch jenseits ideologischer Anhänger einer bestimmten (linguistischen) Pro- oder Contra-Strömung externer Beeinflussung nach wie vor schwierig, interne und externe Faktoren in einem solchen Prozeß adäquat zu gewichten. nimmt wie dieser eine weitgehend paritätische gegenseitige Beeinflussung der zahlreichen Sprachen der Invasoren mit dem Lateinischen an, woraus dann wiederum die diatopischen Varietäten Italiens entstanden wären. Er ordnet dabei das Geschehen in einen, bedingt durch die kriegerische Migration, allum‐ fassenden kulturellen und politischen Umwälzungsprozeß ein, im Zuge dessen auch Gebräuche und andere Lebensbereiche betroffen gewesen wären (v. supra). In gewisser Weise ergibt sich aus heutiger Sicht ein Widerspruch in der An‐ nahme eines andauernden Sprachwandels, der - da ja keine Substratvölker auf‐ geführt werden - auf interner Sprachentwicklung beruhen muß und dem in der Übergangsphase von der Spätantike zum frühen Mittelalter offensichtlich allein durch die Superstratvölker ausgelösten externen Wandel (ohne interne Gründe). Zeitgenössisch ist das für Castiglione jedoch unproblematisch, da er hier ver‐ schiedene Traditionsstränge von Erklärungsmodellen der bisherigen Teil‐ nehmer der Debatte miteinander verbindet. 818 Im Gegensatz zu vielen Partizipanten der Debatte im 15. Jahrhundert, die in gewisser Weise eine Art Darstellungslücke zwischen dem Ende der Antike und der zeitgenössischen Sprachsituation aufweisen, schildert Castiglione auch den nicht abreißenden Sprachwandel über diese Umbruchsphase hinaus, indem er weitere sprachliche Veränderungen bis ins Trecento suggeriert, um dann schließ‐ lich den in dieser Zeit beginnenden Ausbauprozeß des Italienischen bzw. des Toskanischen und anderer Varietäten anzusprechen. Rekontextualisierung Zunächst seien entsprechend der bisherigen Vorgehensweise zur historischen Rahmensetzung einige knappe biographische Details zum Verfasser des Corte‐ giano beigetragen. Baldassar(r)e (Baldesar) Castiglione (lat. Balthassaris Castillionis) (1478-1529) stammte aus Casatico bei Mantua und wuchs in einer niederen lokalen Adels‐ familie auf, die Mutter war weitläufig mit der herrschenden Dynastie der Gon‐ zaga verwandt und der Vater im militärischen Dienste derselben. Castiglione selbst ging für weiterführende humanistische Studien 1490 nach Mailand an den 515 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 819 Dort studierte Castiglione u. a. bei Giorgio Merula (ca. 1430-1494), einem Schüler Fran‐ cesco Filelfos (1398-1481) sowie bei Demetrio Calcondila (Demétrios Kalkon‐ dýles / Kalkokandýles, 1423-1511) (cf. Mutini 1979: 53), der bereits Humanisten wie An‐ gelo Poliziano (1454-1494), Pico della Mirandola (1463-1494), Giovanni deʼ Medici (1475-1521, Papst Leo X.) oder Johannes Reuchlin (1455-1522) in griechischer Sprache und Literatur unterrichtet hatte. Zum Kontakt und den Verflechtungen der Humanisten durch ihre Studien cf. insbes. auch Kap. 6.2.9 vorliegender Arbeit. 820 Gegen Ende des 15. Jh. war der berühmte Verleger Aldo Manuzio aus Venedig Haus‐ lehrer bzw. Prinzenerzieher am Hof von Carpi bei Modena (cf. Kap. 6.2.9). 821 Im folgenden Jahr 1507 war Castiglione in ebenfalls diplomatischer Mission von Urbino aus in Mailand beim französischen König Ludwig XII. (1462-1515, Kg. ab 1498), der die Sforza besiegt und abgesetzt hatte (cf. Mutini 1979: 56). 822 Der Erfolg und die umfangreiche Rezeption des Cortegiano führten zu einer weitgeh‐ enden Nichtbeachtung seiner anderen Schriften, so daß Mutini (1979: 61) wohl nicht ganz zu Unrecht in Bezug auf Castiglione von einem typischen auctor unius libri spricht. Hof von Ludovico Sforza (1452-1508, Hz. 1494-1499) 819 und trat nach dem Tod des Vaters 1499 ebenfalls in den Dienst der Gonzaga, und zwar als Offizier und vor allem als Diplomat. In letzterer Funktion ging er zunächst nach Carpi (1501), das unter den lokalen Herrschern der Pio stand, 820 und begleitete den Mark‐ grafen Francesco II . Gonzaga (1466-1519, Mgf. ab 1484) nach Rom und Neapel. In Süditalien nahm er zudem an einem Feldzug teil (Schlacht von Garigliano, 1503), kündigte dann im darauffolgenden Jahr jedoch sein eher problematisches Verhältnis zum Marchese auf und trat in den Dienst (1504) von Guidobaldo da Montefeltre (1472-1508, Hz. ab 1482), den er in Rom kennengelernt hatte. Von Urbino aus wurde er von seinem neuen Dienstherrn auf diplomatische Mission nach England an den Hof Heinrich VII . (1485-1509, Kg. ab 1485) geschickt (1506). 821 Er blieb schließlich in diplomatischem Dienst der Herrscher von Ur‐ bino bis 1516, auch als die Dynastie der Montefeltre durch die der Rovere ab‐ gelöst wurde. Für Francesco Maria I. della Rovere (1490-1538, Hz. 1508-1516 u. ab. 1521) war er unter anderem am Hofe von Frankreich und in Rom tätig. Da‐ nach kehrte er erneut nach Mantua zurück, reiste mit dem Herzog nach Venedig und Rom und wurde schließlich 1524 vom Medici-Papst Clemens VII . (1523-1538) als apostolischer Nuntius nach Spanien an den Hof Kaiser Karls V. (1500-1558, Kg. ab 1516, Ks. ab 1519) entsandt. Eine durchaus heikle Mission, da Karls Truppen 1527 Rom plünderten (Il Sacco di Roma). Nachdem er im Ge‐ folge des Kaisers Städte wie Burgos, Valencia und Madrid bereits hatte und 1529 zum Bischof von Avila ernannt wurde, starb er im selben Jahr in Toledo. Seine zahlreichen Erfahrungen als Diplomat und Höfling in den verschie‐ densten Diensten, die oft von persönlichen Spannungen und mitunter auch mäßigem Erfolg geprägt waren, legt Castiglione in seinem wichtigsten und er‐ folgreichsten Werk, Il libro del Cortegiano (1528), nieder. 822 Er verfaßte aber auch 516 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 823 Den Maler Raphael (1483-1520) lernte er wie viele andere Gelehrte und Künstler (cf. supra die zahlreichen Protagonisten im Cortegiano, u. a. Bembo) am urbinatischen Hof kennen und traf ihn später wieder in Rom unter Leo X. (1513-1521); Raphael verewigte Castiglione in einem berühmten Porträt (Louvre), Castiglione verfaßte besagtes Ster‐ begedicht. 824 Ob Castiglione tatsächlich direkt auf Machiavellis kurz zuvor verfaßte Schrift Bezug genommen hat, muß Spekulation bleiben, allerdings besteht ein auffälliges Korrelat zwischen beiden (cf. Beyer 1996: 8). 825 Burke (1996: 47) bezeichnet Baldassare Castiglione (1478-1529), Niccolò Machiavelli (1469-1527) sowie den Dichter Ludovico Ariosto (1474-1533) und den Historiker Fran‐ cesco Guicciardini (1483-1540) als die „Generation von 1494“, in Anspielung auf den Einmarsch der Franzosen im Jahre 1494, der die Machtbalance zwischen Mailand, Ve‐ nedig, Florenz, Rom und Neapel aushebelte; junge Männer, die von der Erfahrung der militärischen Machtlosigkeit der italienischen Kleinstaaten und der durch dieses Er‐ eignis ausgelösten politischen Krise geprägt waren. lateinische Panegyriken wie Tirsi (1506), De vita e gestis Guidubaldi Urbini Ducis (1508), italienische und lateinische Gedichte (z. B. Amorose canzoni, De morte Raphaellis pictoris  823 ) sowie Abhandlungen zur Stellung der Frau, De laudibus mulierum (1487), Defensio mulierum (1501) und De mulieribus (1501). Außerdem verfasste er das Vorwort zur Komödie Calandria (La Calandra) seines Freundes Kardinal Bernardo Dovizi von Bibbiena (1470-1520), die er in Urbino erstmals zur Aufführung brachte (1507). Weiterhin ist ein umfangreiches Briefkorpus (Lettere) von ihm überliefert (cf. Mutuni 1979: 53-61, Burke 1996: 35-37; Weaver 1999: 357-358). Die zahlreichen Reisen und Aufenthalte an den verschiedensten italienischen und europäischen Höfen sowie die fehlende Konstanz eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückhaltes prägen als persönliche Erfahrungen den Cor‐ tegiano, oder anders ausgedrückt, Castiglione zeitigt eine eher praktische und utilitaristische Einstellung als Humanist. In dieser Hinsicht steht das Werk auch trotz inhaltlicher Überschneidungen bezüglich des Ideals von Stil und Sprache weniger Bembos Prose della volgar lingua nahe als vielmehr dem Principe (1513 / 1532) Niccolò Machiavellis (1469-1527). 824 Letzterer hat ebenfalls ähn‐ liche Erfahrungen von persönlichen Rückschlägen in seiner Karriere hin‐ nehmen müssen wie Castiglione und folgert daraus in Bezug auf die Politik eine ebenfalls pragmatische Vorgehensweise. 825 Das Taktieren unter verschiedenen Dienstherren, in deren Auftrag er in diplomatischer Mission an zahlreichen Höfen weilte und dies zum Teil unter denkbar diffizilen Bedingungen wie dem Einfall der Franzosen in Italien und dem Sacco di Roma durch die Spanier, läßt ihn am real existierenden Hof von Urbino die Atmosphäre einer idealisierten Hofkultur konstruieren, mit entsprechenden charakterlich wohlgeformten cor‐ tigiani und höfischem Umgang der dort Verkehrenden (cf. Kapp 1994: 140-141). 517 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 826 Ins Spanische wurde der Cortegiano erstmals bereits 1534 von Juan Boscán ( Juan Boscà Almogáver) übersetzt, mit einem Vorwort von Garcilaso de la Vega, ins Französische zuerst von Jacques Colin (1537), überarbeitet von Étienne Dolet und Melin de Saint-Ge‐ lais (1540) und neu übersetzt von Gabriel Chappuys (1580), ins Englische von Thomas Hoby (1561) und ins Deutsche von Laurentz Kratzer (1565) und Johann Engelbert Noyse (1593). Ins Lateinische gab es Übersetzungen vor allem in den deutschen Landen und in England. Die erste lateinische Übersetzung stammt von Johannes Turler, gedruckt in Wittenberg (1561), in England übersetzte erstmals Bartholomew Clerke den Cortegiano ins Lateinische, gedruckt in London (1571) (cf. Burke 1996: 203-206; Weaver 1999: 357). Eine komplette Auflistung aller frühen Drucke des 16. und 17. Jh. findet sich bei Burke (ibid.). 827 Direktes Vorbild sind hier Bembos Asolani (1505), das erste Werk der italienischen Re‐ naissance, das im Stile eines platonischen Dialogs in der Volkssprache verfaßt wurde sowie dessen Prose della volgar lingua (1525) (cf. Burke 1996: 33). 828 Die Anzahl der dramatis personae in diesem Dialog ist deutlich höher als die bei Bembo oder antiken Vorbildern wie Platons Gastmahl (dort acht) (cf. Burke 1996: 38). Zu den Protagonisten im Einzelnen bzw. ihren historischen Entsprechungen cf. supra. Die Wahl Urbinos als Handlungsort ist dabei nicht ganz zufällig und muß neben der persönlichen, biographischen Komponente in Zusammenhang mit der engen Verbindung der Renaissancekultur und des Humanismus zu bestimmten städtischen Zentren gesehen werden (cf. Kap. supra passim). Entsprechend hebt Castiglione topisch verschiedene Qualitäten der Stadt und des Hofes hervor: die zentrale Lage in Italien, das günstige Klima und die Fruchtbarkeit der Land‐ schaft, das buon governo der regierenden Dynastie der Montefeltre sowie die Tugend des Fürsten (cf. Motta 2003: 70). Diese Art der praxisorientierten Anleitung des höfischen Lebens, verknüpft mit argumentativ wohlportioniert dargebotener theoretischer Fundierung zeit‐ genössischer Themen, erfährt eine enorme Rezeption in Italien und anderen Ländern Europas und konstituiert das Bild des cortigiano bzw. des gentiluomo (frz. gentilhomme; engl. gentleman). Die Erstauflage in Höhe von immerhin 1030 Exemplaren in der Offizin von Aldo Manuzio in Venedig (1528) war wohl schnell vergriffen, denn es wurden kurz darauf noch drei oder vier Auflagen gedruckt sowie in den 1530er-Jahren weitere 13 Auflagen und bis Ende des 16. Jhs. ins‐ gesamt 62 allein in Italien. Es folgten noch im gleichen Jahrhundert Überset‐ zungen ins Französische (23), ins Spanische (17), ins Lateinische (11), ins Eng‐ lische (2) und ins Deutsche (2) (cf. Burke 1996: 54-59, 203-207; Burr / Fesenmeier 2001: 81). 826 Das Buch ist als ein fiktiver Dialog mit Rahmenhandlung aufgebaut, 827 in der am Hof von Urbino im zurückdatierten Jahre 1507 über zwanzig Teilnehmer 828 einer höfischen Gesellschaft unter dem Vorsitz der Signora Emilia Pia in Stell‐ vertretung der ebenfalls anwesenden Duchessa Elisabetta Gonzaga in Gesprä‐ 518 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 829 Das Vergnügen ist wiederum ersichtlich an dem riso der Partizipanten der Gesprächs‐ runde (cf. Jakobs 2015: 7). 830 Mit der mediocrità ist nicht die Mittelmäßigkeit im modernen Sinne gemeint, sondern eine, die sich an dem aristotelischen Maßhalten orientiert (cf. Burke 1996: 42). 831 Cf. dazu die Aufforderung Federico Fregosos, den idealen Hofmann zu finden, und zwar im Rahmen einer höfischen Konversation: „[…] vorrei che ʼl gioco di questa sera fusse tale, che si elegesse uno della compagnia ed a questo si desse carico di formar con parole un perfetto cortegiano, esplicando tutte le condicioni e particular qualità, che si ri‐ chieggono a chi merita questo nome“ (Castiglione, Corteg. I, 12; 1964: 100). Hier klingt Cicero und seine an sich selbst gerichtete Aufforderung nach, einen idealen Redner zu finden (cf. Kapp 1994: 140). chen, die auch als Spiele (giochi ingeniosi) charakterisiert werden, die Eigen‐ schaften eines idealen Hofmanns zu beschreiben suchen. Das Ziel ist allerdings nicht, vordergründig eine Belehrung zu erteilen, sondern die Konversations‐ spiele dienen dem Vergnügen der Gesprächsteilnehmer, insbesondere der Her‐ zogin. 829 Dabei ist in jedem Fall die höfische Etikette zu wahren sowie aptum und decorum der Rede (cf. Jakobs 2015: 4-14). In den insgesamt vier Büchern des Cortegiano werden geregelt mehrere The‐ menkreise abgehandelt: Als erstes werden die Fähigkeiten und Wissensbestände des Hofmanns besprochen (Adel, Kriegshandwerk, Literatur und Sprache, Kunst), im zweiten Teil steht die Konversation im Vordergrund, im dritten geht es um die Qualitäten, die eine donna di palazzo mitbringen sollte und im vierten um das Verhältnis des vollendeten Höflings zu seinem Fürsten (Gunstgewin‐ nung, Eitelkeiten des Herrschers). Zentrale Leitmotive des Verhaltens sind dabei unter anderem gravità, gentilezza (gentil maniera), modestia, mediocrità, 830 disc‐ rezione, grazia und sprezzatura. Dabei werden sowohl antike Tugenden wie gravitas und urbanitas als auch mittelalterliche wie cavalleria und cortesia (cor‐ tese) sowie solche des Renaissance-Humanismus mitaufgenommen (z. B. umano, affabile, amabile, piacevole) (cf. Burke 1996: 37-41). Eine besondere Stellung hat das von Castiglione geprägte sprezzatura inne, was in einem Wort die Gesamtkonzeption des Hofmannes beschreibt, d. h. „die Vorstellung, die das aristokratische Desinteresse an geistiger Arbeit und die Verachtung für alle nicht mit dem Kriegsdienst - der spezifischen Rolle des Adels in der damaligen Gesellschaft - verbundene körperliche Anstrengung mit der humanistischen Geringschätzung für das Unkultivierte vereint und die zur Äu‐ ßerlichkeit tendierende Eleganz des Weltmannes in ein umfassende Bildung einschließendes Konzept der Urbanität führt“ (Kapp 1994: 142). Die im libro primo abgehandelte Frage zur Sprache nimmt dabei einen relativ umfangreichen Part ein, was auf die Bedeutung der Konversation bei Hofe 831 sowie allgemein auf den Stellenwert von Sprache und Literatur in der humani‐ 519 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 832 Hier liegt außerdem das antike Vorbild der koinè diálektos zugrunde (cf. Kap. 4), bei dem die verschiedenen griechischen Dialekte zu einer Gemeinsprache verschmelzen, ein Aspekt, den bereits Filelfo aufgegriffen hatte (cf. Kap. 6.2.7). Castiglione referiert direkt auf diese antike Sprachsituation: „[…] perché delle quattro lingue che avevano in con‐ suetudine, i scrittori greci, elegendo da ciascuna parole, modi e figure, come ben loro veniva, ne facevano nascere un’altra che si diceva commune, e tutte cinque poi sotto un solo nome chiamavano lingua greca […]“ (Castiglione, Corteg. I, 35; 1964: 142-143). Cf. dazu auch Bembos Prose, der allerdings den Vorrang des Attischen innerhalb der griechischen Koiné besonders hervorhebt, um daraus den Vorrang des Toskanischen abzuleiten (cf. Kap. 6. 2. 11). 833 Ein wichtiger Vertreter eines uso cortigiano e commune ist auch Gian Giorgio Trissino (1478-1550), der diese Position zunächst in seiner Epistola intorno alle lettere nuova‐ mente aggiunte alla lingua italiana (1524) und schließlich ausführlich in seinem Dialog Il castellano (1529) vertritt (cf. Ellena 2011: 106). Zu weiteren Befürwortern dieses Mo‐ dells im Rahmen der questione della lingua cf. Michel (2005: 362-363) und ausführlich Giovanardi (1998) sowie Drusi (1995). 834 Cf. dazu auch die über die Region hinausgehende Buchproduktion Venedigs sowie die Statistiken zum volgare-Schrifttum, das keineswegs Toskanisch dominiert ist (cf. Tro‐ vato 1994: 19-24). stischen Gelehrtenkultur zurückzuführen ist. Castiglione nutzt dabei diesen Rahmen, um sich in der schwelenden questione della lingua zu positionieren. Sein Standpunkt ergibt sich dabei fast notwendigerweise aus seinem Bild vom idealen Hofmann und dessen Aufgaben. Castigliones Konzeption einer lingua italiana oder lingua cortigiana, also einer italienischen Koiné 832 der höfischen Elite hat seinen direkten Vorläufer in den verlorengegangen Ausführungen (Della lingua cortigina, 1500-1510) von Vincenzo Colli, genannt Il Calmeta (1460-1508), dessen Ideen zu einer Gemein‐ sprache vor allem durch Ludovico Castelvetro (1505-1571) in dessen Giunte alle Prose del Bembo (1563 / 1572) und durch die Prose Bembos selbst rekonstruiert werden können. Ebenfalls erste Ideen zu einer commune italica lingua wurden von Mario Equicola (1470-1525) aus Rom in seiner Abhandlung Libro de natura de amore (1525) formuliert (cf. Klein 1957: 71; Trovato 1994: 100-105; Marazzini 2013: 56-57). 833 Die Problematik, die Castiglione auf seine Weise zu lösen versucht, ist die, daß nachdem das italienische volgare im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts sich langsam vom Latein zu emanzipieren begonnen hatte, nun die Frage nach der Art der in der Literatur und unter den Gelehrten zu verwendenden Volksprache im Vordergrund steht, die der zeitgleich schreibende Bembo mit einem archa‐ isierenden Toskanischen beantwortet. Bembo behandelt das Trecento-Toska‐ nisch quasi wie das Lateinische als unveränderbare Modellsprache. Es sei erneut darauf hingewiesen (cf. Kap. 6. 2. 11), daß das Toskanische au‐ ßerhalb der Region noch keinesfalls eine lingua franca war: 834 520 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 835 Castiglione geht es vor allem um den Wortschatz bzw. den adäquaten Gebrauch der parole im höfischen Kontext, mündlich wie schriftlich (cf. Zitat supra). 836 Der „gute“ Sprachgebrauch ist vor allem der der höfischen Elite, deren Angehörige durch ein bon giudicio bzw. ein giudicio naturale die richtige Wortwahl treffen, dazu brauche es keine arte oder regula: „La bona consuetudine adunque del parlare credo io che nasca dagli omini che hanno ingegno e che con la dottrina ed esperienzia s’hanno Daß diese einheimische Prosasprache nach wie vor als eine Besonderheit der Toskana und nicht als der gemeinsame Besitz ganz Italiens betrachtet wurde, scheint aus meh‐ reren Tatsachen hervorzugehen. Berühmte toskanische Prediger wie S. Bernardino da Siena scheinen ihre Predigten nur in toskanischen Städten in der Volkssprache vor‐ getragen zu haben; besuchten sie dagegen Städte Norditaliens, trugen sie sie in la‐ teinischer Sprache vor. Filelfo und andere zeitgenössische Quellen bezeichnen die Sprache als toskanisch. Außerdem wurde die toskanische Prosasprache kaum von einem nicht-toskanischen Autor verwendet; dies trifft zumindest für den größeren Teil des Jahrhunderts zu. (Kristeller 1976 II: 141) Genau dieses Konzept lehnt Castiglione jedoch vehement ab und argumentiert in seinen Ausführungen immer wieder gegen das Primat eines fiorentino des Trecento, mit alleiniger Orientierung an den tre corone. Im Cortegiano selbst dominiert aber ironischerweise das Toskanische, da Cas‐ tiglione als Lombarde zwar weitgehend in seiner Varietät geschrieben hatte, durch die zahlreichen Verbesserungen seines Freundes Bembo, dessen Autorität er nicht in Frage stellen wollte, erfährt das Buch jedoch eine starke Toskanisie‐ rung (cf. Loos 1955: 139). Für Castiglione sind demgemäß zwei Aspekte entscheidend, die er bekämpft, nämlich die Orientierung an einem rückwärtsgewandten Modell und die allei‐ nige Vorrangstellung des zeitgenössischen Toskanisch, was ebenfalls zu dieser Zeit vertreten wird (cf. Kap. 6.1.). Castiglione sind diese Konzepte alle zu eng, er sieht an allen Höfen, wo ein elegantes volgare gesprochen wird, Potenzial für eine lingua commune. Zudem steht für ihn auch die Ausdrucksfähigkeit in der Mündlichkeit mehr oder weniger gleichberechtigt neben den schriftsprachli‐ chen Kompetenzen (cf. „secondo me, la scrittura non è altro che una forma di parlare“, Corteg. I, 29; 1964: 131), was sich durch die Fokussierung auf den Sprachgebrauch bei Hofe ergibt, wo beides Gewicht hat. Er sperrt sich dabei auch nicht gegen die (lexikalische) 835 Bereicherung der Sprache, d. h. neben un‐ terschiedlichen volgare-Formen, ist er auch fremdem Lehngut (z. B. Hispanismen oder Gallizismen) gegenüber aufgeschlossen, genauso wie er auch neue Wort‐ schöpfungen zuläßt (cf. aber supra). Oberstes Prinzip ist dabei der uso und die (bona) consuetudine, womit der Sprachgebrauch des Hofes bzw. der sozialen Oberschicht gemeint ist (cf. Loos 1955: 137-139). 836 521 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini guadagnato il buon giudicio, e con quello concorrono e consentono ad accettar le parole che lor paion bone, le quali si conoscono per un certo giudicio naturale e non per arte o regula alcuna“ (Castiglione, Corteg. I, 35; 1964: 144). Die wahre Regel ist der uso: „[…] e nella lingua, al parer mio, non doveva, perché la forza e vera regula del parlar bene consiste più nell’uso che in altro, e sempre è vizio usar parole che non siano in consu‐ etudine“ (Castiglione, Corteg., Dedica II; 1964: 73). Zur Herausbildung einer Norm in Italien, auch unter den (antiken) Konzepten von usus und consuetudo cf. Fesenmeier (2020: 75-76). Io vorrei che ʼl nostro cortegiano parlasse e scrivesse di tal maniera, e non solamente pigliasse parole splendide ed eleganti d’ogni parte della Italia, ma ancora laudarei che talor usasse alcuni di quelli termini e franzesi e spagnoli, che già sono dalla consue‐ tudine nostra accettati. (Castiglione, Corteg. I, 34; 1964: 141) Castiglione favorisiert damit letztlich ganz allgemein gesprochen ein Konzept, bei der die Sprache vor allem als Kommunikationsmittel dient, d. h. ihre Funk‐ tionalität ist der Maßstab, an der sie sich messen lassen muß (cf. Pozzi 1989: 127). Dabei sind Form und Inhalt konkordant, so daß zunächst die Kenntnis des In‐ haltes (il sapere) wichtig ist, dann die angemessene Wahl der Worte im Sinne der antiken Rhetorik (aptum), aber auch die gesamte Versprachlichung nach uso, consuetudine und schließlich dem gusto (cf. Leeker 1987: 92-93). Die Stärke der Idee einer lingua cortigiana liegt dabei sicherlich in dem An‐ liegen, die in Italien divergenten Literaturtraditionen möglichst gleichberechtigt zu vereinigen und zudem auch der zeitgenössischen gehobenen mündlichen Sprache der einzelnen Fürstenhöfe Tribut zu zollen. Dabei bleibt die Umsetzung in die Realität vage, denn eine Systematisierung von Grammatik und literari‐ schem Stil, wie es Bembo für das Toskanische geleistet hat, bleibt Castiglione schuldig bzw. scheint auch kaum zu bewältigen (cf. Campanelli 2014: 159). Die Idee einer italienischen Volkssprache, die Merkmale aller wichtigen Kul‐ turzentren Italiens in sich vereinigt - auch mangels eines eindeutigen historisch gewachsenen, kulturellen und vor allem politischen Zentrums -, verweist, ab‐ gesehen von den Renaissance-Vorläufern (v. supra), unweigerlich auf das Bild des Panthers in Dantes De vulgari eloquentia und seiner Suche nach dem illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare ( DVE I, 16, 6, cf. Kap. 6.2.2.). Inwieweit Cas‐ tiglione Dantes Traktat kannte und rezipierte, ist jedoch nicht ganz sicher. Wie bereits erwähnt (cf. Kap. 6. 2. 11.) kursierte der Inhalt des 1529 von Gian Giorgio Trissino (1478-1550) übersetzten und publizierten DVE seit 1513 / 1514 in ei‐ nigen Gelehrten-Kreisen. Castiglione hat zwischen 1513 und 1516 die ersten drei Bücher des Cortegiano fertiggestellt, das Manuskript daraufhin an verschiedene 522 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 837 Unter den Freunden bzw. Autoritäten, denen Castiglione sein Mansukript anvertraut hatte, finden sich u. a. Pietro Bembo (cf. Kap. 6. 2. 11), Kardinal Ippolito d’Este (1479-1520), Mario Equicola (1470-1525) und Vittoria Colonna (1490-1547) (cf. Quondam 2000: 57-73). 838 Zu einer ähnlichen Konzeption bei Bembo cf. Kap. 6. 2. 11. vorliegender Arbeit, zu Grundsätzlichem in Bezug auf alteratio und generatio in der Antike und bei den Hu‐ manisten cf. Kap. 6.1.3. Faithfull (1953: 283) sieht die Idee der corruptio und der folgenden generatio von etwas Neuem bei Castiglione deutlicher ausgeprägt und auch näher an der Ursprungsidee als bei Bembo. Freunde zur Durchsicht gesandt 837 und schließlich zwischen 1518 und 1521 eine neue Version aufgesetzt, die er 1524 nochmals überarbeitete (cf. Kapp 1996: 149). Während Klein (1957: 69) ganz eindeutig einen Einfluß Dantes auf den Cor‐ tegiano sieht, negiert dies Marazzini (2013: 56) ebenso unzweifelhaft. Klein macht dabei inhaltliche Kriterien geltend, Marrazzini verweist indirekt auf die bis zu diesem Zeitpunkt fehlende Publikation des DVE , was allerdings - wie dargelegt (v. supra) - kein zwingendes Gegenargument ist. Auch das Konzept des Sprachwandels als Teil einer sich immer verändernden Gesellschaft im Sinne der conditio humana erinnert an Dante, der dies freilich nicht auf das Lateinische, sondern auf die Volkssprache münzte. Pozzi (1989: 126) bescheinigt Castiglione eine „concezione dinamica della lingua“ zu haben, d. h. die Sprache verändere sich im Einklang mit den natürlichen Gegebenheiten. Was seine Quellen in Bezug auf die Debatte um die Antike anbelangt, so ist es auch hier schwierig einzuschätzen, welche Autoren er direkt konsultiert hat. Unzweifelhaft scheint hier Biondo durch, dessen Korruptionsthese er verar‐ beitet, und es deutet einiges auf Humanisten wie Filelfo oder z. T. auch Guarino und Poggio hin. Es ist wohl ferner davon auszugehen, daß Castiglione sich auch bezüglich dieses Aspektes mit seinen Zeitgenossen wie Bembo oder Manuzio ausgetauscht hat, gerade zu Bembo ist durch die Übernahme der Theorie der Sprachmischung eine relativ klare Verbindung herzustellen. Der Rückgriff auf die Antike bzw. die Entstehungsgeschichte des volgare hat bei Castiglione eine klare Funktion im Rahmen seiner Argumentation für eine lingua cortigiana und gegen die Prävalenz des Toskanischen. Durch den sprach‐ geschichtlichen Exkurs zeigt er auf, daß alle Varietäten der Volkssprache in gleicher Art und Weise entstanden sind und zwar aus einer Mischung von Latein und den Sprachen der eingefallenen „Barbarenvölker“, die sich in Italien nie‐ dergelassen haben. Nach dem Niedergang konnten aber die einzelnen Idiome des volgare im Sinne einer aristotelischen generatio zu neuer Blüte gelangen (cf. Faithfull 1953: 283), 838 auch wenn dies in der Toskana schon recht früh begann - soweit seine Anerkennung der Literatur der tre corone -, gab es durchaus auch 523 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini andere Höfe, wo die Sprache entsprechend gepflegt wurde. Das Potenzial zu einer Literatursprache liegt somit - historisch begründet - bei allen Idiomen Italiens gleichermaßen. Synthese In der Zusammenschau ist zunächst zu konstatieren, daß Castigliones Beitrag vor allem in einigen Details zur Sprachenfrage der Antike besteht - wie es auch nicht selten bei den Protagonisten des 15. Jahrhunderts der Fall ist - und, daß Castiglione zudem ein wichtiger und prominenter Zeuge ist, wie sich diese De‐ batte in knapp hundert Jahre verselbständigt hat. Demzufolge besteht für Cas‐ tiglione auch gar keine Notwendigkeit alle grundsätzlichen Positionen neu auf‐ zurollen oder in seine Abhandlung einzuflechten, oder aber auch explizit Namen zu nennen, denn die Grundzüge sind längst zu einem variablen Topos geworden. Gerechtfertigt ist die Aufnahme Castigliones in den Reigen der wichtigen Pro‐ tagonisten dieser spezifischen questione allein durch den hohen Wirkungsgrad seines Cortegiano, der nicht nur in Italien, sondern in großen Teilen Europas eine kaum zu unterschätzende Resonanz erfuhr. Castigliones Ausführungen zum Status des antiken Lateins als Schriftsprache und Sprache der Mündlichkeit sind wenig differenziert und bleiben weit hinter früheren Modellen zurück. Als diasystematische Diversifizierung kann man höchstens eine diastratische Komponente ausmachen, insofern Spreche‐ rgruppen wie die adlige Elite und das Volk unterschieden werden, diaphasische Unterschiede des Lateinischen waren ihm sicherlich prinzipiell bewußt, werden in diesem Kontext aber nicht thematisiert. In Bezug auf den Sprachwandel ist auffällig, wie selbstverständlich Castig‐ lione die zeitgenössische Volkssprache auf das Latein der Antike zurückführt. Da für ihn im zeitgenössischen volgare der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache nicht essentiell ist, sondern es sich vielmehr nur um zwei Aspekte eines Idioms handelt, ist davon auszugehen, daß er dies für die antike Sprachkonstellation genauso sieht. Das erklärt auch, warum der Konflikt früherer Protagonisten der Debatte, die sich schwertaten das prestigereiche Schriftlatein als Basis des zeitgenössischen volgare anzunehmen, bei Castiglione nicht mehr zum Tragen kommt. Die frühere Unantastbarkeit des Lateins als eine für alle Zeiten kodifizierte Sprache, dessen Wandelbarkeit eo ipso ausge‐ schlossen ist, ist für diesen vehementen Vertreter eines umanesimo volgare des 16. Jh. längst kein Tabu mehr. So zieht er eindeutiger als seine Vorgänger eine klare Entwicklungslinie vom Lateinischen per se (undifferenziert in Bezug auf oral-skriptoral) zu den zeitgenössischen italienischen Varietäten. Dabei betont er als Vertreter einer lingua cortigiana auch die für ihn in diesem Kontext wich‐ 524 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen tige, gleichberechtige Vielfalt als Ergebnis dieses Sprachwandelprozesses, der über viele Jahrhunderte abläuft. Dieser wiederum wird wahrgenommen als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Umbruchprozesses. Castiglione übernimmt zudem die bembianische Idee der Sprachmischung als Ergebnis von latino‐ phoner Bevölkerung und diversen Superstratsprachen - die er offensichtlich als bekannt voraussetzt - und betont dabei noch stärker als sein Vorbild den im Sinne einer aristotelischen generatio möglichen Ausbauprozeß der volksprach‐ lichen Varietäten, der zum Teil schon stattgefunden hat, dem er aber weiteres Potenzial zuschreibt. 6.2.13 Claudio Tolomei (Claudius Ptolemaeus) Wie bereits mehrfach angedeutet ist die chronologische Abfolge der in der Re‐ naissance entstanden Schriften und ihre damit verbundene Rezeption mitunter schwer zu eruieren, da nicht selten dem Publikationsjahr bei einem Verleger eine Distribution der oft Jahre zuvor fertigstellten Manuskripte vorausgeht, ganz abgesehen von oft langen Jahren des Entstehungsprozesses und Phasen der Be‐ arbeitung. Es wurde zwar in der Forschung bereits ein Teil dieses schwierigen Rezeptionsprozesses rekonstruiert, es bleibt jedoch ein Aspekt, der mit Umsicht zu behandeln ist. So verhält es sich auch mit dem Werk des in vorliegender Untersuchung als nächstes präsentierten Protagonisten in der Diskussion um die antike Sprach‐ konstellation, dem Humanisten Claudio Tolomei (ca. 1492-1556), in dessen Traktat Il Cesano, dialogo de M. Claudio Tolomei nel quale da piu dotti huomini si disputa del nome, col quale si dee ragionevolmente chiamar la volgar lingua (1555) sich einige Passagen zu den hier diskutierten Fragestellungen finden, das aber bereits in etwa im Jahre 1525 vom Autor vollendet worden war. Textanalyse Das erste bereits bekannte Thema, das im Rahmen der hier diskutierten Prob‐ lemstellung zur Antike in Tolomeis Dialog Il Cesano, der im Wesentlichen vom toskanischen volgare und dessen Verteidigung handelt, Erwähnung findet, ist die Frage nach der Denomination. Tolomei, der in diesem Traktat ausführlich die Benennung der Volkssprache diskutiert, greift im Zuge seiner Darstellung das Argument auf, welches schon Poggio Bracciolini im 15. Jh. ins Feld geführt hatte, nämlich, daß meistens die Sprache nach der in einer bestimmten Region lebenden Bevölkerung bzw. der zugehörigen Landschaft bezeichnet wird. Pertanto, se conosceremo ove questa lingua naturalmente s’usi e si parli, haveremo insieme conosciuto di chi ella sia, e come chiamarla bisogni. Perché, come la lingua 525 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 839 Dies wird auch an anderer Stelle mit weiteren Fällen zur Antike wieder aufgegriffen: „[…] quando che le lingue tutte che sono state o che saranno hanno preso e prender deono debitamente da i luoghi il nome loro, come l’Egizia, la Punica, la Greca, la Latina: perché neʼ luoghi nascono, e da la differenza deʼ luoghi si conosce la differenza de le lingue“ (Tolomei, Ces. XI, 1-2, 76v; 1996: 66). Caldea così chiamasi con ciò sia che tra ᾽ Caldei s’usava, e la Greca perché in Grecia, e la Latina nel Lazio, così sempre ciascun parlare da quel paese dee nominarsi egli s’usa. (Tolomei, Ces. V, 15, 26 v; 1996: 22) Diese Ausführungen sind im Kontext der zeitgenössischen querelle um die adä‐ quate Bezeichnung der Volkssprache zu sehen, deren Argumente und Gegen‐ argumente von Tolomei in einem fiktiven Dialog präsentiert werden. Der Pro‐ tagonist Alessandro deʼ Pazzi, der in diesem Teil des Streitgespräches zu Wort kommt, argumentiert dabei für eine Benennung nach Herkunftsgebiet, sei es großflächiger oder begrenzter. Entsprechend liegt ihm daran, zwischen einer lingua toscana und einer lingua fiorentina zu unterscheiden, wobei nur letztere die für ihn korrekte Bezeichnung der Sprache der tre corone ist. Zusätzlich zu der bereits bekannten Parallelisierung zu ähnlichen Verhält‐ nissen historischer Natur (cf. Lazio - lingua Latina; Grecia - lingua Greca; Caldei - lingua Caldei) führt er noch als Beweis für die Stabilität einer derartigen Bezeichnungsrelation an, daß diese sich auch nicht durch Fremdsprachenlerner verändern würde. Che se un Italiano haverà la lingua Greca molto bene imparata, o un Greco la Latina, non già per cotal cagione questa si dirà lingua Greca, o Latina quella, ma si rimarrà ciascuna ne l’antico suo vero nome, e in quei proprii paesi onde ella fu da forestiere mani inviolata. (Tolomei, Ces. V, 14, 26 r; 1996: 22) Auch wenn diese Argumentationsführung auf den ersten Blick ein wenig trivial erscheinen könnte, geht es doch um nichts weniger als eine beobachtete Na‐ menskontinuität seit der Antike, die auch durch eine größere Verbreitung der jeweiligen Sprache und den Gebrauch durch nicht-muttersprachliche Sprecher persistent bleibt. 839 Ein anderes Thema, welches an verschiedenen Stellen der Abhandlung immer wieder aufgegriffen und variiert wird, ist der von Tolomei dargestellte Sprach‐ wandel, womit in erster Linie die Veränderlichkeit des Wortschatzes gemeint ist. Dieses Phänomen bezieht er meistens auf die Volkssprache, aber nicht nur, wie in folgendem Passus deutlich wird. Però spesse volte avviene che alcuni vocaboli d’una lingua si tralassino, e altri si ri‐ piglino che già erano tralassati, e deʼ nuovi si formino ancora, secondo che vuole e 526 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen governa l’uso: lo quale (come bene scrive Orazio) è giudice e maestro d’ogni parlare. E queʼ vocaboli, inprima che si usassero, parevano a gli orecchi di chi gli ascoltava aspri e duri, sì come ne la lingua Latina avenne a reato e munerario, l’uno da Messala, l’altro da Augusto trovato. Onde bene esser porria che per longhezza di tempo potesse una lingua a poco a poco tutta trasmutarsi e tutta rifarsi, creandosi ogni giorno qualche nuovo vocabolo e alcuno deʼ vecchi abbandonandosi, in quella guisa che forse avvenne a la lingua Latina, la quale (come ne scrive Sesto Pompeio) neʼ suoi tempi nissuno vocabulo haveva conservato intero. (Tolomei, Ces. VI, 36-37, 41r-v; 1996: 35) In diesem Abschnitt verbergen sich einige grundlegende Aussagen. Zunächst ist festzustellen, daß Tolomei hier die Metapher von Horaz aufgreift, die sich auch bei Castiglione angedeutet findet (cf. Kap. 6.1.1). Wie die Bäume im Herbst ihre welken Blätter abwerfen und im Frühjahr neue hervorsprießen, so vergehen auch manche Wörter und andere entstehen neu, heißt es sinngemäß in der Ars poetica (v. 60-72; 1984: 8). Tolomei ergänzt das Vergehen (alcuni vocaboli d’una lingua si tralassino) und Werden (deʼ nuovi si formino) noch durch die Tatsache, daß auch manche Wörter, die außer Gebrauch geraten sind, wieder reaktiviert werden (altri si ripiglino). Die Leitlinie, nach der das alles geschieht, ist der Sprachgebrauch (uso), ihn nennt er den Richter (giudice) und (Lehr)Meister (maestro) jedweden Sprechens. Dies führe, so Tolmei weiter, dazu, daß eine Sprache sich nach und nach ver‐ ändere, langsam aber stetig (a poco a poco tutta trasmuttarsi), und sich schließ‐ lich, quasi ohne, daß man es bemerken würde - so die Suggestion -, komplett umbilden würden (e tutta rifarsi). Er formuliert diesen Prozeß zunächst ganz allgemein, d. h. jede Sprache würde diesem Wandel unterliegen, bei dem neue Wörter entstehen und alte aufgegeben werden, und zwar täglich. In der daran anschließenden Schlußfolgerung ist er allerdings zurückhaltend und fügt mit Referenz auf Sextus Pompeius ein ‚vielleicht‘ ein, wenn er genau diese konti‐ nuierliche Veränderung auch auf das Lateinische überträgt. Hier scheint immer noch der Topos der Unveränderlichkeit der grammatica durch, wie er bei Dante oder später auch bei Bruni und anderen zu finden ist. Tolomei ordnet die lingua Latina zwar den lebenden Sprachen zu, allerdings offenbar mit gewissem Zweifel. Im Weiteren identifiziert er diese Art der trasmutazione eindeutig mit einer corruzione der Sprache, die allerdings im Normalfall nicht zu einer grundsätzlich neuen Sprache bzw. Sprachbenennung führen würde, wie er anhand eines Ver‐ gleichs mit einem immer wieder überholten Schiff anschaulich macht (cf. To‐ lomei, Ces. VI , 38, 41 v; 1996: 35). Allerdings kann es unter dem Einfluß von genti forestiere sehr wohl zu einer grundlegenderen Veränderung kommen, deren Ab‐ lauf er detailliert schildert. 527 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 840 Es ist hier davon auszugehend, daß er mit diesen zahlreichen Fällen nur solche der Romania im Sinn hat, daß also viele Sprachen aus dem Lateinischen in Kontakt mit den Sprachen der huomini esterni entstanden seien, dies aber prinzipiell nicht oft vor‐ kommen würde, da er dies ja zuvor als selteneres Phänomen beschrieben hatte, da meistens der Name der Sprache bei einem Veränderungsprozeß erhalten bliebe (cf. supra). Con ciò sia cosa che, mescolandosi gli antichi vocaboli di quel luogo con gli nuovi di questi huomini esterni, e ascoltandosi i primi eʼ secondi mescolatamente dai piccoli fanciulli, e hora questi hora queʼ vocaboli usandosi, egli avviene molto facilmente che imparino gli uni e gli altri, e questa con quelli e quella lingua con questi corrompendo, ne faccian una terza nascer suso, la qual sia non meno da la prima che da la seconda differente. (Tolomei, Ces. VI, 40-41, 42r; 1996: 35) Im Laufe der Zeit würden sich durch das Aufeinandertreffen der verschiedenen Bevölkerungsbzw. Sprachgruppen die Wörter vermischen, was man am ehesten am Sprachgebrauch der Kinder beobachten könne. Konkreter geht es um die hier nicht genannten „Barbarenvölker“, deren Sprachen mit dem Latein‐ ischen in Kontakt kommen. Der Prozeß dieses Austausches wird dabei sehr genau beschrieben, indem aufgezeigt wird, wie man zuerst diese fremden Wörter hört und dann nach und nach lernt, was die ursprüngliche Sprache „korrumpiert“ und woraus dann schließlich eine neue Sprache entsteht, nämlich eine dritte (faccian una terza nascer), die sich fundamental von den beiden Aus‐ gangsidiomen unterscheidet (da la prima che da la seconda differente). Hierbei gibt Tolomei unzweifelhaft die „Mischsprachentheorie“ von Pietro Bembo wieder, der diesen Veränderungsprozeß in ähnlicher Weise beschreibt (cf. Kap. 6. 2. 11). Resümierend konstatiert er diesen Vorgang der corruptio einer be‐ stehenden Sprache und die generatio einer neuen in der Antike als häufig auf‐ tretendes Phänomen: „Quinci è nato che molte e molte lingue si sono ne gli antichi tempi corrotte, e quindi nuove se ne sono formate“ (Tolomei, Ces. VI , 42, 42 v; 1996: 36). 840 Daran anschließend diskutiert er zwei Fälle exemplarisch etwas ausführli‐ cher, nämlich den Sprachwandel des Spanischen und den des Toskanischen. De le quali, la prima [la lingua Spagnuola; R. S.] si vede esser nata da la corruzione de la lingua Latina e da quella de la Moresca; con ciò sia che, essendo stata la Spagna molti e molti anni da le genti more scorsa, habitata e comandata, le quali havevano lingua in tutto da gli huomini di quel paese differente, maraviglia non è se l’una con l’altra mescolandosi fece questa nascer co la quale neʼ nostri tempi in Spagna si parla. (Tolomei, Ces. VI, 43, 42 v; 1996: 36) 528 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 841 Zuvor war das Arabische zwar mitunter ebenfalls als beeinflussende Sprache mitauf‐ geführt worden, aber bisher ohne weitere Konkretisierung (v. infra). 842 Tatsächlich sind zahlreiche Sprachen der Germanenstämme der Völkerwanderungszeit eng miteinander verwandt, so daß die Frage des sprachlichen Abstandes im Sinne einer Unterscheidung von Dialekt und Sprache durchaus nicht völlig abwegig ist. Vor dem Hintergrund womöglich nur spärlicher Zeugnisse oder eventuell auch ganz ohne exakte Kenntnisse der jeweiligen Sprachen, mag ein Zögern seitens Tolomeis hier gerechtfer‐ tigt erscheinen. Für die Genese des zeitgenössischen Spanischen nimmt Tolomei demnach eine durch „Korruption“ entstandene Sprachmischung aus Latein und Arabisch an (nata da la corruzione de la lingua Latina e da quella de la Moresca), was sich aus der Eroberungssituation auf der Iberischen Halbinsel ergeben habe. Nachdem die arabischen Invasoren viele Jahre Spanien beherrscht und bewohnt hätten, sei es kaum verwunderlich, daß sich ihre Sprache mit der einheimischen, d. h. der lateinischen, vermischt hätte (l’una con l’altra mescolandosi) und daraus wäre dann das Idiom geboren worden, das man heutzutage in Spanien sprechen würde. Tolomei führt hier erstmals im Rahmen dieser Diskussion sehr konkret das Arabische als wichtigsten Bestandteil der Entstehungsgeschichte des Spa‐ nischen mit auf (cf. Coseriu 2020: 130-131). 841 Er appliziert demnach die Vor‐ stellungen Bembos auf die Gegebenheiten der Iberischen Halbinsel. Für das Toskanische im Sinne eines ähnlichen historischen Kontextes der Sprachwerdung schildert er den Prozeß der Genese folgendermaßen: Così de la Toscana nostra diremo, la quale par che sia di tre o forse più lingue, che stranamente si corroppero, composta, cioè de l’Etrusca antica, de la Latina che poi vi venne, e de la barbara e forestiera portatavi da genti esterne, che ne l’infelice Italia ingiuriosamente trascorsero. Perché, innanzi che l’imperio Romano vi facesse tra‐ passar col ferro la lingua sua, havevano i Toscani idioma proprio Etrusco e alfabeto proprio […]. (Tolomei, Ces. VI, 44-45, 43r; 1996: 36) Die Sprachmischung, die Tolomei hierbei postuliert, besteht aus dem Latein‐ ischen, dem Etruskischen und der oder den „Barbarensprache(n)“ (de la barbara e forestiera), die von genti esterne nach Italien gebracht worden war(en). Was die Anzahl der beteiligten Idiome anbelangt, so ist er sich nicht ganz sicher, da er von drei oder vielleicht mehr Sprachen spricht, die mitgewirkt hätten. Dies er‐ scheint einerseits merkwürdig, da sowohl allgemein seit Biondo zahlreiche meist germanische Völker in die Diskussion eingebracht wurden, als auch er ein paar Zeilen weiter selbst welche aufzählt, andererseits könnte er hier auch an‐ deuten wollen, daß er sich über das Maß der Beeinflussung der einzelnen Bar‐ barensprachen nicht ganz im Klaren sei oder aber den Grad ihrer Unterschied‐ lichkeit nicht abzuschätzen wage. 842 529 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 843 Das durchaus martialische trapassar col ferro und die politische Durchsetzungskraft, die als Prämisse für die sprachliche formuliert wird, erinnert an das von Antonio de Nebrija (1441-1522) aufgestellte Diktum que siempre la lengua fue compañera del imperio (cf. Kap. 4.1). Tolomei erläutert im Zuge dieses Prozesses der corruzione die Chronologie der Ereignisse, indem er darauf verweist, daß zunächst bei der Ausdehnung des römischen Reiches die in der Toskana ursprünglich verwendete Sprache, das Etruskische, gewaltsam verdrängt worden wäre und dann überall Latein in Ge‐ brauch kam. 843 Zu einer späteren Zeit kamen dann die Invasoren, die das „un‐ glückliche“ Italien heimgesucht und (plündernd) durchzogen hätten. Die aus‐ führliche Erwähnung der Etrusker als beeinflussende Völkerschaft und Teil einer Sprachmischungsgenese des zeitgenössischen volgare ist ein wichtiges Element in der Darstellung Tolomeis bezüglich der antiken Sprachkonstellati‐ onen. So verweist er auch auf etruskische Fundstücke mit Inschriften (vasi e altri anticaglie con lettre Etrusche), die jedoch schwer bzw. gar nicht zu entschlüsseln wären (cf. ibid. VI , 45, 43 r; 1996: 36). Dabei identifiziert er implizit folgerichtig die Hauptfundregion Toskana mit dem Verbreitungsgebiet der Etrusker, ohne dazu bereits fundierte Kenntnisse zu haben. Im Weiteren geht er nochmal auf den Untergang des Imperium Romanum ein sowie auf die vermutlichen Ursachen dieses so umwälzenden Epochenereig‐ nisses, um daran anknüpfend die sprachlichen Veränderungsprozesse nochmals zu verdeutlichen. Quindi, per successione deʼ tempi essendo l’imperio Romano indebilito, o per sinistra fortuna o per poca diligenzia di color che reggevano, incominciorono le genti barbare ed esterne a scorrer gagliardamente in Italia, e quella saccheggiare, mettere in preda, ardere, ruinare, e tra li altri danni corrompervi co i lor forestieri vocaboli le proprie lingue: come da gli Unni, daʼ Goti, daʼ Longobardi vi fu fatta, con grave di lei danno e vituperio, longa dimoranza. (Tolomei, Ces. VI, 46, 43v; 1996: 36-37) Das Motiv des für die Humanisten der Renaissance als „Urkatastrophe“ ange‐ sehene Endes des römischen Reiches (und damit vor allem auch der römischen Kultur) greift Tolomei in diesem Passus eindringlich auf, indem er die Schrecken der Völkerwanderungszeit heraufbeschwört. Die genti barbare wäre also rau‐ bend und brandschatzend (saccheggiare, mettere in preda, ardere, ruinare) durch Italien gezogen und zusätzlich zu diesen angerichteten Schäden hätten sie auch noch durch ihre fremden Wörter die einheimische Sprachen „verunstaltet“ bzw. „verunreinigt“ (corrompervi co i lor forestieri vocaboli), d. h. die Idiome Italiens. An dieser Stelle werden exemplarisch dann auch einige der wichtigsten Verur‐ 530 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen sacher genannt, die Hunnen, die Goten und die Langobarden, die letztlich sprachlich gesehen langanhaltenden Schaden verursacht hätten. Im Folgenden wird dann noch einmal deutlicher der Prozeß der corruptio und der nachfolgenden generatio dargestellt. Così furon cagione di corrompervi in tutto la lingua prima, e in Toscana lassarvene una che de l’antica Etrusca un poco, de la Latina assai, e di questa forestiera lingua in parte fusse composta; e n’è seguito che, forse contro a la voglia loro, la corruzione di quelle n’ha un’altra molto leggiadra e molto nobile generata. (Tolomei, Ces. VI, 47-48, 43v; 1996: 37) Ähnlich einer Endzeitkatastrophe wird hier von Tolomei resümiert, was nach dieser „Korruptionsphase“ als Ergebnis übrig geblieben ist. In der Toskana er‐ hielt sich also seiner Meinung nach noch ein wenig vom Etruskischen, vom Lateinischen relativ viel und von dieser fremden („barbarischen“) Sprache eben‐ falls ein Teil. Aus der bembianischen Theorie der Sprachmischung heraus be‐ deutet das also im Sinne Tolomeis, daß die neu entstandene Sprache, d. h. das toskanische volgare des frühen Mittelalters, aus diesen Anteilen der an dem Prozeß beteiligten, ehemaligen Idiome besteht, was noch sichtbar ist. Nach und nach, so die weitere Darstellung, entwickelt sich aus diesem sprachlichen Kon‐ glomerat eine neue, anmutige und edle Sprache (un’altra molto leggiadra e molto nobile generata). Es besteht kein Zweifel, daß Tolomei hierbei auf das durch die tre corone und andere Dichter nobilitierte Toskanisch abhebt. Die Art und Weise, wie eine solche Umbildungsphase im Einzelnen abläuft, schildert er dann nochmals durch weitere Erläuterungen. Die distruggimenti und rinovamenti würden durch das mescolamento der verschiedenen Sprecher zu‐ stande kommen, von Generation zu Generation verändere sich dann die Sprache, indem das eine Wort erhalten blieben, ein anderes jedoch untergehe, wobei der ganze Vorgang ohne die explizite Einflußnahme der Menschen vor sich gehe: „là dove nissuna arte o industria humana vi s’adopera“ (Tolomei, Ces. VI , 49, 44r; 1996: 37). Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang, den Tolomei anführt, ist, daß sich für ihn offensichtlich trotz des Vermischungsvorganges die aus diesem Prozeß hervorgegangene Sprache im Wesentlichen als die lateinische heraus‐ stellt, wodurch er letztlich auch leichter die spätere Nobilitierung des aus dem Lasteinischen hervorgegangenen Toskanischen vertreten kann. Perché veggiono che ella neʼ nomi, neʼ verbi, ne gli avverbi si conserva quasi tutti i vocaboli Latini, ma guasti e corrotti: come molto facil cosa è conoscere a chi pur un poco vi discorre. (Tolomei, Ces. VII, 2-3, 45r; 1996: 38) 531 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 844 „Però lingua Greca fu chiamata, non Vulgare; Punica, non Vulgare; Etrusca, non Vul‐ gare; Latina, non Vulgare: e pure in tutti questi luoghi era quella stessa lingua dal volgo ancora intesa e parlata“ (Tolomei, Ces. X, 5-6, 72v; 1996: 62). Die verschiedenen Wortarten (Nomen, Verben, Adverbien) des Lateinischen blieben also prinzipiell erhalten, jedoch insofern verändert, als sie dem Prozeß der corruptio unterworfen waren. Der Wortschatz steht bei Tolomei zweifellos im Vordergrund, aber er diskutiert auch Phänomene wie Akzentsetzung und Silbenlänge sowie den Gebrauch des Artikels (cf. ibid. Ces. VII - VIII passim). Allerdings stellt er diesbezüglich den Bezug zum Sprachwandel nicht ganz so explizit her. Tolomei unterscheidet prinzipiell einerseits zwischen solchen Sprachen, die er als eine propria e vera lingua charakterisiert, wozu das Hebräische, das Grie‐ chische, das Punische und das Lateinische gehöre und andererseits den Volks‐ sprachen, denen er eine gewisse povertà bescheinigt, was der corruzione ge‐ schuldet ist (Tolomei, Ces. VII , 5, 45v; 1996: 38). Daraus ist zu folgern, daß die antiken Schriftsprachen im Sinne einer grammatica eingestuft werden (cf. propria e vera) und diese hätten kein zusätzliches volgare besessen, was man daran erkennen könne, daß ihre Benennung auf die zugehörige Landschaft zu‐ rückginge, wo sie enstanden seien (z. B. Griechisch in Griechenland), und es keine Anzeichen für eine volksprachliche Bezeichnung gäbe. 844 Die Eigen‐ schaften propria und vera äußern sich laut Tolomei in vocabuli (d. h. Lexik), accenti (d. h. Prosodie bzw. Metrik), costruzzioni (d. h. Syntax bzw. Morpho‐ syntax) und alfabeto (d. h. Schrift) (cf. ibid.). Einen wichtigen Aspekt in Bezug auf die antike Sprachkonstellation stellt Tolomei dann noch im Kontext der Verbreitung einzelner Sprache dar, die eben oft über die Grenzen ihres Ursprunggebietes hinausreichen und mit anderen Sprachen koexistieren. Con ciò sia cosa che talora una stessa lingua si parla in più provincie: come avvenne de la Greca, la quale e in Sicilia e in Asia e in una parte d’Italia si parlava; e talora in una sola provincia vi si parlano di più lingue: come in Italia, dove era la Latina, la Etrusca, l’Osca, la Greca. (Tolomei, Ces. X, 15-16, 74v; 1996: 64) Die hier skizzierte Mehrsprachigkeit im antiken Italien ist zwar bereits schon von anderen Protagonisten der Debatte angedeutet (cf. Beispiel des Ennius bei Poggio Bracciolini) und vor allem von Bembo in Bezug auf das Griechische he‐ rausgestellt worden, aber Tolomei ist hier besonders explizit und bezieht vier Sprachen mit ein, liefert demnach ein durchaus differenziertes Bild der römi‐ schen und vorrömischen Antike. 532 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 845 Er referiert hier mit Cortigiana auf die griechische Koiné und im Folgenden bezüglich des Lateins auf das klassische Latein. 846 Das Punische des (Handels)Reiches von Karthago ist eine Varietät des Phönizischen. Das Phönizische selbst ist eine nordwestsemitische (genauer: mittelkanaanäische) Sprache. In einem Gesprächsbeitrag des Dialogs (v. infra) wird dann schließlich noch vor dem Hintergrund der Denominationsfrage auf die stilistische Unterschied‐ lichkeit innerhalb des Lateinischen eingegangen. So wird hier argumentiert, daß Platon ja nicht Griechisch gesprochen hätte, sondern Cortigiana, 845 genauso wie auch Cicero nicht Latein gesprochen hätte, sondern ebenfalls Cortigiana, was nichts anderes bedeuten soll, als daß es zwischen der Sprache des Volkes und der der auctores Unterschiede gab: […] che la lingua con che parlò Platone fusse Cortigiana, non Greca, e quella con che scrisse Cicerone Cortigiana, non Latina: con ciò sia cosa che eglino non con quelli stessi vocaboli o con quel filo di parole parlassero col quale il vulgo parlava, ma cercaro, schifando la bruttezza e le macchie che v’erano, scegliare i più bei vocaboli e gentil‐ mente insieme legargli. (Tolomei, Ces. XI, 4-5, 77r; 1996: 66). Hierbei wird wiederum hauptsächlich auf die lexikalischen Unterschiede abge‐ hoben (cf. vocaboli), aber auch auf solche der Syntax (cf. quel filo di parole bzw. legargli), womit insgesamt stilistische Differenzen gemeint sind. Begrifflich ver‐ sucht er hier die die (literarische) Gemeinsprache von der Volkssprache abzu‐ setzen, indem er negiert, daß die lingua cortigiana dazugehöre (z. B. Cortigiana, non Latina), was aber als Hyperbolik zu interpretieren ist, da er ansonsten durchaus von einer Einheit des Lateinischen ausgeht. Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Analysiert man nun die von Tolmei dargestellten Aspekte zur antiken Sprach‐ situation unter dem Blickwinkel des aktuellen linguistischen Kenntnisstandes und der dazugehörigen Terminologie, so ist zunächst festzustellen, daß sein Schwerpunkt eher auf dem diachronen Entwicklungsprozeß der Sprache liegt als auf der synchronen Diasystematik. In Bezug auf die Antike läßt sich allgemein aus seinen Ausführungen, vor allem aus denen zur Namenskontinuität von Ethnonymen und Toponymen, he‐ rauslesen, daß er eine gewisse Vielfalt der Sprachen annimmt. So zählt er neben dem Lateinischen das Griechische, das Hebräische, das Phönizische (Puni‐ sche), 846 das Chaldäische und das Ägyptische auf, d. h. in erster Linie die Schrift‐ sprachen des Altertums, aber immerhin nicht nur die tres sacrae linguae. Noch interessanter ist dabei seine Vorstellung von der Sprachenvielfalt in Italien, für 533 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 847 Cf. zum Vergleich den heutigen Wissensstand bezüglich der Mehrsprachigkeit in der römischen Antike in Kap. 4.1 vorliegender Arbeit. das er ein gewisses Nebeneinander von Lateinisch, Griechisch, Etruskisch und Oskisch annimmt. Es ist dabei nicht ganz klar inwieweit er hier von Bilingua‐ lismus oder Polyglossie oder eher von einer lokalen abgegrenzten Koexistenz der Sprachen ausgeht. Hierbei erscheint zweierlei bemerkenswert: Erstens die Tatsache, daß er das Etruskische und das Oskische als die wichtigsten (Schrift)Sprachen Mittel- und Süditaliens erkennt und zweitens, daß er auch in Bezug auf die Arealität eine wichtige Feststellung macht, nämlich, daß die Ver‐ breitung einer Sprache oft (nicht immer) über die Region ihrer Genese hinaus‐ reicht, was eben nicht nur für das Lateinische gilt, sondern als eine generelle Regel formuliert oder zumindest mit mehreren Beispielen belegt wird. Umge‐ kehrt können dabei aber in einer bestimmten Region mehrere Idiome koexis‐ tieren. Was also die antike Sprachdistribution betrifft, so ist Tolomei hier deut‐ lich präziser als seine Vorgänger. 847 Was nun den Status und die innere Differenzierung des Lateinischen anbe‐ langt, so äußert sich Tolomei zu diesem Aspekt kaum, was wohl damit zusam‐ menhängt, daß er eine Diglossie-Situation im Gefolge von Bruni erst gar nicht in Betracht zieht, sondern grundsätzlich von einer Einheit der lateinischen Sprache in der Tradition von Biondo bis Bembo ausgeht. Demzufolge ist auch eine diasystematische Differenzierung nicht weiter thematisiert, da für ihn kein Bedarf der Abgrenzung besteht, wie es noch im 15. Jh. der Fall war. Einzig einige beiläufige Anmerkungen, so wie die zu einer postulierten lingua cortigiana von Cicero und Platon (v. supra), lassen den Schluß zu, daß er eine diaphasische Differenzierung des Lateinischen durchaus annahm. Inwieweit hierbei auch die diastratische Ebene mitzudenken ist, sei im Rahmen der bereits öfters geschil‐ derten Problematik der Unterscheidung von Diastratik und Diaphasik dahinge‐ stellt (cf. Kap. 3.1.1). Es sei ergänzt, daß wohl ausnahmslos allen Humanisten die stilistischen Unterschiede im Lateinischen bewußt war - im Vorliegenden geht es aber ja darum, ob sie diese Variation auch für die Antike darlegen (eventuell auch bezüglich Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisieren) oder im Zuge ihrer Argumentation übergehen. Was den Sprachwandel anbelangt, so schließt sich Tolomei im Wesentlichen der These Bembos von einer Sprachmischung an, d. h. aus dem Lateinischen und den „Barbarensprachen“ entsteht ein neues Idiom, das volgare. Man könnte aus linguistischer Perspektive diesen Sachverhalt auch als Kreolisierung interpre‐ tieren, indem das Lateinischen durch die corruptio zunächst eine Pidginisierung durchläuft und dann durch die alteratio und generatio einer Kreolisierung un‐ 534 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 848 Dies hängt mit seiner Ausrichtung zusammen, das Toskanische als Schrift- und Lite‐ ratursprache zu favorisieren, weshalb er versucht, der lingua toscana eine entspre‐ chende Eigenständigkeit nachzuweisen (cf. Schlemmer 1983a: 44). 849 „E pur se questo guardiamo, come s’arrichì la Latina ancora, non hebbe ella molti Greci vocabuli, molti Osci, molti Etruschi, antichi Franzesi alcuni, alcuni Punici? “ (Tolomei, Ces. VIII, 53, 62v; 1996: 53). Die antichi Franzesi scheinen nur mit den Kelten sinnvoll gleichzusetzen zu sein, denn das Fränkische oder gar das Französische wären zeitlich deutlich später anzusetzen. Obwohl bei den Humanisten die Chronologie der Völker mitunter nicht ganz konsistent ist, scheint es im vorliegenden Fall doch eindeutig, zumal Tolomei an anderer Stelle Franzese ohne den Zusatz ,antik, alt‘ gebraucht (ibid. XI, 17, 79 v; 1996: 69). terliegt, wobei das Lateinische Basis und Lexifier-Sprache wäre und die germa‐ nischen Sprachen als Substratsprachen im Sinne der Kreolistik fungieren würden. Die Interpretation trifft dabei allerdings nur zum Teil zu, da es, abge‐ sehen von einer andersgearteten sozio-historischen Situation im Vergleich zur klassischen europäischen Kolonisierung (15.-19. Jh.), bei Tolomei hauptsächlich um lexikalische Aspekte geht bzw. keine klare Distribution zu erkennen ist, welche der Ausgangssprachen für ihn grammatische oder lexikalische Struk‐ turen liefert. Dennoch könnte man aufgrund der Idee der Vermischung und Neuentstehung gewisse Parallelen ziehen. Bleibt man hingegen bei einer Interpretation im Sinne der traditionellen Strata-Theorie, so ist auffällig, daß Tolomei hier dem Etruskischen einen we‐ sentlichen Anteil an der Genese zuspricht, also genau diese Sprache als wichtige Substratsprache ins Spiel bringt. In Bezug auf die Art der Sprachmischung un‐ terscheidet er sich hier auch deutlich von Bembo. Dies wurde auch in der bis‐ herigen Forschung durchaus bereits thematisiert, oft wurde sogar Tolomei in Bezug auf diesen Kontext auf jene Innovation allein reduziert (cf. Schlemmer 1983a: 43-44). Dabei ist zu ergänzen, daß er das Etruskische explizit als Substrat des Toskanischen sieht, nicht ganz allgemein als Substrat der diatopischen Va‐ rietäten Italiens im Allgemeinen. 848 Zudem untermauert er seine These durch den Verweis auf Inschriftenfunde in dieser Region. Allgemein als Sprachen, die das zeitgenössische volgare geprägt haben und die man als Substratsprachen interpretieren kann, listet er das Griechische, das Oskische, das Keltische und das Phönizische (Punische) auf. 849 Da er in diesem Kontext jedoch davon spricht, daß genau diese Sprachen das Lateinische beein‐ flusst haben, wären diese im heutigen Sinne sogar exakter als Substrate des Lateins zu interpretieren. Diese Differenzierung zwischen mikro- und makrodiatopischer Sprachge‐ nese ist durchaus bemerkenswert und auf diese Weise in der vorliegenden De‐ batte noch nicht so eindeutig formuliert worden. Gleiches gilt für die auch aus 535 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini aktueller Sicht klare Erfassung der wichtigsten Substratvölker sowie der maß‐ geblichen vorlateinischen Schriftsprachen. Neben dem Substrateinfluß erwähnt Tolomei an anderer Stelle seiner Aus‐ führungen auch den Superstrateinfluß, wobei exemplarisch als beeinflussende Völker die Goten, die Langobarden und die Hunnen genannt werden. Während die ersten beiden gentes ja nach heutigem Kenntnisstand einige, vor allem lexi‐ kalische Relikte im Italienischen hinterlassen haben, die Langobarden entspre‐ chend der längeren Siedlungsdauer dabei deutlich mehr, so ist der Einfluß der nicht-germanischen Hunnen, die nur Plünderungszüge in Italien unternahmen kaum erwähnenswert. Inwieweit Tolomei und den anderen Protagonisten der Debatte hier die Unterschiede bewußt waren, ist schwierig einzuschätzen, da oft einerseits nicht zwischen historisch prägnanten Ereignissen und Sprach‐ einfluß unterschieden wurde (cf. aber Hinweis auf Siedlungsdauer) und ande‐ rerseits die Kenntnisse zur sprachgenetischen Verwandtschaft noch rudimentär waren bzw. nicht beachtet wurden. Neben dem Toskanischen analysiert Tolomei auch die Entstehung des Spa‐ nischen und stellt hier als wichtige Sprachen, die dafür verantwortlich gemacht werden und heute als Superstratsprachen zu interpretieren sind, das Arabische in den Vordergrund. Es zeigt sich aber auch, daß die chronologische Abfolge - er parallelisiert diesen Vorgang mit der Genese des Toskanischen aus dem Et‐ ruskischen - nicht im Vordergrund steht, sondern das Faktum der Sprachmi‐ schung. Wie bereits bei Castiglione ist auch bei Tolomei erkennbar, daß das Prozeß‐ hafte des Sprachwandels, das er sehr präzise darlegt, sowie seine Einbettung in einen gesamtgeschichtlichen und gesellschaftlichen Umwälzungsvorgang außer Frage stehen, genauso wie der direkte Bezug zum zeitgenössischen vol‐ gare, was im 15. Jh. noch nicht selbstverständlich war. Das Lateinische in seiner Gesamtheit bildet dabei die Grundlage der zeitgenössischen italienischen Volks‐ sprache. Resümierend kann man festhalten, daß Tolomei sich relativ wenig zur in‐ neren Differenzierung des Lateinischen geäußert hat. In Bezug auf die Sprach‐ konstellation insgesamt steuert er hingegen durchaus wichtige Aspekte bei: Zum einen schildert er relativ klar das Spektrum der antiken Sprachen, insbe‐ sondere das für die Schriftlichkeit maßgebliche, und zwar sowohl in Italien selbst als auch im weiteren Mittelmeerraum. Dabei tritt auch ein gewisses Verständnis für die Zusammenhänge von autochthonem Sprachgebiet und Verbreitung einer Sprache sowie sprachlicher Koexistenz und Polyglossie zu Tage. Zum anderen ist seine These zur Entstehung der romanischen Sprachen und Varietäten be‐ merkenswert, wobei er sich zwar prinzipiell an Bembo anlehnt aber sowohl in 536 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 850 In dieser Zeit wurde unter Alessandro Farnese (1468-1549), dem Papst Paul III. (1534-1549), auf Initiative Tolomeis, der sich durch sein Organisationstalent hervortat, die Accademia della Virtù (auch: Accademia Vitruviana, gegr. 1542), der als erster Vor‐ sitzender der spätere Papst Marcello Cervini (1501-1555; Marcellus II, ab 1555) vorstand (cf. Oliveto 2016: XIII). 851 Die in den meisten Biographien zu findende Angabe, daß Tolomei Bischof von Toulon (it. Tolone) gewesen sei, beruht auf einer irrigen Interpretation einer Unterschrift (ves‐ covo di Tolone statt vescovo deʼ Tolomei) (cf. Prunai 1971: 55). Zudem findete sich auch nichts in den entsprechenden französischen Bischofslisten der Diözese (Bistum Fréjus-Toulon, lat. Dioecesis Foroiuliensis-Tolonensis). Bezug auf seine Exempel (Spanisch, Toskanisch) als auch in seinen Ausfüh‐ rungen zu den Sub- und Superstratsprachen über diesen hinausreicht. Rekontextualisierung Als erstes soll nun im Rahmen um die Bemühung einer Rekontextualisierung die Vita dieses Protagonisten in der Debatte um die Antike kurz synthetisiert werden. Claudio Tolomei (lat. Claudius Ptolemaeus) (ca. 1492-1556) wurde in Asciano bei Siena geboren, wo der Großvater seine Landgüter hatte. Aus einer der einflußreichsten Sieneser Familie stammend (cf. Palazzo Tolomei in Siena), genoß Claudio Tolomei eine entsprechende Ausbildung, die er dann in Bologna vervollständigte, wo er Rechtswissenschaft studierte. Neben den Pandekten widmete er sich dort auch ersten lyrischen Versuchen (cf. infra). Er kehrte an‐ schließend nach Siena zurück und arbeitete als lettore extraordinario de mane am Studio von Siena (1516-1518) und gab juristische Vorlesungen (in iure ci‐ vili). Aus politischen Gründen verließ er 1518 Siena und begab sich nach Rom, um dort öffentliche Lesungen zu halten. Zurück in Siena war er an der Gründung der Accademia degli Intronati (gegr. 1525 / 1527) beteiligt, mußte aber schließlich seine Heimatstadt wegen seiner Nähe zu den Medici verlassen (1526) und fand zunächst Zuflucht in Rom unter dem Protektorat des Kardinals Ippolito deʼ Me‐ dici (1511-1535, Kard. ab 1529), 850 später in Piacenza am Hof von Pier Luigi II . Farnese (1503-1547, Hz. ab 1545). Unter letzterem stand er bis zu dessen Tod dem Supremo consiglio di giustizia im Herzogtum Parma und Piacenza vor (1545-1547), im Jahre 1549 wurde er Titularbischof von Curzola (kroat. Kor‐ čula, Insel mit gleichnamiger Stadt bei Dubrovnik). Gegen Ende seines Lebens konnte er nach langem Exil nach Siena zurückkehren (1551) und wurde von dort als Botschafter nach Frankreich entsandt, wo er den größten Teil seines restli‐ chen Lebens verbrachte. 851 Er starb schließlich wohl 1556 in Rom. Tolomei war wie viele andere Gelehrte der Zeit in seinem schriftstellerischen Wirken vielseitig. Er verfaßte juristische Schriften (De corruptis verbis iuris ci‐ vilis, ca. 1516; Disputationes et paradoxa iuris civilis, verloren), Gedichte (Laude 537 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 852 In seinem Werk Il Polito (eigentl. De le lettere nuovamente aggiunte libro di Adriano Franci da Siena intitolato Il Polito), welches er unter dem Pseudonym Adriano Franci herausgab, argumentiert er vor allem gegen die Orthographiereform Gian Giorgio Trissinos (1478-1550), die dieser in seiner Ԑpistola del Trissino de le lettere nuωvamente aggiunte ne la lingua italiana (1524) entwarf, und propagiert die historisch gewachsene Recht‐ schreibung (cf. Crupi 2008d: 526). 853 Der vollständige Titel der Erstausgabe lautet wie bereits supra angeführt Il Cesano, dialogo de M. Claudio Tolomei nel quale da piu dotti huomini si disputa del nome, col quale si dee ragionevolmente chiamar la volgar lingua, alternativ zur Kurzform Il Cesano ist daher auch die Angabe Il Cesano de la lingua toscana zu finden. 854 Zur Diskussion um die Datierung der drei erhaltenen Manuskripte aus Siena (S), Florenz (M) und Roma (P) cf. Castellani Pollidori (1996: XLIII-XC, insbes. LXXXI). 855 Niccolò Machiavelli (1469-1527) ist hierbei nicht vertreten, da sein unveröffentlichter Discorso intorno alla nostra lingua (1515 / 1524) kaum verbreitet war (cf. Lucarelli 2015: 252). delle Donne Bolognesi, 1514), eine poetologische Abhandlung zur Metrik (Versi et regole de la nuova poesia toscana, 1539), ein dialogisches Traktat zur Ortho‐ graphie (Il Polito, 1525) 852 und eine Abhandlung zur Sprachenfrage (Il Cesano, 853 1555). Hinzu kommen zahlreiche politische Reden (z. B. Oratione de la pace, 1533) und ein umfangreicher Briefwechsel (De le lettere di M. Claudio Tolomei libri sette, 1547) mit zahlreichen Zeitgenossen (cf. Sbaragli 1939: 1-13; Jacomuzzi 1976: 619; Crupi 2008d: 526; Oliveto 2016: X- XVI ). Das in vorliegender Untersuchung zentrale Traktat Tolomeis, Il Cesano, ent‐ stand zu Beginn des 16. Jhs., wahrscheinlich beendet Mitte des Jahres 1525, 854 wurde aber erst ca. dreißig Jahre später erstmals gedruckt (1555), und zwar in Venedig bei Gabriele Giolito deʼ Ferrari (1508-1578). Die Abhandlung ist als Dialog konzipiert bzw. als monologische Abfolge von Erörterungen zur Sprach‐ denomination des volgare, wobei die berühmten humanistischen Zeitgenossen Pietro Bembo (1470-1547), Gian Giorgo Trissino (1478-1550) und Baldassare Castiglione (1478-1529) auftreten sowie der Florentiner Dichter Alessandro deʼ Pazzi (1483-1530) und der Bischof von Pisa Gabriele Cesano (1490-1568), nach welchem der Dialog benannt wurde. Zu Debatte stehen die Bezeichnungen vulgare (Bembo), cortigiana illustre (Castiglione), italiana (Trissino), fiorentina (Pazzi) und toscana (Cesano) und damit auch die entsprechenden Konzepte und Vorstellungen von einer italienischen Literatursprache, die damit verbunden sind (cf. Heintze 1989: 285). Tolomei eröffnet in seinem Dialog eine Art Panop‐ tikum der wichtigsten Persönlichkeiten der questione della lingua, 855 wobei er die jeweiligen Positionen auf eine rein nominalistische Fragestellung stark re‐ duziert. Der portavoce des Autors ist dabei die Figur des Cesano, der die Position der Bezeichnung ‚toskanisch‘ für die schriftliche Volkssprache vertritt und ent‐ sprechend am meisten überzeugt. Die Realität hat gewissermaßen die meta‐ 538 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 856 Es sei daran erinnert (cf. Kap. 6. 2. 12), daß die ersten drei Bücher des Cortegiano bereits 1513-1516 fertiggestellt wurden und von Castiglione an diverse Freunde zur Korrektur verschickt wurden. 857 Die erste Ausgabe des Orlando furioso, der den unvollendeten Orlando innamorato (1476-1494) von Matteo Maria Boiardo (1441-1494) aufgreift und wie dieser auf den Rolandsstoff aus dem altfranzösischen Karlszyklus rekurriert, stammt von 1516, die zweite von 1521, die dritte und letzte Redaktion von Ariost wurde schließlich um ins‐ gesamt 6 canti erweitert. Zu Bembo und Castiglione als Rezipienten cf. Rivoletti (2014: XVII-XVIII). 858 Die translatio der volkssprachlichen Literatizität ist für Machiavelli offensichtlich: „Perché ciascuno sa come i Provenzali cominciarono a scrivere in versi; di Provenza ne venne quest’uso in Sicilia, e di Sicilia in Italia; e in tra le provincie di Italia, in Toscana; e di tutta Toscana, in Firenze: non per altro che per essere la lingua più atta“ (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 276). 859 Im vollständigen Originaltitel wird Trissinos Ansatz zu einer Orthographiereform deutlich: Dialωgω del Trissinω intitυlatω il Castellanω, nel qυale si tratta de la lingυa italiana (Frontispiz) bzw. Il Castellanω di M. Giωvan Giorgiω Trissinω, il qυale sωttω sprachliche quaestio längst eingeholt wie an den Korrekturanmerkungen Bembos an Castigliones Cortegiano (1528) deutlich wird (cf. Kap. 6. 2. 12). 856 Cas‐ tiglione unterwirft sich weitgehend dem Diktat Bembos und seiner rückwärts‐ gewandten toscanità mit den Vorbildern Petrarca und Boccaccio (cf. Kap. 6. 2. 11). Auch die dritte Überarbeitung des Orlando furioso (1532) von Ludovico Ariosto (1474-1533), eines der einflußreichsten Werke der Zeit, wird schließlich nach den Kriterien der bembianischen Maßgaben vorgenommen (cf. Lucarelli 2015: 252). 857 Die Diskussion um die adäquate Bezeichnung einer italienischen Literatur‐ sprache, in die hier Tolomei eingreift, wurde kurz zuvor von Niccolò Machiavelli (1469-1527) eröffnet, der in seinem Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua (1515 / 1524) die drei alternativen Varianten ,Florentinischʻ, ,Toskanischʻ und ,Ita‐ lienischʻ erörtert (cf. Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 261) (cf. Kap. 6. 2. 17). Die Be‐ zeichnung italiano im Sinne einer Sprache Italiens verwendet erstmals Leonardo da Vinci (1452-1519), aber auch schon Dante spricht von volgare italico, aller‐ dings in Bezug auf die Antike (cf. Muljačić 1988: 289). Er begründet seine Präferenz für die Bezeichnung lingua fiorentina dadurch, daß die wichtigsten literarischen Texte aus Florenz stammen und deshalb eine andere weiter gefaßte Benennung wie toscana oder italiana nicht in Frage käme, genauso wenig wie lingua comune oder curiale, da letztlich die literarische Schriftlichkeit auf das Fundament der tre corone aus Florenz zurückginge (cf. Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 277). 858 Aufgegriffen wird die Fragestellung im Folgenden dann von Trissino, der in seinen Traktaten Dubbi grammaticali (1529) und Il Castellano (1529) 859 die Auf‐ 539 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini nωme di Arrigω Doria si manda al S. Cε Σ are Trivυlziω (erste Seite). Zu einer Übersicht seiner einzelnen Reformvorschläge cf. Coseriu (2020: 60). 860 Trissino ist auch der einzige, der in einem grammatischen Traktat tatsächlich lingua italiana im Titel verwendet: cf. Epistola de le lettere nuovamente aggiunte ne la lingua italiana (1524) (cf. Reutner / Schwarze 2011: 126). 861 Die im Original zu findenden Buchstaben ε, ω und ʃ sind in normalisierter Orthographie wiedergegeben. 862 An der Universität (Studio) Siena wird unter Ferdinand I. deʼ Medici (1549-1609, Ghz. ab 1587) der erste Lehrstuhl für italienische (toskanische) Sprache eingerichtet (1590), besetzt mit dem einheimischen Grammatiker und Dichter Diomede Borghesi (1540-1598), der den Titel lettore di toscana favella trägt (cf. Reutner / Schwarze 2011: 126) und dessen Nachfolger Celso Cittadini werden sollte. fassung vertritt, daß die von ihm propagierte höfische Gemeinsprache als lingua italiana zu bezeichnen sei, 860 da sie von den anderen regionalen volgari wie siciliano oder toscano zu unterscheiden sei. Außerdem würden auch alle anderen Nicht-Italiener diesen Terminus benutzen, ganz analog zu lingua greca, lingua hebrea oder lingua araba: „E però quelli genti che nel manifestare i medesimi sensi usano quasi tutte le medesimi parole si dimandano di una lingua, come è la lingua greca. lingua hebrea, lingua italiana e simili“ (cf. Trissino, Cast.; 1988: 141). 861 Die Debatte um die Bezeichnung zieht sich noch durch das ganze 16. Jh., mit Stellungnahmen u. a. von Sperone Speroni (1500-1588) in seinem Dialogo delle lingue (1542), von Carlo Lenzoni (1501-1551) in seiner Schrift In difesa della lingua fiorentina, et di Dante, con le regole da far bella et numerosa la prosa (1556) bis hin zu Celso Cittadini (1533-1627), der in seinem Trattato della vera origine, e del processo, e nome della nostra lingua (1601) wiederum das neutrale vulgare bevorzugt, da die diatopischen Unterschiede in Italien zu groß seien, um die einzelnen Idiome unter der Bezeichnung lingua italiana zusammenzufassen. Zunächst setzt sich aber tendenziell die Bezeichnung toscano als Glottonym durch (cf. Ellena 2011: 130), und zwar einerseits aus politischen Gründen, da mit Cosimo I. (1519-1574, Hz. ab 1537) im Jahre 1559 (Annexion Sienas) bzw. 1569 (Titelverleihung) das Großherzogtum Toscana entsteht, 862 und andererseits aus Sicht der Kodifizierungs- und Normierungsgeschichte, da mit Bembo das tre corone-Modell sich gegenüber dem Modell einer höfischen koiné und anderen Tendenzen durchsetzt. Die Diskussion bleibt jedoch grundsätzlich bis ins 19. Jh. virulent (cf. Michel 2005: 366-367; Reutner / Schwarze 2011: 125-126). In Bezug auf die questione della lingua nicht nur im Sinne des Bezeichnungs‐ disputes, sondern des allgemeinen Standpunktes zur Wahl der adäquaten volks‐ sprachlichen Varietät für eine Literatursprache Italiens, ist Tolomei zwar als Vertreter des Toskanischen bzw. Florentinischen einzuordnen, dabei aber den 540 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 863 Zur Einordnung Claudio Tolomeis in die questione della lingua cf. auch die tabellarische Übersicht in Kap. 6.1.3 vorliegender Arbeit. Neuerungen gegenüber aufgeschlossener als Bembo, der das archaisierende Modell favorisiert. Michel (2005: 359) ordnet ihn deshalb unter die Rubrik „Mo‐ dernes Florentinisch“ ein - zusammen mit Niccolò Machiavelli (1469-1527), Gi‐ ovan Battista Gelli (1498-1553), Pier Francesco Giambullari (1495-1555) und Benedetto Varchi (1503-1565) - und folgt damit Vitale (1984: 43), der ihn eben‐ falls als Befürworter eines uso vivo der fiorentinisti bzw. toscanisti sieht und als einen der aperti disputanti an der Seite von Gelli und Varchi. Marazzini (1993b: 153) spricht bezüglich der Auffassung Tolomeis von einem „più generico mo‐ dello ‚toscano‘“, dem später auch Alberto Lollio (1508-1568) aus Ferrara und Celso Cittadini aus Siena folgen sollten. 863 Neben der Befürwortung einer lebenden toskanischen Sprache stärkt Tolomei in dieser vulgärhumanistischen Argumentation auch die Fähigkeiten des vol‐ gare, indem er betont, daß jede Sprache eine eigene Grammatik habe, d. h. auch die italienische bzw. toskanische Volksprache, und durch diese immanenten regole auch literaturwürdig sei (cf. Klein 1957: 77). Für die vorliegende Fragestellung im engeren Sinne wichtig ist Tolomeis Rolle in Bezug auf die bereits angesprochene Thematik der Metapher vom Werden und Vergehen der Sprachen. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt (cf. Kap. 6.1.4), ist Tolomei neben Alessandro Citolini (ca. 1500-1582) der Schlüs‐ selautor, der auf Basis der aristotelischen Zyklentheorie von generatio, alteratio und corruptio sowie der Horaz’schen Pflanzenmetapher, das Konzept der lingua viva und der lingua morta in die humanistische Sprachtheorie mitaufnimmt. We may therefore conclude that although to Citolini falls the credit of having been the first writer who clearly formulated the concepts of ‚living language‘ and ‚dead language‘, he may well have taken the general conception from Tolomei, that fertile source of original ideas about language, to whom other Cinquecento vernacular phi‐ lologists were also indebted. (Faithfull 1953: 282) Was das Konzept der corruptio anbelangt, so wurde es in der Renaissance von Biondo, der es auf die Sprachentwicklung appliziert, über weitere Autoren ins 16. Jh. tradiert und dann unter anderem von Bembo und Castiglione aufge‐ griffen, doch tatsächlich gewinnt es erst unter Tolomei den Status einer Art Naturgesetz, indem er die Metapher per Analogieschluß auf andere Bereiche überträgt (cf. Faithfull 1953: 283). Perché, sì come la generazione di qualunque cosa huom si voglia non può natural‐ mente esser senza la corruzione di qualch’un’altra, così parimente la corruzion de le 541 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 864 Es sei an dieser Stelle auch auf die entsprechenden Auswirkungen der Sprachur‐ sprungsdebatte auf andere Länder hingewiesen, namentlich auf Frankreich, wo die so‐ genannte „Keltenthese“ entstand oder auf Spanien, wo man mit einer „Baskenthese“ konterte (cf. Kap 6.1.3). Zur Keltenthese bzw. „Keltomanie“ in Portugal zu Beginn des 19. Jhs., die sich vor allem aus der französischen Sprachtheorie des 18. Jhs. speist, cf. Schäfer-Prieß (2004). In Italien wird von Autoren wie Ascanio Persio (1554-1610) oder Agnolo Monosini (1568-1626) die „Griechenthese“ vertreten, die unter französischem Einfluss entsteht (cf. Coseriu 2020: 131). cose è sempre vera ragione de la generazion de l’altre, nobili talhora quanto le prime, o più forse, e talhora non tanto. (Tolomei, Ces. VI, 48, 44r; 1996: 37) Die einer corruzione nachfolgende Veränderung kann bei Tolomei in Bezug auf Sprachen in manchen Fällen im Zuge einer generatio dann zu etwas völlig Neuem werden (cf. supra), aber meist bleibt es bei einer oberflächlichen alter‐ atio, da in der Regel nur der Wortschatz betroffen sei und nicht die Struktur der Sprache zerstört werde (cf. Schunck 2003: 95-96). Wichtig erscheint dabei, daß Tolomei im Gegensatz zu seinen Vorgängern den Prozeß der Korruption der Sprachen deutlich weniger negativ bewertet, da er es in Anlehnung an Aristo‐ teles gewissermaßen als natürlichen Vorgang begreift (cf. Gensini 2011: 132). Eng mit der Korruptionsthese verknüpft bzw. Bestandteil derselben ist die Diskussion um die Art und Weise des Substrat- und Superstrateinflusses und der daran beteiligten Völker und Sprachen. Diesbezüglich wird Tolomei in der Forschung auch unter der Etruskerhypothese subsumiert (cf. Schlemmer 1983a: 43-44; Michel 2016: 5). 864 Dabei ist jedoch zu beachten, daß Tolomei die Beteili‐ gung der lingue barbariche ja durchaus differenziert betrachtet (cf. supra) und keinesfalls das Etruskische allein als Ursache für den Sprachwandel ausmacht. Trotzdem widerspricht dieser Idee des etruskischen Einflusses noch vor dem offiziellen Erscheinen des Cesano (1555) der aus Padua stammende Humanist Girolamo Muzio (1496-1576) in einem Brief (datiert, 31. Dez. 1541) an Renato Trivulzio (1495-1545). Muzio betont, daß das Etruskische kurz nach der Erobe‐ rung durch die Römer ausgestorben sei und mitnichten deren Sprache beeinflußt hätte. Als Verursacher für die Korrumpierung des Lateins sieht er - ganz tradi‐ tionell - die Germanenvölker. Dabei argumentiert er, daß diese, d. h. die Goten und Langobarden, vor allem in Oberitalien und Süditalien gesiedelt hätten (Lombardia, Romagna, Abruzzo, Campania). Mit dieser historisch-archäologi‐ schen Begründung versucht er nachzuweisen, daß die Toskana davon nicht be‐ troffen gewesen sei. Daraus folgert er, daß das durch die germanischen Idiome „verderbte“ Latein und damit auch die neue Sprache, also das zeitgenössische volgare, ihre Wiege in Oberitalien haben müsse (cf. Kap. 6. 2. 17). Der Subtext in dieser Argumentation zeitigt dabei eine deutliche antitoskanische bzw. antiflo‐ 542 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 865 Problmatisch ist hier die Frage der gegenseitigen Beeinflussung, denn Tolomeis Cesano zirkulierte bereits Jahrzehnte vor seiner Publikation (v. supra). Unter der Annahme der Fertigstellung des Cesano um 1525 und einer nicht allzu großen Diskrepanz zwischen Beendigung des Manuskriptes des Gello und seiner Drucklegung (1546), wäre Tolomei der erste in Bezug auf diese Art der Betonung des etruskischen Einflusses. Zum mög‐ lichen Einfluß von Pierio Valeriano (1477-1558), der in seinem Dialogo della volgar lingua (ca. 1524, publ. 1620) die eloquentia der etruskischen Rede lobt, cf. Schlemmer (1983a: 43). 866 Zum Postulat einer Mischsprache cf. Alberti (Kap. 6.2.4), der als erstes von einer mistura sprach sowie später dann Bembo (Kap. 6. 2. 11), der das Ergebnis aus Latein und den Substrat- und Superstratsprachen in dieser Hinsicht interpretierte. rentinische Einstellung. Muzio als Norditaliener stemmt sich damit im Rahmen der questione della lingua gegen die Präponderanz der bembianischen Lösung. Die Gegenreaktion der Vertreter der toscanità ist in gewisser Weise überra‐ schend. So postuliert Benedetto Varchi (1503-1565) in seinem posthum erschie‐ nenen Werk L’Ercolano (1570) einen möglichst großen Einfluß der in der Tos‐ kana einst ansässigen Germanen, während man beispielsweise in Spanien - was entsprechend dem Zeitgeist eher erwartbar ist - in der Emanzipationsphase der Volkssprache vor allem die Nähe des castellano zum Lateinischen betont (cf. Michel 2005: 148; Marazzini 1989: 29-30; Marazzini 2013: 78-79; Coseriu 2020: 129). Die Etruskerhypothese wurde hingegen vor allem auch von Pier Francesco Giambullari (1495-1555) vertreten, der in seiner Abhandlung Il Gello (1546) eine viel radikalere Sichtweise als Tolomei präsentiert. 865 Der Florentiner Giambullari führt das Toskanische direkt auf das Etruskische zurück und nicht auf das La‐ teinische. Dabei geht er in der Historie noch weiter zurück und postuliert einen eigentlichen Ursprung des volgare toscano im Aramäischen Palästinas, was sich wiederum mit der damals hypothetisierten Herkunftsregion der Etrusker deckt (cf. Coseriu 2020: 129-130). Bei ihm dreht sich dabei das Verhältnis von Latein und Substratsprachen um, und zwar dahingehend, daß er dem Lateinischen den geringsten Anteil an der zeitgenössischen Volksprache zugesteht. Das volgare ist vielmehr eine Mischsprache mit zahlreichen Komponenten, 866 die im Laufe der Zeit hinzukamen (cf. Marazzini 2013: 76-77). Zu diesen Elementen gehöre das Etruskische (etrusco antico), das Griechisch, das Lateinische, das Deutsche, das Französische sowie eine unbestimmte Anzahl weiterer Sprachen (cf. Giam‐ bullari, Gello; 1827: 222-223). Diese doch eher außergewöhnliche Perspektive auf den Ursprung der Volkssprache, die eventuell von französischen Vorbildern be‐ einflußt wurde (cf. Gerighausen 1963: 36; Schlemmer 1983a: 43), blieb in Florenz eher eine Mindermeinung (cf. Kap. 6. 2. 17). 543 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 867 Zu sprachphilosophischen Aspekten im engeren Sinne bei Tolomei cf. Gensini (2011), während Bossong eher Aspekte einer romanistischen Sprachwissenschaft ante litteram bei Tolomei beleuchtet. Dazu gehört beispielsweise die bei Tolomei erstmals klare Her‐ ausstellung von gelehrten Entlehnungen (cf. Kultismen, mots savants), die nicht erb‐ wörtlich aus dem Lateinischen, sondern später aus der Schriftsprache übernommen worden seien. Dabei führt er die initialen Konsonantencluster pl-, cl- und flan und folgert Entsprechendes beispielsweise aus dem Erhalt von plbei tosk. plora oder plebe im Gegensatz zu lat. plenus > tosk. pieno (cf. Bahner 1978: 461; Bossong 1990: 114). Insgesamt ist festzuhalten, daß Tolomeis Ausführungen, die er vor dem Hin‐ tergrund der italienischen questione in seinem Cesano niederlegt, zahlreiche Aspekte sprachtheoretischer Überlegungen beinhalten (cf. Bossong 1990: 108- 114), 867 die auch in der weiteren Diskussion wichtig sind und von seinen Nach‐ folgern aufgegriffen werden (cf. z. B. Cittadini). Dabei rekurriert er in größerem Maße auf Dantes De vulgari eloquentia, insbesondere was die Veränderlichkeit der Sprache als Teil der conditio humana anbelangt, was aber von Tolomei wert‐ neutral als natürliche anthropologische Konstante dargestellt wird. Der Einfluß seiner zeitgenössischen Vorgänger wie Biondo oder Bembo ist ebenso deutlich, vor allem was die vulgärhumanistischen Argumentationsmuster betrifft, wie die Korrumpierung des Lateinischen und der Entstehungsprozess einer neuen Volkssprache im Zuge einer renaissancetypischen Vorstellung von zirkulärem Werden und Vergehen. Synthese Blickt man nun resümierend auf die Stellung Claudio Tolomeis im Rahmen der vorliegenden Debatte, so ist zunächst festzuhalten, daß er unstrittig einen wich‐ tigen Beitrag leistet, einmal indem er den Faden der Diskussion weiterspinnt und zum anderen, weil er durchaus eigene Ideen miteinbringt. In Bezug auf die moderne Perspektive einer sozio- und varietätenlinguisti‐ schen Erfassung von Tolomeis sprachtheoretischen Überlegungen ist festzu‐ halten, daß er sich nur spärlich bzw. indirekt zur diasystematischen Differen‐ zierung des antiken Lateins äußert. Eine Diglossie-Situation wie sie Bruni postuliert hatte, hat für Tolomei offensichtlich so wenig Relevanz, daß er sich auch zu keiner Gegenargumentation bemüßigt fühlt, allein die Annahme einer gewissen diaphasischen Abstufung des Lateins ist bei ihm herauszulesen. Dafür äußert er sich weit ausführlicher als seine Vorgänger zur allgemeinen Sprach‐ situation in der Antike. Er zählt zahlreiche Sprache mit schriftsprachlicher Tra‐ dition auf (neben den drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein auch das Phönizische, das Ägyptische und das Chaldäische) und entfaltet für Italien ein doch relativ präzises Panoptikum bezüglich der Verbreitung und Ko‐ existenz einzelner Sprachen. Dabei geht er ausführlicher auf die Stellung des 544 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Oskischen und des Etruskischen ein, was bisher in diesem Maße noch nicht der Fall war. Bezüglich der Frage nach dem Sprachwandel greift er vor allem auf die Korruptionsthese zurück. Als Verursacher macht er wie andere Humanisten auch die Substrat- und Superstratvölker verantwortlich. Mit spezifischem Blick auf die Entstehung des toskanischen volgare hebt er dabei den Einfluß des Et‐ ruskischen hervor. Er postuliert jedoch keineswegs eine eindimensionale Et‐ ruskerthese, sondern formuliert eine neu entstandene Mischsprache, die im Laufe der Zeit zahlreichen Fremdeinflüssen unterlegen war, wozu auch Super‐ strate und Adstrate zu rechnen sind. Verortet man die von Tolomei entwickelten Ansichten im zeitgenössischen Kontext, so ist in erster Linie sein Anliegen hervorzuheben, im Rahmen der questione della lingua Stellung zu beziehen. Dabei ist er unverkennbar einer vulgärhumanistischen Position zuzuordnen. Er argumentiert vehement für den Gebrauch der Volkssprache, der er nicht nur eine eigene Grammatik zuspricht, wie es bereits bei Alberti zu finden ist, sondern er setzt sich auch für ihren weiteren Ausbau ein, der zwar in der Literatur schon erkennbar sei (cf. tre co‐ rone), aber im wissenschaftlichen Bereich noch nicht mit dem Lateinischen kon‐ kurrieren kann. Dennoch hält er es für möglich, im volgare jeden Gedanken adäquat auszudrücken (cf. Bossong 1990: 111-113). In der Teil-Debatte der qu‐ estione um die adäquate Bezeichnung des als Literatursprache fungierenden volgare läßt Tolomei in seinem Dialog alle Optionen durchspielen und argu‐ mentiert am Ende für lingua toscana mit dem Verweis auf die dort beheimatete prestigereichste Literaturtradition. In Bezug auf den Aspekt des zyklischen u. a. auf Aristoteles zurückgehenden Konzeptes von generatio, alteratio und corruptio nimmt Tolomei neben Citolini ebenfalls eine wichtige Position ein, genauso wie in Bezug auf die damit zusammenhängende These der bei Bembo aufschein‐ enden Mischsprache, die er aufgreift und weiterentwickelt. Noch mehr Wider‐ hall hat jedoch Tolomeis Betonung des etruskischen Einflusses gefunden, der von einigen Zeitgenossen wie Giambullari, Muzio oder Varchi vehement dis‐ kutiert wurde. Bei diesen Teildebatten darf jedoch nie das für die einzelnen Par‐ teigänger übergeordnete Ziel der Verteidigung eines spezifischen volgare-Mo‐ dells außer Acht gelassen werden. 6.2.14 Lodovico Castelvetro (Ludovicus Castelvetrus) Der in der vorliegenden Debatte nächste Protagonist soll der aus Modena stammende Humanist Lodovico Castelvetro (1505-1571) sein. In seiner Kom‐ mentierung der Prose von Pietro Bembo (1470-1547) äußert er sich ebenfalls zur Sprachenfrage der Antike. Seine Ausführungen, die als Giunte delle Prose di 545 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 868 Castelvetro mußte 1561 Italien verlassen und nahm wahrscheinlich die Giunte mit sich. Bei seiner überstürzten Abreise aus Lyon im Jahre 1567 aufgrund der herrschenden Religionskriege gingen sie wahrscheinlich mit anderen Büchern verloren und wurden in der Folgezeit wohl in überarbeiteter Form wiederhergestellt (cf. Bianco 2008: online). 869 Für vorliegende Zwecke wird im Wesentlichen auf die moderne Edition von Pozzi zu‐ rückgegriffen, der die einzelnen Giunte, die relevante Aussagen zur Sprachenfrage ent‐ halten, zusammengetragen hat, allerdings unter Auslassung der zugehörigen Zitate von Bembo (cf. Castelvetro, Giunte 1988). Nur in Einzelfällen wird zur Ergänzung auf die Originaledition der Gesamtausgabe von den „Kommentaren zu Varchi und Bembo“ verwiesen (cf. Castelvetro, Corrett. et giunt. 1572). Bembo bekannt sind, entstanden etwa zwischen 1549 und 1559. Einen ersten Teil publizierte Castelvetro unter dem Titel Giunta fatta al ragionamento degli articoli et deʼ verbi di Messer Pietro Bembo (1563), ein anderer Teil wurde erst postum von seinem Bruder Giovanni Maria Castelvetro (1522-1575) in einem Band, 868 in dem auch Kommentare zu Benedetto Varchi (1503-1565) enthalten sind, he‐ rausgegeben, und zwar unter dem Titel Correttione d’alcune cose del dialogo delle lingue di Benedetto Varchi, et una giunta al primo libro delle Prose di M. Pietro Bembo dove si ragiona della vulgar lingua fatte (1572) (cf. Bianco 2008: online). Auf dieses Werk, in dem sich Anmerkungen zum vorliegenden Disput finden, soll nun im Folgenden hauptsächlich rekurriert werden. 869 Die Chronologie in Bezug zum im nächsten Kapitel behandelten Zeitgenossen Benedetto Varchi ist nicht unproblematisch, da dessen Werk L’Ercolano wohl nach den Giunte Cas‐ telvetros entstand, und zwar ca. 1560-1565, aber vor den Correttione (mit dem Hauptteil der Giunte), publiziert wurde, nämlich ebenfalls postum 1570. Die be‐ reits des Öfteren angesprochene Problematik von größerer Diskrepanz zwi‐ schen Ausarbeitung und Publikation von Schriften in der Renaissance sowie das Zirkulieren von Manuskripten vor ihrer Veröffentlichung kommt auch im vor‐ liegenden Fall zum Tragen. Die hier gewählte Reihenfolge orientiert sich des‐ halb, soweit eruierbar, am Zeitraum der Abfassung eines Traktates. Textanalyse Die Anmerkungen Castelvetros zu Bembos Prose della volgar lingua (1525) bilden den zweiten Teil der Correttione (1572: 113-290) und funktionieren nach dem Prinzip, daß zunächst ein Absatz aus Bembos Werk wiedergegeben wird, eine Particella, der sich dann ein Kommentar Castelvetros anschließt, eine Giunta. Das hier relevante Thema kommt dabei in der Particella Sesta zur Sprache, wo es in der zugehörigen Giunta folgendermaßen eingeführt wird: In questa sesta particella si disputa se si dee scrivere per gl’italiani huomini a questi dì nella lingua latina o vulgare, sotto la quale disputa è compresa un’altra questione, 546 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 870 Cf. dazu auch die entsprechende Stelle in der Originalausgabe (Castelvetro, Corrett. et giunt.; 1572: 139). cioè se la lingua vulgare s’usasse o fosse al tempo che fiorì il commune di Roma o no. (Castelvetro, Giunte; 1988: 604) 870 Castelvetro spricht in diesem Absatz die beiden wichtigen zeitgenössischen De‐ batten der Humanisten an, die questione della lingua mit der Kernfrage nach der adäquaten Schrift- und Literatursprache für das rinascimentale Italien und die historische Problematik um die Sprache der römischen Antike. Diese meta‐ sprachliche Hinführung zu seiner weiteren Argumentation ist ein beredtes Zeugnis für das metasprachliche Bewußtsein Castelvetros und seiner Zeitge‐ nossen bezüglich der lebhaft geführten Sprachdispute. Es wird nebenbei auch deutlich, daß im 16. Jh. keineswegs nur die italienische questione virulent war, sondern auch auch immer noch in diesem Zusammenhang um die adäquate Vorstellung von der Antike diskutiert wurde. In seinen Anmerkungen zu den Aussagen Bembos ist Castelvetro zunächst grundsätzlich mit dessen vulgärhumanistischer Haltung einverstanden, daß die eigene Muttersprache nützlich ist bzw. dem Lateinischen gegebenenfalls vor‐ zuziehen sei, weil sie einem näher sei. Allerdings sei nichtsdestoweniger das Latein die prestigereichere Sprache wie er anhand des anschaulichen Beispiels des Händlers verdeutlicht, dem man ja auch kaum vorwerfen könne, daß er nicht nur einheimischen Knoblauch und Zwiebeln anbiete, sondern das erhöhte Ge‐ schäftsrisiko in Kauf nähme und die wertvollen Gewürze Pfeffer und Zimt im‐ portieren würde. Apresso soggiugnendo il Bembo che la vulgare lingua ci è più vicina e più natia e la latina più lontana e più straniera e ponendo noi la cosa star così, io non potrei mai negare che non fosse stoltitia grande, lasciata da parte stare la lingua vicina e natia, a darci ad imparare la lontana e straniera e ad essercitarla, pur che la lontana e straniera non fosse di maggiore utilità, onore e piacere, come si presupone tuttavia che sia la latina; altrimenti ci bisognerebbe biasimare i mercatanti di qua che, lasciati gli agli e le cipolle nostrali e vicine, si mettono a rischio di fortunosi casi per recar pepe e cinnamomo d’oltre mare. (Castelvetro, Giunte; 1988: 606) Allerdings stimmt Castelvetro nicht mit Bembo bezüglich dessen Einschätzung des Lateinischen für die Italiener überein, der das Lateinische als eine Sprache sieht, die più lontana e più straniera sei, ganz im Gegensatz zum volgare, welches für die Bevölkerung più vicina e più natia sei. Castelevetro verweist hingegen auf den großen Nutzen der lateinischen Sprache, durch die den Menschen die Kunst, die Literatur, die Geschichte und die Wissenschaften vermittelt worden 547 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 871 Castelvetro widerspricht allerdings Bembo, als dieser an einer Stelle darauf verweist, daß diejenigen Zeitgenossen, die im vulgare schreiben, den Vorteil einer noch wenig abgenutzten, ursprünglichen Literatursprache mit splendore und grazia hätten, ganz ähnlich wie die ersten römischen Schriftsteller, die erstmals anstelle des Griechischen das Lateinische gewählt hatten. Für Castelvetro hängt hingegen die gloria eines Autors seien, so daß man hinsichtlich dieses Aspektes Bembos metaphorische Zuord‐ nung umkehren könne und daher die lingua latina als madre nostra bezeichnen müßte und die lingua vulgare als donna lontana (cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 608). Was die Wahl der Schriftsprache anbelangt, so sei es bereits in der Antike so gewesen, daß bestimmte Inhalte bzw. zu bestimmten Gelegenheiten die lingua natia zu bevorzugen sei. Schon bei Cicero sei nachzulesen, daß zahlreiche Richter nicht des Griechischen mächtig gewesen wären und es deshalb sinn‐ voller war, die Reden (dicerie) auf Latein niederzuschreiben. Io so che ci sono delle cose le quali non si possono scrivere, ché così richiede la ne‐ cessità, se non nella lingua natia, e tali furono le cose contenute nelle dicerie e in alcune pistole di Cicerone, conciofosse cosa che la ignoranza della lingua greca de molti de’ giudici a‘ quali parlava e di coloro a’ quali scriveva l’avrebbe costretto, quantunque voglia non n’avesse avuta, ad usar la lingua natia latina. (Castelvetro, Giunte; 1988: 609) Das Lateinische habe sich dann in den folgenden Jahrhunderten fast über den ganzen Erdkreis verbreitet und wurde vor allem von den Völkern als Schrift‐ sprache aufgegriffen (z. B. in Deutschland oder Frankreich), die zuvor in ihrem vulgare keine Schriftsprache hatten oder dann, als sie eine hatten, diese keine überregionale bzw. internationale Geltung hatte und somit in ihrem Wirkungs‐ kreis begrenzt blieb. So sei es bis heute üblich, daß wer mit seinen Schriften Ruhm ernten wolle und ihnen Dauerhaftigkeit und eine große Verbreitung auch unter den Gelehrten zu verleihen gedenke, anstatt des vulgare das Lateinische wählen müsse. Per la qual cosa chi desidera gloria dovrà più tosto esercitare lo stilo latino che il vulgare, attendendola da quello più spaziosa, più durevole e più pregiata, dovendo passare per le bocche e per gli orecchi non solamente di molti ma di scienziati ancora. (Castelvetro, Giunte; 1988: 609) Dies zeigt, daß auch Castelvetro trotz einer Favorisierung eines volkssprachli‐ chen Schrifttums die Bedeutung und das Prestige des Lateinischen weiterhin bewußt sind und er es als Kommunikationsmittel keineswegs ablehnt - wie ja auch im Übrigen der hier kommentierte Bembo nicht. 871 548 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen von seinem Werk ab bzw. dem behandelten Thema und nicht von der gewählten Sprache (cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 608-609). 872 Zur Abfolge dieser chronologischen nacheinander sich ablösenden Diglossie-Situation in der Antike bei Bembo cf. Kap. 6. 2. 11. Im Folgenden widerspricht er an einer Stelle im Detail der Argumentation Bembos, der ja den Vergleich zieht, daß die Phönizier zunächst die Schriftsprache der Ägypter benutzt hätten und erst dann eine eigene geschaffen hätten, die wiederum als Vorbild für die Griechen herangezogen worden und das Griechi‐ sche schließlich zu Beginn die Schriftsprache der Römer gewesen sei, bevor diese das Lateinische niedergeschrieben hätten. 872 Castelvetro läßt diese historisch gedachte sukzessive Tradierung von Schriftlichkeit mit synchron betrachtete Sprachsituationen, die für die mündliche und schriftliche Kommunikation je eine andere Sprache in der jeweiligen antiken Gesellschaft insinuiert, nicht gelten bzw. nur für die ihm offensichtlich wohlbekannte und plausible von Griechisch und Latein. Hier stimmt er Bembo zu, daß die griechische Schrift- und Literatursprache der lateinischen historisch vorausging, was alle anderen Sprachkonstellationen beträfe, könne dies laut Castelvetro nicht sein, da nach der biblischen Episode bezüglich der Sprachverwirrung von Babel quasi auf einen Schlag anstatt der ehemaligen gemeinsamen Ursprache eine Vielzahl von Sprachen unter die Menschheit kam, also eine chronologische Abfolge, daß eine aus der anderen hervorginge wie in der Argumentation Bembos, nicht schlüssig sei. Castelvetro rekurriert hier also im Wesentlichen auf Dante (cf. Kap. 6.2.2) und die damit einhergehende mittelalterliche Tradition der Sprachgenese und widerspricht der aus heutiger Sicht zumindest weitgehend historisch korrekten Intuition Bembos. Im weiteren Verlauf seiner Anmerkungen kommt Castelvetro nun explizit auf die Problematik bezüglich der antiken Sprachkonstellation zu sprechen. Dabei verweist er eingangs auf die früheren Teilnehmer des bereits ab 1435 laufenden Disputs und beruft sich explizit auf Leonardo Bruni, der eine lingua vulgare im antiken Rom annahm. Ora passando alla seconda disputa, che era se la lingua vulgare nostra fosse o non fosse al tempo che il commune di Roma era in istato e signoreggiava il mondo […]. […] che questa lingua vulgare fosse al predetto tempo […], sì come pure si sa che Lionardo aretino alquanto più antico di loro, fu di questa opinione, se vogliamo prestar fede al Filelfo e al Poggio, o che gli fu ciò falsamente apposto se vogliamo credere a Lorenzo Valla, o fosse malizia o fosse ignoranza deʼ suoi aversari. (Castelvetro, Gi‐ unte; 1988: 611-612) 549 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 873 Er spricht hier von fini, maniere, sessi, casi immobili und simili passioni di voci (cf. Cas‐ telvetro, Giunte; 1988: 614, 615). Castelvetro schließt sich hier zunächst der Meinung Brunis an und distanziert sich gleichzeitig von jenen, die ihn, aus welchen Gründen auch immer, falsch interpretiert hätten. Mit den Ausführungen Bembos, daß das antike vulgare sich nicht als Schriftsprache geeignet hätte und deswegen weder in den Inschriften noch sonst in der Literatur je vorkommen würde, ist Castelvetro nicht einver‐ standen. Für ihn ist einerseits klar, daß es im antiken Rom eine lingua vulgare gab, die sich deutlich von der lingua latina absetzte, als Sprache des Volkes bzw. der Unterschicht, andererseits war diese seiner Meinung nach auch nicht iden‐ tisch mit dem zeitgenössischen vulgare, das in seiner grammatischen Struktur (Genus, Kasus etc.) 873 anders sei. Mehr oder weniger gleich geblieben sei über die Jahrhunderte jedoch der Wortschatz, d. h. die voci usate dal vulgo. Ma ben dico io che i modi del dire e le voci usate dal vulgo al tempo ancora che fioriva il commune di Roma, li quali erano rifiutati dagli scrittori o daʼ dicitori nobili, fuor che le passioni, come abbiamo detto di sopra, principalmente e per la maggior parte sono rimase nelle bocche degl’italiani uomini senza distinzione di viltà o di nobilità, e quelli degli scrittori e de’ nobili dicitori per lo più si sono dileguati. Laonde ancora al presente linguaggio è rimaso il nome antico, cioè vulgare, sì come convenevolissimo, poi che principalmente la lingua antica del vulgo s’è conservata tra noi. (Castelvetro, Giunte; 1988: 615) Durch diese Annahme entsteht für Castelvetro auch kein Widerspruch zu der These von Filelfo, Poggio und Alciato, daß das geschriebene Latein in den Ko‐ mödien oder bei einer öffentlichen Rede vom Volk verstanden wurde (cf. Cas‐ telvetro, Giunte; 1988: 615). Er bleibt also wie Bruni bei der Unterscheidung von zwei Sprachsystemen, einem elaborierten Latein der Gelehrten und einer Sprache des Volkes, d. h. der femmine, der basse persone und der uomini di contado (cf. ibid.; 1988: 614). An anderer Stelle spricht er von den persone rozze e vili e di contado; in diesem Kontext verdeutlicht er auch noch einmal die Persistenz des Wortschatzes, des corpo naturale delle parole: „Già è stato conchiuso da noi per cosa vera che la lingua vulgare, quanto è al corpo naturale delle parole, era al tempo che fioriva il commune di Roma, ma tra le persone rozze e vili e di con‐ tado“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 617). Dabei wird auch deutlich, daß er nicht wie Bruni ein zeitgenössisches vulgare für die Antike annimmt, sondern dies vehe‐ ment bestreitet (cf. Marazzini 1989: 369). Die Volkssprache der frühen Römer ist bei ihm eine eigenständige. 550 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 874 Die bei Castelvetro genannten Kaiser Arcadius (377-408; Ks. ab 395) und Honorius (384-423; Ks. ab 395) waren die ersten Regenten nach der Reichsteilung (395 n. Chr.), beide Söhne des letzten Alleinherrschers Theodosius I. des Großen (347-395; Ks. Osten: 379-394; Ks. gesamt: 394-395), wobei ersterer den Osten erhielt und letzterer den Westen (cf. Castelvetro 1988: 617, FN 46). 875 Pozzi zählt in seinem Kommentar zu den Giunte eine ganze Reihe an Kaisern auf, die gebürtig aus verschiedenen Teilen des Reiches außerhalb Italiens waren, bereits ange‐ fangen von Hadrian (Ks. 117-138), der aus der Baetica stammte, über Septimus Severus (Ks. 193-211) aus Africa oder Decius (Ks. 249-251) aus Pannonia bis hin zu Diokletian (Ks. 284-305) aus Dalmatia, Konstantin aus Dacia und Theodosius aus der Gallaecia in Hispanien (cf. Castelvetro 1988: 617, FN 47). Allerdings läßt er im Gegensatz zu Bruni hier eine Entwicklung der Volks‐ sprache zu, die sich von einem antiken vulgare zu einem zeitgenössischen ge‐ wandelt habe, dabei mit einigen Veränderungen prinzipiell die gleiche geblieben sei, was sich letztlich auch in der Benennung niederschlagen würde. Im Weiteren stellt sich Castelvetro die Frage, wie es sein konnte, daß sich die Sprache der Gebildeten, die pura latina, als gesprochene Sprache verloren habe und die zeitgenössischen gentiluomini nun das vulgare benutzen. Dabei macht er als wichtigste chronologische Ruptur die Zeit der Völkerwanderung, d. h. den Einfall der „Barbaren“ und ihre Landnahme aus, sowie die Reichsteilung unter Theodosius bzw. seinen Nachfolgern. 874 In dieser Epoche hätte im Wesentlichen die ampliazione der lingua vulgare stattgefunden. Primieramente adunque ragionando dell’ampliazione della lingua vulgare, dico che io non dubito punto che ciò non fosse prima che avenisse la rubellione delle nazioni del mondo dallo ʼmperio romano, la quale si sa essere stata sotto lo ʼmperio d’Onorio e d’Arcadio, e prima ancora che moltitudine alcuna de’ barberi con armata mano ent‐ rasse in Italia e vi dimorasse. (Castelvetro, Giunte; 1988: 617) Wer genau die bewaffneten Barbaren waren (con armata mano), die noch vor den genannten Kaisern Italien heimsuchten, ist nicht ganz eindeutig. Pozzi (in Castelvetro 1988: 617, FN 46) bringt mit dieser Passage die Plünderung Roms durch die Westgoten (410 n. Chr.) in Verbindung, ein markantes Ereignis, das genau in diese Epoche fallen würde, aber hier nicht explizit erwähnt wird und eben nicht vor diese Zeit fällt. Zudem zogen die Westgoten nach wenigen Jahren in Italien wieder ab nach Gallien (cf. Tolosanisches Reich), was dem vi dimorasse widerspricht. Des Weiteren sieht er auch eine Ursache der Verbreitung des vulgare dadurch gegeben, daß zunehmend Kaiser das Imperium Romanum regierten, die nicht aus Italien stammten und eine geringere Bildung hatten (imperatori stranieri e ignoranti; 875 cf. ibid.) und deshalb nicht das puro latino sprachen, sondern il parlar 551 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 876 „Adunque al parer mio la lingua vulgare sʼampliò durante lo ʼmperio romano nella sua grandezza e occupò le lingue di tutti indifferentemente“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 618). 877 Castelvetro verwechselt hier aufgrund der Ähnlichkeit des Namens Caracalla, dessen offizieller Name als Imperator Marcus Aurelius Severus Antoninus war, mit dem Kaiser Antoninus Pius (86-161, Ks. ab 138) (cf. Castelvetro 1988: 618, FN, 50). 878 „[…] averla imparata comunque senza difficultà il meglio che potesse e averla corrotta in proferendola in più guise“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 619). vulgare. Aus diesem Grund passten sich auch die Adeligen der Sprache der Kaiser und ihrer Höflinge an, um sich bei Hofe nicht unbeliebt zu machen (cf. auch Schlemmer 1983a: 48). Auf diese Weise kam nach und nach das Lateinische, die nobile favella latina, auch bei den Adeligen und Gelehrten außer Gebrauch und wurde durch die Volkssprache, die vile favella, ersetzt, und zwar überall im Römischen Reich, und verdrängte dabei die anderen Sprachen. 876 Die Schrift‐ steller versuchten dabei so viel als möglich vom Glanz der ursprünglich so klaren lateinischen Sprache zu bewahren, was ihnen aber nur zum Teil gelang, da durch den mündlichen Gebrauch schon vieles verdunkelt worden war, so die weiteren Erklärungen Castelvetros (Giunte; 1988: 617-618). Im Anschluß daran versucht er dem Phänomen nachzugehen, ab wann und wie sich die Volkssprache, die in ihrem Lexikon weitgehend stabil geblieben sei, grammatisch verändert hätte. In diesem Kontext führt er neben den oben ge‐ nannten Kaisern einen weiteren chronologischen Meilenstein der Veränderung an, nämlich die Verleihung des Bürgerrechts an alle (freien) Einwohner des Imperium Romanum, auch an die Provinzialen durch Caracalla (188-217, Ks. ab 211) im Jahre 212 n. Chr. (Constitutio Antoninina). 877 Ab dieser Zeit hätten dann auch immer mehr Barbaren das Lateinische erlernt, und zwar freiwillig, weil es ihnen vorteilhaft erschien. So seien auch die Goten, die in Italien eingefallen waren, verfahren, da sie keinesfalls die Einwohner Italiens dazu gezwungen hätten, ihre Sprache zu erlernen, sondern umgekehrt selbst das Lateinische er‐ lernt hätten, weil es die Sprache der römischen Adeligen und Magistrate war sowie der Bevölkerungsmehrheit. Dabei erlernten sie diese Sprache ohne grö‐ ßere Schwierigkeiten so gut sie konnten, aber korrumpierten sie dadurch auch (cf. Marazzini 2013: 81-82). 878 Castelvetro gibt jedoch zu bedenken, daß diese corruzione durch die Goti die Sprache Italiens nicht allzu sehr verunreinigt habe, da jene nicht die ganze Halbinsel eingenommen hatten und auch nicht so lange in Italien siedelten, ganz im Gegensatz zu den Longobardi, die mehrere Jahr‐ hunderte blieben und sich weit über das Land verstreuten. Die durch die Lan‐ gobarden verursachte contaminazione war demnach größer als die durch die gotische Invasion ausgelöste. Wie genau dieser Prozeß der Veränderung der lateinischen Sprache dann ablief, schildert Castelvetro in einzelnen Schritten. 552 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 879 „[…] compiuto il primiero centinaio d’anni dopo l’entrata deʼ Longobardi in Italia, si fosse universalmente guasta la lingua latina vulgare in tutte le contrade d’Italia, nelle quali non niego io che allora non passassero alcune parole longobarde che ancora vi dimorano, ma furono poche al parer mio e significanti o dignità o ufficio o cosa nuova trovata o recata da loro, sì come con le cose nuove sogliono nelle regioni altrui trapassare insieme i vocaboli stranieri“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 620). Apparata la lingua latina a popolo nella guisa che una moltitudine d’uomini e di donne e di fanciulli barberi, senza molta cura spendervi, può apparare, cioè corrottamente, come prima di loro avevano fatto i Goti, dopo certo tempo morirono quegli italiani uomini che alla venuta de’ Longobardi usavano ancora la latina vulgare intera e da’ quali essi imperfettamente l’avevano imparata, e cominciarono i fanciulli longobardi, cui avendo rispetto e portando onore per la signoria che avevano sopra sé, cercarono di rassomigliare le parole guaste insegnate loro dalle nutrici e dalle madri e da’ padri poco puramente parlanti. (Castelvetro, Giunte; 1988: 620) In diesem Passus legt Castelvetro sein Verständnis von Sprachwandel dar, eine langsame Veränderung von Generation zu Generation. Der entscheidende Mo‐ ment sei dabei gewesen, als diejenigen Einwohner Italiens nach und nach aus‐ starben, die noch la latina vulgare intera, also die ursprüngliche antike (lateini‐ sche) Volkssprache gesprochen hätten, denn deren Kinder erlernten das durch die Goten und vor allem dann durch die Langobarden bereits veränderte vul‐ gare. Die Kinder der Langobarden wiederum nähmen dann die parole guaste auf, die ihnen von ihren Eltern oder Ammen - die selbst das vulgare nur unzurei‐ chend erlernt hätten - gelehrt wurden, so daß die corruzione sich aus mehreren sich gegenseitig bedingenden Faktoren speiste (cf. ibid.; 1988: 620). Nach nur hundert Jahren, so Castelvetros weitere Argumentation, sei die lingua latina vulgare in allen Region Italiens verdorben gewesen (guasta). Was den Einfluß des Langobardischen anbelangt, so hält er diesen jedoch nur für mäßig groß, es seien lediglich einige neue Wörter übernommen worden, und zwar in Bereichen, die durch die veränderten Lebensbedingungen neue Be‐ zeichnungen verlangt hätten. 879 In jenen Jahrhunderten der Langobardenherr‐ schaft veränderte sich die Volkssprache dahingehend, daß sie in ihrer äußeren Form und Struktur mehr oder weniger so wurde wie die zeitgenössische. Cas‐ telvetro spricht dabei von mutamenti accidentali della lingua vulgare, d. h. die Sprache wandelt sich in Bezug auf ihre Akzidentien, hinsichtlich ihrer Substanz bleibt sie jedoch unverändert (cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 621). Im Folgenden schildert Castelvetro dann schließlich die Veränderungen der Volkssprache bis auf seine eigene Zeit. Unter der Herrschaft der Langobarden hätte die lingua vulgare corrotta wenig Wertschätzung genossen, denn ge‐ schrieben wurde zunächst weiterhin in der latina pura oder teilweise in der 553 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 880 „[…] nel quale stato si suole essercitare nelle dicerie la lingua del popolo e coltivarla e porle freno, ella di cinquanta anni in cinquanta andò cambiandosi e ricevendo tuttavia nuova forma acccidentale, secondo che il vulgo, sempre vago di novità, o trovava da sé o udiva, da gente forestiera sopravegnente, cosa non più sentita“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 621). 881 Hier spielt Castelvetro zweifellos auf die Dichter der scuola siciliana und des dolce stile nuovo an (13. Jh.). vulgare intera. Da es auch keine Rückbindung mehr an den Staat gab, konnte sich die Volkssprache ungehindert entwickeln, denn während der römischen Republik (oder Kaiserzeit) wurden ja noch Reden an das Volk gehalten, was zu einer gewissen Kultivierung des vulgare beigetragen hätte und einem allzu freien Sprachwandel Einhalt gebieten konnte. Auf diese Weise erlangte die Volkssprache aber eine nuova forma accidentale dadurch, daß die Sprecher (il vulgo) immer auf etwas Neues aus waren, sei es, daß sie selbst neue Formen bildeten oder sie diese bei Fremden hörten und übernahmen. 880 Als nun in den folgenden Jahrhunderten in Italien viele Städte das Joch der Tyrannei abschüt‐ telten und sich das Volk an die Spitze der Regentschaft setzte, gelangte auch die linguaggio popolesco zu neuem Ansehen. Man begann die vaghezze und die brutezze der Sprache einzudämmen, und zwar durch leggi und regole und die buoni dicitori benutzten sie ebenfalls, so daß das vulgare schließlich in seiner ungehemmten Entwicklung zur Ruhe kam. Zudem ergab sich dann für die Städte die Notwendigkeit, in dieser Sprache auch zu schreiben. Dies wiederum wurde zum Vorbild für alle Folgenden: „Le quali scritture furono perpetua norma agli scrittori e a’ dettatori seguenti“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 621-622). Als schließlich noch Dichter sich der Volkssprache annahmen und canzoni in der più dolce e fiorita lingua verfaßten, trug dies zum stabilimento einer eigent‐ lichen favella instabile popoleresca bei. 881 Bis hin zu den großen Dichtern Dante und Petrarca unterlag die Sprache nur noch ganz wenigen Veränderungen. Durch sie und andere Autoritäten zeigt sie sich dann in ihrer zeitgenössischen Form. Bembo, so schließt Castelvetro seine Argumentation, hätte deshalb eben nicht Recht, daß das vulgare presente auch das der römischen Zeit gewesen sei, da es weder den gleichen corpo naturale noch dessen Akzidenz besessen hätte, da entsprechende grundlegende mutazioni stattgefunden hätten (cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 622). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Bei einer modernen Interpretation der hier extrahierten Ansichten Castelvetros zur Sprachkonstellation der Antike ist zunächst einmal festzustellen, daß er sich 554 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 882 Das Griechische, dessen Präsenz ihm durchaus bewußt ist, nimmt er hier aus der Be‐ trachtung wieder heraus. Er misst diesem auch nicht die gleiche Bedeutung wie Bembo zu, im Sinne eines Vorbildes für die eigene Sprache, sondern sieht das eher pragmatisch; die Römer hätten das Griechische erlernt, um mit den Gräkophonen kommunizieren zu können und um deren Bücher zu lesen (cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 616). 883 „[…] cosa che la nobile favella avesse non pure i fini, i sessi, i casi e simili passioni di parole, ma ancora buona parte de’ modi del dire e molte voci communi con la vile“ (Castelvetro, Giunte; 1988: 615). Cf. auch Eskhult (2018: 218-219). 884 Entsprechend liegt hier womöglich eher eine Diglossie im Sinne Fishmans (1967) als im Sinne von Ferguson (1959) vor, wenn man davon ausgeht, daß die Sprachen für Cas‐ telvetro relativ distinkt sind (cf. Kap. 3.1.2). sehr ausführlich dazu äußert und verschiedene Aspekte thematisiert. Da seine Giunte Kommentare zu Bembo darstellen, bezieht sich auch seine Argumenta‐ tion auf dessen wichtigste Thesen. Deshalb geht Castelvetro zunächst auf die Diglossie-Situation ein, wie sie von Bembo skizziert wurde. Diesbezüglich folgt er jenem hinsichtlich der plakativ exponierten Stafetten-Tradition der Schrift‐ kultur nicht, allein daß das Griechische dem Lateinischen vorausging, akzeptiert er, alle weiteren Annahmen lehnt er jedoch ab. Castelvetro zieht sich vielmehr auf die ursprüngliche These Brunis zurück, modifiziert diese aber entsprechend. Demgemäß existierte für ihn in der Antike eine Diglossie zwischen einem an‐ tiken volgare als mündlich gebrauchter low variety des Volkes und dem Latein‐ ischen, der high variety der Gelehrten, die auch als Schriftsprache fungierte. 882 Zwar stellt er beide Idiome als unterschiedliche Sprachen dar, was als Diglossie interpretierbar ist, zeigt aber auch nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten in beiden Systemen auf. Dies betrifft in erster Linie den Wortschatz, aber auch einige grammatische Merkmale. 883 Daher rührt auch die gegenseitige Verständ‐ lichkeit beider Idiome. Eskhult (2018: 218) spricht deshalb berechtigterweise von einer „intermediate position between the theories of bilingualism and monolin‐ gualism“, 884 die Castelvetro hier einnimmt. Anders ausgedrückt steht er aus mo‐ derner Perspektive zwischen einer diglossischen Annahme für die römische Antike Italiens und einer monolingualen mit einer vor allem starken, bipolaren diastratischen Diversifizierung, die auch eine diamesische Komponente bein‐ haltet (vulgo, basse persone, persone rozze e vili e di contado, uomini di contado vs. scrittori, dicitori nobili). Hier wäre eventuell auch eine diatopische Komponente mitzulesen (cf. uo‐ mini di contado), die aber nicht im Vordergrund steht (cf. Regionalisierung nach der erwähnten Constitutio Antoniniana). Die Frauen (femmine) gehören traditi‐ onell ebenfalls zur Gruppe mit einem nur eingeschränkt elaborierten Code. Es liegt allerdings keine Frauensprache im Sinne einer eigenständigen diastrati‐ schen Varietät vor (diasexuell bzw. Gynaikolekt, cf. Kap. 3.1.3), sondern die 555 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 885 Cf. dazu Marazzini (1989: 37-38), der zwei Phasen der ampliazione postuliert, aber drei Phasen der mutazione des gesprochenen Lateins, sowie Michel (2005: 150), der sich auf zwei Phasen beschränkt (v. auch infra). 886 Eskhult (2018: 219) verortet diese von ihm angesetzte erste Phase als die Zeit vor der Plünderung Roms durch die Westgoten (410 n. Chr.), doch Castelvetro bleibt hier un‐ klarer und gibt immer wieder die beiden genannten Kaiser als zeitliche Orientierung an, und zwar deren Regierungszeit und nicht die Zeit davor, was eine Auslegung im Sinne eines modernen Verständnisses der Sprachentwicklung wäre, die womöglich eine Idee zu weit geht. Zu rechtfertigen wäre diese Interpretation, wenn man die angespro‐ chenen Kaiser, die nicht aus Italien stammten, miteinbezieht, die bereits seit dem 2. Jh. auftreten. Castelvetro selbst bleibt indes wenig eindeutig. Im Sinne einer vorsichtigen Interpretation könnte man vielleicht einen Zeitraum vom 3.-5. Jh. postulieren, den Castelvetro im Sinn hatte. Frauen bilden, wie auch die Kinder, eine Gesellschaftsgruppe der Sprecher des latino volgare (cf. dazu auch Bruni, Kap. 6.2.3.1). Die bei Biondo postulierte fein‐ gliedrigere Stratifizierung übernimmt er ebensowenig wie zahlreiche andere Protagonisten der Debatte. Ein wichtiger Unterschied zu Bruni besteht darin, daß Castelvetro eine Ent‐ wicklung des antiken volgare annimmt und es nicht mit dem zeitgenössischen grosso modo gleichsetzt. Er erkennt also den Sprachwandel des gesprochenen Lateins und formuliert dies auch sehr deutlich. Den Beginn der sprachlichen Veränderung setzt er mit der Verbreitung der antiken Volkssprache an, den er zeitlich im 3.-5. Jh. v. Chr. verortet. Dabei könnte man den von ihm aufgezeigten Prozeß nach Eskhult (2018: 219) in drei Phasen 885 gliedern: Die erste Phase bezieht sich auf die spätrömische Kaiserzeit, wobei Castel‐ vetro als chronologische Anhaltspunkte hier relativ distinkte zeitliche Angaben wie die Constitutio Antoniniana (212 n. Chr.), die beiden Kaiser Honorius und Arcadius (4./ 5. Jh.) sowie den Beginn der Völkerwanderung (rubellione delle na‐ zioni, 3./ 4. Jh.) liefert. 886 In dieser Epoche hätte sich die lingua vulgare im ganzen Imperium ausgebreitet und andere Sprachen verdrängt, man könnte also auch von einem Prozeß der Überdachung sprechen, bei dem autochthone Sprachen vom Lateinischen überdacht werden (cf. Kap. 4.1). Zudem sei die Volkssprache zunehmend auch von den oberen Klassen der Gesellschaft gebraucht worden, d. h. es hat eine Verschiebung in der Distribution der Sprachen stattgefunden. Als Ursache werden die aus fernen Provinzen des Reiches stammenden Kaiser sowie deren Höflinge ausgemacht. Das corpo delle voci der Sprache und seine primieri accidenti blieben dabei noch weitgehend intakt (cf. Castelvetro, Gi‐ unte; 1988: 619). Die zweite Phase ist dann die Zeit der Gotenherrschaft in Italien (5./ 6. Jh.), die nicht von allzu langer Dauer war, wie Castelvetro konstatiert. Während dieser Zeit hätte sich die Volkssprache nur wenig verändert, einige lexikalische Ein‐ 556 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 887 Die exakte zeitliche Abfolge wäre: 476 n. Chr. Absetzung des letzten römischen Kaisers durch den germanischen Heerführer Odoaker (ca. 433-493, ab 476 rex Italiae), Ostgo‐ tenreich (493-553 n. Chr.), Langobardenreich (568-774 n. Chr.), Eroberung Italiens durch die Franken unter Karl d. Großen (748-814, Kg. ab 768, Ks. ab 800), Italien unter den Karolingern (774-887 n. Chr.), Regentschaft der italienischen Nationalkönige (888-962 n. Chr.), danach wird Nord- und Mittelitalien Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation; im Süden allerdings bleibt das ursprünglich langobardische Fürstentum Benevent noch bis zur Eroberung durch die Normannen unabhängig (571-1077), mit ihm das z. T. davon abhängige Fürstentum Capua (840-1058), das Her‐ zogtum Spoleto bleibt bis zur Invasion der Franken langobardisch (570-776), das süd‐ lichste Italien und Sizilien sind lange Zeit byzantinisch bzw. arabisch besetzt. 888 Cf. dazu auch: „Percioché deʼ vicenomi essendone alcuni sustantivi, come io, tu, egli et simili, et certi altri aggiunti, come quello, quella, esto, esta et simili, è da sapere che quello fu composto daʼ Longobardi da prima d’hoco et d’illo lasciato ho, et tramutato co in qu et i in e, le quali mutationi sono agevolissime“ (Varchi, Art. IV; 2004: 16). flüsse wären bemerkbar, aber eher von geringem Ausmaß. Dabei schätzt Cas‐ telvetro nicht nur die Sprachkontaktsituation in Bezug auf die heutigen Er‐ kenntnisse richtig ein, indem er sie als wenig intensiv beschreibt, sondern auch die damit verbundene Interferenz. Zudem beschreibt er den L2-Erwerb der Goten und die dadurch verursachten Auswirkungen auf die Sprecher des la‐ teinischen Volkssprache, die in ihren Grundzügen weiterhin bestehen blieb (cf. la latina vulgare intera). Die Goten wurden dabei keineswegs gezwungen die römische Volkssprache zu erlernen (cf. Marazzini 1989: 38). Der Unterschied zu den nicht-italischen römischen Kaisern, den imperatori stranieri, ist der, daß diese sich bemühten das Lateinische zu erlernen, was ihnen jedoch nicht voll‐ ständig gelang, weshalb sie einem livello basso verhaftet blieben, aber sich ihres Defizits bewußt waren. Die Goten hingegen hatten keine Hemmungen das volkssprachliche Latein fehlerhaft auszusprechen (cf. Marazzini 1993a: 264). Die dritte Phase ist die der sich anschließenden Langobardenherrschaft (6.-8. Jh.), 887 die er als länger und tiefgreifender in ihren Auswirkungen darstellt (cf. weiträumige Besiedlung). Dieser Sprachkontakt - so die moderne Lesart Castelvetros - war deutlich intensiver; es gab nicht nur ein paar mehr lexikali‐ sche Entlehnungen (vor allem Kulturlehnwörter, cf. Schlemmer 1983a: 50), son‐ dern auch dadurch ausgelöste grammatische Veränderungen (cf. mutazioni ac‐ cidentali). Als Beispiele führt er dabei das durch das Langobardische beeinflusste Konjugationssystem an (z. B. Konjunktiv-, Perfektbildung), die Entstehung des Artikels (der eben nicht auf das Griechische zurückgehe) sowie die Entstehung des Demonstrativums quello  888 an (cf. Schlemmer 1983a: 50-51). Hierin zeigt sich ein rudimentäres Verständnis nicht nur des Sprachwandels auf lexikalischer Ebene, sondern auch auf grammatischer. 557 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Motolese (2004: XLVII - XLVIII ) hält bei dieser Art der etymologischen Re‐ konstruktion einen Einfluß des Humanisten Bartolomeo Benvoglienti († 1486) aus Siena für denkbar (cf. auch Kap. 6.2.9); Tavoni (1990: 221) verweist zudem auf die französischen Gelehrten Jacques Dubois (1478-1555), Charles Bovelles (1479-1567) und Guillaume Postel (1510-1581) sowie auf weitere deutsche Ge‐ lehrte, die noch nicht aufgearbeitet sind. Eskhult (2018: 219) resümiert die Ana‐ lyse Castelvetros diesbezpglich wie folgt: „Germanic grammar had a functional influence on Vulgar Latin, so that extant elements were modified to fit the usage of Germanic nations […].“ Man könnte ergänzend auch noch eine vierte Phase in der Darstellung Cas‐ telvetros postulieren, nämlich die des sprachlichen Ausbaus des Italienischen. Nach den beschriebenen Veränderungen, die den Sprachwandel des Vulgärla‐ teinischen bzw. die Ausgliederung des Italienischen beschreiben, erfolgt, be‐ dingt durch historische politische Umwälzungen (cf. Entstehung der italieni‐ schen Stadtrepubliken), ein zunehmender Prestigegewinn der Volkssprache. Mit diesem geht dann auch der Gebrauch des volgare in der Schriftlichkeit einher, zunächst bei Gebrauchstexten (cf. administrative Texte der Städte) und dann durch die literarische Produktion (scuola siciliana, dolce stile nuovo), bis schließ‐ lich unter Dante und Petrarca ein nachahmenswertes Modell gefunden wurde, sich also eine eigene Norm konstituiert. Für Castelvetro wird dadurch der bis dahin ungesteuerte Wandel der Volkssprache abgebremst. Obwohl Castelvetro sich auf die These Brunis und dessen Diglossie explizit beruft, ist seine Darstellung der antiken Sprachsituation in vielerlei Hinsicht differenzierter. Er nimmt zwar ebenfalls zwei unterschiedliche Idiome mit klarer gesellschaftlicher Distribution an, deren Ähnlichkeiten er jedoch als relativ groß einschätzt, so daß ein Schwanken in seiner Darstellung zwischen Diglossie und Zweisprachigkeit zu interpretieren ist. Entscheidend sind vor allem seine sehr detaillierten Ausführungen zum Sprachwandel der Volkssprache. So erscheint erstmals auch der Übergang zum Italienischen einigermaßen lückenlos darge‐ stellt, wobei er die zeitgenössische Volkssprache im Wesentlichen von einer an‐ tiken ableitet und nicht vom (klassischen) Latein (v. infra). Das auslösende Mo‐ ment ist dabei nach wie vor der Einfluß von außen (Superstrate), aber eher als Katalysator für eine weitere interne Entwicklung. Es geht Castelvetro eher um die Modifikationen, die dadurch ausgelöst wurden (funktionaler Einfluß durch Adaption an die germanischen Sprachge‐ wohnheiten), weniger um die Übernahme von sprachlichen Elementen (cf. Schlemmer 1983a: 50; Eskhult 2018: 219). Hier steht er im Gegensatz zu anderen Protagonisten der Debatte, die bis hin zur Sprachmischung gehen. In diesem Punkt ist deshalb auch dezidiert Michel (2005: 150) zu widersprechen, der zwei 558 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Phasen der Sprachentwicklung bei Castelvetro annimmt und die zweite als Sprachmischung bezeichnet. Genau das ist es nämlich nicht, zumindest nicht in dem Verständnis von Bembo oder anderen, die ein sehr starkes Verschmelzen postulieren. Marazzini (1989: 39) spricht hingegen von einem revidierten Kon‐ zept der lingua mista bei Castelvetro. Der Begriff des Vulgärlateinischen tritt hier in ersten Ansätzen deutlich zu Tage, was sich neben seinen Ausführungen zum Sprachwandel auch in seiner terminologische Differenzierung zwischen lingua latina vulgare intera (antike Volkssprache), lingua latina pura (antike Schrift- und Gelehrtensprache), lingua vulgare (Volkssprache undifferenziert) und lingua vulgare nostra (zeitgenössi‐ sche Volkssprache) sowie der konstatierten Verwandtschaft zwischen diesen Idiomen äußert. Dabei ist bemerkenswert, daß er relativ präzise zwischen den einzelnen Varietäten bzw. Sprachen begrifflich differenziert, sowohl synchron als auch diachron, d. h. vor allem antikes und zeitgenössisches volgare termino‐ logisch separiert und dabei die Zugehörigkeit der antiken Volkssprache zum Lateinischen deutlich markiert (cf. latina vulgare); die Gelehrtensprache der Antike wiederum durch die ihr inhärente Eigenschaft (cf. latina pura) davon abgrenzt. Die Gemeinsamkeit bleibt die begrifflich markierte Latinität. Während der Sprachwandel der Volkssprache in verschiednen Facetten diskutiert wird, verfolgt er die Entwicklung der lateinischen Schriftsprache nicht weiter. Rekontextualisierung Die Rekontextualisierung des hier vorgestellten Protagonisten der Debatte und seiner Kommentare zu diesem Thema soll entsprechend dem bisher üblichen Vorgehen mit einem kurzen biographischen und werksgeschichtlichen Über‐ blick beginnen. Ludovico Castelvetro (lat. Ludovicus Castelvetrus) (1505-1571) stammt aus einer reichen Handels- und Bankiersfamilie und wurde in Modena geboren. Seine ersten literarischen Studien absolvierte er in seiner Heimatstadt, dabei widmete er sich auf väterlichen Wunsch auch den Rechtswissenschaften. Sein weiterer percorso accademico führte ihn dann nach Bologna, an deren Ateneo er eventuell Pietro Pomponazzi (1462-1525) hörte, dann nach Ferrara und Padua, wo er unter Umständen philosophische Vorlesungen von Romolo Amaseo (1489-1552) besuchte, und schließlich nach Siena. Dort promovierte er in Ju‐ risprudenz und sammelte gleichzeitig erste literarische Erfahrungen; er pflegte Kontakt zu nachmals berühmten Mitstudenten wie Marcello Cervini (1501-1555), Alessandro Piccolomini (1508-1578) oder Bernardino Maffei (1514-1549) und trat der Accademia degli Intronati (gegr. 1525 / 1527) bei, wo er sich an Diskussionen beteiligte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Rom kehrte 559 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 889 In Genf lehrte er während seines Aufenthaltes an der dortigen Universität, aus Lyon, wo er private literarische Studien betrieb, mußte er aufgrund der Unruhen zwischen Hugenotten und Katholiken fliehen und verlor seine Bibliothek sowie Teile der Manu‐ skripte seines Œuvres (cf. Crupi 2008a: 519-520). er zurück nach Modena und wurde 1532 lettore di diritto an der dortigen Uni‐ versität. Aufgrund einer längeren Krankheit gab er diese eher ungeliebte Stel‐ lung wieder auf und widmete sich vornehmlich literarischen Studien, zudem war er Mitbegründer der gegenüber protestantischen Ideen offenen Accademia dei Grillenzoni (gegr. 1537). Zwischen 1542 und 1555 übernahm er Ämter im Staatsdienst (soprastante all’edilizia, conservatore). Aufgrund seiner Beschäfti‐ gung mit reformatorischen Schriften bekam er erstmals Probleme mit der In‐ quisition und wurde entsprechend gebrandmarkt (lutheranus habitus voce pub‐ lica, 1545). In der Folgezeit (ab 1553) ließ er sich auf eine polemische Auseinandersetzung mit dem Dichter Annibale Caro (1507-1566) ein und wurde in diesem Kontext sogar als Auftraggeber eines Mordes beschuldigt. Der Auf‐ forderung vor Gericht zu erscheinen (ad se defendum) kam er nicht nach, seinem Einspruch mittels eines Anwaltes wurde nicht stattgegeben und er wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, seine Güter wurden beschlagnahmt (1556). Währenddessen lief in Rom das Verfahren wegen Häresie gegen ihn, mit der Anschuldigung Urheber des volgarizzamento eines Textes von Philipp Melanch‐ thon (1497-1560) zu sein. Zunächst begab er sich deswegen nach Rom (1560), floh dann aber sicherheitshalber nach Ferrara, weiter nach Chiavenna (1561, 1567), Genf (1564-1566) sowie nach Lyon (1567) und Wien (1569). 889 Er starb exiliert und exkommuniziert in Chiavenna (1571), wo er eine private Schule für humanistische Studien gegründet hatte (1567). Castelvetro verfaßte zahlreiche literaturkritische und poetologische Werke wie u. a. Ragioni d’alcune cose segnate nella canzone d’Annibal Caro (1559), Poetica d’Aristotele vulgarizzata et sposta (1570), Correttione d’alcune cose del dialogo delle lingue di Benedetto Varchi, et una giunta al primo libro delle Prose di M. Pietro Bembo dove si ragiona della vulgar lingua fatte (1572), Le Rime del Petrarca bre‐ vemente sposte (1582), Esaminatione sopra la Ritorica a Caio Herennio (1653), Sposizione a XXIX canti dell’Inferno dantesco (1886) (cf. Marchetti / Patrizi 1979: 8-12; Jaumann 2004: 171; Crupi 2008a: 519-520). Zur weiteren Einordnung der Ausführungen Castelvetros sei zunächst auf seine Position im Rahmen der questione della lingua verwiesen. Seine Giunte alle Prose del Bembo sind als kritischer Kommentar bestimmter Textstellen zu dem streitbaren und normsetzenden Werk des Florentiners Bembo vor allem eine Ablehnung des dort propagierten archaisch-toskanischen Modells zugunsten 560 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 890 Zu Castelvetros Argumentation für eine lingua cortigiana und gegen Bembo sowie zur Auseinandersetzung mit dem Vorbild der griechischen koiné cf. z. B. Castelvetro (Gi‐ unte; 1988: 659-662). 891 Bei Jakobs (2015: 5, FN 10) wird Castelvetro neben Baldassare Castiglione (1478-1529) und Calmeta (1460-1508) sogar als einer der Hauptvertreter der lingua cortigiana ge‐ nannt, während er bei Michel (2005: 359) in seiner Übersicht zu den Protagonisten zur höfischen Koiné gar nicht erscheint, sondern nur als Quelle für die Ideen Calmetas Erwähnung findet (cf. ibid. 2005: 362). Letzteres entspricht einer traditionellen Beach‐ tung Castelvetros in diesem Kontext (cf. z. B. Vitale 1984: 57-58), die ihm nicht wirklich gerecht wird (cf. Marazzini 2008: 91) einer lingua cortigiana bzw. italiana  890 (cf. Klein 1957: 76). 891 Er widerspricht ve‐ hement der für ihn unbewiesenen These Bembos, daß eine ältere Sprachstufe vorbildhaft für jegliche weitere Entwicklung einer Sprache sein könnte, und plädiert daher für ein an Platon angelehntes Konzept einer „Natürlichkeit“, die ihm erlaubt, die zeitgenössische Sprache zu favorisieren, allerdings die lingua del commun popolo bzw. das parlato commune deutlich von der buona lingua der besten Schriftsteller unterscheidend (cf. Roncaccia 2006: 133-134, 137-138). Dabei räumt er dem Hof von Rom eine Vorrangstellung ein, denn dort würde man die Sprache nicht so sehr von den eigenen Müttern lernen, sondern von den Prälaten und Höflingen (cf. Marazzini 2008: 195-196). Die lingua di corte von Rom sei auch insofern speziell, so Castelvetro, der selbst mindestens zweimal (1525, 1560) dort weilte, da Höflinge aus ganz Italien dorthin kämen und auch diejenigen aus dem Ausland sich aufgrund der Überzahl der Italiener relativ schnell anpassen würden (cf. Drusi 1995: 130). Die höfische Sprache von Rom hätte zudem eine gewisse toskanische Prä‐ gung, die aber nicht mit der in der Toskana identisch sei: La lingua cortigiana romana ha dunque una ben distinta impronta d’italianità. Per ,ca‐ rattere italianoʽ è probabile il Castelvetro intenda una forte impronta di toscanità (in‐ ducono a ritenerlo alcune osservazioni che egli svilupperà sulla grammatica di questa lingua); ma se tutto si riducesse a questo, si avrebbero poco più di un dialetto toscano parlato fuori della regione d’origine. In realtà, egli precisa subito, se molte regole coincidono con le toscane, la lingua cortigiana romana si appoggia anche su norme diverse da quelle e, viceversa, di sua esclusiva pertinenza. (Drusi 1995: 130) Einig ist sich Castelvetro mit Bembo hinsichtlich des Potentials des zeitgenös‐ sischen volgare, welches durchaus als Literatursprache weiter Verwendung finden sollte und auszubauen sei. Bezüglich des Lateinischen betonen ebenfalls beide dessen Prestige, seinen Wert als internationale Gelehrtensprache büßt es deshalb nicht ein, nur hinsichtlich seines Verhältnisses zur Volkssprache haben beide geringfügig andere Ansichten (v. supra). 561 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 892 Zu einer Gegenüberstellung von Varchi und Castelvetro in Bezug auf ihre Positionen in dieser Debatte sowie hinsichtlich des Kontextes der zugrundeliegenden zeitgenös‐ sischen literarischen Polemik cf. Marazzini (1997) und Kap. 6. 2. 16 vorliegender Arbeit. 893 Cf. dazu jedoch auch die Stellungnahme Vallas zu Bruni, der ihn ebenfalls inkorrekt interpretiert sieht, allerdings dann andere Schlüsse daraus zieht als Castelvetro (cf. Kap. 6.2.8). Die Behandlung der Sprachenfrage der Antike bleibt also auch bei Castelvetro nur ein Teilaspekt seiner Gesamtkritik im Rahmen einer sprachlichen und po‐ etologischen Positionierung. Konzentriert man sich nun auf die Verortung Castelvetros in dieser hier zent‐ ralen Debatte, dann ist zuvorderst festzustellen, daß er sich relativ umfassend dazu äußert und die verschiedensten Aspekte wiederaufgreift. Dies zeigt deut‐ lich die Lebendigkeit der Diskussion, die zu diesem Zeitpunkt bereits weit über hundert Jahre andauert, dabei womöglich Ende des 15. Jh. etwas weniger in‐ tensiv war, aber nun in der zweiten Hälfte des 16. Jh. sehr lebendig wirkt. Dies liegt auch daran, daß Castelvetro explizit auch auf Partizipanten der gesamten Zeitspanne verweist, auf Leonardo Bruni (1370-1444) genauso wie auf Fran‐ cesco Filelfo (1398-1481), Poggio Bracciolini (1380-1459), Lorenzo Valla (1407-1457) und natürlich auf Pietro Bembo (1470-1547). Er greift zudem die Korruptionsthese Flavio Biondos (1392-1463) auf, die er jedoch nicht wie manche seiner Vorgänger als Gegenentwurf zu Bruni begreift, sondern beide Ansätze miteinander verschmilzt. Dabei stimmt er nicht in gleicher Weise in das Lamento der Korrumpierung der Sprache und des kulturellen Verfalls ein wie andere Humanisten vor ihm, sondern begreift dies mehr als eine gegebene Entwicklung mit entsprechenden Folgen für die Sprecher aller Schichten (cf. Marazzini 1989: 39). Die negative Konnotation verblaßt zwar nicht völlig, wird jedoch etwas abgemildert. Hier zeigt sich wohl auch der Abstand zur Ursprungsdebatte und eine gewisse Schwerpunktverlagerung, was die persönlichen Polemiken anbelangt. Castel‐ vetro arbeitet sich eben nicht wie die Protagonisten des 15. Jh. an den beiden letztgenannten ab, sondern an Bembo und Varchi. 892 Wie intensiv er sich nun offenbar mit den Vorgängertraktaten beschäftigt hat, zeigt sich darin, daß er derjenige ist, der erstmals Bruni zu Unrecht interpretiert sieht, und zwar dahingehend, daß auch Bruni nicht, wie ihm unterstellt worden wäre, das antike volgare mit dem zeitgenössischen gleichgesetzt habe, was gemäß Castelvetro nicht sein könne (cf. Marazzini 1989: 35-36). 893 Vielleicht liegt es auch an dieser intensiven und minutiösen Rezeption, daß Castelvetro eine bis dahin nicht gekannte historisch fundierte und detailreiche Sprachentwicklung des volgare antico zur zeitgenössischen italienischen Volkssprache aufzeigen 562 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 894 Dies zeigt sich sowohl an seinem kritischen Kommentar zur Poetik des Aristoteles als auch an Kritik an Petrarca oder Landino. Dabei ist grundsätzlich reine Polemik von eigentlicher Intention - soweit möglich - zu differenzieren (cf. Melzi 1966: 176). 895 Benedetto Varchis (1503-1565) Werk L’Ercolano (1560 / 1570) entstand als Reaktion auf den Streit zwischen Castelvetro und Annibale Caro (1507-1566). Castelvetro attackierte ab 1553 mit insgesamt fünf Traktaten (v. supra) die canzone Caros mit dem Titel Venite all’ombra dei gran gigli d’oro - eine Verherrlichung des französischen Könighauses (cf. Lilie) im Auftrag des Kardinals Alessandro Farnese (1520-1589, Kard. ab 1534) - , was von diesem nicht unbeantwortet blieb (cf. Apologia dell’Academia di Banchi, 1558). Gleichzeitig versicherte sich Caro der Unterstützung durch Varchi, der - nach eigener Aussage - dies zum Anlaß nahm, seinen Ercolano zu verfassen (cf. Strauss 1938: 92). Mit Castelvetros Kommentar zu Varchi schließt sich in gewisser Weise der Kreis. Die Po‐ lemik zwischen Caro und Castelvetro dreht sich in weiten Teilen um die adäquate Ver‐ wendung von Fremdwörtern (u. a. Latinismen), wobei Castelvetro streng auf ein pet‐ rarkistisches Vorbild des Sprachgebrauchs pochte, während Caro auch zeitgenössische variatio zuließ (cf. Marazzini 1997: 65). Zu weiteren Details dieser Auseinandersetzung mit nicht unerheblichen Folgen, die weit über literarische Befindlichkeiten hinausgehen (v. supra zur Häresieanklage), cf. Lo Re (2008). kann (v. supra: Beispiele des Sprachwandels bei Artikel, Demonstrativum, Kon‐ jugationsformen, etc. sowie Schilderung der externen Faktoren). Die Tatsache, daß er das zeitgenössische volgare nicht durch eine corruptio des literarischen Lateins erklärt, positioniert ihn gegen Bembo: „Il Castel‐ vetro […] nega che il volgare provenga dall’imbarbarimento del puro latino (cioè il latino classico del periodo aureo) proprio in polemica con il Bembo […]“ (Vitale 1955: 43). Gleichzeitig war er auch ein Freigeist, der sich nicht davor scheute, mit Über‐ kommenem zu brechen bzw. keine Hemmungen hatte, Autoritäten zu kritisieren (cf. Melzi 1966: 176). 894 Aus den zahlreichen Einzelbetrachtungen resultieren letztlich sowohl seine Theorie zum Sprachursprung der Volkssprache als auch seine Ausführungen zur Kontinuität von der Antike über das Mittelalter bis zur Renaissance. Was die Genese des volgare anbelangt, so hat er diese in seinen Correttione zu Varchi im Zusammenhang mit Erläuterungen zur Etymologie prägnant for‐ muliert. 895 Ma nella lingua nostra la cosa passa altramente et non solo l’origine delle voci è vera, ma è anchora manifesta, percioché noi cerchiamo d’haver conoscenza d’altre lingue et ce lo reputiamo a grande utile et honore et sappiamo che la lingua nostra è nata dalla latina per lo più et in parte dalla greca, senza che ha alcune voci gottiche et longobarde et certe hebree per cagione della religione et dell’usanza che hebbero i christiani con gli hebrei, l’origine delle quali, se investigheremo diligentemente et useremo quelle debite vie che si conviene invenire, havremo quello che desideriamo 563 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 896 Den hebräischen Einfluß machten für das Französische auch Jacques Dubois und Charles Bovelles geltend (cf. Tavoni 1990: 228) (v. supra). 897 Castelvetro versucht hier den Vorrang der sizilianischen Lyrik vor der provenzalischen darzustellen und postuliert wohl deshalb, daß die italienische volkssprachliche älter sei als die südfranzösische. pienamente, avegna che Carlo Bovillio, Giacopo Silvio et Guglielmo Postello secondo che pare al Varco, si sieno in ciò faticati indarno. (Castelvetro, Corrett. 11; 1999: 243-244) Anhand der Schichtung des volkssprachlichen Lexikons postuliert Castelvetro eine Herkunft des zeitgenössischen volgare, also des Italienischen bzw. seiner Varietäten (lingua nostra), im Wesentlichen aus dem Lateinischen, wobei er hier nicht strikt zwischen volgare antico und latino puro unterscheidet. Weiterhin konzediert er einigen Wörtern einen griechischen Ursprung sowie manchen einen gotischen, langobardischen und hebräischen. 896 Letztere seien durch die enge Verflechtung der christlichen Religion mit der jüdischen zu erklären. In den Giunte wiederum ergänzt er noch einen weiteren Aspekt, denn er wi‐ derspricht der These Bembos, wonach zahlreiche Lehnwörter aus dem Okzita‐ nischen stammen würden, da sie über die Dichter (scuola siciliana et al.) in die Volkssprache eingedrungen wären. Castelvetro hält hier dagegen, daß der ge‐ meine Sprecher sich wohl kaum der Sprache der Dichter bedienen würde, son‐ dern es eher so sei, daß beide Sprachen (Okz. u. It.) hier etymologische Über‐ einstimmungen bei einigen Wörtern aufweisen würden (Castelvetro, Giunte; 1988: 624, FN 63). Ma i predetti vocaboli sono e sono stati ab antiquo perpetuamente dell’Italia, o almeno prima che della Provenza sì come o l’origine latina o l’uso de’ popoli italiani il dimostra tutto apertamente. (Castelvetro, Giunte; 1988: 624) Er erkennt daraus die Verwandtschaft des Okzitanischen (vocaboli della Pro‐ venza) mit dem Italienischen und deren beider Herkunft aus dem Lateinischen (l’origine latina), so daß sich bis in die gegenwärtige Epoche Parallelen ergäben, die keineswegs zwangsläufig auf eine Entlehnung hindeuten würden. 897 Bemerkenswert in der Argumentation Castelvetros sind seine Belege für den Sprachwandel vom Lateinischen zum Romanischen. So leitet er beispielsweise den italienischen Artikel in seinen unterschiedlichen Ausprägungen vom la‐ teinischen Demonstrativpronomen ille ab, das Präfix stain stamattina oder stamane bringt er richtigerweise mit dem Demonstrativum ista in etymologi‐ schen Zusammenhang und die im Italienischen neu entstandenen Zeitbzw. Modusformen von Futur und Konditional erklärt er in ihrem Ursprung durch 564 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 898 Zur Genese des italienischen Futurs äußert er sich z. B. folgendermaßen: „[…] che la lingua nostra manchi d’un tempo principale, cioè del futuro, nol potendo significare con una voce simplice, ma convenendo che lo significhi con una composta, cioè con lo ʼnfinito del verbo et col presente del verbo ho come amare ho, amare hai, amare ha, leggere ho, leggere hai, leggere ha, et così gli altri“ (Castelvetro, Corrett. 9-10; 1999: 248). 899 Zu weiteren sprachlichen Einzelphänomenen, die Castelvetro in ihrer diachronen Ent‐ wicklung behandelt cf. Schlemmer (1983a: 47-51). eine Kombination aus dem lateinischen Infinitiv mit einer Form von habere (cf. Lüdtke 2001: 13). 898 Er liefert also konkrete diachronische Erklärungen für die Kontinuität der Volkssprache und die Modifikationen, denen sie im Laufe der Jahrhunderte unterworfen war: „Er unterscheidet zwischen lautlichem und morphologischen Wandel, zwischen Lautwandel und Analogie und formuliert Bedingungen des Lautwandels wie lautliche Umgebung und Betonung“ (Lüdtke 2001: 13). 899 Bei Castelvetro verdichten sich durch einen sorgsamen Vergleich verschie‐ dener Formen des Lateinischen und des volgare sowie durch die Übernahme der Standpunkte früherer Protagonisten dieser Debatte Erkenntnisse, die letztend‐ lich einen relativ präzisen Blick auf den Sprachwandelprozeß von der Antike zur zeitgenössischen Epoche zeitigen sowie ein Verständnis von Vulgärlatein, welches dem heutigen schon in einigen Aspekten recht nahe kommt (v. infra). Dabei bleibt jedoch zu beachten, daß die Sprachkonstellation der Antike nur einen Nebenaspekt seiner Gesamtkritik darstellt und er außerdem in dieser De‐ batte auf eine umfangreiche Vorarbeit anderer zurückgreifen kann, was sich u. a. an den zahlreichen immer wiederkehrenden Topoi der Diskussion zeigt (z. B. Sprache der Redner, Sprache der Frauen, Sprache im Theater, Korruption der Sprache durch die Goten und Langobarden). Synthese Die beiden kritischen Kommentare Castelvetros zu Bembo und Varchi sind in erster Linie gesamtphilologische Auseinandersetzungen (cf. Melzi 1966: 177) mit den jeweiligen annotierten Werken. Im Rahmen dieser Kritik wiederum bezieht er Position zur questione della lingua, plädiert für eine lingua cortigiana und widerspricht dezidiert dem von Bembo und anderen vertretenen florentinischen Trecento-Modell. Innerhalb dieser sprachlichen Argumentation beschäftigt sich Castelvetro auch ausführlich mit der Sprachenkonstellation in der Antike und den Zusammenhängen mit der zeitgenössischen Situation. Dabei rehabilitiert er Bruni, den er als Mißverstandenen sieht, und skizziert eine antike römische Sprachgesellschaft, die man linguistisch gesehen zwischen einer diglossischen bilingualen und einer diastratisch gegliederten monolingualen interpretieren 565 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 900 Die Tatsache, daß Castelvetro ein wichtiger Vorläufer für die Sprachwissenschaft ist, bleibt davon unberührt. Bereits Vivaldi hat seine Bedeutung in dieser Hinsicht zu wür‐ digen gewußt: „[…] il lavoro del Castelvetro non può quindi trascurarsi da chi voglia tessere la storia delle controversie linguistiche nel ’500. Sopratutto dopo del Tolomei, a me pare che nessun altro, come il Castelvetro, abbia cercato di studiare il fenomeno linguistico dal punto di vista elevato, del cambiamento e dello spostamento di vocali e di consonanti nelle parole per ineluttabili ragioni fonetiche, anticipando la scienza glot‐ tologica moderna“ (Vivaldi 1925: 82). könnte, wobei die diamesische Ebene immer auch eine entscheidende Rolle spielt. Der Einschätzung Marrazzinis (2013) im Gefolge von Tavoni (1984: 222-223, FN 7-8), daß Castelvetro in Bezug auf seine soziolinguistische Einschätzung besonders hervorzuheben sei, ist nur bedingt zuzustimmen, denn auch andere Protagonisten der Debatte haben diesbezüglich Differenzierungen herausgearbeitet (cf. z. B. Biondo et al.), wenn auch eher in anderer Hinsicht. 900 Marazzini (2008: 196) ist jedoch insofern Recht zu geben, als im Prozeß des Sprachwandels, der corruptio durch die fremden Kaiser und deren Höflinge sowie später durch die Germanen im Wechselspiel von devotem Nachahmen oder der unbewußten Aneignung der „Fehler“ durch die einheimische Bevölke‐ rung, ein Bewußtsein für Sprache und soziales Gefälle skizziert wird, das si‐ cherlich hervorzuheben ist: „Castelvetro dimostrava notevole acutezza socio‐ linguistica […]“ (Marazzini 2013: 81). Diesem Urteil schließt sich abgemildert auch Michel (2005: 150) an, indem er darauf verweist, daß Castelvetro „histori‐ sche Soziolinguistik“ betreibe. In dieser Form sicherlich eine zu approbierende Aussage, jedoch mit dem zusätzlichen Hinweis, daß er nicht der Einzige ist. Tendenzen gesellschaftliche Unterschiede mit sprachlichen zu korrelieren finden sich bei vielen der Protagonisten der Debatte, allerdings mit je unter‐ schiedlicher Ausprägung und Schwerpunktsetzung. Was den Sprachwandel betrifft, so wirkt auch bei ihm die Korruptionstheorie Biondos nach, d. h. er macht gotischen und langobardischen Superstrateinfluß als Ursache für eine Veränderung des Lateinischen geltend. Hinzu kommen Ad‐ strateinflüsse des Griechischen und Hebräischen, aber keine italischen Substrate wie sie beispielsweise bei Poggio zu finden sind (cf. Kap. 6.2.6). Dabei führen bei Castelvetro bemerkenswerterweise die Superstrate nicht wie bei Bembo zur einer Sprachmischung (cf. Kap. 6. 2. 11), aus der ein neues Idiom entsteht (cf. generatio), sondern sie hinterlassen zwar Spuren (die Langobarden mehr als die Goten), sind aber vor allem für weitere Modifikationen bzw. die interne Ent‐ wicklung der Sprache verantwortlich (cf. alteratio) (cf. Faithfull 1962: 249-250). Im Gegensatz zu anderen Humanisten, die in ihrer Darstellung oft eine mehr oder weniger große Lücke zwischen der antiken Sprachkonstellation und der zeitgenössischen aufweisen, zeigt Castelvetro, wohl in Anlehnung an Castig‐ 566 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 901 Zu einer Übersicht, welche modernen Forscher, welche Humanisten als maßgebliche Urheber des Vulgärlateinischen als modernes Konzept ansehen (z. B. Dante, Bruni, Bi‐ ondo, Tolomei, Castelvetro, Cittadini etc.), cf. Eskhult (2018: 194-195). 902 Zum Einfluß Castelvetros auf Cittadini, der diesen in verschiedenster Hinsicht als Grundlage benutzt cf. Faithfull (1962: 248-250), Melzi (1966) sowie Kap. 6. 2. 16 vorlieg‐ ender Arbeit. 903 Es versteht sich von selbst, daß ein Vorläufer eines wissenschaftlichen Konzeptes immer in seinem zeitgenössischen Kontext verortet ist, das gilt für Dante, Biondo, Castelvetro oder Cittadini gleichermaßen, dennoch sei deutlich gemacht, daß Castelvetro hier zwar wichtige Aspekte hinzugefügt und kombiniert hat, aber gleichzeitig durchaus auch in lione (cf. Kap. 6. 2. 12), die Stationen des Wandels über die Antike hinaus auf und schildert den Ausbauprozeß der Volkssprache (v. supra: Benutzung der Sprache durch die buoni dicitori und die Dichter sowie Kodifizierung durch leggi und regole). In der modernen Forschung wird bereits seit Gröber (1904-1906: 15) Castel‐ vetro als Vorläufer des Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ gesehen, was auch von Maraz‐ zini hervorgehoben wird: Tali parole, però, erano diverse da quelle moderne negli elementi morfologici relativi ai casi, alle declinazioni, ai generi (le desinenze, insomma, erano quelle del latino). La morfologia, la grammatica, accomunava questo linguaggio latino popolare a quello nobile e letterario; quanto al lessico, invece, il latino popolare assomigliava già all’ italiano: come si vede, Castelvetro arrivava a una formulazione abbastanza precisa del concetto di „latino volgare“. (Marazzini 2013: 81) 901 Sicherlich gibt es mehrere Aspekte in der Darstellung Castelvetros, die ihm eine wichtige Stellung in der Geschichte dieses Begriffes zukommen lassen, wozu die terminologische Differenzierung (cf. latina vulgare intera vs. vulgare vs. latina pura), die etymologischen Analysen, die konstatierte Parallelität der Entwick‐ lung der romanischen Idiome (z. B. zwischen dem Okzitanischen und dem Ita‐ lienischen) und der gesamte Sprachwandelprozeß von der antiken Volkssprache zur zeitgenössischen gehören. Es sei zudem darauf verwiesen, daß hier eine Entwicklung zu konstatieren ist, die keineswegs linear verläuft, aber dennoch zahlreiche Partizipanten zeitigt und die erst - wie vorliegende Studie zeigt - mit Celso Cittadini 902 zu einem vorläufigen Abschluß kommt. Castelvetro ist dabei als einerseits innovativ be‐ züglich seiner relativ präzisen Erfassung der sprachlichen Situation der Antike und den Veränderungen im Zuge des Sprachwandels einzuordnen, andererseits aber auch klar in traditionellen Kontexten verhaftet (cf. Akzidenz vs. Substanz, babylonische Sprachverwirrung, corruptio, alteratio etc), die einem tatsächlichen modernen Begriff des Vulgärlateinischen entgegenstehen. 903 567 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini anderen Bereichen hinter seinen Vorgängern zurückbleibt. So thematisiert er beispiels‐ weise keine Substrate und die Entwicklung des Schriftlateins sowie dessen Verhältnis zur Volkssprache bleiben mitunter undurchsichtig. 904 In der folgenden Analyse wurde hauptsächlich auf die Ausgabe von 1804 (Mailand) zurückgegriffen (cf. Varchi, Ercol. 1804), da die aktuelle kritische Edition von Sorella in Deutschland nur einmal verfügbar ist (SLUB Dresden). Letztere wurde nichtsdestowe‐ niger konsultiert (cf. Varchi, Hercol. 1995), nicht zuletzt aufgrund ihrer umfangreichen Introduzione, nur die Zitate wurden zu besseren Nachvollziehbarkeit für den Leser mit der Seitenangabe der alten Edition versehen. 905 Zur Entstehung des Ercolano als Reaktion Varchis auf den Streit zwischen Annibale Caro (1507-1566) und Lodovico Castelvetro (1505-1571) cf. Strauss (1938: 92) und Kap. 6. 2. 14 vorliegender Arbeit. 906 Es sind insgesamt V dubitazioni und IX quesiti, im Rahmen derer sprachtheoretische Fragen erörtert werden. 6.2.15 Benedetto Varchi (Benedictus Varchius) Die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike setzt sich mit dem bereits erwähnten Florentiner Humanisten Benedetto Varchi (1503-1565) fort, der in seinem wichtigsten philologischen Werk L’Ercolano. Dialogo di Messer Benedetto Varchi nel quale si ragiona delle lingue, ed in particolare della Toscana e della Fiorentina (1570) hierzu ausführlich Stellung bezieht. 904 Chronologisch gesehen ist es wohl nach den Giunte (1549-1559 / 1572) Lodovico Castelvetros (1505-1571) entstanden, und zwar ca. 1560-1565, aber es wurde ebenfalls erst postum publiziert (cf. Kap. 6. 2. 14). 905 Textanalyse Die hier untersuchte Problemstellung findet sich im Ercolano Varchis vor allem in drei Abteilungen seines umfangreichen in Dialogform gehaltenen Traktates zur Abhandlung von Fragen (quesiti) zur Sprache im Allgemeinen. 906 Der fiktive Dialog ist im Gegensatz zu anderen Traktaten dieser Gattung kaum als ein sol‐ cher zu bezeichnen, da der Gegenpart der Figur V. (Benedetto Varchi), nämlich C. (Cesare Ercolano) keine eigenen Argumente vorbringt, sondern eher als Stich‐ wortgeber fungiert, der bestimmte geläufige Thesen zur Disposition stellt, die dann von der Figur Varchis beantwortet werden (cf. Strauss 1938: 93; Klein 1957: 81). Der quesito quinto mit dem Titel Quando, dove, come, da chi, e perché ebbe origine la lingua volgare beginnt mit einer detaillierten zeitlichen Rahmenset‐ zung der römischen Geschichte, um den Ursprung der lateinischen Sprache zu erklären. Varchi listet mit großer Akribie chronologische Eckpunkte der römi‐ schen Geschichte auf. Dabei bildet die edificazione della città di Roma, also die 568 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 907 Varchi berechnet dabei parallel nach der biblischen Zeitrechnung und nach der christ‐ lichen und datiert die Gründung Roms ins biblische Jahr 3209 sowie ins christliche Jahr 752 v. Chr., d. h. er weicht hier geringfügig von der modernen Berechnung ab (753 v. Chr. bzw. 3251), was sich auch in den folgenden chronologischen Angaben bemerkbar macht (cf. Varchi 1804 II: 8, FN 1-2). Die Abweichungen hier sind auf den bis 1582 gültigen julianischen Kalender zurückzuführen, darüberhinaus handelt es sich oftmals um Da‐ tierungen die einer mythischen traditio folgen. Bemerkenswert ist dabei jedenfalls, daß er im Gegensatz zu zahlreichen seiner Vorgänger in der Debatte hier durchgehend ex‐ akte chronologische Angaben liefert. 908 Die Übertragung der vier Phasen des Lateinischen, die auf Isidor von Sevilla zurück‐ gehen (cf. prisca, Latina, Romana, mixta), finden sich in der Renaissance zuerst bei Gu‐ arino Veronese (1374-1460) (cf. Kap. 6.2.5) und Lorenzo de‘ Medici (1449-1492) (cf. Klein 1957: 91). mythische Gründung Roms, 907 den Ausgangspunkt seiner Berechnung, die mit der folgenden Königszeit, der Zeit der Republik und den Konsuln über Cäsar und Christi Geburt bis hin zu Konstantin dem Großen und der Reichsteilung fortgeführt wird (cf. Kap. 4). Daraufhin erwähnt er die Invasion der Goten und altre nazioni barbare, d. h. die Völkerwanderung (3./ 4. Jh.), sowie die Okkupation Italiens durch die Franken unter Karl dem Großen (748-814, Kg. ab 768, Ks. ab 800). Mit der Herrschaft der deutschen Kaiser, die bis zu seiner Epoche andauert, beschließt er diesen ersten historischen Abriß (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 8-10). Vor diesem Hintergrund teilt Varchi die Geschichte der lingua Romana bzw. Latina in vier Phasen ein, die den Altersstufen des menschlichen Daseins ent‐ sprechen sollen. Dico oltra ciò che chi volesse considerare la vita, cioè la durazione della lingua Romana, ovvero Latina, secondo le quattro età dell’uomo, puerizia, adolescenza, virilità, e vec‐ chiezza, potrebbe dire, la sua puerizia, ovvero fanciullezza essere stata da che ella nacque infino a Livio Andronico, il quale fu il primo scrittore, che ella avesse […]. (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 10) 908 Die erste Phase rechnet Varchi von der Gründung Roms bis zum erwähnten Schriftsteller Livius Andronicus und beschreibt diese als Kindheit der Sprache, in der es wohl beredte und gebildete Männer gegeben habe könnte, aber keine schriftlichen Zeugnisse dafür gäbe. Die zweite Phase, die der Jugend, würde dann bis zum Wirken Ciceros reichen. In jener Epoche hätte es durchaus zahl‐ reiche Schriftsteller gegeben, die aber noch duri und rozzi gewesen seien, da ihre Sprache noch mehr der Natur gehorchte als der Kunst (cf. ars vs. natura). Da‐ runter fallen Autoren wie Cato und Ennius, die aber sprachlich bereits auf die kommende bessere Zeit hindeuten wie die beiden Komödiendichter Plautus und Terenz, deren Werke dann nur noch wenige Elemente dieser Zeit der „gröberen“ Ausdrucksweise enthielten. Die Hochphase der eloquenza Romana und der fer‐ 569 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 909 „[…] e così andarono gli scrittori sempre di male in peggio, infinochè i diluvj delle nazioni oltramontane vennero a inondare l’Italia, e spegnere insieme coll’uso della lingua la potenza dell’Imperio di Roma“ (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 13). 910 Mit den Hypogoten (Ippogoti) meint er, nach eigener Darstellung, vagabundierende Goten (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II: 13), eine Kategorisierung, die im Gegensatz zu der immer noch gültigen Einteilung in Ostgoten (lat. ostrogothi) und Westgosten (lat. visi‐ gothi) heutzutage keine Verwendung mehr findet. Der Terminus ist selten und bei mit‐ telalterlichen Autoren zu finden; soweit eruierbar, geht er - wenn auch in leicht anderer Bedeutung als bei Varchi - zurück auf die Historia Romana oder Historia miscella (ca. 980 / 1020) des Landulfus Sagax, der ausgehend von Eutrops (4. Jh.) Historia romana eine Fortsetzung der römischen Geschichte scheibt und diese aus anderen wichtigen histo‐ riographischen Werken wie der Historia Romana des Paulus Diaconus (ca. 720 / 730-799) oder der Historia adversus paganos libri VII des Orosius (ca. 385-418) kompliliert und ergänzt. Der betreffende Passus lautet: „Eodem tempore erant Gothi et gentes aliae multae ac maximae trans Danubium in Hyperboreis locis habitantes, ex quibus rationabiliores quattuor sunt, Gothi scilicet, Hypogothi, Gepides et Vandali, nomen tantum et nihil aliud mutantes unaque lingua utentes, omnes autem fidei erant Arrianae malignitatis“ (Hist. misc. XIV, 8, 14-19; 1869: 320). 911 Varchi rekurriert in seiner historischen Darstellung der Völkerwanderungszeit hier auf die Getica des Jordanes (6. Jh.) sowie auf Orosius (4./ 5. Jh.) und seine Universalge‐ schichte Historiarum adversus paganos libri VII (cf. Costa 1977: 97). tilità der Literaturproduktion (il secolo delle lettere) setzte dann mit Cicero ein, dem zahlreiche berühmte Autoren, wie Cäsar, Sallust, Tibull und natürlich Vergil folgten. Die lingua Latina sei in ihrer Blütezeit und stärksten Phase (virilitá, v. supra), gekennzeichnet durch maturità, finezza und candidezza und vergleichbar mit der griechischen Literatur von Theokrit, Hesiod und Homer. Mit dem Nie‐ dergang der Republik wäre der Alterungsprozeß der Sprache einhergegangen, was auch zeitgenössische Autoren wie Seneca oder Tacitus bezeugt hätten. Be‐ reits zu dieser Zeit hätten sich die Autoren lieber der corrotta lingua ihres Jahr‐ hunderts bedient als eine imitatio der nicht korrumpierten Sprache anzustreben. Danach wäre alles noch schlimmer geworden, bis schließlich durch die Barbaren die Herrschaft und die Sprache Roms ausgelöscht worden wären (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 12-13). 909 Nach dieser Schilderung der verschiedenen Phasen der Latinität in der Tra‐ dition des Aufstieges und Niedergangs mit dem Höhepunkt der Epoche des klassischen Lateins bzw. der „goldenen“ Latinität (cf. Kap. 4) schließt Varchi einen längeren Abriß zu den rein historischen Abläufen ab der Völkerwande‐ rungszeit an. Dabei gibt er u. a. detaillierte Informationen zu den Goten wie die Unterteilung in Ostrogoti, Visigoti und Ippogoti, 910 zur Plünderung Roms durch die Westgoten unter Alarich (ca. 370-410, Kg. ab 395) sowie zur Herrschaft der Ostgoten in Italien ab Theoderich d. Großen (ca. 453-526, Kg. ab 474). 911 Er er‐ wähnt die Plünderungszüge der Hunnen unter Attila (ca. 406-453, Kg. ab 434), 570 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 912 „Fra tanti miserie, e calamità, quante dalle cose dette potete immaginare voi piuttosto, che raccontare io, di tanti mali, danni, e sterminj, quanti sofferse si lungamente in quelli infelicissimi tempi la povera Italia, ne nacquero due beni, la lingua Volgare, e la città di Vinegia, Repubblica veramente di perpetua vita, e d’eterne lodi degnissima“ (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 17). Varchi greift hier auf einen im 16. Jh. durchaus gängigen Topos des Lobs der Lagunenstadt zurück (cf. Costa 1977: 100). den Kampf der Ostgoten mit Byzanz unter dem oströmischen Feldherrn Belisar (ca. 505-565, mag. mil. ab 529), die Herrschaft der Langobarden ab Alboin (ca. 526-572, Kg. ab 560) und schließlich den Beginn der fränkischen Herrschaft im 8. Jh. durch Karl d. Großen. Aus diesem ganzen Leiden Italiens über die hier geschilderten Jahrhunderte der Unruhe seien schließlich zwei gute Dinge her‐ vorgegangen, die lingua volgare und die Republik Venedig (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 13-17). 912 Mit Referenz auf einen zitierten Passus von Pietro Bembos Prose della volgare lingua wird dann in dialogischer Form erörtert, wann genau das Lateinische ausgelöscht (spenta) oder korrumpiert (corrotta) wurde und die Volkssprache neu entstand (nascesse). Es folgt daraufhin einleitend die Anmerkung, daß dieser Prozeß nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern der Romania stattgefunden habe. Dovunque pervennero, e allagarono cotalia innondazioni; perciocchè non solamente in tutta l’Italia, ma eziando in tutta la Francia, chiamata prima Gallia, e poco meno che in tutte le Spagne si mutarono per lo discorrimento di tanti Barbari lingue, e costumi. (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 20) Der Hinweis darauf, daß sowohl die Sprache als auch die Gebräuche sich ver‐ ändert hätten, erfolgt nach überkommenem Muster, wie es bereits von Dante und zahlreichen Protagonisten der Debatte konstatiert wurde (cf. Kap. 6.2.2 et al.). Die Beispiele der Länder Frankreich und Spanien zeigen, daß Varchi der Gesamtkontext und analoge Entwicklungen außerhalb Italiens bewußt sind, was bei früheren Autoren weniger deutlich wurde bzw. z. T. ausgeblendet war. Ein anderer wichtiger Aspekt in seiner Darstellung ist eine kurz darauf folgende Definition der gesprochenen (Volks-)Sprachen (volgare bzw. volgari). Tutte le lingue, le quali naturalmente si favellano, in qualunche luogo si favellino, sono Volgari, e la Greca, e la Latina altresì, mentrechè si favellarono, furono Volgari; ma come sono diversi i vulgi che favellano, così sono diverse le lingue che sono favellate, perciocchè altro è il volgare Fiorentino, altro il Lucchese, altro il Pisano, altro il Sanese, altro l’Aretino, e altro quello di Perugia. (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 21) 571 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 913 Zu Varchis hier durchscheinendem Gespür für die diatopische Gliederung des italieni‐ schen Sprachraumes (Makrovs. Mikrodiatopik) v. infra. Hierbei ist bemerkenswert, daß Varchi das Griechische und das Lateinische in ihrer Eigenschaft als gesprochene Sprachen auf die gleiche Stufe stellt wie ita‐ lienische volgari, also das Florentinische, das Pisanische oder das Perugianische. Daraus ist abzuleiten, daß er zwischen der jeweiligen kodifizierten Schrift‐ sprache der klassischen antiken Sprachen und deren einstigen mündlichen Volkssprachen unterscheidet. Worauf er aber hier vor allem abhebt, ist die Tat‐ sache, daß so unterschiedlich die Völker seien, so unterschiedlich seien die da‐ zugehörigen Sprachen (cf. diversi i vulgi …così sono diverse le lingue). Es handelt sich also um eine äußerst kleinräumige diatopische Perspektive, die er hier ein‐ nimmt, indem er die Verschiedenheit der Varietäten des Italienischen von Ort zu Ort betont (cf. Mikrodiatopik). Im weiteren geht er der Frage nach, wieviele volgari es geben könne, und erörtert unter dieser Fragestellung die sprachliche Vielfältigkeit der einzelnen Mundarten (d. h. z. B. volgare Fiorentino, Il Pisano), ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die auch davon abhängen würden, wie groß bzw. klein ihre räum‐ liche Distanz zueinander ist (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 21-22). 913 Hier werden also relativ kleinräumige diatopische Varietäten thematisiert, d. h. lokale Mund‐ arten im Sinne einer Mikrodiatopik (cf. auch Urbanolekte bzw. Stadtvarietäten inkl. ihr Umland) (cf. Kap. 4.1.2.1). Die Hervorhebung des Toskanischen bzw. seiner einzelnen Varietäten kann dabei auch immer das Resultat eines ausge‐ prägten Bewußtseines der lokalen Eigenständigkeit, d. h. des patrimonio muni‐ cipale (Tavoni 1992: 58), sein bzw. dem Anliegen das eigene Idiom in der Dis‐ kussion entsprechend zu betonen und zu positionieren. Im Folgenden geht Varchi auf die Theorie von Girolamo Muzio ein, der die Entstehung der zeitgenössischen Volkssprache (il nascimento della lingua Vol‐ gare) in der Lombardei annimmt, da dort über zweihundert Jahre lang die Lan‐ gobarden herrschten. Dort hätten die „Barbaren“ am meisten das Lateinische beeinflußt und von dieser Region wäre es dann in andere Gegenden Italiens getragen worden, in die Toskana jedoch erst am Schluß, da die Menschen dort die ursprüngliche Sprache am ehesten bewahrt hätten. Zwischen diesen beiden Extrempolen wäre dann eine mescolanza entstanden, d. h. das volgare in seiner zeitgenössischen Form. Dem Toskanischen würde Muzio ein gewisses orna‐ mento zugestehen, da es zur Entstehung der lingua italiana beigetragen hätte, mehr allerdings nicht - soweit die Ansichten Muzios in der Wiedergabe von Varchi (cf. Ercol. V; 1804 II : 22-23). 572 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 914 „Le lingue si debbono chiamare dal nome di quei paesi, ovvero luoghi, dove elle nas‐ cono […]“ (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 26). Diese Prämisse, so Varchi, hätte Muzio zu einem falschen Syllogismus verleitet, indem er daraus folgert, daß man die zeitgenössische Volkssprache lingua italiana nennen müßte, obwohl sie nach der Argumentation Mu‐ zios dann eigentlich lingua Lombarda zu nennen wäre. Zu dem Argument der Namens‐ gebung in Zusammenhang mit der Genese eines Idioms cf. auch Poggio Bracciolini und andere Protagonisten der Debatte (cf. Kap. 6.2.6 et al.). 915 Der Vandale Stilicho stieg in römischen Diensten bis zum mächtigsten Mann im Impe‐ rium Romanum auf, dabei bekleidete er zahlreiche Ämter; zunächst war er comes, dann magister militum (ca. ab 385), in den Jahren 400 und 405 Konsul und schließlich wurde er unter Kaiser Theodosius (347-395; Ks. Osten: 379-394; Ks. gesamt: 394-395) magister Diese These Muzios versucht nun Varchi mit mehreren Argumenten zu wi‐ derlegen. So versucht er anhand der Namensgebung zu verdeutlichen, daß das Lombardische nur das Idiom dieser Region sein könne, genauso wie das Toska‐ nische nach seinem Ursprung benannt sei. 914 Das Toskanische wiederum habe eine unbestreitbare herausragende Stellung aufgrund seiner Eleganz gegenüber den anderen volgari Italiens (la più bella, e più leggiadra). Was die Genese des Toskanischen anbelangt, so sei festzuhalten, daß mehrere Völker bzw. Herr‐ schaften im Laufe der Zeit diese Sprache verändert hätten, da für alle fremden Ankömmlinge ja immer die Notwendigkeit bestanden hätte, sich verständlich zu machen. Perchè se in Toscana non dimorò lungo tempo una nazione sola, come i Longobardi in Lombardia, ve ne dimorò nondimeno successivamente ora una, e quando un’altra, o i capi, e rettori, e anco perché, essendo i barbari o in tutta, o nella maggior parte padroni d’Italia, bisognava, che ciascun popolo per poter conversare, e fare le bisogne sue, s’ingegnasse, anzi si sforzasse, di favellare per essere intesi nella lingua di coloro, da cui bisognava, che intesi fossero. (Varchi, Ercol. V; 1804 II: 28) Es sei auch keineswegs so, wie Muzio behaupten würde, daß die Langobarden nicht bis in die Toskana gekommen wären, sondern auch wenn jene ihre Resi‐ denz in Pavia hatten, gründeten sie bekanntermaßen dreißig Herzogtümer (Duchi) in all den unterworfenen Gebieten, eben auch in der Toskana. In gleicher Weise geht Varchi auch auf die Frage ein, ob - wie von den Zeitgenossen dis‐ kutiert wurde - die Goten nun Florenz gar nicht, teilweise oder ganz zerstört hätten. Er spricht sich auf historische Quellen verweisend dafür aus, daß Florenz unter König Totila (ca. 516-552, Kg. ab 541) sehr wohl erobert worden wäre, dabei allerdings nicht völlig dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die ersten Goten seien jedoch bereits zu Zeiten ihres Heerführers Radagaisus († 406) als Gefangene des römischen Heermeisters Flavius Stilicho (ca. 362-408, mag. mil. ab 385) 915 nach der Schlacht von Fiesole (406 n. Chr.) in die Toskana gekommen. 573 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini peditum praesentalis (391), d. h. er stand über den anderen Heermeistern. Als Vormund der noch minderjährigen Kaiser Arcadius (377-408; Ks. ab 395) und Honorius (384-423; Ks. ab 395), den Söhnen Theodosiusʼ, übte er zwischen 395 bis 408 die faktische Re‐ gentschaft im Reich aus (cf. Demandt 1998: 112-113). Cf. auch Kap. 6. 2. 14 vorliegender Arbeit zu Castelvetro, der diese Epoche als chronologischen Einschnitt in seiner Sprach‐ geschichte thematisiert. 916 Zur Glottonymendiskussion zwischen Varchi und Muzio sowie Varchis Argument den Florentinern komme das Verdienst zu, die Literatursprache veredelt zu haben cf. auch Ellena (2011: 133-135). Bereits zu jener Zeit habe die Veränderung der Sprache durch die Barbaren be‐ gonnen (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 28-29). Varchi greift in diesem Passus auf die Chronik von Florenz (Nuova Cronica, ca. 1315-1348) von Giovanni Villani (1280-1348) zurück sowie auf das Liber de temporibus (1448) von Matteo Palmieri (1406-1475) (cf. Marazzini 1989: 33; Sorella in Varchi, Hercol. V; 1995 II : 666, FN 10). Durch diese Konstellation einer mehrfachen „Vermischung“ sowie durch die Tatsache, daß den Florentinern besondere Eigenschaften zuerkannt werden müßten (sottili, e ingegnosi uomini), sei schließlich das dortige volgare schöner und anmutiger geworden: „che le mescolanze dell’altre città furono men belle, e men leggiadre di quella di Firenze“ (Varchi, Ercol. V; 1804 II : 30). 916 Im Grundgedanken der an Flavio Biondo (1392-1463) anknüpfenden „Urka‐ tastrophe“ einer Invasion germanischer Völker, die für die sprachlichen Verän‐ derungen in Italien verantwortlich gemacht wird, ist sich Varchi mit Muzio einig, jedoch weicht er dahingehend von ihm ab, daß er nicht Norditalien als die Keimzelle des neu entstandenen volgare sieht, sondern die Toskana und dabei interessanterweise auf eine Vielzahl an „barbarischen“ Einflüssen pocht, die dann ein besonderes Idiom generiert hätten. Dies bedeutet nichts weniger als eine Aufwertung der corruptio im Prozeß der Herausbildung der zeitgenössi‐ schen italienischen Volkssprachen (cf. Marazzini 1989: 33). Der daran anschließende quesito sesto widmet sich der Frage: Se la lingua volgare è una nuova lingua da se, o pure l’antica latina guasta, e corrotta. In diesem Kapitel charakterisiert Varchi zunächst das Verhältnis zwischen dem Latein‐ ischen und der zeitgenössischen Volkssprache. Dabei weist er vehement die Meinung anderer Gelehrter zurück, die im volgare nichts anderes sehen als ein Latein, das verderbt und korrumpiert sei (guasta, e corrotta), und zwar von den Barbaren und der eigenen viltà, so daß sie zu dem Schluß kämen, die lingua Latina antica und die lingua Volgare moderna seien letztendlich eine einzige Sprache. Er hält dem entgegen, daß hier zwei verschiedene Sprachen vorlägen: „Che elle sono due, cioè, che la Latina antica fu, e la Volgare moderna è una lingua da se“ (Varchi, Ercol. VI ; 1804 II : 31). 574 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 917 „Le mutazioni, e differenze accidentali fanno le cose non altre, ma alterate, cioè non diverse nelle sostanza, e per conseguente di spezie, ma mutate, e variate solamente negli accidenti […]“ (Varchi, Ercol. VI; 1804 II: 34). An anderer Stelle wird er noch deutlicher: „Dunque la mutazione della lingua Latina nella Volgare non si dee chiamar corruzione, ma generazione“ (ibid.; 1804 II: 47). Im Folgenden rekurriert Varchi explizit auf das aristotelische Prinzip der generatio (cf. Kap. 6.1.3), um die Neuentstehung der italienischen Volkssprache zur erklären. Dabei weist er zunächst erneut die These zurück, daß das volgare nichts anderes sei als das korrumpierte antike Latein, da im Prozeß der corru‐ zione etwas Neues entstehe, also ein Sein, welches zuvor noch nicht existiert habe. Dies müsse so passiert sein, da es keine corruzione ohne generazione gäbe. Eʼ dicono, che la lingua nuova Volgare è l’antica Latina, ma guasta, e corrotta; ora voi avete a sapere che la corruzione d’una cosa è (come ne insegna Aristotile) la genera‐ zione d’unʼaltra, e come la generazione non è altro, che un trapassamento dal non essere all’essere, così la corruzione, come suo contrario, altro non è che uno trapasso, ovvero passaggio dall’essere al non essere. (Varchi, Ercol. VI; 1804 II: 32) Die Volkssprache habe demgemäß ihren Ursprung zwar in der corruptio, jedoch sei hierbei ein deutlicher Bruch zu markieren, der den Anfang einer neuen Sprache darstellt. Die Veränderung zeige sich auch darin, daß das volgare eine lingua viva sei, während das Lateinische eine lingua spenta (d. h. morta) sei. Daran anschließend geht Varchi gegen die These vor, daß mit der corruptio womöglich keine Korrumpierung im Sinne von einer negativ zu deutenden Ver‐ änderung wie es die Wortwahl guasta und corrotta nahelegt, gemeint sei, son‐ dern eine alteratio bzw. eine mutazione. Diese von Ludovico Castelvetro vertre‐ tene Ansicht (cf. Kap. 6. 2. 14), der jedoch an dieser Stelle nicht namentlich erwähnt wird, weist Varchi deutlich zurück. Seine Begründung ist scholastischer Natur, indem er argumentiert, daß mutazioni nur die Akzidenz betreffen würden, die Substanz sich jedoch dabei nicht verändere; da aber eine von ihm angenommene generatio vorliegt, impliziert dies eine Veränderung der Substanz, womit eine alteratio ausgeschlossen werden kann (cf. Varchi, Ercol. VI ; 1804 II : 33-35). Er geht dabei bis zur Ablehnung des Begriffes der corruzione, da der wichtigere Vorgang eben eine generazione sei. 917 Ergänzend führt er eine simple Unterscheidung an, die das Lateinische deut‐ lich von der zeitgenössischen Volkssprache abhebt. So fragt er seinen fiktiven Dialogpartner, ob er denn die lingua Latina ohne weiteres verstehen würde und ob er sie ganz natürlich sprechen könne oder ob es notwendig sei, sie zu erlernen. Die implizite Schlußfolgerung durch die Antwort seines Stichwortgebers, daß dies nicht der Fall sei und er das Lateinische mit gran fatica, molto tempo und 575 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 918 „[…] e anche la lingua deʼ Goti, onde si cominciò a corrompere la Latina, e generarsi la nostra, non fu tanto barbara, quanto per avventura credonon alcuni“ (Varchi, Ercol. VI; 1804 II: 49). 919 Varchi folgt hier der positiven Bewertung Theoderichs von Niccolò Machiavelli (1469-1527), was zu einer Aufwertung der Goten und ihrer Sprache und in letzter Kon‐ sequenz auch des Deutschen führt (cf. Costa 1977: 104). 920 Cf. Quintilian (Inst. orat. IX, 1, 3; 2001 IV: 98): „Verum schemata lexeos duorum sunt generum: alterum loquendi rationem novat, alterum maxime conlocatione exquisitum est.“ Die etymologischen Argumente haben dabei nur eine bedingte Aussagekraft, da studio erlernen müsse, soll nahelegen, daß das volgare eine neu entstandene Sprache sei, die nicht unmittelbar mit der antiken Sprache der Römer zusam‐ menhänge. Wiederum bemüht er dann zur Differenzierung der beiden Idiome die Metapher von der ‚Lebendigkeit‘ einer Sprache. Dunque la lingua Latina, e la Volgare non sono una, ma due lingue, una mezza viva, perché si scrive, e non si favella, e l’altra viva affatto, perché si scrive, e si favella naturalmente. (Varchi, Ercol. VI; 1804 II: 37). Varchi rekurriert hier auf eine von ihm getroffene Typologie der Sprachen unter dem Aspekt ihres mündlichen und schriftlichen Gebrauches sowie ihrer Natür‐ lichkeit (cf. ars vs. natura). Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen lingue morte affatto, lingue mezze vive und lingue vive (cf. Kap. 6.1.4). Das Lateinische fällt aufgrund seiner immer noch schriftsprachlichen Verwendung unter die Kategorie mezze vive, wobei im Gegensatz zum volgare als lingua viva der na‐ türliche, d. h. muttersprachliche Gebrauch fehlt. Weiterhin dehnt Varchi das Konzept der „positiven“ Korrumpierung auf die Entstehung des Lateinischen aus, denn auch dies sei durch generatio aus der corruptio des Griechischen und anderer Sprachen hervorgegangen. In diesem Kontext wertet er auch die germanischen Sprachen auf, denn nicht nur das Griechische sei selbstverständlich keine lingua barbara, sondern auch das Go‐ tische und Langobardische seien zumindest nicht so barbarisch, wie so manch anderer behaupten würde. 918 Dies sei daran zu erkennen, daß viele der gotischen und langobardischen Könige nicht nur Männer des Krieges waren, sondern, wie beispielsweise Theoderich, exzellente Politiker und Regenten (cf. Varchi, Ercol. VI ; 1804 II : 48-49). 919 Im nächsten Kapitel des Ercolano, des quesito settimo, behandelt Varchi die Frage Di quanti linguaggi, e di quali sia composta la lingua Volgare, worin er zudem einige Grundprinzipien der Sprache aufstellt. So knüpft er zunächst an Quintilian an und konstatiert, daß jegliches Sprechen sich aus vier Aspekten zusammensetze, nämlich der Vernunft (ragione), dem Alter der Sprache (ve‐ tustà, antichità), 920 der Autorität (autorità) und dem Gebrauch (consuetudine, 576 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen dieses Verfahren noch nicht etabliert ist und Varchi entsprechend skeptisch, schon eher könne die schon in der Antike postulierte Analogie geltend gemacht werden. Varchi argumentiert jedoch, daß auch die Übertragung analogischer Strukturen von einer Sprache auf eine andere, letztere nicht in ihrer Selbstständigkeit beeinträchtigen würde (cf. Strauss 1938: 95). 921 Ein weiteres sprachphilosophisches Grundprinzip leitet Varchi von Platon (Timaios) ab: „Che tutte le cose che sono sotto il Cielo, o naturali, or artifiziali che elle sieno, sono composte di tutte e quattro queste cagioni; materiale, formale, efficiente, e finale, perché l’esemplare, e l’instrumentale, le quali poneva Platone si comprendono sotto l’effici‐ ente“ (Varchi, Ercol. VII; 1804 II: 52). Diese Eigenschaften der natürlichen wie auch künstlichen Dinge wendet er wie folgt auf die Sprache an: Das Materielle (materiale) seien die Buchstaben (lettere), das Formale (formale) die Bedeutung der Wörter (signi‐ ficato), das Wirkende (efficiente) der Sprecher der Rede bzw. Erfinder der Sprache (inventori, o formatori delle parole) und der Zweck (finale) sei der Ausdruck der Ge‐ danken (concetti dell’intelleto) (cf. ibid.; 1804 II: 53). uso). Aus der ragione leitet Varchi wiederum zwei weitere wichtige Prinzipien der Sprache ab, die bis heute Bestand haben und zur Erklärung historisch ge‐ wachsener Sprachstrukturen dienen, und zwar die Analogie (analogia) und die Etymologie (etimologia). 921 Über verschiedene Beispiele zur Herkunft des Wort‐ schatzes in der Volkssprache kommt er zurück zur Frage nach den Sprachen, welche im volgare Spuren hinterlassen haben. C. Lasciamole dunque stare, e venendo al primo intendimento nostro, ditemi di quante, e quali lingue voi pensate che sia principalmente composta la Volgare. V. Di due; della Latina, e della Provenzale. (Varchi, Ercol. VII; 1804 II: 67) Bei der Grundaussage, daß das volgare im Wesentlichen aus zwei Sprachen be‐ stehe, nämlich dem Lateinischen und dem Okzitanischen, beruft sich Varchi auf Bembo. Die Wörter okzitanischen Ursprungs gingen dabei auf die Trovatori Provenzali zurück, die die Literatur der Rimatori und der Prosatori di Toscana beeinflußt hätten, d. h. beispielsweise auch Boccaccio, weil sie den italienischen Schriftstellern zeitlich vorausgingen (cf. Varchi, Ercol. VII ; 1804 II : 67-68). Auf die Frage nach weiteren möglichen Einflüssen auf die Volkssprache ant‐ wortet Varchi zuvorderst mit einer Ablehnung der Etruskerthese, wie sie von den hier nicht namentlich genannten Humanisten Claudio Tolomei (1492-1556) und Pier Francesco Giambullari (1495-1555) vertreten wurde (cf. Kap. 6. 2. 13). Die lingua Etrusca wäre bereits vor der Gründung der Stadt Florenz mit dem imperio d’Etruria untergegangen, da dieses von den Römern erobert und „aus‐ gelöscht“ wurde. Auf diese Weise könnten zwar einige Wörter etruskischen Ur‐ sprungs übrig geblieben sein, aber sie seien nicht essentieller Bestandteil der lingua Fiorentina. 577 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini […] che io non feci menzione della lingua Etrusca, perché io tengo per fermo che ella insieme coll’imperio d’Etruria fusse spenta da’ Romani, o almeno molto innanzi che Firenze s’edificasse; nè perciò niego che alcuna delle sue voci non potesse esser rimasa in qualche luogo, a qualche terra, o monte, o fiume, ma non tante, che possano far numero, non che essere il nerbo della lingua Fiorentina. (Varchi, Ercol. VIII; 1804 II: 79) Dazu ergänzt er noch, daß prinzipiell einige Wörter in die Volkssprache auch über das Hebräische oder Aramäische eingegangen sein könnten, und zwar durch christliche Kontexte, wobei er allerdings auch einige diesbezügliche Ety‐ mologien zurückweist und sie als solche lateinischen Ursprungs belegt (ibid.; 1804 II : 79-80). Varchi gibt dadurch eine grundlegende Idee des Konzepts ‚Kul‐ tismus‘ (mot savant) (cf. Strauss 1938: 96). Letztlich konstatiert er, daß die lingua Fiorentina nicht nur Wörter verschie‐ dener Herkunft habe, sondern auch grammatische Strukturen (alcuni modi, ma‐ niere di favellare), die auf das Hebräische, Griechische und Lateinische verweisen würden (ibid.; 1804 II : 84). Die übrigen Ausführungen des Kapitels sind vor allem lexikalischen sowie einigen grammatischen Einzelanalysen gewidmet. Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Im Sinne eines modernen linguistischen Blickwinkels auf die Ausführungen Varchis ist zunächst zu konstatieren, daß bei ihm die Frage des Sprachwandels und des Sprachursprungs im Vordergrund steht, während die sprachliche Dif‐ ferenzierung der römischen Antike kaum eine Rolle spielt. Was den letzten Punkt anbelangt, so kann man davon ausgehen, daß Varchi für die Antike bezüglich des Lateins eine relative sprachliche Einheit annahm, d. h. es gab für ihn nur das Lateinische (mit gewisser innerer Differenzierung), aber keine Diglossie mit volgare vs. latino (letterario) wie bei Leonardo Bruni (1370-1444) oder wie sie partiell auch bei Castelvetro durchscheint. So spricht er auch immer wieder von der lingua Latina antica, die er in Opposition zur lingua Volgare moderna stellt, nicht jedoch zu einem antiken volgare. Was man dennoch aus einigen Passagen herauslesen kann, ist eine ein diamesischer Un‐ terschied, also eine Differenzierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, in‐ sofern er hier deutlich macht, daß gewisse Varietäten der mündlichen Kommu‐ nikation dienen, andere der schriftlichen (v. supra, z. B. perché si scrive, e non si favella). Und dies gilt bei Varchi nicht nur für die zeitgenössischen Sprachen, sondern - wie aus obigem Zitat deutlich wird (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 21) - auch für die antiken, namentlich das Griechische und das Lateinische. Dabei bezeichnet er alle Sprachen, die man mündlich artikuliert, als natürliche Spra‐ chen, was nichts anderes bedeutet, als daß er für die Antike dies auch für jene beiden Kultursprachen annimmt. Weiterhin ist mit einer gewissen Vorsicht auch 578 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 922 Cf. dazu supra die Parallelisierung mit den vier Menschheitsaltern und mit dem je Ent‐ wicklungsphase verknüpften Prestige. 923 Die Tatsache, daß Varchi die ansonsten oft angeführten Vandalen, die ja nur relativ kurz in Italien weilten, hier nicht als maßgeblich betrachtet, zeugt von einer guten Intuition. 924 Varchi unterscheidet auch im Gegensatz zu den anderen Protagonisten der Debatte explizit zwischen dem antiken Gallien und dem zeitgenössischen Frankreich („la Francia, chiamata prima Gallia“; Varchi, Ercol. V; 1804 II: 20). 925 Auch hier beweist Varchi ein gute Einschätzung bezüglich des potentiell externen Ein‐ flusses auf die Sprache, die mit einer modernen Gewichtung weitgehend überein‐ stimmt. davon auszugehen, daß er einen diastratisch-diaphasischen Unterschied im an‐ tiken Latein sieht, allerdings sind diesbezüglich nur sehr indirekte Hinweise zu finden. So spricht er für die Antike ebenfalls von uomini letterati sowie von uomini eloquenti und dotti (Varchi, Ercol. V; 1804 II : 10, 12), was eine diastratische Komponente nahelegt, zumal er wohl als Gegenpart eine Sprache des Volkes im Sinn hat (v. supra Mündlichkeit). Was einzelne römische Autoren der Frühzeit anbelangt, nämlich daß sie duri und rozzi seien (Varchi, Ercol. V; 1804 II : 11), deutet darauf hin, daß sie Varchi stilistisch (d. h. diaphasisch) nicht auf derselben Ebene wie Cicero oder andere Autoren der klassischen Epoche einordnet. Was nun den Sprachwandel betrifft, so äußert sich Varchi hierzu sehr aus‐ führlich. Dabei spielen sowohl Kontinuitäten als auch Brüche in der Entwick‐ lung eine Rolle. Er beginnt mit einer Geschichte des Lateinischen, d. h. er be‐ trachtet, wie bereits erwähnt, das Lateinische als lebendige Sprache, zeigt aber auch deren Phasen des Wandels auf. Dabei orientiert er sich am Prestige der einzelnen römischen Autoren und ihrer literarischen Produktion (cf. Ausbau), 922 so daß er, wie erwartbar, hier zu einem wertenden Urteil kommt. Dennoch spie‐ gelt diese Epochengliederung auch grosso modo eine linguistische Einteilung in Frühlatein, Altlatein, Klassisches Latein und Spätlatein wieder (cf. Kap. 4), wenn auch Varchi mitunter andere Kriterien ansetzt. Für ihn kommt es dann jedoch zu einem entscheidenden Bruch durch den Einfluß der germanischen Völker auf das Lateinische. Als Superstratvölker figurieren bei Varchi im Wesentlichen nur die Goten und die Langobarden mit dem Schwerpunkt auf letzteren, 923 wobei er in seinem historischen Abriß auch Gepiden, Hunnen und später dann die Franken erwähnt. 924 Bemerkenswert ist dabei die zumindest partiell positive Aufwertung der Völker und Sprachen, die die „Korruption“ verursacht haben. Substrateinflüsse sieht er offensichtlich als zu vernachlässigen an, allein das etruskische Substrat thematisiert er, um es aber im Wesentlichen abzulehnen. In Opposition zu Vertretern einer reinen Etruskerthese negiert er diesbezüglich einen übermäßigen Einfluß und konzediert nur einige Reliktwörter, die darauf zurückgehen würden. 925 Durch seine besondere Exponierung des Prinzips der 579 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 926 Den Prozeß der Entstehung einer neuen Sprache durch den Einfluß der germanisch‐ sprachigen Völker, die das Ende des Imperium Romanum einleiteten, postuliert er auch für Frankreich und in geringerem Maße für Spanien (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II: 20), d. h. andere romanische Sprachen und deren Genese hat er zumindest grundsätzlich ebenfalls im Blick und sieht die Ähnlichkeit des Ursprungs und der nachfolgenden Ent‐ wicklung. generatio kommt es für Varchi dann zu einem Bruch in der Entwicklung des Lateinischen und in der Phase des Epochenwechsels von der Spätantike zum Mittelalter entsteht die zeitgenössische Volkssprache, die etwas Neues markiert. Dabei negiert er einerseits, daß das volgare nichts anderes sei als ein korrum‐ piertes Latein und betont, daß das Lateinische und die italienische(n) Volks‐ sprache(n) zwei unterschiedliche Idiome seien (v. supra), andererseits weist er in seiner etymologischen Rekonstruktion des aktuellen Wortschatzes dessen überwiegend lateinischen Ursprung nach. Dies steht dann in einem gewissen Widerspruch zu seiner Behauptung, daß die italienische Volksprache aus dem Lateinischen und dem Okzitanischen (Provenzale) bestünde, er hier also in der Entstehungsphase einen massiven Adstrateinfluß postuliert, den er dann aber lexikalisch und grammatisch nicht nachweist. Als Substrate bzw. Adstrate erwähnt er zudem das Hebräische und das Grie‐ chische, wobei hier neben dem tatsächlich nachweisbaren Einfluß vor allem im christlichen Wortschatz, mit allerdings sehr unterschiedlicher Gewichtung, da die griechischen Entlehnungen bei weitem umfangreicher und vielfältiger sind, wohl auch das Prestige der beiden Kultursprachen (cf. linguae sacrae) eine Rolle spielen wird. Dies veranlaßt ihn womöglich dazu, an anderer Stelle (cf. Varchi, Ercol. VII ; 1804 II : 84) eine Kulturfiliation zu erstellen (Hebräisch, Griechisch, Latein, Florentinisch; cf. Vitale 1955: 37), die auch partiell sprachlich begründet wird. Coseriu (2020: 131-132) interpretiert dies so, daß Varchi eigentlich zwei Ursprünge annehme, nämlich zum einen einen älteren, d. h. Hebräisch-Etrus‐ kischen und Griechischen, und zum anderen einen jüngeren, der im Latein‐ ischen und Provenzalischen zu suchen sei. Seine Vorstellung eines modernen Begriffs ‚Vulgärlatein‘ ist dementsprechend ambivalent: „Bemerkenswert als Fortschritt gegenüber Bembo ist bei Varchi die Andeutung einer Art Vulgärla‐ tein, dessen Eigenart aber infolge der unscharfen Umgrenzung des Begriffs leider nicht näher beschrieben ist“ (Strauss 1938: 94). Das volgare wiederum durchläuft ebenfalls Phasen der Entwicklung, vor allem in der Schriftsprache. Er zeichnet dabei den Ausbauprozeß des Italieni‐ schen bzw. seiner Varietäten nach, indem er die unterschiedlichen Domänen der schriftsprachlichen Verwendung anspricht (Gebrauchstexte, Lyrik, Prosa) und das langsam wachsende Prestige, auch gegenüber dem Lateinischen. 926 580 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 927 Sein Vater Giovanni war erzbischöflicher Notar, ebenfalls aus Florenz, dessen Familie stammte aber aus Montevarchi (Provinz Arezzo), wovon auch der Familienname der Varchi abgeleitet wurde (cf. Procaccioli 2008c: 591). Was die zeitgenössische Gliederung der Volkssprache in Italien anbelangt (cf. Varchi, Ercol. V; 1804 II : 21-22), so lassen sich in seinen Ausführungen zu den diatopischen Varietäten Intuitionen von sprachlichem Abstand sowie Makro‐ diatopik vs. Mikrodiatopik (cf. Kap. 3.1.1 und Kap. 4.1.2.1) erkennen. Varchi erscheint als ein Vertreter der These von der Einheitlichkeit des an‐ tiken Lateins, wobei die innere Differenzierung bei ihm nicht im Vordergrund steht, dennoch wohl mitgedacht ist und sich in einem „üblichen“ Rahmen von diastratisch-diaphasischer variatio bewegt, mit leichter Betonung der Opposi‐ tion ,mündlich-schriftlich‘. Michel (2016: 200) stellt die bei Varchi herauszulesende diastratische Auftei‐ lung bezüglich des zeitgenössischen volgare folgendermaßen dar: Es gäbe a) ge‐ bildete Sprecher (letterati) mit Fremdsprachenkenntnissen (Griechisch, Latein), b) mäßig gebildete Sprecher mit - aus verschiedenen Gründen (da natura, da fortuna, da industria) - „korrektem“ Gebrauch der Muttersprache (non idioti), aber ohne weitere Kultursprache, und c) solche, die nur mangelhaft die eigene Sprache beherrschten (idioti) sowie außerdem d) die ‚Hefe des Volkes‘ (feccia del popolazzo), dessen Sprache nicht weiter der Betrachtung würdig sei. In Bezug auf den Sprachwandel schließlich favorisiert Varchi die interne Ent‐ wicklung der Sprache, die externen Einflüsse sind dabei einerseits mit nur mä‐ ßigen Folgen verbunden, andererseits stoßen sie weitere sprachliche Verände‐ rungen an, die für ihn wiederum schließlich so gravierend sind, daß daraus eine neue Sprache entstanden sei. Rekontextualisierung Im Sinne einer zeitgenössischen Verortung der hier präsentierten Ausführungen soll im Folgenden zunächst ein kurzer biographischer Abriß präsentiert werden. Benedetto Varchi (lat. Benedictus Varchius) (1503-1565) stammt aus Florenz, 927 wo er auch seine ersten Studien bei dem Grammatiker Gaspare Mariscotti da Marradi (15./ 16. Jh.) absolvierte, bevor er dann nach Pisa ging, um Jura zu stu‐ dieren (1521), was er nach kurzer Zeit in utroque iure abschloß. Den Notarberuf übte er jedoch nur kurz aus, da er nach dem Tod seines Vaters dessen Erbe antrat und sich so humanistischen Studien widmen konnte; er lernte außerdem Grie‐ chisch bei Pier Vettori (1499-1585) und beschäftigte sich mit dem Okzitanischen. Varchi war Parteigänger der Patrizierfamilie der Strozzi und mußte nach dem Fall der Republik Florenz (1530), die er aktiv verteidigt hatte, ins Exil gehen. Zunächst begab er sich nach Bologna (1532), schloß sich dann den Strozzi an 581 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 928 Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine Übertragung des Donatz proensal (ca. 1225-1245) und Teile der Razos de trobar (ca. 1210) (cf. Gresti 2017). 929 Pirotti spricht im Rahmen der questione della lingua von einer alleanza antibembesca, in die sich Varchi einreiht: „[…] parecchi anni prima avevano stretto una fida alleanza antibembesca, oppugnando assunti o presupposti fondamentali delle Prose. Il Gello s’era ingegnato di chiarire che non si potevano fissare norme al fiorentino; il Lenzoni aveva rivendicato l’eccellenza della Divina Commedia; il Giambullari aveva affiancato l’auto‐ rità dell’uso moderno a quella dei trecentisti“ (Pirotti 1971: 110). und floh nach Venedig, wo er Pietro Bembo (1470-1547) und Sperone Speroni (1500-1588) kennenlernte, weiter nach Padua (1540), wo er in der Accademia degli Infiammati (gegr. 1540, aufgel. 1550) aufgenommen wurde, und dann er‐ neut nach Bologna. Ökonomische Zwänge und abnehmende Unterstützung seiner bisherigen Gönner zwangen ihn dazu, Cosimo I. deʼ Medici (1519-1574, Hz. ab 1537) um Rückkehr zu bitten, was dieser ihm gewährte (1543) und ihn schließlich beauftragte (1547), eine Stadtgeschichte zu verfassen. Varchi lehrte in den folgenden Jahren am Studio von Florenz zu Dante und Petrarca und wurde in die Accademia Fiorentina (gegr. 1540) aufgenommen (1543). Er schloß Freund‐ schaften mit bekannten Dichtern und Künstlern wie Annibale Caro (1507-1566) oder Benvenuto Cellini (1500-1571) und lieferte sich polemische Gefechte mit Humanisten wie Giovan Battista Gelli (1498-1553), Pier Francesco Giambullari (1495-1555), Girolamo Muzio (1496-1576) und Lodovico Castelvetro (1505-1571) (cf. Kap. 6. 2. 13, 6. 2. 14). Im Jahre seines Todes in seiner Geburts‐ stadt wurde er zuvor noch zum Priester geweiht (1565). Varchi hat ein sehr vielfältiges Œuvre hinterlassen: Er überträgt Boethius (Della consolazione della filosofia, 1551) und Seneca (Deʼ benefizii, 1554), verfaßt volkssprachliche Sonette (Deʼ sonetti die M. B. V., I: 1555, II , 1557), lateinische Gedichte (Carmina quinque hetruscorum poetarum, 1562), eine Komödie (La suo‐ cera, 1549), Reden (z. B. Diverse orationi volgarmente scritte da molti huomini illustri de tempi nostri, 1561), die bereits erwähnte Stadtchronik für die Jahre 1527-1538 (Storia fiorentina, 1721) sowie philologische Traktate (L’Ercolano, 1570; Lezioni sopra diverse materie poetiche e filosofiche, 1590) und eine Gram‐ matik des Okzitanischen (Le Regole della grammatica provenzale) 928 (cf. Palma‐ rocchi 1937: 991-992; Ward 1999: 215-216; Procaccioli 2008c: 591). Im Rahmen der questione della lingua ist Varchi als ein Vertreter des modernen Florentinischen einzuordnen, der hiermit vor allem in Opposition zu Pietro Bembo und dessen archaisierendem Modell steht (cf. Michel 2005: 359). Sein Werk Ercolano setzt sich deshalb an vielen Stellen vorrangig mit Bembo ausei‐ nander, 929 den er im Übrigen persönlich kannte (v. supra) und durchaus 582 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 930 Varchi war sogar Herausgeber einer florentinischen Edition der Prose della volgar lingua (1548 / 1549) Bembos und wurde somit einerseits ein Garant für die Tradition des bem‐ bianischen Gedankenguts, andererseits als Vertreter eines florentinischen uso vivo auch einer bestimmten Lesart seiner Schriften (cf. Biffi / Setti 2007: 27-35). 931 Dabei ist durchaus zwischen mündlicher Sprache (alle Register betreffend) und Litera‐ tursprache zu unterscheiden. Varchi versucht in gewisser Weise, auch Bembo gerecht zu werden - der im Übrigen gar nicht so sehr die toscanità in den Vordergrund stellt, sondern die Werke der Trecentisti als auctoritas-Modell konzipiert -, indem er die Not‐ wendigkeit heraustellt, daß die letterarietà einer Sprache bedürfe, die nobile und regolata sei. Er verwirft also keineswegs die Tradition der volgare-Schriftsteller, sondern möchte sie durch das Prinzip der fiorentinità viva bereichern (cf. Vitale 1984: 91-92). 932 Nicht nur Dante, Petrarca und Boccaccio schrieben Toskanisch bzw. Florentinisch, so die Argumentation Varchis, sondern auch zeitgenössische Dichter und Humanisten, davon auch etliche, die aus anderen Regionen stammten wie Bembo und Trissino aus Venedig und Speroni aus Padua; selbst Castiglione aus der Lombardei, der eigentlich eine gesamtitalienische Sprache favorisierte, toskanisierte diese schließlich weitgehend (cf. Klein 1957: 82). 933 Krefeld (1988: 321) nennt als weitere Vertreter des uso vivo bzw. parlato noch Ludovico Martelli (1503-1531), Carlo Lenzoni (1501-1551) und Bernardo Davanzati (1529-1606). 934 In diesem Zusammenhang argumentiert Varchi gegen die philosophische Unterschei‐ dung Trissinos zwischen einer Bezeichnung im Sinne des Allgemeinen bzw. der Gattung (genere), das wäre dann italiano, und im Sinne des Partikulären bzw. der Art (specie), schätzte. 930 Varchi favorisierte als italienische Schrift- und Literatursprache eine lingua viva e popolare (cf. Marazzini 2013: 87), ein Konzept, welches die münd‐ liche Sprache miteinbezog, weil sie das primäre Kommunikationsmittel des Volkes sei, die Literatursprache der Gebildeten hingegen sei dann eine höhere Entwicklungsstufe (cf. Bahner 1983: 193). 931 Diese Auffassung von einem Primat der lokalen Mündlichkeit war wohl am ehesten in Florenz möglich, und zwar einerseits aufgrund der bereits vorhandenen prestigereichen Literatur (tre co‐ rone et al.) 932 sowie durch das ausgeprägte städtische Selbstbewußtsein (cf. um‐ anesimo civile). Eine Herausstellung der Mündlichkeit, d. h. ein uso vivo, angelehnt an den antiken usus der Rhetorik, ist bereits bei Niccolò Machiavelli (1469-1527) zu finden (cf. Kap. 6. 2. 17), aber auch Tolomei, Giambullari, oder Gelli vertreten diese Richtung (cf. Pfister 1981: 110; Krefeld 1988: 320-321), bei Varchi ist dieser Aspekt jedoch besonders deutlich miteinbezogen (v. infra). 933 Im Streit um die Benennung der Volkssprache als Teil der Sprachenfrage weist Varchi konsequenterweise die Bezeichnungen lingua cortigiana (z. B. Baldassare Castiglione, 1478-1529) oder lingua italiana (z. B. Gian Giorgio Trissino, 1478-1550) zurück, volgare hingegen ist für ihn als Verfechter des uso vivo fio‐ rentino durchaus vertretbar bzw. bevorzugt volgare fiorentino (cf. Strauss 1938: 98; Marrazini 1993: 273). 934 583 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini was für Trissino den Begriff toscano nach sich ziehen würde (cf. Marazzini 1993a: 254, 273). 935 Zur Polemik zwischen Varchi und Castelvetro sowie Muzio, insbesondere bezüglich des adäquaten Wortschatzes (Fremdwörter, Stilistik) sowie der Kategorisierung von Spra‐ chen (naturale, articficiale), cf. Marazzini (1997). Im Ercolano werden aber nicht nur Argumente der questione della lingua im engen Sinne dargestellt, sondern zahlreiche mehr oder weniger damit zusam‐ menhängende weitere sprachliche Probleme erörtert. Dabei werden neben Bembos Position viele weitere zeitgenössische Ansichten kritisch behandelt (cf. Vivaldi 1925: 91), so daß mit diesem Traktat, modern formuliert, eine Abhand‐ lung zum state of the art der Sprachdiskussion des 16. Jh. geschaffen wurde: „Fra gli scritti cinquecentesci che affrontano al questione della lingua, l’Ercolano è senza dubbio il più complesso e diffuso“ (Pirotti 1971: 141). Der Ercolano ist zweifellos weniger bedeutend als Bembos Schrift, weniger originell als der Cortegiano, weniger objektiv als Speronis Dialogo, aber er stellt die erste große Zusammenfassung aller Argumente zugunsten der Volkssprache dar, er bietet einen lückenlosen Überblick über alle Fragen, die das Cinquecento im Sprachenstreit be‐ wegten. Fast alle Namen und Meinungen des Jahrhunderts werden erwähnt. Seine Quellen, die er selbst nennt, sind Calmeta, Martelli, Tolomei, Trissino, Speroni, Dolce, Muzio, Castiglione, Lenzoni, Gelli, Giambullari. Den Dialog Machiavellis hat er, wie alle seine Zeitgenossen, nicht gekannt. So ist Varchis Werk eine große und kluge, wenn auch zuweilen weitschweifige Zusammenfassung, ein vorläufiger Abschluß, dem die folgenden Jahrhunderte bis zu Manzoni nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen haben. Fanden wir bei den anderen Autoren dieses oder jenes Argument besonders betont, so bietet Varchi alle Argumente und erlaubt uns, die gesamte Topik zur Ver‐ teidigung der Muttersprache im Zusammenhang zu betrachten. (Klein 1957: 81; Kur‐ sivierungen R. S.). Das hier wiedergegebene Urteil von Klein (1957) zu Varchi mag im Hinblick auf die gesamte questione gelten, für die hier untersuchte Debatte um die antike Sprachkonstellation ist sicherlich eine andere Wertung vorzunehmen, denn ei‐ nerseits bringt Varchi diesbezüglich keinesfalls alle Argumente, andererseits ist er auch nicht so unoriginell, sondern zweifellos ein wichtiger Baustein im Ge‐ füge des Diskussionsverlaufes. Benedetto Varchi diskutiert aber nicht nur selbst zahlreiche zeitgenössische Humanisten und ihre Thesen, sondern er wird umgekehrt auch der Gegenstand kritischer Auseinandersetzung, vor allem bei Ludovico Castelvetro in den Cor‐ rettione d’alcune cose del dialogo delle lingue di Benedetto Varchi (1572) und bei Girolamo Muzio in dessen Werk La Varchina (1582) (cf. ibid. und Kap. 6. 2. 14). 935 584 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 936 Varchi (Ercol. VI; 1804 II: 32; v. supra) diskutiert in einem Passus explizit die Theorie der generatio von Aristoteles und weist auf die Unterschiede in dessen Auffassung zur In‐ terpretation des mittelalterlichen Scholastikers Johannes Duns Scotus (ca. 1266-1308) hin (beide werden namentlich genannt; cf. Aristotile, Scoto), der argumentiert, daß durch die Veränderung der Sprache die Substanz nicht betroffen sei (d. h. nur alteratio vorläge), während Varchi dem neu entstandenen volgare in seiner Eigenschaft als lebendige Sprache eine eigene Substanz zubilligt, so daß in der Entwicklung vom Lateinischen zur zeitgenössischen Volksprache zwingend generatio anzunehmen sei (cf. Sorella in Varchi, Hercol. VI; 1995 II: 678, FN 2-3). 937 Die These des hebräischen Einflusses ist auch bei Castelvetro zu finden (cf. Kap. 6. 2. 14), der womöglich von den französischen Humanisten Jacques Dubois (1478-1555) und Charles Bovelles (1479-1567) beeinflußt wurde, das Postulat der aramäischen Interfe‐ renz geht wohl auf Guillaume Postel (1510-1581) zurück. Beide Annahmen sind eng verknüpft mit der Frage der adamitischen Sprache bzw. der Sprache vor dem Turmbau zu Babel (cf. Tavoni 1990: 227-228). In Bezug auf die hier fokussierte Debatte um die Sprachenfrage der Antike sei zunächst auf Varchis Betonung des aristotelischen Konzepts der generatio nochmals eingegangen. 936 Neben dem direkten Rückgriff auf den antiken Phi‐ losophen wurden die Phänomene von corruptio, generatio und alteratio (cf. Kap. 6.1.3) auch zeitgenössisch von Claudio Tolomei (1492-1556) in seinem Werk Il Cesano (1555) behandelt (cf. Kap. 6. 2. 13). Die Korruptionsthese geht in diesem Kontext auf Flavio Biondo zurück (cf. Kap. 6.2.3.2) und wurde zum festen Bestandteil der weiteren Traktate zur Genese der Volkssprachen, die Idee der Generierung von etwas Neuem und die damit verbundene Phase der Sprachmi‐ schung wird erstmals bei Bembo sichtbar. Dabei variiert die angenommene „Mi‐ schung“ von Autor zu Autor, denn Bembo postuliert eine Vielzahl von Super‐ strat- und Adstrateinflüssen, die bis in die Gegenwart reichen (cf. Kap. 6. 2. 11), Castiglione folgt zwar im Wesentlichen Bembo, nennt aber nur „Barbaren‐ völker“ allgemein als Ursache der Korrumpierung des Lateinischen als Basis einer neuen Mischsprache (cf. Kap. 6. 2. 12) und Tolomei exponiert vor allem das Etruskische, welches mit dem Lateinischen die Grundlage des Toskanischen bilden würde (cf. Kap. 6. 2. 13). Varchi behandelt diesen Aspekt wohl am aus‐ führlichsten und nimmt jedoch eine Mischung aus Latein und Okzitanisch an, aus der heraus sich das neue volgare entwickelt habe, wobei die corruptio durch die Goten und Langobarden verursacht worden wäre. Im Nachtrag ergänzt er dies dann noch durch weitere Einflüsse, wie das Aramäische oder das Hebräi‐ sche. 937 Man könnte es auch als ein Zweistufen-Modell interpretieren, bei dem in einem ersten Schritt eine „Mischung“ aus den germanischen Sprachen und Latein entstanden sei und dann in einem zweiten Schritt das Okzitanische hin‐ 585 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 938 Cf. dazu die Vision von François-Juste-Marie Raynouard (1761-1836) von einer roman‐ ischen Ursprache, die er mit dem Provenzalischen identifiziert (cf. Bossong 1990: 296-297). 939 Trotz gegenläufigem Publikationsdatum ist Tolomei hier die Quelle für Citolini und nicht umgekehrt (cf. Faithfull 1953: 282 und Kap. 6.1.4). 940 Cf. dazu die Originalgraphik Varchis mit den zugehörigen Erläuterungen bei Marazzini (2013: 91-93) sowie eine neue Schematisierung bei Sorella (1995 I: 18), der darauf ver‐ weist, daß diese Arten von Baumschemata in der Renaissance bereits in anderen Wis‐ senschaften üblich waren (z. B. Philosophie, Medizin, Alchimie und andere Naturwis‐ senschaften), letztlich aber auch auf antike Vorbilder wie den Neuplatoniker Porphyrios (ca. 234-305) rekurrieren. 941 Zu den einzelnen Kriterien der Kategorien bzw. den Überlegungen Varchis, die hinter dieser Einteilung steht cf. Marazzini (1993: 271-273). zukam. 938 Während Varchi dieses Moment der generatio und die Abkopplung der zeitgenössischen Volkssprache vom antiken Latein äußert wichtig erscheint, nicht zuletzt wohl aufgrund der Legitimierung einer autonomen florentinischen Schriftsprache, präferiert Castelvetro das Prinzip der alteratio (cf. Kap. 6. 2. 14). Ein weiterer prägender Aspekt bei Varchi ist seine Metapher von den „leb‐ enden“ und „toten Sprachen“ (cf. Lüdtke 2005: 41). Diese Charakterisierung ist auch in vorliegendem Kontext von Belang, da er damit eine ziemlich treffende Einordnung des Lateinischen vornimmt. Seine Beschreibung des zeitgenössi‐ schen volgare als lingua viva ist unspektakulär, aber das Attribut lingua mezza viva für das Lateinische ist im Hinblick auf den einerseits ungebrochen leben‐ digen schriftsprachlichen Gebrauch und die andererseits fehlenden native spea‐ kers in dieser Sprache geschickt gewählt. Das Konzept der lingua viva vs. lingua morta geht auf Claudio Tolomeis Cesano (1555) sowie auf Alessandro Citolini (ca. 1500-1582) und sein Traktat Lettera in difesa della lingua volgare (1540) zurück (cf. ausführlich Kap. 6.1.4), 939 doch Varchi baut dies zu einer regelrechten Sprachtypologie aus: Bei ihm gibt es die lingue originali, die lingue articolate, die lingue vive, die lingue nobili, die lingue natie, o proprie, o nostrali sowie deren jeweiliges Gegenteil; bei den lingue non vive unterscheidet er nochmals zwi‐ schen den lingue morte affatto und den lingue mezze vive, bei den lingue non natie ergeben sich ebenfalls noch weitere Differenzierungen (altre vs. diverse etc.). 940 Dabei handelt es sich nicht um sich gegenseitig ausschließende Katego‐ rien 941 wie die Mehrfachzuordnung des Lateinischen beweist, welches nicht nur mezzo vivo ist, sondern auch eine lingua originale (autochthon), articolata (ver‐ schriftet) und nobile (literarisch prestigereich) (cf. auch Abb. 7, Kap. 6.1.4). Was die Nobilität einer Sprache angeht, so hängt sie von der auctoritas ihrer Dichter ab. Diesbezüglich beschreitet Varchi neue Wege, indem er die volks‐ sprachlichen Dichter, insbesondere Dante, über die antiken griechischen und lateinischen, d. h. vor allem über Homer und Vergil, stellt (cf. „la Volgare è più 586 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 942 Hierbei ist jedoch zu unterscheiden zwischen den lingue articolate, d. h. den italieni‐ schen Dialekten mit eigener Literatursprache und jenen ohne (lingue non articolate). Die Volkssprachen Italiens, die keine Schriftkultur hervorgebracht haben und auch noch sprachlich größeren Abstand zum Florentinischen zeigen, können durchaus als „barbarisch“ eingestuft werden (cf. Klein 1957: 88). bella della Greca e della Latina“; Varchi, Ercol. IX ; 1804 II : 271). Im Mittelalter galt traditionell Vergil als der größte Poet, der wie in der Divina Commedia auch prophetischen Charakter annehmen konnte. Indem Varchi mit dieser Tradition bricht und die volkssprachlichen Dichter auf diese Weise überhöht, ergibt sich argumentativ auch ein entsprechendes Prestige für das volgare. Auffällig ist au‐ ßerdem die Favorisierung Dantes, denn Bembo sieht Petrarca (Lyrik) und Boc‐ caccio (Prosa) als vorbildlich an, Dante hingegen, aufgrund seiner sprachlichen variatio, gilt ihm als nur eingeschränkt einer imitatio für würdig (cf. Klein 1957: 88-89). Sowohl die Kategorisierung der Sprachen nach relativ objektiven Kriterien als auch die positive Interpretation in Bezug auf sprachliche Veränderungen durch die Herausstellung der generatio erlauben es Varchi einen weitgehend neutralen Blick auf die verschiedenen Sprachen zu werfen. So kommt er nicht nur im Sinne seines Standpunktes in der questione zu einer Aufwertung des zeitgenössischen volgare Italiens, 942 sondern überträgt dies auch auf andere ro‐ manischen Sprachen (Spanisch, Französisch) und das Deutsche und sogar - nota bene - auf die „barbarischen“ Idiome der Goten und Langobarden, wenn auch nicht in gleichem Maße (cf. Klein 1957: 88; Schlemmer 1983a: 40-41). Somit ver‐ liert bei ihm auch die corruptio als Teil der mitunter apokalyptisch beschriebenen Völkerwanderungszeit und der damit verbundenen kulturellen declinatio ihre extrem negative Konnotation. Am entschiedensten und ausgeprägtesten ist die Hervorhebung des Eigenwertes des Italienischen bei Benedetto Varchi. […] Ausdrücklich betont Varchi, daß die Volks‐ sprache kein deformiertes und minderwertiges Latein darstellt, sondern neu und mit jenem nicht identisch ist […]. (Schlemmer 1983a: 40) Dies wiederum dient ihm dazu, die Volkssprache weiter aufzuwerten, denn dem aus der generazione entstandenen volgare, welches im Übrigen den gleichen Kampf zu bestehen hat wie einst das Lateinische gegenüber dem Griechischen (cf. Varchi, Ercol. IX ; 1804 II : 229), können durch diese Erneuerung leichter po‐ sitive Eigenschaften attribuiert werden, als einer Sprache, die vorrangig durch „Verunreinigung“ geprägt ist. Varchi überträgt systematisch bekannte, antike rhetorische Topoi auf das zeitgenössische Idiom; die copia Ciceros wird bei ihm zur abbondanza delle parole, die iucunditas und gratia Quintilians zur bellezza 587 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 943 Varchi ist nicht grundsätzlich gegen Invektiven und Priapeen, nur sollten diese dem Lateinischen vorbehalten bleiben, die Volkssprache sollte diesbezüglich dezenter sein (cf. Klein 1957: 87). Linguistisch betrachtet ein nicht unübliches Phänomen, daß man Tabubereiche in andere Sprachen auslagert bzw. zum Ausdruck derselben Entleh‐ nungen verwendet, da dies dann weniger konfrontativ ist. 944 Cf. dazu beispielsweise in Ansätzen Poggio Bracciolini (Kap. 6.2.6) oder Lorenzo Valla (Kap. 6.2.8), der die lingua romana aber rein auf Rom beschränkt, während die latina lingua die allgemeinere Bezeichnung sei. und dolcezza, aber auch weitere Sprachideale wie die gravitas, nobilitas und perspicuitas finden sich als gravità, nobilità und chiarezza wieder. Eine neue Ei‐ genschaft, die Varchi dem Florentinischen hinzufügt, ist die onestà della lingua, mit der er sich von gewissen Obszönitäten humanistischer Dichtung absetzen will (cf. Klein 1957: 84-88). 943 Weitere terminologische Unterscheidungen Varchis außerhalb des oben ge‐ nannten Schemas sind ebenfalls bemerkenswert. So gebraucht er beispielsweise zwei Begriffe zur Bezeichnung des antiken Lateins, nämlich lingua Romana und lingua Latina (cf. Varchi, Ercol. V; 1804: 10) (v. supra), wodurch der Zusammen‐ hang des Volkes der Römer und ihrer Sprache deutlich zum Ausdruck gebracht wird. 944 Dies ist in der Diskussion zwar kein wirklich neuer Aspekt, doch zeigt sich darin nichtsdestoweniger das Bewußtsein für historische bzw. sprachge‐ schichtliche Zusammenhänge. Eine andere Unterscheidung, die er trifft und die nicht spezifisch auf die An‐ tike referiert, sondern Teil seiner allgemeinen theoretischen Auseinanderset‐ zung mit der Sprache darstellt, ist die zwischen parlare und favellare. Ersteres sei dabei der reine mechanische Akt des Sprechens, wie es auch bei manchen Tieren zu beobachten sei, während letzteres die gesamte kommunikative Inter‐ aktion des Menschen (animale sociabile, animale civile, cittadino; Varchi, Ercol. II ; 1804 I: 54) darstelle (cf. auch Dante). Dazu liefert er eine relativ präzise Be‐ schreibung des Sprechapparates (cf. Marazzini 2013: 89). Eine weitere Differenzierung, die sich allerdings in erster Linie auf das Flo‐ rentinische bezieht, besteht in der Opposition eines uso universale zu einem uso particolare. In diesem Kontext meint universale jedoch nicht allgemeinsprach‐ lich, sondern bezieht sich auf die sprachlichen Charakteristika einer lokalen diatopischen Varietät, sozusagen intra muros gedacht, während das particolare auf den spezifischen Gebrauch der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten referiert. Dabei stehen auf der einen Seite die infima plebe und die feccia del popolazzo und auf der anderen Seite die letterati, die non-idioti und die idioti. Ein buon uso ergibt sich jedoch nicht primär aus der sozialen Rangfolge, sondern 588 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 945 Dies steht im Gegensatz zu dem in Frankreich von Claude Favre Vaugelas (1585-1650) konzipierten Modell (cf. bon usage), welches auf sozialer Selektion beruht (cf. la plus saine partie de la cour) (cf. Krefeld 1988: 321). 946 Zu einer Graphik der - modern interpretiert - diastratischen Abstufungen der ein‐ zelnen Sprechergruppen cf. Michel (2016: 200) und zu einer Graphik der einzelnen so‐ ziolektalen usi und ihren Definitionen cf. Krefeld (1988: 321). aus dem Bildungsgrad eines Sprechers, 945 was zwar in der Regel den entsprech‐ enden gesellschaftlichen Klassen entspricht (cf. Pfister 1981: 108), aber auch eine gewisse Durchlässigkeit impliziert (cf. Krefeld 1988: 321; Michel 2016: 200). 946 Ein Aspekt in Varchis sprachtheoretischen Betrachtungen, der indirekt mit der antiken Sprachkonstellation zusammenhängt, ist die Diskussion um den Sprachursprung. Hierbei erwähnt er zwar - auch im Rückgriff auf Dante - die babylonische Sprachverwirrung, präferiert aber selbst eine weniger theologi‐ sche als eher philosophische Erklärung und rekurriert auf das Konzept der na‐ tura als erste Ursache der sprachlichen Vielfalt womit er auch die biblische Komponente der Bestrafung der Menschheit ablehnt, denn für ihn gehört die Variation zur perfezione dell’universo. Dies ist im Übrigen nur ein Aspekt, bei dem er gegen das inzwischen von Trissino übersetzte Traktat De vulgari elo‐ quentia polemisiert, woraus er zahlreiche Anregungen bezieht, dessen Urhe‐ berschaft er jedoch in Zweifel zieht. Varchi widerspricht hier und in anderen Punkten Dante vehement, weil seine Vision ja in einer modernen florentini‐ schen Literatursprache besteht, Dante hingegen dem vulgare illustre nachjagt, welches eher als koiné Italiens zu begreifen ist (cf. Marazzini 1993a: 269-270; Marazzini 2013: 90-92). Varchis Abhandlung Ercolano ist letztlich ein umfassendes Kompendium mit zahlreichen sprachtheoretischen Fragestellungen, die im vorliegenden Rahmen nicht alle ausführlich behandelt werden können. Auffällig ist dabei die überaus breite Rezeption von Werken zu den einzelnen Aspekten, wobei - auch das eher ungewöhnlich - eine Vielzahl von Autoren namentlich genannt werden. In Bezug auf die antike Sprachkonstellation beschränkt sich dies jedoch im We‐ sentlichen auf die Humanisten des 16. Jh., wobei insbesondere Bembo hervor‐ sticht. Nichtsdestoweniger sind auch die Argumente früherer Protagonisten der Debatte präsent, nur sind sie verständlicherweise nicht mehr primäres An‐ griffsziel. Synthese Das Hauptmerkmal Varchis besteht darin, daß er in seinem Ercolano eine um‐ fassende Übersicht über eine Vielzahl sprachtheoretischer Fragestellungen seiner Zeit gibt, darunter Fragen zum Sprechen und zur Sprache an sich, zum 589 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini Sprachursprung oder zum Verhältnis von Schriftlichkeit (bzw. Literatur) und Mündlichkeit. In Bezug auf die Debatte zur antiken Sprachkonstellation liegt sein Schwer‐ punkt auf dem Sprachwandel und der Genese der zeitgenössischen Volks‐ sprache. Dabei übernimmt er die einst von Biondo konzipierte Korruptions‐ these, die auch von zahlreichen anderen Protagonisten der Debatte tradiert wurde, und macht dementsprechend in erster Linie die germanischen Völker für die sprachlichen Veränderungen verantwortlich. Sein Kanon an Substraten, Superstraten und Adstraten ist im Vergleich zu beispielsweise Poggio oder Fi‐ lelfo eher bescheiden (cf. Kap. 6.2.6, 6.2.7). Das Etruskische, welches Tolomei oder Giambullari als konstitutiv für die Herausbildung des Toskanischen ange‐ sehen hatten, weist er als maßgeblichen Einflußfaktor zurück und konzediert nur wenige Relikte, was ja durchaus den modernen Erkenntnisse entspricht. Obwohl er auch den Blick auf andere romanische Sprache wirft (Spanisch, Fran‐ zösisch), erklärt er den Prozeß der corruptio hauptsächlich italozentrisch, so daß als Superstrate für ihn nur die Goten und Langobarden im Vordergrund stehen. Nachdrücklich betont er, im Rückgriff auf Bembo und vor allem Tolomei, immer wieder das Prinzip der generatio, denn für Varchi bedingt eine Korrumpierung immer einen damit einhergehenden Neuanfang. Hierbei zeigt sich die Gesamt‐ ausrichtung des Traktats deutlich, da dies die argumentative Grundlage für eine Stärkung der Selbstständigkeit und besonderen Wertigkeit des volgare bildet. Als Vertreter des modernen lebendigen Florentinischen spielt dabei auch die mündliche Sprache eine besondere Rolle für ihn. Das Erklärungsmuster der Sprachentwicklung über die Jahrhunderte hat bei ihm zwei Besonderheiten, einmal die Annahme einer der Volkssprache zugrundeliegenden Sprachmi‐ schung aus Latein und Okzitanisch und zum anderen die tendenziell positive Bewertung der „Barbarensprachen“. Bemerkenswert ist ebenfalls die in diesem Kontext aufgestellte Typologie der Sprachen, die er in Anlehnung an die bereits bei Tolomei und Citolini zu findende Metapher von der Lebendigkeit einer Sprache konzipiert, wobei er zu einer treffenden Einschätzung des zeitgenössi‐ sche Lateinischen kommt (lingua mezza viva). In Bezug auf die diasystematische Erfassung des antiken Lateins äußert sich Varchi nicht sehr ausführlich. Er geht von einer relativen Einheitlichkeit des Lateinischen aus, rekurriert also nicht auf Bruni, sondern tendenziell auf Biondo, auch wenn er eine weitere Differenzierung nur sehr indirekt vornimmt, die an‐ deutungsweise Elemente von Diastratik, Diaphasik und Diamesik aufweist. Für das zeitgenössische volgare hingegen läßt sich aus seinen Ausführungen sehr wohl die Annahme einer inneren Gliederung der Sprache herauslesen, und zwar 590 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 947 Für vorliegende Analyse sei auf die Ausgabe von Gerd Schlemmer zurückgegriffen, die allerdings außer der durchaus wertvollen vorangestellten Hinführung zu Leben und Werk Cittadinis sowie dem sprachtheoretischen Kontext nur aus einem fotomechani‐ schem Wiederabdruck der Originalausgabe (Venetia: Ciotti 1601) besteht. Damit sind auch alle Belegangaben identisch mit der ursprünglichen Edition, hinzu kommt zu‐ sätzlich nur die neue Paginierung (cf. Cittadini 1983). mit verschiedenen, vor allem diastratisch definierten Ebenen und seinen Spre‐ chergruppen (cf. letterati, non-idioti, idioti). Versucht man danach zu fragen, wie nahe Varchi einem modernen Begriff von Vulgärlatein gekommen ist, so ergibt sich eine gewisse Widersprüchlich‐ keit, weil er einerseits einen starken Bruch in der Kontinuität annimmt und aus strategischen Gründen im Sinne der questione einen direkten Konnex des volgare mit dem latino antico verneint, sowie zudem das Okzitanische als maßgebliche Grundlage postuliert, andererseits aber in seinen lexikalischen Einzelanalysen eine relative klare Vorstellung von der Genese und Distribution des Wort‐ schatzes des Italienischen hat, inklusive christlicher Kultismen. 6.2.16 Celso Cittadini (Celsus Cittadinus) Der nun letzte Protagonist in der Reihe der maßgeblichen Beteiligten an der Debatte um die antike Sprachkonstellation, der in vorliegender Arbeit unter‐ sucht werden soll, ist der aus Rom stammende Humanist Celso Cittadini (1553-1627), der mit seinem Trattato della vera origine (1601) eine umfassende Untersuchung zur Sprachenfrage hinterlassen hat. 947 Die im Jahre 1435 begon‐ nene Debatte ist nun bereits über hundertfünzig Jahre alt, ihre Aktualität scheint aber nach wie vor ungebrochen. Mit Cittadini und seinen Ausführungen ist es möglich im Sinne eines letzten Kulminationspunktes einen vorläufigen Schluß‐ strich zu ziehen, auch wenn wesentliche Ideen bis zum Beginn der modernen Sprachwissenschaft im 19. Jh. überdauern. Textanalyse Entsprechend dem bisher gepflegten methodischen Vorgehen sollen nun im Folgenden die Kerngedanken Cittadinis zu vorliegender Fragestellung heraus‐ präpariert und erörtert werden, damit die Ideen seiner Vorläufer so wie seine eigenen deutlich sichtbar erscheinen. Bereits im vollständigen Titel (Trattato della vera origine, e del processo, e nome della nostra Lingua, scritto in vulgar Senese) klingen die wichtigsten Themenge‐ biete seiner Zeit an, die er zu behandeln gedenkt, nämlich den Ursprung (ori‐ gine) der Volkssprache (della nostra lingua), ihren Entwicklungsprozeß (pro‐ 591 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 948 Zu einem ausführlichen Zitat der zugehörigen Belegstelle (d. h. Isidor, Etym. IX, 6-7; 1911: s. p.), die erstaunliche Parallelen zu Cittadinis Ausführungen aufweist cf. Kap. 6.2.5 vorliegender Arbeit; zu den Übereinstimmungen cf. außerdem Schöntag (2016: 16-19). cesso) und ihre Benennung (nome). Den Anspruch, den er mit diesem Traktat verbindet, wird ebenso gleich zu Beginn mit den ersten Zeilen deutlich, indem er sich von nicht weiter präzisierten Mehrheit der Gelehrten seiner Zeit ab‐ grenzt. So wären die meisten, die sich mit der Frage der lingua vulgare ausei‐ nandersetzen, der Annahme verfallen, daß diese ohne jegliche Kunst und Re‐ gelwerk sei (senz’arte, o regola alcuna), was definitiv ein Irrtum sei. La maggior parte adunque di coloro, i quali della nostra lingua hanno ragionato, o ragionano perche vogliano che la lingua vulgare, laqual noi senz’arte, o regola alcuna, imitando la balia e la madre nostra apprendiamo; e con esso laqual noi tutti commu‐ nalmente hoggi parte regolatamente, e parte nò favelliamo; havesse cominciamento, quando i Barbari, cioè, i Goti prima, o i Longobardi apresso tirannevolmente il dominio d’Italia occuparano, e non prima; e che ella sia un corrompimento della Latina favella: il che non esser molto vero; anzi essa nostra lingua haver’altro cominciamento, e più antico assai havuto, speriamo di fare apparir viè più che chiaro, e pianamente. (Cit‐ tadini, Tratt. I, 1r-v; 1983: 67-68) Cittadini greift in diesem ersten Absatz zahlreiche Topoi der Diskussion auf. Er referiert auf den scholastischen Gegensatz ars vs. natura, auf die Volkssprache, die man von der Amme (cf. Dante; Kap. 6.2.2) oder Mutter eben auf natürliche Art und Weise erlernt und die die Grundlage jeglicher mündlicher Kommuni‐ kation aller Sprecher bildet, sowie auf die Barbaren, insbesondere die Goten und Langobarden, die Italien heimsuchten und dort zu siedeln begannen (il dominio d’Italia occuparano), als Verursacher der Korrumpierung (corrumpimento) der lateinischen Sprache (Latina favella). Genau bezüglich des letzten Punktes zeigt er sich jedoch nicht einverstanden mit der herrschenden Lehrmeinung (il che non esser molto vero), denn Cittadini sieht - wie im Weiteren noch deutlich wird - nicht die externen Einflüsse als primär an, sondern die interne Entwicklung der Sprache. Ebenfalls gleich im ersten Kapitel im Anschluß an dieses erste Statement zur Sprachenfrage der Antike legt Cittadini seine Meinung von der Art der Sprach‐ entwicklung dar. Dabei greift er auf Isidor von Sevilla (7. Jh.) und seine Etymo‐ logiae zurück, dessen Modell von den vier Entwicklungsstadien der lateinischen Sprache erstmals in dieser Debatte von Guarino Veronese (1374-1460) bemüht wurde. 948 592 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 949 Zu Horaz (Ars poetica, v. 60-72) und seinem Vergleich vom Werden und Vergehen der Blätter (silvae foliis) mit den Veränderungen der Sprache cf. Faithfull (1953: 280) sowie Kap. 6.1.4 vorliegender Arbeit. 950 Zur Darstellung der lateinischen Frühgeschichte und der hier erwähnten Dokumente zur Etablierung einer Chronologie aus aktueller Forschungsperspektive cf. Kap. 4 vor‐ liegender Arbeit sowie Schöntag (2016: 18, FN 23 und passim). 951 „Thure, vino Iano Iovi Iunoni praefato, prius quam porcum feminam immolabis“ (Cato, De agr. CXLIII, 134, 1; 1980: 134); „Ianum Iovemque vino praefamino, sic dicito: […]“ (Cato, De agri cultura CL, 141, 2; 1980: 142); „Tertia est Ianualis, dicta ab Iano, et ideo ibi positum Iani signum et ius institutum a Pompilio, ut scribit in Annalibus Piso, ut sit aperta semper, nisi cum bellum sit nusquam“ (Varro, De ling. lat. V, 165; 1958 I: 154); „[…] potest enim Saturnus hic de alia causa esse dictus atque in Sabinis […]“ (Varro, De ling. lat. V, 74; 1958 I: 72). […] la lingua latina fu secondo diversi tempi succesivamente diversa, cioè, di quattro ragioni, com’è à dire; Prisca, Latina, Romana, e Mista: e però noi parlarem di ciascuna di esse partitamente. (Cittadini, Tratt. I, 1v; 1983: 68) Diese verschiedenen Phasen (ragioni) in der Entwicklung des Lateinischen im‐ plizieren, wie erwartbar, eine gewisse Wertung, denn hier wird deutlich die Me‐ tapher des „Verfalls“ 949 bzw. „Niedergangs“ (cf. declinatio) bemüht. Grundlage dieser Evaluation ist die Literaturproduktion, d. h. das Prestige und die norm‐ setzende Autorität (cf. auctoritas) bestimmter Dichter, die die „Qualität“ der Sprache in der jeweiligen Epoche definieren, wie ja auch Attribuierungen von „goldener“ oder „silberner“ Latinität insinuieren. Die einzelnen Phasen Prisca, Latina, Romana und Mixta werden anschließend wie folgt charakterisiert: Prisca fu detta quella che parlarono in Italia, e spetialmente nel Latio gli antichissimi e originali huomini di essa provincia, colà sotto Iano, e Saturno, rozza, e senz’arte, ed ancor senza scrittura alcuna. Latina dissero, quella, che parlarono apresso sotto il Rè Latino e gli altri Rè del Latio, e poi sotto que’ di Roma, nella quale scritte furono le leggi delle dodici Tavole, e traslatati i versi della Sibilla, e scritte alcune altre cose tali. Romana fu nominata quella, che fu in uso apresso il Popolo Romano dopo la cacciata deʼ Rè, fino per tutto l’Imperio d’Augusto, e chiamossi Romana, percio che si usava solamente in Roma da’ Cittadini Romani […]. Mista finalmente si nominò quella lingua, che dopò l’ampliatione dell’Imperio: e dopò haver la cittadinanza Romana do‐ nata a tutti i Provinciali, non pure a tutti gl’Italiani, entrò nella Città insieme con i costumi, e con gli huomini di esse provincie […]. (Cittadini, Tratt. I, 1v; 1983: 68) Cittadini rekurriert hier, indem er sich auf den hier nicht genannten Isidor v. Sevilla beruft, der wiederum auf ältere antike Autoren zurückgreift, auf die his‐ torischen Fakten seiner Zeit, die aus heutiger Sicht einiges Mythische ent‐ halten, 950 von den Anspielungen auf Ianus und Saturn 951 über die Gründungsle‐ 593 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 952 Zu den entsprechenden Referenzen cf. Vergil (z. B. Aen. VI, 756-780; 2002: 264) und Livius (Ab urbe cond. I, 1-3; 1987 I: 10-17), deren Auflistung der mythischen Könige von Rom bzw. Alba Longa später kanonisiert wird: Latinus, Aeneas, Lavinia, Ascanius, Sil‐ vius, Aeneas Silvius, Latinus Silvius, Alba, Atys, Capys, Capetus, Tiberinus, Agrippa, Romulus Silvius, Aventinus, Proca, Numitor, Amulius; sowie die sieben Könige von Rom: Romulus, Numa Pompilius, Tullus Hostilius, Ancus Marcius, Lucius Tarquinius Priscus, Servius Tullius, Lucius Tarquinius Superbus. 953 Im Rahmen der questione della lingua und dem Streit um die Bezeichnung des volgare argumentieren auf diese Weise beispielsweise Gian Giorgio Trissino (1478-1550) und Benedetto Varchi (1503-1565) (cf. Kap. 6. 2. 15). gende der Stadt Rom (cf. Aeneas, Romulus und Remus) bis hin zu den frühen Königen. 952 Er greift aber auch auf nach wie vor valide Zeugnisse der latein‐ ischen Frühgeschichte zurück, in denen sich die erste Schriftlichkeit manifestiert (cf. Zwölftafelgesetz, Sybillinische Verse), sowie auf veritable Meilensteine in der Verbreitung der lateinischen Sprache wie die Verleihung des Bürgerrechts (212 n. Chr.) an alle Einwohner des Imperiums, d. h. auch an die Provinzialen, unter dem römischen Kaiser Caracalla (188-217 n. Chr., Ks. ab 211) (cf. Kap. 4). Eine weitere wichtige Frage im Kontext der Debatte um die antike Sprachsi‐ tuation ist die Frage nach der Benennung, wozu auch Cittadini Stellung nimmt. Er geht hier wie vor ihm bereits Lorenzo Valla (1407-1457) nach genus und species vor, 953 indem er im engen Sinn von lingua Romana spricht, da die Bürger von Rom diese Sprache benutzt hätten, und von lingua Latina in einem generi‐ schen Sinne, da man sie in ganz Italien gesprochen hätte sowie außerhalb in den Provinzen des Reiches. Dabei gibt er gleichzeitig einen Einblick in die räumliche Distribution der Nachbarvarietäten des Lateinischen Roms und nennt angren‐ zende Idiome Mittelitaliens, die alle ihre eigenen Charakteristika (speciali voci) hätten. […] ed ancor col nome speciale, secondo gli speciali idiomi, cioè proprietà di essi particolari luoghi, come per essempio, lingua Sabina, Prenestina, Lanuvina, Patavina, e altre, ciascun d’quali alcune speciali voci, e modi di proferir diversi da quegli delli altri havea […]. (Cittadini, Tratt. I, 2r; 1983: 69) Die Reihung der Idiome, die er hier aufführt (cf. lingua Sabina, Prenestina, La‐ nuvina, Patavina, e altre), ist relativ heterogen, insofern das erwähnte Sabinische eine Varietät des Oskischen darstellt, also dem sabellischen Sprachzweig der italischen Sprachen zugehört (cf. Kap. 4), während das Pränestinische und La‐ nuvinische diatopische Varietäten des Lateinischen sind, d. h. er spricht vom Sabinischen und den an Rom angrenzenden Gemeinden Latiums Praeneste und Lanuvium. Das Patavinische fällt in gewisser Weise aus der Reihe, referiert der Namen doch auf das antike Padua (Patavium), welches im Gebiet der Veneter 594 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 954 Entweder Cittadini wollte hier bewußt auf Sprachen aus verschiedenen Teilen Italiens referieren, zunächst vom Zentrum Roms aus gesehenen örtlich und sprachlich nahen und dann auf weiter entfernte, oder aber es liegt hier eine Verwechslung mit einer latinischen Stadt vor, allerdings wäre dann dabei unklar mit welcher. 955 Zu einer Aufschlüsselung der wichtigsten Aspekte in dieser Diskussion (periodizza‐ zione, diversità diasistematica, mutamento linguistico) in Cittadinis Traktat cf. auch Schöntag (2016: 14-25). 956 Cf. dazu Kap. 6. 2. 14 vorliegender Arbeit und die Übereinstimmungen im dort ange‐ führten Zitat von Castelvetro (Giunte; 1988: 615). 957 An anderer Stelle spricht er nicht nur von contadini, sondern auch von einer usanza deʼ rustici (cf. Cittadini, Tratt. XX, 50v; 1983: 166). liegt, einem anderen italischen oder eventuell illyrischen Volksstamm, der al‐ lerdings im Gegensatz zu vorgenannten in Norditalien beheimatet ist. 954 Bemerkenswert in obigem Auszug ist die Tatsache, daß bei Cittadini in der letzten Phase (Mista) nicht die Invasion der germanischen „Barbaren“ im Vor‐ dergrund steht, sondern die Erweiterung des römischen Reiches (ampliatione dell’Imperio). Mit dieser wachsenden Ausdehnung kämen dann Provinzialen nach Rom, mit ihren eigenen Gebräuchen und ihrer eigenen Aussprache, die die purità del parlar Romano verringerte, und zwar durch falsi latini und Barbaresmi (cf. Cittadini, Tratt. I, 2r; 1983: 69). Mit anderen Worten: Es hat zwar in gewisser Weise eine Korrumpierung des Lateinischen stattgefunden, aber nicht genau so wie es bisher in der Debatte geschildert wurde. 955 Das zweite Kapitel startet mit einer wichtigen Aussage zu dem Aspekt, in welcher Form Cittadini sich das Lateinische in der Antike vorstellt; wiederum ist er ausgesprochen deutlich in der Markierung seiner Position. Hora egli è, prima che noi passiamo più oltre, da sapere; che per ogni tempo, e prima e poi, furono in Roma due sorte di lingua. L’una rozza e mezzo barbara, laquale era proprio del vulgo, cioè de’ Romani e de’ Forestieri Idioti, o vogliamo dir della gente bassa, e de’ contadini senza lettere; i cui modi di dir, e le cui voci erano rifiutate, da gli Scrittori, e da’ dicitori nobili, e fuor che le passioni di esse principalmente, e per la maggior parte sono rimaste nelle bocche de gli Italiani huomini senza distintione di vilta, o di nobilità […]. (Cittadini, Tratt, II, 2r-v; 1983: 69-70) 956 Zu allen Zeiten, so Cittadini, hatte es in Rom schon immer zwei Arten von Sprache gegeben, eine des Volkes und eine der Gelehrten. Er spricht hier von due sorte di lingua, was sich deutlich von der Diktion Leonardo Brunis (1370-1444), der einfach von zwei unterschiedlichen Sprachen spricht, abhebt. Die gesellschaftliche Zuordnung folgt dem bereits bekannten dichotomischen Schema, d. h. vulgo, gente bassa und contadini, 957 ergänzt um die Forestieri Idioti auf der einen Seite und Scrittori, dicitori nobili sowie letterati (cf. ibid.) auf der 595 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 958 Cf. dazu auch: „[…] poiche principalmente la lingua latina antica del vulgo sʼè conservata fra noi […]“ (Cittadini, Tratt. II, 2v; 1983: 70). 959 „Della lingua Prisca non possiamo dir cosa veruna, percioche non ce n᾽è rimasta me‐ moria alcuna, fuorche certe pochissime voci sparte per le opere de gli Autori della lingua Romana, e della Mista […]“ (Cittadini, Tratt. III, 2v-3r; 70-71). anderen Seite. Die Charakterisierung der volkssprachlichen Varietät folgt ebenso der Überlieferung, sie sei rozza und mezzo barbara, wobei letzteres auf die corruptio durch die „Barbaren“ anspielt. Nicht ganz so eindeutig ist die Be‐ schreibung der zeitlichen Verortung, denn zwar insistiert Cittadini, daß beide Arten (sorte) der Sprache schon immer existiert hätten (per ogni tempo bzw. e prima e poi), was auch eine Fortsetzung dieses Zustandes bis in die Gegenwart impliziert, was aber wohl nicht, wie der obige Auszug suggeriert, auf Rom allein beschränkt gedacht ist, sondern sich allgemein auf die Volkssprache(n) Italiens beziehen soll. 958 Was die Namensgebung anbelangt, so äußert sich Cittadini auch dazu gleich zu Beginn seines Traktates und leitet den Begriff des zeitgenössischen vulgare von der antiken Volkssprache ab. Er präzisiert dies zudem, indem er explizit von der lingua latina antica del vulgo spricht (cf. Cittadini, Tratt. II , 2v; 1983: 70), was terminologisch verdeutlicht, daß auch die Volkssprache einen Bestandteil des Lateinischen darstellt und nicht wie bei manch anderen Protagonisten unab‐ hängig davon zu sehen ist (cf. Bruni). Die andere Art des Lateinischen nennt er pura latina (cf. Castelvetro), die durch arte kultiviert wurde und nur durch um‐ fangreiches studio zu erlernen sei (cf. Cittadini, Tratt. II , 2v; 1983: 70). Weiterhin erläutert er am Ende des zweiten Kapitels, daß die Sprache des Volkes der römischen Antike zwar nicht im eigentlichen Sinn schriftlich über‐ liefert sei - weil, so die Suggestion, sie ja im Wesentlichen der mündlichen Kommunikation diente -, aber es dennoch einige Zeugnisse dieser Art des Lat‐ eins gäbe, nämlich in einigen Inschriften (iscrizioni, o titoli) auf Statuen oder Gebäuden, auf einigen Grabsteinen sowie bei etlichen Autoren (cf. ibid.). Citta‐ dini beschreibt hier also nichts weniger als einige der wichtigsten Quellen des Vulgärlateins und dokumentiert diese ausführlich. In den nun folgenden Kapiteln beschreibt er die einzelnen Phasen der Ent‐ wicklung des Lateinischen genauer und analysiert die Zeugnisse, die über die jeweilige Epoche Aufschluß geben. Bezüglich des ältesten Stadiums der Sprache (lingua Prisca) konstatiert er, daß es so gut wie keine Relikte gäbe, außer einigen Wörtern, die man bei einigen Autoren in einer der späteren Entwicklungsstufen der Sprache (lingua Romana, lingua Mista) bewahrt habe. 959 Was die lingua Latina anbelangt, so führt er einige Sprachdenkmäler auf, die zum Teil bei Autoren der lingua Romana überliefert seien. Hierbei nennt er die 596 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 960 Zur Historizität der Überlieferung der carmina salinaria, der leges duodecim tabularum und der libri Sibyllini cf. Kap. 4 vorliegender Arbeit, zur Diskrepanz zwischen histori‐ scher Überlieferung und Cittadinis Vorstellungen bezüglich dieser Zeugnisse cf. Schöntag (2016: 18, FN 23). 961 Cittadini spricht zudem auch von figura, was bei figura deʼ caratteri (Cittadini, Tratt. IIII, 3r; 1983: 71) sich eindeutig auf die Buchstaben bezieht, bei figura della lingua aller‐ dings eher an figura orationis (ibid. 4r) denken läßt, was wiederum in Richtung Funktion geht; an dieser Stelle bleibt die Interpretation jedoch vage. 962 Zur historischen, sprach- und literaturgeschichtlichen Verortung genannter Autoren cf. Kap. 4 vorliegender Arbeit. Neben diesen als Eckpunkte dargestellten Schriftstellern nennt Cittadini jedoch auch zahlreiche weitere für jene Epoche, darunter auch solche, bei denen eine ältere Sprachstufe durchscheint. Lieder der Salier bzw. salischen Priester (versi Saliari), das Zwölftafelgesetz (leggi delle dodici Tavole) und die Sibyllinischen Bücher (versi della Sibilla). 960 Dazu stellt er fest, daß diese überlieferten Texte Wörter enthalten, die in Form (forma) und Funktion (valore) sowie Orthographie (caratteri) sich vom späteren Latein unterscheiden, was er mit Aussagen zu den antiquis litteris latinis von Plinius und Quintilian belegt (cf. Cittadini, Tratt. IIII , 3r-4r; 1983: 71-73). 961 Die Epoche der lingua Romana unterteilt Cittadini wiederum in drei unter‐ schiedliche Phasen, die mit bestimmten Autoren der Zeit verbunden sind. Die erste ist dabei geprägt von den Schriftstellern Ennius (239-169 v. Chr.) und Plautus (ca. 250-184 v. Chr.), die zweite von Caecilius Statius († 168) und Terenz (ca. 195 / 185-159 v. Chr.) und die dritte von Vergil (70-19 v. Chr.) und Livius (64 / 59 v. Chr.-12 / 17 n. Chr.). 962 Diese gesamte Epoche identifiziert er gleich‐ zeitig mit der lingua Romana pura, d. h. mit der latina pura, was nichts anderes bedeutet, als daß er jenen Schriftstellern die auctoritas attribuiert und sie das Latein der gehobenen Schichten repräsentieren (cf. Cittadini, Tratt. V, 4r; 1983: 73). Im Anschluß daran analysiert Cittadini zahlreiche Inschriften (z. B. die columna rostrata (3. Jh. v. Chr.) des Gaius Duilius auf dem Campidoglio) und an‐ tike Autoren, die auf ältere sprachliche Auffälligkeiten aufmerksam machen oder selbst welche aufweisen: z. B. Varro (116-27 v. Chr.), Quintilian (35-95 n. Chr.), Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.), Pompeius Festus (2. Jh. n. Chr.) oder Velius Longus (2. Jh. n. Chr.). Zudem benutzt er wichtige Schriftzeugnisse wie die konsularischen Fasten (fasti consulares). Im Folgenden schildert er dann den Übergang von der lingua Romana zur lingua Mista, wobei er als ein wichtiges politisches Ereignis, das diesen Wandel verursacht habe die Gewährung des Bürgerrechts unter Caracalla für alle Be‐ wohner des Imperium Romanum ausmacht (212 n. Chr.), d. h. auch für alle Völker Italiens sowie diejenigen aus den zahlreichen Provinzen des Reiches (v. supra). 597 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 963 An anderer Stelle erwähnt er noch eine weitere Ursache bzw. präzisiert die obenge‐ nannte, indem er auf die aus Italien bzw. Rom stammenden Soldaten der römischen Legionen hinweist, die dadurch, daß sie lange im Ausland im Kriegseinsatz waren, ein korrumpiertes Latein mit nach Hause brächten sowie auf die Tatsache, daß auch viele Provinzialen in der Legion dienten, die ebenfalls dazu beitrügen, daß die purità della lingua beeinträchtigt würde und jene dann zumindest mezzo barbaramente gesprochen hätten (cf. Cittadini, Tratt. VIII, 41v; 1983: 148). 964 Zur historischen Bedeutung der genannten Autoren cf. Kap. 4 vorliegender Arbeit. Diese begannen dann ebenfalls, sich des Lateinischen zu bedienen, so daß die Sprache in Rom sich schließlich allmählich änderte. 963 Hora qui fu il termine, e il colmo del più sovrano grado di eccellenza e di finezza, in che si trovasse mai per tempo alcuno la lingua Romana, la quale, essendo, come da principio dicemmo, stata conceduta la Cittadinanza Romana, e per consequenza il poter parlar latinamente a tutti i popoli di Italia, ed a molti altri ancora delle provincie di fuora; cominciò a poco a poco per la conversation di quelle genti, in Roma a disc‐ rescere, e conseguentemente a formasene la lingua Mista […]. (Cittadini, Tratt. XV, 33v; 1983: 132) Hierbei hebt er nochmals hervor, daß die Sprache der Epoche der lingua Romana sich durch eccellenza und finezza auszeichnete und den Höhepunkt der latinitas darstellte. Auf diesen Gipfel (colmo) der sprachlichen Exzellenz folgt naturgemäß ein Niedergang (discrescere) durch den genannten Einfluß der Sprache der Pro‐ vinzialbevölkerung. Cittadini greift also auf das bekannte Motiv der declinatio zurück, allerdings - dies sei erneut hervorgehoben - bringt er dieses nicht wie alle anderen Protagonisten primär in Zusammenhang mit den „Barbaren“, also der Völkerwanderung und ihren Auswirkungen, sondern mit der allgemeinen Verbreitung des Lateinischen. Die Autoren, die für ihn maßgeblich die Epoche der lingua Mista kennzeichnen, sind Valerius Maximus (1. Jh. v.-ca. 37 n. Chr.), Se‐ neca d. Ältere (ca. 54 v.-39 n. Chr.), Seneca d. Jüngere (ca. 1-65 n. Chr.), Plinius d. Ältere (23 / 24-79 v. Chr.), Plinius d. Jüngere (61 / 62-112 / 113 n. Chr), Sueton (ca. 70-140 n. Chr.) und Tacitus (ca. 56-120 n. Chr.) (cf. ibid.). 964 Des Weiteren insis‐ tiert er nochmals auf der Tatsache, daß es nicht die germanischen Invasoren ge‐ wesen wären - dabei nennt er explizit die Goten und Langobarden -, die für die sprachlichen Veränderung zur Verantwortung zu ziehen seien, sondern daß die Ursache in der Cittadinanza di Roma für alle gelegen haben mußte, weil dadurch alle Völker Italiens und der Provinzen latinisiert wurden. Dies kann man dahin‐ gehend interpretieren, daß nun erst Recht, eben durch die Erlangung des römi‐ schen Bürgerrechts, die Provinzialen Latein gesprochen hätten bzw. dazu auch offiziell ermächtigt wurden (cf. poter parlar latinamente). Darüberhinaus habe der Prozeß der Verunreinigung der Sprache (imbarbarir di lingua) bereits viel früher 598 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 965 „Dalle quali parole si ritrà espressamente, che fino al tempo di Cesare, anzi molto prima, la purità della lingua latina era già cominciata a scemare: e che in Roma si usava com‐ munemente parlar corrottamente, ciò era parlar volgarmente, e non pur la gente bassa, ma de gli Scrittori ancora: e che però, se altri voleva parlar bene e puramente, cioè latinamente, era necessario, che facesse studio nelle regole della grammatica latina, e nelle opere de‘ buoni autori antichi di essa lingua latina: e chi non vi studiava, non sapeva parlar latino; ma faceval barbaramente, cioè volgarmente, come si truova usato non poche volte nelle antiche iscrittioni, delle quali porrem poi gli essempij d’alcune“ (Cittadini, Tratt. XVI, 34v-35r; 1983: 134-135). 966 Die Tatsache, daß auch die lingua vulgare zum Lateinischen als historische Sprache gehört, macht er auch noch an anderer Stelle überaus deutlich, indem er dies explizit anspricht: „[…] la lingua vulgare, benche anch’ella sotto nome di latina, come ella ver‐ amente era, ma non pura […]“ (Cittadini, Tratt. XXI, 53r; 1983: 171). begonnen, sogar vor der Zeit Ciceros. Auch damals hätten Leute schon barbara‐ mente bzw. volgarmente oder rusticamente gesprochen, so daß dies sich bis in die zeitgenössische Gegenwart fortgesetzt hätte (cf. Cittadini, Tratt. XV , 34r; 1983: 133). Damit zeichnet Cittadini sehr deutlich eine Kontinuitätslinie von Ele‐ menten, die bereits in einem frühen antiken Latein sichtbar waren, bis zur Volks‐ sprache seiner Epoche. In einem weiteren Abschnitt weist Cittadini auf ein anderes wichtiges Detail in seinem Sprachverständnis der Antike hin. Die mündliche Sprache begann nicht nur, sich bereits sehr früh zu verändern bzw. zu vulgarisieren oder zu korrumpieren, sondern dies auch beim Volke und bei den Schriftstellern in glei‐ cher Weise. Wer also gut und rein sprechen wollte (bene e puramente), der mußte mit Mühe die Grammatikregeln erlernen und die guten Autoren der lingua La‐ tina studieren, und wer das eben nicht tat, der war auch nicht in der Lage, Latein zu sprechen, d. h. die lingua pura (oder sogar pura pura latina, v. infra) 965 Er bemüht also den bekannten Topos von arte und studio. Dabei differenziert er hier zwischen Scrittori und buon autori, d. h. solchen Schriftstellern, deren Sprache ebenfalls korrumpiert sei und den Modellautoren des (klassischen) Lat‐ eins, d. h. er postuliert hier vor allem stilistische Unterschiede in Bezug auf be‐ stimmte Texte. Im Folgenden faßt er erneut die Sprachsituation im antiken Rom zusammen, spricht allerdings nicht von due sorte, sondern von due maniere di lingua, eine begriffliche Varianz, die aber gleichwohl darauf hindeutet, daß es sich nicht um zwei unterschiedliche Sprachen handelt. 966 Esta adunque al parer nostro, concluso, che in Roma furono sempre, come dicemmo, due maniere di lingua, l’una pura pura latina, e solamente deʼ nobili, e deʼ letterati: e l’altra mescolata di barbarismi, e di falsilatini, del vulgo e de’ cittadini, e de’ contadini, e de’ forestieri idioti, e senza lettere […]. (Cittadini, Tratt. XVII, 37r; 1983: 139) 599 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 967 Zu Barbarismen als vizio del favellare in der Sprachauffassung der Frühen Neuzeit cf. Schmauser (2018). 968 Cf. dazu auch Cittadini in seinem Trattato degli articoli: „[…] e della durezza de’ barbarici suoni, guastando la purità de’ latini Pronomi, vennero a poco a poco a farsene questo Articoli, e alcune altre particelle, che habbiamo, e che usiamo hoggi noi nella nostra lingua […]“ (Cittadini, Tratt. art. I, 69r; 1983: 203). Aus linguistischer Sicht sei ergänzt, daß die Artikel als Wortart gegenüber dem Lateinischen neu sind, die Pronomen nur ihrer Form nach. 969 Cf. dazu die aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidenz bei Lodovico Castelvetro (cf. Kap. 6. 2. 14), die Cittadini hier übernommen hat. 970 Cf. dazu auch eine ähnliche Stelle im Trattato degli articoli: „[…] che essa nostra lingua sia venuta per continuata succession d’huomini, e di tempi dalla vulgar lingua dell’an‐ tico Popolo Romano; ma alterata nelle passioni, e negli accidenti delle voci da quella […]“ (Cittadini, Tratt. art. I, 68r; 1983: 201). Noch einmal wird auch die jeweilige Schichtenzugehörigkeit (cf. nobili vs. vulgo) hervorgehoben, aber damit verknüpft auch die Frage der Alphabetisie‐ rung (cf. letterati vs. senza lettere) sowie der Einflüsse der ländlichen Bevölke‐ rung (contadini) und der Fremden (forestieri idioti). Charakterisiert wird die mündliche Sprache des Volkes, der Ungebildeten und der Zugereisten, als ein Latein, das durchsetzt ist von Barbarismen (barbarismi) und anderen Fehlbil‐ dungen (falsilatini). 967 Mit einem expliziten Rückgriff auf Dantes Schrift De vulgaria eloquentia (cf. „nel suo bel libro“, Cittadini, Tratt. XVII , 37r; 1983: 139), die er auch wörtlich zitiert, weist er auf die Veränderlichkeit der Volkssprache hin, die mit der Un‐ beständigkeit des Menschen zusammenhängt (cf. instabilissimum atque varia‐ bilissimum animal; Dante, DVE I, 9, 6). Diese instabilità bzw. variabilità della humana volontà sieht Cittadini ebenfalls als grundsätzliche Ursache der muta‐ tione, aber gleichzeitig lehnt er hierbei erneut die These des externen Sprach‐ einflusses durch die Langobarden und Goten ab (cf. ibid. 37v; 1983: 140). Trotz einer deutlich erkennbaren Abweichung der zeitgenössischen Volkssprache von der antiken lateinischen im Hinblick auf die neu entstandenen Artikel und Pro‐ nomen sowie die Endungen bei einigen Wörtern wäre die Sprache die gleiche geblieben (cf. ibid. 39r; 1983: 143). 968 In einer näheren Betrachtung dieses As‐ pektes bezieht er sich auf Castelvetro (cf. Kap. 6. 2. 14) und greift dessen Argu‐ ment von der gleichbleibenden Substanz und der sich verändernden Akzidenz auf, 969 was sich u. a. in den passioni d’alcune voci äußern würde (cf. ibid. 40r; 1983: 145). 970 Im Zuge der Analyse von Inschriften der spätrömischen Zeit differenziert Cittadini die dort auftretenden sprachlichen Merkmale und erstellt eine Abstu‐ fung des barbarischen bzw. volkssprachlichen Einflusses, indem er von parole barbare bzw. volgari spricht, von parole mezzovolgari, von parole latine imbar‐ 600 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 971 Bei Cittadini wird ihm zusätzlich der Vorname Jacomo attribuiert (cf. Jacomo Conti Romani). barite und von parole latine (cf. Cittadini, Tratt. XX , 47r-48v; 1983: 159-162). Eine andere aber ähnliche Abstufung nimmt er in einem anderen Passus vor, wo er von voci intere latine, voci mezzolatine und voci mezzovulgari spricht (cf. ibid. XXI , 53v; 1983: 172). Es bleibt demnach festzuhalten, daß er die Veränderungen am Lexikon in verschiedenen Graden der Beeinflussung wahrnimmt. Auch wenn er die maßgebliche Sprachentwicklung des Lateinischen zur (ita‐ lienischen) Volkssprache immer wieder auf interne Veränderungen oder zu‐ mindest auf Einflüsse jenseits der Völkerwanderung zurückgeführt hat, ist sich Cittadini des möglichen externen Einflusses durchaus bewußt. So führt er durchaus auch neue Wörter und andere sprachliche Änderungen auf andere Völker zurück und nennt exemplarisch Langobarden (Longobardi), Franken (Franchi), Griechen (Greci), Normannen (Normani), Deutsche (Tedeschi), Eng‐ länder (Brittoni), Franzosen (Franzesi) und Spanier (Spagnuoli), also tatsächlich alle maßgeblichen fremdsprachlichen Ethnien, die nach dem Fall des Imperiums Teile Italiens eroberten und dort siedelten (cf. Cittadini, Tratt. XXI , 53r). Be‐ merkenswert ist hier wie bei Castelvetro, daß er Franken und Franzosen deutlich unterscheidet. Mit Griechen sind hier die Byzantiner gemeint. Die Deutschen kamen vor allem im Rahmen der Italienfeldzüge ihrer Könige bzw. Kaiser, die Engländer waren in die Kämpfe der italienischen Stadtrepubliken involviert. Zur gleichen Zeit, als sich die lingua vulgare noch stärker veränderte, eben auch durch den Einfluß der Barbari, die das Lateinische weder schreiben noch sprechen konnten und es zunächst auch nicht verstanden, wurde die lingua pura nur noch von wenigen Mönchen und Klerikern beherrscht (cf. ibid.). Cittadini nimmt also Bezug auf die Entwicklungen von der Spätantike über das frühe zum hohen Mittelalter. Abschließend beschreibt er noch den Prozeß der Nobilitie‐ rung der Volkssprache (d. h., Prestigezuwachs durch Ausbau), indem einige Ge‐ lehrte begannen, die besten Wörter zu selektieren (parole più scelte) und Ge‐ dichte (canzoni, rime) sowie vergnügliche Prosa, Traktate der Theologie, Philosophie, Medizin und Geschichte zu schreiben; das alles in einem Stil, der sie sich deutlich vom commun favellare absetzte (in istile eccellentissimo). Dabei nennt er Schriftsteller wie Dante, Petrarca, Boccaccio, Aegidius Colonna (1243 / 1247-1316) und Giusto de’ Conti (1390-1449) 971 (cf. ibid. 54r-v). Wie bereits eingangs angedeutet, liefert Cittadini in seinem Trattato eine Darstellung der Debatte, die vielleicht nicht alle, aber dennoch zahlreiche Teil‐ aspekte ausbreitet und dazu eine umfangreiche Materialsammlung mit Beleg‐ 601 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 972 Zur antiken Opposition der urbanitas vs. rusticitas bzw. des sermo urbanus und des sermo rusticus cf. Kap. 4.1.2 vorliegender Arbeit. stellen zu vom klassischen Latein abweichenden Formen und Konstruktionen beinhaltet. Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Aus Sicht einer modernen sozio- und varietätenlinguistischen Betrachtung der Ausführungen Cittadinis ist zunächst festzustellen, daß er sich sowohl dem Sprachwandel als auch der Frage der Beschaffenheit des antiken Lateins widmet. Was letzteren Aspekt anbelangt, so sticht insbesondere seine Gliederung des Lateins in due sorte di lingua bzw. in due maniere di lingua hervor. Da er an anderen Stellen (v. supra) die Einheit der Lateinischen klar herausstellt, also nicht eine Diglossie-Situation für die Antike wie Leonardo Bruni annimmt, in der die Volkssprache als ein mehr oder weniger komplett anderes Idiom als das literarische Latein gesehen wird, läßt sich diese Unterteilung als innere varie‐ tätengebundene Differenzierung der antiken Sprache der Römer verstehen. Diese due sorte sind zunächst einmal vor allem diastratisch zu interpretieren (cf. Pistolesi 2000: 115), da er soziale Gruppen des jeweiligen Gebrauches damit ver‐ bindet, d. h. zum einen das Volk bzw. die niederen Gesellschaftsschichten und zum anderen die Gelehrten. Die diamesische Ebene ist allerdings dort ebenfalls impliziert, da die Gebildeten immer auch die Träger der Schriftkultur sind, was ja auch in dem Ausdruck der letterati offenkundig wird, und diejenigen, denen diese Bildung nicht zuteilwurde, mitunter auch vielsagend einfach als senza let‐ tere charakterisiert werden. Zusätzlich spielt auch die diatopische Ebene eine Rolle, und zwar insofern er zu den Sprechern der Volkssprache, also einer der zwei „Sorten“ der Sprache auch die Bauern sowie die Fremden zurechnet. Letz‐ tere sind weitgehend unspezifiziert, weil darunter sowohl Nicht-Mutter‐ sprachler zu verstehen sind, die das Lateinische als L2 erworben haben, als auch solche, die nicht stadtrömisch sind, oder aus Provinzen außerhalb Italiens, was aber wiederum nicht zwangsläufig bedeutet, daß sie keine native speaker des Lateinischen gewesen wären. 972 Die diaphasische Ebene, also Registerunterschiede, werden bei Cittadini eher indirekt angesprochen. Einerseits werden die diatopisch und diastratisch mar‐ kierten Sprechweisen sekundär auch als diaphasisch niedrig empfunden, und zum anderen werden bei der Abgrenzung zum Latein der Gelehrten, das ja be‐ reits durch den Namen lingua latina pura eine stilistische Selektion impliziert, derartige Unterschiede immer wieder evoziert. Hinzu kommt schließlich noch eine weitere Untergliederung, die erstmals in dieser Debatte signifikant an die, 602 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 973 Die Abnahme der Reinheit des Lateins und somit die Barbarisierung, setzte also laut Cittadini mit dem Einfluß von außen, d. h. nicht-stadtrömischer bzw. italischer Bevöl‐ kerung, ein, was relativ früh begann und sich dann aber noch einmal massiv nach der Regierung des Kaisers Honorius verstärkte. Dies war ab einem bestimmten Zeitpunkt auch den sich daraus ergebenden mangelnden Kompetenzen in der lingua pura der Lehrer und Schüler geschuldet (cf. Ward 1990: 101-102 und v. supra). 974 Cf. dazu auch Kap. 6. 2. 14 vorliegender Arbeit zu Castelvetro, u. a. bezüglich der Aus‐ breitung des Lateinischen (ampliazione della lingua vulgare; cf. Castelvetro, Giunte; 1988: 617) oder der Akzidentien (cf. ibid. 1988: 621). wenn auch anders hergeleitete (nämlich aus der Rhetorik, cf. Kap. 6.1.5), Bin‐ nendifferenzierung von Flavio Biondo anknüpft. Cittadini läßt an verschiedenen Stellen (v. supra) weitere Abstufungen des Lateins anklingen, d. h. ihm ist be‐ wußt, daß die due sorte nicht dichotomisch zu verstehen sind, sondern graduell. So formuliert er mindestens zwei diastratisch-diaphasische Zwischenstufen, deren Merkmale bzw. Wörter er als mezzolatine und mezzovulgari bezeichnet. Ob weitere Termini (v. supra) als synonyme Bezeichnungen zu oder als zusätz‐ liche Nuancierungen zu verstehen sind, wird nicht ganz klar. Damit ergeben sich im Wesentlichen zwei Sprecherguppen (Scrittori, dicitori nobili, letterati vs. vulgo, gente bassa, contadini, Forestieri Idioti), die zwei unterschiedliche Varie‐ täten des Lateins benutzen (latina pura vs. vulgare), die aber graduelle Über‐ gänge aufweisen. Was den Sprachwandel anbelangt, so sticht Cittadini dadurch hervor, daß er zwar die Korruptionsthese Biondos aufgreift und sowohl von corruzzione des Lateinischen spricht als auch von ihrem Niedergang, dabei aber in erster Linie nicht die Germanen der Völkerwanderungszeit dafür verantwortlich macht, sondern sprachliche Veränderungen, die durch die Provinzialen herbeigeführt wurden. Die Hauptursache sieht er demgemäß in der Vergrößerung des römi‐ schen Reiches, in der Verleihung des Bürgerrechts an alle Einwohner und deren Zuzug nach Rom, so daß auch die einheimische Bevölkerung nach und nach das korrumpierte Latein übernahm. 973 Auch die römischen Legionen, die sich aus Soldaten aller Provinzen rekrutierten, hatten daran großen Anteil. Cittadini er‐ kennt demgemäß die Ursachen eines internen Sprachwandels, der u. a. auf der Verbreitung des Lateins beruhte und seinem Gebrauch durch zahlreiche non native speaker unterschiedlichster Provenienz. Dabei benennt er Änderungen, die wohl hauptsächlich auf Castelvetro beruhen (cf. Pistolesi 2000: 116), 974 wie die des Wortschatzes und die strukturelle Umgestaltung der Sprache, aber auch zahlreiche lautliche Merkmale (cf. Werner 1999: 354-355). Als Superstrate, denen er durchaus auch einen Anteil am Sprachwandel zumißt, wenn auch einen ge‐ ringen, nennt er die Sprache der Goten und Langobarden, Substrate führte er 603 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 975 Er nennt zwar diatopische Nachbarvarietäten des Lateinischen bzw. andere italische Idiome (v. supra), aber bespricht diese nicht explizit im Sinne einer beeinflussenden Sprache (d. h. im heutigen Verständnis eines Substrates). 976 Cf. dazu die Graphik von Ward (1990: 99) mit den einzelnen Phasen Prisca, Latina, Romana, Mista bis hin zum zeitgenössischen volgare. keine auf. 975 Für den weiteren Verlauf der Sprachgeschichte nennt er hingegen eine Reihe von Adstrateinflüssen wie den der Franken, Deutschen, Franzosen, Engländer und Spanier. Die Kontinuität der lateinischen Volkssprache bis zum zeitgenössischen vul‐ gare ist für Cittadini unbestritten, wobei das „Schicksal“ der lingua latina pura, also der Varietät der Gelehrten, nicht explizit weiter von ihm verfolgt wird (cf. Ward 1990: 99). Zum Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache äußert er sich auch noch einmal gegen Ende seines Traktates, als er die Bezeichnungsfrage des modernen vulgare bespricht (v. infra). Dort erläutert er, daß das zeitgenössische vulgare zum Lateinischen (la maggiore latina) in einem geschwisterlichen oder mütter‐ lichen Verhältnis (sua madre, o della su sorella) steht (cf. Cittadini, Tratt. XXIIII , 66r; 1983: 197). Linguistisch gesprochen beschreibt er damit zum einen die ge‐ netische Verwandtschaft im Sinne der Stammbaumtheorie (cf. madre) von Au‐ gust Schleicher (1821-1868) und andererseits die zeitgenössische Diglossie-Si‐ tuation zwischen dem Lateinischen als Schriftsprache der Humanisten und den mündlichen volksprachlichen Varietäten des Italienischen (cf. sorella). Die sprachliche Kontinuität von der Spätantike bis zum Mittelalter bzw. zur Renaissance beschreibt er insofern vollständig, als er keine Epoche im Dunkeln läßt und einen Übergang vom spätantik stark veränderten volkssprachlichen Latein bis zum Ausbauprozeß der italienischen Varietäten im Mittelalter findet, wie es auch bereits von Bembo teilweise beschrieben wurde. Die Epochen der lateinischen Sprachgeschichte übernimmt er wie vieles andere von Castelvetro, sie folgen dem isidorʼschen Schema und werden von Cittadini mit bestimmten modellhaften Autoren verknüpft. 976 Hervorzuheben ist schließlich sein intuitives Verständnis dessen, was modern als ,Vulgärlatein‘ bezeichnet wird, d. h. die Rekonstruktionsbasis der heutigen romanischen Sprachen, also auch des Italienischen. Cittadini kommt in seiner Analyse der einzelnen sprachlichen Merkmale diesem Konzept schon sehr nahe, zumal er mit den Inschriften und Relikten bei Autoren verschiedenster Epochen tatsächlich einige der wichtigsten Quellen ausmacht (v. supra: z. B. columna rostrata, Lieder der Salier, Zwölftafelgesetz, Sibyllinischen Bücher, konsulari‐ 604 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 977 Es ist nicht ganz sicher, ob er für all seine epigraphischen Quellen Studien vor Ort betrieb oder ob er bereits z. T. schriftliche Vorlagen hatte. In jedem Fall muß seine Zu‐ sammmenstellung als eine wichtige Grundlagenarbeit angesehen werden, die nicht umsonst Aufnahme in die von Lodovico Antonio Muratori (1672-1750) herausgege‐ benen Antiquitates Italicae Medii Aevi (1738) und in das 1847 (bzw. 1853) von Theodor Mommsen (1817-1903) initiierte Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) fand (cf. Ma‐ razzini 1989: 43-44). 978 Cittadini fand auch Aufnahme und Wirkungsstätte in der römischen Accademia degli Incitati (gegr. 1581 / 1586, aufgel. 1615) und legte sich dafür den Künstlernamen Infiam‐ mato zu (cf. Formichetti 1982: 72). 979 Nachmalig Cosimo II. (1590-1621, Ghz. ab 1609). sche Fasten, Varro, Quintilian, Aulus Gellius, Pompeius Festus, Velius Longus). 977 Vor allem beschreibt er relativ deutlich, daß es sich dabei nur um einige sprach‐ liche Merkmale handelt, es aber keine vollständig überlieferten Texte dieser Va‐ rietät gibt, da es sich hauptsächlich um eine mündliche Sprachform handelt. Hiermit erfaßt er deutlicher als seine Vorgänger Eckpfeiler dieses Konzeptes. Rekontextualisierung Die Rekontextualisierung Cittadinis in Bezug auf die im Vorliegenden behan‐ delte Debatte um die Antike soll entsprechend der hier angewendeten Methode mit einem kurzen Überblick zu seiner Biographie beginnen. Der Humanist Celso Cittadini (1553-1627) wurde in Rom geboren und ver‐ brachte dort auch seine Jugend, stammte aber aus einer adligen Familie aus Siena, zu deren Vorfahren der Dichter Cecco Angiolieri (ca. 1260-1312) zählt, ein Zeitgenosse Dantes. Cittadini widmete sich in seiner Heimatstadt vor allem philologischen Studien, d. h. in erster Linie der griechischen und lateinischen Sprache und Literatur, aber auch dem Hebräischen, erwarb jedoch privat zu‐ sätzlich einen juristischen Abschluß. Weiterführende Studien führten ihn dann nach Parma zu Ranuccio I. Farnese (1569-1622, Hz. ab 1592), nach Urbino an den Hof des Herzogs Francesco Maria II . delle Rovere (1549-1631, Hz. ab 1574) und nach Mailand zu dem Kardinal und Humanisten Federico Borromeo (1564-1631, Kard. ab 1588). Er kehrte für kurze Zeit nach Rom zurück, 978 ver‐ brachte die Folgejahre dann aber an weiteren Höfen Italiens bis er sich schließ‐ lich 1589 in Siena, der Heimat seiner Familie, niederließ. Im Jahre 1595 wurde er von den Medici zum Erzieher Cosimos, 979 des Sohnes des Großherzogs der Toscana Ferdinand I. (1549-1609, Ghz. ab 1587) berufen. Er schloß Bekannt‐ schaft mit den senesischen Gelehrten Belisario Bulgarini (1539-1619) und Sci‐ pione Bargagli (1540-1612), die ihn zu sprachtheoretischen Studien anregten. Aufgrund seines Ansehens und seiner Kompetenzen wurde er zum Leiter des senesischen Archivs auf Lebenszeit (perpetuo archivista) und auf den seit 1570 605 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 980 Hierbei handelt es sich um den ersten Lehrstuhl für italienische Sprache, der 1590 mit dem ersten Lehrstuhlinhaber Diomede Borghese vom Großherzog Ferdinand einge‐ richtet wurde. 981 Die Bibliothek Cittadinis muß umfangreich gewesen sein, wobei er nicht nur Sammler war, sondern eben auch zahlreiche Werke sein Eigen nannte, die er für seine Arbeit an seinen Schriften und zur universitären Lehre benötigte (cf. Grohovaz 2002: 709-711). Zu Einzelheiten bezüglich seiner Bibliothek cf. Franco Lilli (1970), zu seinem Unterricht cf. Maraschio / Poggi Salani (1991). 982 Zu weiteren Details der Vita Cittadinis cf. die ältere, eher kurze Biographie von Vannini (1920). 983 Siena war zwar nicht Cittadinis Geburtsstadt, aber die Herkunftsstadt seiner Familie und seine eigene spätere Wahlheimat, der er durch seine Ämter und sein Wirken eng verbunden war (v. supra). existierenden Lehrstuhl für toskanische Sprache der Universität Siena (cattedra di lingua toscana) in der Nachfolge von Diomede Borghese (1539-1598) berufen (1598). 980 Die Lehrtätigkeit übte er bis zu seinem Tod (1627) aus und entfaltete außerdem weitere kulturelle Aktivitäten, wie die Anlagen einer umfangreichen Privatbibliothek, 981 die heute jedoch verloren ist. 982 Cittadinis Œuvre spiegelt seine Tätigkeit als Dichter und Philologe wider. So seien hier seine Rime Platoniche (1585) genannt, seine Gedichte in den Sonetti di diversi accademici sanesi (1608), seine literaturkritischen Kommentare L’esposi‐ tione del M.ro Egidio Colonna Romano […] sopra la canzone d’amore di Guido Cavalcanti (1602) und Partenodoxa o vero Exposition della Canzone del Petrarca alla Vergine Madre di Dio (1604), seine Vorlesungen Tre orazioni (1603) sowie seine sprachtheoretischen Schriften Della degnità del lenguaggio humano (1598), Della preminentia della lingua toscana fra l’altre tutte, che hoggi si parlano e scri‐ vono (1600), In laude della lingua toscana (1602), Trattato della vera origine, e del processo, e nome della nostra lingua (1601) mit dem anhängenden Trattato degli articoli e di alcune particelle della volgar lingua (1601), Le origine della volgar toscana favella (1604) und dem erst postum publizierten Trattato degl’idiomi tos‐ cani (1721) (cf. Formichetti 1982: 71-75; Foà 2008: 591-592). Im Folgenden sei nun zunächst Cittadini im Rahmen der questione della lingua, der über allem schwebenden Sprachenfrage nach der adäquaten Schrift- und Literatursprache Italiens, auf seine Position hin verortet. Grundsätzlich vo‐ tiert Cittadini für das Toskanische in seiner zeitgenössischen Form als künftige italienische Standardsprache, wobei er hier einen Ansatz vertritt, der prinzipiell alle Städte bzw. Teilregionen miteinbezieht, allerdings mit leichter Präferenz für das Senesische, die Varietät seiner Heimatstadt. 983 Trotz der Ablehnung eines „primato linguistico fiorentino“ (Vitale 1992: 164) erkennt Cittadini die schriftstellerischen Leistungen im Idiom dieser Stadt an und spricht dem fiorentino ein „primato letterario“ (ibid.) zu. Seine Grundhaltung 606 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 984 Auch Bargaglis maßgebliches Traktat in dieser Debatte enthält den Zusatz Senesisch; cf. Il Turmino ovvero del parlare e dello scrivere sanese (1602). Die sprachtheoretischen Werke Lombardellis, die ebenfalls das Senesische propagieren, tragen jedoch diesen Zusatz nicht; cf. Dei punti e degli accenti (1566), Della pronunzia toscana (1568), L’arte del puntar glie scritti (1585), La difesa del zeta (1586) (cf Michel 2005: 363). Die Stadt Siena war seit 1559 (Annexion) bzw. 1569 (Titelverleihung) (cf. dazu auch Kap. 6. 2. 13) Teil des Großherzogtums Toskana, d. h. politisch von Florenz abhängig, es blieb dennoch eine lebendige und eigenständige Kultur erhalten. Insofern verwundert es nicht, wenn senesische Autoren ihr sprachliches Selbstbewußtsein nach außen trugen. Dazu sei zudem auf Girolamo Gigli (1660-1722) verwiesen, der Cittadinis bis dato unpublizierte Werk Trattato degl’idiomi toscani (1721) herausgab und selbst mit dem Vocabolario ca‐ teriniano (1717) Stellung bezog (cf. Marazzini 2013: 110-111). Zur scuola senese im Rahmen der Sprachenfrage cf. auch Vitale (1992). bleibt jedoch ein allgemeiner toscanismo unter Ausschluß der Sprache der un‐ teren Volksschichten (cf. ibid.: 164-165). Vitale (1984: 107) spricht von einer „so‐ luzione latamente toscana e letterariamente sovramunicipale“. Seine Präferenz für das Senesische im Rahmen seines toscanismo läßt sich u. a. auch an dem erweiterten Titel seines Trattato erkennen, der den Zusatz scritto in vulgar Senese beinhaltet. Cittadini ist damit zwar kein harter Verfechter der senesischen Position wie beispielsweise Orazio Lombardelli (1542-1608) oder Scipione Bargagli (1540-1612), 984 dennoch steht er in deutlichem Gegensatz zu denjenigen, die in der Nachfolge Bembos das Primat des Florentinischen ver‐ treten (cf. Vitale 1984: 106-107). Die Ablehnung betrifft nicht nur die Verfechter des archaisierenden bembianischen Modells, sondern auch Vertreter eines le‐ bendigen Florentinischen (cf. uso vivo), wie beispielsweise Benedetto Varchi (1503-1565), der wie Pietro Bembo (1470-1547), Claudio Tolomei (1492-1556) und Lodovico Castelvetro (1505-1571) ebenfalls eine wichtige Inspirations‐ quelle Cittadinis darstellt (v. infra). Während Varchi die gesprochene Sprache in sein Konzept der Norm miteinbezieht, bleibt Cittadini in dieser Hinsicht re‐ serviert und tendiert mehr zu einer strikteren Separierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (cf. Grohovaz 2002: 712). Er bezieht außerdem Stellung in der Frage nach der adäquaten Benennung der überregional zu verwendenden künftigen Normsprache Italiens bzw. des Italienischen an sich. Dabei lehnt er die Bezeichnung lingua fiorentina ab, und zwar mit der Begründung die jeweiligen Sprachen der maßgeblichen Autoren Dante, Petrarca und Boccaccio würden sich zu stark voneinander unterscheiden, insbesondere Boccaccio würde zudem eine starke innere Differenzierung auf‐ weisen, was einer einheitlichen Bezeichnung widerspreche. Aber auch lingua toscana ist für Cittadini keine Option, da selbst bei den tre corone Varianten aus anderen Varietäten als dem Toskanischen vorkämen, außerdem somit auch an‐ dere Autoren und Werke, die ebenfalls in einer italienischen Volkssprache ver‐ 607 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 985 „Onde si può con molta ragione concludere, che ella non debba esser chiamata ne Ita‐ liana, ne assolutamente Toscana, ne Cortigiana, ne Fiorentina, ma si ben vulgare, come horʼhora c’ingegnarem meglio di far con larghe prove, e veraci apertamente appa‐ rire […]“ (Cittadini, Tratt. XXIIII, 60r; 1983: 185). Die weitere Diskussion handelt er dann im Folgenden ausführlich ab (cf Cittadini, Tratt. XXIIII, 60r-66r; 185-197). 986 Ausgenommen seien hier in gewisser Weise die Texte der beiden Initiatoren der Debatte, Leonardo Bruni und Flavio Biondo, allerdings auch mit Einschränkungen, insofern sich die betreffenden Brieftraktate zwar vornehmlich mit der antiken Sprachenfrage be‐ schäftigen, also ein genuinen Interesse kaum abzustreiten ist, allerdings ihre Positio‐ nierung in der Streitfrage zum adäquaten Gebrauch von Volkssprache und Latein massiv durchscheint (cf. Kap. 6.2.3). 987 In Bezug auf seine anderen Traktate ist ebenfalls ein genuines sprachtheoretisches In‐ teresse zu erkennen, dennoch sind jene deutlicher in der questione della lingua verortet (cf. Schlemmer 1983b: 10). 988 Die Kompilation der einzelnen Positionen in der bisherigen Debatte ist allerdings bei Benedetto Varchi noch klarer und umfangreicher herausgearbeitet (cf. Kap. 6. 2. 15). faßt seien, keine Berücksichtigung fänden. Den Ausdruck lingua cortigiana sieht er ebensowenig als akzeptabel an, mit einer ähnlichen Begründung von man‐ gelnder Einheitlichkeit und Variationsbreite. Die Namensgebung lingua italiana wäre hingegen ambig, da sie auch auf das Lateinische angewandt werden könne. Für ihn kann die adäquate Bezeichnung letztlich nur lingua vulgare sein, da die Sprache sich von der antiken Volkssprache mit eben jener Bezeichnung ableite, d. h. von der lingua latina vulgare (cf. Ward 1990: 107-108; Michel 2005: 367). 985 Prinzipiell bemerkenswert in vorliegendem Untersuchungskontext ist, daß bei Cittadini - zumindest in seinem Trattato della vera origine - im Gegensatz zu fast allen anderen Protagonisten der Debatte 986 das historische Interesse im Vordergrund steht. Es ist hier ausnahmsweise nicht der Fall, daß die Betrach‐ tungen zur Sprachhistorie als Vehikel für eine Positionierung des Autors in der zeitgenössischen questione della lingua bzw. in der Frage ,Vulgärhumanismus vs. Lateinhumanismus‘ dienen, sondern au contraire, die Stellungnahme zu Fragen der questione erscheint im eher sekundär. 987 Cittadinis Untersuchung zeichnet sich dadurch aus, daß er einen breiten Überblick zu verschiedenen As‐ pekten der Diskussion bietet 988 und vor allem umfassendes Belegmaterial aus Epigraphik und Texten antiker Autoren zusammenträgt. Die Verankerung Cittadinis in der Debatte um die antike Sprachkonstellation, seine Vorbilder und Referenzen, die meist auch namentlich Erwähnung finden - was zu jener Zeit nicht unbedingt selbstverständlich war -, lösten in der wis‐ senschaftlichen Forschung eine Diskussion um die Eigenständigkeit seiner Schrift(en) aus. Vor dem Hintergrund eines rinascimentalen Umgangs mit Quellen, der eben nicht heutigen wissenschaftlichen Gepflogenheiten ent‐ sprach, ist dem von modernen Forschern einst erhobene Vorwurf des Plagiats 608 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 989 Zum Vorwurf des Plagiats und seines umstrittene Position als Vorläufer der romanis‐ tischen Sprachwissenschaft cf. Schlemmer (1983b: 12-17) und Eskhult (2018: 194-195) sowie infra. mit entsprechender Skepsis zu begegnen. Cittadini hat zweifellos zahlreiche Aspekte und mitunter auch ganze Passagen seines Trattato von seinen wich‐ tigsten Gewährsmännern Claudio Tolomei und Ludovico Castelvetro über‐ nommen, seine insgesamt jedoch bemerkenswerte Erkenntnisleistung in Bezug auf seine sprachtheoretischen Analysen sollte deshalb nicht geschmälert werden. 989 So läßt sich eine intensive Beschäftigung Cittadinis mit Castelvetro beispiels‐ weise daran erkennen, daß ein Exemplar der Giunta mit seinen handschriftli‐ chen Anmerkungen erhalten ist (Vat. Stamp. Chig. IV . 4484), so wie außerdem ein Exemplar der Prose Bembos, ebenfalls mit Cittadinis Kommentaren (cf. Gro‐ hovaz 2002: 710-711). Ausgehend u. a. von Sensi (1893: 441-447) wurde Cittadini unterstellt, für sein Traktat Le origine della volgar toscana favella (1604), in welchem er die Variati‐ onsbreite des Toskanischen und seine Ursprünge diskutiert, unveröffentlichte Schriften Tolomeis kompiliert zu haben, und zwar in einer Art und Weise, die zu einer methodisch schwachen und unausgewogenen Darstellung führte. Il libro delle Origine, a cui il Cittadini diede il suo nome, consta di una parte di queste dissertazioni del Tolomei, che vi passarono tali e quali erano, salvo alcune lievi mo‐ dificazioni di forma, o accorti tagli delle citazioni che il Tolomei vi faceva di altre sue opere, o lievissime aggiunte. (Sensi 1893: 446) Dieser Vorwurf, der sich womöglich auch ein wenig daran orientiert, daß Cit‐ tadini, zeitgenössisch betrachtet, als Epigone des weitaus berühmteren Tolomei wahrgenommen wurde, erstreckt sich mutatis mutandis auch auf das gesamte sprachtheoretische Œuvre Cittadinis, d. h. auch auf den hier analysierten Trat‐ tato, wenn auch weniger heftig (cf. Schlemmer 1983b: 17), wie auch Trabalza (1963) durchblicken läßt. Il Cittadini, dai sommi altari della filologia a cui era stato elevato tra i profumi dell’ incenso e il coro dell lodi, è caduto ignominiosamente a terra: e oggi non se pronunzia il nome, senza chiamarlo grande depredatore del Tolomei, malo affastellatore di scritti non suoi, e con epiteti consimili, ma cancellarlo dalla storia non si può. (Trabalza 1963: 283-284) Diese Ansicht wird später revidiert, unter anderem von Vivaldi (1925: 149-151), der zwar konzediert, daß Cittadini in Bezug auf die Origini Tolomei viel ver‐ 609 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 990 „Prima di tutto, il trattato dell’origini della toscana favella del Cittadini a me sembra più ordinato e più preciso dell’informe manoscritto del Tolomei“ (Vivaldi 1925: 150). 991 Zu einer umfangreicheren Übersicht dieser Forschungsdiskussion zur Autonomie von Cittadinis Schriften cf. Schlemmer (1983b: 12-17); zu einer Würdigung Cittadinis fra tradizione e modernità cf. Schöntag (2016: 25-27). dankt, ihm aber sowohl größere Präzision in der Abhandlung als auch Eigen‐ ständigkeit bescheinigt. 990 Cittadini selbst erweist Tolomei seine Referenz als sovranissimo maestro, in einem Passus, in dem er seine zahlreichen Quellen auflistet, was philologisch zu jener Zeit durchaus bemerkenswert ist: Quindi di è, che non volendo io, per fuggir riprensiò, tacer gli Autori, che in questa mia Operetta mi hanno prestato aiuto a condurla a complimento, valendomi io dell‐ ’opere loro, ho deliberato di far memoria d’essi almeno de’ più principali, i quali sono nella Lingua greca, Platone, Luciano, e Giovanni Grammatico: nella Latina Lucilio, Varrone, Verrio Flacco, Festo, Aulo Gellio, e Prisciano. nella nostra il Bembo, il To‐ lomeo, il Castelvetro, il Corbinello, eʼl Mutio, daʼ quali (e sopra tutti da Monsignor Tolomei, che in ciò m’è stato spetialissimo, e sovranissimo maestro) io ho raccolto la maggior parte di quello, che ho detto, e per lo più impiegato mi sono nel ridurre l’opera mia sotto determinati capi, e nel rintracciar l’autorità de gli Scrittori per valermene a provare i miei detti, ed in alcuna altra speculatione anchora intorno a ciò, di non lieve fatiga certo, e non piccola. (Cittadini, Orig. XII; 1604: 186). Werner (1999: 362) weist mit Recht darauf hin, daß allein durch die Angabe der Quellen der Plagiatsvorwurf obsolet ist. Eine vollständige Rehabilitierung erfährt Cittadini dann von Faithfull (1962: 243-255), der den Plagiatsvorwurf dezidiert zurückweist, in Bezug auf den Trattato jedoch, dabei insbesondere den Sprachursprung des volgare betreffend, zahlreiche Übereinstimmungen zu Castelvetro ausmacht (cf. auch Pistolesi 2000: 115). 991 Ausführlich arbeitet diese Konkordanzen zwischen den beiden Autoren Melzi (1966: 159-173) heraus, der Cittadini wiederum nur als „interpreter“ von Cas‐ telvetro sieht (ibid. 162). Tatsächlich sind einige der Ähnlichkeiten kaum von der Hand zu weisen: Das betrifft u. a. die Übernahme der Idee, daß der Ursprung der lingua vulgare bereits vor der Völkerwanderung anzusetzen sei, die Distri‐ bution der Sprecher dieser Varietät, was nicht nur die unteren Schichten, son‐ dern auch die Landbevölkerung umfaßt hätte, die Unterscheidung von Wort‐ wurzeln, die unverändert blieben, und Endungen (passioni) sowie die Kontinuität der Sprachentwicklung auch nach dem Untergang des römischen 610 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 992 Andere angebliche Übereinstimmungen, die Melzi anführt, wie beispielsweise, daß Cit‐ tadini die Idee von der lateinischen Volkssprache als Ursprung der romanischen Spra‐ chen (Italienisch, Französisch, Spanisch) übernommen hätte (cf. Melzi 1966: 169), sind mit Vorsicht zu betrachten, da dies ja auch von zahlreichen anderen Autoren der Debatte bereits angeführt wurde, wie überhaupt zahlreiche Elemente bei Cittadini genauso wie bei Castelvetro eine längere Tradition haben, wie die bisherigen Kapitel vorliegender Arbeit bereits gezeigt haben (cf. dazu auch infra). Reiches, die erst geendet hätte, als man begann, in der Volkssprache zu schreiben bzw. gehobene Literatur zu produzieren (cf. Melzi 1966: 164-169). 992 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß es durchaus auch wesentliche Un‐ terschiede gibt wie die Tatsache, daß Cittadini weniger stark auf das Konzept der corruptio baut (auch nicht auf generatio wie Bembo oder Tolomei), sondern eher auf die alteratio (Castelvetro folgend) (cf. Pistolesi 2000: 116), aber vor allem die von Beginn an gegebene Sprachentwicklung in ihrer Kontinuität sehr viel deutlich herauspräpariert. Gerade auch die massive Ablehnung der „Barbaren‐ these“ als wesentliche Ursache für die Veränderung des Lateinischen ist ein Spezifikum Cittadinis, genauso wie das Bemühen um ein umfangreiches Beleg‐ material, vorzugsweise aus epigraphischen Quellen. Pistolesi (2000) faßt die In‐ novation Cittadinis schließlich als drei Säulen zusammen: Anticipando quanto vedremo in modo più articolato, direi che sono tre i presupposti di questo risultato: l’interpretazione innovativa delle fonti e delle autorità; l’affinarsi del metodo filologico e, infine, l’elaborazione di un impianto teorico fondato sull’idea dell’intrinseca variabilità del linguaggio. (Pistolesi 2000: 113) Der zweite wissenschaftliche Streitpunkt, neben der Diskussion um die Au‐ thentizität und Originalität, um die Schriften Cittadinis ist die Frage, ob ihm die Urheberschaft des Begriffes bzw. Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zugesprochen werden kann. Eskhult (2018: 194-195) liefert dazu eine wertvolle Übersicht mit den Präferenzen der einschlägigen Wissenschaftsliteratur für gewisse Huma‐ nisten, die die entscheidenden Merkmale erkannt hätten. Eine deutliche Positi‐ onierung für Castelvetro nimmt beispielsweise Melzi (1966) ein: This tendency on the part of Cittadini to quote passages from other authors and even at times to appropriate their ideas, is of major importance in asserting that Castelvetro and not Cittadini is responsible for the theory of the origin of Vulgar Latin. (Melzi 1966: 163) Ein Statement für Cittadini als Vorläufer moderner Sprachwissenschaft und als Ersten, der Sprachwandel vom (Vulgär-)Lateinischen zum Italienischen erkannt hat, liefert hingegen Vivaldi (1925): 611 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 993 Cf. dazu die Auswahl an Definitionen bei Kiesler (2006: 8-13) sowie Kap. 4 vorliegender Arbeit. Sopratutto il Cittadini è lodatissimo ed è chiamato precursore della glottologia mo‐ derna per avere chiaro il concetto della lenta trasformazione dei linguaggi e per avere escluso le cause esterne, come il sopravvenire dei popoli del settentrione, nella for‐ mazione della nostra lingua: la nostra lingua è lo stesso latino trasformato per cause interiori. (Vivaldi 1925: 151) Ähnlich sieht dies auch Viscardi (1955), der zusätzlich noch die französischen Vorarbeiten miteinbezieht: Ma la più realistica visione della latinità dei volgari romanzi è data dalle opere, ri‐ spettivamente in Francia e in Italia, di Henri Estienne e Celso Cittadini e specialmente dallʼopera di quest’ultimo, nella quale si preannuncia la soluzione che del problema delle origini romanze darà la linguistica scientifica dell’Ottocento. (Viscardi 1955: 42) In einer etwas aktuelleren Studie fast dies Ward knapp zusammen, indem er Cittadini bescheinigt „anticipating the discoveries of later historical linguistics“ (Ward 1990: 97) und Marazzini (1994: 17) sieht „[u]na svolata decisiva negli studi sull’origine dell’italiano“ durch die Arbeit von Cittadini. Die Bandbreite derjenigen, die als Vorläufer der romanistischen Sprachwis‐ senschaft angesehen werden reicht, wie Eskhult (2018: 194-195) aufzeigt, von Dante Alighieri (1265-1321) über Leonardo Bruni (1370-1444), Flavio Biondo (1392-1463), Claudio Tolomei (1492-1556), Lodovico Castelvetro (1505-1571) und Celso Cittadini (1553-1627) bis hin zu Pierre-Nicolas Bonamy (1694-1770), mitunter werden auch als vage Zuordnung mehrere Autoren oder Jahrhunderte angeführt. Abgesehen von der Tatsache, daß auch in der aktuellen Forschung das Konzept ‚Vulgärlatein‘ nach wie vor hoch umstritten ist und zahlreiche De‐ finitionen existieren, die zum Teil erheblich voneinander abweichen und kaum einen Minimalkonsensus möglich machen, 993 was die Frage nach einem Vor‐ läufer entsprechend schwierig gestaltet, sei hier die Kontinuität des Prozesses betont, die dazu führt, daß bei Cittadini schließlich so viele Aspekte zusam‐ menkommen, daß man zumindest von einer relativ klaren Konzeption sprechen kann, die dem heutigen Begriff soweit nahekommt, daß hier von einem diesbe‐ züglich eindeutigen sprachwissenschaftlichen Vorläufer gesprochen werden kann. Es sei somit klargestellt, daß Cittadini einen Kulminationspunkt eines begrifflichen Entwicklungsprozesses darstellt, der selbstredend nicht ohne die ideengeschichtlichen Schultern auf denen er steht, denkbar ist, und das sind nicht nur Castelvetro und Tolomei, sondern in letzter Konsequenz alle, seit Er‐ öffnung der Diskussion durch Biondo und Bruni, wobei sicherlich auch Dante 612 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 994 Cittadini selbst rekurriert explizit auf die in diesem Kontext so wichtige Schrift Dantes De vulgari eloquentia, die ja zu Beginn der Debatte bis zur Wiederentdeckung Trissinos (1529) so gut wie unbekannt war. 995 Speziell zur Entstehungsgeschichte des Artikels bei Cittadini und bei Scipione Maffei (1675-1755), einer der Gelehrten, die die Beschäftigung mit dem Vulgärlatein fort‐ setzten, cf. Geymonat (2016). als Bindeglied zwischen mittelalterlicher traditio und rinascimentalem Auf‐ bruch eine gewichtige Rolle spielt. 994 Hiermit sind in gewisser Weise beide wissenschaftlichen Streitfragen (v. supra) obsolet, denn es steht einerseits außer Zweifel, daß Cittadini viel von seinen Vorgängern übernommen hat, wobei jedoch zu betonen ist, daß es sich dabei nicht nur um Tolomei und Castelvetro handelt, sondern, daß er auch auf ein bekanntes Arsenal an Topoi und Argumenten der gesamten Debatte zu‐ rückgreift. Die Rezeption des Traditionsstranges wiederum führt ihn anderer‐ seits dann zu seiner spezifischen Darstellung der Sprachverhältnisse der Antike und des Sprachwandels vom Lateinischen zum Italienischen und seinen Varie‐ täten. Cittadini ist zweifellos ein guter Synthetiker (cf. Melzi 1966: 162), der je‐ doch durchaus eigene Ideen zur Debatte beisteuert (cf. z. B. due sorte, systema‐ tische Aufarbeitung der Inschriftenquellen und Autoren, Betonung des internen Sprachwandels, begriffliche Differenzierung). Was ihm letztlich noch fehlt - und darin unterscheidet er sich von der modernen Sprachwissenschaft ab dem 19. Jh. - sind die entsprechenden Regularitäten und eine Systematik (cf. Werner 1999: 355; Lüdtke 2011: 17), denn so manche Abweichungen zwischen klassi‐ schem Latein und Vulgärlatein oder italienischer Volkssprache sind gemäß dem heutigen Stand nicht korrekt. Es bleibt aber, ihm eine grundsätzlich gute Intuition für sprachliche Abläufe und Phänomene (insbesondere Lautentwicklungen, z. B. offenes vs. geschlos‐ senes e, o) zu bescheinigen (cf. Lüdtke 2001: 17). Eine Zusammenstellung einiger Lautentwicklung und morphologischer Veränderungen von Cittadini sind bei Ward (1990: 106) zu finden: z. B. Synkope (quomodo > como), Konsonantennexus (domna > donna), Verlust des Auslautkonsonanten (habeas / habeat > abea), Vo‐ kalveränderungen (cum > con, quaero > chero) sowie die Entstehung der volks‐ sprachlichen Pronomen und Artikel (illorum > loro, ista notte > stanotte, hoc istud > cotesto). 995 Inwieweit er Traditionsstränge der Debatte um die antike Sprachkonstella‐ tion fortführt und eigene Interpretationen darin verwebt, zeigt sich, wie gesagt, auf vielfältige Art und Weise. Dazu sei beispielsweise auf sein Modell des Sprachwandels verwiesen. Die unterschiedlichen Phasen des Lateinischen (Prisca, Latina, Romana, Mista) gehen auf Isidor von Sevilla (7. Jh.) und seine 613 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 996 V. supra die entsprechenden Passagen bei beiden Autoren und ihre Übereinstim‐ mungen. Etymologiae zurück (v. supra), finden sich aber auch bereits in Ansätzen bei Guarino Veronese (1374-1460), Lodrisio Crivelli (ca. 1412-1465 / 1488) oder bei Baldassare Castiglione (1478-1529). Es ist aber Cittadini, der das Modell präzi‐ siert, mit einer Anzahl von antiken Autoren und schließlich weiteren Beleg‐ quellen (Inschriften) vervollständigt und validiert. Cittadini geht dabei in bester philologischer Manier vor: er stellt seine Quellen, die Inschriften, so originalgetreu wie möglich dar - er versucht sogar die Anordnung der Zeilen und die Größenverhältnisse möglichst genau im Druckbild wiederzugeben. - In einem zweiten Schritt analysiert er dann den sprachlichen Befund, indem er die aufgedeckte vulgaris-Form der klassischen Ausprägung der lingua latina pura und dem eigenen volgare gegenüberstellt. Dabei stellt er immer wieder bei den sog. Kor‐ ruptelen der Inschrift fest, daß diesem dem eigenen volgare wesentlich näher stehen als dem explizit kodifizierten klassischen Latein. (Werner (1999: 354) Als Abweichungstypen, die die lingua latina pura und die lingua latina vulgaris voneinander unterscheiden listet Werner (1999: 354-355) folgende Merkmale auf: • phonetische Ebene: Doppelung der Langvokale, Diphthonge, Gemination oder Nicht-Gemination von Plosiven (intervokalisch), Alternation der Endung -it und -et bei der 3. Pers. Sg. Ind. Präs. (in der lingua vulgaris) • morphologische Ebene: z. B. tu illud amasti > tu lo amasti / tu l’amasti; hic iste > chisto / questo; scribet > scribe > scive (lingua pura > lingua vulgaris) • lexikalische Ebene: Bedeutungsverschiedenheiten z. B. der Gebrauch von mortalis in der Bedeutung von capitalis (in der lingua pura), Gebrauch von parentes anstatt von cognati oder affines (in der lingua vulgaris) Die Kontinuität nach den genannten Phasen (Prisca, Latina, Romana, Mista) bis hin zum zeitgenössischen volgare und seinem Ausbau mag am ehesten von Cas‐ telvetro inspiriert sein, 996 der dies ebenfalls betont, der aber dabei auch auf Vor‐ läufer wie Bembo oder Tolomei zurückgreifen kann, doch Cittadini ist derjenige, der auch hier am konsequentesten Quellen anführt, die diesen Prozeß belegen (z. B. Konzil v. Tours, cf. Cittadini, Tratt. XIX , 45 r; Friedrich I. Barbarossa, cf. ibid. XXI , 53v). Was den Ursprung der romanischen Sprachen in der lateinischen Volkssprache anbelangt, so verweist hierauf bereits recht deutlich Poggio Brac‐ ciolini (1380-1459) in seiner Stellungnahme. In Bezug auf die Variationsbreite des antiken Lateins ist hingegen am ehesten auf Flavio Biondo (1392-1463) zu 614 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 997 Hier fügt sich Cittadini nahtlos in eine lange Reihe von Protagonisten in der Debatte ein, die ähnliche Charakterisierungen aufweisen (cf. vorherige Kap. passim). 998 Zur weiteren jedoch weniger intensiven Rezeption von manchen Teilaspekten des Dis‐ kurses im 17. Jh. cf. Vivaldi (1925: 153-164); zur Rezeption des Begriffes ‚Vulgärlatein‘ in Italien und Frankreich, auch im Übergang zur Etablierung einer Sprachwissenschaft in sensu strictu, cf. Eskhult (im Druck). Cf. dazu auch die Einschätzung von Faithfull (1962: 253): „La maggior parte dei filologi volgari sembra, dopo il Cittadini, avere scarso rilievo.“ Eine ähnliche Einschätzung findet sich bereits bei Ettmayer (1916: 233): „In Ita‐ lien entfesselte gerade der Ercolano eine lebhafte Polemik, in welcher scharfe kritische Geister wie Lod. Castelvetro (Contra il Varchi 1572) und Girol. Muzio (Battaglia per la difesa del l’italica lingua 1584) wichtige Gedanken äußerten, die zu einem vorläufig recht einsichtigen Abschluß in Celso Cittadinis Trattato della vera origine e del pro‐ cesso, e nome della nostra lingua (1601) und L’origine della toscana favella (1604) führten. Sachliche Forschung, wie die Cittadinis, der auf epigraphischem Material eine Geschichte des Lateins aufbauen möchte, der bereits die richtige Herkunft des roman‐ ischen Artikels und annährend die vulgärlateinische Entwicklung der Demonstrativa ahnt […] wurde damals nicht allzu häufig der Publikation gewürdigt.“ verweisen, denn seine Differenzierung mit Hilfe der antiken Rhetorik wurde in den Folgezeit kaum wieder erreicht und erst Cittadini unterscheidet deutlich mehr als nur zwei diasystematische Arten. Die Herausstellung von due sorte di lingua bzw. due maniere - beschrieben als lingua del volgo und damit rozza und mezzo barbara vs. puro latino bzw. einfach latino mit der Eigenschaft coltivata dall’arte (cf. Pistolesi 2000: 118 und v. supra) 997 - inklusive weiterer als graduelle Abstufungen (cf. mezzolatine, mezzovulgari) zu fassende Präzisierungen, ge‐ nauso wie die vehemente Ablehnung eines Superstrateinflusses als primäre Ur‐ sache des Sprachwandels sind klare Merkmale der Eigenständigkeit der Ge‐ samtkonzeption Cittadinis. Die Rezeption seiner Ideen setzt sich durchaus fort, aber die seit 1435 leben‐ dige Debatte erreicht mit ihm seinen Kulminationspunkt und gleichsam auch ihr Ende. 998 Erst mit dem Einsetzen der modernen Sprachbetrachtung zu Beginn des 19. Jhs. ergeben sich durch die Konstituierung als eigene Wissenschaftsdis‐ ziplin mit entsprechender Methodik, Systematik und Empirie neue Erkenntnisse und machen die Forschungen Cittadinis und seiner Zeitgenossen zu deren Vor‐ läufern und Wegbereitern. Synthese Betrachtet man nun zusammenfassend den Beitrag Cittadinis in dieser Diskus‐ sion um die antike Sprachkonstellation, so ist zunächst einmal das genuin Phi‐ lologische an seiner Arbeitsweise hervorzuheben. Er betreibt, wie kein anderer, Quellenstudium und versucht mit dieser empirischen Grundlage seine Thesen zu untermauern. Dabei rekurriert er nicht nur auf zahlreiche antike Autoren, 615 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 999 Das Besondere hier ist auch sein Versuch, dies begrifflich deutlich zu machen, indem er eben nicht wie andere Protagonisten von zwei ‚Sprachen‘ bzw. ,Idiomen’ spricht, sondern von zwei ‚Arten‘ der Sprache. sondern auch auf epigraphische Zeugnisse, was bis dahin kaum in Betracht ge‐ zogen wurde. Unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Gepflogenheiten geht er dabei vor allem mit seinen Primärquellen sehr sorgsam um, aber auch seine Sekundärliteratur, d. h. seine humanistischen Vorgänger, erwähnt er durchaus, so daß der Vorwurf des Plagiats einiger moderner Forscher, trotz si‐ cherlich zahlreicher Parallelen, obsolet erscheint. Cittadini sticht auch heraus, weil er sich äußerst intensiv mit sprachtheoretischen Fragestellungen jeglicher Art beschäftigt, was sich in zahlreichen Schriften zu diesem Thema nieder‐ schlägt und in dem Umfang keineswegs für alle Protagonisten dieser Debatte zutrifft. Sein Verdienst ist es sicherlich, in dieser Debatte durch Synthese der wich‐ tigsten Ideen seiner Vorgänger - nicht nur seiner unmittelbaren wie Varchi, Tolomei und Castelvetro, sondern der gesamten traditio - sowie dezidiert eigene Innovationen oder Präzisierungen und durch seine Methode in einigen Punkten der modernen, d. h. sprachwissenschaftlichen Forschung im engen Sinne, den Weg bereitet zu haben. Dazu gehört die nun endgültige nicht mehr bestrittene Etablierung einer lingua latina antica del vulgo als Grundlage der romanischen Volkssprachen (d. h. Italienisch, Spanisch, Französisch). Dafür verantwortlich macht er im Gegensatz zur Mehrzahl der bisherigen Humanisten nicht primär den Einfluß der „Barbaren“, sondern die interne Entwicklung der Sprache auf lexikalischer, morphologischer und lautlicher Ebene. Der Beginn des Sprach‐ wandels bzw. die Phänomene der antiken Volkssprache werden dabei bis auf die römische Frühzeit (cf. Prisca) zurückgeführt, doch durch die ampliatione dell’ Imperio ergab sich dann ein größerer ein Schub der Veränderungen, insbeson‐ dere in der späten Kaiserzeit, bedingt u. a. durch fremdsprachliche Einflüsse bzw. L2-Lerner des Lateinischen und den Niedergang des Schulwesens. Das Latein der Antike erfaßt Cittadini als im Wesentlichen zwei hauptsächlich diastratische Varietäten (due sorte), 999 mit weiterer Subdifferenzierung in Form von graduellen Übergängen (cf. mezzolatine, mezzobarbare). Er spart auch nicht die weitere Entwicklung der Sprache bis auf seine Zeit aus und schildert Phänomene der Verschriftlichung und des Ausbaus der italienischen Volksprache(n) (v. supra: zunehmende Literatur im volgare, d. h. belletrsitsiche Prosa, Lyrik und Wissen‐ schaftsliteratur sowie stilistische Verfeinerung, Selektion von Autoren). Bei der in der aktuellsten sprachwissenschaftlichen Forschung doch relativ positiven Bewertung Cittadinis im Hinblick auf seinen Status als Vorläufer der Romanistik und Wegbereiter des Begriffes ‚Vulgärlatein‘ darf jedoch nicht ver‐ 616 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1000 Er erwähnt zwar „i popoli della Sabina, e del Latio“ (Cittadini, Tratt. XX, 50r; 1983: 165), aber nicht explizit im Sinne eines als Substrat zu verstehenden Einflusses (v. auch supra). 1001 Zumindest bleibt Cittadini diesbezüglich unklar, da er einerseits den Einfluß massiv ablehnt, andererseits durchaus an wenigen Stellen für Italien und sein volgare die Goten und Langobarden (Superstrate) sowie die Franken (Superstrat / Adstrat) und die Spanier, Deutschen oder Franzosen (Adstrate) mit ihrem Beitrag zur sprachlichen Veränderung anführt (v. supra). Er scheint hier zerrissen zu sein zwischen seiner Entdeckung einer sehr frühen Sichtbarkeit des Vulgärlateins lange vor der Völkerwanderung und den nicht zu leugnenden späteren Interferenzen auf den Sprachwandel des Italienischen durch jene Völker. 1002 Methodisch wird in der Aufarbeitung zwar immer noch die Zweiteilung von moderner linguistischer Perspektive und Rekontextualisierung verfolgt, was aber wie im analogen Kapitel 6.2.9 aus Gründen eines synthetischen Überblicks zu den jeweiligen Humani‐ gessen werden, daß er zum einen am vorläufigen Ende einer langen Debatte mit zahlreichen Humanisten des 15. und 16. Jhs. steht, deren Argumente und Topoi er zu großen Teilen aufgreift, und zum anderen, daß es durchaus Aspekte gibt, die er vernachlässigt bzw. die bei anderen ausführlicher zur Sprache kommen. So unterschlägt Cittadini beispielsweise weitgehend Substrateinfluß, 1000 auch die Vielfalt der ja durchaus existierenden Superstrateinflüsse in der Romania, die er ja nur indirekt gelten läßt, sind bei ihm kaum präsent, 1001 etwas unklar bleiben ebenfalls die Entwicklung des antiken Schriftlateins bis in die neuere Zeit sowie die Entstehung weiterer romanischer Sprachen wie das in der Debatte bereits aufgeführte Rumänische (z. B. Poggio). Dies soll seine Leistung deshalb nicht schmälern, aber ins Bewußtsein rücken, daß andere hier vorgestellte Hu‐ manisten durchaus auch wichtige Einsichten herausgearbeitet haben, die Cit‐ tadini nicht aufgegriffen hat, d. h. die wissenschaftliche Diskussion verlief als andere als linear und in Akkumulation bestimmter Erkenntnisse. Die Debatte um die Antike findet mit Cittadini nichtsdestoweniger einen gewissen vorläu‐ figen Abschluß und - wenn man so will - Kulminationspunkt. 6.2.17 Weitere Humanisten des 16. Jahrhunderts Nachdem, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, die Debatte um die antike Sprach‐ konstellation mit Celso Cittadini (1553-1627) und seinen Schriften, insbeson‐ dere des Tratatto della vera origine (1601), einen vorläufigen End- und Kulmi‐ nationspunkt erreicht hat, der hier chronologisch deshalb auch mit den Schriften von Leonardo Bruni (1370-1444) und Flavio Biondo (1392-1463) den zweiten Eckpunkt der Diskussion bildet (d. h. 1435-1601), sollen nun anknüpfend an das resümierende Kapitel zu nicht ganz so bedeutenden Protagonisten des 15. Jhs. (cf. Kap. 6.2.9) im Folgenden noch einige auctores minores der Debatte im 16. Jh. ergänzt werden. 1002 617 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini sten nicht gleichermaßen strikt getrennt werden kann wie in den Hauptkapiteln der Untersuchung. 1003 Zur mitunter angezweifelten Autorschaft Machiavellis an diesem Dialog, für dessen Authentizität es aber gute Gründe gibt, cf. Bochmann (2003: 21-22). 1004 Das war die Magistratur für Kriegsführung und innere Sicherheit, d. h. Machiavelli hatte das Amt eines Art Verteidigungsministers inne (cf. Jaumann 2004: 425). Es bleibt wie schon zuvor darauf hinzuweisen, daß die Abgrenzung zu den hier als auctores maiores behandelten Autoren von Bembo bis Cittadini vor allem einer Systematik geschuldet ist, mit Hilfe derer ein besseres Verständnis für die wesentlichen Beiträger in dieser Diskussion herausgearbeitet werden soll, was nicht ohne ein gewisses Maß an willkürlicher Grenzziehung zu bewerkstelligen ist. Die Kriterien der Abgrenzung sind dabei der Umfang dessen, was die ein‐ zelnen Autoren zu dieser Debatte beigetragen haben, wie innovativ sie diesbe‐ züglich waren und wie wichtig sie in der Rezeptionsgeschichte diesbezüglich sind. Niccolò Machiavelli Als erster in dieser Reihe sei Niccolò Machiavelli (lat. Nicolaus Machiavellius) (1469-1527) genannt, der sich in seinem Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua (1515 / 1524) 1003 zur questione della lingua geäußert und in diesem Kontext auch in einigen Passagen das Problem um die antike Sprachenfrage angespro‐ chen hat. Machiavelli war gebürtiger Florentiner, sein Vater ein dottore in legge, der es ihm ermöglichte, trotz bescheidener Verhältnisse früh Privatstudien in Gram‐ matik und Literatur zu betreiben, autodidaktisch und bei Paolo Sasso da Ron‐ ciglione (15./ 16. Jh.), Professor am Studio von Florenz. Nach dem Sturz und der Vertreibung der Medici (1494) und der durch religiösen Fanatismus geprägten de facto-Herrschaft (1494-1498) des dominikanischen Bußpredigers Girolamo Savanarola (1452-1498), erlangte Machiavelli das Amt eines Sekretärs der se‐ conda Cancelleria, dann wurde er segretario dei Dieci  1004 und schließlich segre‐ tario fiorentino, also leitender Minister der Republik (1498-1512). Im Rahmen dieses Amtes war Machiavelli in zahlreichen diplomatischen Missionen unter‐ wegs, u. a. in Pisa (1500), in Frankreich (1502) am Hofe Ludwig XII . (1462-1515, Kg. ab 1498), in Urbino und Senigallia (1502) bei Cesare Borgia (1475-1507), in Rom (1503, 1506) und in Tirol (1507) am Hofe Maximilians I. (1459-1519, Kg. ab 1486, Ks. ab 1508). Als 1512 die republikanische Regierung in Florenz mit Hilfe von päpstlichen und spanischen Truppen gestürzt wurde und die Medici zurück an die Macht kamen, wurde Machiavelli seiner Ämter enthoben, und zwar wegen des Verdachts der Beteiligung an einer Verschwörung; er wurde einge‐ 618 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1005 Zur Rolle des Militärs und der Kommandosprache Latein im Zuge der Latinisierung anderssprachiger gentes im römischen Reich bzw. in dessen Einzugsgebiet cf. Schöntag (2018: 92-93). 1006 Die These, daß die Sprache der Soldaten mitverantwortlich für die Korrumpierung des Lateins sei, erscheint erstmals in dieser Debatte bei Pietro Paolo Pompilio (ca. kerkert, gefoltert und schließlich auf seinen Landsitz (albergaccio) nach San Casciano (SantʼAndrea in Percussina) verbannt, wo seine wichtigsten Schriften entstanden. Später versuchte er, sich zu rehabilitieren und sich mit den Medici zu arrangieren, was ihm aber nur bedingt gelang. Machiavelli ist vor allem auf‐ grund seiner politischen Schriften bekannt, allen voran seinem Werk De prin‐ cipatibus bzw. Il Principe (1513 / 1518), zu erwähnen sind aber auch De natura gallorum (1503), die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513 / 1517) oder Dell’arte della guerra (1519 / 1520). Des Weiteren verfaßte er neben der sprach‐ theoretischen Schrift des Discorso (1515 / 1524) die Istorie Fiorentine (1520 / 1524, publ. 1532), eine Auftragsarbeit der Medici, sowie Komödien (Andria, 1517 / 1520; Mandragola, 1518; Clizia, 1525) und Gedichte (z. B. Decennale, 1506; Asino, 1517) (cf. Najemy 1999: 1-3; Inglese 2006: 81-95; Jaumann 2004: 425-427; Inglese 2008: 495-296). Machiavelli greift nicht aktiv im engeren Sinne in die Debatte zur antiken Sprachkonstellation ein, sondern äußert sich in erster Linie zur zeitgenössischen Sprachfrage. Dabei führt er jedoch bezüglich der Entstehungsgeschichte des italienischen volgare einen wichtigen Aspekt an, der zuvor noch nicht so explizit bedacht wurde, nämlich die Beteiligung der römischen Soldaten bzw. der Le‐ gionen an der Veränderung der Sprache. Eʼ Romani, negli eserciti loro, non avevono più che due legioni di romani, quali erono circa dodicimila persone, e dipoi vi avevono ventimila dell’altre nazioni. Nondimeno, perché quelli erano con li loro capi il nervo de l’esercito, perché militavono tutti sotto l’ordine e disciplina romana, teneano quelli eserciti il nome, l’autorità e dignità ro‐ mana. (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 272) Machiavelli führt hier ein Faktum aus seinem Wissensbestand als Historiograph und Politiker an, indem er darauf verweist, wie viele Völker (nazioni) - dies impliziert auch die dazugehörigen unterschiedlichen Sprachen - in der römische Armee gedient hatten und wie groß ihr Anteil insgesamt war, so daß eine Be‐ einflussung des Lateinischen kaum ausbleiben konnte. Weiterhin macht er ebenfalls deutlich, welch integrative Kraft dem Lateinischen als prestigereiche Kommandosprache zukam, 1005 ein durchaus wichtiger Aspekt im Prozeß der Romanisierung und Latinisierung der nicht-latinischen Bevölkerung des Impe‐ rium Romanum (cf. Kap. 4). 1006 619 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1454 / 1455-1491), allerdings weniger ausführlich dargelegt und für eine frühere Epoche des Lateins postuliert (cf. Kap. 6.2.9). Zu einem wirklich wichtigen Bestandteil der Dis‐ kussion um die antike Sprachkonstellation macht sie dann schließlich Celso Cittadini (1553-1627), der darauf ebenso ausführlich eingeht und die Folgen erläutert (cf. Kap. 6. 2. 16). 1007 „Oltra di questo, io voglio che tu consideri come le lingue non possono essere semplici, ma conviene che sieno miste con l’altre lingue“ (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 272). 1008 „Perché ciascuno sa come i Provenzali cominciarono a scrivere in versi; di Provenza ne venne quest’uso in Sicilia, e di Sicilia in Italia; e in tra le provincie di Italia, in Toscana; e di tutta Toscana, in Firenze: non per altro che per essere la lingua più atta“ (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 276). Diesem Passus geht voraus, daß Machiavelli feststellt, daß es grundsätzlich nur Mischsprachen (lingue miste) gäbe und daß es kein Problem sei, wenn eine Sprache Wörter einer anderen aufnehme und diese in ihren Sprachgebrauch (uso) integriere. 1007 Die Theorie von der Mischung der Sprachen findet sich auch in den mehr oder weniger zeitgleich entstandenen Prose della volgar lingua (1501-1502-1524, publ. 1525) Pietro Bembos (1470-1547), der diesen Prozeß mit dem der aristotelischen generatio verbindet (cf. 6. 2. 11), später auch bei Baldas‐ sare Castiglione (1478-1529) und unter anderen Vorzeichen bei Benedetto Varchi (1503-1565) (cf. Kap. 6. 2. 12, 6. 2. 15). Damit verknüpft ist bei Machiavelli der Ausbauprozeß einer Sprache (arri‐ chire la lingua latina; Machiavelli Disc. ling.; 1989: 272) durch die Übernahme bestimmter Diskurstraditionen, d. h. zunächst des Lateinischen, wobei er den fremdsprachlichen Einfluß nicht negativ sieht. Was die Volkssprache(n) anbe‐ langt, so erläutert er den „bekannten“ Weg der schriftsprachlichen Genese und traditio, von den Provenzalen über die scuola siciliana in die Toskana, d. h. zum dolce stile nuovo und den tre corone (cf. Vitale 1984: 77), woraus er schließlich das Primat des Florentinischen ableitet. 1008 Den Vorrang des Toskanischen bzw. der Varietät seiner Heimatstadt heraus‐ zustellen und zu beweisen ist sein eigentliches Anliegen im Discorso, wie er gleich eingangs deutlich macht, indem er auf die Frage der adäquaten Bezeich‐ nung eingeht. La cagione perché io abbia mosso questo ragionamento è la disputa, nata più volte neʼ passati giorni, se la lingua nella quale hanno scritto i nostri poeti e oratori fiorentini è fiorentina, toscana o italiana. Nella qual disputa ho considerato come alcuni, meno inonesti, vogliono ch’ella sia toscana; alcuni altri, inonestissimi, la chiamano italiana; e alcuni tengono ch’ella si debba al tutto nominare fiorentina. (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 261) 620 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1009 Coseriu (2020: 31-32) interpretiert Machiavelli dahingehend, daß dieser nicht normativ nach einer literarischen Gemeinsprache fragt, sondern historisch, welche die Sprache der tre corone war und welche die seiner eigenen Zeit. Über die Erkenntnis, daß eine Sprache sich vor allem durch ihre phonetischen und grammtischen Charakteristika auszeichnen würde (weniger durch die lexikalischen Elemente), macht er deutlich, daß die Literatursprache Italiens seit Dante, Petrarca und Boccaccio nur das Florentinische sein könne. 1010 „E perché eʼ dicono che tutte le lingue patrie son brutte s’elle non hanno del misto (di modo che veruna sarebbe brutta), ma dico ancora che quello che ha di esser misto men bisogno è più laudabile, e senza dubbio ne ha men bisogno la fiorentina“ (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 274). 1011 Machiavelli ist in gewisser Weise auch ungehalten gegenüber Dante, weil er in seinen Augen sich nicht zum Florentinischen bekennt bzw. behauptet, daß er in einer italie‐ nischen Gemeinsprache schreibe und nicht in dem Idiom seiner Heimatstadt. Die Tat‐ sache, daß Dante auch Wörter anderer Provenienz verwendet habe, ändere grundsätz‐ lich nichts an dem florentinischen Grundcharakter seines Werkes (cf. Bochmann 2003: 23). 1012 Er positioniert sich vor allem gegen die Varietäten Norditaliens, deren volgare-Formen er strikt ablehnt, nicht nur weil sie sich - im Gegensatz zu der seit dem 16. Jh. sich toskanisierenden Varietät Roms - sprachlich erheblich vom Florentinischen unter‐ scheiden, sondern weil hier auch ein alter sozio-politischer Gegensatz zwischen Florenz und den Städten bzw. Regionen Norditaliens (Venezia, Romagna, Lombardia), also der Italia padana aufscheint (cf. Ellena 2011: 124-125; Marazzini 2013: 72). Machiavelli argumentiert nicht nur geschickt, daß die Bezeichnung der Litera‐ tursprache nur fiorentino sein könne und nicht toscano oder italiano (cf. Kap. 6. 2. 13), sondern er versucht auch zu beweisen, daß allein das Florentinische dazu geeignet sei, als normgebende Varietät zu fungieren, und zwar de natura (cf. Wunderli 2000: 265). 1009 Dazu führt er neben dem literarischen Traditions‐ strang der Dichtung, der von den Provenzalen über die Sizilianer auf die Flo‐ rentiner überging (v. supra), ein sprachliches Kriterium an, und zwar daß alle Sprachen in der ein oder anderen Art lingue miste seien, aber diejenige am he‐ rausragendsten sei, die am wenigsten Mischung aufweise, und dies sei das Flo‐ rentinische. 1010 Machiavelli ist sich in Anknüpfung an Dante der steten Verän‐ derlichkeit der Sprache bewußt und plädiert für einen uso vivo des fiorentino, ganz im Gegensatz zu Bembo der für das Trecento-Modell votiert (cf. Krefeld 1988: 320). Es sei an dieser Stelle auf Machiavellis relativ ausführliche Rezeption Dantes hingewiesen, der noch vor der Publikation von De vulgari eloquentia durch Gian Giorgio Trissino (1478-1550) im Jahre 1529 dieses Traktat rezipiert und auch explizit erwähnt. Machiavelli rekurriert in verschiedenster Hinsicht auf diese Schrift, so er beispielsweise Dantes Konzept einer eklektischen koiné im Sinne einer lingua curiale ablehnt 1011 (genauso wie eine lingua commune, cortigiana etc.; v. supra), 1012 sondern auf dem Primat des Florentinischen beharrt (cf. Boch‐ 621 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1013 „Allegano ancora l’esemplo di Francia, dove tutto il paese si chiama Francia ed è detto ancora lingua di huy e d’hoc: che significano, appresso di loro, quel medesimo che ap‐ presso li Italiani sì. Adducano ancora in esemplo tutta la lingua tedesca, che dice hyò, e tutta la Ighilterra, che dice jeh. […] Alcuni altri tengono che questa particola sì non sia quella che regoli la lingua, perché, se la regolasse, i Siciliani e gli Spagnuoli sarebbono ancor loro, quanto al parlare, Italiani […]“ (Machiavelli, Disc. ling.; 1989: 263). 1014 Der Dialogo erschien erst 1730 in einem anonymen Druck als Anhang einer Ausgabe des Ercolano (1570) von Benedetto Varchi (1503-1565). Das Traktat entstand als mehr oder weniger private Streitschrift im Rahmen der Auseinandersetzung mit Trissino (cf. Marazzini 2013: 70). Auch wenn es zunächst nicht publiziert wurde, hat Machiavelli seine diesbezüglichen Ideen sicherlich im Kreis der florentinischen Gelehrten kommu‐ niziert (cf. Vitale 1984: 75). mann 2003: 21-22), anknüpfend an die conditio humana übernimmt er aber die Variabilität des volgare und greift außerdem Dantes Sprachtypologie auf. Er ist hierbei zwar nicht so ausführlich wie Dante, präzisiert jedoch die Bejahungs‐ partikel des Deutschen (hyò) und des Englischen (jeh), was bei Dante ein uni‐ versales iò für alle nördlichen Sprachen repräsentiert, und attribuiert den Beja‐ hungspartikel sì nicht nur den Italienern, sondern auch den Spagnuoli, während Dante die Yspani ja dem oc-Raum zuschlägt (cf. Kap. 6.2.2). 1013 Es läßt sich also zusammenfassen, daß Machiavelli, der hauptsächlich über seine politischen Schriften eine große Nachwirkung entfaltete, eine durchaus interessante Schrift im Rahmen der questione della lingua verfaßt hat, in der er eine relativ differenzierte Sprachauffassung vertritt (cf. Krefeld 1988: 320), die allerdings nur bedingt rezipiert wurde. 1014 Dabei leistet er auch einen kleinen Beitrag zur antiken Sprachdiskussion, indem er die Relevanz der römischen Le‐ gionen als Ort des Sprachkontaktes und des Sprachwandels herausstellt und das Konzept der lingue miste von Bembo wiederaufgreift. Sperone Speroni Der nächste Humanist, der in der vorliegenden Debatte eine gewisse Relevanz hat und in diesem Rahmen behandelt werden soll, ist Sperone Speroni (lat. Speronus Speronius) (1500-1588), in dessen Dialogo delle lingue (1542) sich Aus‐ sagen zum Thema der Antike finden lassen. Speroni stammte aus Padua, studierte wohl auch dort sowie in Venedig und machte 1518 seinen Abschluß in artibus. Im gleichen Jahr wurde er ins Sacro Collegio degli Artisti e Medici aufgenommen, 1520 erhielt er bereits einen Lehr‐ stuhl für Logik am Studio padovano, den er bis 1523 innehatte. Anschließend siedelte er nach Bologna über und nahm bis zu dessen Tod Unterricht bei Pietro Pomponazzi (1462-1525), um seine Kenntnisse in aristotelischer Logik und Na‐ turphilosophie zu vertiefen. Er kehrte zurück nach Padua und übernahm einen 622 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1015 In dieser Zeit reist er im Zuge seiner Lehrtätigkeit oft ins nahegelegene Venedig und lernt dort andere wichtige Dichter und Gelehrte wie Bernardo Tasso (1493-1569), Pietro Bembo (1470-1547), Daniele Barbaro (1514-1570) oder Pietro Aretino (1492-1556) kennen (cf. Harth 1975: 7). 1016 Zur Accademia degli Infiammati als Begegnungsstätte maßgeblicher Humanisten und der dadurch bedingten Verbreitung auch sprachtheoretischer Ideen cf. Daniele (1989). 1017 Die Dialogfigur Lazaro referiert auf den Humanisten und Dichter Lazzaro Bonamico (1479-1552) aus Bassano del Grappa, der wie Speroni ein Schüler Pomponazzis war sowie Mitglied der Accademia degli Infiammati (v. supra), an der Universität von Padua Latein und Griechisch unterrichtete und als solcher naturgemäß die Position des La‐ teinischen als elitäre Bildungssprache verteidigte. Dem stehen im ersten Teil des Dialogs Pietro Bembo (Bembo) als Vertreter eines Vulgärhumanismus mit archaisierender tos‐ kanisch-florentinischer Ausrichtung und ein Höfling (Cortigiano) als Fürsprecher einer überregionalen, mündlich orientierten lingua cortigiana gegenüber. Im zweiten Teil treten der Naturphilosoph Pietro Pomponazzi (Perretto), der einen nicht-humanisti‐ schen Vulgarismus repräsentiert (er ist z. B. gegen die Verschmelzung von res und verba zugunsten der eloquentia; cf. Harth 1975: 16) und der griechische Gelehrte Andreas Jo‐ hannes Laskaris (Lascari), Vertreter eines Gräko- und Lateinhumanismus, auf, sowie ein ungenannter junger Scholar (Scolare), der für die progressive experimentelle Na‐ turwissenschaft steht (cf. Trabant 2008: 131-145). außerordentlichen Lehrstuhl für Philosophie (1525-1528). 1015 Nach dem Tod seines Vaters zog er sich von seiner Lehrtätigkeit zurück, kümmerte sich um Familienangelegenheiten, verfaßte zahlreiche Schriften und engagierte sich po‐ litisch in seiner Heimatstadt (Consiglio Communale, 1532; Magistrato dei Sedici, 1533; diplomatische Missionen v. a. in Venedig, 1534-1548). In den Jahren 1560-1564 weilte er als Botschafter von Guidobaldo II . della Rovere von Urbino (1514-1574, Hz. ab 1538) in Rom, lernte den Dichter Annibale Caro (1507-1566) kennen, nahm an Sitzungen der Accademia delle Notti Vaticane (neugegr. 1560) teil und hielt dort wohl auch Vorlesungen ab, ein zweiter Aufenthalt folgte 1573-1578, danach blieb er bis zu seinem Tod in Padua, wo er Mitglied der Accademia degli Infiammati (gegr. 1540, aufgel. 1550) war. 1016 Seine schriftstel‐ lerische Tätigkeit umfaßt neben dem angesprochenen Dialogo delle lingue wei‐ tere Dialoge, u. a. ein Dialogo della retorica und ein Dialogo della istoria (cf. Dialoghi, 1542), eine Tragödie (Canace, 1546) sowie zahlreiche Reden (z. B. Sopra le virtù, Dell’onore, Dell’anima umana, Della fortuna) und literaturkritische Schriften (z. B. Su Dante, Sull’Orlando furioso) (cf. Harth 1975: 7; Jaumann 2004: 628-229; Crupi 2008c: 461-462). In dem fiktiven platonischen Dialog Speronis diskutieren sechs Teilnehmer (Bembo, Lazaro, Cortigiano, Scholare, Lascari, Peretto) verschiedene Positionen zur questione della lingua, 1017 die hier jedoch nicht nur Sprachliches umfassen, 623 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1018 Der Dialog stellt die einzelnen Ansichten weitgehend objektiv gegenüber, weshalb Ro‐ bert (2010: 61) hier von auktorialer Polyperspektivität spricht, allerdings mit leichter Ab‐ neigung gegen die akademische Latinität. 1019 Das Ganze bekommt noch eine zusätzliche polemische Schärfe, wenn man beachtet, daß it. feccia (,Bodensatzʽ) etymologisch mit lat. faeces (,Kotʽ) zusammenhängt (cf. Tra‐ bant 2008: 131). sondern auch einen Wissenschaftsdiskurs implizieren. 1018 In diesem Rahmen finden auch Aspekte aus der Debatte um die antike Sprachkonstellation Erwäh‐ nung. Dabei wird dieses Thema vor allem durch die Figur des Lazaro aufge‐ griffen, der aus lateinhumanistischer Perspektive die Inferiorität des volgare aufgrund seiner mangelnden purezza darzustellen versucht. So zieht er relativ zu Beginn des Dialoges bereits folgenden abwertenden, aber anschaulichen Ver‐ gleich: A me pare, quando vi guardo, che tale sia la volgar Toscana per rispetto alla lingua latina, quale la feccia al vino; perochè la volgare non è altro che la latina guasta e corrotta oggimai dalla lunghezza del tempo o dalla forza de’ barbari o dalla nostra viltà. (Speroni, Dial.; 1988: 289) Speroni greift hier einerseits bekannte Topoi der Debatte auf und bezeichnet die toskanische Volkssprache als ein Latein, welches guasta e corrotta sei, anderer‐ seits führt er im Sinne einer illustrativen Polemik auch ein neues Bild ein, näm‐ lich die des Bodensatzes (feccia) beim Wein, 1019 um die Diskrepanz des Prestiges zwischen der „klassischen“ lateinischen Literatursprache und dem volgare deut‐ lich zu machen. Als Ursache der corruptio gibt er den Einfluß der Barbaren an, aber auch die eigene zu tadelnde Nachlässigkeit (viltà) im Sprachgebrauch. Sein Erklärungsmodell eines Sprachwandels beruht demgemäß auf der Wechselwir‐ kung von Superstrateinfluß und dadurch ausgelösten Veränderungen im Ge‐ brauch der Muttersprachler, die sich zunehmend weniger an der einstigen Norm orientieren. Für Speroni handelt es sich dabei zweifelsohne um eine declinatio, denn er empfiehlt als überzeitliche Regelung, daß es besser wäre, wenn das Volk nicht Lateinisch spräche und die Gelehrten, soweit möglich, das volgare meiden würden, damit die riputazione der lingua divina erhalten bliebe (cf. ibid.). In einer rhetorischen Frage an einen seiner Dialogpartner läßt die Figur des Lazaro dann durchblicken, daß seiner Meinung nach die Senatoren und Konsuln eine andere Sprache gesprochen hätten als das gemeine Volk (cf. Speroni, Dial.; 1988: 291). Die Haltung eines typischen Lateinhumanisten, die er damit verkör‐ pert, äußert sich auch dadurch, daß er explizit sagt, daß er das Latein Ciceros mehr schätzt als das durch Kaiser Augustus großgewordene römische Reich. Die Volkssprache hingegen sieht er als nicht fähig an, Dichter und Redner von der 624 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1020 Hierbei ist Marazzini (2013: 75) zu widersprechen, der Speroni unterstellt den sprachli‐ chen Einfluß dieser beiden Völker auf eine „lista indifferenziata“ mit den Goten und den anderen zuvor genannten Völker der Spätantike bzw. des Frühmittelalters zu setzen. Speronis Darstellung ist zwar nicht wirklich differenziert, dennoch sind die Provenzalen und Franzosen hier in einem anderen Kontext der Beeinflussung genannt. Größe eines Ciceros oder Vergils bzw. Homers oder Demosthenesʼ hervorzu‐ bringen, weil sie in ihren Grundzügen „barbarisch“ sei, was die fehlende Dekli‐ nierbarkeit der Substantive, die Verben ohne Konjugationsendungen und Par‐ tizip sowie die mangelnde Güte ihrer Redeteile nahelegen würden (Speroni, Dial. 172; 1975: 74). Im Folgenden geht Speroni dann noch einmal genauer auf den „barbarischen“ Ursprung der Volkssprache ein. […] ma dall’inclinazione dell’imperio di Roma in qua mai non venne in Italia nazione nissuna sì barbara e così priva d’umanità, Unni, Gotti, Vandali, Longobardi, ch’a guisa di trofeo non vi lasciasse alcun nome o alcun verbo d’i più eleganti ch’ella abbia. E noi diremmo che volgarmente parlando possa nascere Cicerone o Virgilio? Veramente se questa lingua fosse colonia della latina, non oserei confessarlo; molto meno il dirò, essendo lei una indistinta confusione di tutte le barbarie del mondo. (Speroni, Dial.; 1988: 296) Speroni listet hier die kanonischen Superstratvölker der Goten, Vandalen und Langobarden auf sowie die Hunnen, die bereits von Francesco Filelfo (1398-1481) in die Diskussion eingebracht worden waren (cf. Kap. 6.2.7). Um die Volkssprache gegenüber dem Lateinischen abzuwerten, geht die Figur des La‐ zaro hier noch weiter und behauptet, sie wäre eine undefinierte Mischung (una indistinta confusione) aller Barbareien (barbarie) der Welt, was wohl einerseits im Sinne des Einflusses zahlreicher weiterer Sprachen als auch im Sinne von zu tadelnden Wörtern und Konstruktionen (cf. Barbarismus) zu deuten ist. Zwei weitere sprachliche Interferenzen erwähnt er in diesem Dialogabschnitt zuvor (cf. ibid.), nämlich die durch die Franzosen und die Okzitanen (daʼ Francesi e daʼ Provenzali). 1020 Deren Einfluß wird wiederum ambig dargestellt, da er „Verun‐ reinigung“ und Bereicherung in der Dichtkunst zugleich sei. Ein Grund mehr für ihn (Lazaro) diese Volkssprache nicht ‚Italienisch‘ zu nennen. Die Figur des Bembo, hinter dem die reale Position Pietro Bembos (1470-1547) steht (cf. Kap. 6. 2. 11 u. supra), versucht ebenfalls historisch zu ar‐ gumentieren, indem dieser seinem Dialogpartner entgegen hält, daß allein ein armseliger Ursprung kein Grund für eine ewige Diffamierung darstelle, denn die Römer seien einst aus Phrygien vertrieben worden und hätten sich dann neu in Italien angesiedelt, was man in Bezug auf ihre Sitten und Sprache auch bar‐ 625 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1021 Speroni generalisiert hier mit Blick auf Griechenland implizit die Regel, daß Sprachen und Kulturen aus einem barbarischen Anfangsstadium sich kultivieren können und geht damit womöglich ein Stück weit über Bembo hinaus (cf. Marazzini 1989: 24). 1022 Es geht auch um die je unterschiedlichen Zielsetzungen, denn während es im Bembia‐ nismus um den durch die literarischen Werke zu erwerbenden Nachruhm (gloria) geht, steht für die Vetreter des höfischen Modells die Anmut (grazia) in ihrem Auftreten bei Hofe im Vordergrund (cf. Trabant 2008: 134-135). barisch nennen könne, genauso wie die Ursprünge Griechenlands. Über die Jahrhunderte seien aber auch aus den barbarischen Einwanderern nach dem Fall des Imperium Bürger Italiens geworden. Auch die Sprache, die zwar eine An‐ sammlung von diversi voci, nomi, verbi und altre parti d’orazione darstelle, sei nicht einfach verworren (confusa), sondern regelhaft (regolata). Man habe es geschafft, ihr im Laufe der Zeit eine Norm (norma) und eine Ordnung (ordine) zu geben (cf. Speroni, Dial.; 1988: 299). 1021 Hier spiegelt sich tatsächlich die reale Position Bembos wider, der das Prinzip der aristotelischen generatio propagiert, d. h. für ihn entsteht durch den Einfluß der Superstrate der Völkerwanderungszeit zwar eine Mischsprache, die sich dann jedoch weiterentwickeln kann. Er glaubt an die Perfektibilität der Spra‐ chen und nachdem das volgare einen entsprechenden Entwicklungs- und Kul‐ tivierungsprozeß (cura) durchlaufen habe, gesteht er ihm nicht nur Regelhaf‐ tigkeit (ars) zu, sondern auch die Fähigkeit, eine adäquate dem Lateinischen ebenbürtige Literatursprache zu entwickeln. Dies konnte durch die Schriften der tre corone (bzw. Petrarcas und Boccaccios) für das toskanische volgare bereits zum Teil erreicht werden, weshalb für den weiteren Ausbau diese im Sinne einer imitatio veterum als Maßstab gelten sollen. Während Bembo und Lazaro beide ein rein schriftsprachlich basiertes Modell favorisieren, wenn auch mit unter‐ schiedlichen Sprachen, spielt in der Argumentation des Cortigiano, der Positi‐ onen von Humanisten wie Baldassare Castiglione (1478-1529) oder Gian Gi‐ orgio Trissino (1478-1550) vertritt, auch die Mündlichkeit (favellare) eine große Rolle sowie das praktische Handeln im Kontext des politischen Machtgefüges (signoria del mondo) (cf. Robert 2010: 61; Marazzini 2013: 75-76). 1022 Speronis Dialogo kann als ein Lehrbeispiel angesehen werden, wie die Argu‐ mente der Debatte um die Antike als Vehikel für die einzelnen Positionen in der questione della lingua dienen. Es findet sich neben der „Barbarenthese“ von Flavio Biondo, die sich im Laufe der Debatte durchaus gewandelt hat, und zwar nicht nur in Bezug auf die angeführten Völker (Substrate, Superstrate, Adstrate), sondern auch hinsichtlich der Interpretation des daraus entstehenden Einflusses (cf. Bembos Mischsprachentheorie), immer noch die Diglossie-Vorstellung Le‐ 626 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1023 Dies widerspricht in gewisser Weise der Aussage von Coseriu / Meisterfeld (2003: 159), daß Brunis Position nur noch selten vertreten wurde, denn es gibt zwar nicht allzu viele Traktate, in denen Bruni völlig unwidersprochen zugestimmt wird, dennoch muß seine Grundansicht eine beachtliche Verbreitung gehabt haben, ansonsten wäre eine Dialog‐ figur, die wie Lazaro argumentiert, nicht glaubwürdig als Gegenpart. 1024 Vitale (1984: 68-69) attribuiert Speroni eine Haltung zwischen letterarietà eclettica set‐ tentrionale und toscanismo unter Ablehnung des reinen fiorentinismo, bei einer ent‐ schiedenen Unterstützung für das volgare und gegen den reinen Lateinhumanismus (v. supra). 1025 Dies gilt nicht nur in Italien im Rahmen der questione della lingua, sondern auch für Frankreich, wo Speronis Dialogo beispielsweise Vorbild für Joachim du Bellays (1522-1560) Deffence et illustration de la langue francoyse (1549) war (cf. Trabant 2006). 1026 Die zweite Auflage von 1549 trägt den Titel Origine della lingua fiorentina, altrimenti il Gello. Der Namensgeber des Titels ist sein Freund und akademischer Kollege Giovan Battista Gelli (1498-1553), dem er diese Abhandlung widmet. onardo Brunis. 1023 Hier zeigt sich, daß unter den Humanisten des 16. Jhs. diese Art der Verteidigung des Primats des Lateinischen immer noch präsent gewesen sein mußte. Die Figur des Lazaro vertritt einen Ciceronianismus, der an die lateinhumanistische Debatte zwischen Poggio Bracciolini (1380-1459) und Lo‐ renzo Valla (1407-1457) gemahnt (cf. Kap. 6.2.6, 6.2.8). Wirklich neue Thesen offeriert der Dialog Speronis für die vorliegende Debatte nicht, dennoch ist er in diesem Kontext nicht zu ignorieren, weil hier eine interessante Zusammen‐ stellung und Verwertung der einzelnen Topoi geboten wird, eingebettet in re‐ lativ klar konturierte und ausgewogene Positionen (cf. Ellena 2011: 143, FN 273) im Rahmen der Sprachenfrage Italiens. 1024 Zudem darf die erhebliche Nach‐ wirkung von Speronis Dialogo delle lingue nicht außer Acht gelassen werden, die eine Betrachtung in jedem Fall rechtfertigt. 1025 Pier Francesco Giambullari Bei dem nun folgenden Humanisten in dieser Reihe handelt es sich um Pier Francesco Giambullari (lat. Petrus Franciscus Giambullarius / Jambullarius) (1495-1555), der in seinem Traktat Il Gello (ca. 1542-1545, publ. 1546) 1026 zur vorliegenden Debatte Stellung bezieht. Giambullari stammte aus Florenz und wurde von seinem poesieaffinen Vater schon früh an literarische Studien herangeführt; er lernte Latein und Griechisch sowie sogar Hebräisch und Chaldäisch. Durch gute familiäre Beziehungen zu den Medici erhielt er bereits 1511 eine Anstellung als Sekretär bei Alfonsina degli Orsini (1472-1520), der Witwe von Piero deʼ Medici (1472-1503, Regent 1492-1494). Im Weiteren gelang es ihm, verschiedene kirchliche Ämter zu be‐ kleiden, die ihm ein zunehmend sicheres Auskommen bescherten, schließlich wurde er 1527 zum Kanoniker (canonico collegiale) der Basilika von San Lorenzo 627 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1027 Die Accademia Fiorentina nahm in der questione della lingua eine strikt florentinische Haltung ein, d. h. sie propagierte nicht das Toskanische, sondern allein das volgare der Stadt Florenz. Sie lehnte zudem das archaisierende Modell Bembos ab und sprach sich in der Lyrik auch tendenziell eher für Dante als Petrarca aus (cf. Gaetano 1976: 138). 1028 In diesem Werk ist auch ein Dialog Gellis enthalten, daher lautet der vollständige Titel: De la lingua che si parla e si scrive in Firenze. Et uno Dialogo di Giovan Battista Gelli sopra le difficultà dello ordinare detta lingua (1551). ernannt, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode beibehielt. Zudem wurde er 1540 Mitglied in der Accademia degli Umidi (gegr. 1540, umben. in Accademia Fiorentina, 1541), 1027 wo er mit führenden Humanisten wie Giovan Battista Gelli (1498-1553), Carlo Lenzoni (1501-1551) und Cosimo Bartoli (1503-1572) unter der Schirmherrschaft von Cosimo I. de‘ Medici (1519-1574, Hz. ab 1537) in Kon‐ takt trat und florentinische Kultur, sprachlich-literarisch (cf. fiorentinità) wie auch philosophiosch (cf. platonismo cristiano), vertrat, sowie verschiedene Ämter ausübte (z. B. Konsul 1546; Zensor, 1541, 1543, 1544, 1546). Im Jahre 1550 wurde er außerdem zum custode der Biblioteca Laurenziana berufen. Sein schrift‐ stellerisches Schaffen, außer dem Gello (1546) zur Sprachtheorie, umfaßt ver‐ schiedene Arten von Gedichten (Tutti i trionfi carri mascherate o canti carnasci‐ aleschi, 1559), Kommentare und Vorlesungen zu Dante (z. B. Del sito e forma del Purgatorio, 1541; Dell’ordine dell’universo, 1548), ein Geschichtswerk (Historia dell’Europa dall’anno 800 al 947, 1566) und eine Grammatik (De la lingua che si parla e si scrive in Firenze, 1028 1551 [bzw. Regole della lingua fiorentina]) (cf. Pig‐ natti 2000: 308-311; Procaccioli 2008a: 267). In seinem Traktat Il Gello, in dem es um den Ursprung und die Variation im Toskanischen bzw. Florentinischen geht, spricht er auch vom Phänomen der corruzione, welches er in der bekannten Form ablehnt und stattdessen eine be‐ sondere Mischsprachentheorie favorisiert. Außerdem verweist er darauf, daß zu diesem Zeitpunkt das Lateinische bereits die allgemeine Sprache der Bevölke‐ rung geworden sei (cf. quella latina che già era commune a tutti), d. h. die Lati‐ nisierung abgeschlossen war. […] non mi so io acconciar nell’animo; affermandosi massimamente tra molti letterati dell’età nostra che la lingua toscana sia una corruzione di quella latina che già era commune a tutti. Questo, risposi allora, non accetterò io giammai, che la lingua che si parla oggi, sia la latina corrotta o male pronunziata, perchè ella è un componimento di varie lingue e non una sola. Conciossìa (per ragionare della fiorentina) che ella è composta di etrusco antico, di greco, di latino, di tedesco, di francese e di qualcuna altra simile a queste, fabbricata dalla necessità, arricchita dal comodo e introdotta dall’uso, per lunghissimo spazio di tempo, come agevolmente si può mostrare quando vi piaccia di ragionarene. (Giambullari, Gello; 1827: 222-223) 628 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1029 Giambullari verengt in gewisser Weise das Erklärungsmodell von Biondo, indem er sich hier nur auf das Toskanische bezieht und nicht allgemein auf das volgare bzw. die volgari Italiens oder der Romania. 1030 Es sei dabei auch an Leon Battista Alberti (1404-1472) erinnert, der auch schon eine mistura annahm (cf. Kap. 6.2.4), allerdings wohl keine so entscheidende Nachwirkung wie Bembo zeitigte. 1031 Hier sei beispielsweise auf Jacques Dubois (lat. Jacobus Sylvius, 1478-1555) verwiesen, der in seiner Isagωge (1531) das Französische auf das Hebräische, Griechische und La‐ teinische zurückführt (cf. Wunderli 1994b: 192). Das Chaldäische als frühe orientalische Sprache - neben dem Syrischen und Hebräischen - erwähnt z. B. Isidor v. Sevilla (560-636) in seinen Etymologiae (cf. Etym. IX, 1; 1911: s. p.), was u. a. von Antonio de Nebrija (1441-1522) übernommen wird. Zur weiteren Tradition des Chaldäischen und Hebräischen als Ursprache cf. Gerighausen (1963: 40-41, 192). 1032 Diese geht auf Annius von Viterbo (1437-1502) zurück, der in seinem Traktat Com‐ mentaria super opera diversorum auctorum de antiquitatibus loquentium (1498) die bib‐ lische Geschichte mit Italien verknüpft (cf. Coseriu 1972b: 96, FN 6; cf. Druckfehler in der Jahresangabe der Commentaria). Dabei beruft er sich auf den babylonischen His‐ toriker Berossos bzw. Berosos (lat. Berosus caldaeus) (4. Jh. v. Chr.), der eine nur in Frag‐ menten erhaltene Babyloniaká (auch: Chaldaiká) verfaßt hat; doch die von Annius an‐ geführten Schriften sind seine eigene Fälschungen (cf. Pseudo-Berossos). 1033 Noah wird hier mit dem mythischen italischen König Ianus gleichgesetzt, zudem wird die babylonische Sprachverwirrung erheblich nach diesem Ereignis der Landung in Italien datiert, so daß implizit das Toskanische in die Nähe einer Ursprache gerückt wird (cf. Fuchs 1849: 14-15). Hier läßt sich zunächst herauslesen, daß laut Giambullari die „Korruptionsthese“ Flavio Biondos (1392-1463), d. h. die Erklärung des Sprachwandels vom Latein‐ ischen zum zeitgenössischen volgare durch die Beeinflussung von Superstrat‐ völkern (cf. Kap. 6.2.3.2), Mitte des 16. Jh. communis opinio unter den Gelehrten ist. 1029 Er selbst lehnt diese Begründung jedoch vehement ab und plädiert für eine Mischsprachentheorie, die sich offensichtlich an die Idee der lingue miste von Pietro Bembo (1470-1547) anlehnt (cf. Kap. 6. 2. 11), 1030 dabei aber eine ei‐ gene Art der Zusammensetzung wählt. Giambullari bringt außer den hier ge‐ nannten Sprachen Etruskisch, Griechisch, Latein, Deutsch und Französisch noch weitere Sprachen ins Spiel, indem er Verwandtschaftsverhältnisse postuliert. Das Hebräische führt er als Schwester des Etruskischen ein (l’ebrea sua so‐ rella; cf. ibid. 1827: 224) und erwähnt zudem das Chaldäische und das Aramäi‐ sche, wobei er beide als mit dem Etruskischen verwandt annimmt. 1031 Der tra‐ ditionellen mittelalterlichen Überlieferung nach stammen alle weiteren Sprachen der Erde vom Hebräischen, der adamitischen Sprache (lingua sacra), ab (cf. z. B. Dante, DVE I, 6, 5). Giambullari folgt dieser Auffassung nicht ganz, beruft er sich doch auf eine rinascimentale Neuinterpretation, 1032 derzufolge Noah nach der Sintflut in Italien gestrandet sei, 1033 die Sprache Noahs wiederum sei das Aramäische gewesen (cf. ibid. 1827: 177). Aus dieser angenommenen 629 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1034 Giambullari spricht an einer Stelle allgemein von Ähnlichkeiten zwischen den Spra‐ chen: „[…] cioè l’aramea, la quale in una gran parte si assomiglia all’ebrea, alla caldea e alla etrusca […]“ (Giambullari, Gello; 1827: 177). In anderem Kontext wiederum un‐ terstreicht er die Unterschiedlichkeit (cf. ibid. 1827: 207). Cf. dazu außerdem supra die Anmerkung zu einer schwesterlichen Relation zwischen Hebräisch und Etruskisch. Aramäisch wird als Sprache Noahs als Ursprache und Mutter beider dargelegt, der ex‐ akte Status des Chaldäischen wird dabei jedoch offengelassen. Es ist aber wohl am ehesten ebenfalls als Ursprache zu definieren, da Giambullari es als Sprache des Landes Aram, bzw. Pad Aram (Syrien) und Aram Neharot (Mesopotamien), annimmt. Von dort stammt Abraham, genauer aus Ur in Aram, so daß er die Sprache dieses Landes nach Kanaan mitbrachte. Das Chaldäische ist wohl als spätere „klassische“ Sprachstufe des Aramäischen zu interpretieren (cf. auch scrittura caldea) (cf. ibid. 206-207). 1035 „Tutte queste proprietà del parlare, e molte altre che non ho a mente, fanno fede questa nostra lingua aver dipendenza e origine da quella che le ha in uso, cioè non dalla latina, non dalla greca, ma dall’aramea, che era la stessa toscana antica; della quale abbiamo ancor oggi in uso una infinita copia di voci […]“ (Giambullari, Gello; 1827: 229). Die Idee des etruskischen Ursprungs des Toskanischen findet sich bereits bei Piero Valeriano (1477-1558) in seinem Dialogo della volgar lingua (1524, publ. 1620), jedoch ohne sprachliche Beispiele (cf. Lüdtke 2001: 11). Cf. auch den französischen Orientalisten Guillaume Postel (1510-1581) und sein Werk De Etruriae originibus (1551), welches in Florenz erschien und der Ansichten von Giambullari und Gelli übernimmt (cf. Pignatti 2000: 309). Eine Anregung für den etruskischen Ursprung könnte Giambullari auch durch den Fund von etruskischen Inschriften in Viterbo (Hypogäum von Castellina) im Jahre 1507 erhalten haben (cf. Girardi 1955: 474). 1036 „Ma perchè i Goti furono Tedeschi o lungamente almeno abitarono nella Germania, non la guardo sì nel sottile“ (Giambullari, Gello; 1827: 237). Einige gotische Wörter stammten aus der Zeit, als die Goten über Italien herrschten, die deutschen Wörter kämen zum Teil von den Händlern und zum großen Teil von den deutschen Soldaten (cf. ibid.). 1037 Giambullari unterscheidet zwar einerseits das Okzitanische und Französische deutlich als zwei Sprachen, andererseits spricht er davon, daß es auch Wörter im Toskanischen gäbe, die er nicht eindeutig zuordnen könne, die entweder francese seien, provenzale Konstellation heraus ergibt sich der zunächst ungewöhnlich wirkende Erklä‐ rungsansatz Giambullaris. Die exakten genetisch-familiären Relationen sind dabei jedoch von ihm nicht eindeutig formuliert worden. 1034 Es bleibt allgemein eine starke Hervorhebung des semitischen, vor allem aramäischen Ursprungs des Florentinischen sowie des Etruskischen. 1035 Er untermauert dies zum Teil mit strukturellen Ähnlichkeiten (fehlende Ka‐ susflexion, fehlendes neutrales Substantiv, Existenz und Gebrauchsweise des Artikels), aber vor allem mit lexikalischen Parallelen, die nicht selten abenteu‐ erlich anmuten, von Giambullari jedoch, unbeirrbar in seiner intendierten Be‐ weisführung, rekonstruiert werden (cf. Wunderli 1994b: 194). Eine weitere Ver‐ wandtschaft sieht er richtigerweise zwischen dem Deutschen und dem Gotischen 1036 sowie zwischen dem Französischen und dem Okzitanischen (Pro‐ venzal). 1037 630 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen oder ein mescuglio aus (korrumpiertem) Latein und Französisch, was eine gewisse Ver‐ wandtschaft impliziert (cf. Giambullari, Gello; 1827: 238). 1038 Als Historiker folgt Giambullari, wie er selbst angibt, den Schriften von Franciscus Irenicus (1495-1553) (Germaniae exegesis, 1518) und Sebastian Münster (1488-1552) (Cosmographia, 1544) und übernimmt die These, daß Skandinavien als vagina gentium fungierte (cf. Costa 1977: 56-58). Zahlreiche Völker stammten von dort und verbreiteten sich im Folgenden in Europa: „[…] più volte ha mandato fuori degli amplissimi suoi confini eserciti quasi infiniti, e moltitudini senza numero, cioè gli Alani, gli Schiavoni, dai quali sono Boemi e Pollacchi, i Suedi, che ci hanno dato Normanni e Bolgari; i Teifali, i Rugi, gli Eruli, i Gotti, i Gepidi, i Longobardi, i Turciligni, i Cimerj, i Cimbri, oggi Dani, i Vandali, i Bavari, e tante altre famose genti, quante nella faticosa Germania sua lar‐ gamente mostra lo Irenico“ (Giambullari, Ist. I; 1830: 34). Abgesehen davon, daß Giam‐ bullari hier ethnisch bzw. sprachlich und chronologisch einige disparate Fakten zu‐ sammenzieht, hat dies auf seine Sprachbetrachtung wohl kaum Auswirkungen, ein nicht seltenes Phänomen bei den Humanisten, die historische und linguistische Tradi‐ tion als getrennt wahrnehmen. 1039 „Asì, pues, el arbitrio de Giambullari consiste en considerar el ,etrusco-arameo‘ como base del toscano, y su error básico, en considerar una larga serie de voces latinas y de otro origen como griegas, germánicas, galorrománicas y, sobre todo, como semí‐ ticas. […] En cambio, su intuición es sorprendentemente exacta en lo que concierne a la clasificación etimológica de la voces efectivamente griegas, germánicas y galorro‐ mánicas“ (Coseriu 1972b: 101). Aus linguistischer Sicht bemerkenswert sind bei Giambullaris Ausführungen vor allem seine zahlreichen etymologischen Beispiele (z. B. it. mezzo < aram. mezah; it. ballare < aram. bacal; it. caverna < aram. cava; cf. ibid. 1827: 230-231), mit denen er versucht, die Präsenz der jeweiligen Sprachen im Florentinischen nachzuweisen, was auch Toponyme beinhaltet, deren lateinischer Ursprung (z. B. Arezzo < Aurelia; Fiesole < Fia sola; Lucca < Luce) nur vordergründig ge‐ geben, in Wirklichkeit jedoch aramäischer Herkunft sei (cf. ibid. 1827: 236). Coseriu (1972b: 100) schlüsselt diese Etymologien auf (aramäisch, griechisch, deutsch, französisch), setzt sie in Relation zu den heutigen groben Zuordnungen (semitisch, griechisch, germanisch, galloromanisch) und überprüft ihre Kor‐ rektheit (cf. auch Coseriu 2020: 211-212). Dabei beweist Giambullari eine recht gute Intuition, was die Etymologien der griechischen, germanischen (bzw. deut‐ schen) 1038 und galloromanischen (bzw. französischen u. okzitanischen) Wörter anbelangt. Allerdings vergreift er sich zum Teil fundamental bei seiner Rekon‐ struktion der semitischen Lexeme, da er aufgrund seiner Ausrichtung, unbe‐ dingt einen aramäischen bzw. aramäisch-etruskischen Ursprung für das Flo‐ rentinische zu postulieren, in diese etymologische Beispielsammlung zahlreiche Wörter aufnimmt, die definitiv eine andere Provenienz aufweisen. 1039 Hier liegt offensichtlich der Wunsch zugrunde, mit Hilfe einer möglichst großen Anzahl von Exempla einen biblischen (d. h. aramäischen, hebräischen) sowie einen au‐ 631 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1040 Vitale (1984: 85) spricht von einer singolare natura des Florentinischen, die Giambullari damit herausstellen möchte, sowie von der autonomia gegenüber dem Lateinischen, die damit beansprucht werden soll. 1041 Cf. dazu auch die These zum etruskischen Ursprung bei Claudio Tolomei (ca. 1492-1556) in seinem bereits zuvor fertiggestellten und wenig später nach Giambullaris Gello (1542) erschienenem Traktat Il Cesano (ca. 1525, publ. 1555) (Kap. 6. 2. 13). tochthonen-mythologischen (d. h. etruskischen) Ursprung nachzuweisen, um als Vertreter eines uso vivo des volgare fiorentino (cf. Vitale 1984: 42, 85) dem Florentinischen ein maximales Prestige sowie eine Einzigartigkeit im Rahmen der questione della lingua zu attribuieren. 1040 Durch diese Art des vorrangig etymologischen Deutungsversuches Giam‐ bullaris gerät die bei den anderen Protagonisten dieser Debatte so im Vorder‐ grund stehende declinatio, d. h. der Verfall der lateinischen Sprache und Kultur durch den Untergang des römischen Reiches (inclinatio imperii), in den Hinter‐ grund, mehr noch, er verlagert die für ihn hauptsächlichen Umwälzungen der Sprache in eine frühere Epoche. Das Lateinische verliert sogar an Prestige, denn in der Toskana sei die Sprache der tribunali das Etruskische gewesen, Latein nur Verkehrssprache der Eroberer und damit eine Sprache, die aus einem Status der servitù heraus zu akzeptieren gewesen sei, ähnlich den Sprachen der germani‐ schen Eroberer in der Völkerwanderungszeit. In dieser Ähnlichkeitsrelation zwischen idiomi barbari und dem latino liegt unweigerlich eine Provokation der Verfechter traditioneller humanistischer Ansichten und Werte. Die weitere Sprachentwicklung betrachtet Giambullari relativ nüchtern als den Prinzipien der necessità, dem commodo und dem uso untergeordnet (cf. Marazzini 1989: 26-27). Der Gello entstand wohl als eine Gegenreaktion auf den Dialogo von Speroni (v. supra) und die scuola linguistica patavina. Dabei scheint Giambullari wohl eine besondere Abneigung gegen die Ansichten der Figur des Lazaro (d. h. Laz‐ zaro Bonamico) entwickelt zu haben, der so vehement latinistisch und anti-vol‐ gare argumentiert, und übersieht in diesem Kontext offensichtlich, daß Speroni selbst diese Ansicht gar nicht teilt bzw. diese dramatis persona gar nicht als Gewinner aus dem Diskurs hervorgeht (cf. Marazzini 1989: 26). Insgesamt läßt sich der Beitrag Giambullaris zur vorliegenden Debatte da‐ hingehend charakterisieren, daß er eine Spielart der bembianischen Mischspra‐ chentheorie beisteuert, wobei er kein Vertreter der reinen „Etruskerthese“ ist, 1041 sondern eher eine aramäisch-etruskische-Filiation (cf. Schlemmer 1983a: 43) propagiert - zweifellos mit der zugrundeliegenden Intention, die Sonderstellung des Florentinischen hervorzuheben. Dabei interpretiert er den Sprachwandel vom Lateinischen zum volgare entgegen der inzwischen weitverbreiteten These 632 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1042 Cf. dazu auch die einleitende Widmung Gellis im oben genannten Ragionamento an Giambullari: Al molto reverendo Messer Pierfrancesco Giambullari, amico suo carissimo Giovan Batista Gelli (cf. Gelli, Ragion.; 1975: 451). der corruptio durch die Barbaren - die unterschwellig mitunter trotzdem präsent ist (z. B. latine corrotte; cf. Giambullari, Gello; 1827: 238) - als eine Mischung zahlreicher Sprachen, wobei er zum einen nicht wie üblich von „Latein + x“ ausgeht, sondern das Lateinische hier keine hervorgehobene Stellung im Ent‐ stehungsprozeß hat, und er zum anderen keinerlei grundsätzliche chronologi‐ sche Unterscheidung trifft, d. h. Substrate, Superstrate und Adstrate stehen hier gleichwertig nebeneinander, differenziert allein durch ihren Anteil am Prozeß der Vermischung. Wie viel an Giambullaris etymologischen Rekonstruktionen und seiner Herausstellung der Singularität des Florentinischen durch die Ver‐ bindung der altorientalischen semitischen Sprachen und des Etruskischen reine Legitimationsarbeit und gedankliche Spielerei (immaginazione; cf. Wunderli 1994b: 194) ist, und inwieweit er selbst von diesen Herleitungen überzeugt ist, muß offen bleiben, spielt für den allgemeinen Diskurs aber auch letztlich keine wirkliche Rolle. Giovan Battista Gelli Bei dem nun folgenden Humanisten handelt es sich um den bereits mehrfach erwähnten Giovan Battista (Giambattista) Gelli (lat. Johannes Baptista Gellius) (1498-1563), einen engen Freund und Zeitgenossen Giambullaris (v. supra), 1042 der in eines seiner sprachtheoretischen Traktate, Ragionamento sopra le diffi‐ cultà del mettere in regole la nostra lingua (1551), ebenfalls einige Anmerkungen zur Debatte um die antike Sprachkonstellation in seinen Diskurs eingeflochten hat. Gelli stammte aus relativ einfachen Verhältnissen in Florenz - der Vater war Weinhändler - und erlernte das Handwerk des Schusters, konnte sich aber gleichzeitig humanistisch weiterbilden und hatte dann die Möglichkeit, Vorle‐ sungen in Philosophie bei Francesco deʼ Vieri (auch: Francesco Verino, il primo) (1474-1541) am Studio fiorentino zu besuchen. Zudem erlangte er früh die Gelegenheit, an den Versammlungen in den Orti Oricellari teilzunehmen, wo sich um Bernardo Rucellai (1449-1514) die kulturelle Elite der Stadt traf und austauschte (daher auch: Orto deʼ Rucellai), so daß er dort große Humanisten wie Niccolò Machiavelli (1469-1527) kennenlernte. Neben seinen literarischen Tä‐ tigkeiten übernahm Gelli einige niedere politische Ämter (z. B. Magistrato delle arte minori, 1534; Collegio dei dodici buonuomini, 1539) und wurde Mitglied der Accademia degli Umidi (ab 1540), der späteren Accademia Fiorentina (v. supra), hielt dort Vorlesungen über Dante (1541-1551) und übernahm innerhalb der 633 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1043 Diese Abhandlung ist in Giambullaris De la lingua che si parla e si scrive in Firenze. Et uno Dialogo di Giovan Battista Gelli sopra le difficultà dello ordinare detta lingua (1551) erstmals abgedruckt (v. supra), dort heißt dann das Kapitel mit Gellis Dialog jedoch leicht abweichend Ragionamento sopra le difficultà del mettere in regole la nostra lingua. Dies bleibt dann auch der Titel in modernen Editionen (es schwankt je nach Edition la und le difficultà). 1044 Die politische Haltung, die ja auch oft eine lebensentscheidende sein konnte, sei in Bezug auf Gelli folgendermaßen charakterisiert: „Ne deduciamo che il G. fu un cauto simpatizzante dei Medici prima e un fedele sostenitore di Cosimo poi, anche se non troncò mai del tutto i rapporti con personaggi pericolosamente compromessi come il Brucioli, il Nardi e il Varchi […]“ (Piscini 1999: 13) [cf. il Brucioli = Antonio Brucioli (1498-1566); il Nardi = Jacopo Nardi (1476-1563)]. Akademie administrative Aufgaben (Zensor, 1542, Konsul, 1548). Gellis schrift‐ stellerische Produktion entsprach dem mediceischen Ideal und war breit gefä‐ chert: Gedichte (z. B. Canto degli agucchiatori, Canzone deʼ maestri di far specchi), Komödien (La sporta, 1543; Lo errore 1556), diverse Abhandlungen, sog. ragionamenti (Capprici del bottaio, 1546), weitere Dialoge (La Circe, 1549), Vor‐ lesungen zu Dante und Petrarca (Tutte le lezioni di G. G. fatte da lui nell’Acca‐ demia fiorentina, 1551), im Auftrag von Cosimo I. deʼ Medici (1519-1574, Hz. ab 1537) Kommentare zu Dante (Letture sulla Commedia, 1554-1561), ein histori‐ sches Traktat zum hebräisch-aramäischen Ursprung von Florenz (Tratatello sull’origine di Firenze, 1540), der sprachtheoretische Dialog Sopra le difficultà dello ordinare detta lingua [bzw. Ragionamento sopra le difficultà del mettere in regole la nostra lingua] (1551) 1043 sowie diverse Übersetzungen (cf. Piscini 1999: 12-17; Procaccioli 2008b: 250-251). 1044 Das Ragionamento (1551) zur Sprache ist ein fiktiver platonischer Dialog, in welchem der Autor (Gelli) mit seinem Freund und Kollegen aus der Akademie Cosimo Bartoli (1503-1572) (M. Cosimo) über verschiedene Aspekte der ques‐ tione della lingua räsoniert. In diesem Kontext bringt die Figur Gelli auch einige Überlegungen zur Antike und zur Natur der Sprache an sich in die Diskussion ein. Ma le lingue che io chiamai variabili non si favellano sempre in un modo; anzi, vanno variando e mutandosi di tempo in tempo, quanto in peggio e quando in meglio, se‐ condo gli accidenti che accaggiono in quelle provincie a chi elle sono e private e proprie, e secondo che eʼ vi vengono ad abitare genti d’una altra lingua: come avvenne, verbigrazia, in Italia, nella venuta deʼ Gotti e Vandali, alla lingua latina. (Gelli, Ra‐ gion.; 1976: 458-459). In diesem Passus beschwört Gelli die Variabilität der Sprache, er verabsolutiert das Phänomen, welches bereits von Dante festgestellt wurde (cf. Kap. 6.2.2), da‐ 634 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen hingehend, daß unabhängig davon, welcher Art die Veränderung sei (in peggio oder in meglio), der Sprachwandel der lebendigen mündlichen Sprache (cf. le lingue variabili) nicht aufzuhalten sei. Dies gelte sogar, wenn eine Beeinflussung von anderen Sprachen vorliege, wie in Italien das Lateinische von den Goten und Vandalen verändert worden sei. Bemerkenswert ist hierbei die relative Gleichbehandlung von intern und extern induziertem Sprachwandel, wie es ähnlich, aber nicht ganz so deutlich auch bei Claudio Tolomei (ca. 1492-1556) zu finden ist (cf. Kap. 6. 2. 13). Zudem läßt sich ein Ansatz einer diatopischen Ausdifferenzierung herauslesen, indem er betont, daß die Akzidentien sich je nach Provinz ändern würden. Seine Schlußfolgerung besteht darin, daß er pos‐ tuliert, eine lingua viva könne man nicht in (grammatische) Regeln fassen (met‐ tere in regola), während dies für eine lingua morta kein Problem wäre (cf. ibid.). Für das Lateinische sei dies zu Zeiten, als es noch eine lebendige Sprache gewesen sei, trotzdem kein Problem gewesen, da das römische Reich eine starke Einheit gebildet hätte und über die vera pronunzia und den vero modo del favel‐ lare keine Uneinigkeit herrschte, so daß man nur dem Sprachgebrauch der cit‐ tadini romani folgen mußte (cf. Gello, Ragion.; 1976: 463). Gelli rekurriert hier also auf die bekannte imperio-lingua-These (cf. Nebrija; Kap. 4), um deutlich zu machen, daß im Gegensatz zur eigenen Epoche, in der es in Italien verschiedene konkurrierende politische Zentren mit unterschiedlichen diatopischen Varie‐ täten des italienischen volgare gibt, woraus die Schwierigkeiten einer schriftli‐ chen Leitvarietät resultieren, im antiken Rom durch ein unbestrittenes poli‐ tisch-kulturelles Zentrum und eine Verbreitung des dort gesprochenen Lateins im gesamten Imperium diese Diskussion nicht stattfinden mußte. Die Art und Weise, wie die Verbreitung der lateinischen Sprache durch die Römer gesichert wurde, beschreibt er dabei relativ detailliert und benennt wich‐ tige Mechanismen der Romanisierung und Latinisierung. Perché neʼ tempi nostri non avviene di questa lingua quello che neʼ tempi deʼ Romani avveniva de la latina, che essendo propria d’una nazione che dominava allora ad una grandissima parte di questo mondo, era tanto stimata e onorata da ciascuno deʼ sug‐ getti loro, e in Italia massimamente, che eʼ non si trovava nobile alcuno e da farne stima, per qual si voglia città, il quale non si ingegnasse di parlar la lingua romana: sì perché chi non sapeva era da essi chiamato barbaro, cioè persona inculta e di rozzi e aspri costumi; e sì anche per i bisogni che occorrevano giornalmente nelle faccende e private e publiche, avendo comandato i Romani in tutte le loro provincie che e’ non si potesse agitare causa alcuna criminale o civile né far processo od instrumento alcuno se non in lingua latina. (Gello, Ragion; 1976: 462-463) 635 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1045 „Egli è vero che quello che nella età deʼ Romani faceva la forza, lo fa oggi la bontà e la bellezza di questa lingua“ (Gello, Ragion.; 1976: 464). 1046 Es sei nicht vergessen, daß die Accademia Fiorentina von ihrem Mäzenaten Cosimo deʼ Medici abhing. Die Sprache, d. h. die italienische Volkssprache in ihrer florentinischen Prägung, war eines der Machtinstrumente der Herrschenden, das kulturelle und damit auch politische Prestige ihrer Stadt zu demonstrieren bzw. zu steigern; letztlich auch eine Machtdemonstration gegenüber konkurrierenden Städten und Geschlechter wie den Visconti, den Sforza, den Anjou oder den Aragonesen (cf. Marazzini 2013: 97). Gelli schildert hier die wesentlichen Prinzipien, mit denen das Latein sich als Sprache eines großen Teils der damaligen Welt durchsetzen konnte. Grundlage war zunächst die militärisch-politische Dominanz, so daß es überall Verbreitung fand, daraus wiederum ergab sich das Prestige der Sprache und damit einher‐ gehend die soziale Ächtung all derjenigen, die sprachlich (barbaro) und kulturell (persona inculta e di rozzi e aspri costumi) unterlegen waren. Des Weiteren war es durch die Vorrangstellung des Lateinischen kaum möglich, ohne diese Sprache im privaten Alltag (faccende private) zurechtzukommen (z. B. Handel) oder am öffentlichen Leben teilzuhaben (faccende publiche), d. h. einen Prozeß zu führen oder Ämter zu bekleiden. Gelli beschreibt also ziemlich gut die sprachlichen und kulturellen Folgen der Romanisierung, die er dann mit den Bemühungen im zeitgenössischen Frank‐ reich unter Franz I. (1494-1547, Kg. ab 1515) vergleicht, der ebenfalls das Fran‐ zösische in seinem Reich fördert und so zur Bereicherung der Sprache beiträgt. In Italien greife das Modell der machtpolitisch begründeten Vorrangstellung einer Sprache bzw. Varietät jedoch nicht, hier seien rein sprachliche Kriterien wie eine natürliche bontà und bellezza ausschlaggebend, 1045 was in seiner Dar‐ stellung nur für das Florentinische sprechen könne (cf. ibid. 1976: 464). Hiermit zeigt sich dann auch seine Position im Rahmen der questione della lingua, deren Verdeutlichung das eigentliche Anliegen darstellt, welches diesem Ragionamento zugrundeliegt. Gelli ist ein Vertreter des uso vivo fiorentino und ein typischer Repräsentant des umanesimo civile florentinischer Prägung. 1046 Dabei lehnt er keineswegs die ja durchaus ruhmreiche schriftstellerische Tra‐ dition seiner Heimatstadt ab (cf. trecentisti), doch setzt er - wie z. B. Pietro Bembo (1470-1547) (cf. Kap. 6. 2. 11) - auf die Progression in der Sprachentwicklung, d. h. er glaubt an das noch schlummernde Potential des volgare, an eine mögliche Verfeinerung und Veredelung der florentinischen Literatursprache in der Zu‐ kunft, und zwar nach dem Vorbild der klassischen Sprachen, d. h. imitatio, aber nicht durch Entlehnung (cf. Gaetano 1967: 278). Er wendet sich dabei sowohl gegen einen feticismo arcaizzante (d. h. das bembianische Modell) als auch gegen einen manierismo latineggiante, wie es Vitale (1984: 87) formuliert. Der buon uso 636 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1047 Gelli geht dabei soweit, daß er das Florentinische und das Toskanische als zwei unter‐ schiedliche Sprachen ansieht (cf. Gaetano 1967: 276). Seine Auffassung entwickelt sich mit der Zeit von einem eher engen auf Florenz bezogenene campanilismo hin zu einem etwas erweiterten, offeneren Konzept (cf. Girardi 1955: 471). 1048 Dazu trug Gelli auch durch seine zahlreichen Übersetzung selbst bei (cf. Piscini 1999: 17), was im Kreise der Humanisten nicht uneingeschränkt Anklang fand (cf. Strauss 1938: 65). Übersetzungen - in die Volkssprache, nicht vom Griechischen ins Lateini‐ sche - wurden in der Renaissance auch noch lange als genere umile verstanden, so daß Humanisten wie Trissino oder Gelli, die tatsächlich Werke übersetzten, wegweisend wurden, andere wie beispielsweise Ludovico Castelvetro beließen es dabei, translato‐ rische Fragestellungen zu diskutieren (cf. Lettera del traslatore, 1543, publ. 1571) (cf. Lieber / Winter 2011: 1922). 1049 Vitale (1984: 87) spricht diesbezüglich insgesamt von ragioni storico-linguistico-lette‐ rarie. nach der Vorstellung Gellis, kann nur ein volgare urbano sein, 1047 ist also diato‐ pisch limitiert (cf. aber auch urbanitas im diaphasischen Sinne), dabei liegen seine Qualitäten in der bellezza und grazia, was nicht nur die Wortwahl betrifft, sondern auch die Anordnung der Wörter im Satz bzw. Text; nicht zuletzt spielt aber auch die Funktionalität im Sinne einer Kultursprache eine Rolle, die es einem erlaubt, Gedanken zur Philosophie, Astrologie oder anderen Wissen‐ schaften auszudrücken. Die grundlegenden Prinzipien von ars und natura sollten sich dabei nicht ausschließen, sondern harmonieren, was beim Floren‐ tinischen insofern zuträfe, da die natürliche Anmut und Grazie der Sprache durch den sprachlichen Ausbau (z. B. Wissenschaftsliteratur) 1048 gefördert werde (cf. Vitale 1984: 85-88). Die oben diskutierten historischen Exkurse dienen Gelli dabei letztlich der Untermauerung dieser Grundthesen in der Sprachenfrage. 1049 In seinem Traktat Dell’origine di Firenze bzw. Tratatello sull’origine di Firenze (1544) rekonstruiert Gelli für das Florentinische einen aramäisch-etruskischen Ursprung, ganz ähnlich wie sein Freund Giambullari in dessen quasi zeitgleich entstandener Abhandlung Il Gello (1546) (v. supra). Seiner Theorie nach war die Sprache Noahs das Aramäische; von Armenien aus, wo die Arche nach der Sint‐ flut am Ararat anlandete, trugen seine Nachfahren die Sprache in die Welt, wobei im Laufe der Zeit daraus in Palästina das Hebräische entstand und in der Toskana das Etruskische. Diese Genese der Sprache und des Landes sei dann in Vergessenheit geraten, auch weil die Etrusker keine maßgeblichen Schriftsteller besaßen, so daß die Entstehungsgeschichte durch die griechischen und latein‐ ischen Autoren anders dargestellt wurde. Gelli beruft sich dabei, mangels kon‐ kreter Nachweise, auf diffuse neuentdeckte Quellen, was die sprachlichen 637 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1050 Zu den Quellen dieser These v. supra bei Giambullari sowie D’Alessandro (1980: 350 354). 1051 Gelli greift immer wieder verschiedene Aspekte aus Dantes Überlegungen auf und nennt dessen beide sprachtheoretische Traktate, De vulgari eloquentia und Convivio, auch explizit als Referenz (cf. Gelli, Ragion.; 1976: 468). Hieran zeigt sich sehr gut wie wichtig Dante nach der Wiederentdeckung von DVE (1514, publ. 1529) in der Spra‐ chenfrage geworden ist. Die Echtheit des Traktates und die dort enthaltenen Thesen wurden auch lebhaft im Zirkel der Orti Oricellari diskutiert (cf. Gaetano 1976: 140). Exempla anbelangt, orientiert er sich an Giambullari (cf. Girardi 1955: 473-476; D’Alessandro 1980: 347-350). 1050 Der Beitrag Gellis zur vorliegenden Sprachenfrage zur Antike ist nicht un‐ wesentlich, denn er greift den seit Dante 1051 wichtigen Topos der Veränderlich‐ keit der Volkssprache auf, den er auf alle Sprachen appliziert, dabei intern und extern induzierten Wandel als weitgehend gleichwertig darstellt und gleich‐ zeitig den Aspekt der diatopischen Differenzierung miteinfließen läßt. Er schil‐ dert zudem den Prozeß der Romanisierung und Latinisierung und reichert ihn mit wichtigen Detailaspekten an, die bis dahin noch nicht so deutlich zum Tragen kamen. Schließlich ist er auch ein Vertreter der Etruskerthese, wobei er das etruskische Substrat mit einem aramäischen Ursprung verknüpft, so daß er sich in diejenigen einreiht, die wie Giambullari oder Tolomei versuchen, das Florentinische durch einen möglichst alten und prestigereichen Ursprung in ihrer Einzigartigkeit hervorzuheben. Für die Frage nach dem Inhalt des Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ bedeuten solche Rekonstruktionen einerseits eine diffuse Aushöhlung durch schiefe Herlei‐ tungen, andererseits wird dabei auch die etymologische Forschung befördert, zumal, wie bei Giambullari, nicht wenige Rekonstruktionen durchaus korrekt sind (cf. Coseriu supra). Girolamo Ruscelli Bei dem nun folgenden Humanisten in dieser Betrachtungsreihe handelt es sich um Girolamo Ruscelli (lat. Hieronymus Ruscellius) (1518-1566), der Aspekte der antiken Sprachenfrage in seinen postum erschienenen Deʼ Commentarii della lingua italiana (1581) anspricht. Ruscelli wurde in eher bescheidenen Verhältnissen in Viterbo in Latium ge‐ boren, d. h. niederer Adel oder Notariatsfamilie. Über seine Ausbildung ist kaum etwas bekannt, außer daß er sich wohl nach ersten Studien in Viterbo zur Wei‐ terbildung nach Rom begab. Dort wurde er von Ascanio Parisini (1500-1549, Kard. ab 1539) gefördert, in den 1530er-Jahren kam er in Kontakt mit der von Claudio Tolomei ins Leben gerufenen Accademia della Nuova Poesia (gegr. 1539) und gründete schließlich selbst mit Tommaso Spica (16. Jh.) und Giovanni 638 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1052 Sein Wirken und seine Bedeutung wird von Gizzi folgendermaßen auf den Punkt ge‐ bracht: „Girolamo Ruscelli è figura onnipresente nella produzione editoriale veneziana degli anni centrali del Cinquecento: filologo volgare per le edizioni di Boccaccio, Pet‐ rarca e Ariosto, traduttore, antologista di liriche e lettere, autore di un rimario consi‐ derato essenziale alla scrittura in versi fino all’Ottocento, revisore di traduzioni e trattati contemporanei di varia erudizione e compilatore di un famoso repertorio di Imprese“ (Gizzi 2016: 7). 1053 Cf. dazu auch sehr deutlich: „La grandezza dell’Imperio romano fu cagione che, quanto s’allargarono i suoi termini, tanto s’havesse notitia di quella lingua, la cui natione sig‐ noreggiava all’altre […]“ (Ruscelli, Comm. I, 8, 1; 2016 I: 181). Andrea dell’Anguillara (1517-1570) die Accademia dello Sdegno (gegr. 1541). Im Jahre 1548 / 1549 übersiedelte er nach Venedig, verkehrte in der Accademia dei Dubbiosi (1552) (gegr. 1551) und der Accademia della Fratta (1552-1554) (gegr. 1540), wo er u. a. mit Lodovico Dolce (1508-1568) disputierte, und machte sich als Typograph in verschiedenen Anstellungen einen Namen. Er widmete sich außerdem seinen vielfältigen literarischen, übersetzerischen sowie vor allem editorischen Tätigkeiten und blieb bis zu seinem Tod in der Lagunenstadt. Aus seinem literarischen Schaffen seien folgende Werke genannt: die Editionen Tempio alla divina signora Giovanna d’Aragona (1555) und Rime di diversi eccel‐ lenti autori (1545-1560), die Übersetzung von Claudius Ptolomäusʼ Werk Geo‐ grafia (1561), das Traktat Le imprese illustri, con espositioni et discorsi (1566) sowie einige Abhandlungen zu Philosophie, Rhetorik und Grammatik, z. B. Tre discorsi a M. Lodovico Dolce (1553), Del modo di comporre in versi nella lingua italiana (1559), Lettere di principi (1562-1564), Dialogo ove si ragiona della ortografia (1566), Deʼ Commentarii della lingua italiana (1581) und Vocabolario delle voci latine dichiarate con l’italiane (1588) (cf. Crupi 2008b: 338-339; Procaccioli 2017: 282-285). 1052 Ruscelli schildert im achten Kapitel des ersten Buches (Lib. I, Cap. VIII : Dell’ origine, et della dignità della lingua italiana) seiner Commentarii die antike vor‐ römische Sprachsituation in Italien. Dabei erklärt er sehr plausibel, wie die eins‐ tigen autochthonen Sprachen durch die Ausweitung des Imperium Romanum aufgehört hatten zu existieren und sich die cognitione und der uso della lingua Latina durchgesetzt hatte. All diejenigen Völker, die zuvor eine lingua propria & particolare hatten, gaben diese auf. Bisogna dunque confessare che, sì come i Romani, prima che passassero il mare, furono signori dell’Italia, così ancora, per questo rispetto, che tutta l’Italia prendesse la cog‐ nitione et l’uso della lingua latina antica innanzi all’altre nationi; onde quei popoli dell’Italia, i quali havevano una lingua propria, et particolare, vennero in breve spatio di tempo à lasciarla et usar questa […]. 1053 (Ruscelli, Comm. I, 8, 3; 2016 I: 181) 639 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1054 Während das antike Hispanien und Gallien tatsächlich ganz der römischen Eroberung anheimfielen und in verschiedene Provinzen gegliedert wurden (cf. Kap. 4), betrifft dies das heutige bzw. das historische Deutschland nur zum Teil. Es gab die römischen Pro‐ vinzen Germania superior und inferior sowie die Raetia, kleinere Teile gehörten im Norden auch zur Belgica (z. B. Trier) und im Südosten zum Noricum (Bayern jenseits des Inn). All dies nannte man auch Germania capta im Gegensatz zur nicht besetzten Germania magna (modern auch: Germania libera), welches aber durchaus auch der Ro‐ manisierung unterlag. Ruscelli bleibt hier in Bezug auf die Zuordnungen erwartbar undifferenziert; berücksichtigt man aber die Ergebnisse der aktuellsten historischen Forschung, die einen relativ hohen Grad der römischen Durchdringung, auch des un‐ besetzten Germaniens nahelegt, erscheint die so pauschale Aussage Ruscellis in einem anderen Licht. 1055 „Questo medesimo successe nella Francia, nella Germania et nella Spagna et in altre provincie che con l’Imperio riceverono ancora la lingua dei Romani, et se tutte non l’usavano come sua, basta che almeno n’havevano l’intelligenza et la sapevano parlare“ (Ruscelli, Comm. I, 8, 5; 2016 I: 182). Ruscelli beschreibt hier den Sprachwechsel, der sich allmählich, aber doch re‐ lativ rasch vollzogen hätte, was unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dies nicht überall identisch ablief (cf. Kap. 4), grosso modo durchaus den historischen Gegebenheiten entspricht. Er führt zudem die wichtigsten Gründe für die Auf‐ gabe der einheimischen Sprachen an, und zwar Kriegszüge (far guerra alle na‐ tioni stranieri), Handel (per lo commercio) und Koloniegründungen (mandate Colonie) (cf. ibid.). Damit verweist er auf wichtige Aspekte des Romanisierungs‐ prozesses. Das Phänomen der Kolonien hatte zwar auch schon Poggio Braccio‐ lini (1380-1459) angesprochen (cf. Kap. 6.2.6), es wurde ansonsten in der Debatte aber zu keinem durchgängig thematisierten Aspekt. Des Weiteren weist Ruscelli darauf hin, daß diese Prozesse nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich (Francia), Spanien (Spagna), Deutschland (Ger‐ mania) 1054 sowie weiteren Provinzen abliefen. Dabei legt er auch dar, daß die Sprachbeherrschung des Lateins als neue Verkehrssprache zunächst auch nur passiv bzw. mäßig aktiv sein konnte und nicht auf muttersprachlichem Ni‐ veau. 1055 Anschließend beschreibt er die Sprachentwicklung im Zuge des Untergangs des römischen Reiches, wobei er ganz traditionell auf die „Korruptionsthese“ von Flavio Biondo rekurriert und die barbare nationi, darunter vor allem die Goten und Langobarden, dafür verantwortlich macht. Ora, comunque si sia successa l’alteratione di quelle, questa nostra provincia d’Italia ritenne la lingua romana fino alla declinatione dell’Imperio, quando, per la venuta deʼ Gothi, deʼ Longobardi et altre barbare nationi, che la corsero et guastarono tutta, si venne à corrompere et alterare di maniera che se ne fece un’altra lingua diversa dalla latina et da quella de’ Barbari. (Ruscelli, Comm. I, 8, 7; 2016 I: 182) 640 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1056 Mit Castelvetro verband Ruscelli hauptsächlich eine Debatte über die Sprache in Boc‐ caccios Decamerone, wobei Castelvetro als Philologe versuchte, das Werk des Trecen‐ tisten eher in Bezug auf Erzähltradition, innere Logik und narrative Strukturen hin zu betrachten, während Ruscelli als Redakteur und Grammatiker mehr auf sprachliche Einheitlichkeit und Kohärenz bedacht war (cf. Garavelli 2012 II: 933). 1057 So führt er auch die Entstehung der Artikel im volgare auf das mescolamento durch die Gotti und Vandali (hier nicht: Langobarden) zurück. Im gleichen Zeitraum wäre die lingua latina im Niedergang begriffen (in declinatione), die Volkssprache hingegen im Entstehen (in principio) (cf. Ruscelli, Comm. II, 5, 5; 2016 I: 209). Zur Erklärung der Ent‐ stehung des temporalen Adverbes hora (nit. ora) aus dem lat. ad hanc horam verweist er ebenfalls explizit auf die corrottione della lingua latina durch die Barbari (cf. ibid. IV, 7, 21; 2016 II: 703). Einerseits scheint es zunächst so, daß Ruscelli hier Claudio Tolomei (ca. 1492-1556) und Ludovico Castelvetro (1505-1571) folgen würde (cf. Kap. 6. 2. 13, 6. 2. 14), 1056 indem er die mit der corruptio einhergehende alteratio betont (cf. alterazione, alterare di maniera), wodurch theoriegemäß eine neue Sprache ent‐ stünde, die sich jedoch in ihrer Substanz nicht verändere; daraus wäre abzu‐ leiten, daß das zeitgenössische volgare zwar eine neue Sprache sei (lingua di‐ versa), jedoch vom Lateinischen abstamme. Andererseits erwähnt er wenige Zeilen danach explizit Pietro Bembo (1470-1547) als Referenz, der in seiner Mischsprachentheorie das Prinzip der generatio hervorhebt (cf. Kap. 6. 2. 11). In‐ sofern kann man davon ausgehen, daß Ruscelli hier nicht ganz so präzise zwi‐ schen den beiden Prinzipien unterscheidet. Die Tatsache, daß er zumindest in weiten Teilen Bembo folgt (cf. Bembo et d’altri scrittori), wird in der Art deutlich, wie er dann die wechselseitige Beeinflussung schildert, nämlich sowohl die barbari als auch die italiani würden die Wörter der jeweils anderen Sprache gebrauchen, woraus schließlich die zeitgenössische Sprache entstanden sei, die von Ort zu Ort variiere. 1057 Er spricht zudem von mescolamenti delle nationi (cf. Ruscelli, Comm. I, 8, 10; 2016 I: 182) sowie von mutationi der Gebräuche sowie des Sprechens. Nach diesem Prozeß („nostra lingua, così corrotta dalla latina et da quella dei Barbari“; ibid. I, 8, 15; 2016 I: 183) wurde das so entstandene volgare Italiens bereichert und verschönert, und zwar mit Hilfe lateinischer Konstruk‐ tionen (forme di dire) und Wörter (vocaboli) sowie griechischer Wörter. Hinzu wären noch Entlehnungen aus den Nachbarsprachen Französisch und Spanisch gekommen, denn um alles ausdrücken zu können, sei es nötig gewesen, voci forestieri zu übernehmen. Ruscelli folgt hier wiederum grundsätzlich Bembo, beschreibt aber in bestimmter Hinsicht womöglich sprachlich noch genauer den Ausbauprozeß der Volkssprache nach der declinatio. Die Übernahme von Lehn‐ wörtern, so Ruscelli, sei ein Phänomen, welches es schon zu Zeiten der antiken Römer und Griechen gegeben hätte, und führt Platon an, demzufolge die Grie‐ 641 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1058 Mit Citolini pflegte Ruscelli auch offensichtlich engen Austausch im Zuge der Entste‐ hung der Commentarii, wie aus einem Widmungsschreiben aus dem Jahr 1551 zu Ci‐ tolinis Neuauflage der Lettere in difesa de la lingua volgare hervorgeht (cf. Ghizzi 2016: 8-9). chen zahlreiche Wörter von den Barbaren übernommen hatten, vor allem von denjenigen, die den Griechen untertan waren (cf. ibid. I, 8, 14; 2016 I: 182). Hiermit beleuchtet Ruscelli sehr differenziert das Phänomen des Sprachkon‐ taktes, der prinzipiell immer wechselseitig stattfindet, wobei die Relation von Geber- und Empfängersprache sowohl vom Sozialprestige der Sprache abhängt als auch von der politischen Machstellung und der Intensität des Kontaktes. Dabei können die Konstellationen sich jederzeit auch ändern. In der questione della lingua votiert Ruscelli für ein modernes Florentinisch bzw. Toskanisch. Dabei erkennt er durchaus die Tradition der nach Bembo maßgeblichen Autoren des Trecento an, d. h. Petrarca als Vorbild für die Lyrik und Boccaccio für die Prosa, doch sind zum einen die der imitatio würdigen Autoren (buoni autori) bei ihm weiter gefaßt und nicht nur auf die Toskana beschränkt und zum anderen sieht er durchaus den Bedarf, die Sprache dem aktuellen Gebrauch anzupassen. Wichtig ist ihm zudem, wie auch aus den his‐ torischen Ausführungen hervorgeht, die Bereicherung des Wortschatzes durch Entlehnungen (arrichimento), so daß letztendlich das archaische Toskanisch zwar einen wichtigen Bestandteil der angestrebten literarischen Normsprache darstellt, aber diese entsprechend aktualisiert und erweitert werden müsse. Dabei rekurriert er sowohl auf die consuetudine Quintilians als auch auf den Topos der mellificatio, was letztendlich nicht mehr ganz dem bembianischen Modell entspricht (cf. Ghizzi 2016: 41-43). In seiner sprachtheoretischen Aus‐ richtung weicht er auch in anderer Hinsicht von seinem Vorbild Bembo ab, und zwar insofern er sich nicht nur für die literarischen Aspekte der Sprache inte‐ ressiert, sondern auch für ihre kommunikative Funktion, und sich damit eher Benedetto Varchi (1503-1565) oder Alessandro Citolini (ca. 1500-1582) annä‐ hert. 1058 Hierzu gehört auch seine begriffliche Differenzierung von voce zur Be‐ zeichnung von tierischer Kommunikation und favella von menschlicher (cf. Ghizzi 2016: 29-30). In der Debatte um die antike Sprachkonstellation ist Ruscelli nicht nur als jemand zu sehen, der die Korruptionsthese Biondos wiederaufgreift und somit die tesi pseudo-bruniana ablehnt (cf. Schlemmer 1983a: 51-52; Marazzini 1993a: 241), sondern der wichtige Aspekte des Romanisierungsprozesses darlegt, die bisher keine Berücksichtigung fanden. In seinen Ausführungen zur Antike folgt er, wie er ja auch selbst anführt, in vielerlei Hinsicht Bembos Thesen. Dies betrifft mit gewissen Einschränkungen die Entstehung des volgare als Misch‐ 642 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1059 In Ferrara macht er die Bekanntschaft von Bartolomeo Cavalcanti (1503-1562) und Gabriele Cesano (1490-1568). An letzteren adressiert er einen Brief, in welchem er den Vorrang der Prosa Boccaccios gegenüber derjenigen Machiavellis hervorhebt. In Urbino wird er kurzzeitig zum precettore von Francesco Maria II. della Rovere (1549-1631, Hz. ab 1574) und unterrichtet zudem Torquato Tasso (1544-1595). Bei einer Reise nach Florenz lernt er Benedetto Varchi (1503-1565) kennen (cf. Faini 2012: 615-616). sprache und seine dann folgende Aufwertung im Sinne eines Ausbaus der Volks‐ sprache, was schließlich in der Produktion der tre corone seinen vorläufigen Höhepunkt hat. Das Erlernen der lateinischen Sprache durch eingewanderte Barbaren (d. h. in erster Linie Goten, Vandalen und Langobarden) und ihre „feh‐ lerhafte“ Aussprache (cf. Schlemmer 1983a: 52), die dann partiell auch von den Römern bzw. Italienern übernommen wird, führt ihm zufolge gleichsam einer Abwärtsspirale zum bekannten Sprachverfall (declinatio), aus dem heraus dann etwas Neues entstehe (generatio). Nicht zu vergessen ist auch, daß Ruscelli sich gegen den von Gelli und Giambullari vertretenen aramäisch-etruskischen Ur‐ sprung des Toskanischen ausspricht (cf. Ghizzi 2016: 39), indem er explizit darauf hinweist, daß die italischen Substratsprachen untergegangen seien und man von ihnen keine weitere Kenntnis habe (v. supra). In diesem Zusammenhang erläu‐ tert er auch den relativ schnellen Sprachwechsel zum Lateinischen als domi‐ nante Sprache. Girolamo Muzio Bei dem letzten Protagonisten in dieser ergänzenden Reihe handelt es sich um Girolamo Muzio (lat. Hieronymus Mutius) (1496-1576), der sich in den Schriften Per la difesa della volgar lingua (1533-1540) und La Varchiana (1573-1574), die postum von seinem Sohn in dem Sammelband Battaglie in difesa dell’Italica lingua (1582) veröffentlicht wurden, zur Debatte um die Antike geäußert hat, sowie in einem seiner Briefe (1541). Muzio stammte aus Padua, seine Familie ursprünglich jedoch aus Capodistria (slow. Koper, lat. Iustinopolis), woher auch sein gelegentlich auftauchender Na‐ menszusatz herrührt (cf. Muzio Giustinopolitano bzw. Mutio Iustinopolitano). Über seine frühe Ausbildung ist nicht viel bekannt. Bei einem Aufenthalt in Dalmatien (1513) lernte er den Dichter Antonio Mezzabarba (ca. 1485 / 1490-1564) kennen und über ihn die Sprachtheorie Pietro Bembos (1470-1547), in Venedig hörte er Vorlesungen von Raffaele Reggio (15./ 16. Jh.) und Vittorio Fausto (15./ 16. Jh.). Zur Sicherung seines Lebensunterhaltes begab er sich in zahlreiche wechselnde Dienste bei verschiedenen Würdenträgern und an diverse Höfe (Ferrara, Pesaro, Urbino). 1059 Seine diplomatischen Missionen führten ihn u. a. nach Rom, Mailand, Bologna, nach Wien zu Maximilian I. 643 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini (1459-1519, Kg. ab 1486, Ks. ab 1508) und nach Worms, wo er mit dem Protes‐ tantismus in Kontakt kam, sowie nach Frankreich (1530) an den Hof Franz I. (1494-1547, Kg. ab 1515), wo er Guillaume Budé (1468-1540) kennenlernte. Er starb krankheitsbedingt in Panaretta in der Nähe von Florenz (1576). Von seinem schriftstellerischen Schaffen seien die Abhandlungen Il duello (1550) und Il gen‐ tiluomo (1571) zum höfischen Leben erwähnt, die Egloghe (1550) an die Kurtisane Tullia d’Aragona (1510-1556), die Gedichtsammlung Rime diverse (1551), die eine Arte poetica (1551) inkludiert, die Schriften zur Verteidigung des Katholi‐ zismus, Vergerine (1550) und Mentite Ochiniane (1551), die kirchenkritischen Lettere catholiche (1571) sowie die erwähnten Battaglie (1582) zu Sprachprob‐ lemen (cf. Crupi 2008e: 648; Faini 2012: 614-617). In seinem Traktat Per la difesa della volgar lingua (1533-1540, publ. 1582) ist der Titel Programm, d. h. es geht ihm um die Verteidigung der italienischen Volkssprache, dem volgare, welches er auch nostra materna lingua oder italica lingua nennt, gegenüber dem Lateinischen. Bereits relativ zu Beginn geht er auf die historische Dimension der Sprache ein und führt dies mit der Darstellung der aus seiner Sicht allgemeinen Meinung zu diesem Thema ein. Fanno primieramente un lungo discorso in dimostrare che la lingua nostra di corruzion d’altre lingue abbia la sua origine avuta, dicendo la latina esser semplice e pura, nata anticamente in Lazio: e da questo vogliono inferir che più tosto quella che questa seguitar dobbiamo. Quindi s’affaticano a volerci persuader, che tutto che noi usiamo communemente questa lingua in parlando, dobbiamo quell’altra usar nelle scrit‐ ture […]. (Muzio, Difes.; 1994: 217) Muzio greift hier wichtige Elemente der Diskussion auf, im Zuge derer das La‐ teinische als unverfälschte lingua pura charakterisiert wird, im Gegensatz zum volgare, welches unrein und durch die Korrumpierung durch andere Sprachen, d. h. die barbarischen, geprägt worden sei. Der Ursprung des Lateinischen wird aus heutiger Sicht korrekterweise in der Region Latium verortet. Neben diesen Merkmalen zur Sprachgeschichte wird weiterhin das Diktum der Lateinhuma‐ nisten widergegeben, nämlich daß das Lateinische die Sprache der Schrift sei und die Volkssprache nur zur mündlichen Kommunikation dienen könne. Genau an diesem Punkt widerspricht dann Muzio. Zunächst zählt er aber noch weitere Argumente auf, die zahlreiche Gelehrte anbringen, um die Stellung des Latein‐ ischen zu untermauern. Dazu gehört unter anderem, daß zum Verständnis der Wissenschaften das Lateinische unabdingbar sei sowie zur Verständigung mit Anderssprachigen (cf. ibid.). Argumentativ holt er dann schließlich zum Gegenschlag aus und erörtert die Anfänge der lateinischen Sprache, die darauf schließen lassen, daß sie keines‐ 644 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1060 „Ultimo di tutti venne in Lazio Enea coi suoi Troiani, i quali con queʼ popoli, per mari‐ taggi, per legge, per costumi e per lingua rammescolatisi insieme, insiememente furono domandati Latini. Tale istimo io adunque che fosse l’origine di quella lingua: che con le prime lingue quelle delle sopravegnenti nazioni corrompendosi, ne fosse la nuova latina generata.“ (Muzio, Difes.; 1994: 218). wegs pura und semplice sei. Die ursprünglichen Einwohner Latiums seien näm‐ lich die Sikuler (Siculi) gewesen, dann seien aus Arkadien die Aborigini einge‐ wandert, später dann Pelasger, Griechen und Thessalier sowie schließlich die Trojaner unter Aeneas. Aus dieser Völkermischung sei dann durch Heirat, Ge‐ setze, Bräuche und eine neudurchmischte Sprache das Volk der Latiner ent‐ standen. 1060 Aus dieser von ihm präsentierten historischen Entwicklung leitet er dann eine Vergleichbarkeit zu Entstehung des zeitgenössischen volgare ab. Ma ben risponderei che se ella fu lingua di qualunque sʼè l’uno di que’ popoli, essendo ciascun venuto di terre strane, ella non nacque in Lazio (come predicano), e per con‐ seguente verrà ad essere straniera. La nostra veramente certo è che ella nacque della latina e d’altre Oltramontani, e di Longobardi massimamente, i quali per virtù d’arme lungamente in Italia regnarono. E nacque ella in Italia fra noi, et è tutta e propria nostra natia. Se la latina adunque provenne da corruzione, non è ella per semplicità né per purità, più che sia la nostra nobile. (Muzio, Difes.; 1994: 219) Die Argumentation ist stringent und eindeutig: Wenn durch jene Völker, die größtenteils von außerhalb kamen, das Lateinische neu entstanden ist (cf. ge‐ neratio), dann ist das der gleiche Prozeß wie bei der heimischen Volkssprache, die eine corruzione aus dem Lateinischen und den Sprache(n) der militärisch überlegenen Völkern wie vor allem der Langobarden, aber auch anderer von jenseits der Alpen (Oltramontani), darstellt. Daher kann das Lateinische weder semplicità noch purità für sich reklamieren und ist deshalb auch nicht erhabener (nobile) als die zeitgenössische Volksprache. Es geht ihm letztlich also um die nobilità und, wie er im Folgenden darlegt, die dignità, d. h. diejenigen Eigen‐ schaften, die die Lateinhumanisten allein dem Latein attribuieren, die Muzio aber hier historisch begründet in gleicher Weise für das volgare geltend macht. Da somit das Primat des Lateinischen als alleinige Schriftsprache obsolet ist, kann Muzio mit Recht die Eignung der Volkssprache für die schriftliche Kom‐ munikation reklamieren. In der questione della lingua nimmt Muzio eine vulgärhumanistische Position ein, als adäquate Schrift- und Literatursprache Italiens propagiert er eine lingua italiana oder commune. Das vorliegende Traktat Per la difesa della volgar lingua richtet sich vor allem gegen die Reden bzw. Schriften des Lateinhumanisten Romolo Amaseo (1489-1552) (cf. Kap. 6.1.1), was den oben gezeigten Argumen‐ 645 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1061 „La Toscana, dunque, non perdeva il primato dellʼ ,ornamentoʽ e della ,leggiadriaʽ, ma non era riconosciuta come il luogo in cui la lingua si era formata“ (Marazzini 1989: 31). Zur Argumentation gegen die damit verbundenen Erklärungen zum Sprachursprung des Toskanischen v. infra. tationsschwerpunkt erklärt. Es geht also primär nicht um die Frage, welches volgare verwendet werden soll, sondern zunächst erst einmal darum das Prestige der Volkssprache aufzuwerten (bzw. das des Lateins abzuwerten) und ihre Funk‐ tionsbreite darzustellen, denn sie kann grundsätzlich beides sein, die Sprache der Gelehrten und die des Volkes, unter Berücksichtigung der entsprechenden stilistischen Unterschiede (cf. Vitale 1984: 66). In einer anderen Schrift der Sammlung Battaglie in difesa dell’Italica lingua, nämlich dem Traktat La Var‐ china (1573, publ. 1582), polemisiert Muzio heftig gegen die Thesen der fioren‐ tinità Benedetto Varchis (1503-1565) und bekennt sich zu einem Modell der italianità, d. h. hier wird ein Kerndisput der questione ausgetragen, rein unter Vulgärhumanisten. Die Grundlage bilden dabei für Muzio ausgewählte Autoren, die jedoch nicht unbedingt florentinisch sein müssen, sondern auch aus anderen Regionen stammen und durchaus auch zeitgenössisch sein können, d. h. sein Modell läßt Elemente anderer Varietäten zu und ist auch nicht zwangsläufig archaisierend. Allerdings favorisiert er Formen, die dem Latein nahestehen, wie man sie bei den tre corone findet, 1061 insbesondere bei Boccaccio (cf. Vitale 1984: 66-67). In der erwähnten Schrift Varchina, in der Muzio nicht nur Thesen Varchis demontiert, sondern u. a. auch gegen Lodovico Castelvetro (1505-1571) und Gi‐ rolamo Ruscelli (1518-1566) polemisiert, finden sich auch einige Aspekte, die die Antike bzw. den Sprachursprung betreffen (cf. Kap. 6. 2. 15). So argumentiert Muzio in Kapitel XXII gegen Varchis Behauptung das volgare würde sich aus dem Lateinischen und dem Okzitanischen zusammensetzen, sei gar figliuola di due madri. Provokant fragt er daraufhin zurück, ob die Provenzalen denn Italien erobert hätten, was die Voraussetzung für eine solche Entwicklung sei. Vennero forse ʼProvenzali ad occupar la Toscana? Questo non mostrerà egli. Né per vicinanza dir si può che appigliandosi la lingua di luogo in luogo sia trapassata in Toscana, ché fra la Provenza e la Toscana vi ha tutto il territorio genovese, il Piemonte, il Montferrato, e parte di Lombardia: e non sarebbe volata oltra tanto paese che di sé lasciata non avesse memoria o segnale alcuno. Come si fece adunque questa compo‐ sizione, e come ha avute quelle due madri? Questo vuol dir che la lingua latina non fu mescolata tanto con le lingue di tutte le altre barbare nazioni che hanno occupata la Italia quanto con quella de’ Provenzali, che mai non vi furono. (Muzio, Varch. XXII; 1994: 124) 646 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1062 Muzio hatte also den Cesano von Tolomei, der erst 1555 publiziert wurde, bereits als Manuskript gelesen und offensichtlich direkt darauf reagiert (cf. Marazzini 1993a: 262). Muzio führt zu Recht ins Feld, daß zum einen die Provenzalen die Toskana nicht erobert hatten, wodurch eine Parallele zur corruptio durch die germanischen Invasoren hinfällig wäre, und zum anderen seien zwischen der Provence und der Toskana einige andere Territorien angesiedelt, die einen direkten Einfluß nicht plausibel machen würden. Er führt dann im Weiteren aus, daß ja abgeleitet von Pietro Bembo (1470-1547), der auf das Vorbild der Provenzalen in der Dich‐ tung (il modo del rimare) verwiesen hat (cf. Kap. 6. 2. 11), hier zwar durchaus Interferenzen gegeben seien, dies sich jedoch auf wenige Wörter beschränke und man deshalb kaum davon sprechen könne, daß die Volkssprache aus der lingua latina und der lingua provenzale zusammengesetzt sei (cf. ibid. 1994: 125). Aus heutiger linguistischer Perspektive kann man der Argumentation Muzios nur beipflichten, der hier ein gutes intuitives Gefühl für sprachhistorische Zu‐ sammenhänge und deren Auswirkungen zeigt. Dies wird auch an einer anderen Stelle der Varchina deutlich, wo er auf das Prestigegefälle von Sprachen hinweist (cf. Marazzini 2013: 79), welches auf den sozio-politischen Gegebenheiten bzw. Machtkonstellationen der zugrundelie‐ genden Sprachgemeinschaft beruht: „Aʼ prigioni era necessario apprender la lingua del paese, e non aʼ paesani quella deʼ prigioni“ (Muzio, Varch. XX ; 1994: 122). Es sei noch eine letzte risposta Muzios angeführt, und zwar die Ablehnung des etruskischen Ursprungs des Toskanischen wie er von Claudio Tolomei (ca. 1492-1556) (sowie Giambullari und Gelli; v. supra) vertreten wurde. In einem Brief (1541) an Renato Trivulzio (1495-1545) äußert er sich an einer Stelle aus‐ führlich zur Besiedlungsgeschichte der italienischen Regionen (cf. Kap. 6. 2. 13). 1062 Als erstes macht er dabei deutlich, daß die Etrusker und ihre Sprache mit dem Ende ihrer Herrschaft untergegangen seien bzw. der Sprach‐ wechsel zum Lateinischen schnell vollzogen worden wäre (non molto tempo dapoi), d. h. sie hätten demzufolge auch keine Spuren im volgare hinterlassen (cf. Marazzini 1993a: 262). Dadurch versucht Muzio zu veranschaulichen, daß sie mit dem später stattfindenden Korruptionsprozeß durch die Hunnen, Goten und Langobarden nichts zu tun hätten. Primieramente io vorrei che mi mostrasse dove si trovi memoria che la lingua antica etrusca fosse in uso o conosciuta al tempo delle genti che egli nomina, la quale io credo che gli antichi Etruschi la perdessero non molto tempo dapoi che eglino hebbero la signoria perduta. (Muzio, Lettere III, 3; 2000: 254) 647 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 1063 „Io, se havessi da parlar della mia openione, direi che io credo che, havendo i Longobardi per più di dugento anni la maggior parte di Italia posseduto, et havendo tenuto lo scettro principalmente di qua dal fiume Po, che in queste parti habbia havuto principio questa lingua et che, di luogo in luogo stendendosi, ella sia per tutta Italia ampliata […]“ (Muzio, Lettere III, 3; 2000: 255). Cf. dazu auch Meier (1941: 15-16) und Ellena (2011: 131). 1064 Trotz dieser Differenzen ist Varchi und Muzio gemein, daß sie im Gegensatz zu zahl‐ reichen anderen Gelehrten den Einfluß der Germanen positiv oder zumindest nicht per se negativ darstellen (cf. Marazzini 1993a: 262; Michel 2005: 151). Durch diese Argumentation wendet er sich vor allem gegen ein Primat des Tos‐ kanischen, welches ja durch das Postulat eines sehr speziellen Ursprungs von den Vertretern einer toscanità bzw. fiorentinità herausgestellt werden sollte (cf. Marazzini 1989: 30). Muzio stützt sich auf die These der corruptio von Flavio Biondo (1392-1463) (cf. Kap. 6.2.3.2), versucht dabei aber die Geschichte der Er‐ oberung und Landnahme der „Barbaren“ zu präzisieren (cf. Michel 2005: 148). Gli Hunni non credo io che la Thoscana gli vedesse giamai. I Gothi che con Radagasto vennero in Italia, vinti da Stillicone, non ci si fermarono. Quelli che condusse Alarico et che presero Roma, per la Campagna et per l’Abruzzi si stesero; et quelli che vennero con Theodorico, in Lombardia et in Romagna fecero le loro imprese, et in Romagna et in Lombardia fu la sedia del regno loro, et non in Thoscana; et se in Thoscana fecero alcun danno, non perciò vi ha memoria (ch’io sappia) che vi facessero lunga dimora. Né de’ Longobardi dirò altro se non che essi, in Italia venendo, il regno loro di qua dall’Apennino statuirono et in queste parti regnarono lungamente, et tolto via il loro scettro, anchora ci rimasero, né in Thoscana hebbero signoria né molto lunga né molto memorabile […]. (Muzio, Lettere III, 3; 2000: 254) Muzio erläutert die Eroberungswege der einzelnen Völker und macht deutlich, daß die Hunnen wohl die Toskana bei ihren Plünderungszügen gar nicht berührt hatten, die Goten zwar durch Italien zogen, aber sich in der Toskana nicht nie‐ derließen, da die Westgoten unter Alarich Rom plünderten und durch den Süden zogen und die Ostgoten unter Theoderich hauptsächlich in der Lombardei und der Romagna waren (la sedia del regno loro), und falls sie überhaupt in der Tos‐ kana gewesen wären, dann sicherlich nicht längerfristig. Die Langobarden wie‐ derum hätten ihr Reich nördlich des Apennins errichtet und hätten ebenso wenig in der Toskana Fuß gefaßt. Stattdessen hätten die Langobarden, so führt er weiter aus, mehr als zweihundert Jahre lang in Norditalien (di qua dal fiume Po) gesiedelt und deshalb hätte das volgare dort seinen Ursprung und hätte sich von dieser Region aus über Italien verbreitet (per tutta Italia ampliata); in Rom und der Toskana sei diese Sprache als letztes angekommen. 1063 Letztlich richtet sich Muzios Beweisführung hier gegen einen von anderen Humanisten, insbesondere Varchi, 1064 postulierten Ursprung des volgare in der 648 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1065 Muzio verlegt zwar das Entstehungsgebiet des volgare mit seiner Argumentation nach Norditalien, bestreitet aber nicht, daß der Ausbau der Volksprache durch die Literatur der Toskana stattgefunden hatte und somit die Leitvarietät einen wesentlich toskani‐ schen Grundzug aufweist (cf. Ellena 2011: 132). 1066 Ähnlich provozierend sind diesbezüglich auch Speroni und Giambullari (v. supra), wenn auch je anders argumentierend. 1067 Cf. dazu auch die je unterschiedliche Aufzählung einiger Humanisten des 16. Jhs., die zu dieser Debatte gehören, bei Ettmayer (1916: 231-233), Fubini (1961: 548), Schlemmer (1983a: 53), Marazzini (1993a: 241), Morlicchio (1998: 185) und Eskhult (2018: 213-222). Toskana (cf. Marazzini 1989: 31), die diese historischen Exkurse sowohl zur Stüt‐ zung einer Vorrangstellung dieser Varietät als auch zur Propagierung einer ent‐ sprechenden Benennung instrumentalisieren. Muzio versucht hingegen, das Zentrum der Entstehung des volgare historisch begründet in Norditalien, bzw. genauer in der Lombardei und der Romagna, zu verorten (cf. Schlemmer 1983a: 46-47). 1065 Insgesamt zeitigen die Schriften einige die Debatte bereichernde Aspekte. Der Versuch, den Ursprung des Lateinischen als dem des volgare ähnlich darzu‐ stellen, ist insofern bemerkenswert, da es einerseits ein starker Schlag gegen das Prestige des Lateins ist 1066 und andererseits sprachhistorisch hier die Wirkung der Substratsprachen des Lateins Berücksichtigung findet und somit das Latein als lebendige Sprache potentiell den gleichen Einflüssen wie die Volkssprache ausgesetzt wird, auch wenn bei letzterer der Sprachkontakt aus heutiger Sicht auf Superstrate zurückgeht. Die Tatsache, daß Muzio hier zeitgenössisch bedingt hauptsächlich auf mythisch-literarische Ursprünge rekurriert, schmälert das den Ansatz nicht grundsätzlich. Bemerkenswert ist außerdem seine sprachhis‐ torische Argumentation gegen einen massiven etruskischen Einfluß sowie gegen einen von anderen zu groß angesetzten okzitanischen bei der Entstehung des (toskanischen) volgare. Bei seinem Versuch, den Entstehungsraum histo‐ risch-archäologisch zu begründen, sind erste Ansätze einer historischen Sprach‐ geographie (cf. Meier 1941: 15) festzustellen. Die hier nun präsentierten Humanisten des 16. Jh., die in der vorliegenden Sys‐ tematik als auctores minores für die Debatte um die antike Sprachkonstellation kategorisiert wurden (zur Abgrenzung cf. Kap. 1.2), sind eine Auswahl derer, die sich mehr oder weniger ausführlich zu diesem Thema geäußert haben. Die Liste ließe sich durchaus fortsetzten, u. a. mit Francesco Fortunio (ca. 1470-1517), Gabriel Barrius (1506-1577), Francesco Florido Sabino (1511-1547), Alessandro Citolini (ca. 1500-1582) oder Leonardo Salviati (1540-1589). 1067 Humanisten, die im Kontext der bisherigen Untersuchung auch bereits Erwähnung fanden (cf. z. B. Kap 6). Dennoch stellt vorliegende Auswahl eine maßgebliche Ergänzung 649 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini zu den auctores maiores dar, die einige weitere wichtige Protagonisten umfaßt und den Anspruch erhebt, anhand dieser aufzuzeigen, in welcher Weise die Ar‐ gumente und Topoi der Diskussion weitertradiert und bereichert wurden, in je unterschiedlichem Umfang und aus je verschiedenen Gründen, meist im Sinne einer bestimmten Position im Rahmen der questione della lingua, mitunter auch im Zuge rein historischer Betrachtung. 6.2.18 Zwischenfazit: Die seconda generazione In der Debatte um die antike Sprachkonstellation sollen nun im Folgenden die einzelnen Positionen der bisher vorgestellten Protagonisten des 16. Jhs., die hier als seconda generazione klassifiziert wurden, je in einer Synopse resümiert werden. Analog zum Zwischenfazit zur prima generazione (cf. Kap. 6. 2. 10) sollen dabei die in den jeweiligen Kapiteln getrennt erarbeiteten Ergebnisse aus der hermeneutischen Textanalyse, der sozio- und varietätenlinguistischen Inter‐ pretation sowie der Rekontextualisierung zusammengeführt präsentiert werden. Die als auctores minores klassifizierten Vertreter des 16. Jhs. (cf. Kap. 6. 2. 17) werden entsprechend kürzer dargestellt. Die Protagonisten der Debatte Der erste hier behandelte Protagonist des 16. Jahrhunderts ist Pietro Bembo, der in seinen Prose (1525) in jeder Hinsicht Maßstäbe setzt. Dies gilt in erster Linie für seine Strahlkraft im Rahmen der questione della lingua, aber auch in der Debatte um die antike Sprachsituation zeitigt er eine nicht zu unterschätzende Nachwirkung. Bembo greift die Idee von Leonardo Bruni auf, daß in der Antike zwei Sprachen mit funktionaler Trennung im Hinblick auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit existiert hätten, nämlich Latein und ein volgare, konstruiert da‐ raus dann jedoch eine Diglossie-Situation für die Antike Italiens mit Griechisch als high variety und Latein als low variety. Dies spiegelt durchaus ein Stück weit die historische Realität wider, allerdings unter Vernachlässigung des Aufstiegs des Lateinischen zur Schriftsprache und des entsprechenden Ablösungsproz‐ esses. Ziel dieser Überspitzung und Simplifizierung ist bei Bembo zweifellos der argumentative Versuch, die zeitgenössische Volkssprache aufzuwerten, indem hervorgehoben wird, daß das Lateinische als ehemalige lingua viva sein Prestige als Literatursprache durch einen Ausbauprozeß erst erlangen mußte, eine Mög‐ lichkeit, die dem zeitgenössischen volgare in gleicher Weise offenstehen würde. In Bezug auf die Genese der Volkssprache entwirft Bembo eine Mischsprachen‐ theorie, die auf dem aristotelischen Konzept der generatio fußt. Nach der cor‐ ruptio des Lateins durch „Barbarensprachen“ im Sinne Flavio Biondos entsteht 650 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen nach Bembo etwas völlig Neues, d. h. eine neue (Volks-) Sprache (lingua nuova), die zwar die Verwandtschaft zu ihren Ursprüngen erkennen läßt, aber einen eigenständigen Charakter aufweist. Dabei führt er als Einflußfaktoren, chrono‐ logisch kaum präzisiert, eine ganze Reihe von Sprachen an, die man als Super‐ strat- und Adstratsprachen identifizieren kann, Substratsprachen werden hin‐ gegen keine genannt. Dabei legt er Wert auf das Prozeßhafte des Wandels und auf die zugrundeliegenden politisch-gesellschaftlichen Umbrüche, also die Er‐ oberung und Landnahme. Er schildert außerdem den weiteren Ausbau des ita‐ lienischen volgare zu einer Schrift- und Literatursprache (cf. imitatio) bis ins Trecento. Der chronologisch nächste Humanist, der für die vorliegende Debatte eine Relevanz hat, ist Baldassare Castiglione, der in seinem Cortegiano (1528) seine Position zur Antike darlegt. Ähnlich wie Bembos Prose steht auch dieses Werk in erster Linie für eine wichtige Position in der Diskussion um die Normsprache Italiens. Castiglione ist der maßgeblichste Vertreter der sogenannten höfischen koiné, d. h. er ist Befürworter einer zeitgenössischen Hofsprache, die mündlich wie schriftlich durch die verschiedenen Herrschaftszentren Italiens geprägt sein sollte, während Bembo sich auf das durch die tre corone - insbesondere von Petrarca (Lyrik) und Boccaccio (Prosa) - geprägte schriftsprachliche Florenti‐ nisch des 14. Jhs. als die vorbildliche Varietät beruft. Castigliones Stellungnahme ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß er viele Annahmen und Argumente in der Debatte offenbar als bekannt voraussetzt. Sein Modell der Sprachent‐ wicklung knüpft über Biondo vor allem an Bembo an, d. h. auch er betont, daß durch eine Mischung von „Barbarensprachen“ und Latein im Zuge der generatio eine Sprache neu entstand, die sich dann zu dem ihm bekannten volgare wei‐ terentwickelt hätte. Die Superstratsprachen, die in diesen Prozeß involviert ge‐ wesen seien, deutet er nur an, Substratsprachen nennt er wie Bembo keine. Wichtig ist ihm jedoch, daß die mutazione della lingua sich in verschiedenen, nicht näher bestimmten Etappen und über einen langen Zeitraum vollzog, und zwar im Zuge allgemeiner kultureller und politischer Umbrüche (cf. conditio humana bei Dante). Auch die Kontinuität weiterer Entwicklung bis zur zeitge‐ nössischen Gegenwart und der damit verknüpfte Ausbau der Schriftsprache spielen bei ihm eine wichtige Rolle. Der Tenor ist demgemäß ähnlich wie bei Bembo, dennoch mit leicht unterschiedlicher Gewichtung. Dezidiert anders bei Castiglione ist sein Argumentationsziel, denn er versucht durch den Exkurs in die Sprachgeschichte eine gewisse Gleichrangigkeit der verschiedenen volgari Italiens zu beweisen, um seine Forderung nach einer lingua cortigiana zu un‐ termauern. Die innere Differenzierung des antiken Lateins spielt auch bei ihm keine besondere Rolle, so daß weitgehend von einer impliziten Annahme einer 651 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini bestimmten diaphasisch-diastratischen Variation auszugehen ist. Bei ihm ist auch kein Postulat einer Diglossie herauszulesen, weder im Sinne Brunis noch im Sinne Bembos. Ausführungen zur Sprachsituation der Antike finden sich ebenfalls bei Claudio Tolomei, und zwar in seinem Werk Il Cesano (1525, publ. 1555). Was die diasystematische Differenzierung des antiken Lateins anbelangt, so äußert er sich dazu nicht direkt, man kann höchstens implizit davon ausgehen, daß er wohl register- und schichtenspezifische Unterschiede annahm, was dem allge‐ meinen Kenntnisstand der Zeit entsprach. Ein anderer Aspekt der Sprachhis‐ torie ist für ihn hingegen durchaus relevant, nämlich die Frage nach der Ko‐ existenz weiterer Sprachen in der Antike. Als traditionelle Schriftsprachen führt er dabei das Lateinische, das Griechische und das Hebräische an (cf. tres sacrae linguae) sowie außerdem das Phönizische (bzw. Punische), das Chaldäische und das Ägyptische. Für Italien gibt er zudem wichtige, bisher noch nicht auf diese Weise präzise dargelegte Einblicke in die antike Mehrsprachigkeit bzw. das Ne‐ beneinander verschiedener Sprachen, wobei er neben dem Lateinischen und dem Griechischen auch das Etruskische und das Oskische erwähnt. Die Tat‐ sache, daß er auch bei letzteren auf ihre eigene Schriftlichkeit hinweist (cf. In‐ schriften), ist durchaus bemerkenswert, genauso wie seine allgemeinen Aus‐ führungen zur Verbreitung einer Sprache und ihrem arealen Ursprung. Die genannten Sprachen fungieren bei Tolomei in seiner Interpretation der Kor‐ ruptionsthese nach Biondo als Substrate, wobei das Etruskische einen beson‐ deren Platz einnimmt. Er nennt jedoch zusätzlich auch Goten, Langobarden und Hunnen als Superstratvölker. Seine Theorie von Werden und Vergehen weist durchaus Gemeinsamkeiten mit der Bembos auf, dennoch ist Tolomeis neu ent‐ standene Mischsprache in ihrer Genese und der Art der Zusammensetzung nicht identisch mit der bembianischen, schon allein aufgrund des starken etruski‐ schen Anteils. In der questione vertritt Tolomei eine gemäßigtere toskanische Position als Bembo und macht Zugeständnisse an die moderne Sprache. Tolomei kann insofern als ein Schlüsselautor angesehen werden, als er im Gefolge von Alessandro Citolini sowohl die aristotelische Zyklentheorie (corruptio, gene‐ ratio, alteratio) verbreitet als auch das Konzept der lingua viva und der lingua morta. In Bezug auf seine Etruskerthese generiert er heftigen Widerspruch von Girolamo Muzio und Benedetto Varchi, während später Pier Francesco Giam‐ bullari und Giovan Battista Gelli diese Idee sehr viel radikaler weiterentwickeln. Ein Vertreter der lingua cortigiana nach Castiglione, der sich in der questione gegen das archaisierende Modell des Toskanischen bzw. Florentinischen wendet, ist Lodovico Castelvetro, der in seinen Giunte (1549, 1559, teilpubl. 1563, publ. 1572) im Zuge der Auseinandersetzung mit Bembo und Varchi die 652 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen Diskussion um die Antike aufgreift. In seiner Darstellung der Sprachsituation im Altertum ergibt sich eine starke diastratische und diamesische Differenzie‐ rung zwischen einem Schriftlatein und einem volgare antico, welche durchaus Anklänge an Brunis Diglossie-These aufweist, wohl mit dem Unterschied, daß die gegenseitige Verständlichkeit und die Verwandtschaft beider Idiome stärker betont werden. Hierbei trifft er auch terminologisch eine klare Differenzierung zwischen einer lingua latina vulgare intera (antike Volkssprache) und einer lingua latina pura (antike Schriftsprache bzw. klassisches Latein). Ebenfalls an‐ ders als Bruni nimmt Castelvetro eine Entwicklung hin zur zeitgenössischen Volkssprache in drei bzw. vier Phasen an. Grundlage dafür ist zunächst eine mit einigen exakten Eckpunkten wie der Constitutio Antoniniana beschriebene Aus‐ breitung des Lateinischen in der Welt (Phase 1), gefolgt von der Invasion der Goten (Phase 2) und dann der Langobarden (Phase 3). Dabei beschreibt er relativ ausführlich den anzunehmenden Sprachkontakt und den L2-Erwerb der Ger‐ manen sowie deren Rückkopplungseffekt auf die latinophone Bevölkerung. Die zu konstatierenden mutazioni accidentali (cf. Substanz vs. Akzidenz) betreffen seiner Ansicht nach nicht nur das Lexikon, sondern auch die Grammatik der Sprache (z. B. Genese des Artikels, Perfektbildung). Noch ausführlicher als seine Vorgänger beschreibt er dann die weiteren Stationen der Sprachentwicklung bzw. des Ausbaus des volgare (Phase 4). Bemerkenswert ist in seinem Konzept des Sprachwandels vom Lateinischen zur Volkssprache, daß er die externen Einflüsse der Superstrate nicht in gleicher Weise exponiert wie dies bisher ge‐ schah, sondern ihnen eher katalysatorische Wirkung in einem umfassenden Veränderungsprozeß zuschreibt, wobei er im Wesentlichen als Ausgangspunkt das gesprochene Latein der Antike annimmt. Das Konzept ‚Vulgärlatein‘ läßt sich hier also bereits in nuce erkennen. Bei dem in vorliegender Chronologie nun folgenden Protagonisten handelt es sich um Benedetto Varchi, der in seinem Werk L’Ercolano (ca. 1560-1565, publ. 1570) Position in der Debatte bezieht. Auch bei Varchi liegt der Fokus weniger auf der Frage nach der Heterogenität oder Homogenität des antiken Lateins, sondern eher auf der Genese des zeitgenössischen volgare. Wie aus den wenigen relevanten Textstellen herauszulesen ist, nimmt Varchi eine weitge‐ hende Homogenität des antiken Lateins an, d. h. er postuliert keine Diglossie wie Bruni, ist aber auch nicht so differenziert wie Biondo, was die Diasystematik anbelangt. Seine begriffliche Differenzierung reduziert sich im Wesentlichen auf eine lingua Latina antica und die lingua Volgare moderna. Am ehesten zeigt er Interesse für die diamesischen Unterschiede, sowohl beim antiken Latein als auch beim Griechischen, eine diastratische Variationsbreite wird durch Spre‐ chergruppen wie dotti oder uomini letterati angedeutet, eine diaphasische durch 653 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini die Charakterisierung von Autoren als rozzi. Die Sprachentwicklung des La‐ teinischen teilt er grundsätzlich in vier Epochen ein, die sich an den Phasen des menschlichen Lebens orientieren (puerizia, adolescenza, virilità, e vecchiezza), wobei dafür je entsprechende Autoren und ihre schriftsprachliche Produktion stehen. Nach einem Höhepunkt der Latinität (cf. Cicero et al.) wird ein Nieder‐ gang (cf. declinatio) postuliert, der dann durch die Völkerwanderung seinen Ab‐ schluß findet. Auf diesen Umbruchsprozeß geht er sehr ausführlich ein und schildert die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Als Superstrat‐ sprachen nennt er vor allem die Goten, die er auch weiter differenziert (cf. Ostrogoti, Visigoti und Ippogoti), sowie die Langobarden, mit einem Schwerpunkt des postulierten Einflusses auf letzteren. Das Etruskische sieht er zwar als Sub‐ strat, allerdings mit einer sehr bescheidenen Wirkung, die sich auf wenige Re‐ liktwörter reduzieren ließe (v. supra hingegen: Tolomei, Giambullari, Gelli). Nach der Phase der corruptio entsteht für Varchi durch die generatio eine neue Sprache, die dann durch das Adstrat des Okzitanischen stark beeinflußt worden sei. Er bleibt, was diesen entscheidenden Prozeß anbelangt, ambivalent, da er zwar einerseits die zeitgenössischen diatopisch variierenden volgari auf das an‐ tike Latein zurückführt, was er etymologisch nachweist, dann aber andererseits sowohl einen starken Bruch in der Entwicklung postuliert als auch einen über‐ dimensionierten Einfluß der Provenzalen. Bemerkenswert ist allerdings, daß er insgesamt die externen Einflüsse als weniger relevant einstuft, wozu auch einige von ihm genannte Adstrate gehören. Weiterhin beurteilt er die „Barbarenspra‐ chen“ nicht in gleicher Weise negativ wie andere und außerdem kategorisiert er das Lateinische neu, und zwar als lingua mezza viva. In der questione favori‐ siert er zwar das Florentinische, aber als eine lingua viva e popolare, woraus sich auch sein Interesse für die Mündlichkeit in der Antike speist. Den Abschluß im Überblick über die Positionen des 16. Jahrhunderts wie auch der gesamten Untersuchungsspanne bildet Celso Cittadini, der mit seinem Trat‐ tato della vera origine (1601) bereits knapp ins 17. Jh. hineinragt. Für die Antike geht Cittadini von einem Latein aus, welches sich in zwei, wohl vor allem dias‐ tratisch zu verstehende Varietäten gliedert, was er auch begrifflich durch deren Charakterisierung als due sorte di lingua bzw. due maniere di lingua deutlich macht, nicht zuletzt in Abgrenzung von Bruni, der diglossisch von zwei unter‐ schiedlichen Sprachsystemen ausgeht. Zusätzlich zu dieser Diastratik ist auch eine diaphasische, eine diatopische und eine diamesische Differenzierung aus‐ zumachen, was sich unter anderem aus den genannten Sprechergruppen ab‐ leiten läßt (cf. Scrittori, dicitori nobili, letterati vs. vulgo, gente bassa, contadini, Forestieri Idioti). Cittadini ist auch derjenige, der womöglich erstmals seit Biondo das Diasystem des antiken Lateins deutlich weiter differenziert, und zwar indem 654 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen 1068 ‚Vulgärlatein‘ sei hier wie eingangs (cf. Kap. 1.2, Kap. 5) angeführt verstanden als eine communis opinio der heutigen Forschung, d. h. als primär gesprochene lateinische Sprache, deren Merkmale in einigen Texten der Antike aufscheinen, die zu einem nicht unwesentlichen Teil jedoch rekonstruiert werden muß und deren Charakteristika ver‐ mehrt in der Spätantike auftreten und die als „Ursprache“ bzw. etymologische Basis der romanischen Sprachen fungiert. er zumindest lexikalisch von Zwischenstufen spricht und entsprechende Phä‐ nomene als voci bzw. parole mezzolatine und mezzovulgari bezeichnet. Die Hauptopposition bleibt aber zwischen den beiden terminologisch auch klar er‐ faßten Polen einer lateinischen Schrift- und Literatursprache, die als Kultur‐ träger fungiert (puro latino), und einer römischen Umgangs- und Volkssprache (lingua latina antica del vulgo). Die sprachliche Entwicklung des Lateinischen gründet sich bei Cittadini auf die Phasen Isidors (cf. z. B. auch Guarino, Crivelli, Varchi), die Cittadini als Prisca, Latina, Romana, Mista bezeichnet und denen er entsprechende Schriftdenkmäler und Autoren zuordnet. In die letzte Epoche der lateinischen Sprachgeschichte fällt für ihn auch die Korruption durch die Bar‐ baren, die er vor allem mit den Superstratvölkern der Goten und Langobarden in Zusammenhang bringt, Substrate spielen bei ihm keine Rolle, an Adstraten nennt er beispielsweise Französisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Hervor‐ zuheben ist dabei aus seiner wie auch aus heutiger Sicht, daß diese Einflüsse wohl existiert haben, die Entwicklung zum zeitgenössischen italienischen vol‐ gare jedoch vor allem einem internen Sprachwandel geschuldet ist. Was Citta‐ dini, der einige Ideen und Teilpassagen von Castelvetro und Tolomei über‐ nommen hat, sowie durchaus auch weitere Anregungen von zahlreichen Humanisten seit Dante, zu einem unbestrittenen Vorläufer des ‚Vulgärlateini‐ schen‘ im modernen Sinne macht, 1068 ist die Tatsache einer relativ klaren Her‐ leitung der italienischen Varietäten aus dem gesprochenen Latein der Antike, die realistische Minimierung externer Einflüsse sowie die umfangreiche und differenzierte Quellenbasis aus Inschriften und Autoren verschiedenster Pro‐ venienz. Nicht zu vergessen ist zudem, daß Cittadini, der in der questione die Position eines modernen Toskanischen mit leichter Präferenz für das Senesische vertritt, dieses Traktat in erster Linie als sprachhistorische Abhandlung verfaßt hat, und die Schilderung der antiken Situation 166 Jahre nach Biondo und Bruni hier im Vordergrund steht, das Traktat also nicht wie so oft als Argumentati‐ onsvehikel für eine andere Zielsetzung dient. Weitere Humanisten im 16. Jahrhundert Die folgenden Humanisten, die im 16. Jh. ebenfalls kleinere oder größere Kom‐ mentare zur antiken Sprachsituation beigetragen haben, werden entsprechend 655 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini ihrem Status in dem summarischen Kapitel 6. 2. 17 auch in vorliegender Synopse kürzer abgehandelt. Der erste Protagonist der hier als auctores minores behandelten humanisti‐ schen Gelehrten ist Niccolò Machiavelli, der sich an einigen Stellen seines Dis‐ corso (1515 / 1524) zur Antike geäußert hat. Ein neuer Aspekt, den Machiavelli in die Diskussion einbringt, ist die Relevanz der lateinischen Kommandosprache im Zuge der Romanisierung und Latinisierung der unterworfenen Völker. Als Politiker und Polithistoriker hat er am ehesten einen Zugang zu dieser Thematik und schildert in diesem Kontext anschaulich den integrativen Effekt der römi‐ schen Legionen. Aus seinen weiteren Anmerkungen geht hervor, daß er sich in Bezug auf den Sprachwandel vor allem der Idee der lingue miste von Bembo anschließt, demzufolge nach einem Korruptionsprozeß durch die generatio eine neue Sprache entsteht, in diesem Fall das italienische volgare. Als Vertreter des modernen Florentinischen (uso vivo) sieht er naturgemäß in dieser Varietät die optimale Normsprache und begründet es damit, daß diese am wenigsten von dem Vermischungsprozeß betroffen gewesen wäre. Der Humanist Sperone Speroni läßt in seinem Dialogo delle lingue (1542) ver‐ schiedene Positionen der questione della lingua ausdiskutieren und in diesem Kontext auch Argumente der Debatte um die Antike. Hierbei wird auch die vor allem im 15. Jh. virulente Position der Lateinhumanisten noch einmal vertreten und in diesem Sinne das volgare abgewertet. Dies hat zur Folge, daß auch für die Antike von einem grammatisch regulierten und einem minderwertigen ge‐ sprochenen Latein ausgegangen wird. Die zeitgenössische Volkssprache sei eine (lingua) latina guasta e corrotta, die durch die Barbareninvasion sowie die eigene viltà entstanden sei. Das „reine“ Latein hingegen, repräsentiert durch die he‐ rausragenden Autoren Cicero und Vergil, könne stilistisch in seiner Vollkom‐ menheit niemals wieder erreicht werden. Die Superstratvölker der Goten, Van‐ dalen, Langobarden und Hunnen hätten letztendlich eine undefinierbare Sprachmischung verursacht. Die Gegenposition in diesem Dialogo wird von der Figur des Bembo vertreten, der bezüglich der Genese der Volkssprache zwar nicht grundsätzlich widerspricht, aber die Stellung des Lateins relativiert, indem er darauf verweist, daß auch die Römer einst Einwanderer waren (cf. mythischer Ursprung) und ihre Sprache sich erst nach und nach entwickeln mußte. Dies läuft darauf hinaus, daß hier im Sinne des realen Bembo die Perfektibilität der Sprachen betont wird, d. h. auch dem volgare komme nicht nur Grammatikabi‐ lität zu, sondern sie könne sich mittels imitatio ebenfalls zu einer angesehen Literatursprache entwickeln. Speroni präsentiert mit einer relativen Neutra‐ lität - er ist Vulgärhumanist und Anhänger des Trecento-Florentinischen - ei‐ 656 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen nige der wichtigsten Topoi und Argumente der Debatte zur antiken Sprach‐ konstellation. Pier Francesco Giambullari entwickelt in seinem Traktat Il Gello (ca. 1542-1545, publ. 1546) die Theorie eines aramäisch-etruskischen Ursprungs für das zeitgenössische volgare der Toskana. Er rekurriert dabei prinzipiell auf Bi‐ ondos Korruptionsthese und Bembos Mischsprachentheorie, interpretiert diese jedoch in eigener Manier. Die bei anderen Humanisten gebrandmarkte „Verun‐ reinigung“ der Sprache durch andere Sprachen wendet Giambullari zu etwas Positivem, indem er durch diese spezielle Prägung den besonderen Charakter des Florentinischen hervorhebt. Die Einflüsse, die er jenseits des Etruskischen und Aramäischen postuliert, sind vielfältig: Hebräisch, Griechisch, Chaldäisch, Französisch, Okzitanisch, Deutsch etc. Bemerkenswert ist seine Vielzahl an ety‐ mologischen Rekonstruktionen, die zwar in Bezug auf die „exotischen“ Sprachen nach heutigem Kenntnisstand meist nicht stimmen, zahlreiche andere hingegen sind durchaus in ihren Grundannahmen korrekt. Giambullari provoziert zudem mit einem relativ neutralen Vergleich zwischen den idiomi barbari und dem latino, wobei er einige Ähnlichkeiten feststellt. Die Relativierung der Stellung des klassischen Lateins und die Aufwertung anderer Sprachen richten sich gegen die Lateinhumanisten, im Speziellen gegen Speroni, dessen Grundhaltung er mit der einer seiner Dialogfiguren verwechselt (v. supra). Eine für die Antike ähnliche Theorie entwickelt Giambullaris Freund Giovan Battista Gelli in seinem sprachtheoretischen Ragionamento (1551). Gelli be‐ schreibt zunächst recht ausführlich den Prozeß der Romanisierung, bei dem er konkrete Ursachen wie Handel, alltägliche private sowie öffentliche Kommu‐ nikation (d. h. Verwaltung, Politik) darlegt, und ergänzt damit indirekt Machia‐ velli, der den militärischen Aspekt hervorhebt (v. supra). Er verweist zudem auf eine gewisse diatopische Differenzierung des Lateins, welches sich entspre‐ chend der imperio-lingua-These im Rahmen der römischen Eroberungen in vielen Regionen ausgebreitet hätte. In Bezug auf den Ursprung der Volkssprache schließt er sich Giambullari an und postuliert eine aramäisch-etruskische Her‐ kunft des Toskanischen, mit der gleichen Zielsetzung einer Hervorhebung dieser Varietät im Rahmen der questione (Vertreter des uso vivo fiorentino). Als Super‐ stratvölker nennt er die Goten und Vandalen, betrachtet dabei aber den Einfluß der Germanen relativ unaufgeregt und beurteilt bemerkenswerterweise den von ihm konstatierten externen und internen Sprachwandel relativ neutral. Der Humanist Girolamo Ruscelli beschreibt in seinen postum erschienen Commentarii (1581) eine Antike, in der es zunächst verschiedene Sprachen ge‐ geben habe, wobei er zwischen den Römern und ihrer lingua Latina und zahl‐ reichen weiteren Völkern (nationi) mit je eigener lingua propria & particolare 657 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini unterscheidet. Letztere hätten dann jedoch relativ bald den Sprachwechsel voll‐ zogen und die lateinische Sprache übernommen. Als Gründe für die Entstehung einer lateinischen Verkehrssprache im Imperium Romanum und den Wechsel größerer Bevölkerungsgruppen zum Lateinischen als primäres Kommunikati‐ onsmittel nennt Ruscelli Kriegszüge, Handel und Koloniegründungen. Er be‐ reichert demnach den u. a. von Machiavelli oder Gelli beschriebenen Roman‐ isierungsprozeß, den er auch für andere Länder bzw. Provinzen geltend macht, um weitere Aspekte und er erfaßt aus heutiger Sicht auch grundsätzlich richtig das Phänomen und die Ursachen des Sprachwechsels der Substratvölker. Die sprachlichen Umbrüche während der Spätantike und Völkerwanderungszeit beschreibt Ruscelli mit Biondo als einen Korruptionsvorgang (cf. declinatio) durch barbare nationi und folgt dann in groben Zügen Bembo, indem er von mescolamenti delle nationi ausgeht. Aus dieser Vermischung entstünden dann durch generatio die zeitgenössischen volgari in ihrer diatopischen Diversifizie‐ rung. Im Gegensatz zu Tolomei, Giambullari und Gelli glaubt er nicht an nach‐ weisbare Relikte von Substratsprachen in größerem Umfang, da diese durch das dominante Latein untergegangen seien. Girolamo Muzio schließlich, als letzter Humanist in dieser Reihe, behandelt einige sprachliche Aspekte der Antike in Schriften seines postum publizierten Sammelbandes Battaglie (1582). Er rekonstruiert eine sprachhistorische Früh‐ phase der italischen Sprachlandschaft, in der die ursprünglichen Einwohner La‐ tiums die Siculi gewesen seien, woraufhin aus Arkadien die Aborigini einge‐ wandert seien sowie später dann Pelasger, Griechen, Thessalier und die Trojaner unter Aeneas. Das Lateinische sei deshalb keine Sprache, die als pura und sem‐ plice einzustufen sei. Er zieht sogar den provokanten Vergleich zur Entstehung des zeitgenössischen volgare, indem er zu veranschaulichen sucht, daß in beiden Fällen die Phänomene der corruptio und generatio anzunehmen seien. Im Rahmen der questione polemisiert Muzio, der das Modell der italianità favori‐ siert, gegen die fiorentinità und toscanità, wie sie beispielsweise von Varchi oder Ruscelli vertreten wird. In diesem Kontext greift er z. B. auch die These des massiven okzitanischen Einflusses von Varchi an und beweist schlüssig, daß dieser weit weniger groß gewesen sei und sich auf spätere literarische Interfe‐ renzen beschränkt hätte. Gegen den übermäßigen etruskischen Einfluß, wie er von Tolomei, Giambullari und Gelli formuliert wurde, zieht er ebenfalls zu Felde. Seine Grundargumentation richtet sich vor allem gegen die von anderen Hu‐ manisten exponierte Singularität des Toskanischen. So versucht er beispiels‐ weise auch möglichst exakt die Eroberungs- und Siedeltätigkeit der Hunnen, Goten und Langobarden nachzuzeichen, um deren mögliches Einflußgebiet zu eruieren. Den Entstehungsraum der italienischen Volkssprache verortet er da‐ 658 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen raufhin vorwiegend in Norditalien, was zumindest in Bezug auf den gotischen und langobardischen Einfluß ja eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann. Es sei abschließend noch auf zwei Besonderheiten der Debatte im 16. Jahr‐ hundert hingewiesen, nämlich zum einen, daß die Diskussion nun vorrangig auf Italienisch stattfindet und nicht mehr auf Latein, was mitunter auch Auswir‐ kungen auf die verwendete Terminologie hat, und zum anderen die Verschie‐ bung des dominierenden Hintergrundes, der sich vom Kampf zwischen Latein‐ humanismus und Vulgärhumanismus zur Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Positionen der questione della lingua gewandelt hat, was nicht zwangsläufig bedeutet, daß ältere Ziele der Polemik völlig verschwunden wären. 659 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Das Anliegen vorliegender Untersuchung war es, die Debatte um die antiken Sprachverhältnisse, die sich in den Texten einiger Gelehrter der Frühen Neuzeit im 15. und 16. Jh. widerspiegelt, nachzuzeichnen sowie sozio- und varietäten‐ linguistisch zu analysieren, um daraus begriffsgeschichtliche Entwicklungen abzuleiten. Im Zuge dieser humanistischen Auseinandersetzung reiften Er‐ kenntnisse zur romanischen Sprachgeschichte, die dazu führten, daß sich im Laufe dieser hier definierten Periode (1435-1601) allmählich sprachtheoretische Ideen herauskristallisiert hatten, die im 19. und 20. Jh. dann die Grundlage für das linguistische Konzept ‚Vulgärlatein‘ bildeten. Mit dieser Debatte ist auch die neu entstehende Vorstellung eines kontinuierlichen Sprachwandels vom (ge‐ sprochenen) Latein zum Italienischen (cf. volgare) bzw. seinen volkssprachlichen Varietäten verbunden sowie der an der Entwicklung beteiligte Einfluß fremder Sprachen, die im Laufe der Zeit das Lateinische bzw. später das Romanische verändert hatten (cf. Substrate, Superstrate, Adstrate). Bevor einzelne Ergebnisse der Analyse synoptisch präsentiert werden, seien zunächst ein paar rückblickende Erläuterungen zur Methodik vorausgeschickt. Grundlage der Untersuchung war eine systematische methodische Trennung von hermeneutischer Textanalyse, einer modernen sozio- und varietätenlingu‐ istischen Perspektive bzw. Interpretation sowie einer Rekontextualisierung der einzelnen Texte und ihrer Verfasser im Kontext ihrer Epoche (cf. Kap 3). Dazu gehört neben grundlegender biographischer und literaturhistorischer Informa‐ tion vor allem das Verorten in geistesgeschichtlichen Strömungen sowie die Interdependenz von anderen Texten und Autoren. Dementsprechend enthielten alle Analysekapitel die Aufteilung in Textanalyse, sozio- und varietätenlinguis‐ tische Perspektive, Rekontextualisierung und Synthese, wobei in letztem Subka‐ pitel die Erkenntnisstränge zusammengeführt wurden. Mit dieser strikten Vor‐ gehensweise, vor allem der deutlichen Trennung einer modernen, rein linguistischen Interpretation von der ebenfalls wichtigen Verortung im philo‐ logischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang, wurde wohl erstmals das Konzept der Rekontextualisierung systematisch und analytisch sichtbar ange‐ wandt. Im Vergleich zu den meisten bisherigen Arbeiten zu diesem historischen Thema, die in der Mehrzahl im Kontext allgemein philologischen Interesses in 1069 Die dadurch in Frankreich, Spanien, Portugal oder anderen Ländern angestoßene De‐ batte konnte hier nicht nachgezeichnet werden, auf entsprechende Auswirkungen und Wechselwirkungen wurde aber je an passender Stelle verwiesen (cf. z. B. Kap. 6.2.1). Italien entstanden sind (cf. Kap. 2), stand hier eine dezidiert linguistische Un‐ tersuchungsperspektive im Vordergrund. Der Fokus lag diesbezüglich auch nicht wie sonst zumeist allein auf der Frage nach dem Sprachursprung und der „Korruption“, sondern ebenso auf der Art der Erfassung der varietätenlinguis‐ tischen Differenzierung des antiken Lateins durch die Humanisten. Im Gegen‐ satz zu den meisten bisherigen Arbeiten wurde auch der zeitliche Rahmen neu gesteckt und über das 15. Jh. hinaus auf das 16. Jh. ausgedehnt, wodurch sich die Eckdaten 1435 bis 1601 ergaben. Die Diskussion blieb im Wesentlichen auf Ita‐ lien beschränkt, hatte aber auch Auswirkungen auf die romanischen (und eu‐ ropäischen) Nachbarländer, weshalb auch in vorliegender Untersuchung der Fokus auf die italienische Debatte gelegt wurde. 1069 Die Gliederung der Arbeit entspricht der Logik von vorausgehenden, theo‐ retischen und allgemeinen Grundlagen und darauf folgender, eigentlicher Text- und Analysearbeit. Dementsprechend wurde nach einem einleitenden Überblick (cf. Kap. 1) und einer Synopse zum Forschungsstand (cf. Kap. 2), die hier ange‐ wandte Methodik vorgestellt (cf. Kap. 3). Wichtig für die Rekonstruktion des hier untersuchten metasprachlichen Diskurses der Frühen Neuzeit war eine Aufarbeitung der lateinischen Sprachgeschichte sowie ihrer Diasystematik aus moderner linguistischer Sicht unter Einbeziehung des aktuellen Forschungs‐ standes. Dies diente dazu, den mühevollen Erkenntnisfortschritt, der sich in der Debatte des 15. und 16. Jhs. abzeichnete, zum heutigen Wissensstand in Bezug zu setzen. Somit wurde vermieden, daß bei jeder Einzelanalyse erneut darauf eingegangen werden mußte, wie die damaligen Ansichten im Verhältnis zu den heutigen zu beurteilen sind. Zudem konnte bei dieser Darstellung des Latein‐ ischen auch spezifisch auf romanistische Interessensschwerpunkte Rücksicht genommen werden. Eine der wichtigsten Neuerungen war dabei eine möglichst detaillierte Darstellung der mutmaßlichen diasystematischen Gliederung des Lateins, ein Aspekt, der in der klassischen Philologie bisher nur selten Berück‐ sichtigung fand. Für die vorliegende Untersuchung bildet dies jedoch eine wich‐ tige Grundlage und bleibt auch darüber hinaus von allgemeinem Belang für die lateinische Sprachgeschichte (cf. Kap. 4). Als letztes propädeutisches Kapitel folgte dann ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateinischen im Rahmen der Sprachwissenschaftsgeschichte vom 19. Jh. bis heute. Dabei sollte vor allem die Genese des Begriffes in der linguistischen Forschung im engeren Sinne dargestellt werden sowie die Vielfalt der Definitionen und das nicht ab‐ geschlossene Ringen um eine begrifflich und inhaltlich gemeinsame Herlei‐ 662 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte tungsbasis der romanischen Sprachen. Hierbei zeigte sich bereits deutlich, daß die im Kapitel zuvor besprochene diasystematische Erfassung des Lateins, d. h. die Beschreibung der Heterogenität einer lebendigen Sprache, und die Rekonst‐ ruktionsbasis des Romanischen nicht unbedingt kongruent sind, wiewohl sie natürlich Gemeinsamkeiten aufweisen (cf. Kap. 5). Dem sich daran anschließenden empirischen Hauptkapitel (cf. Kap. 6) wurden zur besseren Einordnung der Fragestellung fünf Unterkapitel vorangestellt, nämlich zu den allgemeinen Geistesströmungen der Renaissance und des Hu‐ manismus (cf. Kap. 6.1.1), zur questione della lingua, also der Frage nach der idealen bzw. adäquaten Schrift- und Literatursprache Italiens (cf. Kap. 6.1.2), zu den aristotelischen Prinzipien der sprachlichen Veränderung (generatio, alter‐ atio, corruptio) (cf. Kap. 6.1.3), zur zeitgenössischen Unterscheidung von lingua viva vs. lingua morta samt diversen Zwischenstufen und weiteren Kategorien (cf. Kap. 6.1.4) sowie zur mittelalterlicher Sprachtheorie (cf. Kap. 6.1.5) als Kon‐ trast zur folgenden humanistischen Epoche. Im Anschluß an diesen Vorspann wurden dann anhand der entsprechenden Schlüsseltexte die einzelnen Humanisten und ihre Positionen in der Debatte um die antike Sprachkonstellation präsentiert. Die Wahl des Korpus dieser Texte richtet sich nach den in dieser definierten Periode maßgeblichen Stellung‐ nahmen der daran beteiligten Humanisten (cf. auch Kap. 1.2). Dabei wurden - soweit sinnvoll - neben dem oder den Haupttexten auch weitere Schriften des jeweiligen Autors ergänzend herangezogen, um ein möglichst komplettes Bild seiner Position in der Debatte zu rekonstruieren. Nach Abwägung, wie aus‐ führlich und umfangreich dieses Thema abgehandelt wurde, wie groß die Wir‐ kung bzw. wie weitreichend die Rezeption der jeweiligen Stellungnahmen oder des entsprechenden Werkes war, wurde zwischen den wichtigsten Protago‐ nisten der Debatte (auctores maiores) und weniger wichtigen (auctores minores) unterschieden. Zudem wurde chronologisch eine prima generazione definiert, die die Humanisten des 15. Jhs. umfaßt, und einer seconda generazione, die die‐ jenigen des 16. Jhs. beinhaltet (cf. Kap. 1.2). Eine tatsächliche Trennschärfe war weder in Bezug auf die postulierte Relevanz noch bezüglich der Chronologie möglich und auch nicht erwünscht. Dennoch ergab sich dadurch eine Syste‐ matik, die den Diskussionsverlauf sinnvoll gliederte. Auf diese Weise konstituierten sich Einzelkapitel, zunächst zum Vorläufer der Diskussion Dante Alighieri und dann für das 15. Jh. zu den Humanisten Leonardo Bruni, Flavio Biondo, Leon Battista Alberti, Guarino Veronese, Poggio Braccio‐ lini, Francesco Filelfo und Lorenzo Valla (cf. Kap. 6.2.2-6.2.8). In einem zusam‐ menfassenden Kapitel wurden schließlich ergänzend Angelo Decembrio, Lod‐ risio Crivelli, Bartolomeo Benvoglienti, Lorenzo deʼ Medici, Aldo Manuzio, 663 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Marcantonio Coccio (Sabellico) und Andrea Alciato behandelt (cf. Kap. 6.2.9). Be‐ zogen auf das 16. Jh. (bzw. den Beginn des 17. Jh.) wurden den Gelehrten Pietro Bembo, Baldassare Castiglione, Claudio Tolomei, Lodovico Castelvetro, Benedetto Varchi und Celso Cittadini Einzelkapitel gewidmet (cf. Kap. 6. 2. 11-6. 2. 16). Eine kürzere Betrachtung in einem Sammelkapitel erfuhren Niccolò Machiavelli, Spe‐ rone Speroni, Pier Francesco Giambullari, Giovan Battista Gelli und Girolamo Ruscelli (cf. Kap. 6. 2. 17). Resümees der einzelnen Positionen finden sich in den jeweiligen als Zwischenfazit benannten Kapiteln (cf. Kap. 6. 2. 10, 6. 2. 18), in denen auch erste Eindrücke einer Entwicklung der Diskussion angesprochen werden. Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Ergebnisse aus der Analyse der ein‐ zelnen Texte und der anschließenden doppelten Interpretation aus moderner Perspektive und Rekontextualisierung zusammengetragen werden. Dabei geht es nun weniger um die bereits synthetisierten Einzelpositionen der Humanisten als vor allem um die herausgearbeitete Entwicklung in der Debatte. Eines der wichtigsten Ergebnisse, welches durch die Rekonstruktion der ein‐ zelnen Positionen im gesamten Verlauf gewonnen werden konnte, ist die Tat‐ sache, daß der Erkenntniszuwachs keineswegs linear war, sondern daß sich in einem stetigen Auf und Ab höchstens einzelne Aspekte langsam als communis opinio zu etablieren begannen. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß die hier nachgezeichnete Debatte als keine geschlossene wissenschaftliche Ausei‐ nandersetzung zu betrachten ist, in der allein ein Thema im Mittelpunkt stand, um das kontrovers gerungen wurde, sondern daß die einzelnen Schriften diese Streitfrage meist peripher im Kontext einer anderen Diskussion behandelten, die diese überlagerte. Sowohl die Auseinandersetzung zwischen Lateinhuma‐ nisten und Vulgärhumanisten als auch das Ringen um die ideale Literatur‐ sprache Italiens überdachten gewissermaßen die Debatte zur Antike. Entspre‐ chend bediente man sich oft nur aus einem Repertoire an Motiven und Topoi, um diese als Argumente in der eigentlichen Streitfrage zu verwenden. Auf diese Weise erklärt sich sowohl der unterschiedliche Umfang der jeweiligen zeitge‐ nössischen Abhandlungen zu diesem Thema als auch die mitunter zu beobach‐ tende Reduktionen auf bestimmte Teilaspekte der Diskussion. Eine weitere Ur‐ sache der Schwankungen liegt wohl auch darin begründet, daß nicht alle Humanisten alle vorhergehenden Schriften konsultiert haben; vor allem mit zunehmender Dauer der Debatte, kann von einer wachsenden Selektion bezüg‐ lich der bereits erschienen Traktate ausgegangen werden. In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Vertreter der Debatte und ihre jeweiligen Erkenntnisbeiträge dargestellt. Unter aller Berücksichtigung der Problematik, die mit einer solchen reduzierten Übersicht einhergeht, zeigt diese Aufschlüsselung recht gut die Untersuchungsschwerpunkte der einzelnen Hu‐ 664 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte manisten. Die Aufschlüsselung erfolgte dabei nach den von den Renaissance‐ gelehrten abgehandelten Themata im Spiegel des vorliegenden sprachwissen‐ schaftlichen Interesses. Es werden dementsprechend die sozio- und varietätenlinguistische Perspektive berücksichtigt (cf. Diglossie, Diasystem, Sub‐ strate / Superstrate / Adstrate), der Sprachwandel bzw. Sprachursprung (cf. Her‐ kunft der Volkssprache) sowie die verwendete Terminologie (cf. Begriff für das Latein, Begriff für die Volkssprache). Dabei sei nochmal betont, daß die ent‐ sprechenden linguistischen Termini als ein Versuch angesehen werden die lin‐ guistischen Aspekte der Debatte zu verdeutlichen, die Zeitgenossen jedoch kei‐ neswegs in diesen Kategorien dachten und schrieben. Das sieht man nicht nur an der Schwierigkeiten die sprachlichen Heterogenität zu fassen, d. h. die dias‐ ystemtische Struktur der Sprache, sondern auch bei der nicht immer klaren chronologischen Schichtung von Kontaktsprachen, die heute als Substrate, Su‐ perstrate oder Adstrate klassifiziert werden - im Übrigen auch nicht ohne Un‐ stimmigkeiten. 665 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Diglossie Diasystem Substrate Superstrate Adstrate Begriff für das Latein Begriff für die Volkssprache Postulierte Herkunft der Volkssprache Leonardi Bruni Latein vs. volgare - - - - Latine litterateque loqui Latina lingua sermo litteratus vulgaris sermo vulgaris lingua - Flavio Biondo diastratisch diaphasisch diatopisch diamesisch - Goten Vandalen Langobarden litterata Latinate Latina lingua (forma poetica forma oratoria) vulgaris lingua vulgata idoma (forma vulgaris) Latein + Superstrate (corruptio) Leon Battista Alberti diamesisch (diastratisch diaphasisch) Gallier Goten Vandalen Langobarden lingua latina lingua e lettere latine emendatissima lingua lingua commune lingua commune Latein + Substrat, Superstrate (corruptio, mistura) Guarino Veronese diamesisch (diatopisch) Gallier Goten Langobarden latina locutio vox/ lingua litteralis grammatica sermo puros vulgaris lingua Latein + Substrat, Superstrate (corruptio) Poggio Bracciolini - (diastratisch diaphasisch) Gallier Sabiner Herniker Einwohner von Veji Samniten Umbrer Etrusker Osker Afrikaner Hispanier Germanen latina lingua priscis Romanis latina lingua vulgaris lingua vulgaris sermo materno domesticoque sermone Latein + Superstrate (corruptio) 666 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Francesco Filelfo diamesisch (diastratisch diaphasisch) Sabiner Herniker Einwohner von Veji Samniten Etrusker Osker Karthager Numantier Makedonen Griechen Asier Vandalen Hunnen Goten Langobarden Germanen Burgunder Britannier Franken Belger (Griechen) sermo litteralis latina lingua sermo maternus sermo vulgaris lingua vulgaris Latein + Substrate, Superstrate (corruptio) Lorenzo Valla Schrift-latein vs. gesproches Latein - - Goten Vandalen grammatice loqui (latina lingua romana lingua) latine loqui (gesprochenes) Latein + Superstrate (corruptio) Pietro Bembo Griechisch vs. Latein - - Goten Vandalen Langobarden Alanen Franzosen Burgunder Deutsche Ungarn Türken Araber romana lingua latina lingua - Latein + Superstrate, Adstrate (corruptio, generatio) > Mischsprache (lingua nuova) Baldassare Castiglione - (diastratisch) - Barbaren lingua latina lingua vulgare Latein + Superstrate (corruptio, Mischsprache) Claudio Tolomei - - Etrusker Kelten Osker Griechen Goten Langobarden Hunnen Araber (bzgl. Spanisch) lingua Latina lingua Vulgare Latein + Etruskisch (corruptio, generatio) > Mischsprache 667 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Lodovico Castelvetro Latein vs. volgare (diamesisch diastratisch) - Goten Langobarden Griechisch Hebräisch lingua latina pura latina lingua vulgare latina vulgare intera Latein + Superstrate (corruptio, alteratio) > Mischsprache Lodovico Varchi - (diastratisch diaphasisch) (Etrusker) Goten (Ostgoten. Westgoten, Hypogoten) Langobarden Griechisch Hebräisch Aramäisch lingua Latina lingua Romana lingua Latina antica lingua Volgare Latein + Okzitanisch (corruptio, generatio) > Mischsprache Celso Cittadini diastratisch diaphasisch diatopisch diamesisch - Goten Langobarden Franken Deutsche, Franzosen Engländer Spanier lingua latina (Prisca, Latina, Romana, Mixta) puro latino lingua vulgare lingua antica del vulgo gesprochenes Latein (corruptio, alteratio) + interner Sprachwandel Abb. 10: Die Protagonisten der Debatte zur Antike und ihre Einzelbeiträge 668 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Aus dieser Zusammenstellung wird ersichtlich, daß nicht alle Humanisten alle thematischen Teilbereiche gleichermaßen abhandeln. In Bezug auf die Inter‐ pretation der jeweiligen Darstellung des antiken Lateins bleibt eine unüberseh‐ bare Schwierigkeit, diesbezüglich eindeutige Aussagen zu treffen, da die zeit‐ genössischen Kategorien natürlich andere waren. In der obigen Tabelle wurde deshalb versucht, mittels Klammerung deutlich zu machen, welche diasystema‐ tischen Ebenen man je vorrangig herauslesen kann und welche nur andeu‐ tungsweise sichtbar werden. Die diasystematischen Zuordnungen, selbst wenn sie unter Vorbehalt erfolgen, helfen, die jeweiligen Vorstellungen des latein‐ ischen Varietätenraums zu rekonstruieren. Auf diese Weise wird beispielsweise deutlich, daß Bruni, dessen Anliegen es war, den Erhalt einer elaborierten la‐ teinischen Schriftsprache zu propagieren, in seinem Traktat dieses Latein als möglichst homogen und unveränderlich herausstellt. Er betont den Gegensatz zur variablen Volkssprache, so daß es für ihn geradezu unumgänglich ist auch im Latein der Antike nichts anderes als die Sprache der Gebildeten zu sehen, eine nach gesetzten grammatischen Regeln funktionierende Sprache. Selbst unter der plausiblen Annahme, daß ihm zumindest Stilunterschiede des Latein‐ ischen bekannt waren, negiert er in seinem Traktat fast jede Variabilität, um das Prestige dieser Bildungs- und Schriftsprache nicht zu gefährden. Damit schafft er eine klare Abgrenzung zu einer für ihn auch in der Antike anzunehmenden eigenständigen Volkssprache, die zwar mit dem Latein verwandt ist, aber deut‐ lich als unabhängiges Idiom verstanden wird, so daß die von ihm angenommene Sprachkonstellation insgesamt als diglossisch zu interpretieren ist. Ganz anders sein direkter Kontrahent Biondo, der genau jene bereits in der antiken Rhetorik beschriebene stilistische Differenzierung herausgreift, um mit ihrer Hilfe Über‐ legungen zu einem breit gefächerten Varietätenraum im antiken Latein anzu‐ stellen. Im Vordergrund stehen dabei die diastratischen Abstufungen, in der sich die rinascimentale Opposition zwischen litteratus und illiteratus widerspiegelt, aber auch diaphasische, diatopische und diamesische Nuancen werden in An‐ sätzen deutlich. Biondo versucht einen Balanceakt, denn er qualifiziert keines‐ falls das Latein ab, stellt aber dennoch die Variabilität der Sprache in den Vor‐ dergrund. Dadurch, daß er die antike Volkssprache in das lateinische Sprachsystem inkorporiert, konstituiert er einen Varietätenraum, in dem sowohl die geregelte Bildungssprache ihren Platz hat, als auch die Sprache des Volkes. Diese relativ hohe diasystematische Differenzierung wird im Laufe der Debatte erst wieder unter Cittadini erreicht, der zwar mit anderer Begrifflichkeit, aber dennoch ähnlich, eine Idee von unterschiedlichen Sprachformen innerhalb des Lateinischen postuliert. Die Sprengkraft beider Modelle liegt darin, daß die Sprache bzw. Ausdrucksweise des Volkes, völlig unabhängig von der Epoche, 669 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1070 1 Gerade das Erwähnen von Substratsprachen bzw. -völkern unterliegt großen Schwankungen, nicht selten werden sie entweder komplett ignoriert oder besonders hervorgehoben. Die Tatsache, daß ihnen meist weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, liegt wohl darin begründet, daß das für die Zeitgenossen bewegendste Thema der Un‐ Teil der durch ihre Bedeutung als Sakralsprache und Literatursprache über‐ höhten Prestigesprache Latein ist. Hierin liegt eine bis dato nicht denkbare Konzeption, die sich deutlich von der mittelalterlichen Vorstellung einer inva‐ riablen Universalsprache abgrenzt. Die Humanisten, die sich im Gefolge von Bruni und Biondo äußern, beziehen sich oft auf diesen Initialdisput, so daß sie womöglich auch deshalb nicht immer alle Aspekte erneut darlegen. Dennoch werden auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder bestimmte Aspekte der Diasystematik hervorgehoben, wie beispielsweise bei Alberti insbesondere die diamesische Dimension, die auch bei Guarino thematisiert wird sowie zu‐ sätzlich der bereits in der Antike wichtige diatopische Unterschied zwischen Stadt und Land (cf. sermo urbanus vs. sermo rusticus), der eng mit der Normva‐ rietät verknüpft ist. Einigermaßen differenziert ist der Varietätenraum auch bei Filelfo dargestellt, der neben diamesischen Unterschieden auch diaphasische und diastratische anführt, wobei hier nicht nur auf (Bildungs)schichten referiert wird, sondern auch Berufsgruppen eine Rolle spielen. Eine gewisse Aufsplittung in verschiedene Varietätendimensionen ist auch bei Castelvetro und Varchi he‐ rauszulesen. Bereits bei Guarino und Filelfo, aber vor allem dann mit Bembo spielt das Griechische eine entscheidende Rolle als Vergleichsparameter, um die antike Sprachkonstellation zu rekonstruieren. Da Griechisch eine ähnlich pres‐ tigereiche Literatursprache wie das Lateinische ist, die Opposition zwischen Volkssprache und Gelehrtensprache aber aus zeitgenössischer Sicht nicht so stark ist wie in der Romania, versuchen die Humanisten, als sie mit dem zeit‐ genössischen Griechisch in Konstantinopel (oder in Italien) in Kontakt kommen, hieraus Schlüsse zugunsten einer Vereinbarkeit von Volkssprache und gram‐ matisch regulierter Schriftsprache zu ziehen. Es verbleiben jedoch auch Huma‐ nisten, die andere Prioritäten in dieser Debatte haben und auf den Varietäten‐ raum kaum oder gar nicht eingehen bzw. die Heterogenität der lateinischen Sprache per se ablehnen (cf. z. B. Valla). Was die Substrat-, Superstrat- und Adstratvölker anbelangt, so zeigt sich eine große Varianz. Ausgehend von Biondo, der im Zuge seiner „Korruptionsthese“ die heute als Superstrate zu interpretierenden Völker bzw. Sprachen einführt, ist zwar eine gewisse Entwicklung in der Debatte zu konstatieren, insofern ten‐ denziell die Zahl der beeinflussenden Völker wächst, durch Alberti beispiels‐ weise erstmals ein Substrat eingeführt wird und durch Bembo im 16. Jh. Ad‐ strate, aber die Zahl der angeführten Völker variiert je nach Autor erheblich. 1070 670 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte tergang des römischen Reiches war, welcher durch die Völkerwanderung verursacht wurde, d. h. durch die überwiegend germanischen Superstratvölker. 1071 Dies gilt auch für die Alanen, die sich zu Teilen den Vandalen anschlossen und zu an‐ deren Teilen den Hunnen. Letztere zogen sich bald nach der Niederlage auf den Kata‐ launischen Feldern aus Westeuropa zurück, und mit ihnen wohl auch die dort integ‐ rierten Alanen, während diejenigen, die sich dem Zug der Vandalen nach Nordafrika anschlossen zwar als Volksgruppe präsent blieben (cf. rex Vandalorum et Alanorum, regnum Vandalorum et Alanorum), sich aber sprachlich rasch assimilierten. Die bei Biondo aufgelisteten Superstratvölker der Goten, Vandalen und Lango‐ barden werden dabei im Laufe der Diskussion kanonisiert. Diesbezüglich ist jedoch auffällig, daß die zeitgenössische Bewertung eine andere ist als heute, denn die Goten werden als die maßgeblichen Verursacher der Korruption des Lateinischen angesehen, gefolgt von den Vandalen und zunächst nachgeordnet den Langobarden. Die sprachhistorische Forschung bezeugt jedoch wohl be‐ dingt durch die längere Herrschaft und intensivere Besiedlung vor allem einen langobardischen Einfluß auf das Italienische und einen geringeren gotischen sowie fränkischen (z. T. über das Galloromanische), während die Vandalen, die nur einige Plünderungszüge in Italien unternommen hatten und später eine kurze Herrschaft über die Inseln Sizilien, Sardinien und Korsika ausübten, so gut wie keinen nachweisbaren Einfluß hinterließen. Dies gilt erst recht für die iranischen Alanen und die mongolischen Hunnen, die nur auf Beute- oder Kriegszügen mit Italien in Berührung kamen und deren Idiome zudem großen sprachlichen Abstand aufwiesen, was Entlehnungen, zumal in größerem Um‐ fang, erschwert bzw. wenig plausibel macht. Zu berücksichtigen ist außerdem die Tatsache, daß die zumeist germanischen gentes, die Reiche auf dem Boden des ehemaligen Imperium Romanum errichteten, sich relativ schnell sprachlich assimilierten und nach einer wohl bilingualen Übergangsphase den Sprach‐ wechsel zum Romanischen vollzogen, so daß der Sprachkontakt, zwar unter‐ schiedlich je nach Herrschaft, Region und sozialer Schicht war, aber nicht allzu lang währte. 1071 Die Einschätzung der Humanisten entgegen der heutigen Forschungslage zum Sprachkontakt resultiert aus einer rein historischen Betrachtung, in der auch kirchenhistoriographische Ressentiments durchscheinen. So waren es eben die Ostgoten unter Theoderich dem Großen, die nach dem Intermezzo des Odoaker die römische Herrschaft in Italien beendeten, und damit prägend, weil sie den Untergang des Imperiums besiegelten und ein germanisches Reich er‐ richteten. Völker wie die Vandalen und die Hunnen wurden aufgrund ihrer Kriegszüge plakativ als Schrecken in der abendländischen Historiographie dar‐ gestellt (z. B. 455 n. Chr.: Plünderung Roms durch die Vandalen; 451 n. Chr.: Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, 452 n. Chr.: Einfall der Hunnen in 671 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Norditalien). Hinzu kam, daß die Hunnen und Alanen Heiden waren, die ger‐ manischen Stämme entweder ebenfalls noch heidnischen Bräuchen anhingen oder noch längere Zeit Arianer waren, was entsprechend zu ihrem negativen Bild beitrug. Die Darstellung der Humanisten variiert bezüglich des externen Einflusses erheblich. Was die Superstrate anbelangt, so folgt Alberti den Ausführungen Biondos, Guarino hingegen scheint die Vandalen als weniger wichtig einzu‐ stufen und listet nur die Goten und Langobarden auf. Poggio wiederum spricht ohne weitere Differenzierung nur von Germanen, ähnlich wie später Castig‐ lione, der sogar nur allgemein die Barbaren für die corruptio des Lateinischen verantwortlich macht. Filelfo, der einen weiteren Blick auf die Romania ein‐ nimmt, ergänzt die Reihe der Goten, Langobarden und Vandalen durch Hunnen, Burgunder, Britannier, Franken, Belger sowie weitere unspezifische Germanen. Bei Bembo tauchen schließlich erstmals die Alanen auf, bevor sich Castelvetro, Varchi und Cittadini wieder auf die für Italien relevanten Goten und Lango‐ barden beschränken. In Bezug auf die Substrate führt Alberti als erster den keltischen Einfluß an, was von Guarino wiederaufgegriffen wird, der ebenfalls die Gallier anführt. Poggio und in dessen Gefolge Filelfo erweitern die Substratvölker über die u. a. in Norditalien heimischen Kelten auf zahlreiche weitere Völker Italiens wie die Samniten, Umbrer, Etrusker und Osker sowie weitere, die in anderen Teilen des Imperiums siedelten. Auch wenn die Perspektive der Humanisten hier eher eine historische als eine sprachhistorische ist, insofern der jeweilige Einfluß nicht konsistent durch Entlehnungsbeispiele belegt wird, sondern es sich vielmehr um Postulate bezüglich verschiedener Sprachkontakte handelt, so ist als Er‐ kenntnis dennoch festzuhalten, daß dadurch ein Bewußtsein entsteht, daß eine Sprache - also hier das Lateinische - in verschiedenen Epochen je unterschied‐ lichem externem Einfluß unterlag. In der weiteren Debatte werden die Substrate jedoch oft wieder ignoriert, wie bei Valla, Bembo, Castiglione, Castelevetro und Cittadini. Tolomei hingegen reduziert die von Poggio aufgezählten Völker auf einige wenige wichtige für Italien, nämlich die Etrusker, die Kelten, die Osker und die Griechen. Eine besondere Rolle spielen die heute als Substrate aufge‐ faßten Sprachen in der sogenannten Etruskerthese, wie sie z. B. von Giambullari oder Gelli (und z. T. von Tolomei) vertreten wird. Während bisher jeglicher fremdsprachliche Einfluß auf das Latein als negativ bewertet wurde, sehen die Vertreter der Etruskerthese diesen meist überzeichneten Einfluß mitunter als positiv an, in dem sie ihn zusätzlich mit den Bibelsprachen Aramäisch und Heb‐ räisch verknüpfen und qua Alter und Sakralität der italienischen Volkssprache dadurch einen Prestigegewinn verschaffen wollen. Sie stehen damit in einer Art 672 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte europäischem Wettbewerb, in dem versucht wird, den Substrateinfluß positiv zu erhöhen, um einerseits die eigene Volkssprache gegenüber dem Latein und andererseits gegenüber den anderen europäischen Volkssprachen (cf. auch Kel‐ tenthese, Baskenthese) aufzuwerten. Was die heutzutage als Adstrate kategorisierten Spracheinflüsse anbelangt, so sind diese erstmals deutlich bei Bembo herauszulesen, der Franzosen, Bur‐ gunder, Deutsche, Ungarn, Türken und Araber nennt. Ähnlich wie bei den Sub- und Superstraten werden auch hier die Völker und ihre Sprachen eher historisch bewertet, indem deren historischer Bezug zu Italien meist nicht sprachhistorisch untermauert wird und auch keine Abstufungen in der Relation der Bedeutung des jeweiligen Einflusses vorgenommen werden. Auch hier handelt es sich um das Postulieren eines potentiellen Sprachkontaktes, abgeleitet aus bekannten historischen Ereignissen. Dies ist durchaus als Erkenntnisfortschritt zu werten, weil es sich um eine erneute Erweiterung der Perspektive handelt, in dem hier verschiedenster externer sprachlicher Einfluß dargestellt wird, der auch nachdem sich das Lateinische bereits zum Romanischen entwickelt hat, wei‐ terhin wirksam ist. Damit wird der einmalige Vorgang der corruptio in gewisser Weise relativiert, da durch diese Feststellung deutlich wird, daß eine Sprache grundsätzlich fremdem Einfluß unterlegen ist - zu jeder Zeit. Im konkreten Fall zeigt dies, daß nicht nur die traumatische Erfahrung der Völkerwanderung für den Sprachwandel verantwortlich ist (cf. Superstrate), sondern Sprachkontakte sowohl davor existierten (cf. Substrate) als auch später, als das Latein sich zum Romanischen bzw. Italienischen entwickelt hat (cf. Adstrate). In der Nachfolge von Bembo greift vor allem Cittadini einige Adstratsprachen wieder auf und erwähnt deutschen, französischen, englischen und spanischen Einfluß auf die italienische Volkssprache. Tolomei erwähnt immerhin den dominanten Einfluß des Arabischen auf der iberischen Halbinsel, während Castelvetro und Varchi sich auf die biblischen Sakralsprachen beschränken. Insgesamt sei bezüglich dieses Punktes nochmals herausgestellt, daß keines‐ wegs zwangsläufig jeder Autor auf dem anderen aufbaut und dessen Erkennt‐ nisse rezipiert und diskutiert, sondern es scheinen auch hier unterschiedliche Rezeptions- und Interessensschwerpunkte durch. So ist es beispielsweise auf‐ fällig, daß Cittadini, der ansonsten sehr sorgsam Sekundärliteratur aufarbeitet, kein Substrat erwähnt und als Superstrat außer Goten und Langobarden weitere Völker, die bisher angeführt wurden, nicht diskutiert, d. h. z. B. Vandalen, Hunnen oder Alanen als marginal zurückweist. Was in der Tabelle nicht erfaßt werden kann, aber in den entsprechenden Kapiteln zur Sprache kam, ist die Tatsache, daß oft auch chronologisch nicht klar zwischen den angeführten Völ‐ kern unterschieden wurde, d. h. in welcher Epoche welcher Einfluß ausgeübt 673 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1072 Dies bedeutet auch, daß mal nur Superstratvölker für die corruptio verantwortlich sind, mal Substrat- und Superstratvölker oder / und Adstratvölker. Der Umfang des „Kata‐ logs“ dieser Völker variiert dabei stark und erreicht bei Filelfo ein Maximum. Diese Variation ist auch davon abhängig, ob eine gesamtromanische Perspektive einge‐ nommen wird oder eine italozentrische. wurde, was nicht nur daran liegt, daß die Humanisten nicht das hier angewandte Strata-Modell oder eine vergleichbare Kategorisierung kannten, sondern oft‐ mals Völker bzw. die damit postulierte Sprachkontaktsituation eher plakativ als Argument für einen starken und diversifizierten Einfluß auf das Lateinische (oder dann auch auf das Italienische) eingesetzt wurden. Bezüglich des Sprachursprungs und des damit verbundenen Sprachwandel‐ prozesses zeigt sich, daß sich zwar die These von Biondo weitgehend durchge‐ setzt hat, aber sie durchaus Veränderungen unterlegen ist. Dies betrifft zum einen die Art und den Umfang des postulierten Einflusses der jeweiligen kata‐ logisierten „Barbarenvölker“, 1072 zum anderen den zugrundegelegten Prozeß. Dabei spielen vor allem die Prinzipien der generatio und alteratio eine Rolle, die je unterschiedlich dominieren. Im 16. Jh. ist es vor allem die Mischsprachenthe‐ orie Bembos, die von vielen Gelehrten aufgegriffen und gegebenenfalls weiter modifiziert wird. Dabei sei auch an extreme Vertreter wie Giambullari und Gelli erinnert, die einen aramäisch-etruskischen Ursprung postuliert hatten, sowie an die Diskussion um den Grad der Beteiligung des Okzitanischen. Bei Cittadini wird schließlich die corruptio in den Hintergrund gedrängt und der interne Sprachwandel als maßgeblicher Motor der sprachlichen Veränderung ausge‐ macht, was einer modernen Rekonstruktion des Sprachwandels und der damit verbundenen Prozesse, deutlich näherkommt als die vorherigen Positionen. All diese Aspekte, d. h. die diasystematische Diversifizierung bzw. Erfassung der antiken Sprachkonstellation, des weiteren auch die Frage der Beeinflussung durch Substrate, Superstrate und Adstrate sowie der damit verbundene Sprach‐ wandel und die Rekonstruktion eines Ursprungs der eigenen Volkssprache sind nicht nur wichtiger Teil einer humanistischen Debatte, sondern auch im engeren Sinne zentral für das Anliegen, die Ursprünge des Begriffs und Konzeptes ‚Vul‐ gärlatein‘ aufzuarbeiten. Was die einzelnen Humanisten unter einer antiken lingua vulgare verstehen, spiegelt sich eben nicht nur im konkreten Gebrauch des jeweiligen Begriffes, sondern vor allem in dem dahintersteckenden Gesamt‐ verständnis von Sprache bzw. sprachlicher Heterogenität, Sprachwandel und historischen Sprachkontaktkonstellationen, die in den hier untersuchten Ein‐ zelaspekten zum Ausdruck kommen. Was nun die ganz konkreten Begrifflichkeiten im Einzelnen anbelangt, so ist auffällig, daß vor allem im 15. Jh. die Bezeichnung des Lateinischen oft an den 674 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte als zugehörig empfundenen Begriff der Literalität geknüpft wird (cf. z. B. Bruni: Latine litterateque loqui; Biondo: litterata Latinate; Guarino: lingua litteralis; Fi‐ lelfo: sermo litteralis). Dies zeigt zweifellos die enge Verbundenheit vor allem der Lateinhumanisten (aber nicht nur) mit dem Konzept des Lateinischen als ausschließliche oder vorwiegende Schriftsprache, wie es in der mittelalterlichen Diglossie-Situation des lateinisch geprägten Okzident vorherrschend ist. Hierbei spielt außerdem, die bereits im Mittelalter existierende Opposition von litteratus vs. il(l)iteratus eine Rolle, d. h. es wird eine dichotomische Aufteilung der Sprecher in Gelehrte (docti, eruditi) und Ungebildete (indocti), d. h. das Volk (populus, vulgus, ignobiles), vorgenommen. Zu letzterer Sprechergruppe werden als Topos auch Frauen, Mütter, Ammen, Kinder und Handwerker gerechnet, während die Bildungsschicht, durch die Humanisten selbst bzw. antike Gelehrte, manchmal auch spezifiziert als Redner, Dichter oder Philosophen, sowie Adelige (nobiles), repräsentiert wird. Die Sprache der Oberschicht und Bildungselite ist in diesem Verständnis gleichzeitig allgemeine Schriftsprache und (gehobene) Literatursprache im engeren Sinne sowie Sprache des öffentlichen Diskurses. Sie erfüllt also alle Kriterien einer high variety. Für die Humanisten entstehen hierbei zwei Probleme: zum einen die Übertragung der eigenen Sprachwirk‐ lichkeit auf die antiken Verhältnisse, was mal mehr, mal weniger differenziert gelingt, und zum anderen mögliche Zwischenstufen, d. h. Fälle, in denen die Sprache der Gelehrten auch von nicht prototypischen Vertretern wie z. B. ge‐ bildeten Frauen oder weniger Gebildeten (z. B. schreibunkundige Redner) ver‐ wendet wurde. Ebenfalls traditionell ist auch die im Mittelalter wie bei Dante zu findende Gleichsetzung von Latein und Grammatik (cf. grammatica), was den Anspruch einer Regelhaftigkeit und Norm ausdrückt (cf. ars), die eben einer Volkssprache in ihrer Veränderlichkeit, bedingt durch die conditio humana, nicht zukommen könne (cf. natura). So wird gerade von den Lateinhumanisten dieser Anspruch des Lateinischen bzw. der gehobenen (bzw. klassischen) Varietät des Lateins als geregelte und damit literaturfähige Sprache hervorgehoben, mitunter auch be‐ grifflich (cf. Valla: grammatice loqui). Die zunehmenden Stimmen, die im Zuge des Vulgärhumanismus auch der (italienischen) Volkssprache eine zumindest teilweise Regelhaftigkeit zugestehen, die sie literaturwürdig macht, führen un‐ weigerlich zum Konflikt (cf. questione della lingua). Dabei wird von den Vertre‐ tern des Vulgärhumanismus das ehemalige Stigma des volgare, nämlich seine Wandelhaftigkeit und Variabilität, zu einem Vorteil gegenüber dem Latein sti‐ lisiert, da auf diese Weise der Literatur eine größere Lebendigkeit, d. h. mehr natura, zukomme (cf. schon Dante). 675 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1073 Eine Ausnahme bildet hier Valla, der für die Antike keine Volkssprache im eigentlichen Sinn annimmt und auf eine Einheit des Lateinischen verweist. Ein volgare im engeren Sinn thematisiert er nicht, sondern postuliert nur ein stilistisch gehobenes (grammatice loqui) und ein weniger elaboriertes (latine loqui) gesprochenes Latein. 1074 Cf. z. B. una moderna che è la volgare, l’altra antica, che è la latina (Bembo); etrusco antico (Tolomei); lingua antica del vulgo (Castelvetro); toscana antica (Giambullari); la Latina antica vs. la Volgare moderna (Varchi); lingua latina antica (Ruscelli); lingua latina antica del vulgo, vulgar lingua dell’antico Popolo Romano (Cittadini). Während bezüglich des Lateins auch noch weitere Differenzierungen vorge‐ nommen werden, wie z. B. hinsichtlich des Alters (cf. Poggio: latina lingua priscis Romanis; Varchi: lingua latina antica; Cittadini: Prisca, Latina, Romana, Mixta) oder der Entwicklung und Verbreitung (cf. Valla: latina lingua vs. romana lingua (,Sprache Roms‘); Bembo: latina lingua vs. romana lingua (,Romanisch‘)) sowie der Normativität (cf. Castelvetro: lingua latina vs. pura latina; Cittadini: lingua latina vs. puro latino), variieren die Bezeichnungen für die Volkssprache hin‐ gegen kaum (cf. lat. vulgaris sermo / lingua bzw. it. lingua vulgare). 1073 Eine Ent‐ wicklung der Bezeichnung ‚Vulgärlatein‘ kann somit nur aus der Opposition zur Bezeichnung für das Lateinische abgelesen werden. Die für das Lateinische vor‐ kommende alternative Benennung mit lingua romana kann je nach Autor ent‐ weder auf das Lateinische der Stadt Rom referieren oder auf das Lateinische des römischen Reiches, vor allem in einer Spätphase, d. h. es werden zur lingua latina damit diatopische oder diachronische Oppositionen eröffnet. Eine diaphasische Abgrenzung erfolgt durch den Begriff der lingua pura latina, die das stilistisch gehobene, vor allem klassische bzw. ciceronianische Latein bezeichnet. Das Ad‐ jektiv purus tritt grundsätzlich schon bei Bruni auf, doch wird es erst im 16. Jh. systematisch zur Bezeichnung einer registerspezifischen Varietät eingesetzt. Auch die diachronische Präzisierung mit dem Adjektiv antico tritt erst relativ spät in der Debatte zu Tage und auch dann nicht unbedingt immer systematisch, d. h. weder lingua latina antica noch lingua vulgare antica bzw. volgare antico werden durchgehend zur Abgrenzung zu zeitgenössischen Sprachformen ver‐ wendet. 1074 Dennoch sind beide Begriffszusätze ein wichtiges Indiz dafür, daß das Lateinische zunehmend als heterogene und veränderliche Sprache wahrge‐ nommen wird. Während zu Beginn der Debatte auch begrifflich oft durch die Verknüpfung mit litteratus (bzw. litteralis) der allgemeine Bildungscharakter und der literarische Hegemonialanspruch des Lateins hervorgehoben wurde, wird später durch Zusätze wie purus oder anticus (aber auch priscus etc.) be‐ grifflich deutlich gemacht, daß Latein nicht per se nur eine Art von Latein sein kann, sondern unterschiedliche Varietäten in verschiedenen Epochen existieren können. 676 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1075 Auch zeitgenössisch gibt es in der Antike bereits Beschreibungen des Non-Standards (z. B. sermo rusticus, sermo agrestis, sermo vulgaris, sermo plebeius) (cf. Kap. 3). 1076 Auf einen Vergleich der etymologischen Herleitungen, die von den einzelnen Huma‐ nisten in ihren Exempla angestellt wurden, mit den heutigen Erkenntnissen, wurde verzichtet, da dies bei weitem den Umfang der Arbeit gesprengt hätte. Sofern es dazu bereits eigene Arbeiten gibt, wurde in den einzelnen Kapiteln darauf verwiesen. Das Anliegen vorliegender Arbeit war eine Rekonstruktion besagter Debatte, ihre Verortung im zeitgenössischen Kontext sowie die Erfassung der einzelnen Positionen aus moderner linguistischer Perspektive (cf. Kap. 1, 2). All dies sollte zusätzlich ein neues Licht auf die Entstehung des sprachwissenschaftlichen Konzepts ‚Vulgärlatein‘ werfen bzw. dessen sprachtheoretische Ursprünge auf‐ zeigen. Wie hängt dies also letztlich konkret zusammen? Es sei vorab noch einmal in Erinnerung gerufen, daß der Begriff ‚Vulgärlatein‘ zur Beschreibung des antiken Lateins als lebendige Sprache in ihrer diasyste‐ matischen Vielfalt nicht wirklich nützlich ist und man mit einer sozio- und va‐ rietätenlinguistischen Analyse mehr gewinnt (cf. Kap. 3, 4). Als Basis für ety‐ mologische Rekonstruktionen im Rahmen der romanistischen Sprachgeschichte hingegen hat der Begriff durchaus seinen Wert, trotz der Problematik seiner mehr oder weniger voneinander abweichenden Definitionen (cf. Kap. 5). Das, was für eine sinnvolle synchrone Beschreibung zu dürftig ist, kann zur groben Bestimmung eines Etymons durchaus sinnvoll sein, nämlich die sehr allgemein gehaltene Festlegung des Vulgärlateins als das vom klassischen Latein in ir‐ gendeiner Form abweichende Latein (cf. z. B. Spätlatein, gesprochenes La‐ tein). 1075 Was nun die vorwissenschaftliche Entwicklung des Begriffes im 15. und 16. Jh. betrifft (cf. Kap. 6), so ist vorab festzuhalten, daß es den Beteiligten nicht darum ging, eine solche Rekonstruktionsbasis zu schaffen, sondern daß es in der Diskussion in erster Linie um den Ursprung des zeitgenössischen volgare ging sowie um die Beschaffenheit des antiken Lateins. Die rein formale Analyse von Formen gewinnt erst nach und nach im Laufe der Debatte an Gewicht, orientiert sich aber oft an der bereits a priori festgelegten Meinung zur Herkunft der ita‐ lienischen Volkssprache(n), was sich in einer Extremform an den aramäischen oder etruskischen Etymologien von Autoren wie Giambullari zeigt. 1076 Was im Laufe dieser Debatte festzustellen ist, ist die langsame Entwicklung einer Erkenntnis von sprachhistorischen Zusammenhängen und Phänomenen des Sprachwandels. Während man zu Beginn nicht selten die zeitgenössische Situation, d. h. das Verhältnis von Volkssprache zu Latein, mehr oder weniger unverändert auf die Antike übertrug, lernte man nach und nach zu differen‐ zieren, indem man sich auf antike Quellen stützte. Man zog vermehrt antike 677 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte zeitgenössische Beschreibungen des Sprachgebrauchs oder auch der allge‐ meinen, z. T. mythischen Ereignisgeschichte heran (cf. Livius, Isidor) sowie vor allem metasprachliche Kategorisierungen der antiken Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian). Als letzter Schritt (cf. vor allem Cittadini) wurden dann Schrift‐ zeugnisse analysiert, die auch heute noch als Quellen des Vulgärlateins gelten (cf. z. B. Inschriften). Für die humanistischen Gelehrten stellte sich vor allem das Problem, all dies einzuordnen und sich von der Vorstellung des Lateins als prestigeträchtige, über die Jahrhunderte unveränderliche Sprache zu lösen. Hierin lag womöglich die größte Hürde, da einerseits die Epoche der Renaissance eine neue Wertschät‐ zung für die Antike in all ihren Facetten hervorgebracht hatte und andererseits durch das mittelalterliche Erbe das Lateinische als einziges schriftliches Kom‐ munikationsmittel angesehen wurde, was zusammen eine Art Denkbarriere im Hinblick auf eine wertfreie Beschreibung der lateinischen Sprache schuf. Aus diesem Grund wurde auch die Völkerwanderung, also der immer wieder ge‐ schilderte Einbruch der „Barbaren“, als kulturelle Urkatastrophe wahrge‐ nommen. Dabei war die Vernichtung des weltumspannenden Imperium Ro‐ manum und seiner kulturellen Errungenschaften schon schwer zu begreifen, doch noch schwerer wog der damit einhergehende sprachliche Verfall (cf. dec‐ linatio). Diese negative Einschätzung der Sprachentwicklung hing unmittelbar mit der geringen Wertschätzung der eigenen Volkssprache zusammen. Diese wurde zunächst traditionell als unbeständig und regellos (cf. Dante) wahrgenommen, auch noch im 15. Jh., obwohl das Italienische zu diesem Zeitpunkt schon eine beachtliche Literatur hervorgebracht hatte (cf. scuola siciliana, dolce stile nuovo, tre corone). Zu groß war das übermächtige Prestige des Lateins, mit seiner über tausendjährigen Tradition und seinen als vorbildlich angesehenen Autoren wie Cicero oder Vergil. Erst mit der Emanzipation der Volkssprache im Zuge des Vulgärhumanismus wurde der Blick frei für das Lateinische als einstige lingua viva in der Antike, es mußte sozusagen erst von seinem Sockel gestoßen werden, damit seine Veränderlichkeit beschreibbar wurde. Das Lateinische blieb insofern weiterhin wertvoll, als es als Vorbild zum weiteren Ausbau der Volkssprache diente (cf. imitatio), aber nicht mehr unerreichbar war. Was neben dem Erstarken eines Bewußtseins für die eigene Sprache zu einem vermehrten Erkenntnisgewinn über die antike Sprachkonstellation beitrug, sind zum einen die wachsenden Kenntnisse des Griechischen (cf. Manuel Chryso‐ loras als Katalysator), weil durch den Vergleich mit einer weiteren hoch geach‐ teten Kultursprache, die zudem noch lebendig war (cf. Byzanz), der Sprach‐ wandel mit größerer Distanz und weniger emotionaler Beteiligung studiert 678 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1077 Die Art des politischen und kulturellen Klimas einer Stadt spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle (cf. Florenz, Mailand, Venedig, Rom, Urbino, Neapel etc.). Die Verhältnisse waren dabei oft nicht unbedingt stabil, da es aufgrund von innerstädti‐ schen Auseinandersetzungen, Kämpfen zwischen den Stadtrepubliken bzw. Staaten und fremden Invasoren (z. B. Franzosen, Spanier, Deutschen) immer wieder zu Herrschafts‐ wechsel und kulturellen Umbrüchen kam. werden konnte. Zum anderen sind das aufkommende historische Interesse und die Entstehung der Geschichtswissenschaft und der Philologie (cf. „Bücher‐ jäger“) als Faktor zu nennen. So sieht man bei den einzelnen Humanisten, die nicht selten auch als Historiographen tätig waren, ein wachsendes Verständnis für historische Zusammenhänge, allerdings mit der Einschränkung, daß auch hier erst nach und nach die sozio-politischen Fakten mit den sprachhistorischen in Zusammenhang gebracht wurden. Es gab zudem äußere Faktoren, die dazu beitrugen, daß der Diskurs nicht linear verlief und es ein zähes Ringen um die sprachhistorischen Zusammen‐ hänge blieb. Dazu gehört zweifellos die schon angesprochene Verankerung der einzelnen Humanisten in ihren Positionen im Rahmen des Antagonismus zwi‐ schen umanesimo latino und umanesimo volgare und / oder in den einzelnen La‐ gern der questione della lingua (z. B. archaisierendes Toskanisch, modernes Flo‐ rentinisch, höfische koiné), was eindeutig ihren Blick auf die Antike und die Sprachentwicklungsprozesse determinierte. Weiterhin nicht zu vernachlässigen ist der damit verknüpfte umanesimo civile, also die Tatsache, daß die Gelehrten, sei es aus Lokalpatriotismus, sei es aus Abhängigkeit von einem fürstlichen oder klerikalen Mäzen oder aber einer Stadtrepublik, ihre Argumentation auf die Herausstellung einer bestimmten Stadt ausrichteten, 1077 was indirekt ebenfalls Auswirkungen auf ihre Darstellung zur Antike haben konnte. Schließlich sei noch auf die durch diese sich überlagernden Streitfragen bedingte Polemik in der Argumentation verwiesen bzw. ganz konkret auf die zu dieser Zeit florie‐ rende Invektivenkultur (cf. z. B. Kap. 5 und 6.2.8), was die Interpretation der Texte nicht unbedingt erleichtert. Grundsätzlich hing nicht wenig von den persönlichen Relationen der ein‐ zelnen Humanisten ab, da die Debatte nicht im Rahmen einer institutionellen Auseinandersetzung geführt wurde. Aus diesem Grund ist die Aufarbeitung des Entstehungshintergrundes der einzelnen Texte ein wichtiges Unterfangen, da es das Netzwerk der Gelehrten offenbart, ihre oft unstete Vita, die persönlichen bzw. beruflichen Abhängigkeiten, ihre Bekanntschaften, Animositäten und ihre philologisch-philosophische Prägung. Auffällig ist dabei der hohe Grad der Ver‐ netzung bzw. des kommunikativen Austausches mit vielen anderen Gelehrten ihrer Epoche (cf. Austausch von Manuskripten, Briefwechsel), ihre freiwillige 679 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte oder unfreiwillige Reisetätigkeit sowie der oft wechselnde Rahmen ihres Schaf‐ fens (z. B. private Zurückgezogenheit, Universitäten, Akademien, kirchliche Ämter, städtische Ämter, Ämter an Fürstenhöfen, Mäzenatentum). In letzterem Punkt unterscheidet sich hier die Epoche der Renaissance bzw. des Humanismus vom Mittelalter, in der die Universität oder das Kloster die Hauptwirkungs‐ stätten der Gelehrten waren (cf. Kap. 6.2.5). In den folgenden Abbildungen (Graphiken, Tabelle, Karte) sollen genau diese geschilderten Interaktionen bzw. Abhängigkeiten, wie z. B. Aufenthaltsort bzw. Wirkungsstätte als Begegnungsort oder allgemein persönliche Beziehungen, ein wenig plastischer dargestellt werden, da all diese Faktoren letztlich Einfluß auf die Art und Weise der Abhandlung bestimmter Themen haben und im konkreten Fall die hier untersuchten Debatte wesentlich mitkonstituieren. Abb. 11: Zeitachse mit Lebensdaten der Humanisten 680 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Verona Pavia Piacenza Mailand Vicenza Venedig Ferrara Bologna Urbino Florenz Siena Rom Neapel Messina 15. Jh. Filelfo Decembrio Crivelli Alciato 16. Jh. Castiglione Cittadini 15. Jh. Bruni Biondo Guarino Poggio Filelfo Lorenzo 16. Jh. Bembo Varchi Machiavelli Giambullari Gelli 15. Jh. Benvoglienti 16. Jh. Tolomei Castelvetro Cittadini 15. Jh. Valla Decembrio 16. Jh. Castiglione 15. Jh. Bruni Biondo Alberti Poggio Valla Crivelli Pompilio Manuzio Sabellico 16. Jh. Bembo Castiglione Tolomei Castelvetro Machiavelli Speroni Ruscelli 16. Jh. Bembo Castiglione Cittadini Machiavelli Speroni Muzio 15. Jh. Biondo Alberti Guarino Decembrio Manuzio Alciato 16. Jh. Bembo Castelvetro Muzio 15. Jh. Guarino Filelfo Manuzio Sabellico 16. Jh. Bembo Varchi Speroni Ruscelli Abb. 12: Italienkarte mit Aufenthaltsorte der Humanisten 681 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Name Geburtsort wichtige Aufenthaltsorte und Wirkungsstätten Leonardo Bruni Arezzo Florenz Rom Konstanz Flavio Biondo Forlì Florenz Rom Ferrara Piacenza Leon Battista Alberti Genua Florenz Rom Ferrara Padua Bologna Guarino Veronese Verona Florenz Ferrara Padua Bologna Venedig Konstantinopel/ Basel Poggio Bracciolini Terranova (Arezzo) Florenz Rom Konstanz Francesco Filelfo Tolentino (Macerata) Florenz Padua Bologna Venedig Vicenza Mailand Konstantinopel Lorenzo Valla Rom Florenz Rom Neapel Pavia Piacenza Angelo Decembrio Mailand Ferrara Mailand Neapel Lodrisio Crivelli Mailand Rom Bologna Mailand Pavia Basel Bartolomeo Benvoglienti Siena Siena Lorenzo deʼ Medici Florenz Florenz Pietro Paolo Pompilio Rom Rom Aldo Manuzio Bassiano (Rom) Rom Ferrara Venedig Marcantonio Coccio Vicovaro (Rom) Rom Venedig 682 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte Abb. 13: Wirkungsstätten der Humanisten 683 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1078 Das Geburtsdatum von Bartolomeo Benvoglienti ist unbekannt und wird, wenn über‐ haupt, sehr grob mit „in den ersten Jahrzehnten des 15. Jhs.“ angegeben. Um aber seine Lebensspanne graphisch darstellen zu können, wurde es unter Berücksichtigung einer mittleren damaligen Lebenserwartung auf 1425 festgelegt. Abb. 14: Persönliche Bindungen um Leonardo Bruni Mit Abbildung 11, in der die Lebensspannen der einzelnen Humanisten darge‐ stellt werden, 1078 soll veranschaulicht werden, welche Gelehrten Zeitgenossen waren und, daß die hier nachgezeichnete Debatte nie abriß, daß eine kontinu‐ ierliche Kommunikation, schriftlich wie mündlich, über den gesamten Zeitraum (1435-1601) stattfand, da immer mehrere Partizipanten zeitgenössisch inter‐ agierten. Welche Orte als Begegnungsstätten und kulturelle Gravitationszentren eine wichtige Rolle spielten, soll durch die Abbildungen 12 und 13 untermauert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die in der Tabelle aufgeführten Städte nur eine Auswahl darstellen, denn de facto waren nicht wenige Humanisten recht oft auf Reisen, vor allem durch Italien, aber mitunter auch durch andere Länder Europas. Dies konnte persönliche Gründe haben (z. B. Verwaltung von 684 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1079 Als prominente Beispiele sei hier auf Pietro Bembo als Kardinal oder Aeneas Silvius Piccolimini als Papst (Pius II.) verwiesen, die beide führende Humanisten waren. Familiengütern, Studienreisen), aber oft standen auch „Dienstreisen“ im Vor‐ dergrund, d. h. sie waren in diplomatischer Mission einer Stadtrepublik oder eines Fürsten unterwegs, als Gesandte des Papstes oder als dessen Begleitung bei einem (erzwungenen) Residenzwechsel (z. B. Bologna, Ferrara, Florenz, Siena) oder auf Konzilen (z. B. Konstanz, Basel). Ein Reisegrund konnten auch die wechselnden Erwerbstätigkeiten sein, d. h. das Ersuchen um eine Anstellung an einer Universität, bei einer Stadt (z. B. Kanzler, Bibliothekar, Gesandter) oder bei einem weltlichen oder klerikalen Fürsten sowie die Verwaltung von Pfründen. Auf diese Weise kristallisierten sich Begegnungsstätten heraus, die für die vorliegende Debatte von Bedeutung sind. Dabei lassen sich im Wesentlichen vier Kategorien unterscheiden: die Kurie in Rom, die Anstellungen offerierte, die weitere humanistische Betätigung zuließ (z. B. apostolischer Sekretär, Ge‐ sandter, Kardinal, Papst), 1079 im weiteren die Fürstenhöfe, die als Förderer der Künste auftraten, um ihr eigenes Prestige zu mehren (z. B. Florenz, Mailand, Ferrara, Neapel, Urbino), die Stadtrepubliken (z. B. Venedig, Florenz, Mailand) und schließlich die klassischen Universitätsstädte (z. B. Bologna, Padua, Pavia). Dabei können nur die wenigsten Humanisten strikt einer Stadt zugeordnet werden, da sie oft in einer oder mehreren Universitätsstädten ihre Ausbildung erhielten und sich dann in die Dienste wechselnder Herrschaften begaben oder auch wieder an einer Universität lehrten. In manchen Städten wie Florenz oder Mailand lösten dynastische Herrschaften und republikanische einander ab, so daß sich je das politische (und z. T. auch kulturelle) Klima wieder änderte. An den Höfen wiederum hing viel von dem jeweiligen Fürsten ab, inwieweit dieser als Förderer der Künste und des intellektuellen Austausches auftrat bzw. dies zuließ und finanzierte (z. B. Cosimo deʼ Medici, Lorenz deʼ Medici, Leonello d’Este, Ludovico Sforza, Alfons V. von Aragón). Die Konzentration des stark geförderten Kultur- und Geisteslebens auf wenige Städte Mittel- und Nordita‐ liens (Ausnahme im Süden: Neapel) hatte zur Folge, daß dort auch persönliche Begegnungen wahrscheinlich waren und somit der kulturelle Austausch vo‐ rangetrieben wurde. So erscheint es beispielsweise nicht ganz zufällig, daß der Beginn der Debatte in Florenz (Eugen IV . floh aus Rom) anzusiedeln ist und die Beteiligten zu diesem Zeitpunkt alle als päpstliche Sekretäre fungierten. Die Kurie offerierte Gelehrten eine Anstellung, im Rahmen derer genug Zeit für intellektuellen Austausch und Forschung jenseits der eigentlichen Aufgaben blieb. Ein noch konkreterer Einfluß der Orte als kulturelle Zentren lässt sich 685 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 1080 Cf. dazu auch im Weiteren wichtige Universitätslehrer wie Gasparino Barzizza oder Giovanni Aurispa sowie die hier besprochenen Humanisten selbst, die wie Bruni oder Guarino ebenfalls lehrten und somit bestimmte Traditionen begründeten. daran exemplifizieren, daß beispielsweise in Ferrara am Hofe Leonello d’Estes bestimmte Thesen bezüglich der antiken Sprachkonstellation kursierten, was Guarino veranlasste diesbezüglich schriftlich Stellung zu nehmen (cf. Kap. 6.2.5.). Hierin zeigt sich ganz deutlich, daß bestimmte Thesen an bestimmte Orte gebunden sind und, daß solche Orte der kulturellen Begegnung eine dies‐ bezügliche Diskussion überhaupt erst ermöglichen. Aber auch die Positionen im Rahmen der questione della lingua, die die vorliegende Debatte mitbeeinf‐ lußten, waren nicht unwesentlich an bestimmte Städte geknüpft, da die Wahr‐ scheinlichkeit, daß jemand, der gebürtig aus Florenz war oder dort seine An‐ stellung hatte, das florentinische Toskanisch propagierte, relativ groß war (cf. z. B. auch Cittadini und das Senesische etc.). In obiger Tabelle bzw. Karte wurden außerdem noch einige Städte aufge‐ nommen, die indirekt in dieser Debatte eine Rolle spielen wie z. B. Konstanti‐ nopel, da Aufenthalte von Gelehrten wie Guarino oder Filelfo, die dort Grie‐ chisch lernten, die Erfahrungen mit dieser Sprache mit in die Diskussion einfließen ließen, was auch für Messina gilt, wo Bembo bei einem bekannten Lehrer seine Griechischkenntnisse erwarb. Die Konzile von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) erscheinen nicht unwichtig, weil vor allem das Konstanzer Konzil mit seinen Unterbrechungen Ausgangspunkt der „Bü‐ cherjäger“ wurde, und somit indirekt das Interesse an der Antike und seiner Sprache weiter beförderte. Die Orte der Begegnung sind nun ein wichtiger Aspekt, die persönlichen Beziehungen ein anderer, was exemplarisch an der Vernetzung von Leonardo Bruni in Abbildung 14 dargestellt werden soll. Auch diese ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, insofern nur die für diese Debatte relevanten Persönlichkeiten aufgenommen wurden. Die Vielzahl der Kontakte der Humanisten läßt sich oft‐ mals aus deren mitunter äußerst umfangreicher Korrespondenz entnehmen. Aus der Graphik zu Bruni lassen sich nun vier typische Beziehungen ableiten, die partiell mit der Art der Orte korrespondieren: seine Lehrer (Giovanni Mal‐ paghini, Manuel Chrysoloras), 1080 seine unmittelbaren Kollegen (z. B. Cencio Romano, Antonio Loschi, Andrea Fiocchi, Flavio Biondo, Poggio Bracciolini) und seine Freunde bzw. weitere Humanisten (z. B. Palla Strozzi, Niccolò Niccoli, Francesco Filelfo) sowie seine klerikalen und weltlichen Dienstherren bzw. För‐ derer (z. B. Eugen IV ., Johannes XXIII .; Cosimo deʼ Medici, Coluccio Salutati). Hierin manifestieren sich sowohl Abhängigkeiten wie auch verschiedene Arten 686 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte des intellektuellen Austausches, die zum Teil die Debatte unmittelbar betreffen und ihre Weiterführung begründeten. Insgesamt können die hier im Fazit noch einmal resümierten Faktoren, die auf die Diskussion um die antike Sprachkonstellation einwirken, nur als Indizien für ein komplexes Geflecht von Parametern (philologische, politische, sozio-kul‐ turelle) erachten werden, die diese Debatte mitkonstituieren. Es bleibt festzuhalten, daß sich am vorläufigen Ende dieser Debatte, die durch Cittadini markiert ist, eine Grundvorstellung der antiken Sprachkonstellation entwickelt hat, die auch eine Vorstellung von der weiteren Entwicklung der Sprache und ihrer Varietäten bis in die zeitgenössische Gegenwart - auch unter fremdsprachlichen Einflüssen - beinhaltet, sowie schließlich eine Idee von den konkreten lautlichen und morphosyntaktischen Veränderungen (cf. z. B. Ent‐ stehung des Artikels), die damit einhergehen. Eine wichtige Errungenschaft ist zudem die Erkenntnis, daß der interne Sprachwandel größere Veränderungen gezeitigt hat als der Einfluß von außen, was letztlich eine Überwindung des Traumas vom Untergang Roms und dem damit verbundenen „Kultur- und Sprachverfall“ bedeutet. Cittadini kann auch deshalb als Kulminations- und Endpunkt der Debatte gewertet werden, weil bei ihm das erste Mal umfänglich eine breite Quellenbasis aus Inschriften und diversen lateinischen Autoren for‐ muliert wird. Hier kristallisiert sich das heutige Konzept ‚Vulgärlatein‘, das bis heute keineswegs einheitlich ist, in seiner Vorstufe am deutlichsten heraus. Dabei ist jedoch nicht außer Acht zu lassen, daß er zum einen auf eine inzwi‐ schen lange Tradition zurückgreifen kann, mit Protagonisten, die ebenfalls wichtige Bausteine geliefert hatten, und er zum anderen keineswegs wirklich alle bisherigen Erkenntnisse bündelt, wie man beispielsweise an der Vernach‐ lässigung von Substrateinfluß und einer reduzierten Betrachtung des Super- und Adstrateinflusses beobachten kann (cf. Abb. 10). Schon allein deshalb kann es nicht den Schöpfer oder inventor des Vulgärlateins geben. Die Entwicklung dessen, was man heute unter ‚Vulgärlatein‘ subsumiert, ist zudem nicht von den anderen Aspekten der Debatte zu trennen. 687 7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte 8. Literatur Primärliteratur Alberti, Amator = Alberti, Leon Battista (2010): „Amator“, in: ibid.: Opere latine. A cura di Roberto Cardini. Roma: Istituto poligrafico e zecca dello stato (= Cento libri per mille anni), 89-101. Alberti, De comm. = Alberti, Leon Battista (1971): „De commodis litteram atque incom‐ modis“, in: ibid.: De commodis litteram atque incommodis. Defunctus. Testo latino, tra‐ duzione italiana, introduzione e note a cura di Giovanni Farris. Milano: Marzorati (= Pubblicazioni dell’Istituto di lingua e letteratura italiana. Facoltà di magistro dell‐ ’Università di Genova, 2), 41-151. Alberti, De pict. = Alberti, Leon Battista (1975): De pictura. Herausgegeben von Cecil Grayson. 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Abb. 13: Wirkungsstätten der Humanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . TÜBINGER BEITRÄGE ZUR LINGUISTIK (TBL) Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ linguistik-kat/ linguistikreihen-kat? ___store=narr_starter_de 541 Maria Stopfner Streitkultur im Parlament Linguistische Analyse der Zwischenrufe im österreichischen Nationalrat 2013, 332 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-7791-7 542 Carlotta Viti Variation und Wandel in der Syntax der alten indogermanischen Sprachen 2015, 530 Seiten €[D] 89,- ISBN 978-3-8233-6796-3 543 Sascha Bechmann Bedeutungswandel deutscher Verben Eine gebrauchstheoretische Untersuchung 2013, 400 Seiten €[D] 64,- ISBN 978-3-8233-6797-0 544 Silvana Rizzi Der Erwerb des Adjektivs bei bilingual deutsch-italienischen Kindern 2013, 253 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6802-1 545 Christian Timm Französisch in Luxemburg 2014, 313 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-6845-8 546 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII 2016, 449 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6881-6 547 Jan Henrik Holst Advances in Burushaski Linguistics 2014, 180 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-6908-0 548 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Lexikographie der romanischen Sprachen Romanistisches Kolloquium XXVIII 2014, 276 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6912-7 549 Christian Discher Sprachkontakt, Migration und Variation: Die frankophone Integration von Rumänen in Paris nach 1989 2015, 272 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6915-8 550 Cornelia Lorenz Zugezogene im Fokus Sprachkontakterscheinungen im Regiolekt 2014, 277 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6918-9 551 Qiang Zhu Die Anmoderation wissenschaftlicher Konferenzvorträge Ein Vergleich des Chinesischen mit dem Deutschen 2015, 220 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-6973-8 552 Birgit Umbreit Zur Direktionalität der lexikalischen Motivation Motiviertheit und Gerichtetheit von französischen und italienischen Wortpaaren auf der Basis von Sprecherbefragungen 2015, 370 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6971-4 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) 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Slavic Languages in Psycholinguistics Chances and Challenges for Empirical and Experimental Research 2016, 315 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6969-1 555 Gaios Tsutsunashvili Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen 2015, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6994-3 556 Barbara Lux Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen Eine kontrastive Untersuchung phonologischer und grammatischer Aspekte 2016, 377 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6999-8 557 Benjamin Stoltenburg Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache 2016, 363 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8056-6 558 Lingyan Qian Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem 2016, 366 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8057-3 559 Tingxiao Lei Definitheit im Deutschen und im Chinesischen 2017, 228 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8092-4 560 Fabienne Scheer Deutsch in Luxemburg Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache 2017, 416 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8097-9 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8104-4 562 Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz 2017, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8144-0 563 Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen 2018, 256 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8155-6 564 Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians- Universität München (13. - 16. Oktober 2016) 2018, 558 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8118-1 565 Vincent Balnat L’appellativisation du prénom Étude contrastive allemand-français 2018, 298 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8185-3 566 Silvia Natale Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen Italienisch und Französisch im Vergleich unter Berücksichtigung bilingualer SprecherInnen 2018, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8209-6 567 Ilona Schulze Bilder - Schilder - Sprache Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum 2019, 227 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8298-0 568 Julia Moira Radtke Sich einen Namen machen Onymische Formen im Szenegraffiti 2020, 407 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8330-7 571 Melanie Kunkel Kundenbeschwerden im Web 2.0 Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen 2020, 304 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8364-2 573 Mario Franco Barros Neue Medien und Text: Privatbrief und private E-Mail im Vergleich 2020, ca. 750 Seiten €[D] 119,90 ISBN 978-3-8233-8377-2 574 Sofiana Lindemann Special Indefinites in Sentence and Discourse 2020, 250 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8381-9 575 Junjie Meng Aufgaben in Übersetzungslehrbüchern Eine qualitative und quantitative Untersuchung ausgewählter deutschchinesischer Übersetzungslehrbücher 2020, 206 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8382-6 576 Anne-Laure Daux-Combaudon, Anne Larrory- Wunder Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / aspects syntaxiques, sémantiques et textuels 2020, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8386-4 577 Bettina Eiber Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache Ein französisch-italienischer Vergleich 2020, 473 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8407-6 578 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 274 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8420-5 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert 2022, ca. 200 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8493-9 581 Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlingiustischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601) 2022, 761 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8540-0 www.narr.de Die sprachliche Verwandtschaft zwischen Latein und Italienisch war im Mittelalter nur vage bekannt. Dies ändert sich mit einer Diskussion im Jahre 1435, an der maßgebliche Humanisten wie Leonardo Bruni und Flavio Biondo beteiligt sind, die sich im Geiste der Rückbesinnung auf die Antike fragen, welche Sprache, d.h. welche Art von Latein, die Römer einst gesprochen haben mögen. Hieraus entspinnt sich eine Debatte (bis 1601) zwischen Lateinhumanisten und Vulgärhumanisten, an deren Ende sich die Erkenntnis durchsetzt, dass sich das Italienische (und andere romanische Sprachen) aus dem gesprochenen Latein der Antike, dem Vulgärlatein, entwickelt haben. Die sprachwissenschaftliche Aufarbeitung dieser Debatte im Rahmen der italienischen Sprachenfrage (questione della lingua) ist Ziel und Gegenstand vorliegender Abhandlung. ISBN 978-3-8233-8540-0